Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft: 200 Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät Wien [1 ed.] 9783737015462, 9783847115465


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Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft: 200 Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät Wien [1 ed.]
 9783737015462, 9783847115465

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Wiener Jahrbuch für Theologie

Band 14/2023

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Die Bände des Wiener Jahrbuchs für Theologie sind peer-reviewed.

Uta Heil / Annette Schellenberg (Hg.)

Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft 200 Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät Wien

Mit 9 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Erich Foltinowsky Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1607-4289 ISBN 978-3-7370-1546-2

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Eröffnungsrede und Grußworte Wilfried Engemann Bildungsvisionen als Motiv eines Aufbruchs. Eröffnungsansprache zum 200-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien . . . . . Grußworte während der zentralen Festtage . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußwort der Vizerektorin Christa Schnabl . . . . . . . . . . . . . . . Grußwort des Geistlichen Oberkirchenrats der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich Karl Schiefermair . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußwort des Landessuperintendenten der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich Thomas Hennefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Response des Dekans Wilfried Engemann auf die Grußworte der Kirchen A. B. u. H. B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 19 19 21 23 25

2. Die zentralen Festtage Wilfried Engemann Protestantische Theologie an der Hauptuniversität des Kaiserstaats? Festrede zur Eröffnung der zentralen Festtage des 200-Jahr-Jubiläums der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2.1 Die Hauptvorträge Rudolf Leeb Eine kurze Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien (1821–2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Hartmut Rosa Stumme Welt und antwortfähiger Mensch. Zum Verhältnis von Resonanz und Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

6

Inhalt

Isolde Karle Wozu Theologie? Herausforderungen und Perspektiven . . . . . . . . . .

95

Cornelia Richter Couragierte Theologie in der Krise: Beherzt, intellektuell risikobereit und »zupackig«. Reflexionen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis mit persönlicher Note . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Wolfgang Eßbach Was in der Moderne heilig sein kann. Historische Schichten europäischer Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

2.2 Außenperspektiven. Interdisziplinäre Statements zur Funktion akademischer Theologie an einer Universität Wolfgang Mayrhofer Zwischen Brod und Ehre. Was Religion der Wirtschaft zu sagen hat Paul Oberhammer Einige Überlegungen aus Sicht der Rechtswissenschaften

. . . 149

. . . . . . . . . 155

Brigitta Schmidt-Lauber Theologie und Ethnologie. Eine Beziehungsgeschichte . . . . . . . . . . . 163 Karl Vocelka Theologie und Geschichte. Rede zum 200-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien . . . . . . . . . 169

3. Theologie der Zukunft? Anhaltspunkte der Gegenwart. Ringvorlesung des Professoriums Wilfried Engemann Herausforderungen einer zeitgenössischen Theologie. Zur Eröffnung der Ringvorlesung des Professoriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Annette Schellenberg »Da entfernte sich der Satan vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel« (Hi 2,7). Zur Relevanz des Alten Testaments und seiner historisch-kritischen Erforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Inhalt

7

Marianne Grohmann Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen? Die Hebräische Bibel und kognitive Metapherntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Markus Öhler Zwischen den Stühlen? Die Erforschung des Neuen Testaments zwischen säkularer Wissenschaft und theologischer Vermittlung . . . . . . . . . . . 227 Uta Heil Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Christian Danz Die Religion der Menschen und der Gott der Dogmatiker. Zur Zukunft der Systematischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Ulrich H.J. Körtner Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? Über die unmögliche Möglichkeit theologischer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Wilfried Engemann Der kommunikative Anspruch an theologische Kompetenz. Zur Didaktik einer zeitgenössischen akademischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 307 Martin Rothgangel Ist Ethik wichtiger als Religion? Religionspädagogische Anmerkungen zu einer fragwürdigen Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Robert Schelander Religion und Schule. Religionspädagogische Überlegungen zur österreichischen Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Wolfram Reiss Religionswissenschaft und Evangelische Theologie. Herausforderungen für eine Neustrukturierung der Religionswissenschaft und neue Optionen einer konstruktiven Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

4. Der Festgottesdienst Wilfried Engemann Grußwort an die gastgebende Gemeinde der Lutherischen Stadtkirche zu Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

8

Inhalt

Michael Chalupka Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

5. Aus der Forschungswerkstatt Karl W. Schwarz Im Schatten der Fakultätsgeschichte – der Kirchenhistoriker Paul Dedic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Anna Hager Darf ein Muslime frohe Weihnachten und frohe Ostern wünschen? Eine inner-islamische Polemik um eine soziale Praxis im post-revolutionären Ägypten (2011–2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Jonas Simmerlein Der barmherzige Roboter. Eine Reflexion über die Eigenschaften von Pflegerobotern in der Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Anhang: Festprogramm

Gesamtprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Programm zur Vortragsreihe der Alumni . . . . . . . . . Programm der zentralen Festtage . . . . . . . . . . . . . Programm des Festgottesdienstes . . . . . . . . . . . . . Programm der Ringvorlesung des Professoriums der ETF

. . . .

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438 439 441 447 453

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Vorwort

Dieser 14. Band des Wiener Jahrbuchs für Theologie ist ein besonderer Band: Er dokumentiert das Fakultätsjubiläum 2021 anlässlich des 200jährigen Bestehens der »Evangelisch-Theologischen Lehranstalt« und später Fakultät der Universität Wien. Das Jubiläum stand unter dem Titel »Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft«; die Eröffnungsansprache (S. 13–17) und die Festrede (S. 29–34) von Dekan Wilfried Engemann führen ins Thema ein. Dieser Band enthält nicht alle Beiträge, die im Rahmen des Jubiläums vorgetragen wurden – eigens genannt seien insbesondere die Vorträge der Alumni, die in einer eigenen Publikation veröffentlicht wurden.1 Das vollständige Programm des Jubiläums ist auf den Plakaten im Anhang zu diesem Band dokumentiert. Das Buch gliedert sich wie folgt: Der erste Teil enthält die Eröffnungsansprache des Dekans zur Eröffnung des ganzen Jubiläums sowie die Grußworte, die im Rahmen der zentralen Festtage vom 7.–10. Oktober 2021 vorgetragen wurden. Der zweite Teil enthält alle weiteren Beiträge, die während der zentralen Festtage präsentiert wurden. Dazu gehören zum einen die Festrede des Dekans sowie die Hauptvorträge von Rudolf Leeb (Wien), Hartmut Rosa (Jena), Isolde Karle (Bochum), und Cornelia Richter (Bonn). Hinzugenommen wurde in diesem Teil weiter der Vortrag von Wolfgang Eßbach (Freiburg i.Br.), der als Gastvortrag während des Jubiläumsjahrs geplant war. Auf die Hauptvorträge folgen im zweiten Teil des Bandes sodann vier Außenperspektiven: Mit Wolfgang Mayrhofer (Wirtschaftswissenschaften), Paul Oberhammer (Rechtswissenschaften), Brigitta Schmidt-Lauber (Ethnologie) und Karl Vocelka (Geschichte) kommen vier Kolleg*innen anderer Fakultäten zum Wort und äußern sich aus der Perspektive ihres Fachs zur Funktion akademischer Theologie an einer Universität.

1 Vgl. Wilfried Engemann (Hg.): Theologie als Beruf. Praxistext einer akademischen Disziplin, Wien 2022.

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Vorwort

Der dritte Teil des Buchs enthält die Ringvorlesung des Professoriums der Evangelisch-Theologischen Fakultät, die im Wintersemester 2021 abgehalten wurde (zunächst präsentisch, in der zweiten Hälfte des Semesters coronabedingt online). Mit einem weiteren Grußwort des Dekans und der Predigt von Bischof Michael Chalupka dokumentiert der vierte Teil des Buchs den Festgottesdienst vom 10. Oktober 2021. Der fünfte Teil des Buchs (»Aus der Forschungswerkstatt«) hat mit dem Jubiläum nichts zu tun, bietet aber Einblick in aktuelle Forschungsprojekte von Mitarbeiter*innen der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien. Der Anhang enthält alle Programme. Es ist in erster Linie Wilfried Engemann zu verdanken, dass das Fakultätsjubiläum und damit auch dieser Band zustande gekommen ist. Er hat das Programm konzipiert und das Jubiläum organisiert. Ihm sei auch an dieser Stelle nochmals herzlich für all seine Arbeit gedankt! Weiter danken wir Florian Hasengruber und Elisabeth Oberleitner, die bei der redaktionellen Arbeit mitgeholfen haben. Den Leserinnen und Lesern wünschen wir eine anregende Lektüre. Uta Heil und Annette Schellenberg

Wien, September 2022

1. Eröffnungsrede und Grußworte

Wilfried Engemann

Bildungsvisionen als Motiv eines Aufbruchs. Eröffnungsansprache zum 200-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien*

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Studierende! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Willkommen im Jubiläumsjahr 2021, das wir anlässlich des 200jährigen Bestehens der »Evangelisch-Theologischen Lehranstalt« und Fakultät Wien in diesem und im nächsten Semester begehen. Was für ein Zeitraum kommt dabei in den Blick! Fjodor Dostojewski ist im März 1821 noch nicht einmal geboren, dieses Ereignis folgt erst im November. Clara Schumann spielt noch Verstecken statt Klavier, der Musikwelt steht die Romantik noch bevor. Die Völkerschlacht bei Leipzig liegt den Nationen noch in den Knochen. Napoleon Bonaparte stirbt 1821 auf St. Helena. Die Ereignisse, die zur bürgerlichen Revolution führen, werfen bereits ihre Schatten voraus. Und der Österreichischen Monarchie stehen noch knapp hundert Jahre bevor. Diese Schlaglichter mögen genügen. Sie lassen uns ein wenig den weitgespannten Zeitraum empfinden, der zwischen der Gründung dieser Fakultät und dem heutigen Tag liegt. Die Herausforderung, diese 200jährige Geschichte in den Blick zu bekommen und sie – ohne zu übertreiben – inhaltlich zu würdigen, verbindet uns mit anderen angesehenen Bildungsstätten, z. B. mit der Elitehochschule École Nationale des Chartes in Paris und mit der größten Universität Argentiniens, der Universidad de Buenos Aires. Die Kolleginnen und Kollegen dort präsentieren sich in diesen Tagen wie wir in den Farben und mit dem Logo ihrer Alma Mater, wie Sie im Hintergrund sehen können. * Das 200-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät wurde am 8. März 2021 im Fakultätsgebäude (Schenkenstraße 8–10) eröffnet. Die Veranstaltung bildete zugleich den Auftakt zum ersten Teil des Jubiläumsprogramms, der Vortragsreihe der Alumni. Sie stand unter dem Thema »Praxisfelder als Testfälle der Theologie – Alumni nehmen Stellung. Erfahrungen aus Kirche, Schule, Diakonie und Wirtschaft.« Die Vortragsreihe erstreckte sich über das gesamte Sommersemester 2021. Vgl. dazu das Faksimile des Programms im Anhang auf S. 439f.

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Wilfried Engemann

Weitere in Institutionsgründungen mündende akademische Großprojekte, mit denen sich von Bildungsvisionen beseelte Frauen und Männer vor 200 Jahren auf den Weg machten, ließen sich nennen. Was ihre Situation verband, waren eine starke Motivation, weit ausgreifende Erwartungen und widrige Umstände. Man wollte die Ausbildung zu unmittelbar am Menschen ausgeübten Professionen (d. h. die Ausbildung von Medizinern, Juristen, Pädagogen und eben auch von Theologen) nicht dem Zufall oder, wie zu lesen ist, den natürlich niedrigeren Qualitätsstandards und ideologisch fragwürdigen Ideenkonzepten im Ausland überlassen. So auch in Wien. In den Absichtserklärungen und Entschließungen zur Gründung einer protestantisch-theologischen Lehranstalt, die schließlich in eine Art kaiserlich angeordnete Akkreditierungs- und Evaluationskommission unter Franz I. mündeten, war man sehr darauf bedacht, nur ja keine Abstriche vom hohen wissenschaftlichen Anspruch an die zu errichtenden Theologieprofessuren zu machen. Man hat sich für die Sondierungen zur Anbahnung dieser Lehranstalt fast vier Jahre Zeit genommen. Und in fast jeder Sitzung, jedem Statement, jedem Erlass auf diesem Weg wurde ausdrücklich festgehalten, dass dabei den Lehrtraditionen der helvetischen und augsburgischen Konfession gleichermaßen zu entsprechen sei. Durch ein Dekret der Studienhofkommission vom 10. März 1821 wurde Montag, der 2. April desselben Jahres, als Datum zur Eröffnung dieser Institution bekanntgemacht, und zwar in allen Teilen der Monarchie, also auch in italienischer Sprache.1 Inzwischen ist die Wiener Evangelisch-Theologische Fakultät nicht nur landesweit bekannt. Im Kurier war vor ein paar Jahren zu lesen, dass »die Theologie in Wien« – wobei die der Protestanten mitgemeint war – »weltweit anerkannt« sei. Das liest man als Theologe dieser Universität natürlich gern – und selten. Solche Äußerungen, zumal, wenn sie in der Zeitung stehen und nicht von der theologischen Zunft stammen, sondern – wie in diesem Fall – von einem Bildungswissenschaftler2, brauchen einen Anlass. Damals war es der jährliche Wettbewerb der Universitäten im weltweiten Ranking um die besten Plätze, in dem die »Wiener Theologie« heute übrigens weltweit auf Platz 293 liegt. Die Universität Wien, so wurde im Kurier zu Protokoll gegeben, stünde in diesem Wettbewerb besser da, wenn man die hochkarätigen Bücher aus den Kultur- und Geistes1 Georg Sauer: Die Erstbesetzung der Exegetischen Lehrkanzeln an der im Jahre 1821 eröffneten (akatholischen) Protestantisch-Theologischen Lehranstalt in Wien, in: Karl Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der EvangelischTheologischen Fakultät in Wien 1821–1996, Wien 1997, 227–255, 243. 2 Stephan Hoppmann: Cambridge oder Uni Wien: Welche Hochschule hat mehr drauf ? Kurier vom 5. Oktober 2008, 48–49. 3 Vgl. https://www.topuniversities.com/subject-rankings/2021 (letzter Download: 27. 2. 2022).

Eröffnungsansprache

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wissenschaften – insbesondere der Theologie – angemessen zu würdigen wüsste und sie nicht geringer schätzte als Aufsätze in englischsprachigen peer-reviewten Zeitschriften. Wer wollte dem widersprechen? Dass die Bücher, die aus den Lehr- und Forschungswerkstätten dieser Fakultät kommen, etwas taugen, lernte ich bereits als Student des Theologischen Seminars in Leipzig, als mir die teilweise schon etwas angestaubten, aber immer noch anregenden Werke des Kirchenhistorikers Hans von Campenhausen, der Alttestamentler Ernst Sellin, Georg Fohrer und Werner H. Schmidt, des Neutestamentlers Paul Feine und des damals gerade frisch berufenen Praktischen Theologen Hans-Christoph Schmidt-Lauber zum Studium empfohlen wurden. Ich freue mich, anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Evangelisch-Theologischen-Fakultät Wien nun noch einmal auf diese Namen zu treffen. Heute ist die Fakultät mit ihren Forschungsergebnissen mehr denn je international präsent und als gute Adresse für Studium und Lehre geschätzt, was sich zuletzt in so erfolgreichen Berufungen wie denen der Kirchenhistorikerin Uta Heil und der Alttestamentlerin Annette Schellenberg gezeigt hat. Aber damit möchte ich nicht zu einer Rückschau auf die zweifellos spannende und facettenreiche Geschichte dieser Fakultät ausholen. Dazu ist während der zentralen Festtage im Oktober Zeit. Dann wird uns auch eine Spurensicherung der Ereignisse, Ideen und Impulse präsentiert werden, die diese Fakultät im Laufe von 200 Jahren geprägt haben. Heute beginnen wir in der Gegenwart, und zwar nicht nur zeitlich, auch sachlich: Die uns in dieser Vortragsreihe erwartenden Beiträge unternehmen den Versuch, basierend auf konkreten Wahrnehmungen im Kontext beruflicher Praxis – also anhand von Momentaufnahmen vor Ort – den signifikanten Bedarf an Theologie heute zu markieren. Während im akademischen Tagesgeschäft die Praxis häufig erst anhand bestimmter Theoriemodelle in den Blick kommt, wird hier mit einer umgekehrten Perspektive gearbeitet: Die Vortragenden kommen von konkreten Erfahrungen, Erkenntnissen und Erwartungen her auf die Theologie zu sprechen, mit der sie heute arbeiten: Fragend, analytisch, kritisch, wegweisend. Eine Theologie, die sich nicht von den Herausforderungen der Gegenwart provozieren lässt, gefährdet ihre Zukunft; ohne begründete Aussichten und Visionen wiederum entgleitet ihr die Gegenwart. Dessen waren wir uns bei der Wahl des Themas dieses Jubiläums und des Formats der ersten Veranstaltungsreihe bewusst. So werden wir nun auf induktivem Wege an die Argumentationsmuster einer zeitgenössischen Theologie herangeführt: Von welchen Prämissen und Perspektiven ist solch eine Theologie bestimmt? Wo können ehemalige Studierende, die heute in seelsorglichen, pädagogischen oder diakonischen Berufen arbeiten, an einst erworbenes Wissen anschließen? Was hat sich bewährt? Von welchen

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Wilfried Engemann

Wissensbeständen wird aufgrund von Plausibilitätsverlusten womöglich gar kein Gebrauch mehr gemacht? Mit solch einem Einstieg ins Jubiläumsjahr wird keineswegs einer Verzweckung der Theologie das Wort geredet. Das käme einer Reduktion des theologisch-akademischen Diskurses auf nützliche Anwendungsfälle im Leben des Einzelnen, der Kirche und der Gesellschaft gleich. Die nach wie vor universale Anlage eines Studiums der Theologie soll Studierende vielmehr dazu befähigen, selbst als Theologe, als Theologin aufzutreten, zu argumentieren und entsprechende Entscheidungen anzubahnen – kurz: Theologie zu treiben. So kann z. B. die exegetisch-hermeneutische Kompetenz, die man sich im Laufe vieler Jahre aneignen muss, dazu beitragen, fundamentalistische Tendenzen im Umgang mit der biblischen Tradition zu erkennen und anzusprechen. Ein anderes Beispiel ist die systematische Auseinandersetzung mit dem Glaubensbegriff: Sie ermöglicht es, Glauben auch als Beziehungskategorie verstehen zu können und dem Missverständnis zu wehren, es ginge dabei vor allem um ein Sich-Durchbeißen zu unglaublichen Gewissheiten. Die vielen konkreten Situationen, in denen es nötig ist, von einer stimmigen theologischen Argumentation operativ Gebrauch zu machen, lassen sich nicht vorhersagen. Antworten und Lösungen können daher auch nicht als Nachschlagewerk für Standardsituationen in Pfarramt und Schule zum Abschied des Studiums mit auf den Weg gegeben werden. Das bedeutet aber nicht, auf klare Vorstellungen vom protestantischen Profil der religiösen Praxis des Christentums heute zu verzichten, auf überprüfbare Kriterien bei der Inszenierung eines Gottesdienstes oder auf eine Menschen gerecht werdende Anthropologie im seelsorglichen Umgang mit Ratsuchenden – um nur einige der Bildungsziele akademischer Theologie zu nennen. Vor 200 Jahren haben die strukturelle Sichtbarkeit und inhaltliche Unterscheidbarkeit zwischen einem helvetischen und einem augsburgischen protestantischen Idiom eine herausragende Rolle gespielt. Wir dürfen gespannt sein, ob die bis heute theologisch und rechtlich markierten Konfessionsunterschiede in den Beiträgen der Alumni – und während der Jubiläumsveranstaltungen insgesamt – einen vernehmbaren Widerhall finden und welches Gewicht sie künftig in der evangelischen Theologie haben werden. Aber nehmen wir die Fragen nicht vorweg, bevor sich die erste Referentin positioniert hat. Ich begrüße unter uns Frau Dr. Marianne Pratl-Zebinger. Ihr Vortrag steht unter dem Titel: »Zwischen Menschen und Traditionen. Von Wahrheit und Stimmigkeit, Haltung und Gelehrsamkeit«.4

4 Für die Vortragsreihe Praxisfelder als Testfälle der Theologie – Alumni nehmen Stellung. Erfahrungen aus Kirche, Schule, Diakonie und Wirtschaft werden auf der Homepage der Fakultät

Eröffnungsansprache

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Damit stehen wir an der Startlinie: Das 200-Jahr-Jubiläum der EvangelischTheologischen Fakultät ist eröffnet. Danke, dass Sie heute dabei sind.

sowohl die Videoaufzeichnung als auch die Texte der Vorträge zum Nachlesen zur Verfügung gestellt: https://etf200.univie.ac.at/archiv-der-vortraege/.

Grußworte während der zentralen Festtage

Grußwort der Vizerektorin Christa Schnabl* Im Namen der Universität Wien begrüße ich Sie sehr herzlich und freue mich, Glückwünsche zu dieser beeindruckenden Wegstrecke von 200 Jahren – zuerst als Lehranstalt und dann als Fakultät – übermitteln zu dürfen. Auch die Universität Wien ist stolz darauf, Heimstätte für die einzige Evangelisch-theologische Fakultät in Österreich sein zu dürfen, auch wenn ich nicht verschweigen will, dass meine eigene Heimatfakultät, die Katholisch-theologische Fakultät, lange Zeit offensichtlich die Integration der Evangelisch-theologischen Fakultät in die Universität Wien kritisch gesehen und gemeinsam mit anderen Fakultäten verhindert hat. Diese Fakten habe ich in den letzten Tagen im Zuge der Vorbereitung auf den heutigen Abend kennengelernt. Der Ort »Schenkenstraße« bildet interessanterweise eine Verbindung von der Gründung bis ins Heute. Seit 2006 sind beide theologischen Fakultäten dort angesiedelt sowie in den letzten Jahren auch das Institut für islamisch-theologische Studien, das an der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät beheimatet ist. Der gemeinsame Ort fördert auch die ökumenische und interreligiöse wissenschaftliche Zusammenarbeit, die mittlerweile aus dem theologischen wissenschaftlichen Betrieb nicht mehr wegzudenken ist. Das Jubiläum soll »nicht nur Anlass zu einer Spurensicherung von 200 Jahren theologischer Forschung und Profilbildung sein, sondern dient auch der Sondierung der Konturen einer zeitgenössischen Theologie, der Vertiefung interdisziplinärer Dialoge und der Bilanz im Gespräch mit ehemaligen Studierenden« – so formuliert die Fakultät ihre eigene Zielsetzung für das Jubiläum. Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Fakultät gratulieren zu ihren Leistungen in Forschung und Lehre. Die Fakultät gilt als forschungsstark. In internationalen Fachrankings schneidet die theologische und religionsbezogene Forschung an * Vorgetragen im Rahmen der Eröffnungsfeier am 7. Oktober 2022, im Großen Festsaal der Universität Wien.

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Grußworte während der zentralen Festtage

der Universität Wien sehr gut ab. Dazu trägt die Fakultät maßgeblich bei. Im Bereich Studium und Lehre stellt die kleine Zahl an Studierenden eine der größten Herausforderungen dar. Insgesamt sind die Studienbeginner*innen im theologischen Bereich generell in den letzten Jahren und Jahrzehnten gesunken. Die Betreuungsverhältnisse ermöglichen eine intensive Betreuung und ein hochwertiges, forschungsorientiertes Studium für die Studierenden. Die Attraktivität so eines Studiums herauszuarbeiten und damit junge Leute gerade in einer Situation eines steigenden religiösen Analphabetismus dafür zu interessieren, sei der Fakultät (wie auch den anderen Fakultäten mit theologischen Studien) als Aufgabe mit auf den Weg gegeben. Aus der jetzigen Krise der Religionen, der Volkskirchen wächst im besten Fall auch eine neue Kraft. Die Größe einer Gemeinde ist dabei nicht das entscheidende Erfolgskriterium. »Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien ist die einzige universitäre Forschungseinrichtung für evangelische Theologie in Österreich. Daher ist es zentral, dass sie den Fächerkanon der evangelischen Theologie (Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie, Religionspädagogik und Religionswissenschaft) umfassend abdeckt. Den Traditionen dieser Fächer entsprechend bestehen enge Vernetzungen zu Nachbardisziplinen wie Altorientalistik, Ägyptologie, Archäologie, Bildungswissenschaften, Byzantinistik, Geschichtswissenschaften, Islamwissenschaft, Judaistik, Koptologie, Kunstgeschichte, Kulturanthropologie, Literaturwissenschaft, Philologie, Philosophie, Psychologie, Rechtswissenschaften, Soziologie etc.«1 – so beschreibt sich die ETF in Ihrer Strategieplanung, im Entwicklungsplan der Universität Wien. Relevanz könnte man als Stichwort für die eigene Aufgabenbeschreibung wählen. Im Bereich der Forschung, im Blick auf Studierende und Absolvent*innen und im Blick auf Kirche und Gesellschaft. »Sie leistet einen grundlegenden Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs über religiöse und ethische Orientierung aus einer protestantischen Perspektive.«2 So beschreibt die Fakultät weiter ihre Rolle. Wenn dies gelingen soll, dann muss die Kirche, die Theologie den Spagat schaffen, nicht jeder Mode zu folgen, aber auch im Bewusstsein der jeweiligen Zeit zu argumentieren und zu leben. Darüber hinaus ergeben sich an der Universität Wien durch die Inter-Theologische Zusammenarbeit besonders interessante und relevante Möglichkeiten. »Die Zusammenarbeit mit der Katholisch-Theologischen Fakultät, dem Institut für Islamisch-Theologische Studien (einschließlich der islamischen Religionspädagogik) sowie dem Zentrum für Lehrer*innenbildung auszubauen und die

1 Universität Wien 2028 – Entwicklungsplan, genehmigt am 18. 12. 2020, 91. 2 Universität Wien 2028 (s. Anm. 1).

Grußworte während der zentralen Festtage

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Universität Wien zu einem international attraktiven Standort für Theologie in ökumenischer und interreligiöser Dimension zu entwickeln.«3 Es braucht jetzt und in der Zukunft eine Kirche und Theologie, die sich Menschen unvoreingenommen zuwendet, deren Sorgen und Nöte ernstnimmt und »eine Sprache findet, die die Menschen verstehen«. Gerade schwierige, angespannte Zeiten könnten zu neuen, mutigen Lösungen führen – die Diskussionen rund um und im Rahmen der Feierlichkeiten »200 Jahre ETF« könnten ein Beitrag dazu sein. Ich würde mich darüber sehr freuen und wünsche Ihnen allen einen spannenden Austausch in den verschiedensten Formaten. Gratulation an die Fakultät und auf viele weitere fruchtbare Jahre des Wirkens für Forschung, Lehre und gesellschaftliche Wirksamkeit an der Universität Wien.

Grußwort des Geistlichen Oberkirchenrats der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich Karl Schiefermair* Sehr geehrter Herr Dekan, liebe Mitglieder der Evangelisch-theologischen Fakultät! Sehr verehrte Damen und Herren in dieser festlichen Versammlung! Als Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich darf ich die Grüße und Glückwünsche der Landeskirche im Namen der Kirchenleitung zu diesem 200-jährigen Geburtstag der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien zum Ausdruck bringen, ich darf sagen, zum Geburtstag »unserer« Fakultät. Dieses verwendete Possessivpronomen möchte ich gleich für eine Klarstellung benützen: »unsere« Fakultät ist sie nicht im Sinne einer Besitzanzeige, eines »Gehörens«, sondern sie ist es im Sinne einer Zuordnung, möglicherweise einer Verwandtschaft, sicher einer Zugehörigkeit. Sie merken aus diesen Worten, dass mein Blickpunkt kein hochschulpolitischer und kein staatskirchenrechtlicher ist – dazu ist ausreichend geschrieben, gesagt und geforscht worden – sondern es ist ein kirchenleitender, partnerschaftlicher, ja, hoffentlich kollegialer Blickpunkt. Zum ersten, der Zuordnung: Das schon öfters genannte Protestantengesetz von 1961 legt in seinem § 15 genau diese Zuordnung fest. Es sichert nicht nur Existenz und Struktur der Evangelisch-Theologischen Fakultät, sondern garantiert vor allem die Widmung ihrer Tätigkeit. In aktueller Fortsetzung des von der Reformation aufgestellten Grundsatzes, dass die angehenden geistlichen Amts3 Universität Wien 2028 (s. Anm. 1). * Vorgetragen im Rahmen des Festlichen Empfangs am 9. Oktober 2021 im Salon Lanner & Lehár des Ratshauses der Stadt Wien.

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Grußworte während der zentralen Festtage

trägerinnen und Amtsträger akademisch gebildet sein müssen, wird dieser berufsqualifizierende Aspekt Bologna-gerecht umgesetzt. Ich sehe kein Problem im Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Theologie und Kirche, im Gegenteil: Die Evangelisch-Theologische Fakultät ist eine unverzichtbare wissenschaftliche Institution für und in unserer Gesellschaft und Kirche und notwendiges kritisches Gegenüber jedem kirchlichen Handeln. Eine Kirche, die sich theologischer Kritik nicht stellen will, steht in Gefahr, sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen und der Diskussion um eine dauernde Reformation ihrer Gestalt auszuweichen. Eine »ortlose« wissenschaftliche Theologie verbleibt gefährlich in einem l’art pour l’art – Turm gefangen und übersieht fundierend-erdende Rückbindungen ihrer forschenden Entdeckerlust. Musikwissenschaft ohne Musik ist auch schwer vorstellbar. Aber diese Zuordnung ist nicht ungefährdet: Der Markt von theologischen Ausbildungsstätten sucht Absatz und handelt und drängt in geschichtlich und durchdachte gewachsene Zuordnungen, die Notwendigkeit eines wissenschaftliches Korrektiv für Glaube und Verkündigung wird mehr denn je angezweifelt. Als Kirchenleitung wissen wir um diese Gefährdung und bemühen uns als Verantwortliche einer Kirche, die sich als »lebendige Auslegung des Wortes Gottes und Ort der Kommunikation des Evangeliums«1 versteht, beständig zu Reformen bereit und zur Selbstkritik und Kritik fähig zu bleiben. Damit ist zur Verwandtschaft von Evangelisch-Theologischer Fakultät und Kirche schon Grundlegendes gesagt: Als Kirche haben wir eine bestimmte Grundhaltung zum Leben und zur Gestaltung dieser Welt eingenommen, die wir als Antwort auf den Ruf des Evangeliums verstehen. Die Verschiedenheit der Antworten braucht aber eine methodische und systematische Reflexion, die Theologie. Ruf und Antwort sind Bestandteile von Kommunikation – diese muss situativ und kontextuell profiliert werden. Reine Wiederholungen reichen nicht mehr aus. Um Bedeutung für die Gesellschaft und für den Einzelnen zu erlangen, eine Kirche als »Heimat im Übergang«2 anzubieten, braucht es unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Interpretationen des Evangeliums. Für diese Gestaltwerdung und Profilierung von Kirche benötigen wir wissenschaftliche Grundlegung und Begleitung, beides in bekannter »evangelischer Freiheit«! »Darum ist’s etwas ganz und gar anderes mit einem schlichten Prediger des Glaubens als mit einem Ausleger der Schrift oder, wie es St. Paulus nennt, einem Propheten (1 Kor 12,28ff.; 14,26ff.). Ein schlichter Prediger […] hat so viele klare Sprüche aus Übersetzungen, daß er Christus verstehen, lehren und 1 Thomas Schlag: Kirche und Gemeinde, in: Martin Rothgangel, Henrik Simojoki, Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologische Schlüsselbegriffe. Subjektorientiert – biblisch – systematisch – didaktisch, Göttingen 62019, 48. 2 Gotthard Fermor/Harald Schroeter-Wittke: Vertrauens-Bildung in evangelische Übergänglichkeit, in: Peter Bubmann u. a. (Hg.): Gemeindepädagogik, Berlin 22019, 219.

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heilig leben und anderen predigen kann. Aber die Schrift auszulegen und sie selbständig zu behandeln und zu streiten gegen die irrenden Zitierer der Schrift, ist er zu gering; das läßt sich ohne Sprachen nicht tun. Nun muß man in der Christenheit stets solche Propheten haben, die sich mit der Schrift befassen und sie auslegen und auch zum Streit taugen; da ist es nicht genug, heilig zu leben und richtig zu lehren.«3 So schreibt Martin Luther an die Ratsherrn der deutschen Städte und wir fragen uns: Was setzt so ein »Selbständig Behandeln und Streiten« voraus? Universitäten und Kirchen sind bei allen Hypotheken der Vergangenheit Transformationen ausgesetzt, die gestaltet werden wollen. Dabei ist es gut, voneinander nicht nur zu wissen, sondern sich zugehörig zu wissen. In unseren kirchlichen Ordnungen sind demgemäß – ich darf durchaus sagen: kirchenleitende – Mitwirkungsmöglichkeiten von Vertreterinnen und Vertretern der EvangelischTheologischen Fakultät hochrangig festgelegt: Sitz und Stimme in beiden konfessionellen Synoden sowie in der Generalsynode; prominent gesetzt in der Ausbildungskommission der Generalsynode. Dort kommt in besonderer Weise die Kompetenz der Fakultätsmitglieder zum Tragen. Dafür sei auch an dieser Stelle und aus Anlass dieses Jubiläums Dank gesagt – im gemeinsamen Interesse an der ›formation scientifique et spirituelle‹ der jeweils nächsten Generation von Theologinnen und Theologen, der »Propheten«. Diese Bildung ist mit viel Courage, Geschick und Gründlichkeit anzugehen, im Wissen um das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein.

Grußwort des Landessuperintendenten der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich Thomas Hennefeld* Ich gratuliere der Fakultät im Namen der Evangelischen Reformierten Kirche H. B. ganz herzlich zum 200-Jahr-Jubiläum und tue das anhand dreier Begriffe: Erinnerung – Verschränkung – Dank: Ich erinnere an die Gründung der Fakultät, die auf Kaiser Franz II. zurückgeht. Er hat seinen Willen folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Ich will, dass ein vollständiges protestantisch-theologisches Studium für die Augsburgische und Helvetische Konfession errichtet werde.« Diese Gründung geschah 3 Martin Luther: An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524), WA 15, 40, 14–23; Übertragung aus: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hg.): Martin Luther: Ausgewählte Schriften, Bd. 5, Frankfurt 1983, 57. * Vorgetragen im Rahmen des Festlichen Empfangs am 9. Oktober 2021 im Salon Lanner & Lehár des Ratshauses der Stadt Wien.

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Grußworte während der zentralen Festtage

unter ganz anderen Rahmenbedingungen als wir sie heute vorfinden. Anders als heute war die Frage, welche Fächer gemeinsam und welche getrennt gelehrt werden sollten. Das hat nicht nur die Dogmatik, sondern auch die Exegese betroffen – und die Sprachen, in denen vorgetragen wurde. Sollte dies in Deutsch oder Latein (mit Rücksicht auf die ungarischen Studenten) geschehen, die die lateinische besser als die deutsche Sprache beherrschten? Heute ist wohl die Zahl der ungarischen Studierenden, die besser Latein als Deutsch sprechen, überschaubar. Vom Beginn an gibt es auch eine Kontinuität, nämlich mit einem reformierten Lehrstuhl für Systematische Theologie, wie das später im Protestantengesetz festgeschrieben wurde. Reformierte Theologie ist ein fester Bestandteil der Fakultät. Wenn wir über das Verhältnis von Staat und Kirche reden und vom Einfluss, den die Kirche haben oder nicht haben soll, so gibt es eine Verbindung und Verschränkung natürlicher Art, nämlich in den Personen, die an der Fakultät lehrten und lehren und auf Kanzeln predigen. Einige Pfarrer hatten Lehraufträge an der Fakultät, und umgekehrt sind Professorinnen und Professoren in ihren Gemeinden auch als kirchliche Funktionäre und Mitarbeitende aktiv. Und schließlich der Dank. Ich bin dankbar für die Kooperationen zwischen der Fakultät und der Evangelischen Kirche H.B. Ich denke dabei an das 500-JahrJubiläum Johannes Calvins im Jahr 2009, das wir gemeinsam mit einem Festakt in der Reformierten Stadtkirche begingen, oder an das 450-Jahr-Jubiläum des Heidelberger Katechismus 2013 mit einem spannenden, international besetzten Symposium am Institut für Recht und Medizin. Für die Zukunft wünsche ich mir weitere Kooperationen zu Anlässen, die an der Schnittstelle zwischen Kirche und Wissenschaft liegen, eine Verschränkung zwischen Lehrenden und Gemeindeaktiven und nicht zuletzt die Lehre in beiderlei Gestalt, lutherisch und reformiert. Der Fakultät wünsche ich für die Zukunft, dass sie bleibt, wofür sie gegründet wurde: eine Bildungsstätte für Bildung und Herzensbildung, für einen lebendigen kritischen Diskurs und das Hineinwirken der Lehre in Kirche und Gesellschaft. Für all das wünsche ich der Fakultät alles Gute und Gottes reichen Segen!

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Response des Dekans Wilfried Engemann auf die Grußworte der Kirchen A. B. u. H. B.* Sehr geehrter Herr Landessuperintendent, lieber Herr Hennefeld, Sehr geehrter Herr Oberkirchenrat, lieber Herr Schiefermair! Ich danke Ihnen für Ihre herzlichen Grüße und guten Wünsche, die Sie unserer Fakultät zu ihrem 200. Geburtstag mit auf den Weg geben. Die am Eröffnungsabend unserer Zentralen Festtage von Rudolf Leeb präsentierte Geschichte der Fakultät, alle in diesen Tagen gehaltenen thematischen Vorträge, die gestrige Podiumsdiskussion, die Positionen der Kolleginnen und Kollegen anderer Fakultäten – all diese Klärungs- und Vergewisserungsversuche haben gezeigt, in welchem Maße Kirche und Theologie aufeinander bezogen sind: Sie stehen nicht vor der Frage, ob sie das gelten lassen oder nicht, sondern wie sie sich dazu verhalten. Das Verhältnis von Theologie und Kirche ist aber ein anderes als analog dazu das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis bei den von Isolde Karle dem Pfarrberuf zur Seite gestellten Professionen. Während man z. B. sagen kann (den Bereich Gesundheit betreffend), dass man ohne Krankheit keiner ärztlichen Kunst bedürfte, oder dass es ohne Rechtsstreitigkeiten keine Jurisprudenz brauchte – oder ohne Verbrechen keine Polizei usw., so machte es keinen Sinn, mit derselben Überzeugung zu sagen, ohne Unglauben brauchte es keine Kirche. Christliche Theologie – soweit wir über ihr Verhältnis zur Kirche reden – ist vielmehr ein unausweichlicher Begleitumstand einer sich kontinuierlich artikulierenden, reflektierten Glaubenskultur. Sie, die Theologie, bringt beispielsweise zur Sprache, auf den Begriff, auf den Punkt, was es heute heißt, aus Glauben zu leben. Das geschieht manchmal mit dem Interesse und dem Effekt der Vergewisserung und Bestätigung, manchmal in der Absicht einer diagnostischen Analyse, manchmal in Form solidarischer Kritik, z. B. bei Anzeichen von Fundamentalismus oder im Fall von Signalen einer Fixierung nur auf eine Artikulationsform des Glaubens. Christliche Theologie ohne Kirche ist schlicht und einfach nicht zu denken. Sie geriete in Verlegenheit, genauer gesagt, in Argumentationsnot, wenn ihr die Kirche abhandenkäme. Denn das, was in Gemeinden geschieht, das, was Christen in der Kirche tun, sich erlauben und probieren, impliziert eine kontinuierliche, notwendige Provokation der Theologie. So gesehen ist die Kirche den Fragen und * Vorgetragen im Rahmen des Festlichen Empfangs am 9. Oktober 2021 im Salon Lanner & Lehár des Ratshauses der Stadt Wien.

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Antworten der Theologie oft ein Stück voraus, d. h. die Theologie schmorte im eigenen Saft, wenn sie sich nicht von der Kirche ins Gebet nehmen ließe. Daher fürchten wir uns nicht davor, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen A. B. und H. B. – und wir nehmen es nicht persönlich – wenn Sie uns Theologinnen und Theologen dann und wann in die Parade fahren, wenn es darum geht, uns auf Probleme und Fragestellungen aufmerksam zu machen, von denen Sie den Eindruck haben, dass sie uns entgangen sind. Machen Sie Gebrauch davon. Wir danken Ihnen, dass Sie heute mit uns feiern!

2. Die zentralen Festtage

Wilfried Engemann

Protestantische Theologie an der Hauptuniversität des Kaiserstaats? Festrede zur Eröffnung der zentralen Festtage des 200-Jahr-Jubiläums der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien*

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Studierende! Herr Bischof, Herr Landessuperintendent! Sehr geehrte Frau Vizerektorin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Willkommen zu den »Zentralen Festtagen« im Jubiläumsjahr 2021, das wir anlässlich von 200 Jahren Forschung und Lehre an der »Evangelisch-Theologischen Lehranstalt« und späteren Fakultät der Universität Wien begehen! Der etwas formell daherkommende Titel – »Zentrale Festtage« – lässt unschwer erkennen, dass wir einerseits schon geraume Zeit unterwegs sind und andererseits in den kommenden Monaten noch einiges vor uns haben. Begonnen haben wir dieses Jubiläumsjahr mit der Vortragsreihe »Praxisfelder als Testfälle der Theologie. Alumni nehmen Stellung«. Referentinnen und Referenten aus den Gemeinden, aus Schule, Diakonie und Wirtschaft sind im vergangenen Sommersemester – zum Teil nach Jahrzehnten – an die Fakultät zurückgekehrt, um Bilanz zu ziehen. Sie haben dargelegt, mit welcher Theologie sie heute arbeiten, vor welchen Herausforderungen sie sich als Theologinnen und Theologen sehen und welche Prämissen, Einsichten und Perspektiven ihren Berufsalltag prägen. Sie haben uns Lehrende damit konfrontiert, in welchen Fragen womöglich umgedacht werden muss, welche Wissensbestände sich bewährt haben und welche eher nicht. Das hat anregende Diskussionen nach sich gezogen. Aus dieser Gesprächssituation heraus werden sich schon ab kommenden Montag die Professorinnen und Professoren der Fakultät zu Wort melden und in einer Ringvorlesung – aus der Perspektive ihres jeweiligen Fachgebiets – ihr Verständnis vom Profil einer zeitgenössischen Theologie umreißen. Dabei soll nicht nur die Rolle der Theologie im Diskurs der Wissenschaften vertieft werden, * Die zentralen Festtage fanden im Großen und im Kleinen Festsaal im Hauptgebäude der Universität Wien statt. Eröffnet wurden sie am 7. Oktober 2021 um 17.00 Uhr im Großen Festsaal.

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sondern auch ihre Sachdienlichkeit für Kirche und Gesellschaft neu zum Vorschein kommen. Warten wir es ab. Nicht länger warten müssen wir auf den Reigen der vor uns liegenden vier Tage, die den Anspruch erheben, Ihnen als Festtage in Erinnerung zu bleiben. Dass die Fakultätsleitung guter Dinge ist, damit keine leere Verheißung in Umlauf gebracht zu haben, hat mit der besonderen Melange dieser Festtage zu tun: Sie gewähren Einblicke in geniale Forschungswerkstätten, in denen an Werkstücken für eine »Theologie der Zukunft« gearbeitet wird. Sie bieten erfrischende Diskussionen, Gelegenheiten zu persönlichem Gespräch und setzen last but not least diverse kulinarische Akzente, die am Samstagabend beim Festlichen Empfang im Wiener Rathaus – im Salon Lanner & Lehár – ihren Höhepunkt finden werden. Nicht zu vergessen die musikalischen Delikatessen, die wir an diesem Abend dem Blechbläserensemble der Johann Sebastian Bach Musikschule und ihrem Direktor Hanns Christian Stekel verdanken. Herzlichen Dank! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Fakultätsangehörige, liebe Gäste von nah und fern! Dass wir heute mit und an dieser ehrwürdigen Universität das Jubiläum der einzigen österreichischen Evangelisch-Theologischen Fakultät feiern können, war vor 200 Jahren nicht abzusehen. Noch beim 100-Jahr-Jubiläum 1921 war dies alles andere als wahrscheinlich. Fast genauso unwahrscheinlich wie der Umstand, dass heute, an einem 7. Oktober – dem Staatsfeiertag der untergegangenen DDR – ausgerechnet ein Absolvent einer Kirchlichen Hochschule Ostdeutschlands als Dekan dieser Fakultät die zentralen Festtage eröffnet. Zu vieles schien zu massiv dagegenzusprechen und wurde in immer neuen Anläufen ins Feld geführt. Bleiben wir bei den Einwendungen gegen die Etablierung der Evangelischen Theologie als ordentliche Fakultät dieser Alma Mater. Man hielt dagegen: – Wozu der ganze organisatorische Aufwand bei nur einer halben Million Evangelischen in der österreichischen Hälfte des Reiches?1 – Außerdem, so wurde eingewendet, laufe doch die Ausbildung der Theologen zur vollsten Zufriedenheit. Die Lehranstalt sei eine kaiserliche Stiftung, verfüge über eine feine Bibliothek, habe Hochschulrang und die Professoren würden angemessen bezahlt. Mit Verweis auf die Erfolgsbilanz, die der damalige Dekan Albrecht Vogel in seiner Festrede zum 50jährigen Bestehen der 1 Vgl. die vorzügliche Aufbereitung der Argumente, die gegen die Etablierung der EvangelischTheologischen Lehranstalt ins Feld geführt wurden, bei Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld. Probleme um die Eingliederung der Evangelisch-Theologischen Fakultät in die Universität Wien, in: Karl Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821– 1996, Wien 1997, 99–124, 104.

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kaiserlich königlichen protestantischen Lehranstalt 1871 unvorsichtigerweise gezogen hatte, wurde festgestellt: Ihr habt doch alles! Lassen wir’s dabei.2 – Und überhaupt: Was hat eine Evangelisch-Theologische Fakultät an einer »katholischen Corporation« wie der Wiener Universität zu suchen, an der Hauptuniversität der Kaiserstaats?3 Die Universität werde, so die Befürchtung, durch die Eingliederung einer solchen Institution nachhaltig an Profil und an Ansehen verlieren. – Im Übrigen bedeute die Integration einer Evangelischen Fakultät in den Universitätsverbund den »Ruin der dort bestehenden katholischen« – so der Tenor der gutachterlichen Stellungnahmen einflussreicher katholisch-theologischer Gremien.4 Jedenfalls sah sich der damalige Rektor der Berliner Universität, der Rechtshistoriker Emil Seckel, noch 1921 in seiner von dieser Kanzel aus vorgetragenen Grußadresse zur 100-Jahr-Feier veranlasst, leidenschaftlich für die Aufnahme der Evangelisch-Theologischen Fakultät in den Verband der Universität zu plädieren. Ich zitiere: »Es gereicht Wien zur Unehre, dass eine angesehene Fakultät vor dem Palaste warten muss wie in einem Pförtnerhäuschen.«5 Weiter kam Seckel nicht. Im amtliche Festbericht wird vermerkt: »In einem brausenden, minutenlangen Beifallssturm verklangen die weiteren Schlussworte des Berliner Rektors.«6 Der damalige Rektor der Universität Wien, Alfons Dopsch, teilte diesen Wunsch uneingeschränkt. Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass bald »die letzten Hindernisse für eine Eingliederung weggeräumt seien«7. Ein ganzes Bündel religionspolitischer, wissenschaftspolitischer und bezeichnenderweise von den Generalsynoden vorgetragener bildungspolitischer Argumente8 hat schließlich dazu geführt, dass es ein Jahr später eine in die Universität Wien integrierte Evangelisch–Theologische Fakultät gab. Die Professoren standen alsbald vor der Herausforderung, den eigenen Prämissen und selbst erhobenen Ansprüchen nun auch durch ein entsprechendes 2 Vgl. Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 105 sowie dazu Albrecht Vogel: Festrede vom 21. April 1871 bei der Feier des fünfzigjährigen Bestehens der k. k. evang.-theol. Facultät in Wien, Jena 1871. Zum Hintergrund vgl. Gustav Frank: Die k. k. evangelisch-theologische Facultät in Wien von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Zur Feier ihres fünfzigjährigen Jubiläums, Wien 1871, bes. 69–73. 3 Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 102–103. 4 Vgl. Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 103–104. 5 Vgl. Fritz Wilke: Die Jahrhundertfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien. Amtlicher Festbericht, Wien/Breslau 1923, 40. 6 Fritz Wilke: Die Jahrhundertfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien (s. Anm. 6), 40. 7 Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 99. 8 Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 108–116.

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Profil in Forschung und Lehre Rechnung zu tragen und die gesteigerten Erwartungen zu erfüllen. Dazu gehörte es, der Affinität Evangelischer Theologie zu anderen Wissenschaften (womit immer wieder argumentiert worden war) durch entsprechende Curricula Gestalt zu geben, mit der eigenen Forschungsarbeit an internationale Standards anzuschließen und sich in jener Zeit vor allem philologisch, profanhistorisch, philosophisch, naturhistorisch sowie psychologisch dialogbereit und diskursfähig zu zeigen. Wenn alles das nicht bald zum Tragen komme, so die Kirchen Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in einer zuvor veröffentlichten gemeinsamen Intervention, bestehe die Gefahr, »dass die Fakultät mit der Zeit [schließlich doch noch] herabsinke zu einem bloßen Seminar«9. Diese Gefahr war nun gebannt – und ist es bis heute geblieben. Wobei man ja, wie wir gesehen haben, mit positiven Bilanzen vorsichtig sein muss. Sei’s drum: Wann, wenn nicht an einem Tag wie heute, darf, ja muss es einmal gesagt werden, dass die Wiener Evangelisch-Theologische Fakultät in ihrem zweiten Centennium alle akademisch und fakultätspolitisch zulässigen Register gezogen hat und heute hohes internationales Ansehen genießt? Hunderte von Büchern zu fast allen Gebieten und Themen der Theologie aus der Feder der nunmehr 77 Professorinnen und Professoren dieser Fakultät – sie finden deren Namen auf Seite vier des gedruckten Programms10 – haben von hier aus ihre Reise in die Welt angetreten und sind teilweise zu Klassikern der Lehrbuchliteratur geworden. Sie wurden bzw. werden in wohl fast allen Sprachen rezipiert, in denen an Institutionen theologisch geforscht und gelehrt wird. Ob es nun um eine archäologisch fundierte Erforschung der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte geht, um das Werden und Verstehen des Neuen Testaments, um die zeitgenössische Reformulierung dogmatischer und ethischer Fragen im Horizont Augsburgischer und Helvetischer Bekenntnistraditionen, um Konzepte für eine ökumenische Gottesdienstkultur, um eine religionspsychologische Interpretation von Problemfeldern kirchlicher Praxis oder um neue religions- und gemeindepädagogische Entwürfe: Die Ergebnisse dieser Fakultät können sich sehen lassen und werden wahrgenommen. Entsprechend der letzten Ausgabe des QS World University Rankings belegt die Theologie made in Vienna weltweit 9 Die erste Generalsynode der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in den deutsch-slawischen Ländern Österreichs, Wien 1864, 178–179 »Trotz der nach 1850 geänderten Stellung, die das Promotionsrecht einschloss, und der dann seit dem Jahr 1851 immer wieder erfolgenden Berufung von Lehrern aus dem deutschen Ausland, war die Entwicklung der Fakultät nicht eben glänzend. Es kam auch immer wieder zu längeren Vakanzen bei der Besetzung von Professorenstellen. Damit stagnierte auch die Zahl der Studierenden« (Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld (s. Anm. 1), 110). 10 Vgl. das Faksimile des Programms der zentralen Festtage im Anhang auf S. 441–446.

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Platz 29. An der Wiener Universität werden nur die Medienwissenschaften noch höher bewertet. Bei dieser – wie man heute im Evaluationsjargon zu sagen pflegt – herausragenden »Performance« der Theologie mit dem Label der Wiener Universität schlagen (wie bei Messungen dieser Art üblich) auch die Bilanzen unserer katholischen Schwesterfakultät zu Buche. Ich gratuliere ihrem Dekan an dieser Stelle herzlich zu diesem Erfolg. Die Geschichten und Geschicke unserer beiden Fakultäten haben sich im Laufe der Zeit in vielerlei Hinsicht und mit gegenseitigem Gewinn einander angenähert. Zu der noch ungeschriebenen Geschichte unserer interfakultären Entwicklung gehört es, dass wir hin und wieder gemeinsame Kapitel aufschlagen: Zum Beispiel, wenn wir uns alljährlich mit unseren akademischen Beraterteams gemeinsam treffen, anstehende Entscheidungen miteinander absprechen, die Reichweite offener, uns bewegender Fragen erörtern – und uns dabei der Belastbarkeit unserer gegenseitig gewährten Solidarität vergewissern. Die Herausforderungen, die die Fakultät im Laufe ihrer Geschichte zu bestehen hatte, die Entscheidungen, die sie im Rahmen des Möglichen getroffen hat, und die Akzente, die sie in Forschung und Lehre über Jahrzehnte hin zu setzen wusste, haben ihr ein markantes Profil gegeben, dass sich nun auch im Programm dieser Festtage abbildet: Unter dem Thema »Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft. An der Universität, in der Kirche, für die Gesellschaft« nimmt die Fakultät im Gespräch mit international renommierten Expertinnen und Experten eine Standortbestimmung vor. Dabei lässt sie sich von Hartmut Rosa nach der Rolle der Theologie bei der Förderung einer religiösen Praxis fragen, in der die Antwort- und Resonanzfähigkeit des Einzelnen zu den Kommunikationszielen gehört und als conditio sine qua non protestantischer Glaubenskultur in den Blick kommt. Isolde Karle greift die an dieser Fakultät etablierte Frage nach der Funktion von Religion in der modernen Gesellschaft auf und formuliert auf Basis ihrer Beobachtungen und Analysen Aufgaben, die sich daraus in Zukunft – also ab jetzt – für Theologie und Kirche ergeben. Von Cornelia Richter werden wir auf die notwendigen Risiken einer Theologie aufmerksam gemacht, in der die interne Stimmigkeit dogmatischen Argumentationsmuster nicht höher bewertet wird als ihre Verlinkung mit Schlüsselfragen des Lebens – und zwar jenes Lebens, wie es Menschen tatsächlich führen. Friedrich Wilhelm Graf denkt neu über die Art und Weise der Verankerung Protestantischer Theologie an einer modernen Forschungsuniversität nach. Er macht uns auf Spannungen aufmerksam, die sich einerseits aus der geforderten Einheit der Theologie und deren faktischer Ausdifferenzierung in Teildisziplinen ergeben, auf Spannungen, die andererseits das Verhältnis der Theologie zu anderen Geistes- und Humanwissenschaften betreffen.

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Eine Podiumsdiskussion »Zur Brauchbarkeit und zum Stellenwert von Theologie in Politik und Religion« sowie Statements zur Funktion einer Protestantischen Fakultät im Ensemble der Wissenschaften, präsentiert von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fakultäten, werden das Ihre dazu beitragen, dass wir beim Thema bleiben – und dass der Weihrauch, der sich bei Jubiläen dieser Art leicht entzündet, am Boden bleibt. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf derart weit ausgreifende, ergebnisoffene Diskurse lassen wir uns natürlich nicht ein, ohne uns zuvor an einer professionellen Spurensicherung der Geschichte unserer Fakultät zu delektieren, wie sie uns nur Rudolf Leeb präsentieren kann. Die Zeitreise, zu der wir an diesem Abend eingeladen werden, wird uns nicht nur über entscheidende Wegmarken aufklären und an schaurigen Abgründen vorüberführen; sie wird uns vielleicht auch etwas Dankbarkeit dafür empfinden lassen, mit dieser ehrwürdigen 200jährigen auf die eine oder andere Weise verbandelt zu sein – und nicht nur in Jubiläumsjahren von ihren Früchten zu profitieren. Dass das so ist, hat zweifellos mit dem Standort der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien zu tun – und mit der Forschungsförderung, die ihr an dieser Alma Mater zuteilwird. Die von dieser Universität aufgebotenen Mittel und bereitgestellten Instrumentarien haben der Fakultät geholfen, in den letzten Jahrzehnten ihr Profil in verschiedensten Forschungsformaten weiter zu schärfen. Dafür ist die Fakultät sehr dankbar, und damit sind einige der kühnsten Erwartungen von Grußwortrednern früherer Jubiläen übererfüllt. Jetzt muss ich etwas vorsichtig sein, damit nicht – wie vor 100 Jahren geschehen – der Eindruck entsteht, die Fakultät sei quasi überversorgt. Da Frau Vizerektorin Schnabl unter uns ist, die die Entwicklung unserer Fakultät seit Jahrzehnten mitverfolgt, hält sich diese Sorge allerdings in Grenzen. Im Gegenteil: Nachdem die Fakultät rund um ihr 100-Jahr-Jubiläum mit der Aufnahme in den Universitätsverband beschenkt wurde, sind wir nun gespannt, mit welcher Botschaft uns heute – zum 200. Geburtstag – gratuliert wird. Liebe Frau Kollegin Schnabl, darf ich Sie um ihr Grußwort bitten?11

11 Das Grußwort von Vizerektorin Univ.-Prof. Dr. Christa Schnabl findet sich in diesem Band S. 19–21.

2.1 Die Hauptvorträge

Rudolf Leeb

Eine kurze Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien (1821–2021)

Abstract The Protestant Theological Faculty of the University of Vienna was founded in 1821 as a »Protestantisch-theologische Lehranstalt« under Emperor Franz I. Initially it was not part of the University of Vienna. The aim of the institution was to secure the academic education of protestant pastors in the Habsburg Monarchy after the Tolerance Patent of 1781. In this way, attendance at foreign faculties was to be prevented. Until 1848, this institution was subordinate to the Protestant church, after which it was given autonomy and independence from the church. From 1848 it was also allowed to bear the title »faculty«. In 1861 it was granted the right to confer doctorates. It was not until 1922 that it was incorporated into the University of Vienna as the second theological faculty. Despite a few important scholars in the first decades of its existence, the academic rise of the faculty did not occur until the second half of the 19th century in connection with the Thun-Hohenstein university reform. The faculty reached the level of German faculties during this period. The majority of the faculty and students were theologically liberal-minded at that time. However, many Czech students followed a conservative theology of the Evangelical Movement. From the end of the 19th century until the beginning of the First World War, the nationality conflict of the Habsburg Monarchy was very noticeable at the faculty. After the collapse of the Danube Monarchy in 1918, the faculty saw itself as a »borderland faculty« for the Protestantism of the German-speaking minorities in Southeast Europe. During the National Socialist era, it briefly became a centre of the »Deutsche Christen«. After 1945, the faculty was soon able to return to its pre-war level and was significantly enlarged in terms of personnel.

Die zentralen Festtage des 200-Jahrjubiläums der Evangelisch-theologischen Fakultät fanden vom 7.–10. Oktober im Festsaal der Universität Wien statt. Angesichts der Geschichte der Fakultät ist dies keineswegs selbstverständlich. Die Fakultät musste sich dies im Laufe ihrer Geschichte erst erkämpfen. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Protestantismus in Österreich ganz allgemein hätte es sogar leicht passieren können, dass es diese Fakultät heute gar nicht gibt – und damit auch kein 200-Jahrjubiläum. Zwar hat es im Jahrhundert der Reformation auch in Österreich verheißungsvolle Ansätze für evangelische Hoch-

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schulen gegeben. Die evangelisch dominierten Landtage richteten mit Steuergeldern und auch aus privaten Mitteln sog. Landschaftsschulen ein. Bedeutend und auch überregional anerkannt waren jene in Graz und Linz, aber auch jene in Klagenfurt. In Graz und Linz lehrte etwa Johannes Kepler. Die heutige Grazer Uni wurde sogar in Konkurrenz zur evangelischen Landschaftsschule gegründet.1 Die Landschaftsschulen gingen in der Gegenreformation unter. Aber immerhin lebt ihre Erinnerung indirekt im Namen der Linzer Uni weiter. Die im 20. Jahrhundert neu gegründete Linzer Uni heißt »Johannes Kepler Universität«.

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Gründung und Anfänge

Dass eine Evangelisch-Theologische Fakultät später gegründet werden konnte, lag nicht zuletzt an der Glaubenstreue von Bauern und Handwerkern in ländlichen Gebieten. Der Protestantismus überlebte bekanntlich nach der Gegenreformation in kleinen Resten im historisch bemerkenswerten Phänomen des Geheimprotestantismus. In Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark sowie in Böhmen und Mähren lebte das evangelische Bekenntnis als Laienchristentum im Untergrund – trotz Ausweisungen und Verfolgungen. Erst Kaiser Joseph II. beendete die habsburgische Politik der konsequenten Intoleranz gegenüber den Protestanten in Böhmen, Mähren bzw. den österreichischen Ländern. Sein Toleranzpatent von 1781 erlaubte die Gründung von evangelischen Gemeinden und regelte eine evangelische Kirchenorganisation. In Teilen der damaligen Habsburgermonarchie existierten 1781 aber im Unterschied zu den Erblanden und Böhmen und Mähren aus historischen Gründen bereits legal evangelische Gemeinden. Zum einen im Königreich Ungarn, wo sich das Luthertum und der Calvinismus immer hatten halten können. Auch ist das lutherische Siebenbürgen zu nennen, das seit 1711 zur Monarchie gehörte, sowie ÖsterreichischSchlesien. Letzteres, das im Unterschied zu Ungarn und Siebenbürgen zur eigentlichen mit dem Toleranzpatent neu gegründeten evangelischen Landeskirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses (A. u. H.B.) gehörte, besaß in Teschen sogar ein eigenes Konsistorium.2 Überall da gab es theologische Ausbildungsstätten für den Pfarrernachwuchs, aber nur in Form anspruchsvoller Gymnasien und Lyceen, die eine Art theologischer Propädeutik boten. Die Absolventen rundeten dann ihre Ausbildung mit ein paar Semestern an deutschen 1 Dazu einführend: Gernot Heiß: Konfession, Politik, Erziehung. Die Landschaftsschulen in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Grete Klingenstein/Heinrich Lutz (Hg.): Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungssystems vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (WBGN 5), Wien 1978, 13–63. 2 Oskar Wagner: Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545–1918/20, Wien u. a. 1978.

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Universitäten ab. Eine evangelisch-theologische Fakultät im Sinne einer universitären oder im Niveau universitätsähnlichen Ausbildung fehlte in diesen Gebieten. Trotz Toleranzpatent sah der Staat zunächst aber keinen Grund, eine solche einzurichten, auch wenn damals der Wunsch nach einer evangelisch-theologischen Fakultät aus kirchlichen Kreisen deutlich geäußert wurde. Die evangelischen Gemeinden durften stattdessen Pastoren aus den Gebieten des Hl. Römischen Reiches berufen (Ausnahmen waren Preußisch-Schlesien und Sachsen), aber natürlich auch aus Ungarn und Siebenbürgen. Erst das Jahr 1806 mit dem Ende des Hl. Röm. Reiches brachte die Trendumkehr.3 Die damit verbundene Loslösung der österreichischen Länder von den alten Gebieten des Reiches ließ die Einrichtung einer eigenen Ausbildungsstätte für evangelische Theologen ratsam erscheinen.4 Nicht die Kirchen, sondern der Staat ergriff jetzt die Initiative. Noch im September 1806 wurde das Konsistorium (das ist die evangelische Kirchenleitung, damals eine staatliche Behörde mit einem katholischen Präsidenten) beauftragt diesbezüglich Vorschläge zu machen, um das »Studium im Ausland ganz einstellen zu können.«5 Dieser erste Versuch verzögerte sich aber und blieb liegen, die Sache wurde aber nicht vergessen. Den entscheidenden Anstoß brachten schließlich die Entwicklungen während der napoleonischen Wirren und die damit verbundenen geistesgeschichtlichen Auswirkungen der Zeit der Befreiungskriege. Diese sah der Staat mit Misstrauen: In seinen Augen begann sich der revolutionäre Geist aus Frankreich auszubreiten. Liberale und konstitutionelle Ideen begannen sich vor allem in Deutschland zu regen. Und hier in erster Linie in der Studentenschaft. Es sei nur an das Wartburgfest 1817 erinnert. Der Reihe nach wurde in Österreich deshalb ab 1811 der Besuch verschiedener deutscher Universitäten verboten, 1819 erging schließlich ein generelles Verbot für alle Universitäten in Deutschland.6 Dies geschah offensichtlich im Zusammenhang mit den vor allem von Metternich betriebenen sog. Karlsbader Beschlüssen von 1819, mit denen die wichtigsten Staaten des Deutschen Bundes unter anderem die Überwachung der Studenten und Professoren sowie die Zensur einführten.7 Der metternichsche Staat wollte Kontrolle – auch über 3 Gustav Adolf Skalský: Zur Vorgeschichte der »evang.-theol. Lehranstalt« in Wien, in: JGPrÖ 25 (1904), (105–151) 105–119. 4 Zu den Auswirkungen der Gründung des Kaisertums Österreich im Zusammenhang mit dem Ende des Reiches auf das österreichische Bildungssystem: Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs 3, Wien 1984, 204–206. 5 Vgl. dazu und zum Folgenden: Karl Gustav Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät in Wien von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Wien 1871, 5–6. 6 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5),10 (mit Anm.11). 7 Eberhard Büssem: Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814/15, Hildesheim

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seine Studentenschaft, auch über seine evangelischen Theologen, denn diese waren nachweislich überproportional liberal und national motiviert.8 Die Sorge vor revolutionären Ideen war damals keineswegs auf die Habsburgermonarchie beschränkt. So wurde z. B. die livländische Universität Dorpat vom russischen Kaiser Paul I. 1802 aus genau denselben Motiven gegründet.9 Noch am 25. September 1819 befahl eine allerhöchste Entschließung, dass in Wien eine evangelisch-theologische Lehranstalt für beide evangelischen Konfessionen einzurichten sei.10 Es war die Regierungszeit von Kaiser Franz I. (aus diesem Grund besitzt die Fakultät auch ein Bild dieses Kaisers aus der Gründungszeit der Fakultät). Das Studium sollte drei Jahre dauern und als Kurs organisiert sein.11 Dieses strenge und einengende Kurssystem herrschte damals in der Monarchie mehr oder weniger praktisch an allen höheren Lehranstalten und Universitäten.12 Das unterschied sie von vielen deutschen, insbesondere protestantischen Universitäten, wo der Lehrbetrieb freier war. Die Lehranstalt war den kirchlichen Konsistorien unterstellt, ein von diesen eigens bestellter Direktor (meist ein verdienter höherer Kirchenmann) hatte die Funktion eines Kontrollors.13 Sechs Professuren waren vorgesehen.14 Davon waren zwei der Exegese gewidmet, die bemerkenswerterweise nicht nach den biblischen Büchern, sondern konfessionell zugeordnet waren – eine lutherisch, die andere reformiert. Dies trug den zahlreichen reformierten Gemeinden in Böhmen und Mähren Rechnung. Ebenso gab es für beide protestantischen Konfessionen je einen Dogmatiker. Praktische Theologie und Moral waren in einer Professur zusammengefasst. Hinzu kam ein Kirchenhistoriker, der auch das Kirchenrecht zu vertreten hatte. Schon damals stellte sich das Sprachenproblem. Man einigte sich darauf, dass jene Fächer, die sowohl von reformierten als auch lutherischen Studenten besucht werden

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1974; zum Universitätsgesetz der Beschlüsse vgl. auch: Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig, Berlin u. a. 1013, 21–28. Karl Reinhart Trauner: Liberalismus und österreichischer Protestantismus, in: JGPrÖ 127/128 (2011/2012), (59–100) 63–66; ders.: »… jeglicher möglichen Beirrung der Gemüter vorbeugen!« Die Metternich′sche Repressionspolitik an den Universitäten am Beispiel der »k.k. Protestantisch-Theologischen Lehranstalt« in Wien, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte 3 (1996), 41–57. Reinhard Wittram: Die Universität Dorpat im 19. Jahrhundert, in: ZOF 1 (1952), (1195–219), 195. Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 11. Studien-Hof Commissions-Dekret vom 3. Oktober 1819, Z. 6426; abgedruckt bei: Karl Kuzmány: Urkundenbuch zum österreichisch-evangelischen Kirchenrecht, Wien 1856, (371– 384) 373–374. Einen Einblick gibt: Rudolph Kink: Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Teil 1.1. Geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Universität bis zur Neuzeit. 1. Theil Geschichtliche Darstellung, Wien 1854, 591–623 sowie: Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens (s. Anm. 4), 277–282. Kuzmány : Urkundenbuch (s. Anm. 11), 372 (Pkt. 7). Kuzmány: Urkundenbuch (s. Anm. 11), 372 (Pkt. 4).

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mussten, auf Deutsch abgehalten werden sollten, die reformierte Dogmatik und die reformierte Exegese auf Latein. Dass das Deutsche dominierte, war damals zunächst noch unbestritten, denn die protestantische Theologie war deutschsprachig dominiert. Die Lehre war – wie damals üblich – entlang genau definierter und staatlich genehmigter Lehrbücher zu halten.15 Nach verschiedenen Vorarbeiten und Verhandlungen wurde die »Protestantisch-theologische Lehranstalt« (so ihr offizieller Titel) am 2. April 1821 feierlich eröffnet.16 Die Professuren wurden sukzessive besetzt.17 Die Lehranstalt war nicht Teil der Universität, also keine Fakultät der Universität Wien, sondern eine eigene vom Staat finanzierte Hochschule. Teil der Universität zu werden war damals, in einer Zeit, als noch die Toleranzgesetzgebung galt, die nur der katholischen Kirche das »Kirche-sein« zusprach18, politisch schlicht unmöglich. Dieses Problem, nicht in die Universität inkorporiert zu sein, sollte die Lehranstalt 100 Jahre lang begleiten. Es sei noch einmal daran erinnert, für welch weiten geographischen Raum diese Lehranstalt zuständig war: Sie war für die gesamte Habsburgermonarchie gedacht, d. h. die Lehranstalt sollte von Beginn an Ausbildungsstätte für alle Nationen der Monarchie sein. Die Fakultät bzw. die Bibliothek besitzt ein eindrucksvolles Denkmal aus späterer Zeit, das diese geographische Weite, aber auch die Verbundenheit der Absolventen mit ihrer ehemaligen Ausbildungsstätte veranschaulicht. Es handelt sich um ein eigens zum 50-jährigen Bestandsjubiläum angefertigtes Fotoalbum (gebunden in einem historistischen Prachteinband), in dem Portraitfotos der ehemaligen Studenten gesammelt und durch ein Register erschlossen sind. Auf den Rückseiten der Fotos sind zusätzlich die damaligen Wirkungsstätten der Absolventen vermerkt. Die Zehnjahresdurchschnitte zeigen, dass in den Jahrzehnten zwischen 1821 und 1870 zwischen 34–54 Studierende an der Lehranstalt immatrikulierten, in der Regel lag die Zahl wohl zwischen 40 und 50.19 Kein einziger Student stammte in der Anfangszeit aus dem Gebiet des heutigen Österreich – das hatte soziale Gründe (die Protestanten waren fast ausschließlich Bauern und Handwerker) 15 Zum Ganzen: Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 14–23. 16 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 29. 17 Eine Liste der Professoren und Professorinnen der Lehranstalt bzw. der Fakultät bis 1997 findet sich in: Karl Schwarz/Falk Wagner (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs Universität Wien 10), Wien 1997, 531–533. 18 Rudolf Leeb: Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus, in: Joachim Bahlcke u. a. (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, München 2013, 965–977. 19 Michael Taufrath: Kurze Nachrichten über die k.k. evangelisch-theologische Fakultät in Wien nebst Biographien ihrer ehemaligen Direktoren und bisherigen Professoren sowie Verzeichnis aller bis jetzt an ihr immatrikulirten Studirenden [sic], Wien 21871, 52.

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und dies sollte sich erst langsam ändern. Der Staat hat übrigens im Spätherbst 1823 für die Lehranstalt ein eigenes Stipendienwesen eingerichtet, um möglichst vielen Interessierten ein Studium zu ermöglichen. Es handelte sich zunächst um 30 Stipendien, die nach Bedürftigkeit gestaffelt waren. Es gab allerdings eine Bedingung, die heutigen Lesern in Zeiten von Corona nicht vorenthalten werden sollte: Die Bewerber mussten nachweisen, dass sie gegen Pocken geimpft sind, oder an den Pocken genesen – es galt also eine »2 G-Regel«.20 Die Professoren wurden nach einem sog. Concursverfahren vom Konsistorium penibel geprüft und ausgewählt. »Die Lehrkanzeln sind mit bekannten inländischen vorzüglichen Theologen zu besetzen«.21 Öffentlich deklarierte Kaisertreue war ein entscheidendes Kriterium. Die Professoren mussten so zwangsläufig aus den Gebieten der Monarchie stammen, wo es evangelische Bildungseinrichtungen gab: Aus dem Königreich Ungarn (also auch einschließlich der heutigen Slowakei) und Siebenbürgen. Damit war aber auch klar, dass die neuen Professoren keine Personen sein konnten, die die damalige Höhe der protestantischen Theologie in Deutschland vertreten konnten. Es waren verdiente Schulleute, oder Direktoren von traditionell ausgezeichneten Gymnasien und Lyceen mit sehr guten Kenntnissen der alten Sprachen, die berufen wurden. Oft hatten sie nur populärwissenschaftlich oder gar nicht publiziert. So war der erste Kirchenhistoriker Johann Genersich in Kesmark (Kezˇmarok) in der heutigen Slowakei ein angesehener honoriger Gymnasialprofessor und Pädagoge gewesen, der historische Werke ohne wirklich wissenschaftlichen Anspruch publiziert hatte.22 Der erste Praktische Theologe und auch erster Dekan war der gebürtige Preßburger Paul Laitner. Er war zuvor Pfarrer in der Gnesau in Kärnten, danach in Schladming gewesen und war ein anerkannt begabter Prediger und Lehrender.23 Einer jedoch stach mit seinem wissenschaftlichen Arbeiten wie ein einsamer Turm heraus: Johann Georg Wenrich, der lutherische Professor der Exegese. Er war zuvor Rektor des altehrwürdigen Lyceums in Hermannstadt in Siebenbürgen gewesen. Ein Philologe von besonderen Gnaden, ein wirklich großer Orientalist. Mit einer Abhandlung über die Poesie der Hebräer und Araber Sieger 20 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 23. 21 Kuzmány: Urkundenbuch (s. Anm. 11), 372 (Pkt. 8). 22 Rudolf Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil der an der Fakultät lehrenden Kirchenhistoriker und zur österreichischen Protestantengeschichtsschreibung, in: Karl Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), (13–48) 13–15; Karl Schwarz: Von Käsmark nach Wien. Der Zipser Literat und Pädagoge Johann Genersich (1761–1823) als Theologieprofessor an der Protestantisch-Theologischen Lehranstalt, in: István Fazekas (Hg.): Die Zips – eine kulturgeschichtliche Region im 19. Jahrhundert. Leben und Werk von Johann Genersich (1761–1823), Wien 2013, 79–96 (in diesem Sammelband finden sich noch weitere Beiträge zu Genersich). 23 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 31–32; Harald Zimmermann: Art. Laitner, Paul, in: ÖBL 4 (1969), 406–407.

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eines wissenschaftlichen Preisausschreibens der Pariser Akademie der Wissenschaften. Genau einen Tag vor seinem Tod wurde er 1847 vom Kaiser zum Mitglied der neu errichteten Akademie der Wissenschaften in Wien ernannt und gehörte damit zu den 40 ersten Mitgliedern.24 Erwähnt sei noch der Nachfolger Genersichs in Kirchengeschichte Daniel Schimko, der seine Professur 1825 antrat. Theologisch gesehen war er ein reiner Rationalist der alten Schule, Vertreter einer radikalen Theologie der Aufklärung und ein Mann von großer intellektueller Begabung, ein bedeutender Sammler von Münzen und Antiquitäten, der aber kirchenhistorisch nicht publiziert hat. Hingegen hat er sich sehr wohl kirchenpolitisch im Sinne des Liberalismus engagiert. Er war – damals höchst ungewöhnlich – ein Verfechter einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Eine Kirche sei nur eine Privatgesellschaft bzw. ein Verein im Staate.25 Von ihm stammt schließlich – auch das höchst bemerkenswert – ein bedeutendes Plädoyer für die Judenemanzipation und gegen den Antisemitismus.26 Liberale Tendenzen sollten an der Fakultät in Hinkunft, ja bis in die Gegenwart immer stark bleiben. Zwar hatte der Protestantismus in Österreich und in Böhmen und Mähren sein demographisches Rückgrat in konfessioneller Hinsicht in den traditionell geprägten Landregionen und ebenso machte sich die Erweckungsbewegung deutlich bemerkbar, doch mit dem Anwachsen des evangelischen Bürgertums wurden in der evangelischen Kirche gerade unter den Intellektuellen im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zu dessen Ende allgemein die liberalen Tendenzen immer stärker.27 Das Wirken eines bedeutenden Gelehrten wie Wenrich konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lehranstalt aufgrund ihrer Rahmenbedingungen keine auf breiter Basis beruhende wissenschaftliche Forschung betreiben konnte. 1837 urteilte das Professorenkollegium selbst, dass es keine wirklichen Wissenschaftler ausbilden könne. Die Lehranstalt sei eigentlich ein höheres Predigerseminar. Verantwortlich gemacht wurde hierfür vor allem das einengende Kurssystem und damit im Grunde das kontrollierende paternalistische Einwirken des Staates.28 Dazu kam die Existenz der Lehranstalt außerhalb des Universitätsverbandes. Seit 1827 war außerdem für Ungarn und Siebenbürger 24 Grete Mecenseffy: Evangelische Lehrer an der Universität Wien, Graz u. a., 26–27. 25 Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil (s. Anm. 22), 15–17. 26 Ulrich Trinks: Protestantismus in Österreich, in: Karl Heinrich Rengstorf/Siegfried von Kortzfleisch (Hg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen 2, Stuttgart 1970, (532–558) 536–540. 27 Vgl. Johannes Wischmeyer: Innerprotestantische Kulturkämpfe: Der »Grazer Kirchenstreit« 1871–1873 und die kirchenpolitische Debatte um den theologischen Liberalismus, in: JGPrÖ 127/128 (2011/2012), 9–58; Trauner, Liberalismus und österreichischer Protestantismus (s. Anm. 8) 59–100; Astrid Schweighofer: Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900 (AKG 126), Berlin/Bosten 2015, 50–63. 28 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 35.

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das Verbot des Besuchs deutscher Fakultäten aufgehoben, die Fakultät stand damit in Konkurrenz zu den deutschen Fakultäten.29 Das war insofern ein Problem, weil viele Ungarn deshalb lieber in Deutschland studierten. Das vom Staat intendierte Ziel einer Integration des Protestantismus in die Habsburgermonarchie durch ein Studium der zukünftigen evangelischen Theologen an der Wiener Lehranstalt wurde letztlich nicht erreicht. Zum Teil hatte dies auch nationalpolitische Gründe. Die dominierende Unterrichtssprache war Deutsch, was vor allem von Magyaren und Tschechen kritisiert wurde. Schon in den Zwanziger-Jahren wurde auf Anregung des jungen Frantisˇek Palacký ein slawischer Studentenverein gegründet, um an der Lehranstalt das slawische Element stärker zu verankern.30

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Die Lehranstalt in den Jahren 1848–1918

Die belastenden Rahmenbedingungen änderten sich 1848 mit der Revolution. In Wien waren bekanntlich das Bürgertum und während der Mairevolution besonders die Studenten die treibende Kraft der Revolution. Sowohl die Studenten als auch die Professoren der Lehranstalt haben sich damals mit der Universität in einer Grußadresse solidarisiert und sich bedingungslos hinter die Ziele der Aufständischen gestellt.31 Die evangelischen Theologiestudenten forderten in einer Petition Lehr- und Lernfreiheit sowie die Incorporation in die Universität.32 In ihrer Grußadresse an die Studenten der Universität meinten die Kommilitonen der Lehranstalt hoffnungsfroh, dass sie mit ihrer Solidarität nunmehr

29 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 35. Zur Ausbildung der evangelischen Theologen in Ungarn: Zoltán Csepregi: Die Ausbildung lutherischer Pfarrer in Ungarn. Zur Geschichte und Gegenwart der Theologischen Akademie in Budapest, in: Lutherische Kirche in der Welt 47 (2000), (93–10). Beispiele für die Zurückhaltung der Ungarn gegenüber der Lehranstalt bietet: Karl Schwarz: Evangelische Theologie zwischen kultureller Nachbarschaftshilfe und volksdeutschem »Sendungsbewusstsein«. Die Wiener Protestantisch-theologische Lehranstalt/Fakultät und ihre Bedeutung für den Donau- und Karpatenraum, in: Danubia Carpathica 1 (48) (2007), (89–112) 92–93. 30 Zum Ganzen: Karl Schwarz: Der Protestantismus in Cisleithanien, in: Andreas Gottsmann (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. X: Das kulturelle Leben. Akteure-Tendenzen-Ausprägungen, Teilband 1: Staat-Konfession-Identität, Wien 2021, (437–476) 446–467; ders.: Frantisˇek Palacký und die Theologie. Ein Bericht zur Frühgeschichte der Protestantisch-theologischen Lehranstalt in Wien, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 9 (2012), 217–230. 31 Karl Schwarz: Die Wiener Protestantisch-theologische Lehranstalt im Frühjahr 1848, in: Amt und Gemeinde 9 (1983), 87–89; Karl-Reinhart Trauner: Die eine Fakultät und die vielen Völker. Die Evangelisch-Theologische Fakultät zu Wien im nationalen Spannungsfeld der Habsburgermonarchie, in: Schwarz, Wagner: Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), (71–98) 75–77. 32 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 45–46.

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der Universität »factisch einverleibt« seien.33 Die Inkorporation in die Universität schien damals in der Tat unmittelbar bevorzustehen. Ein Erfolg der Revolution war bekanntlich ein epochaler Umbruch im Bildungssystem mit Wirkungen bis weit über die Mitte des 20. Jhdts. Die ThunHohensteinsche Bildungsreform regelte Gymnasial- und Universitätswesen radikal neu, modern und zukunftsweisend.34 Sie brachte für die Universitäten die Lehr- und Lernfreiheit und die Selbstverwaltung durch gewählte akademische Organe sowie deren Entkonfessionalisierung. Die Universität wurde in kleinere Forschungseinheiten aufgegliedert (Institute und Seminare). Neue Lehrformate wurden eingeführt. Studierende sollten Teil des wissenschaftlichen Diskurses und in Methoden eingeführt werden. Das alte Kurssystem war überholt. Diese Universitätsreform wurde vom Ministerium nun konsequent auf die protestantische Lehranstalt ausgedehnt. Der Ministerialerlass erging am 8. Oktober 1850.35 Die Lehranstalt sollte damit »… jener freieren Gestaltung theilhaftig …« werden, die seit 1849 an den österreichischen Universitäten galten, »… damit auch ihr die Entwicklung eines kräftigeren wissenschaftlichen Lebens möglich werde …«.36 Die Veränderungen im Zuge der Thun-Hohenstein′schen Universitätsreform sahen für die Lehranstalt wie folgt aus: – Die Lehranstalt wurde in eine Fakultät umgewandelt, d. h. sie durfte sich fortan »Evangelisch-theologische Fakultät« nennen. Sie wurde aber – trotz lauter Forderungen während der Revolution – weiterhin nicht in die Universität inkorporiert. – Die Fakultät unterstand nicht mehr den Konsistorien, also nicht mehr der Kirche, sondern direkt dem Ministerium für Cultus und Unterricht. Das Amt des Direktors wurde abgeschafft (§6). – Der Lehrkörper, d. h. sämtliche Professoren, verwalteten die Fakultät selbst und wählen aus ihren Reihen jährlich den Dekan. Bereits seit Dezember 1848 hatten die Professoren das Recht, bei der Nachbesetzung einer Professur einen Ternavorschlag zu erstellen.37 33 Schwarz: Lehranstalt im Frühjahr 1848 (s. Anm. 31), 89. 34 Einführend: Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs 4, Wien 1986, 221–232; Christoph Aichner/ Brigitte Mazohl (Hg.): Die Thun-Hohernstein′schen Universitätsreformen 1849–1860. Konzeption-Umsetzung-Nachwirkungen (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 115), Wien u. a. 2017. 35 Erlass des Ministeriums des Cultus und Unterrichts vom 8. October 1850 die Organisation der k.k. evangelisch-theologischen Lehranstalt in Wien das Studienwesen an derselben, und die Disciplinarordnung betreffend. Abgedruckt bei: Kuzmány, Urkundenbuch (s. Anm. 11), 374– 384. 36 Kuzmány, Urkundenbuch (s. Anm. 11), 374 (Allgemeines Reichsgesetz und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich 1850 Nr. 388, Seite 1797). 37 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 47.

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– Die Studenten genießen die Lernfreiheit, d. h. sie haben die Freiheit, »die Fächer welche, die Zeit wann und die Lehrer, bei welchen sie hören wollen, zu wählen.« (§27).38 – Die Fakultät erhielt das Habilitationsrecht (§4). Erst mit dem Ministerialerlass vom 3. August 1861 sollte dann das Promotionsrecht folgen (Lizentiat/Doktorat).39 Mit letzterem war bis 1914 die Fakultät die einzige Institution in der Habsburgermonarchie, die einen Dr. in evangelischer Theologie verleihen konnte. Diese neuen Rahmenbedingungen machten auch die Evangelisch-theologische Fakultät zukunftsfähig. Bemerkenswert an diesen neuen Regelungen ist die strikte Trennung von Kirche und Staat und die damit verbundene weitgehende Autonomie der Fakultät, die von der Kirchenleitung keineswegs goutiert, aber von den Professoren verteidigt wurde.40 Wie bei der Universität Wien, wo ab nun konsequent wissenschaftliche Kapazitäten berufen wurden, die häufig aus Deutschland stammten, hat das Ministerium nun ebenso bei der nunmehrigen Evangelisch-theologischen Fakultät bei Berufungen auf wissenschaftliches Niveau geachtet. Vorher war das Professorenkollegium ein einträchtiges Team begabter Schulmänner mit Format, eine Institution mit originellen Köpfen gewesen, unter denen sich vereinzelt bedeutende Wissenschaftler befanden. Jetzt begann das wissenschaftliche Niveau auf breiter Front zu steigen. Fallweise waren die Professoren nun auch politisch und kulturell einflussreich. Möglich war dies auch, weil nun Ausländer, d. h. Deutsche, von außerhalb der Monarchie berufen werden konnten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte die Fakultät das Niveau deutscher Fakultäten. Exemplarisch seien genannt: Noch 1849 wurde der Slowake Karol Kuzmány (1806–1866) berufen, auf den noch einzugehen sein wird. Ab 1851 wirkte Johann Carl Theodor von Otto (1816– 1897) als Professor für Kirchengeschichte bis 1887. Er war einer der bedeutenden Patristiker seiner Zeit, arbeitete über die griechischen Apologeten und schuf deren erste kritische Edition, hat aber auch – für die damalige Zeit bemerkenswert – die moderne wissenschaftliche Erforschung der österreichischen Reformationsgeschichte begründet. Er war der erste Präsident der bereits 1879 gegründeten »Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich« (die älteste territorialkirchengeschichtliche Vereinigung im deutschsprachigen Protestantismus).41 In der systematischen Theologie ist der 1861 berufene Ri38 Kuzmány, Urkundenbuch (s. Anm. 11), 378 (§27). 39 Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens 4 (s. Anm. 34), 268 u. 426 (Anm. 299). 40 Vgl. die diesbezügliche Korrespondenz bei: Frank, Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 51–56. 41 Leeb: Das wissenschaftliche Profil (s. Anm. 17), 18–21.

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chard Adelbert Lipsius (1830–1892) zu nennen, der in der protestantischen Theologiegeschichte seinen fixen Platz hat und der bis 1861 in Österreich auch als liberal gesinnter Kirchenpolitiker gewirkt hat.42 Sein Nachfolger Gustav Frank ist bedeutend als Verfasser der ersten Geschichte der protestantischen Theologie, die in vier Bänden von 1862–1905 erschien.43 1864 wurde Eduard Böhl auf den Lehrstuhl für reformierte Dogmatik berufen, den er bis 1900 innehatte. Er spielte in der reformierten Welt des 19. Jahrhunderts eine höchst einflussreiche Rolle als strenger, frommer Neocalvinist, der aus der Erweckungsbewegung stammte.44 Ein Gewächs der Fakultät war der Alttestamentler Georg Gustav Roskoff. Der gebürtige Preßburger wurde von der Fakultät regelrecht aufgebaut, er war der erste Assistent noch an der Lehranstalt gewesen. Er ist der Verfasser einer »Geschichte des Teufels«, eine bedeutende, höchst modern anmutende Geschichte der Teufelsvorstellungen von den Anfängen der Menschheit bis ins 18. Jhdt. und damit zugleich auch eine Geschichte der dualistischen Vorstellungen. Ihm wurde die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg verliehen.45 Überblickt man die Professoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so fällt auf, dass ein beträchtlicher Teil von ihnen aus Jena berufen wurde (u. a. Otto, Lipsius, Frank).46 Diese Herkunft verrät auch das Profil der Fakultät in dieser Zeit. Sie war insgesamt liberal geprägt.47 Manche Professoren vertraten ein gemäßigtes konfessionelles Luthertum (Kuzmány, Johann Michael Szeberinyi). Schon 1864 ist belegt, dass der Oberkirchenrat (eine staatliche Behörde) dieses 42 Friedrich Reinhard Lipsius: Art. Richard Adelbert Lipsius, in: RE 11 (1902), 520–552; Wolfgang Reu: Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Richard Adelbert Lipsius, Göttingen Univ. Diss. 1968; Suda, Max Josef, Gotteserkenntnis nach Richard Adelbert Lipsius, in: Schwarz/Wagner: Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), 327–352; Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit 1, Tübingen 1997, 859–863; Philipp David: Exegese und liberale Theologie bei Richard Adelbert Lipsius (1830–1892), in: Felix John/ Swantje Richter (Hg.): Exegese in ihrer Zeit. Ausleger neutestamentlicher Texte, Leipzig 2015, 9–28. 43 Gustav Wilhelm Frank: Geschichte der Protestantischen Theologie 4 Bde., Leipzig 1862–1902. Zu ihm: Georg Loesche: Art. Frank, Karl Gustav, in: RE 23 (1908), 452–457. 44 Ulrich Körtner: Calvinismus und Moderne. Der Neocalvinismus und seine Vertreter auf dem Lehrstuhl für Reformierte Theologie, in. Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 7), (427– 452), 429–431; Willem Balke: Eduard Böhl: Hoogleraar te Wenen en schoonzoon van dr. H.F. Kohlbrügge Zoetermeer 2001; Karl Schwarz: ›Zur entschiedene[n] Wahrung des reformierten Criteriums‹. Eine fakultätsgeschichtliche Annäherung an den Systematiker Eduard Böhl, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 11 (2016), (233–255); ders.: Academic Relations between Debrecen and Vienna: Exemplified by Eduard Böhl and Sándor Venetianer, in: Sciendo 19 (2021), 101–113. 45 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 58–59; ders.: Art. Roskoff, Gustav Theodor, in: RE 17 (1906), 158–159. 46 Vgl. die Bemerkung zur Fakultät von Georg Loesche: »… seit alters ziehen sich kleine Kanäle von der Donau zur Saale«. Loesche: Art. Frank, Karl Gustav (s. Anm. 43), 453. 47 Karl Reinhart Trauner: Von Jena nach Erlangen. Ein Beitrag zum Wechsel theologischer Schulen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät zu Wien, in: JGPrÖ 117/118 (2002), 48–83.

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konfessionelle bekenntnishafte Moment an der Fakultät favorisierte, weil er davon eine konservative, kaisertreue Gesinnung erwartete.48 Das änderte aber nichts an der ausgesprochen liberalen Ausrichtung der Fakultät in dieser Zeit. Es gibt nur eine, allerdings markante und wirkmächtige Ausnahme: Der schon genannte Eduard Böhl, der deswegen innerhalb der Professorenschaft auch isoliert blieb. Spricht man von der Geschichte der Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so darf ein beherrschendes Thema nicht fehlen: der sich steigernde Nationalitätenkonflikt, in den die Fakultät sukzessive hineingezogen wurde. Erinnern wir uns: die Fakultät sollte für alle Völker der Donaumonarchie Ausbildungsstätte sein. Von den Anfängen der Fakultät bis zum Ausgleich mit Ungarn 1867 waren trotz allem Studenten aus Ungarn und Siebenbürgen an ihr dominierend. Danach blieben die Ungarn praktisch aus und die Fakultät wurde von den tschechisch- und deutschsprachigen Studenten Cisleithaniens frequentiert. Der Anspruch Ausbildungsstätte für die gesamte Monarchie zu sein, wurde spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Problem. In der Fakultät sind wie in einem Brennglas die nationalen Konflikte der Monarchie im Kleinen zu beobachten. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Lehranstalt Studenten, die später als Amtsträger in ihrer Heimat aktive Gestalter des erwachenden Nationalbewusstseins und der nationalen Kultur wurden.49 In ihren Anfängen begegnet uns die nationale Frage – damals noch relativ unproblematisch – während der Revolution 1848. Zwölf slawischsprachige Studenten richteten an die Kirchenleitung in Wien eine Petition. Angeregt und unterstützt wurde diese Petition übrigens von niemand geringerem als Frantisek Palacky, der in jungen Jahren ja selbst Vorlesungen an der Lehranstalt besucht hatte. Die slawischsprachigen Studenten forderten, dass an der Lehranstalt stets ein Professor angestellt sein müsse, der der slawischen Sprache vollkommen mächtig sei. 48 Der österreichische Gesandte in Berlin Graf Károlyi schrieb 1864 nach Wien: »Im Hinblick auf die unionistischen Bestrebungen in der österreichischen protestantischen Kirche als auch auf die sich immer mehr sich kundgebende Tendenz unter dem Vorwande der Autonomie, die Trennung von Kirche und Staat zu bewerkstelligen, liegt es im Interesse der kaiserlichen Regierung auf der einzigen evangelisch-theologischen Fakultät Österreichs das Element der Bekenntnisrichtung und dem Staate ergebener Gesinnung zu befestigen. Von diesem Streben geleitet, wurden in jüngster Zeit der Wiener Garnisonsprediger und Konsistorialrath J.M. Szeberinyi und der Privatdozent in Basel Eduard Böhl zu Professoren der Theologie ernannt.« Das Zitat bei: Karl Schwarz: Johann Michael Szeberinyi – ein Absolvent des Kollegiums als Theologieprofessor in Wien, in: Acta Collegii Evangelici Presˇoviensis I (1997), (197–214) 206– 207. Zu seiner Einordnung: Rudolf Leeb: Der österreichische Protestantismus und die Losvon-Rom-Bewegung, in: Johannes Dantine u. a.(Hg.): Protestantische Mentalitäten, Wien 1999, (195–230), 196 mit Anm. 7 auf 213–214; Trauner: Von Jena nach Erlangen (s. Anm. 47), 59. 49 Beispiele nennt: Schwarz: Evangelische Theologie zwischen kultureller Nachbarschaftshilfe und volksdeutschem »Sendungsbewusstsein« (s. Anm. 27), 94–95.

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Die Slawen wollten für ihr späteres Pfarramt in der Heimat in ihrer Muttersprache predigen und theologisch diskutieren lernen. Unterrichtssprachen waren an der Lehranstalt bis dahin aber nur Deutsch und Latein gewesen. Außerdem forderten sie, dass die Bibliothek verstärkt slawische Literatur berücksichtige. Auch Abschlussprüfungen sollten auf Slawisch abgehalten werden können.50 Wir müssen uns dabei vor Augen halten, dass in der evangelischen Kirche A. und H.B. die Tschechen eine Macht waren. Sie repräsentierten das »H.B.« (Helvetisches Bekenntnis) in dieser Kirche, repräsentierten die Reformierten. Von den 110 000 Reformierten in Cisleithanien waren 100 000 Tschechen und nur 10 000 Deutsche. Die Fakultät reagierte sofort. Noch 1849 berief man den Slowaken Karol Kuzmány als Professor für Praktische Theologie und Kirchenrecht. Ab nun sollten bis 1918 Slaven den Lehrstuhl für Praktische Theologie innehaben. Kuzmány gilt heute als bedeutende Person der slowakischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Er war schriftstellerisch tätig und plädierte und kämpfte für die Einheit der slowakischen und tschechischen Sprache.51 Sein Urkundenbuch zur österreichischen evangelischen Rechtsgeschichte ist bis heute unverzichtbar. Im Arkadenhof der Universität Wien befindet sich seit 1998 eine Gedenktafel für ihn, die von der Slowakei finanziert wurde. 2006 hat die Slowakei ihm eine Briefmarke und eine 200-Kronenmünze gewidmet. Kuzmány hielt ab nun homiletische Übungen in slawischer Sprache, die slawischsprechenden Studenten hielten unter seiner Anleitung auch Gottesdienste in ihrer Muttersprache. Ab 1863 setzte Kuzmánys Nachfolger Johann Michael Szeberinyi, ebenfalls ein Slowake, diese Praxis fort.52 Ebenso dessen Nachfolger Gustav Adolf Skalský. Er war der erste Tscheche in der Professorenschaft der Fakultät – allerdings kein Reformierter, sondern wie schon sein Vorname zeigt, ein Lutheraner.53 Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde also ein Tscheche berufen. Bis zu Skalský hatte überhaupt kein einziger Professor aus Böhmen und Mähren an der Fakultät gelehrt. Wichtig war den Tschechen in dieser Situation deshalb der Lehrstuhl für reformierte Dogmatik. Hier gab es aber eine lange Vakanz zwischen 1856 bis 1864 und später noch einmal zwischen 1900 und 1910, was die reformierten Tschechen verärgerte. Hinzu kam ein Weiteres. 50 Frank: Die K.K. Evangelisch – Theologische Facultät (s. Anm. 5), 45–46; Schwarz: Evangelische Theologie zwischen kultureller Nachbarschaftshilfe und volksdeutschem »Sendungsbewusstsein« (s. Anm. 27), 96–97 (dort auch die Namen der slawischen Studenten). 51 Karl W. Schwarz: Art. Karol Kusmány, in: BBKL 4 (1992), (851–853); ders.: Karol Kuzmánys Memoranden zur kirchlichen Verfassungsgeschichte (1850) und zur aktuellen Lage der Lutherischen Kirche (1849). Edition und Analyse, in: Acta Collegii Evangelici Presoviensis 7, Presˇov 2000, 89–118. 52 Karl Schwarz: Art. Johann Michael Szeberinyi, in: ÖBL 12 (2005), 74; Schwarz: Johann Michael Szeberinyi (s. Anm. 48), 197–214. 53 Karl Schwarz: Gustav Adolf Skalský (1857–1926) – eine Erinnerung an den Gründungsdekan der Hus-Fakultät in Prag, in: JGPrÖ 136 (2020), 73–84.

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Die reformierten tschechischen Kirchengemeinden waren im Laufe des 19. Jahrhunderts von der antiaufklärerischen Erweckungsbewegung erfasst worden. Im Laufe der Zeit gingen so die nationale Erweckung und die religiöse Erweckung eine innige, nicht zu trennende Verbindung ein.54 Man kann vielleicht von einem im Entstehen begriffenen tschechischen, reformiert geprägten, konservativen Nationalprotestantismus sprechen. Diese reformierten Tschechen gingen natürlich nicht gern an die Fakultät nach Wien, denn die war liberal geprägt. Je länger, je mehr wurde die Fakultät von den Tschechen nicht mehr als die ihre angesehen. Abgesehen von der in ihren Augen nicht genügenden Berücksichtigung des Tschechischen war es eben die liberale und nicht konfessionalistische Ausrichtung der Fakultät, die sie ablehnten. Die Tschechen studierten lieber in Basel, im calvinistischen Schottland oder in Bonn. Trotzdem studierten Tschechen an der Wiener Fakultät. Sie kamen darum nicht herum, denn sie waren dazu gezwungen. Wollte man später in den Dienst der evangelischen Kirche A. und H.B. Cisleithaniens eintreten, so hatte man zwei Pflichtsemester in Wien zu absolvieren, vor allem aber die Abschlussprüfungen hier abzulegen. Trotz allem gab es für die reformierten Tschechen in Wien einen Zufluchtshafen und einen Anker: Eduard Böhl.55 Zwar Deutscher, war er aber selbst erweckt und strenger Calvinist, in der Hinsicht also einer der Ihren. Um ihn scharten sich die Tschechen. Böhl baute so einen tschechischen Schülerkreis auf, der später in Böhmen und Mähren nachhaltig gewirkt hat.56 Der Nationalitätenkonflikt gelangte an der Fakultät ab den Achtziger Jahren an seinen Höhepunkt. Schon bei der Geburtstagsfeier von Roskoff 1974 waren nationale Interessen laut geworden.57 1885 wurde die deutschnationale Studentenverbindung »Wartburg« gegründet, als 54 Pavel Filipi: Die Erweckungsbewegung in Südostmitteleuropa, in: Ulrich Gäbler (Hg.): Geschichte des Pietismus 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000, 359–369; Eduard Böhl: Recent Dogmatic Thought among the Protestants in Austria-Hungary, in: The Presbyterian and Reformed Review 5 (1891/92), 1–29. Vgl. auch: Wilhelm Kühnert: Zentrifugale Kräfte in der evangelischen Kirche Altösterreichs mit besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes, in: JGPrÖ 94 (1978), 82–95. Zur Haltung der Tschechen am Ende der Monarchie: Peter Morée: Loyalitätsverlust im Namen des Nationalismus. Die tschechischen Protestanten und der erste Weltkrieg, in: Hans Georg Ulrich in Verbindung mit Veronika Albrecht Birkner (Hg.): Der erste Weltkrieg und die reformierte Welt (Forschungen zur reformierten Welt 3), Neukirchen-Vluyn 2014, 154–165. 55 Schwarz: Zur »zur entschiedene(n) Wahrung des reformierten Criteriums«. (s. Anm. 44), (233–257) 245–246. 56 Pavel Filipi: Die Schüler Eduard Böhls in Böhmen und Mähren, in: Schwarz/Wagner (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), 453–468; ders.: Theologische Strömungen des tschechischen Protestantismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JGPrÖ 110/111 (1994/1995), 201–214. 57 Karl Schwarz: »Ein Glück für die Lehranstalt, daß sie von diesen Slawenaposteln verschont blieb.« Nationalismus und nationalistische Motive im Spiegel der Wiener Evangelischtheologischen Fakultät, in: Peter Sˇvorc u. a. (Hg.): Cirkvi a národy strednej Európy (1800– 1950)/Kirchen und Völker Mitteleuropas (1800–1950), Presˇov/Wien 2008, (59–73) 67.

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»Verein deutscher evangelischer Theologen Wartburg«.58 Die »Wartburg« wollte dezidiert den slawischen Studenten Paroli bieten. In Szeberinyi erblickten sie ihren Hauptgegner. Die Tschechen klagten über Provokationen seitens der Wartburg. Bei der Inauguration von Paul Feine 1906/1907 als neuem Dekan kam es gar zu einem Eklat.59 Der deutschnationale Feine gestattete den Studenten der Wartburg in vollem Wichs zu erscheinen, nicht aber den tschechischen Studenten des Vereins »Kruh«. Damals waren der Nationalitätenkonflikt wegen der Badenischen Sprachenverordnungen und der Los-von-Rombewegung am Sieden.60 Sämtliche tschechische evangelische Gemeinden legten daraufhin bei der Kirchenleitung Protest ein. Es wurde zwar überlegt, die Anzahl der slawischen Professuren gemäß dem Anteil der Studenten zu erhöhen. Dem widersetzten sich die deutschnationalen Professoren, die natürlich die Mehrheit darstellten. Sie fürchteten eine schleichende Übernahme der Fakultät durch die Slawen. Zudem stellte sich bei Berufungen immer das Problem, dass evangelische wissenschaftliche Theologie deutschsprachig geprägt war. Die Professoren verwiesen darauf, dass bei Berufungen allein das wissenschaftliche Niveau der Bewerber entscheidend sei.61 Der Nationalitätenkonflikt an der Fakultät zeigte sich noch einmal drastisch und zugleich tragisch am Ende der Monarchie bei Ausbrauch des ersten Weltkrieges, als Österreich-Ungarn und an seiner Seite Deutschland in den Krieg eintraten. Der 1. Weltkrieg brachte bekanntlich bereits in den ersten Wochen im August 1914 in kürzester Zeit eine nie dagewesene, unvorstellbar hohe Zahl an Opfern. So auch an der Ostfront, wo Österreich engagiert war. Diese Ereignisse bewegten auch die evangelischen Theologiestudenten in Wien. Sie riefen unter ihnen eine besondere Reaktion hervor, die die Fakultät ins Mark treffen sollte. Eine Reaktion, die für uns Nachgeborene heute schwer nachvollziehbar ist, aber vor dem Hintergrund des Nationalitätenkonflikts, der deutschnationalen Ausrichtung der deutschsprachigen Studenten, der öffentlichen Stimmung der ersten Kriegswochen aber wohl auch aus gruppendynamischen Prozessen wenigstens zum Teil erklärbar wird. Am 26. November 1914 wurde eine Hörerversammlung einberufen.62 Vorsitz führte der Student Josef Beck, Sohn des Pfarrers von Wien 58 Hans Koch: Die »Wartburg« in Wien, in: EvDia 17 (1935), 198–206; Arthur Berg: Kurzgefasste Geschichte der Wartburg von 1885 bis 1938, in: 100 Jahre Akademische Verbindung Wartburg 1885–1985, Wien o. J. (1985), 11–22. 59 Karl Schwarz: »Ein Glück für die Lehranstalt« (…) (s. Anm. 57), 68. 60 Zur Los-von-Rombewegung vgl. einführend: Leeb: Die Los-von-Rombewegung (s. Anm. 48), 195–232; Karl Reinhart Trauner: Die Los-von-Rom-Bewegung. Gesellschaftspolitische und kirchliche Strömung in der ausgehenden Habsburgermonarchie, Szentendre 1997. 61 Schwarz: Ein Glück für die Lehranstalt (s. Anm. 57), 68. 62 Zum Folgenden: Karl Reinhart Trauner: Vom Hörsaal in den Schützengraben. Evangelische Theologiestudenten im Ersten Weltkrieg, Szentendre 2004, 34–56; ders.: Die Kriegsfreiwil-

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Währing. Der extrem deutschnational gesinnte Dekan Fritz Wilke war anwesend. Josef Beck stellte den Antrag, dass sich die Studenten der evangelischen Theologie in Wien als Kriegsfreiwillige melden sollten – das war der Sinn dieser Fakultätsversammlung. Der Antrag war umso bemerkenswerter, weil die Studenten der Theologie – wie noch heute – per Gesetz vom Militärdienst befreit waren. Die deutschsprachigen Studenten empfanden dieses Gesetz in dieser Situation als Demütigung, als Zurücksetzung ihrer Zunft und wollten als Waffenbrüder an der Front helfen und mitkämpfen. Bei den tschechischen Studenten gab es hingegen Widerstand. Von den damals 82 Studierenden an der Fakultät waren 59 Deutsche und 19 Tschechen (hinzu kamen drei Polen und ein Ruthene). Die Tschechen lehnten den Antrag ab mit der Begründung: Ein Diener Christi dürfe nicht die Hand gegen andere Menschen erheben.63 Die nationalen Motive der Tschechen waren aber ebenso offensichtlich.64 Gegen fünf von ihnen wurden später Hochverratsprozesse geführt, die zu zwei Todesurteilen führten, die aber nicht vollstreckt wurden. 1917 wurden beide amnestiert.65 Der Vorsitzende Beck schlug daraufhin vor, man könne sich doch auch, statt zum Dienst an der Waffe, zum Sanitätsdienst melden. Der so modifizierte Antrag wurde angenommen. Es war klar, dass die deutschsprachigen Studenten den Dienst an der Waffe wählen würden. Dekan Wilke war begeistert und hat die deutschen Studenten dabei nachdrücklich unterstützt, über die tschechischen Kommilitonen war er verbittert und enttäuscht.66 Auf sein Betreiben stimmten die Kirchenleitung und das Unterrichtsministerium dem Antrag zu. Nach einer Audienz im Ministerium für Landesverteidigung, das die »patriotische opferwillige Gesinnung der Hörerschaft« eigens lobte, wurde am 10.1. 1915 per eigenem Erlass den Theologiestudenten der Militärdienst erlaubt. Schon im Februar zogen die ersten Studenten ins Feld. 36 waren es zunächst, bis 1916 wurden es 58 (70 mit den im Ausland Studierenden). In einem Brief der Beck-Brüder heißt es:

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ligmeldung der evangelischen Theologiestudenten, in: Karl Reinhart Trauner: Religionen im Krieg 1914–1918. Evangelische Kirche in Österreich (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums 19/1), Wien 2014, 128–148. Trauner: Vom Hörsaal in den Schützengraben (s. Anm. 62), 36. Trauner: Vom Hörsaal in den Schützengraben (s. Anm. 62), 62–71. Trauner, Vom Hörsaal in den Schützengraben (s. Anm. 62), 67–83; Karl Reinhart Trauner, ˇ eznícˇek und der Zu»Das Urteil lautet: … Tod durch Strang.« Der Theologiestudent Jan R sammenbruch der Habsburgermonarchie, in: Communio Viatorum 47 (2005) 3–23; Schwarz: Ein Glück für die Lehranstalt (wie Anm. 57), 70–71. Fritz Wilke: Von unseren kriegsfreiwilligen Theologen, in: Evangelische Kirchenzeitung für Österreich. Organ des Evangelischen Pfarrervereines für Österreich 22 (1916), 221–225 (Sonderdruck Bielitz 1917); ders.: Die evangelisch-theologische Fakultät in Wien im Zusammenhang ihrer geschichtlichen Voraussetzungen. Festrede gehalten bei der Hundertjahrfeier der Fakultät im großen Festsaale der Universität am 7. Juni 1921, Wien o. J. (1921), 22; Trauner, Vom Hörsaal in den Schützengraben (s. Anm. 62), 37–38 u. 67.

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Mit frohem Mute ziehen wir jetzt hinaus voll ernster Freude, nun endlich auch mit in die Reihen der Millionen Brüder treten zu dürfen, die da draußen kämpfen für Freiheit und Größe, für Ehre und Bestand unseres Volkes. Was uns bevorsteht weiß Gott allein.67

Mindestens ein Fünftel sind gefallen. Noch nach Kriegsende starben viele an den Spätfolgen des Krieges. Mit dem Auszug der Studierenden hinaus in den Krieg kam das Leben an der Fakultät praktisch zum Erliegen. Zwei Lehrende der Fakultät (Wilke und der Privatdozent und Kirchenhistoriker Karl Völker) haben auch zur Frage des Krieges und seiner ethischen Berechtigung publiziert.68

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Die Fakultät 1918–1938

Der Zerfall der Donaumonarchie hatte selbstverständlich nicht nur für die evangelische Kirche A. und H.B. Cisleithaniens, sondern auch für die Fakultät einschneidende Folgen.69 Ein großer Teil ihres Hinterlandes war verloren, darunter vor allem das reformiert geprägte tschechische. Die Wiener Fakultät war nun eine rein deutschsprachige für das verbliebene Restösterreich. Die Protestanten in der neuen Tschechoslowakei sammelten sich zum einen in einem national-liberalen Strang von Reformkatholiken in der 1919/1920 neu entstehenden Hussitischen Kirche, die sich von der katholischen Kirche abspaltete. Zum anderen gründeten die »Altevangelischen« die »Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder«. Letztere errichtete als ihr kirchliches Zentrum in Prag in der Jungmanova 22/9 ein Gebäude (das sog. Hus-Haus), das in bewusster Abgrenzung zum Wiener Jugendstil in bemerkenswerten »französischen« kubistischen Formen gestaltet wurde. Seine Fassade dominiert eine Hus-Statue, also weder Luther noch Calvin. Für diese beide Kirchen wurde – aus Sicht der Tschechen: endlich – im Jahr 1919 nun eine eigene theologische Fakultät gegründet. Diese sollte sich dann erst später 1950 in zwei theologische Fakultäten trennen. Die neue Prager Fakultät war tschechisch geprägt, eine deutschsprachige Professur für die Sudetendeutschen fehlte bzw. wurde abgelehnt. Neue Fakultäten entstanden damals auch in Preßburg/Bratislawa (und Warschau). Sie alle haben in 67 Zitat aus einem Brief der Studenten Josef Rudolf und Walther Beck. Abgedruckt bei: Trauner: Die Kriegsfreiwilligmeldung der evangelischen Theologiestudenten, (s. Anm. 62), 146. 68 Fritz Wilke: Ist der Krieg sittlich berechtigt?, Leipzig 1915; Karl Völker: Der Weltkrieg als Wendepunkt der Kirchengeschichte. Vortrag gehalten am 26. Mai 1915 in Wien anlässlich der Jahresversammlung des Evang. Pfarrervereines für Österreich, Bielitz 1915; ders.: Der Krieg als Erzieher zum Deutschen Idealismus, Sonderdruck aus der Österreichische Rundschau 6 (1915), Wien 1915. Dazu: Trauner: Vom Hörsaal in den Schützengraben (s. Anm. 62), 87–105. 69 Zu den Vorgängen allgemein jetzt: Karl Reinhart Trauner: Deutungen eines Zusammenbruchs. Das Ende der Monarchie und die Evangelischen in Österreich, Szentendre 2020; einführend auch: Karl Schwarz: Der Zusammenbruch der Donaumonarchie und seine Auswirkungen auf den Protestantismus, in: EvDia 87 (2018/2029), 24–35.

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den vergangenen Jahren ihr 100-jähriges Jubiläum feiern dürfen.70 Der schon pensionierte Professor für Praktische Theologie und Kirchenrecht Gustav Adolf Skalský ging nach Prag und ließ sich reaktivieren. Er erhielt in Prag den Auftrag, die Hus-Fakultät aufzubauen, und wurde auch deren Gründungsdekan.71 Sein Portrait, das er selbst aus Wien mitgebracht hatte, hängt heute im Sitzungszimmer der Prager Fakultät. Damals gab es aber einen zweiten Tschechen an der Wiener Fakultät. Die Fakultät hatte endlich 1913 für den Lehrstuhl der reformierten Dogmatik einen Tschechen berufen: Josef Bohatec.72 Er hatte in Wien studiert und sich in Deutschland habilitiert. Seinen philosophischen Dr. machte er übrigens bei Masaryk in Prag. Bohatec war ein Calvinkenner ersten Ranges, bis heute kommt die Calvinforschung an ihm nicht vorbei. Er forschte auch über die niederländische reformierte Theologie und war der Verfasser von Monographien über Kant, Dostojewski sowie über die Entstehung der Menschenrechte. Ein interdisziplinärer Forscher und großer Denker, dem viele akademische Ehrungen zu Teil wurden. Nicht zufällig hängt sein Portrait im Zimmer des Dekans bzw. der Dekanin.73 Das Besondere nun war: Bohatec ging nicht nach Prag, sondern blieb an der Wiener Fakultät – sehr zum Bedauern der Prager bis heute. Bohatec war gegenüber Nationalismen immer zurückhaltend gewesen und sollte auch später gegenüber dem Nationalsozialismus resistent bleiben. Er lehrte – mit böhmischem Akzent – bis 1951. Allgemein war die Fakultät am Beginn des 20. Jahrhunderts weiter beachtlich besetzt. An ihr wirkten u. a. Paul Feine, Rudolf Knopf, Ernst Sellin, Georg Loesche, Johannes von Walther und Karl Beth. Die schwierige Zeit nach 1918 wurde aufgehellt durch das 100-jährige Fakultätsjubiläum, das festlich begangen wurde. Gäste aus dem nahezu gesamten protestantischen Europa waren geladen und gekommen. Studiert man die damaligen Quellen, so gewinnt man den Eindruck, dass mit diesem Festakt der ultimative Druck für die Inkorporation der Fakultät in die Universität aufgebaut 70 Maros Nicas/Martin Tamcke (Hg.): Theologie – Dienst und Notwendigkeit.100 Jahre evangelisch-theologische Ausbildung in der Slowakei, Münster 2021; Karl Schwarz: Theologie und Universität in laizistischen Zeiten. Der Untergang der Donaumonarchie und seine Auswirkungen auf die theologischen Ausbildungsstätten in Prag, Pressburg, Ödenburg und Wien, in: Peter Sˇvorc/Harald Heppner (Hg.): Velká doba v malom priestore (…)/Große Zeit in kleinem Raum. Umbrüche in den Städten des mitteleuropäischen Raumes und deren Wirkungen 1918–1929, Presˇov/Graz 2012, 311–327. 71 Schwarz: Gustav Adolf Skalský (1857–1926) – eine Erinnerung (s. Anm. 53), 73–84. 72 Karl W. Schwarz: Von Prag über Bonn nach Wien. Josef Bohatec und seine Berufung an die (…) Fakultät im Jahre 1913, in: Communio Viatorum 35 (1993), 232–262. 73 Körtner: Calvinismus und Moderne (s. Anm. 44), 432–433; Johannes Dantine: Josef Bohatec. Calvinforscher und Lehrer der Kirche, in: Schwarz/Wagner (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 7), 469–486; ders.: Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart (Salzburger theologische Studien 7), Innsbruck/Wien 1998, 36–60; Karl Schwarz: Bibliographie Josef Bohatec (1876–1954), in: JbGPrÖ 99/100 (1983/1984), 38–44.

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werden sollte.74 Wissenschaftler aus dem In- und Ausland attestierten der Fakultät ihr wissenschaftliches Niveau und forderten die Aufnahme in die Universität. Ein Jahr später 1922 war es dann tatsächlich soweit – nach unzähligen Petitionen, Anträgen und Eingaben seit 1848. Es hatte aber einer bestimmten politischen Konstellation bedurft, um das Argument der konservativ-katholischen Seite, dass es sich nämlich bei der Universität Wien um eine katholische Stiftung handle, zu überwinden.75 Die Christlich-Sozialen wollten damals eine Bestandsgarantie für die katholisch-theologischen Fakultäten im Parlament erwirken. Die Großdeutsche Partei stimmte einer Koalition mit den Christlich Sozialen nur unter der Bedingung zu, dass auch die Evangelisch-Theologische Fakultät Teil der Universität werde.76 Trotz dieses Erfolges war es für die Fakultät nach 1918 zunächst keine leichte Zeit. Es gab die Sorge, zu wenige Studierende zu bekommen. Diese Sorge erwies sich letztlich als unbegründet. Die deutschsprachigen Minderheiten in Südosteuropa, vor allem die starken donauschwäbischen Gemeinden, aber auch die deutschsprachigen in der Tschechoslowakei bzw. Polen betrachteten die Wiener Fakultät weiterhin als wichtige Adresse. Die dortigen Pfarrerposten bildeten auch personalpolitisch mit den österreichischen Gemeinden gleichsam eine Welt. Im Laufe der Zeit nahm auch die Zahl der Studierenden aus Deutschland zu. In der Zwischenkriegszeit starteten die Studierendenzahlen zwar bei unter Hundert, stiegen dann aber und erreichte 1932 die Zahl von 222 (davon 44 aus Österreich, 116 Reichsdeutsche, 21 aus der Tschechoslowakei, 15 aus Polen, 10 aus Jugoslawien, 10 Siebenbürger aus Rumänien, zwei aus Ungarn).77 Damals studierten bereits Frauen an der Fakultät.1923/24 waren bereits drei Frauen an der Fakultät immatrikuliert. Per Ministerialerlass vom 2. April 1928 wurde dies endlich auf eine rechtliche Grundlage gestellt.78 Der Zusammenbruch der Monarchie bedeutete für die Fakultät selbstredend auch eine Identitätskrise. Doch sie fand rasch ein neues Selbstverständnis. Eine Linie, die bereits vor 1918 vorhanden war, wurde nun weitergeführt und verstärkt: Die Fakultät verstand sich nun nach dem Wegfall des slawischen Elementes als 74 Fritz Wilke: Die Hundertjahrfeier der evangelisch-theologischen Fakultät in Wien. Festbericht, Wien/Breslau 1923. 75 Gustav Reingrabner: Geschichtsmächtigkeit und Geduld. Probleme um die Eingliederung der evangelisch-theologischen Fakultät in die Universität Wien, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), 99–119. 76 Karl Schwarz: (…) zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«. Die Inkorporierung der Evangelisch-theologischen Fakultät in die Alma Mater Rudolfina im Jahr 1922, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 2 (1998), 393–428. 77 Schwarz: Evangelische Theologie zwischen kultureller Nachbarschaftshilfe und volksdeutschem »Sendungsbewusstsein« (s. Anm. 29), 105. 78 Karl Schwarz: »Haus in der Zeit«: Die Fakultät in den Wirrnissen dieses Jahrhunderts, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 7), (125–208), 138–139.

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Trägerin und Pflegerin des deutschen Geistes, als dessen Vorposten für den protestantischen Osten und Südosten. Sie wurde »Grenzlandfakultät«. Schon in seiner Festrede zum 100-jahrjubiläum der Fakultät 1921 formulierte Dekan Wilke: In erster Linie aber wird ihre Aufgabe sein, dem weitverzweigten deutschen Protestantismus in der ganzen Südost- und Südmark als höchste akademische Ausbildungsstätte zu dienen. In unseren Hörsälen treffen sich die Söhne der Alpen mit den Karpatendeutschen und den Siebenbürgern, die Kinder der Sudeten mit den Jünglingen aus Südösterreich, aus der Bukowina, aus der Batschka.79

Es sei ein Vorzug, dass die Fakultät »… nunmehr das klare einheitliche Gepräge einer deutschen Bildungs- und Forschungsstätte gewonnen hat.«80 Es passt in dieses Bild, dass im Zusammenhang mit dem Fakultätsjubiläum 1920–1922 (noch vor der Incorporierung der Fakultät in die Universität) achtzehn kirchlich verdienten Personen, die sich u. a. im Gustav-Adolf-Verein und für das evangelische Auslandsdeutschtum in Südosteuropa engagiert hatten, die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.81 In einem 1932 veröffentlichten Memorandum hielt der Dekan Fritz Wilke fest, dass die Fakultät »die eigentliche und einzige deutsche evangelisch-theologische Bildungsstätte für das gesamte Deutschtum in Südost- und Osteuropa« sei.82 Als es 1932 im Ministerium aus Einsparungserwägungen zu einer Diskussion über den Bestand der Fakultät kam, wurde neben anderem diese Zuständigkeit für die volksdeutsche Diaspora im osteuropäischen Raum erfolgreich ins Feld geführt.83 Die Bedeutung der Fakultät für die deutschsprachigen Gemeinden im Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie war auch im Ausland anerkannt. In dieser Zeit vollzog sich zugleich eine wichtige und folgenreiche Entwicklung. Sie betraf den Diasporabegriff. »Diaspora« bezeichnete im Protestantismus des 19. Jahrhunderts die verstreuten evangelischen Minderheiten in katholischen 79 Wilke: Festrede (s. Anm. 66), 23. 80 Wilke: Festrede (s. Anm. 66), 22. 81 https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/ehrungen?title=&honors=823&faculty=All&ord er=field_date&sort=desc&page=4 (Zugriff 18. 07. 2022). 82 Fritz Wilke: Die evangelisch-theologische Fakultät, in: Neues Wiener Tagblatt 293 (22. 10. 1932). Dieser Zeitungsartikel beruht auf einem ausführlichen Memorandum Wilkes, das sich im Archiv des Oberkirchenrates befindet: Karl Schwarz: »Haus in der Zeit«, (s. Anm. 78), (125–208) 147–148. 83 Schwarz: »Haus in der Zeit« (s. Anm. 78), 145–149; ders.: Evangelische Theologie zwischen kultureller Nachbarschaftshilfe und volksdeutschem »Sendungsbewusstsein« (s. Anm. 27), 115; ders: »Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«: Die Evangelisch-Theologische Fakultät in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Karl Anton Fröschl u. a. (Hg.): Reflexive Innenansichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, (443–457) 445–447.

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Gebieten, der Begriff war also religiös definiert. Weil es sich bei diesen evangelischen Diasporagemeinden aber zumeist um deutschsprachige Gemeinden handelte, konnte in der Zwischenkriegszeit der Begriff immer mehr auf die volksdeutsche Minderheit übertragen werden. Der Diasporabegriff wurde zunächst vom »Volksdeutschtum« und schließlich vom völkischen Gedanken gleichsam aufgesogen.84 Das war eine Tür, die im österreichischen Protestantismus zum Nationalsozialismus führen konnte.

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Die Fakultät in der Zeit des Nationalsozialismus

Die Entwicklungen an der Fakultät in der nationalsozialistischen Zeit waren wesentlich von den zuvor herrschenden politischen Rahmenbedingungen in Österreich bestimmt. Es ist die Zeit des sog. Autoritären Ständestaates bzw. des »Austrofaschismus«. Der Ständestaat vertrat und förderte spätestens seit 1934 ein zutiefst katholisches Geschichtsbild. Die Sendung Österreichs in der europäischen Geschichte sei die Überwindung der Reformation, die »Protestantenabwehr« gewesen, die erst die Türkenabwehr ermöglichte. Der Staat verstand sich als die katholische deutsche Alternative zu Deutschland.85 In der Gegenwart sei die Aufgabe Österreichs die Abwehr des Nationalsozialismus und des Bolschewismus im Osten. Der Ständestaat verfolgte die Protestanten zwar keineswegs – hat sich zum Teil sogar um sie bemüht – aber er verließ den Boden der politischen Neutralität.86 Der Platz, der den Protestanten Österreichs im offiziellen staatlichen Geschichtsbild zugewiesen wurde, hat diese natürlich irritiert und verletzt. Die Gegner des Ständestaates, die Nationalsozialisten und die Sozialisten, nahmen aus unterschiedlichen Perspektiven diesen Staat als klerikal, rückständig, katholisch verzopft und einer modernen Zukunft hinderlich wahr. Innerhalb des österreichischen Protestantismus verstärkte sich der Anschlussgedanke, das Heimweh nach dem Mutterland der Reformation. Vor allem unter den evangelischen Nationalsozialisten formierte sich Widerstand. Auch für die Professoren an der Fakultät war es schwer, sich mit den Zielen und dem Geschichtsbild des Ständestaates zu identifizieren. Es gab darunter auch solche, die einen eigen84 Rudolf Leeb: Österreich: Diaspora und Deutsches Volkstum, in: EvDia 88 (2020/2021) = Klaus Fitschen (Hg.): Zwischen Anpassung und Kampf um die eigene Identität: Der Gustav-AdolfVerein im Dritten Reich, Leipzig 2021, 167–178. 85 Dazu jetzt einführend: Astrid Schweighofer: Die Evangelische Kirche in Österreich im Spiegel von Tageszeitungen zur Zeit des Ständestaates (mit einem Exkurs zu den Jahren des Nationalsozialismus), in: JGPrÖ 132/133 (2016/2017), (211–252), 211–218. 86 Gerhard Peter Schwarz: Ständestaat und evangelische Kirche von 1933–1938. Evangelische Geistlichkeit und der Nationalsozialismus aus der Sicht der Behörden von 1933–1938, Graz 1987.

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ständigen Staat Österreich überhaupt ablehnten. In diesem politischen Sinn scheinen vor 1938 nur Bohatec, Völker und Beth mehr oder weniger überzeugte Österreicher gewesen zu sein.87 Je länger je mehr blickten große Teile der Studentenschaft und der Professoren der Fakultät jedenfalls hoffnungsvoll nach Deutschland und begannen sich politisch aber auch theologisch mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Der Anschluss am 12. März wurde dann insgesamt euphorisch begrüßt.88 Der Anschluss im März hatte an der Fakultät sofort personalpolitische Konsequenzen. Sie betrafen den lutherischen Systematiker Karl Beth. Beth kam 1906 nach Wien und machte sich international einen Namen als Religionspsychologe und Religionsgeschichtler. Ein kreativer Theologe, mit innovatorischem Potential, auch den Naturwissenschaften zugewandt – progressiv, ein Theologe der Moderne. Beth hatte bei Harnack, dessen Schüler er war, aber auch bei Dilthey und Pfleiderer studiert. 1927 gründete er die internationale religionspsychologische Gesellschaft. Zu ihr gehörte ein eigenes Publikationsorgan, die »Zeitschrift für Religionspsychologie«, die auch in Wien erschien. 1931 organisierte er einen Kongress »Psychologie des Unglaubens«, der internationale Aufmerksamkeit erregte. Er genoss an der Universität Wien großes Ansehen.89 Beth war einer der 316 im Jahr 1938 entlassenen oder zwangspensionierten Professoren der Universität Wien. Er war wegen seiner liberal-progressiven Ansichten als nicht mehr tragbar beurteilt worden. Schon am 16. März legte er das Dekansamt nieder.90 Die genauen Hintergründe sind nicht mehr rekonstruierbar, insbesondere, ob wirklich alle Fakultätskollegen diese Absetzung des 66-Jährigen von Herzen bedauerten, wie im Nachhinein beteuert wurde. Seine Gattin – hochangesehene Juristin (1921 die erste promovierte Juristin der Universität Wien) und vielseitig begabte Wissenschaftlerin sowie Frauenrechtlerin – war als Jüdin bereits 1938 in

87 Zu diesen Entwicklungen an der Fakultät vgl.: Schwarz: »Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich« (s. Anm. 83), 448–450. 88 Zum Kapitel »Nationalsozialismus und Evangelische Kirche in Österreich« vgl. einführend die Beiträge im JGPrÖ 124/125 (2008/2009). Schwerpunkt: Protestantismus und Nationalsozialismus in Österreich und jetzt: Leonhard Jungwirth: Politische Vergangenheiten: Entpolitisierungs- und Politisierungsprozesse im österreichischen Protestantismus 1933/34 bis 1968, Diss. Univ. Wien 2020, 58–206. 89 Tilman Matthias Schröder: Karl Beths »Evolutionäre Theologie«, in: Christoph Schwöbel (Hg.): Gott-Götter-Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.–15. September 2011 in Zürich) (VWGTh 38), Leipzig 2013, 535–550; Ingrid Tschank: Positive Theologie der Moderne. Der österreichische Theologe Karl Beth, in: Martin Berger (Hg.): Gott und die Moderne. Theologisches Denken im Anschluss an Falk Wagner, Wien 1994, 116–122. 90 Karl Schwarz: Karl Beths Weg ins Exil. Zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im März 1938, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles« Die Evangelisch-Theologische Fakultät in Wien in der NS-Ära, Wien 2021, 97–115.

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die USA geflüchtet.91 Beth folgte ihr 1939, nachdem ihm seine staatliche Pension aberkannt worden war. Kurz vor seiner Abreise wurde eine Studentendelegation bei ihm zu Hause vorstellig, um sich von ihm zu verabschieden und zu bedanken. Beth besaß von früher her gute Kontakte in die USA. Zunächst lehrte er an der Universität Chicago, ab 1941 dann an der theologischen Hochschule der Unitarier, denen er sich inzwischen in Chicago angeschlossen hatte. Es fällt auf, dass Beth bis zu seinem Lebensende Kontakt mit unserer Fakultät hielt, mit der er sich immer herzlich verbunden fühlte. Die Fakultät hat sich nach 1945 auch für seine Pension eingesetzt. Beth hatte Heimweh. 1959 ist er in Chicago verstorben. Nach ihm ist ein Tor im Unicampus benannt.92 Der neue Dekan Gustav Entz war der jüngste der Professorenschaft. Er blieb bis 1949 für elf Jahre im Amt. Entz erarbeitete noch im Sommersemester 1938 ein Konzept für die Zukunft der Fakultät. Die Fakultät sollte noch mehr als bisher zum kultur- und bildungspolitischen Zentrum für die Volksdeutschen in Ostund Südosteuropa ausgebaut werden, wofür sie aufgrund ihrer Geschichte prädestiniert sei.93 Allerdings darf dabei das qualitativ Neue nicht übersehen werden: Die »völkische Sendung« sollte nun an der Fakultät eine Basis finden. Es war das alte Konzept der »Grenzland-Fakultät«, das nun – sei bewusst, sei es aus Naivität – im Rahmen der Zielsetzungen der nationalsozialistischen Herrschaft propagiert wurde. Dies fügte sich bestens in die Pläne der Nationalsozialisten mit der Universität Wien ein. Diese sollte die Universität für den europäischen Südosten werden – wie überhaupt die Ostmark bekanntlich u. a. dazu gebraucht wurde, die Hegemonie des nationalsozialistischen Deutschland im Südosten aufzubauen. Das Reichskirchenministerium und das kirchliche Außenamt in Berlin förderten diese Pläne für eine Grenzlandfakultät. Zum einen betrieb Entz eine Professur für nationale und kirchliche Diasporakunde. Dafür war der Pfarrer von Cilli/Celje in Slowenien (damals Jugoslawien) Gerhard May vorgesehen. Er hatte 1934 mit seinem Buch »Die volksdeutsche Sendung der Kirche« im gesamten deutschsprachigen Protestantismus großes Aufsehen erregt. May galt als der Kenner für

91 Dietmar Goltschnigg: Marianne Beth. Juristin, Frauenrechtlerin, Orientalisten, Religionspsychologin, Philosophin, Soziologin, Ethnologin, Göttingen 2021 (101–392 Edition ihrer Briefe); Jacob A. Belzen: Pionierin der Religionspsychologie. Marianne Beth (1890–1984), in: Archive for the Psychology of Religion 32 (2010), 125–145; Edith Prost: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaftlerinnen, in: Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, Wien 1987 (unv. Neuauflage Münster 2004), 444–470; Edith Leisch-Prost, Marianne Beth, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben-Werk-Wirken, Wien u. a. 2002, 63– 64. 92 https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/karl-beth-o-univ-prof-dr (Zugriff 18. 07. 2022). 93 Schwarz: »Haus in der Zeit« (s. Anm. 78), 164–165, 173–174, 179–180, 190–191.

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das evangelische Auslandsdeutschtum.94 Zum anderen betrieb Entz eine kirchengeschichtliche Professur für die Kirchengeschichte des südosteuropäischen Raumes. Dafür war Paul Dedic vorgesehen. Dedic – ein Fachmann von unbestrittener Qualität – hatte sich einen Namen als Täuferforscher und als der Fachmann für die Reformationsgeschichte dieses Raumes gemacht. Damals hatte er gerade die Forschung zur Geschichte des Geheimprotestantismus begründet. Der Geheimprotestantismus war für ihn ein Sinnbild wahrhafter kämpferischer widerständiger Existenz unter katholischer unterdrückender Herrschaft. Er parallelisierte so die Geheimprotestanten mit der Existenz der Protestanten im Ständestaat seiner Gegenwart, manchmal parallelisierte er sie zwischen den Zeilen mit den illegalen evangelischen Nationalsozialisten seiner Zeit.95 Für kurze Zeit waren die Erfolgsaussichten für diese Ausbaupläne gut. Sie zerschlugen sich aber bald, weil Berlin die Zusagen zurückzog.96 Bis zu diesem Zeitpunkt konnten aber die drei gerade vakanten Lehrstühle der Fakultät neu besetzt werden. Bei allen drei Berufenen handelte es sich um dezidierte Nationalsozialisten und sog. Deutsche Christen. Alle wurden der Fakultät von Berlin vorgesetzt. Die Professur für Neues Testament erhielt Gerhard Kittel – ein Wissenschaftler der ersten Liga, Prof. für Neues Testament in Tübingen, Herausgeber des THWNT. Kittel wurde im September 1939 einfach vom Reichserziehungsministerium zugewiesen.97 Die Wiener Universität und auch die Fakultät war über den hochkarätigen Neuzugang erfreut. Kittel gab aber dabei seine Tübinger Professur nicht auf. Kittel betrieb Forschungen zur Judenfrage. In Wien konnte er diese auch an der philosophischen Fakultät etablieren, er dokumentierte mit Portraits die »rassengeschichtliche Entwicklung« des Judentums. Die Sammlung kam 1943 mit Kittel wieder nach Tübingen.98 Kittel verließ 94 Zu Gerhard May und seinem Buch vgl.: Jungwirth: Politische Vergangenheiten (s. Anm. 88), 33–57. 95 Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil (a. Anm. 17), 31–33; ders.: Art. Dedic, Paul, in: Mennonitsches Lexikon 5/1 (2020), 319–322. 96 Schwarz: »Haus in der Zeit« (s. Anm. 78), 187–190. 97 Schwarz: »Haus in der Zeit« (s. Anm. 78), 181–184; ders.: Gerhard Kittel und seine Lehrtätigkeit in Wien, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 89), (118–143), 120–122. Aus der reichen Literatur zu Kittel vgl. jetzt allgemein den Sammelband: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel (Berichte und Studien 79), Göttingen 2020; Manfred Gailus: Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel. Selbstrechtfertigung und Rehabilitationsversuche in der frühen Nachkriegszeit (1945–1948), in: Nicholas John Williams/ Christoph Picker (Hg.): Die Kirche und die Täter nach 1945 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 136), Göttingen 2022, 141–164. 98 Zum Wirken Kittels in Wien: Horst Junginger: Gerhard Kittel. Ein biografischer Abriss im Kontext der politischen und kirchlichen Zeitgeschichte, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert (s. Anm. 94), (203–258) 236–246; Schwarz, Gerhard Kittel (s. Anm. 94), 128–143; Dirk Rupnow: Brüche und Kontinuitäten – Von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik, in: Mitchel G. Ash u. a. (Hg.): Geis-

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Wien im April 1943, weil die hochfliegenden Pläne einer Grenzlandfakultät aufgegeben worden waren. Die kirchengeschichtliche Professur ging 1939 an Hans-Georg Opitz, ein Schüler Hans Lietzmanns, Karrierist aufgrund seiner Parteimitgliedschaft, sogar Herausgeber der Theologischen Literaturzeitung, ein begabter Patristiker.99 Er wurde bald eingezogen und fiel 1940. Die Professur für systematische Theologie erhielt der Bonner Systematiker Hans Wilhelm Schmidt.100 Er blieb bis zum Kriegsende. Neben den drei Neuen gab es auch noch die alteingesessene Nationalsozialisten wie Fritz Wilke101 und den Neutestamentler Hofmann.102 Beide waren – in unterschiedlicher Färbung – ursprünglich als liberale Theologen angetreten, nach 1918 immer stärker in den Sog eines radikalen Nationalprotestantismus geraten und dann zu Deutschen Christen geworden. Nach der Entfernung Beths und dem Tod des Kirchenhistorikers Karl Völker (1937) stand nur Bohatec abseits. Damit schien die Fakultät für Außenstehende ein Einfallstor der Deutschen Christen geworden zu sein. Die Kirche, in der inzwischen eine große Ernüchterung eingetreten war, beobachtete dies mit großer Sorge.103 Anschlussbefürwortung war das eine, aber Deutsche Christen wollte man gar nicht. Die »Deutschen Christen« wollten auch in Österreich eine neue Kirche und Theologie, eine Kirche und Theologie, die frei von jedem rückwärtsgewandten

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teswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Wien 2010, (79–110) 88–91, 92–95. Leeb, Zum wissenschaftlichen Profil (s. Anm. 17), 34–37; Annette von Stockhausen: Die Briefe Hans-Georg Opitz′an Eduard Schwarz, in: Hanns Christoph Brennecke/Annette von Stockhausen (Hg.): Von Arius zum Athanasianum. Studien zur Edition der »Athanasius Werke«, Berlin/New York 2010, 207–304. Martin Berger/Matthias Geist (Hg.): Nationalsozialistische Karriere und lutherischer Offenbarungspositivismus: Hans Wilhelm Schmidt (1903–1991), in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), 353–390; Roman Pfefferle/Hans Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren (Schriften des Archivs der Universität Wien 18), Göttingen 2014, (249– 262), 258–260. Zu Wilke als Nationalsozialisten: Roman Pfefferle/Hans Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert (s. Anm. 100), 256–258. Schon 1920 hatte Wilke einen Traktat »Der Sozialismus und das Christentum« veröffentlicht, in dem sich eine massive Kapitalismuskritik findet und in dem er den Kirchenleitungen vorwirft, mit ihrer Untätigkeit einen religiösen Aufbruch der Massen zu verhindern bzw. zu verabsäumen. Er fand nicht nur über den Nationalprotestantismus, sondern auch über diesen Weg zu einer Deutsch-christlichen Theologie. Zu Hofmann: Sabine Taupe: Richard Adolf Hofmann und seine Theologie. Intellektuelle Biographie eines neutestamentlichen Wissenschaftlers, Parapsycholgen, Spiritisten sowie radikalen Deutschen Christen, Diplomarbeit Universität Wien 2010. Bischof May in seinem Bericht über die Zeit des Nationalsozialismus in der evangelischen Kirche Österreichs auf der Generalsynode 1949: »eine Zeitlang schien es, als wolle die theologische Fakultät zur Einbruchsstelle einer deutsch-christlichen Theologie werden – auch hier hat eine höhere Hand den Riegel vorgeschoben.« (Niederschrift über die Sitzungen der Generalsynoden A.B. und H.B. vom 20.–26. Jänner 1949, Wien 1949, 17).

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Klerikalismus sein sollte. Sie träumten von einer in ihrem Sinn modernen Kirche.104 Wie der Staat und das deutsche Volk sollte sich das Christentum in einen innerweltlichen Auferstehungs- und Erneuerungsprozess begeben. Sie vertraten eine Erfahrungstheologie, Vertiefung und Erweckung moderner religiöser Gefühle war ihr Anliegen. Der majestätische, allmächtige Gott, der die Geschichte lenkt, sollte in der Gegenwart unmittelbar erlebt und erfahren werden, Christus wurde zum nichtjüdischen Helden, die Theologie des Paulus abgelehnt. Sich ermannen, gesellschaftlich engagieren, besonders sozial engagieren sollten sich die Christen. Ein kleiner Einblick in diese religiöse Welt: Kurz nach dem Anschluss hat die Fachschaft evangelische Theologie ein Lager bzw. eine Freizeit der Studierenden gemeinsam mit einigen Professoren organisiert. Dort wurde auch eine moderne Abendandacht gehalten. Diese war gleichsam durchtränkt von der für die österreichischen Deutschen Christen typischen Geschichtsschau, die religiös überhöht wurde. Angestrebt wurde das unmittelbaren »Erleben« des Waltens und Wirkens Gottes in der Gegenwart. Die Andacht vollzog sich im Rahmen damals »moderner« liturgischer Formen. Ein Zeitzeuge: Ein Schweigemarsch und eine Abendfeier im Walde, die uns unter dem Leuchten der Fackeln, in Worten des Chores und in der Rede des Kameraden Schmettlan, den tiefen Sinn des Leidens der Ostmark im Opfergedanken offenbarte,(das) hat uns die Verpflichtung Deutschland erleben lassen.105

1939 wurde in Eisenach das »Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« gegründet.106 Das Institut sollte jüdische Elemente in der christlichen Tradition identifizieren, um diese dann ausmerzen zu können. In den Unterlagen des Instituts finden sich auch Namen der Fakultät (Schmidt, Hofmann, Entz, Wilke, Opitz). Ihre konkrete 104 Rudolf Leeb: Die Deutschen Christen in Österreich im Lichte neuer Quellen, in: JGPrÖ 124/ 125 (2008/2009), 39–101. 105 Bericht über das erste Lager der Fachschaft Evangelische Theologie der Universität Wien vom 27.–29. Mai 1938: Gustav Reingrabner/Karl Schwarz (Hg.): Quellentexte zur österreichischen evangelischen Kirchengeschichte zwischen 1938 und 1945, in: JGPrÖ 104/105 (1989), Nr. 124, 321. 106 Susannah Heschel: Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, in: Leonore Siegele Wenschkewitz (Hg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen (Arnoldshainer Texte 85), Frankfurt a. M. 1994, 125–170; ders.: »Entjudung« – Kirche am Abgrund. Bd. 1: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939. Bd. 2: Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010; Oliver Arnhold: »Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche.« Christlicher Antisemitismus am Beispiel des kirchlichen »Entjudungsinstituts« in der Zeit von 1939–1945, in: MKiZ 7 (2013), 51–74; Dirk Schuster: Die Lehre vom »arischen« Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher »Entjudungsinstitut«, Göttingen 2017.

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Beteiligung an der Arbeit des Instituts war aber offenbar sehr gering.107 Das Ziel eines von der jüdischen Tradition befreiten modernen Christentums, das dann nur ein protestantisches sein konnte, haben sie aber in unterschiedlicher Akzentuierung damals wohl geteilt. Es passt ins Bild, dass sich der Geschäftsführer des Eisenacher Instituts Heinz Hunger mit einer religionspsychologischen Arbeit an der Wiener Fakultät (»Religion, Ganzheit und Gemeinschaft«) 1940 habilitierte. Er hatte hier schon 1936 bei Beth promoviert.108 Vertreter des Eisenacher Instituts haben in Wien an der Universität öffentliche Vorträge gehalten. Den Kontakt haben die Deutschen Christen hergestellt, organisiert hat sie Entz. Im Frühjahr 1941 sprach Herbert Grundmann über das »Messiasproblem«. Der Hörsaal 35 im Hauptgebäude war überfüllt. Unter den Zuhörern waren aber kaum Theologen, die Pfarrer boykottierten die Veranstaltung.109 Die anderen danach gehaltenen Vorträge waren nur mehr sehr schlecht besucht. Dekan Gustav Entz hat den Deutschen Christen und dem Eisenacher Institut zumindest eine Bühne geboten, um die öffentliche Aufmerksamkeit des damaligen Zeitgeistes zu suchen. Er hat offenbar geglaubt, dass die evangelische Theologie etwas zum vermeintlich modernen, zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs beitragen kann. Er wollte damit sichtlich die Bedeutung der Fakultät in der nationalsozialistischen Öffentlichkeit heben. Nach kurzer Zeit war Bohatec mit seiner Gesinnung nicht mehr alleine. Die in den Augen der Nationalsozialisten in Berlin bedeutungslos gewordene Fakultät bekam einen neuen Neutestamentler und einen neuen Kirchenhistoriker. Beide Personen galten politisch als nicht verlässlich. Sie wurden gleichsam nach Wien abgeschoben und blieben nur kurz. Der 1939 zugewiesene Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen verstand sich bestens mit Bohatec.110 Campenhausen wurde nach 1945 bekanntlich der Star und Doyen der deutschsprachigen Patristik. Der andere war der fromme Gustav Staehlin, der 1943 seinen Dienst antrat und mit der Kirchenleitung gegen die Deutschen Christen arbeitete.

107 Leeb: Die Deutschen Christen (s. Anm. 104), 86–91. 108 Harald Baumgartner: Verzeichnis der Promotionen und Habilitationen an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), (515–530), 520 (Diss: »Zur Psychologie primitiver Völker. Magisches und mythisches Denken) u. 529. 109 Leeb: Die Deutschen Christen (s. Anm. 104), 87–88. 110 Vgl. Das Urteil von Campenhausen in seiner Autobiographie über Bohatec: »ein wirklich bedeutender wissenschaftlicher Kopf«: Ruth Slencka (Hg.): Die »Murren« des Hans Freiherr von Campenhausen. »Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber«. Autobiografie Hans von Campenhausen, Norderstedt 2005, 194–195. Zu seiner Wiener Zeit vgl. auch: Wolfgang Wischmeyer: Hans von Campenhausen in Wien, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 17), 209–216.

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Die Fakultät nach 1945

Das Ende des II. Weltkrieges bedeutete für die Fakultät in mancher Hinsicht einen Neuanfang. Die nationalprotestantischen, deutschchristlichen theologischen Konzepte, die Vorstellung von der volksdeutschen Sendung der Fakultät waren untergegangen. Es war eine theologische und personalpolitische Neuorientierung, ein Neuanfang nötig. Architekt dieser Personalpolitik war Entz, der politisch überlebt hatte.111 Die Professuren für Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte und die beiden Lehrstühle für Systematische Theologie mussten neu besetzt werden. Es kamen jetzt verstärkt österreichische Theologen zum Zug. Bewährte und politisch unbelastete Pfarrer, die schon länger im Pfarrund Schuldienst gestanden waren, wurden berufen. Zu ihnen zählen Erwin Schneider, Fritz Zerbst, Karl Egli, oder der begabte Wilhelm Kühnert. Oft waren sie nicht habilitiert bzw. holten die Habilitation jetzt in gesetztem Alter nach. Sie waren aber nicht im wissenschaftlichen Milieu groß geworden. Die Situation erinnert an die Anfänge der Fakultät. Es fehlte auch nicht die vereinzelte große einheimische Begabung in Gestalt des lutherischen Systematikers Wilhelm Dantine. Zu erinnern ist auch an den jungen Georg Fohrer, der 1954–1963 an der Fakultät lehrte. Diese »Verkirchlichung« der Fakultät war auch eine theologische Konsequenz aus der Zeit des Nationalsozialismus. Schon in den Kriegsjahren hat sich die Kirche diesbezüglich völlig neu orientiert.112 Nach dem Krieg hat diese Entwicklung die Fakultät mitvollzogen. Statt aus liberaler Theologie gespeisten deutschnationalen theologischen Konzepten vertrat man nun eine ernste und schwergewichtig daherkommende Wort Gottes – Theologie. Man betonte Predigt und Sakrament. Diese Professoren haben sich intensiv kirchenpolitisch und theologisch in der Kirche bzw. in der Synode engagiert und sich an den z. Teil hitzigen Diskussionen beteiligt. Es wurden dabei auch unterschiedliche Positionen vertreten. Es gab die »Linken« (Dantine und Lüthi) und die »Konservativen« wie Kühnert. Die Annäherung an das wissenschaftliche Niveau der deutschen Fakultäten, an denen man sich immer orientiert hatte, erfolgte erst schrittweise. Sie begann mit den Neuberufungen von Georg Fohrer und Ernst Kutsch im Alten Testament ab den späten Fünfzigern, aber auch mit Kurt Lüthi, 111 Zur Entnazifizierung an der Fakultät und insbesondere von Entz: Roman Pfefferle/Hans Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert (s. Anm. 97), 246–256 (hier eine scharfsichtige Beurteilung der Haltung von Entz zum Nationalsozialismus). Zu Entz vgl. zuletzt auch: Karl Schwarz: Der Fall »Gustav Entz«. Die Evangelisch-theologische Fakultät in der NS-Zeit und im ersten Nachkriegsjahrzehnt, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 90), 208–222. 112 Rudolf Leeb: Die Evangelische Kirche in Österreich nach 1945 und die Suche der Kirchenleitung nach einer neuen kirchlichen Identität, in: Evangelische Akademie Wien (Hg.): Evangelische Identitäten nach 1945 – Tagungsband, Wien 2012, 47–70. Jetzt eingehend: Leonhard Jungwirth: Politische Vergangenheiten (s. Anm. 88), 207–309.

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dem reformierten Dogmatiker, der die Wort Gottes – Theologie mit zeitgenössischer moderner Avantgarde anreicherte. Auf breiter Front setzte sie erst ab den späten Siebziger Jahren ein. Weil ein großer Teil der Professorenschaft aus dem Pfarramt kam, fühlten sie sich bis in die späten Siebziger Jahre mehr der Kirche als der Universität zugehörig. Das Engagement der Professoren für die Kirche ist zwar noch immer vorhanden, aber heute fühlt sich die Mehrheit der Professoren und Professorinnen in ihrem beruflichen Selbstverständnis eindeutig mehr der Universität zugehörig als der Kirche. Die Ursache liegt in den diversen universitätspolitischen Reformen der Jahre 1975, 1993 und 2002. Sie haben die Fakultät verstärkt in die Universität eingebunden. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die stetig steigende Internationalisierung, aber auch die Objektivierung der Berufungsverfahren. Vor allem die seit 2002 geltende Autonomie der Universitäten hat diesen Prozess beschleunigt. Steigende wissenschaftliche Anforderungen und ständige Evaluierungen banden und binden die Kräfte des Mittelbaues und der Professoren und Professorinnen an die Universität. Diese verstärkte Einbindung in das universitäre Leben haben m. E. der Fakultät gutgetan, sie hat sie genutzt. Durch Einwerbung von Drittmitteln für Projekte konnte der Personalstand im Mittelbau beträchtlich erhöht werden. Durch persönliche Leistung aber auch durch strategische Überlegungen erhöhte sich die Zahl der Professuren wie nie zuvor. In den Siebziger Jahren entwickelten sich als Reaktion auf das herrschende konservative Kirchenverständnis um Wilhelm Dantine und Kurt Lüthi die Ansätze einer »Öffentlichen Theologie«. Um sie bildete sich ein Schülerkreis, der in der Folge zum Marsch durch die Institutionen ansetzte. Gleichzeitig tauchten unter den Studierenden auf der anderen Seite des theologischen Spektrums in dieser Zeit evangelikale oder evangelikal beeinflusste Studierende auf. Viele wurden gleichsam integriert, für manche blieb aber die Wiener Fakultät nicht die ihre. Dies ist für die Fakultät bis heute ein gewisses Problem geblieben. 1971 wurde seitens des Ministeriums aus Gründen der Parität mit der Katholischtheologischen Schwesterfakultät ein »Institut für Kirchenrecht« gegründet, das bis 2005 Bestand hatte. Seit dem Ende der Siebziger Jahre stieg mit dem uneingeschränkten Zugang zum Pfarramt für Frauen die Zahl der weiblichen Studierenden rasch. Schon in den Achtziger Jahren war die Hälfte der Studierenden Frauen. 1951 war Grete Mecenseffy als erste Frau habilitiert worden.113 Die erste Professorin wurde 1982 Susanne Heine. Heute sind es drei. 113 Alfred Raddatz: Margarethe von Mecenseffy in Memoriam, in: JGPrÖ 102/103 (1986/87), 145–150; Astrid von Schlachta: Art. Mecenseffy, Grete, in: Mennonitisches Lexikon 5/2 (2020), 438–440.

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Die im 19. Jahrhundert von Schimko begründete und von Szeberinyi fortgeführte Tradition des Christlich-jüdischen Dialogs bzw. der Erforschung des Verhältnisses von Christentum und Judentum114 wurde nach 1945 von Wilhelm Dantine, Kurt Lüthi und Alfred Raddatz wieder aufgegriffen und von der Fakultät bis in die Gegenwart fortgesetzt. Nach dem zweiten Weltkrieg entstand schließlich auch ein völlig neues Verhältnis zur katholischen Schwesterfakultät. Bereits die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hatte in Österreich eine Wende in den Beziehungen zwischen den Konfessionen bewirkt. Das Zweite Vaticanum hat diesen Prozess dann noch einmal beschleunigt.115 Das Verhältnis zur Katholischtheologischen Fakultät ist seitdem geprägt von wissenschaftlicher Zusammenarbeit und persönlichen Freundschaften, die so vor 1938 nicht denkbar gewesen wären. Der Umzug in die Schenkenstraße gemeinsam mit der Schwesterfakultät hat dies noch einmal gefördert. Von Bedeutung für die Fakultät war hier die Zusammenlegung der alten seit 1822 bestehenden eigenständigen Fachbibliothek mit jener der katholischen Fakultät. Die eigene Bibliothek war immer ein wichtiger Bezugspunkt für die evangelischen Pfarrer, Lehrer und Theologen Österreichs. Sie haben oft ihre Bücher der Bibliothek vermacht. Die neue große Bibliothek ist natürlich universitär, bibliothekarisch und wissenschaftlich gesehen ein Fortschritt. Die Fakultät wird auch in Zukunft in Österreich die protestantische Wissenschaftstraditon in Forschung und Lehre vertreten und die Erinnerung an die eigene protestantische autochtone Tradition wachhalten. Die Gegenwart ist »theologiebedürftig«. Die Fakultät ist dafür bestens gerüstet.

114 Vgl. oben Anm. 26; Szeberinyi hat sich im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus engagiert«. 115 Leeb, Die Deutschen Christen (s. Anm. 104), 99–100; Jungwirth, Politische Vergangenheiten (s. Anm. 88), 464–487.

Hartmut Rosa

Stumme Welt und antwortfähiger Mensch. Zum Verhältnis von Resonanz und Protestantismus*

Abstract Resonance and religion are closely interwoven. Hartmut Rosa’s theory of resonance is not only received by theologians, it is also based on theological reflection and religious thought. In this article, Rosa introduces the concept of resonance as a solution to failing conceptions of the good life. He links elements of the sociological resonance theory to central patterns of argumentation in theology. The article makes clear that religion can serve as fertile ground for resonance. However, it also shows that Protestantism has an ambivalent history in its appreciation of resonance.

Sehr geehrter Herr Dekan, sehr geehrte Honoratioren und Honoratiorinnen, sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren zur 200-Jahr-Feier der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Das ist schon eine beeindruckende und bemerkenswerte Leistung, 200 Jahre lang durchzuhalten und auch wirklich positiv in alle möglichen Richtungen zu wirken und auszustrahlen. Das ist sehr beeindruckend. Die Ausstrahlung geht ja, wie gerade gehört, in beide Richtungen: manchmal aus der Soziologie heraus, aber offensichtlich auch in die Soziologie hinein. Für meine Belange muss ich auf jeden Fall festhalten: Ich profitiere von der Diskussion mit keiner anderen Gruppe in der Gesellschaft so sehr wie von der mit der Theologie, weil die Resonanz oder die Unverfügbarkeit eigentlich seit Jahrhunderten Kernbegriffe theologischen Denkens und Reflektierens sind. Das war mir gar nicht so klar, als ich meine Sachen geschrieben habe. Die Erkenntnis hat bei mir eine Art Demut hervorgerufen. Ich dachte: »Meine Güte, was ich für super originelles Denken halte, ist eigentlich lange vor mir bereits in * Festvortrag vom 7. Oktober 2021, transkribiert von Karin Sima, redigiert von Bernhard Lauxmann und Wilfried Engemann; vom Autor freigegebene Druckfassung.

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allen möglichen Hinsichten gedacht worden!« Deshalb ist es mir auch wirklich ein Anliegen, mit Ihnen ins Gespräch und in die Diskussion zu kommen. Vielen Dank auch für die sehr freundliche Einführung. Ich traue mich fast gar nicht mehr anzufangen. Der Titel meines Vortrags lautet: »Stumme Welt und antwortfähiger Mensch. Zum Verhältnis von Resonanz und Protestantismus«. Die Ausgangsthese ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, die uns in ein Weltverhältnis, in eine Weltbeziehung zwingt, die zu Entfremdung führt. Das hat insbesondere strukturelle Gründe, resultiert aber auch aus der kulturellen Verfassung der Gesellschaft. Was ich genau damit meine, werde ich noch darlegen. Die Frage ist dann aber auch, wie wir aus diesem Zwang zur Entfremdung herauskommen können. In letzter Zeit habe ich mich wiederholt mit theologischen Kontexten beschäftigt und mich auch mit seelsorgerischen Gruppen und Kreisen unterhalten. Dabei staune ich immer ein bisschen, weil ich denke: »Meine Güte, Ihr habt doch alles, was man braucht, um dieser Gesellschaft auch wirklich etwas anzubieten!« Umso mehr wundere ich mich dann über eine gewisse Mutlosigkeit, die ich manchmal wahrnehme, wenn ich mit Theologen und Theologinnen oder mit Seelsorgern und Seelsorgerinnen spreche. In solchen Gesprächen habe ich oft das Gefühl, dass diese Leute meinen, irgendwie wolle sie keiner mehr hören: »Uns hört keiner! Vielleicht haben wir nichts mehr anzubieten für diese Welt.« Solche Gedanken begegnen mir im Gespräch. Ich finde, dass ein solcher Befund tatsächlich überhaupt nicht zutrifft. Daher will ich auch mit meinem Vortrag anzeigen, warum ich das nicht finde. Ich möchte Ihnen meine Überlegungen in folgenden Schritten darlegen: Zunächst möchte ich skizzieren, was ich eigentlich treibe. Ich betreibe ja keine Theologie. Mein Denken kommt auch nicht in erster Linie aus der Theologie, jedenfalls nicht auf der intellektuellen Schiene. Was ich machen will und wovon ich behaupte, dass ich es tue, ist dies: Es geht mir um (1.) die Entwicklung einer Soziologie der Weltbeziehung. Was ich damit meine, will ich Ihnen also zuallererst darlegen (s. Abschnitt 1). Anschließend möchte ich kurz darüber sprechen, wie ich glaube, dass wir heute leben. Man kriegt als Soziologe ja ständig Prügel, wenn man sagt »Wir«. Natürlich stellt sich immer die Frage, wer mit »wir« eigentlich gemeint ist. Zweifellos gibt es sehr unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft. Aber ich glaube, dass es trotzdem so etwas wie (2.) eine dominante Konzeption des gelingenden Lebens gibt; eine Vorstellung davon, wie man zu leben hat. Vieles von dieser Vorstellung ist nicht im Bereich unserer kognitiven Überzeugungen angesiedelt, sondern liegt im Impliziten. Es geht um das, was man schon als Kind lernt und dann später als Hintergrundfolie mit sich trägt. Ich glaube, es gibt eine dominante Vorstel-

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lung davon, was das gute Leben ist; aber auch eine Vorstellung vom Guten überhaupt(s. Abschnitt 2). Ich glaube, da liegt schon ein Problem, weil diese dominante Konzeption des gelingenden Lebens scheitert. Sie führt nämlich in ein ökologisches Desaster und in ökonomische und politische Schwierigkeiten. Sie führt aber auch letzten Endes zu Burnout. Ich werde Ihnen daher darlegen, wo meiner Ansicht nach (3.) das zentrale Problem unserer Vorstellung vom gelingenden Leben liegt (s. Abschnitt 3). Dann möchte ich tatsächlich dagegensetzen mit (4.) Resonanz als einer alternativen Vorstellung davon, wie Weltbeziehung oder Leben aussehen könnten (s. Abschnitt 4). An diesem Punkt können auch theologische und religiöse Quellen ansetzen und fruchtbar werden. Zuletzt möchte ich ausdrücklich auf (5.) den Beitrag von Protestantismus und Religion zu einer resonanten Weltbeziehung eingehen (s. Abschnitt 5). Dieser Aspekt wird sich freilich auch ein bisschen durch den gesamten Vortrag ziehen.

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Zur Entwicklung einer Soziologie der Weltbeziehung

Ich behaupte, ich betreibe eine Soziologie der Weltbeziehung. Was soll das heißen? Mit Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) setze ich bei der menschlichen Erfahrung an. Mein biografischer Kontext ist eigentlich so, dass ich ganz stark von Charles Taylor (geb. 1931) beeinflusst war oder bin, der seinerseits einerseits an Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) anschließt, aber andererseits auch ganz stark in der phänomenologischen Tradition steht und insbesondere Merleau-Ponty aufgegriffen hat. Und die Idee dort ist von der Erfahrung auszugehen: Was erfahren wir als Menschen? Wie sind wir in die Welt gestellt? Das ist die Grundfrage.

1.1

Die anthropologische Grunderfahrung: »Da ist was!«

Merleau-Ponty geht davon aus, dass der erste Bewusstseinsfunke ein Sinn davon ist, dass etwas da ist: Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig. Ich glaube, man müsste es wahrscheinlich alltagsweltlicher formulieren: »Da ist was!« – Dieses Gefühl »Da ist was« ist das Erste, was Ihnen in den Sinn kommt, wenn Sie aus dem Tiefschlaf aufgeweckt werden oder wenn Sie aus der Narkose aufwachen oder aus anderen Gründen kurz bewusstlos waren und ihr Bewusstsein wieder zurückerlangen. Das kann ja passieren, z. B. im Sport. Es ist tatsächlich so: Der erste Moment beim Aufwachen bzw. Wachwerden ist dieses »Da ist was«. Genaugenommen ist es so: Man weiß in diesem Moment nicht genau, wer man eigentlich ist oder wo man ist. Es gibt also ein bestimmtes Bewusstseinsmoment, das vor der uns vertrauten, scharfen Trennung von Subjekt und Objekt liegt (»Da

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bin ich – da draußen ist etwas«). Vielmehr ist es so: Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig – das ist das Allererste, auch der allererste Moment beim Aufwachen. Dabei ist es letztlich egal, aus was Sie genau aufwachen. Die Frage, ob das bei Säuglingen auch so ist, ist natürlich schwierig zu beantworten. Das müssen wir aber auch gar nicht wissen. Merleau-Ponty meint, Menschen sind immer zur Welt. Man darf es sich also vielleicht eher nicht so vorstellen: Hier bin ich – da ist die Welt. Sondern es ist immer ein Gerichtetsein. Da ist etwas, was mir in irgendeiner Form begegnet, mir etwas bedeutet, mich berührt, mit dem ich in Wechselwirkung stehe. Das ist das erste Moment. Das ist dieses Moment des ZurWelt-Seins. Diese Frage ist dann in der Philosophie, in der Psychologie und auch in der Theologie immer wieder aufgenommen worden: Wie sind wir als Menschen zur Welt gestellt? Zur-Welt-Sein, was heißt das? Wie ist unsere Weltbeziehung beschaffen? Es ist zunächst eine anthropologische Frage, der sich auch die Soziologie zu stellen hat. Immerhin ist zu vermuten, dass die Art der Weltbeziehung auch von sozialen Bedingungen abhängt. Das Beschaffensein der Weltbeziehung, dieses Zur-Welt-Sein des Menschen oder auch diese Welt – all das ist auch sozial bedingt. Als ich damit angefangen habe, so zu denken, bin ich ins Messer gelaufen. Man hat gesagt: Das ist ja der absolut gesetzte Kartesianische Dualismus: »Hier bin ich – da ist die Welt.« Die eigentliche Frage ist aber, wie sich das genau aufeinander bezieht. Ich glaube, dass »Ich« und »Welt« sich aus einer Beziehung heraus entwickeln. Man kann das durchaus als relationale Ontologie beschreiben, wenn man will. Nichtsdestotrotz ist es in der Erfahrung aber so, dass wir mit etwas konfrontiert werden, mit etwas, das da ist. Etwas ist gegenwärtig. Ich glaube, dieses »etwas« ist von sozialen Bedingungen abhängig, also auch nicht immer gleich.

1.2

Zur Differenzierung der Grunderfahrung: Das Hintergrundgefühl

Wenn Sie in der Mitte der Nacht aufwachen, ans Fenster treten und dem Wind lauschen, dann können Sie die anthropologische Grunderfahrung machen, die ich soeben beschrieben habe – und Sie können dem Hintergrundgefühl ihrer Weltbeziehung auf die Spur kommen. Das ist übrigens ein Gedanke, den man auch bei Theodor W. Adorno (1903–1969) findet. Adorno ist überzeugt, dass Sie die Frage, wie Sie gerade drauf sind – so würde ich Adorno übersetzen –, dem Wind ablauschen können. Dieser Gedanke Adornos findet sich in der Minima Moralia (1951) ausgeführt.1 Wenn Sie also aufwachen und der Wind geht ums 1 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2003, 54.

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Haus, dann stellen sie fest: »Da ist was!« – es windet. Was ist das aber nun genau für ein Urmoment der Erfahrung? Ist es ein Gefühl der Bedrohung? »Oh Gott, das Ding deckt mir das Dach ab!« – »Es drückt mir die Fenster ein!« Oder ist es eher ein Gefühl des Geborgenseins? »Der Wind streicht ums Haus, schmeichelt und trägt.« Es ist im Grunde egal, ob das jetzt der Wind oder das Meer oder sonst etwas ist. Die zentrale Frage lautet: Ist der erste Moment – etwas ist da, etwas ist gegenwärtig – etwas Bedrohliches? Es geht mir dabei nicht nur um den ersten Moment als solchen, sondern auch um das Hintergrundgefühl. Dieses Hintergrundgefühl interessiert mich als Soziologe und als Mensch ganz stark. Wie bin ich in die Welt gestellt? Ist das, was da ist, was gegenwärtig ist, etwas Bedrohliches – oder nicht? Gerhard Schulze (geb. 1944), ein anderer Soziologe, hat versucht, diesen Gedanken gewissermaßen milieuförmig auszuarbeiten. Er meint, dass es ein Milieu gibt, für das die Welt überwiegend bedrohlich ist. Erstaunlicherweise ist das bei ihm das Harmoniemilieu. In diesem Milieu besteht die zentrale Aufgabe darin, vorfindlichen Bedrohungen auszuweichen und sie abzuwehren: »Ja, lass mich bloß in Ruhe!« – »Am besten baue ich einen Sicherheitszaun ums Haus und eine Mauer ums Land.« – »Hier kommt keiner mehr rein!« Der leitende Gedanke hierbei ist: Was auch immer reinkommt, kann nur bedrohlich sein! Übrigens hat die Soziologie dazu Interessantes zu sagen, nämlich: Je mehr Sicherheitsvorkehrungen Sie treffen und je mehr Zäune und Mauern Sie um ihr Haus errichten, umso unsicherer fühlen Sie sich. Das ist nicht nur sehr interessant, sondern auch wahr. Das, was da und was gegenwärtig ist, kann bedrohlich sein. Es kann aber auch gefährlich sein; das ist zwar so ähnlich wie bedrohlich, aber bringt einen weiteren Aspekt zur Geltung: Was gefährlich ist, kann zusätzlich auch verlockend sein. Darauf weist Schulze hin. Nehmen Sie an, es klingelt an Ihrer Wohnungstür: »Da ist was!« – etwas ist da. In diesem Fall: Jemand ist da. Was ist das für ein Gefühl? Ist es eine Bedrohung? »Scheiße, was ist jetzt wieder los!« Oder ist es das Gegenteil: »Oh, super, es kommt mal jemand!« – »Es tut sich mal was!« Das sind unterschiedliche Formen der Weltbeziehung und die Welt kann bedrohlich und gefährlich oder verlockend oder gütig und tragend oder aber auch schweigend und indifferent sein. In diesem Zusammenhang interessiere ich mich für eine Soziologie der Weltbeziehungen. Für wen ist das Grundgefühl das einer verlockenden Welt, einer antwortenden Welt vielleicht sogar? Für wen ist das Grundgefühl das einer schweigenden Welt oder einer bedrohlichen Welt?

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Soziokulturelle Bedingungen der Grundformen der Weltbeziehung

Meine Grundannahme ist, dass die Grundformen der Weltbeziehung von den sozialen Bedingungen abhängen, auch von den kulturellen Hintergründen. Man könnte insofern meinen, dass z. B. unterschiedliche Religionen vielleicht unterschiedliche Weltverhältnisse stiften. Vermutlich ist an dieser Sichtweise durchaus etwas dran. Ich neige aber dazu, das eher umzudrehen: Je nach Weltverhältnis, das sich ausgebildet hat, sind unterschiedliche religiöse Ideen eher anschlussfähig – oder eben nicht. Aber es kommt nicht nur auf die Religion an. Wenn Sie z. B. als Straßenkind in einer Großstadt leben, dann ist die Welt vermutlich auch weit eher bedrohlich und gefährlich, als wenn Sie vergleichsweise wohlbehütet in einem bürgerlichen oder herrschaftlichen Haus aufwachsen. Vielleicht ist für junge Menschen die Welt viel eher verlockend als für alte; vielleicht kann es auch umgekehrt sein. Vielleicht ist es für Frauen anders als für Männer – oder für Eltern anders als für Kinderlose. Da beginnt dann Soziologie: Was prägt diese Grundformen der Weltbeziehung? Das ist das, was mich interessiert. Ich habe mit diesen Ausführungen versucht, diesen soziologischen Frage- und Problemhorizont nach bestimmten Ausdifferenzierungen plausibel zu machen.

1.4

Das Selbst – porös oder abgepuffert?

Anhand der nachfolgenden Grafik (s. Abbildung 1) will ich nun das Problem der Weltbeziehung von Menschen genauer darlegen: Das X steht für das Subjekt, der Bogen steht für die Welt. Diese Darstellung verdeutlicht unmittelbar das Problem, dass das Subjekt und die Welt immer schon getrennt erscheinen. Meine These lautet aber: Subjekt und Welt sind relational zu denken. Das heißt, der Pfeil kommt sozusagen vor dem, was dann als Subjekt sich realisiert, manifestiert oder verdichtet; der Pfeil kommt aber auch vor dem, was uns als Welt begegnen kann.

Abbildung 1

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Wenn Sie Taylors A Secular Age lesen, dann finden Sie interessante Überlegungen zu diesem Problem. Natürlich findet man solche Überlegungen auch anderswo, aber Taylor führt die Problematik besonders schön aus, indem er das poröse Selbst (the porous Self) dem abgepufferten Selbst (the buffered Self) gegenüberstellt. Er hält fest, dass wir uns heute immer schon als das individuierte Einzelne, das einer Welt gegenübersteht, verstehen und erfahren. Innen und außen sind in unserer Wahrnehmung und Erfahrung radikal getrennt. Das war aber nicht immer so. Taylor schreibt, dass es um 1500 – also zur Zeit der Reformation – viel stärkere Vorstellungen eines porösen Selbst gab als heute. Der böse Blick eines anderen konnte mein Innenleben durcheinanderbringen – oder ein Geist mich beseelen. Heute denken wir, dass man die Gesellschaft und »das Fremde« da draußen irgendwie loswerden müsste, um zum »wirklichen Ich« vorzudringen. Also, wir denken so: »Ich muss herausfinden, was wirklich ›ich‹ bin, was mein wahres Selbst ist« – »Um das zu tun, muss ich mich befreien von dem, was die Eltern gesagt haben, was die Lehrer gesagt haben, was die Freunde wollen – auch von dem, was der Pfarrer sagt. Nur so kann ich mich selbst finden.« In der Renaissance gab es hingegen durchaus auch die völlig konträre Idee, dass in meinem Innersten vielleicht ein Dämon sitzt. Damit wäre das Fremde gerade in meinem Innersten lokalisiert. Das finde ich hochinteressant. Was ich damit sagen will: Die Art und Weise, wie ein Selbst zur Welt steht und auf die Welt bezogen ist, das kann sehr unterschiedlich sein – je nach Gesellschaft und Kultur. Das, was in der Grafik als X dargestellt ist, muss also nicht immer ein monadisches Einzelselbst sein. Es können auch Dyaden oder Gemeinschaften sein.

1.5

Leiblichkeit. Zur Komplexität der Weltbeziehung

Auf jeden Fall ist diese Weltbeziehung nicht einfach nur eine kognitive. Ich würde sogar sagen, das Kognitive ist nachgeordnet. Ich halte das für wesentlich. Inzwischen sagen das natürlich viele Disziplinen. Trotzdem finde ich, dass wir das nie richtig ernstnehmen. Wir gehen eigentlich immer davon aus, dass wir uns der Welt in erster Linie denkend zuwenden. Mein Denken hat dann leibliche Konsequenzen. Aber es ist natürlich umgekehrt: Wie ich die Welt erfahre, hängt ganz stark auch von leiblichen Zusammenhängen ab. Es hängt mit leiblichen Befindlichkeiten zusammen. Die leibliche Konstitution spielt eine wichtige Rolle. Als Soziologe versuche ich also Weltbeziehungen zu analysieren; dabei habe ich angefangen, das wirklich auch leiblich durchzudenken. Ein interessanter Punkt dabei ist das Atmen: Wir atmen nämlich gewissermaßen ständig Welt ein und atmen sie wieder aus. Atmen ist die basalste Form der Weltbeziehung. Ich prozessiere die Welt beim Atmen ununterbrochen durch mich hindurch. Ich

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atme Welt ein, ich atme sie aus. Normalerweise reflektiert man das natürlich nicht – es sei denn, es stimmt etwas nicht. Dann sagt man: »Ihm stockte der Atem«. Sie kennen diese Redewendung. Man kann sie in 1000 Büchern lesen. Sie macht deutlich, dass die Welt, d. h. die Weltbeziehung, plötzlich prekär geworden ist. Oder man sagt: »Im Dekanat herrscht heute dicke Luft.« Also bei uns in Jena oder Erfurt kommt so etwas vor. Auch diese Redewendung macht deutlich, dass das Atmen schwer wird, was letztlich bedeutet: Das Weltverhältnis ist gestört. Aus diesem Grund ist die Covid-19-Pandemie soziologisch hochinteressant. Es handelt sich schließlich um die basalste Form einer Störung der Weltbeziehung, die hier anschaulich wird: Das Atmen wird gefährlich. Wir brauchen eine Maske zwischen uns und der Welt. Ich habe auf einer Tagung in Frankreich mit Bruno Latour (geb. 1947) einige Leute getroffen, die lange Zeit in China gearbeitet haben und sich im Schnittfeld von Biologie und Philosophie bewegen. Diese Leute haben gesagt, dass es im chinesischen Denken bis in die Biologie hinein die Vorstellung gibt, dass Viren Anzeiger von Störungen in der Beziehung zwischen Organismus und Welt sind. Ein Virus tritt demzufolge genau dann auf, wenn die Weltbeziehung prekär wird. Corona signalisiert für uns, dass die basalste Form der Weltbeziehung fraglich geworden ist. Das Einatmen kann mich umbringen – und das Ausatmen kann andere umbringen. Was ich damit sagen will: Weltbeziehungen sind leiblich. Das wird beim Atmen deutlich, aber auch beim Essen und Trinken. Wenn wir essen und trinken, prozessieren wir Welt ständig durch uns hindurch: Wir nehmen sie auf, wir scheiden sie aus. Das Ausscheiden haben wir – nicht nur wir, sondern das ist in fast allen Kulturen so – seltsam tabuisiert, aber im Prinzip ist es ein Durch-UnsHindurch-Prozessieren von Welt. Auch da gibt es alle erdenklichen Arten von Störungen. Essstörungen nehmen zum Beispiel massiv zu. Die Weltbeziehung hat auch eine emotionale Seite. Wir können die Welt als bedrohlich erleben –auch dann, wenn wir gute Gründe haben zu sagen: »Aber eigentlich gibt es doch gar keinen Grund, Angst zu haben!« Das Kognitive ist zwar oft nachgeschaltet, aber es gibt dennoch natürlich auch eine kognitive Weltbeziehung, eine Konzeption dessen, was die Welt, das Universum und die anderen sind. Und es gibt darüber hinaus auch eine evaluative Weltbeziehung im Sinne von »Das ist gut« und »Das ist schlecht«. Streng genommen hat die evaluative Weltbeziehung eine Doppelstruktur, die sich mit den Begriffen »Bewertung« und »Begehrung« ausdrücken lässt: Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig – das kann zum Beispiel ein Glas Bier sein. Dieses Glas Bier kann sehr positiv konnotiert sein, weil ich es wirklich begehre. Ich will es jetzt trinken – aber vielleicht habe ich ein Alkoholproblem und weiß, es zu trinken wäre geradezu das Schlimmste; oder ich bin radikaler Christ oder Muslim und denke: »Das ist der Teufel!« Dann kann die Bewertungslandkarte komplett gegen die Begehrungslandkarte gedreht sein.

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Was ich damit sagen will: Weltbeziehungen sind sehr komplex. Sie haben eine leibliche und eine kognitive Dimension, sie haben eine Bewertungs- und eine Begehrensdimension. Ich kann Dinge begehren, obwohl ich sie negativ bewerte – und auch umgekehrt. Ein Beispiel: In den Gottesdienst zu gehen wäre echt wichtig und toll, aber ich habe überhaupt keine Lust dazu. In diesem Falle bewerte ich den Gottesdienstbesuch zwar hoch, aber begehre ihn nicht.

1.6

Mediopassivität. Zwischen Aktivität und Passivität

Wenn man über Weltbeziehung nachdenkt, ist es natürlich wichtig, auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität zu reflektieren. Die längste Zeit dachte ich, es gäbe eine aktive und eine passive Seite der Weltbeziehung. Aus diesem Grund ist in Abbildung 1 auch ein Doppelpfeil zu sehen. Auch in diesem Punkt lassen sich interessante Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen erkennen. Biografische Interviews zeigen, dass es zwei recht unterschiedliche Typen gibt, wie Menschen ihr Leben erzählen: Einerseits gibt es Erzählungen, in denen das Subjekt in die Welt hineingeht. Die Befragten sagen: »Ich will noch etwas sehen von der Welt!« – »Ich bin mal gespannt, was ich noch finde da draußen.« Die zugrundeliegende Idee besteht darin, dass sich das ›Ich‹ in einer im Wesentlichen stabilen Welt bewegt. Es gibt jedoch andererseits auch die gegenteilige Erfahrung. Manche Befragte sagen Sätze wie diese: »Man weiß nie, was die Welt für einen auf Lager hat.« – »Du weißt nie, was als Nächstes kommt.« – »Mal sehen, was auf mich zukommt!« – »Ich lasse es auf mich zukommen.« In diesen Fällen ist eher eine passive Weltbeziehung leitend. »Die Welt kommt auf mich zu« – das ist ein komplett anderes Bild als »Ich gehe in die Welt hinein«. An diesem Punkt kann sich jeder und jede gleich selber fragen, welches Gefühl dominiert. Habe ich eher dieses Gefühl, dass das Leben auf mich zukommt? Oder gehe ich ins Leben hinein? Es gibt beide Vorstellungen und als Soziologe interessiert mich: Bei wem dominiert welche Form der Beziehung? Was mich in diesem Zusammenhang neuerdings besonders interessiert, ist Mediopassivität. Es gibt nämlich auch etwas zwischen Aktivität und Passivität. Es gibt Momente, wo man nicht genau sagen kann, ob ich jetzt aktiv oder passiv bin. Dann bin ich sowohl aktiv als auch passiv – oder eigentlich: dazwischen. Die evangelische Theologin Cornelia Richter (1970), die heute ebenfalls anwesend ist, denkt ihrerseits in diese Richtung.2 Der von mir 2 Vgl. hierzu Cornelia Richter: Integration of Negativity, Powerlessness and the Role of the Mediopassive. Resilience Factors and Mechanisms in the Perspective of Religion and Spirituality, in: IRAT 7 (2021), 491–513, bes. 504–506; ferner den Vortrag vom 14. Januar 2021 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt zum Thema »Mediopassivität als elementare Hal-

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zuletzt häufiger verwendete Begriff der mediopassiven Weltbeziehung geht letztlich auf sie zurück. Bei Mediopassivität geht es um ein intensives Wechselverhältnis, das man in theologischen Kontexten sehr gut denken kann.3

2

Die dominante Konzeption des guten Lebens

2.1

»Das musst du selber wissen!« Zur Privatisierung der Frage nach dem guten Leben

Ich will nun kurz darauf eingehen, wie wir meiner Ansicht nach unser Leben in der Moderne führen. Das hat etwas zu tun mit A Secular Age (2007), mit Säkularisierung, indem nämlich die Frage des Guten und auch des guten Lebens radikal privatisiert wurde. Für eine solche Privatisierung lassen sich durchaus gute Gründe ins Feld führen. Ich will also nicht behaupten, dass diese Entwicklung ein Fehler gewesen wäre oder negativ zu beurteilen sei. Natürlich geben Menschen auf die Frage, was für sie ein gutes Leben sei, unterschiedliche Antworten. Die Folge davon ist jedoch, dass wir eigentlich davon ausgehen, dass jeder und jede für sich selber wissen muss, was er oder sie aus dem eigenen Leben machen will. Das ist richtig – und es gilt für die Schule wie für die Familie gleichermaßen. Eine halbwegs vernünftige moderne Familie wird immer sagen: »Du musst selber herausfinden, ob du lieber Musik machst oder lieber Sport treibst, ob du heiraten willst oder nicht!« Zudem ist es auch immer eine Frage der Gewichtung: Wie gewichte ich Familie und Beruf ? Soll ich mein Leben der Politik widmen oder etwas Anderem? Soll ich mich stärker in die Politik bewegen oder soll ich lieber Künstlerisches oder Wissenschaftliches oder Handwerkliches machen? Alle diese Sachen sind basal bzw. elementar für die moderne Weltbeziehung. Die Weltbeziehung eines Bäckers ist dabei aber natürlich eine andere als die einer Programmiererin. Aber die Standardantwort, und ich glaube völlig zu Recht, dieser Gesellschaft ist: »Du musst es für dich selber rausfinden!« – »Das muss jeder selber wissen.« Übrigens ist das selbst in robusteren Kontexten wie z. B. dem ländlichen Stammtisch so, wenn etwa über Fragen wie Homosexualität diskutiert wird. Am Ende gilt: »Das muss jeder für sich selber wissen!« Und wie gesagt, ich finde, das ist an sich auch richtig. Wir können es gar nicht anders machen. Das ist eben diese ethische Pluralisierung bzw. der ethische Pluralismus der Gesellschaft. tung des Glaubens. Überlegungen zwischen Theologie und interdisziplinärer Resilienzforschung«. 3 Vgl. etwa Hartmut Rosa: »Spirituelle Abhängigkeitserklärung«. Die Idee des Mediopassiv als Ausgangspunkteiner radikalen Transformation, in: Klaus Dörre u. a. (Hg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften, Wiesbaden 2019, 35–55.

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Aber die Folge davon ist, dass wir die Frage, wie Leben zu führen sei, eigentlich nicht mehr diskutieren. Sie wird privatisiert – und damit verstummt sie auch ein bisschen. Dann tritt etwas Anderes an die Stelle. Das Problem der Privatisierung der Frage nach dem guten Leben hat zudem auch noch eine zweite Seite: Die Gesellschaft ist hochdynamisch geworden; so hochdynamisch, dass man nicht mehr einfach einen bestimmten Lebensentwurf fassen und diesem dann folgen kann. Am Ende kommt es dazu, dass wir uns von der Frage nach dem guten, gelingenden Leben abwenden.

2.2

»Mehr ist immer besser«. Zur Konzentration auf Voraussetzungen

Die gesamtgesellschaftliche Abwendung von der Frage nach dem guten, gelingenden Leben geht einher mit einer gesteigerten Konzentration auf die Voraussetzungen dieses Lebens. John Rawls (1921–2002) finde ich genial, seine Theory of Justice (1971) ist großartig. Ich glaube übrigens, dass man das noch gar nicht ausgeschöpft hat: Der Schleier des Nichtwissens (Veil of Ignorance) ist für alle möglichen ethischen Fragen eine hervorragende Basis. Aber ich will nun in einer anderen Hinsicht auf Rawls hinaus bzw. an ihn anschließen – in einem Punkt, von dem ich glaube, dass er Probleme nach sich zieht: Rawls spricht von den Primary Goods, von den Grundgütern des Lebens, auf die er sich in seiner Theorie konzentriert – und von denen ich glaube, dass wir uns in unserem Leben darauf fokussieren. Die Grundgüter sind bei Rawls so definiert, dass es immer besser ist, davon mehr zu haben als weniger – egal ob Sie Pianistin, Terroristin oder Internistin werden wollen. Wenn es um Grundgüter des Lebens geht, ist es immer besser, eine möglichst große Ausstattung davon zu haben. Der Geldwert wäre ein klassisches Beispiel hierfür: Mehr Geld zu haben ist immer besser als weniger Geld zu haben – sogar, wenn Sie Mutter Teresa (1910– 1997) sind, weil sie damit mehr für die Armen tun können – wobei es eigentlich egal ist, was Sie damit tun. Ein weiteres Beispiel wäre die Gesundheit: Egal ob Internist, Terrorist oder Pianist – möglichst gesund zu sein, ist gut. Ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass dies für den Bereich der Erziehung genauso zutrifft wie für unsere Lebensführung. Ich glaube, dass diese Gesellschaft obsessiv mit der Idee beschäftigt ist, möglichst gesund zu sein und möglichst lange zu leben. Ich habe einen Doktoranden, der zum Themengebiet Survivalism forscht. Er sagt: »Ich begreife das nicht. Die Gesellschaft geht eigentlich noch hinter Aristoteles zurück. Hauptsache, lang leben. Du sollst nicht rauchen, du sollst nicht trinken, du sollst nicht… – immer nur, damit du möglichst dein Leben noch verlängerst. Die Qualität des Lebens spielt überhaupt keine Rolle mehr.«

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Was ich soeben im Rückgriff auf Rawls über Grundgüter ausgeführt habe, lässt sich gedanklich auch über die Theoriebildung von Pierre Bourdieu (1930– 2002) einholen, wobei der Gedanke mit Bourdieu noch einmal eine etwas andere Richtung nimmt. Bourdieu geht davon aus, dass es darauf ankommt, möglichst viel Kapital zu haben, weil Kapital Weltmöglichkeiten eröffnet und die Position im sozialen Raum verbessert. Die verschiedenen Kapitalsorten bei Bourdieu sind im Wesentlichen das, was bei Rawls die Grundgüter sind. Bourdieu unterscheidet soziales Kapital, ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und symbolisches Kapital. Geldbesitz ist eine Form des ökonomischen Kapitals. Mehr Geld haben, ist auch für Bourdieu besser als weniger Geld haben – egal, was Sie mit ihrem Leben machen wollen. Deshalb ist klar, dass du als junger Mensch heute eine ökonomische Ausstattung brauchst, auch als mittelalter Mensch und sogar, wenn Sie schon fast in der Rente sind. Du weißt ja nie, was später kommt. Vielleicht musst du ins Pflegeheim. Vielleicht haben Sie 17 Enkel, für die Sie sorgen wollen… Mehr Geld ist immer besser als weniger Geld. Mehr Gesundheit ist besser als weniger Gesundheit. Das gilt auch für gutes Aussehen, Kreativität und Fitness. All das sind Ressourcen, die sich als Körperkapital beschreiben lassen. Egal, was ich aus meinem Leben mache, mehr davon zu haben, ist immer besser als weniger zu haben. Also, was machen wir? Wir sind zu 90 % der Zeit mit dem Jagen nach ökonomischem Kapital beschäftigt und mit der restlichen Zeit damit, den Körper fit zu halten, attraktiv zu halten, schön zu halten. Und dann gibt es auch noch das Sozialkapital, das bei Bourdieu genauso wichtig ist. Beziehungen sind immer wichtig. Du brauchst Leute, auf die du dich verlassen kannst, vom Kleinen bis zum Großen, von Freunden bis zu Geschäftsbeziehungen. All das gehört zum Sozialkapital, wie es Bourdieu nennt – und mehr davon zu haben ist immer besser als weniger. Ich mache Schülerakademien für Begabte, für hochbegabte Schüler und Schülerinnen und ich habe das Gefühl, dass sie ihre eigene Stimme oft nicht mehr finden, weil sie ständig verlockt werden: »Oh, du könntest dich noch für dieses super Praktikum bewerben und für jenen Meisterkurs und für das und jenes!« Meine These ist: Die jungen Menschen stehen zunehmend in der Gefahr radikaler Entwurzelung. Sie haben immer das Gefühl, sich eröffnende Chancen und Anschlussmöglichkeiten wahrnehmen zu müssen. Sie sehen überall Möglichkeiten, um Leute kennen zu lernen. Und daher dreht sich alles ums Sammeln von Kapital. Auch auf Instagram und Facebook akkumulieren wir Sozialkapital. Und wenn wir nicht damit beschäftigt sind, ökonomisches Kapital, Körperkapital oder soziales Kapital anzuhäufen, dann häufen wir kulturelles Kapital an: Bildung. »Englisch lernen kann nie verkehrt sein – egal, was du später mit deinem Leben machst!« Also, wir akkumulieren auch noch kulturelles Kapital und symbolisches Kapital – sei es bei Instagram und anderswo.

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Was ich mit all dem verdeutlichen will: Was wir eigentlich tun, ist, dass wir die Frage, was eigentlich das gelingende Leben und das Gute ist, ausklammern und stattdessen die Ressourcen akkumulieren, die man brauchen könnte im Leben – unabhängig davon, was die Zu- und Wechselfälle des Lebens für uns konkret im Sinn haben. Die Soziologie hat übrigens diese Logik der modernen Lebensführung vollständig übernommen: Sie geht unartikuliert davon aus, dass das Wohlergehen mit den Ressourcen steigt. Deshalb lassen sich weite Teile der Soziologie der Ungleichheitssoziologie zuordnen. Wer hat mehr kulturelles Kapital, soziologisches Kapital und Körperkapital? Das ist eine zentrale Frage. Ich will überhaupt nicht sagen, dass man sie nicht stellen sollte. Natürlich ist es ungerecht, dass disprivilegierte Schichten in allen Kapitaldimensionen benachteiligt sind. Sie können wirklich sagen in allen, einschließlich Körperkapital, weil es für sie viel, viel schwerer ist, diese Kapitalakkumulation in Gang zu bringen. Der Witz bei Kapital ist ja, dass je mehr man davon hat, umso leichter fällt es, noch mehr zu akkumulieren. Das ist bei wirklich all diesen Dingen so. Du musst schon ein paar Leute kennen, damit du auf die Party eingeladen wirst, wo du dann die richtig tollen Leute triffst. Also selbst Sozialkapital akkumuliert sich so, dass man immer schon was haben muss, um mehr zu kriegen. Ich will damit nicht sagen, dass es diese schichtenspezifischen Differenzen nicht gibt, aber ich will schon sagen, dass sich in unserer individuellen Lebensführung wie in unserer sozialen Diskussion – sogar im politischen Diskurs – bedauerlicherweise nahezu alles um die Frage nach der Kapitalausstattung dreht: Wie können wir noch ein bisschen mehr Bildung zu diesen oder jenen Schichten bringen? Wie können wir noch ein bisschen mehr Gesundheit hier oder dort möglich machen? Wie können wir die Einkommensverhältnisse hier oder dort verbessern? Es geht immer darum, den Kapitalstock zu vermehren. Meine Diagnose, die sich hier anschließt, lautet: Wenn du nur noch den Kapitalstock vermehrst, wird das Leben zu einem komplett sinnlosen Unterfangen.

2.3

Ausruhen als Zurückfallen. Zur Eigenlogik von Kapitalvermehrung und Kapitalerhalt

Zu dem bereits geschilderten Problemzusammenhang kommt noch hinzu, dass wir in der Kapitallogik dazu gezwungen sind, das Bestehende ständig zu erhalten. Wenn Sie nicht permanent Ihren Kapitalstock vermehren, verlieren Sie ihn nämlich. Ausruhen bedeutet immer schon Zurückfallen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Fitness-Tracker: Ich habe jetzt 12.000 Schritte pro Tag. Aber wenn ich mich jetzt nicht bewege, sind es schon wieder 40 Schritte weniger und morgen

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sind es 80 Schritte weniger… Du rutschst – wie auf einer Rolltreppe, die du gegen ihre Laufrichtung nach oben rennst – nach unten. Jeden Tag, an dem ich nicht renne, falle ich zurück. Bei Facebook oder Instagram ist es noch schlimmer: Ich kann noch so gut vernetzt sein – wenn ich heute nicht poste, verliere ich mein Sozialkapital schon wieder. Auf Snapchat erlöschen die Flammen. Die Bildungsressourcen verschwinden auch, weil das, was du gestern gelernt hast, heute schon nichts mehr wert ist. Selbst das Geld ist von fortwährender Entwertung betroffen. Das heißt: Wir stehen multidimensional auf Rolltreppen nach unten, auf denen wir immer schneller nach oben laufen müssen – nicht einmal, um uns zu verbessern, sondern nur, um unseren Platz halten zu können. Das ist eine ungünstige Ausgangssituation. Was treibt uns eigentlich an? Warum laufen wir die Rolltreppe immer weiter nach oben?

2.4

Der negative Antriebsmoment: Todesdrohung und Verlustangst

Ein zentrales Antriebsmoment ist die Verlustangst. Das ist meine soziologische Diagnose: Wir werden gar nicht so sehr von der Aussicht auf ganz viel oder mehr Kapital angelockt, sondern sind viel eher von der Angst angetrieben, dass wir das, was wir haben, auch noch verlieren könnten – und dann im Alter womöglich gar nichts mehr haben. Es geht also um die Angst, abgehängt zu werden in einer hoch dynamischen Gesellschaft. Das, was wir an Ressourcen haben, zu verlieren oder entwertet zu sehen, ist ein wesentliches Antriebsmoment, auf den Rolltreppen weiter zu laufen und weiter zu akkumulieren. Dieser Aspekt, die Angst vor dem Abgehängtwerden, ist hochrelevant und keinesfalls trivial. Oft sagen wir ja: »Die Gesellschaft ist so unersättlich – höher, schneller, weiter!« – »Das ist unsere Gier – wir können nie genug kriegen!« Ich glaube aber, dass es gar nicht die Gier ist, die uns so antreibt. Es ist eher die Angst: Wenn ich nicht mehr mithalten kann und abgehängt werde, dann rutsche ich ab. Wir stehen auf rutschenden Abhängen – das war mein altes Bild.4 Die Frage ist: Wie weit geht es runter? Meine These lautet: Es geht fast bis zum sozialen Tod runter. Wenn Sie in die soziale Grundsicherung hineinfallen, sterben Sie eigentlich den sozialen Tod. Die Debatten um Hartz IV in Deutschland unterscheiden sich kaum von jenen um Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung in Österreich. In letzter Konsequenz sagt Ihnen die Gesellschaft, wenn Sie eine solche Form der Grundsicherung in An4 Vgl. hierzu exemplarisch Hartmut Rosa: Weshalb ist unser Leben so hektisch (Interview mit Sebastian Witte und Rainer Harf), in: GEOkompakt 40/9 (2014), 42–51, wo es noch hieß: »Ich nenne es das ›Slipping-Slopes-Syndrom‹ – das Gefühl, auf rutschenden Abhängen zu stehen.«

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spruch nehmen: »Wir lassen dich nicht verhungern – aber eigentlich bist du ein Schmarotzer!« – »Wir geben dir noch was – so, wie wir dem Hund die Knochen hinschmeißen. Aber eigentlich du hast keinen Platz mehr in dieser Gesellschaft!« Ich würde sagen, da wird die Resonanzschnur symbolisch durchtrennt, und die Idee dahinter ist: »Du trägst nichts bei zum Gelingen des Ganzen und das, was du (zurück-)kriegst, ist nicht dein Verdienst, sondern nur ein Geschenk.« So können Sie Menschen umbringen. Was sozialer Tod bedeutet, ist oft anhand von archaischen Gesellschaften gezeigt worden. Indem Sie Menschen jede Resonanz verweigern, können Sie sie umbringen. Deshalb, glaube ich, ist es fast die Todesdrohung, die Menschen dazu bringt, immerzu im Rad zu laufen. Also die These lautet: Wir laufen eigentlich in Hamsterrädern und diese Hamsterräder dienen der Akkumulation von unterschiedlichen Kapitalsorten und wir können dabei nie an ein Ziel kommen. Das Abmühen ist unabschließbar. Man kann es auch unter Optimierungslogiken fassen: Das Problem bei der Optimierung ist, es ist nie genug – oder andere haben immer schon mehr.

2.5

Die positive Verheißung: Weltreichweitenvergrößerung und Verfügbarmachung

Trotzdem glaube ich, dass wir nicht nur negativ motiviert werden, sondern dass es da auch eine Verheißung gibt. Diesen Aspekt finde ich sehr wichtig, weil eine Kultur – auch das kann man bei Taylor lernen – auf Dauer keinen Bestand haben kann, wenn sie nur angstgetrieben ist. Es muss eine Verheißung geben. Diese Verheißung liegt im Verfügbarmachen der Welt bzw. in der Weltreichweitenvergrößerung. Man kommt dann relativ rasch auch zum, an Heinz von Foerster (1911–2002) angelehnten, kategorischen Imperativ der Moderne,5 den ich so formuliere: »Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird«.6 Das ist im Prinzip die bereits skizzierte Kapital5 Von Foerster bezeichnet seine Maxime als »ethischen Imperativ«. Diese Maxime lautet im Original so: »Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen« (Heinz von Foerster: Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München 1981, 39–60, hier: 60). Zitiert wird sein Imperativ gerne aus einer späteren, inhaltlich ähnlichen Fassung: »Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst« (ders.: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, hrsg. von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt am Main 1993, 49). Bemerkenswert ist, dass von Foerster seine Maxime zuletzt inhaltlich korrigiert hat, um den Unbedingtheitsanspruch der Aussage zu relativieren: »Heinz, handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst« (ders./Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg 2001, 36). 6 Exemplarisch: Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Salzburg 2019, 133.

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logik, jedoch meine ich, dass darin auch eine Verheißung erkennbar wird: Warum ist Geld attraktiv? Weil Geld Ihre Weltreichweite bestimmt. Wenn Sie richtig reich sind, können Sie sich das schöne Häuschen in Wien leisten – oder das Penthouse in der reichsten Gegend, den Helikopterflug in die Berge zum Helikopterskifahren oder den Wochenendausflug nach Tokio. Wenn sie kein Geld haben, sondern Schulden, dann können Sie sich nicht einmal das Kellerloch in einem Randbezirk Wiens leisten, nicht mal die Fahrkarte nach Salzburg und wahrscheinlich nicht mal die Skier – geschweige denn den Helikopter dazu. Wenn Sie hingegen ganz viel Geld haben, so wie die Milliardäre, dann kommt sogar der Mars in Reichweite oder mindestens das Weltall. Hier kann man buchstäblich sehen, was Weltreichweitenvergrößerung meint. Meine These ist: Wir wollen Welt erreichbar machen. Verfügbarmachung von Welt heißt, dass ich wissen will, was da ist – ich will mit Satelliten oder Mikroskopen in die Dinge hinein. Ich will die Welt erreichbar machen, irgendwie zugänglich, irgendwie sehen. Ich schicke eine Kamera hin – am besten fahre ich selber hin. Dann will ich es kontrollierbar machen, irgendwie unter Kontrolle bringen und schließlich auch nutzbar machen. Die Milliardäre sind aktuell dabei, den Weltraum auf diese Weise verfügbar zu machen. Das muss doch auch noch möglich sein! Und es ist ja auch fast möglich für sie, während alle anderen noch auf dem Weg dahin sind. Also, wenn Sie nicht ins Weltall wollen, haben Sie vielleicht die Hoffnung, dass Sie sich doch irgendwann das Häuschen oder die Kreuzfahrt oder die Ayurvedakur leisten können. Also, kurz und gut: Alle Kapitalsorten dehnen die Reichweite des Verfügbaren, des Erreichbaren aus. Deshalb ist zum Beispiel die Stadt für viele – ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob das in Österreich auch so ist, weil Österreich stark ländlich geprägt ist, aber ich schätze, so anders wird es auch nicht sein – so attraktiv. Junge Leute wollen in die Stadt und nicht auf dem Land wohnen. Die Frage ist: Warum? Fragen Sie die jungen Leute! Ich komme aus einem kleinen Schwarzwalddorf und unsere Jugend zieht weg, obwohl sie das Dorf eigentlich schön finden. Wenn ich frage, warum, dann sagen sie: »In der Stadt habe ich die Theater und die Opern und die Kinos und die Zoos.« Und wahrscheinlich gehen sie nie in die Theater und die Opern und die Museen. Aber, dass sie in Reichweite sind, das ist Teil jener Lebensqualität, welche die Stadt ihnen verheißt. Welt in Reichweite zu bringen, das ist also die Verheißung. Wir können Welt verfügbar machen, sie uns aneignen.

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3

»Warum klappt diese Konzeption nicht?« – Eine Soziologische Problemanzeige

3.1

Spotify – und das doppelte Problem der Verfügbarmachung

Meine These ist, dass die ganze Kultur von dieser Hoffnung lebt, dass wir Welt verfügbar machen und uns aneignen können. Mein Lieblingsbeispiel dafür: Spotify. Also, ich weiß nicht, wie viele von ihnen das noch kennen: Schallplatten sammeln. Was war das nur für eine Glückserfahrung, wenn man dann endlich diese eine Schallplatte hatte! Erstens, weil man sie sich leisten konnte und, zweitens, weil man sie überhaupt gefunden hatte. Man musste sich bewusst entscheiden: Ich kauf mir jetzt diese Pink Floyd-LP! Ich bleibe bei Pink Floyd. Es hätte natürlich auch Yes sein können – deren neue Platte7 kann ich übrigens sehr empfehlen. Irgendwann kauft man also diese Platte und trägt sie nach Hause und man verwandelt sie sich an. Der Wunsch nach Ausdehnung des Verfügbarkeitshorizonts hat nun aber verschiedene Streamingdienste hervorgebracht. Jetzt kaufe ich nicht mehr diese einzelne Platte, sondern ich kaufe z. B. einen Spotify-Zugang und damit habe ich 100 Millionen – ich glaube es sind inzwischen 100 Millionen, vor kurzem waren es noch 70 Millionen – Musiktitel immerzu verfügbar.8 Ich muss nur draufklicken. Das entwertet Musik radikal. Irgendwann schreibe ich darüber noch ein Buch. Jugendliche heute hören Playlists und wissen vielfach gar nicht mehr, was da gerade läuft. Mit diesen Beobachtungen will ich keineswegs die Jugendlichen fertigmachen, sondern auf die Logik eines Mediums hinweisen: Die Tatsache, dass wir Musik so absolut verfügbar gemacht haben, hat auch dies zur Folge. Sie steht mir nun eigentlich »unlesbar« gegenüber, worin sich ein doppeltes Problem der Verfügbarmachung zeigt: Wir erzeugen durch Verfügbarmachung eine monströse Unverfügbarkeit. Und wir können uns die Welt nicht mehr anverwandeln, sie nicht mehr zum Sprechen bringen. Beides bedarf näherer Ausführungen.

7 Yes, The Quest, Studio album, 2 LP, InsideOut Music/Sony Music: Dortmund/New York City, 2021. 8 Im April 2022 waren es laut Angaben des Unternehmens 82 Millionen Musiktitel. Vgl. hierzu Spotify AB: About Spotify, online unter: https://newsroom.spotify.com/company-info/ (zugegriffen am 24. 05. 2022).

84 3.2

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Monströse Unverfügbarkeit: Allmacht und Ohnmacht

Auf der makrosozialen bzw. strukturellen Ebene führt das Programm, Natur und Welt beherrschbar zu machen, zur Weltzerstörung. Verfügbarmachung heißt immer auch, etwas beherrschbar und kontrollierbar zu machen. Es geht darum, etwas unter Kontrolle zu bringen, um es sich anzueignen. Eigentum ist die eigentliche Logik dahinter. Wenn etwas mein Eigentum ist, kann ich damit machen, was ich will. Es ist meins. Es ist mir unbegrenzt verfügbar. Genau das ist die Logik von Eigentum: unbegrenzte Verfügbarkeit. Ich kann damit machen, was ich will. Ich kann es zerstören, ich kann es gebrauchen, ich kann es weiterschenken, egal. Und diese Idee des Kontrollierens, des Dominierens und des Verfügbarmachens führt paradoxerweise zur Weltzerstörung in Form von Umweltzerstörung. Die dominante Wahrnehmung von Natur ist, dass wir sie zerstören – und dass sie dann uns bedroht. Wir bedrohen sie, sie bedroht uns. Das meine ich mit monströser Unverfügbarkeit. Das, was wir verfügbar und beherrschbar machen wollten, wird durch die Verfügbarmachung monströs unverfügbar. Dummerweise haben wir es kaputt gemacht, statt es wirklich verfügbar zu machen. Und mehr noch: Jetzt macht es uns kaputt. Haben wir es denn besser verdient? Diese Logik – übrigens habe ich damit das nächste theologische Problem am Hals – ist eigentlich eine Logik der Allmacht, die sich radikal verkehrt. Es geht um eine Allmachtslogik, die zu einer Ohnmachtserfahrung führt. Bei der Umweltzerstörung sehen Sie das ganz deutlich: Wir können Natur jetzt scheinbar vollständig beherrschen, allerdings mit dem unabweisbaren Gefühl, dass wir ihr ohnmächtig ausgeliefert sind. Am besten lässt sich diese paradoxe Struktur anhand der Logik der Kernspaltung plausibilisieren. Oppenheimer und seine Kollegen haben völlig zu Recht gesagt: »Wir sind fast Schöpfer geworden.« – »Wir sind fast allmächtig geworden.« Hier äußert sich ein unglaubliches Machtgefühl. Der Begriff »Macht« hat immer einen ziemlich negativen Klang, aber ich meine es zunächst einmal gar nicht negativ. Es geht durchaus auch um schöpferische Macht im positiven Sinne: Wir können jetzt das Innere der Materie erreichen, wir können sozusagen Stoffe verwandeln – das ist eine »Fast-Allmacht«. Das Problem ist lediglich, dass diese Allmacht zu radikaler Ohnmacht führt, wie sie sich angesichts nuklearer Kettenreaktionen äußert. Ich vertrete die These, dass sich etwas Ähnliches auch in der Politik beobachten lässt: Volkssouveränität heißt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Wir sind demzufolge als Bürger und Bürgerinnen allmächtig – und zugleich erfahren sich Staatsbürger und Staatsbürgerinnen mehr denn je als ohnmächtig. Eine Folge davon ist, dass sie Rechtspopulisten werden. Österreich kann davon ein Lied singen, andere Länder auch. Dieses Kippen von Allmacht zu Ohnmacht lässt sich auch im Alltag feststellen. Mit der Fernbedienung bin ich allmächtig,

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auch in meinem Auto oder in meinem Haus: Ich mache es hell, ich mache es dunkel. Ich mache es heiß, ich mache es kalt. Ich mache es laut, ich mache es leise. Das mache ich solange, bis das Ding ausfällt und sagt: »Einen Moment bitte – einen Moment bitte – einen Moment bitte…« Dann kann ich das Fenster nicht mehr schließen, die Heizung nicht mehr ausstellen und die Musik nicht mehr abschalten. Wir kippen zwischen Allmacht und Ohnmacht. Meine These ist: Das Kippen zwischen Allmacht und Ohnmacht lässt sich in den Makroverhältnissen, in den politischen Verhältnissen, im Blick auf die Finanzmärkte und im Hinblick auf Corona genauso beobachten wie anhand junger Menschen, die in Deutschland aktuell Abitur machen. Wenn junge Leute Abitur machen, sagt man: »Junge oder Mädchen, jetzt hast du es geschafft – die Welt steht dir offen!« Aber alle soziologischen Untersuchungen zeigen überdeutlich, dass dieser Bildungsabschluss bei jungen Leuten zu Panik führt. Warum? Weil sie mehr als 20.000 in Deutschland akkreditierte Studiengänge haben,9 die sie jetzt wählen könnten. Dann finden Sie mal den richtigen! Die Welt wird heute auf monströse Weise unverfügbar, aber noch schlimmer: Sie wird auch von innen heraus unverfügbar. Ich habe versucht, es bei Spotify bereits anzudeuten und glaube, dass man den Gedanken vielleicht auch auf die Weltreligionen übertragen kann.

3.3

Radikale Verfügbarkeit: Entfremdung und Beziehungslosigkeit

Alle Musiktitel oder Religionen sind heute verfügbar. Du kannst dich jeder Richtung anschließen. Du kannst glauben, was du willst; hören, was du willst; lieben, was du willst. Das Problem, das sich durch diese radikale Verfügbarkeit auftut, heißt Entfremdung. Das bedeutet: Ich habe diese Dinge zwar allesamt zur Verfügung, damit habe ich auch eine äußere Beziehung zu ihnen. Was aber fehlt, ist die innere Beziehung. Keiner dieser 70 Millionen Musiktitel stiftet mehr so etwas wie eine innere Beziehung, eine Berührung. Entfremdung ist für mich der Zustand, den Max Weber (1864–1920) als Entzauberung bezeichnet hat. Entfremdung ist der Ausdruck für eine beständige Grundangst der Moderne. Wenn Max Weber von Entzauberung (Disenchantment, engl.; Désenchantement, fr.) spricht, wird un9 Laut Angaben der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gab es im Wintersemester 2020/21 exakt 20.359 Studiengänge in Deutschland, davon 9.168 Bachelor- und 9.577 Masterstudiengänge, 1.281 mit staatlichem und kirchlichem Abschluss sowie 333 Studiengänge, die keiner dieser Kategorien zugeordnet werden können. Vgl. HRK (Hg.): Statistische Daten zu Studienangeboten an Hochschulen in Deutschland. Studiengänge, Studierende, Absolventinnen und Absolventen. Wintersemester 2020/2021 (Statistiken zur Hochschulpolitik 1/2020), Berlin 2020, S. 8; online unter: https://bit.ly/3wGPvHg (zugegriffen am 24. 05. 2022).

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mittelbar klar, worin diese Grundangst im Kern besteht: Es geht um die Angst, dass die Welt aufhört zu singen. Meine These lautet, dass eine radikal verfügbar gemachte Welt überhaupt nicht attraktiv wäre. Wir können nämlich nur begehren, was halb verfügbar ist, was erreichbar ist, was mit uns in eine Wechselbeziehung tritt. Da, wo Welt radikal verfügbar und damit auch monströs unverfügbar wird, können wir keinerlei innere Beziehung aufstellen. – Natürlich lautet jetzt die Frage: Wie könnte es denn anders sein?

4

Resonanz als Lösung

Wie kann es denn anders sein? Was brauchen wir »dagegen«? Was wäre eigentlich das Gegenteil einer entfremdeten Weltbeziehung? Wenn man mit Rahel Jaeggi (geb. 1967) Entfremdung als »Beziehung der Beziehungslosigkeit«10 definiert, dann lautet die zentrale Frage: Was ist denn eine bezogene Beziehung? An diesem Punkt sehen Sie schon überdeutlich, warum es auch für Soziologen und Soziologinnen interessant ist, in die Theologie zu schauen. Man kann natürlich auch andere Zugänge suchen. Ich war Schüler von Axel Honneth (geb. 1949) und habe bei ihm promoviert. Honneth vertritt eine Theorie der Anerkennung. Und mir war bald klar: Er hat schon recht, dass Menschen eigentlich immer bei fast allem, was wir tun, nach Anerkennung streben. Wir wollen und müssen geliebt werden, in irgendeiner Form uns bejaht fühlen können – schon wieder eine theologische Wendung! Wir wollen und müssen uns wertgeschätzt fühlen und auch geachtet. Dabei dachte ich mir immer: Aber mache ich nicht manchmal auch Sachen oder erfahre Dinge, bei denen es nicht um Anerkennung geht? Manche Dinge kriege ich nicht unter in einer Anerkennungstheorie. Ich höre z. B. manchmal Musik, für die ich gar keine Anerkennung bekomme, die ich aber trotzdem liebe. Und wenn ich sage, ich muss mal wieder in den Wald – von wem will ich denn da Anerkennung? Also meine These gegenüber der Anerkennungstheorie lautete: Es gibt Erfahrungen und Momente, die sich anerkennungstheoretisch nicht fassen lassen, weil es da noch um etwas Anderes geht. Die Frage ist dann aber: Um was geht es denn? Sie ahnen es – meine Antwort lautet heute: Es geht um Resonanz.11

10 Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main, 2005, 20. 11 Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016.

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4.1

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Resonanz als urmenschliche Wechselbeziehung

Das urmenschliche Bedürfnis nach Resonanz können Sie schon bei Säuglingen beobachten. Das Erste, was Säuglinge und Kinder entwicklungspsychologisch gesehen suchen und brauchen, ist Resonanz. Wenn man mit Peter Sloterdijk (geb.1947) oder Thomas Macho (geb. 1952) spekuliert, dann leben wir sogar schon in Resonanzverhältnissen, bevor wir Säuglinge sind. Der Embryo erkennt die Stimme der Mutter und hört. Hören ist unsere Grundform. Der Embryo fühlt sich angerufen und willkommen geheißen in der Welt, so Sloterdijk. Das ist sozusagen die erste Geste. Aber man muss hier gar nicht philosophisch spekulieren, man kann es beobachten: Säuglinge suchen eine Beziehung. Sie stellen irgendwann fest, dass sie mit ihrer Stimme jemanden erreichen, also Wirkungen hervorrufen können. Erst in den Augen der Mutter oder des Vaters oder eines bestimmten Anderen gewinnen sie so etwas wie ein Selbstgefühl. Es ist diese Wechselbeziehung, die die Grundform des Menschseins eigentlich ausmacht. Ich nenne das Resonanz. Resonanz hat zwei kardinale Bewegungsmomente, die unsere Weltbeziehung von Beginn an prägen.

4.2

Der erste Bewegungsmoment: Affizierung

Das erste Moment ist dies: Etwas berührt mich oder meint mich oder adressiert mich. Dafür steht der Begriff Affizierung (lat. adficere, adfacere). Etwas erreicht mich, bewegt mich, berührt mich und berührt dann auch mein Innerstes. Man kann mit Latour sagen: Man fühlt sich angerufen. Etwas ruft nach mir – so kann man auch mit Sloterdijk formulieren. Ich gehe davon aus, dass dieses Gefühl des Angerufenseins eine menschliche Grunderfahrung ist. Deshalb bin ich auch ein großer Anhänger des Wortes »aufhören«. Aufhören heißt ja nicht nur stoppen, sondern auf-hören im Sinne von anrufbar werden. Etwas ruft mich. Das ist der erste Moment von Resonanz. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich diesen Gedanken zuerst gehört habe, selber erfunden habe ich es jedenfalls nicht. Wahrscheinlich werden sie mir gleich sagen, dass es sich auch hierbei um eine theologische Idee handelt. Es würde mich gar nicht wundern, wenn es so wäre. Wenn Sie also hier sitzen und denken »Oh Gott, was ist denn das für ein langweiliges Gelaber!«, dann sind sie in einem Zustand der Entfremdung. Sie haben eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Die Beziehung besteht darin, dass Sie aus irgendeinem Grund hier sitzen, aber es sagt Ihnen gar nichts. Wenn Sie aber während der Diskussion oder an irgendeinem Punkt das Erzählte plötzlich doch fesselt, entsteht Resonanz. Dann hat etwas ihre Aufmerksamkeit, Ihre Bewegung erfasst. Das muss nicht immer angenehm sein. Es kann sich durchaus auch

88

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Widerspruch einstellen, so dass man sagt: »Also, Moment! Das stimmt jetzt aber gar nicht!« – Auch dies wäre ein Moment der Affizierung.

4.3

Der zweite Bewegungsmoment: Selbstwirksamkeit

Resonanz ist dort, wo man dem, was affiziert, auch entgegengeht. Man kann dies übrigens auch im Klassenzimmer oder im Hörsaal beobachten: Ich schätze, viele von Ihnen kennen Lehrerfahrungen oder Lernerfahrungen. Wenn man in Hörsälen oder Klassenzimmern sitzt, dann hat man es meistens mit stumpfen, teilnahmslosen Blicken zu tun. Wenn aber etwas passiert, was plötzlich Resonanz stiftet, dann sehen Sie das: Dann ändert sich die Körperhaltung der Schüler und Schülerinnen. Man geht dem entgegen: Die Blicke ändern sich, Augen leuchten auf. Das geschieht auch, wenn man durch Musik berührt wird. Manchmal – z. B. wenn Sie deprimiert sind – stellen Sie aber auch fest: »Das ist meine Lieblingsmusik – sie ist wunderschön, aber sie erreicht mich nicht mehr.« Das liegt häufig daran, dass sie nicht mehr die Kraft haben, dem entgegen zu gehen, was sie hören und eigentlich bewundern. Hören im Sinne von Musikhören ist ein komplexer Vorgang, weil sie da die Töne nachhören (Retention) und die nächsten Töne erwarten (Protention). Erst dadurch wird das Musikhören zum ästhetischen Erleben. Und deshalb müssen Sie selbstwirksam sein. Etwas muss sich in Ihnen bewegen und dem, was Sie erreicht, entgegengehen. Resonanz ist ein feines Wechselspiel zwischen Zweien. Resonanz ist nicht etwas, was ich habe oder herstelle oder finden muss. Resonanz ist nur etwas, was sich ereignen kann zwischen mir und der Welt. Was »die Welt« konkret ist, das ist dabei egal: Es kann dieser Berg da draußen sein; diese Musik, die mich berührt; der Sternenhimmel über mir; die Bibel – oder auch das Kapital. Es geht darum, dass mich »etwas« berührt – es bewegt mich und ich mache etwas damit. Dadurch kommt es zu einer Veränderung, zu einer Transformation. Ich bleibe also nicht der, der ich bin. Latour sagt: In dem Moment, wo wir uns berühren und transformieren lassen, fühlen wir uns lebendig. Das leuchtet mir ein. Aber natürlich nicht so: Wenn mir ein Ziegel auf den Kopf fällt, bin ich auch berührt und transformiert – im schlimmsten Fall, weil ich eine Beule habe. In diesem Beispiel fehlt aber das Moment der Selbstwirksamkeit: Ich habe mich dem Ziegel nicht geöffnet und bin ihm auch nicht entgegengegangen. Ich habe demzufolge die Transformation im Zwischenraum nicht mitbewerkstelligt, sondern sie nur erlitten. Aber da, wo ich mich berühren lasse und diese Wechselwirkung zustande kommt, da bleibe ich nicht der, der ich vorher war.

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4.4

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Transformation und Transzendenz

Taylor erläutert sein Verständnis von Religion entlang zweier Ideen und ich glaube, beide Aspekte brauche ich auch für mein Resonanzkonzept. Das war mir anfangs nicht ganz klar. Die eine Idee betrifft die besagte Transformation: Es geht um die Hoffnung, dass man sich berühren und damit auch verwandeln lassen will. Die andere Idee besteht in der Annahme, dass mir da draußen etwas begegnet, was per se wichtig ist: Transzendenz, so nennen Sie das. Ich glaube, Transzendenz kann man vielleicht auch innerweltlich erfahren. Menschen machen solche Erfahrungen, z. B. mit Musik. Man kann sagen: »Da, in der Musik von Beethoven oder von Wagner oder von sonst jemandem – da ist etwas, das ist per se wichtig, ob ich es höre oder nicht!« Das gleiche gilt für einen Berg, einen Gletscher oder für andere Orte.

4.5

Unverfügbarkeit und Natalität

Unverfügbarkeit – übrigens ein von Rudolf Bultmann (1884–1976) geprägter Begriff,12 was ich allerdings nicht wusste, als ich auf diese Idee kam – ist ein zweiter, ebenso wichtiger Aspekt für das Verständnis von Resonanz. Ich habe dazu ein kleines Buch13 geschrieben, weil ich fand, dass damit der Punkt benannt ist, an dem eine Wendung gegen die Kapital-Akkumulationslogik vollzogen werden kann: Resonanz lässt sich nämlich nicht erzwingen. Einerseits kann ich das Eintreten von Resonanz nicht im Vorfeld bestimmen: Ich kann meinen Vortrag also nicht so anlegen, dass die Zuhörenden um 10.22 Uhr in Resonanz treten – das geht nicht, vielleicht tun sie es gar nicht. Je mehr ich mich anstrenge, umso unwahrscheinlicher wird es sogar. Andererseits kann auch kein anderer Mensch, der eine solche Tagung besucht, vorhersagen, wo genau sich Resonanz ereignen wird. Niemand weiß, wo das sein wird und noch viel weniger weiß man, was dann dabei herauskommt. Das finde ich spannend. Meiner Ansicht nach ist das auch der zentrale Punkt bei Hannah Arendt (1906–1975) in ihren Überlegungen zur Natalität: Das Neue entsteht, wenn Bewegung einsetzt, wenn wir zum Beispiel in eine Diskussion kommen – keiner weiß, was es für ein Gedanke sein wird, der sich dann vielleicht dabei 12 Vgl. Wilfried Härle: Rudolf Bultmanns Theologie der Unverfügbarkeit, in: Landmesser, Christof/Klein, Andreas (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1976) – Theologe der Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Philosophie, Neukirchen-Vluyn 2010, 69–86, wo erste Nachweise des Begriffs in Texten aus dem Jahr 1930 festgestellt werden; ferner Hans Vorster: Art. Unverfügbarkeit, in: HWPh (online), online unter: https://bit.ly/3lGpv9 L (zugegriffen am: 24. 05. 2022). 13 Rosa, Unverfügbarkeit, 2019 (s. Anm. 6).

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herauswindet; diesen Gedanken werde ich nicht bestimmen und Sie auch nicht, sondern er entwickelt sich. Deshalb ist Resonanz unverfügbar.

4.6

Burnout, Entfremdung und Sünde

Entfremdung bezeichnet das Gegenteil von Resonanz. Das habe ich schon dargelegt (s. o.). Burnout, unsere größte kulturelle Sorge, ist der Zustand, dass mich nichts mehr anruft, dass mich nichts mehr berühren kann. Ich war vorgestern in Lübeck auf dem Psychotherapeutentag,14 wo erneut darauf hingewiesen wurde, dass Depressions-, Burnout- oder Erschöpfungszustände zunehmen und dabei genau jene beiden Momente gesenkt werden, die für Resonanz wichtig sind: die Affizierbarkeit und die Selbstwirksamkeit. Wenn Sie völlig erschöpft sind, dann haben Sie das Gefühl, ihre Mitmenschen nicht mehr zu erreichen und für sie auch nicht mehr erreichbar zu sein; selbst im Gespräch mit nahen Personen oder gar eigenen Kindern kann der Eindruck entstehen, einander nichts mehr zu sagen zu haben. Man fühlt sich nicht mehr angerufen und erfährt sich auch nicht mehr als selbstwirksam. Deshalb glaube ich: Beim Burnout ist die Grundangst dieser Kultur unmittelbar berührt. Es geht um ein Verstummen der Welt, in der dann auch das lebendige Antworten unmöglich wird. Damit komme ich zur Theologie: Ich fand es sehr interessant zu sehen, dass das, was Entfremdung meint, eigentlich mit der Bedeutung des Sündenbegriffs übereinstimmt. Davor dachte ich – wie wohl viele Menschen –, dass Sünde ein blödes Konzept ist. Wieso sollte ich sündig sein? Der Sündenbegriff wird der Kirche immer wieder vorgeworfen. Wenn ich mit nichtchristlichen Menschen spreche, heißt es regelmäßig: »Ja, Sünde und Schuld und ›Fühl dich schlecht!‹ – dann hat der Pfarrer alle Gewalt.« Ich finde, solche Sichtweisen sind Quatsch. Der Sündenbegriff – soweit ich ihn verstehe – bezeichnet den Zustand, in dem ein Subjekt glaubt, keiner Antwort mehr zu bedürfen (superbia, lat.). Es geht also um den Verlust der Antwortfähigkeit und der Antwortwilligkeit. Es geht darum, nicht mehr berührbar zu sein oder sein zu wollen. Mit dieser Sichtweise bin ich durchaus bei dem, was Martin Luther (1483– 1546) als Sünde definiert hat: Er sprach von der in sich selbst verkrümmten Seele, die nicht mehr aufhören kann – so würde ich es formulieren, nachdem ich es in

14 Die 50. Lübecker Psychotherapietage fanden vom 3. bis 7. Oktober 2021 statt. Das sechzigseitige Programmheft findet sich online unter: https://bit.ly/3sUF3uw (zugegriffen am 24. 05. 2022).

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Luthers Römerbriefvorlesung auch nachgelesen habe.15 Meiner Ansicht nach definiert Luther hier etwas soziologisch Hochinteressantes: Die in sich gekrümmte Seele lässt sich nicht auf eine wirkliche Beziehung ein, weder zu den Dingen, die für Luther Dinge der Schöpfung sind, noch zu den anderen Menschen, auch nicht zu Gott. Eigentlich ist sie immer nur bei sich selber. Ich glaube, dass dieser theologische Gedanke die moderne Kultur herausfordert, die uns bis in die Lebensratgeber hinein immer wieder sagt: »Du musst kreativ sein!«, »Du musst achtsam sein«, »Du, du, du – du musst irgendetwas sein!« Dabei ist es doch so, dass du nicht glücklich sein wirst, wenn da draußen nichts ist, was dich anruft; wobei ich schon sagen würde, dass das, was uns anruft, nicht unbedingt Gott sein muss. Es kann auch die Natur sein, der Wald, die Berge, andere Menschen. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass es da draußen etwas gibt, was eine eigenständige Wertquelle ist. Wenn die Wertquelle nur das Subjekt ist, dann haben wir ein Problem.

5

Der Beitrag von Religion und Protestantismus

5.1

Zur Theorie der Resonanzachsen

Meiner Ansicht nach lassen sich Resonanzbeziehungen auf vier verschiedenen Resonanzachsen einzeichnen. Die horizontale Resonanzachse betrifft die Beziehungen zwischen Menschen – in Liebe, in Freundschaft, ich glaube auch in der Politik. Die diagonale Resonanzachse betrifft die Dinge: Menschen treten in Resonanz zu Blumen zum Beispiel, aber auch zu Möbeln, zu allem Möglichen, zu den Stoffen, mit denen wir arbeiten, egal womit wir arbeiten: Der Bäcker mit dem Teig oder der Friseur mit der Frisur oder die Gärtnerin mit den Pflanzen oder der Arzt mit den Organen oder die Wissenschaftlerin mit den Texten oder der Programmierer mit dem Code. Dazwischen entsteht eine Resonanzbeziehung: Hören und Antworten, Selbstwirksamkeit erfahren. Wenn ich zum Beispiel einen Text schreibe, sagt der Text immer etwas anderes, als ich eigentlich will – aber er ist auch nicht völlig unerreichbar. So kommt es zu einer Resonanzwirkung. Und am Ende, wenn ich den Text geschrieben habe, denke ich anders als am Anfang. Ich bin transformiert und der Text ist auch transformiert. Kurz und gut: Es gibt Resonanz zu Objekten, zu Dingen materieller und nichtmaterieller Art. Die vertikale Resonanzachse ist für gelingende Weltbeziehungen besonders wichtig. Es muss in meinen Augen im Leben und der Gesellschaft so etwas wie 15 Vgl. hierzu Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515–1516), in: WA 56, 3–154, 157–528; 57, 5–127, 131–232.

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einen vertikalen Resonanzsinn geben. Beim Versuch, diese vertikale Achse zu definieren, ist die Frage von Martin Buber (1878–1965) weiterführend: Was liegt am Grund meiner Existenz? Ist es die schweigende Welt, die indifferente oder gar die feindliche, die bedrohliche? Was verbindet mein Innerstes mit dem Äußersten? Was verbindet mein Innerstes mit dem »Umgreifenden«, um Karl Jaspers (1883–1969) zu zitieren? Man findet auch bei William James (1842–1910) oder bei Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) diese Idee, die ich eigentlich als die religiöse Grundfrage verstehe: Wie stehen wir zum Universum? So fragen sie alle – und gemeint ist bei Ihnen das Verhältnis zur der Welt im Sinne von »Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig!« Es geht ihnen um die Beziehung zwischen meinem Innersten und diesem Äußersten, das da ist. Die Idee der Religion besteht darin, dass es ein Antwortverhältnis gibt. Für mich heißt Religion: Von der Überzeugung und der Erfahrung zu leben, dass das Grundverhältnis nicht das schweigende oder feindliche Universum ist, sondern ein Antwortgeschehen. Darüber hinaus gibt es übrigens auch noch eine vierte Resonanzachse, welche die Beziehung des Menschen zu sich selbst betrifft – diese Achse habe ich in früheren Überlegungen nicht eigens bedacht.

5.2

Religion als Resonanzboden

Religion, wie ich sie nun dargestellt habe, ist eine Art Resonanzboden. Ich finde übrigens, dass Resonanzbeziehungen besonders in religiösen Formeln sehr deutlich hervortreten: »Gott hat mir den Atem des Lebens eingehaucht« (vgl. Gen 2,7) – Atem des Lebens einhauchen, das ist zweifellos eine Resonanzbeziehung. »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!« (Jes 43,1) Die Grundidee, beim Namen gerufen zu werden, weist auf eine Resonanzbeziehung am Grund meiner Existenz hin. Mein Innerstes und mein Äußerstes verbindet Resonanz. Auch das Beten ist natürlich eine Praxis, in dem diese Resonanzbeziehung spürbar werden kann oder soll. Vor einiger Zeit bin ich über die Frage gestolpert, ob ein betender Mensch nach innen oder nach außen gerichtet ist. Was macht man eigentlich, wenn man betet? Geht man nach innen oder nach außen? Und da sehen Sie sofort, dass die Antwort natürlich lautet: Es entsteht eine Achse; mein Innerstes will erreichbar sein, berührbar werden – es ist zu einem umgreifenden Äußersten hin ausgerichtet. Meiner Ansicht nach ist das übrigens auch der Grund, warum Astrologie immer noch relativ stark ist: So viele Zeitschriften drucken Horoskope ab, die eigentlich überhaupt keinen Sinn machen, aber diese Idee, dass das Umgreifende, die Sterne, die um uns herumlaufen, etwas mit unserem Innersten zu tun haben, ist so stark, dass sie gegen alle kognitiven Überzeugungen ankommt.

Stumme Welt und antwortfähiger Mensch

5.3

93

Gott als Resonanzbeziehung

Der theologische Gedanke der Perichorese (περιχώρησις, gr.) ist für mich faszinierend, weil damit die Idee ausgedrückt wird, dass Gott selber eigentlich eine Resonanzbeziehung ist. Mich fasziniert die Theologie auch insofern, weil sie die Dreifaltigkeit als eine Resonanzbeziehung begreift, als ein Aufeinanderbezogensein und ein In-der-Beziehung-Auseinander-Hervorgehen. An diesem Punkt wird es zudem auch richtig spannend: Kann man das Verhältnis von Gott und Mensch als Resonanzbeziehung, vielleicht sogar als symmetrische Resonanzbeziehung, denken? Ich meine, ja. Lautet die Antwort »ja«, würde das freilich bedeuten, dass Gott uns auch braucht. Ich weiß nicht, ob man das als Protestant so sagen darf, aber ich glaube doch, dass sich Gott von uns erreichen und transformieren lässt. Es gibt jedenfalls theologische Entwürfe, die eine solche Denkweise nahelegen.

5.4

Protestantismus als Resonanzkiller?

Die Reformation war zunächst einmal resonanzfeindlich. An diesem Punkt folge ich Max Weber. Die Reformation hat die Resonanzachsen geradezu gekillt: Man hat z. B. kein Heiliges Wasser mehr benutzt. Doch warum nehme ich als Katholik oder Katholikin Weihwasser? Die Idee dabei ist, dass da in dem Wasser etwas ist, das etwas mit meiner Seele macht – genauso ist es mit den Blumen oder einem Wegkreuz oder mit dem Weihrauch. Auch der Priester hat eine besondere Bedeutung. Er scheint Gott irgendwie näher zu sein. In dieser Vorstellung ist die Idee enthalten, dass es eine besondere Resonanz zwischen Priester und Gott gibt – aber auch zwischen mir und diesem Priester. Die Protestanten haben das abgeschafft. Darüber hinaus sind Protestanten und Protestinnen auch misstrauisch gegenüber allem, was Resonanz heißen kann. Da ist z. B. diese asketische Härte: »Du sollst deinem Körper nicht nachgeben, nicht resonant sein gegenüber Deinem Körper, nicht auf ihn hören!« »Ist er vielleicht müde oder hat Hunger? Dann musst du eiskalt darüber hinweggehen!« – Diese Interpretation Max Webers macht natürlich nicht den ganzen Protestantismus aus, aber doch einen großen Teil seiner Prämissen und Traditionen. Sogar die Nächstenliebe steht im Protestantismus stets unter Verdacht, doch nur eine andere Form der Superbia zu sein. Im Protestantismus wird Resonanz also zunächst geradezu als Schwäche ausgelegt – und Indifferenz als Stärke. Dadurch ist etwas sehr Interessantes geschehen: Resonanz ist irgendwie tiefer gelegt worden. Diese Entwicklung im Protestantismus erinnert an die Pubertät, in der junge Menschen erst einmal komplett unresonant werden: Von ihren Er-

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Hartmut Rosa

zeugern lassen sie sich gar nichts mehr sagen und von den Lehrern schon gar nicht. Sogar der Körper wird ihnen fremd und seltsam. Doch dadurch entwickelt man neue Formen von Resonanz. Ich denke, so etwas Ähnliches ist im Protestantismus passiert. Ein Subjekt muss schließlich erst geschlossen werden, damit es resonanzfähig und schwingfähig werden kann. Im Protestantismus entstand letztlich ein neues Interesse an Innerlichkeit – und eine neue Sensibilität für Kunst und für Natur, die auf einer anderen Ebene lag. Das zeigt sich z. B. bei Schleiermacher, wenn er Religion als Anschauung und Gefühl definiert. Sein Religionsverständnis basiert auf einer resonanten Wechselwirkung: Da ist Anschauung und Gefühl auf der Ebene des Subjekts und der affizierende Kosmos. So lässt sich sagen, dass der Protestantismus – obwohl er gewisse Resonanzen in der christlich-religiösen Praxis zunächst einmal gekillt hat – in seiner weiteren Entwicklung zur Stärkung von Resonanzbeziehungen beigetragen hat. Die Frage, die sich uns als Gesellschaft heute stellt – in politischer, ökologischer und auch in religiöser Hinsicht –, lautet: Wie werden wir wieder anrufbar? Wie können wir wieder »aufhören«? Dafür brauchen wir vielleicht eine zweite und radikale Reformation. Ich hoffe, dass sie hier von diesem Boden ausgehen kann. Vielen, vielen Dank für Ihr geduldiges Zuhören.

Isolde Karle

Wozu Theologie? Herausforderungen und Perspektiven

Abstract Why theology? The paper explores this fundamental question in eight steps. Firstly, the interests of both the state and the church in a university education of theologians are reflected upon. Subsequently, the question arises why teachers of religion and professionally educated chaplains are needed at all in modern society. The reference to nonChristian religions can sharpen the view for this question anew. Then it is asked what function religion has in modern society. In this context, the author examines the particular challenges posed by the Corona pandemic in the recent past. In doing so, she shows that religion refers to the unsolvable questions. Theology, therefore, has to face (in systematic theology) on the one hand the crisis of God in modern society and to reflect (in practical theology) on the other hand a humane approach of dying and death. In the end, the author comes back to the role of faith for scientific-theological truth finding. Faith strives to understand itself. That is what theology is for.

1

Theologische Selbstreflexion

Jubiläen sind eine Chance, über die eigene Identität nachzudenken. Die Wiener Evangelisch-Theologische Fakultät nutzte diese Chance anlässlich ihres 200jährigen Bestehens und bat mich, bei ihrem Festakt über die grundsätzliche Frage »Wozu Theologie?« nachzudenken. Ob man bei einem Jubiläum der medizinischen Fakultät »Wozu Medizin?« fragen würde? Vermutlich eher nicht. Der Nutzen der Medizin versteht sich von selbst. Die Medizin brauchen wir und zwar nicht nur auf einem guten handwerklichen Niveau, sondern auch als Wissenschaft, die sich ständig weiterentwickelt und zu immer neuen Forschungsergebnissen und damit zu immer besseren Therapiemöglichkeiten kommt. Die Corona-Pandemie wäre ohne die wissenschaftliche Entwicklung einer neuen Art von Impfstoff und ohne das Know-How von Virologinnen und Virologen, die den Pandemie-Verlauf prognostizierten und hilfreiche Schutzmaßnahmen vorschlugen, sehr viel schlechter verlaufen. Medizin, Pharmakologie, Virologie und

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Isolde Karle

Epidemiologie sind ohne Zweifel von größtem Wert für die Gesellschaft. Ist das mit der Theologie ebenso? Die Theologie an der Universität versteht sich nicht mehr von selbst. Nicht wenige fordern, alles, was mit Religion zu tun hat, in einem religionswissenschaftlichen Department unterzubringen. Bekenntnisgebundene Theologie – das scheint ein alter Zopf zu sein. Deshalb ist es wichtig, ein Jubiläum zu nutzen, um über den Sinn der Theologie im Konzert der modernen Wissenschaften nachzudenken. Wozu Theologie? Ich möchte im Folgenden in acht Punkten unterschiedlichen Perspektiven zu dieser Frage nachgehen.1 Zunächst geht es um die Interessen des Staates einerseits sowie der Kirche andererseits an einer universitären Ausbildung von Theologinnen und Theologen. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, wozu es Religionslehrer*innen und professionell gebildeter Geistlicher in der modernen Gesellschaft überhaupt bedarf – gerade das Beispiel nicht-christlicher Religionen vermag den Blick dafür neu zu schärfen. Sodann frage ich aus der Perspektive der Gesellschaft, welche Funktion Religion für die moderne Gesellschaft übernimmt und inwiefern Kirche und Theologie dem gerecht werden oder auch nicht. Dabei gehe ich den besonderen Herausforderungen nach, die sich in jüngster Zeit durch die Corona-Pandemie stellen. Gegen Ende nehme ich die Ausgangsfrage nach einer bekenntnisgebundenen Theologie noch einmal auf und schließe mit Überlegungen zum Zusammenhang von Glauben und wissenschaftlicher Wahrheit.

2

Die Theologie als Professionsstudiengang

Die naheliegendste und ganz pragmatische Antwort auf die Frage »Wozu Theologie?« heißt: Wir brauchen eine wissenschaftliche Theologie, damit Pfarrer*innen und Religionslehrer*innen auf möglichst hohem wissenschaftlichem Niveau ausgebildet werden. Das ist keinesfalls eine Trivialität und zeigt schon einen zentralen Unterschied zur Religionswissenschaft an: Die Theologie kreist nicht nur um die Frage, wie der historische Kontext Heiliger Schriften sich darstellt oder wie sich Judentum und Christentum entwickelten, sondern ist auf ein konkretes Ziel hin orientiert: Sie ist eine professional school oder mit den Worten Friedrich Schleiermachers: Sie ist eine positive Wissenschaft, die auf eine vorgängige berufliche Praxis bezogen ist und ohne diese Praxis nicht in dieser

1 Bewusst klammere ich die Frage nach dem Nutzen, den die Theologie für die interdisziplinäre Forschung hat, aus, weil dieser Frage Friedrich Wilhelm Graf bei seinem Festvortrag nachgehen wird.

Wozu Theologie? Herausforderungen und Perspektiven

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Form existieren würde.2 Sie hat die Aufgabe, die Praxis der Kirche in der modernen Gesellschaft zu reflektieren und in ihrer Komplexität zu beschreiben, um verantwortungsbewusste und professionelle Praktiker*innen auszubilden. Ihre eigenwillige Zusammensetzung aus historischen, systematisch-theologischen und praktisch-theologischen Disziplinen verdankt die Theologie diesem Bezug zur Kirche, auch wenn einige Vertreter*innen der theologischen Zunft dazu tendieren, diesen Bezug zu marginalisieren. In der Gegenwart wird der Radius durch Studiengänge jenseits der Kirche erweitert, das ist wichtig und horizonterweiternd. Doch bleibt es eine zentrale Aufgabe für die Theologie, dass sie für die Professionen der Religionslehre und des Pfarrdienstes ausbildet. Ohne diesen Bezug verlöre sie ihre grundlegende Legitimität. Damit hat die Theologie zugleich eine große Verantwortung – sie muss den Herausforderungen, die sich den Praktikerinnen und Praktikern in der Gegenwart stellen, gerecht werden. Und diese Herausforderungen sind immens. Ich komme darauf zurück. Zunächst zum Interesse des Staates an theologischen Fakultäten:

3

Die Disziplinierung und Modernisierung der Religion durch die Universität

In Deutschland haben wir – wie in Österreich – eine Verfassung, die keine strikte Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion vorsieht, sondern den Religionen wohlwollend neutral gegenübertritt.3 Die Verfassung zeigt durch eine reflektierte und differenzierte Trennung und gleichzeitige Bezugnahme von Staat und Kirche bzw. Religion, »dass sie für religiöse Fragestellungen und für die Anliegen der Religionen offen ist.«4 Sie begreift Religion als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation und nicht als ein Jenseits von ihr. Denn in der Religion geht es nicht nur um private, sondern um grundsätzliche Fragen, die die Gesellschaft berühren. Religion repräsentiert das Unbestimmbare, sie erinnert in einer Welt des Wissens an das Nichtwissbare und Nichtberechenbare. Sie geht grundlegenden Fragen menschlicher Existenz nach und vermag durch ihre reiche Tradition zu

2 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811), in: Universitätsschriften. Heraklitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, bearb. von Dirk Schmid, kritische Gesamtausgabe I/6, Berlin/New York 1998, 243–315; sowie Isolde Karle: Praktische Theologie (Lehrwerk Evangelische Theologie 7), 2. aktual. Aufl., Leipzig 2021, 5–13. 3 Jacob Joussen: Theologie in der Universität der Rechtswissenschaften, in: Stefan Nacke u. a. (Hg.): Die Gottesfrage in der Universität. Debatten über Religion und Wissenschaft, Freiburg im Breisgau 2021, (25–37) 27. 4 Jacob Joussen: Theologie in der Universität der Rechtswissenschaften (s. Anm. 3), 28.

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Isolde Karle

orientieren und von gegenwärtigen Denk- und Verhaltenszumutungen heilsam zu distanzieren. Deshalb wird Religion nicht aus dem öffentlichen Raum verdrängt, deshalb ist der Religionsunterricht Pflichtfach an der Schule und deshalb hat der Staat auch ein Interesse daran, dass Lehrer*innen für die Schulbildung auf höchstem Niveau ausgebildet werden – und das heißt an staatlichen Universitäten, an denen sich die Theologien der Konkurrenz der benachbarten Disziplinen stellen und wissenschaftlich mithalten können müssen. Denn »wenn die Gottesfrage in den Strukturen theologischer Fakultäten […] einen Raum an den staatlichen Bildungseinrichtungen hat, [ist] viel eher sichergestellt […], dass die Religionen im allgemeinen Wissenschaftsdiskurs gehalten werden«5, als wenn sie sich absondern würden. Die christlichen Theologien haben in den letzten 250 Jahren dementsprechend einen Prozess der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung durchlaufen. Das hat die Religion, die sie vertreten und zugleich reflektieren, diszipliniert und modernisiert. Die Theologien mussten – und müssen es heute mehr als je – ihren eigenen Kosmos theologischer Selbstverständlichkeit verlassen und in die multidisziplinäre säkulare Welt hinaustreten und sich dort in der trans- und interdisziplinären Forschung behaupten. Schon Friedrich Schleiermacher hat die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Denkens in der Theologie zu seiner Zeit klar erkannt und fragt provokativ: »Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?«6 Nein, so soll der Knoten der Geschichte nicht auseinandergehen. Deshalb verteidigt Schleiermacher mit Verve ein Theologieprogramm an der Universität, das höchste Wissenschaftlichkeit mit einem Bezug auf die kirchliche Praxis verbindet. Die Theologie ist Theorie der Praxis, verbleibt als solche aber nicht in der Deskription, sondern hat zugleich die Aufgabe, für diese Praxis zu orientieren und damit zu einer Urteilsfähigkeit anzuleiten, die gute von schlechter Praxis zu unterscheiden weiß. Das ist der Sinn insbesondere der Praktischen Theologie, die ich akademisch vertrete. In der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geht es nicht mehr nur um eine theologische Reflexion kirchlicher, sondern auch um eine Reflexion religiöser Praxis, die nicht-kirchliche und nicht-christliche religiöse Formen mit einbezieht. Heute ist das als Interkulturelle und Interreligiöse Theologie an den theologischen Fakultäten als Subdisziplin fest verankert. 5 Jacob Joussen: Theologie in der Universität der Rechtswissenschaften (s. Anm. 3), 32. 6 Friedrich Schleiermacher: Über die Glaubenslehre. Zwei Sendeschreiben an Lücke (1829), in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften (kritische Gesamtausgabe I/10), hg. von Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/ New York 1990, (307–394) 347.

Wozu Theologie? Herausforderungen und Perspektiven

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Diese neuen Diskurse sind elementar und gehen über den innerchristlichen ökumenischen Diskurs weit hinaus. Damit komme ich auf die religiöse Pluralisierung der Theologien zu sprechen, die uns zugleich hilft, noch einmal einen Blick auf die Notwendigkeit von Theologie und die Funktion von Religion in der modernen Gesellschaft, die sie reflektiert, zu werfen:

4

Wozu Pfarrer*innen und Religionslehrer*innen?

4.1

Religiöse Bildung

Helga Kuhlmann formuliert: »[D]er gesellschaftliche Bedarf an aufklärender Hermeneutik und eines demokratiekompatiblen Umgangs mit Menschen, die […] etwas Heiliges oder eine Gottheit verehren, wächst. Jeder möglicherweise religiös motivierte Terrorakt, jede Polizeibewachung jüdischer Schulen und Synagogen, jeder kippa- oder kopftuchtragende Mensch, jedes Läuten von Kirchenglocken, jeder Friedhof, jedes Weihnachtsfest […] erinnern daran, dass entgegen aufklärerischer Religionskritik […] ›religion still matters‹.«7 Religion ist in unserer Welt von hoher Bedeutung, auch wenn sich ihre Formen ändern und die Kirchen Mitglieder verlieren. Zugleich geht der Kenntnisstand und die religiöse Bindung in den Familien zurück, sodass viele Kinder und Jugendliche der Religion vor allem in öffentlichen Bildungsinstitutionen begegnen. Schulische Bildungsangebote sind elementar, um dem Verlust religiöser Bildung entgegenzuwirken und zu einer differenzierten Identitätsbildung beizutragen. Auch für Menschen, die selbst nicht gläubig sind, stellt es eine Horizonterweiterung dar, religiöse Denk- und Sprachmuster kennenzulernen. Dazu bedarf es des Bezugs auf religiöse Tradition. Nur mit Hilfe von Tradition können wir uns vom »Absolutismus der Gegenwart«8 distanzieren und das Gewohnte neu interpretieren. Die Hochreligionen haben Erfahrungen über viele Jahrhunderte hinweg in Symbolen, Riten und heiligen Schriften gesammelt, verdichtet und reflektiert. Jan Assmann nennt das das kulturelle Gedächtnis einer Religion bzw. Gesellschaft. Diese Texte und Riten haben sich in vielen unterschiedlichen Situationen bewährt und werden zugleich immer wieder neu interpretiert, kritisiert und transformiert.9 Die Spannung von Treue zur Tradition und Transformation 7 Helga Kuhlmann: Erledigt? Noch oder wieder offen? Eine evangelisch-theologische Perspektive auf die Gottesfrage in der Universität, in: Stefan Nackel u. a. (Hg.): Die Gottesfrage in der Universität, Freiburg im Breisgau 2021, (49–59) 52. 8 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 82018, 86. 9 Zum theoretischen Fundament des kulturellen Gedächtnisses vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (s. Anm. 8), 29–160.

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ist nicht zuletzt für das Christentum kennzeichnend, das mit der wissenschaftlichen Theologie eine elaborierte Reflexionskultur entwickelt hat, die sich an genau dieser Spannung abarbeitet. Es ist Aufgabe des Religionsunterrichts, in die »Wissensformen der Religion selbst«10 einzuführen, damit Menschen kundig werden in ihrer eigenen Religion. Religion ist eine Weise, sich zur Welt und zu sich selbst zu verhalten und sich einen Reim auf eine vieldeutige Wirklichkeit zu machen. Religiöse Formen und Praktiken bringen Empfindungen und Erfahrungen dabei nicht nur zum Ausdruck, sondern benennen etwas, was sonst nicht oder doch nur schwer benennbar ist. »Analog zum Spracherwerb und zur Denkfähigkeit läßt sich […] sagen, daß nicht religiösen Gefühlen und Einsichten sekundär ihre Artikulationsformen zuwachsen, sondern umgekehrt«11: Erst durch das Vertrautwerden mit religiösen Sprachformen entwickelt sich ein religiöses Sensorium, das die Voraussetzung dafür ist, eine Erfahrung überhaupt als religiöse zu deuten. Religiöse Rituale und Worte bilden Erfahrungen insofern nicht einfach ab, sondern generieren sie überhaupt erst bzw. disponieren für sie: »Je reichhaltiger unser expressives […] System ist, desto subtiler, unterschiedlicher und differenzierter«12 die religiöse Identität.

4.2

Seelsorge

Damit bin ich bei den Pfarrer*innen, die noch direkter als die Religionslehrer*innen in religiöse Sprachformen einüben, sie auf der Kanzel und im Konfirmandenunterricht mit Blick auf die konkreten Herausforderungen des Lebens reflektieren und mit anderen zusammen pflegen. Der Pfarrberuf ist eine Profession, die eine zentrale Wissenstradition vermittelt, die nicht nur kulturelle, sondern auch existentielle Bedeutung für viele hat. Professionen sind »typischerweise befaßt mit der Bewältigung kritischer Schwellen und Gefährdungen menschlicher Lebensführung«.13 Die Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung,

10 Dietrich Benner: Bildung in Religionen. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren, in: Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 18), Paderborn 2014, 64. 11 Bernhard Dressler: Wie bilden sich heute religiöse Identitäten?, in: Pastoraltheologie 1998/87, (236–252) 251. 12 George A. Lindbeck: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, Gütersloh 1994, 62. 13 Rudolf Stichweh: Professionen und Disziplinen. Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften, in: ders., Wissenschaft – Universität – Professionen, Frankfurt am Main 1994, 296; vgl. auch Karle: Praktische Theologie (s. Anm. 2) 141–148.

Wozu Theologie? Herausforderungen und Perspektiven

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Bestattung) repräsentieren als »rites des passages«14 per se solche kritischen Schwellen, bei denen die Betroffenen in einer für sie heiklen Situation auf die umsichtige und kompetente Begleitung der Pfarrerin oder des Pfarrers angewiesen sind. Ganz besonders markant ist dies bei der Bestattung und beim Umgang mit Tod und Sterben der Fall. Dies gilt nicht nur für evangelische Pfarrer*innen oder katholische Priester, sondern auch für Rabbinen und muslimische Geistliche. Ich nenne hier bewusst Judentum und Islam, weil die Plausibilität der universitären Ausbildung nicht zuletzt dadurch wieder erhöht wurde, dass der Staat – und die Gesellschaft – zunehmend erkennen, dass es auch bei den kleineren Religionsgruppen professionalisierter und damit akademisch gebildeter Geistlicher bedarf. Besonders deutlich sichtbar wird dies in der Spezialseelsorge wie in der Gefängnis- und der Militärseelsorge. So gibt es in Deutschland – und auch in Österreich – gegenwärtig vielfältige Bemühungen, die muslimische Gefängnisseelsorge zu professionalisieren. Ziel ist, dass muslimische Seelsorger auf Augenhöhe mit christlichen Seelsorger*innen arbeiten. Das Institut für Islamische Theologie in Osnabrück greift deshalb auf Ausbildungsstandards der christlichen Praktischen Theologie zurück.15 Auch an der Universität Tübingen ist es möglich, am Zentrum für Islamische Theologie Praktische Theologie für Seelsorge zu studieren.16 Eine Seelsorge für muslimische Gefangene soll Straftäter nicht nur begleiten, sie senkt zugleich das Risiko, dass sie weitere Taten begehen. Das Institut für Kriminologie der Universität Tübingen fordert in einer aktuellen Studie deshalb einen Ausbau der islamischen Gefängnisseelsorge, insbesondere bei muslimischen Jugendstrafgefangenen.17 Die Studie stellt fest, dass Seelsorge eine zentrale Rolle bei der Resozialisierung 14 Vgl. Arnold Van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, 3. erw. Aufl., Frankfurt am Main u. a. 2005. 15 In Osnabrück ist auch das Islamkolleg angesiedelt, das 2019 gegründet wurde und explizit mit christlichen und jüdischen Ausbildungseinrichtungen für Geistliche zusammenarbeitet. Es bietet u. a. eine wissenschaftlich fundierte Seelsorgeausbildung für Muslim*innen in Anlehnung an die Standards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie an. Vgl. den Internetauftritt unter: https://www.islamkolleg.de/das-islamkolleg/ [27. 02. 2023]. 16 Dort gibt es derzeit auch eine interreligiöse BMBF-Nachwuchsforschergruppe zum Thema »Religion und Rationalität – Glauben und Vernunft im Leben und Denken von Muslimen, Christen und Juden im Kontext pluraler Gesellschaften«. Zur islamischen Seelsorge im Allgemeinen vgl. Cemil Sahinöz: Seelsorge im Islam. Theorie und Praxis in Deutschland, Wiesbaden 2018. 17 Die Arbeitsgruppe »Muslime im Jugendstrafvollzug – Chancen und Risiken für eine gelingende Integration« wurde von 2018 bis 2021 vom BMBF gefördert. Zu einigen Ergebnissen vgl. Paulina Lutz et al.: Islamische Seelsorge im Jugendstrafvollzug, in: Kriminologie – Das Online Journal 2021/3, 228–248, verfügbar unter: https://doi.org/10.18716/ojs/krimoj/2021.3.3 [abgerufen am 14. 10. 2021].

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und Prävention spielt und das Bedürfnis nach Religion hoch ist: Etwa vier Fünftel sowohl der muslimischen als auch der christlichen Jugendstrafgefangenen schätzen sich selbst als religiös ein. Religion vermittelt den Jugendlichen Orientierung und ein Zugehörigkeitsgefühl. Ein Sprecher der Studie kommentiert: »Hinzu kommt, dass sich viele Jugendliche Seelsorgern gegenüber unbefangener äußern, weil sie sich weniger bewertet fühlen als im Gespräch mit Sozialarbeitern oder Psychologen«.18 Auch in Österreich wird das islamische Seelsorgeangebot ausgebaut, weil der Bedarf wie in Deutschland steigt, allerdings ist die islamische Seelsorge in Österreich noch weitgehend ehrenamtlich strukturiert.19 Noch ein zweites Beispiel: Nach etwa 100 Jahren wurde in der Bundesrepublik unter großer politischer und medialer Beachtung wieder eine jüdische Militärseelsorge gegründet und ein Militärbundesrabbiner in sein neues Amt eingeführt. Zuvor war ein entsprechender Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden in Deutschland ausgehandelt worden. Der Militärbundesrabbiner hat es sich zum Ziel gesetzt, Antisemitismus entgegenzuwirken und jüdische Soldat*innen zu ermutigen, ihre Religion nicht zu verschweigen, sondern selbstverständlich zu praktizieren. Darüber hinaus geht es ihm darum, im lebenskundlichen Unterricht über das jüdische Leben zu informieren. Insgesamt ist die jüdische Militärseelsorge ein wichtiger Schritt hin zur Normalität jüdischen Lebens in Deutschland. Die Existenz der jüdischen Militärseelsorge führt zugleich zu einer interreligiösen Gemeinschaft, die in Deutschland immer noch recht neu ist. So gab es bereits kurz nach der Einführung des Militärbundesrabbiners zum ersten Mal einen interreligiösen Feldgottesdienst zu einem feierlichen Gelöbnis in Koblenz mit ev. und kath. Geistlichen und dem Bundesrabbiner, der mit seinen Psalmengesängen die anwesende Gemeinde berührte.20 Die beiden Beispiele zeigen, dass der Staat erkennt, dass nicht nur der Religionsunterricht, sondern auch die Seelsorge elementar ist für das gesellschaftliche Zusammenleben. Dementsprechend fördert der Staat nicht nur die Ausbildung von Priestern und Pfarrer*innen, sondern auch von Rabbiner*innen und 18 Wolfgang Stelly, zit. n. Anja Karbe, Muslime im Jugendstrafvollzug: Wissenschaftler fordern Ausbau der islamischen Gefängnisseelsorge. Forschungsergebnisse (Pressemitteilung der Eberhard Karls Universität Tübingen), 15. 09. 2021, unter: https://nachrichten.idw-online.de /2021/09/15/muslime-im-jugendstrafvollzug-wissenschaftler-fordern-ausbau-der-islamisch en-gefaengnisseelsorge (Abrufdatum: 14. 10. 2021). Vgl. auch Wolfgang Stelly u. a.: Glaube und religiöse Praxis von (muslimischen) Jugendstrafgefangenen, in: Forum Strafvollzug 3 (2021), 200–206. 19 Vgl. Ednan Aslan u. a.: Islamische Seelsorge. Eine empirische Studie am Beispiel von Österreich, Wiesbaden 2015. 20 Vgl. Thomas Balzk: Historischer Gelöbnis Gottesdienst 2021, verfügbar unter: https://www.b undeswehr.de/de/betreuung-fuersorge/militaerseelsorge/evangelische-militaerseelsorge/hist orischer-geloebnis-gottesdienst-5216250 [abgerufen am 14. 10. 2021].

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Imamen an staatlichen Hochschulen, auch wenn mit Blick auf die muslimische Community dabei noch etliche Hürden zu nehmen sind.

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Die Pflege des kulturellen Gedächtnisses

Religion hält innerhalb einer Kultur des Heute das Gestern gegenwärtig und zwar schlicht durch ihren Vollzug – durch die Feier von Gottesdiensten, durch das Läuten der Glocken, durch die Präsenz von Kirchengebäuden, durch die Feste im Kirchenjahr, durch Rituale und Segenshandlungen. Es geht beim Vollzug von Religion immer auch um den Aufbau eines Ethos, um die Möglichkeit, Erfahrungen der Trauer und des Glücks einen Resonanzraum zu geben, den Tod und die Geschöpflichkeit des Menschen zu reflektieren und auf die Grenzen des Mach- und Verfügbaren hinzuweisen. Religiöse Sprache hat einen Bedeutungsüberschuss und hilft, wichtige anthropologische Einsichten zu erschließen, die sich anders nicht formulieren lassen: »Der jüdisch-christliche Welt- und Menschenzugang ist deshalb auch für den Nichtgläubigen oder den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften ein wertvoller, womöglich unentbehrlicher Rationalitätsspeicher, in dem eine eigene Variante von Vernunft gepflegt wird.«21 Für das christliche kulturelle Gedächtnis sind die biblischen Überlieferungen und Erzählungen zentral. So manch biblische Erzählung wie der barmherzige Samariter hat sich tief in unsere Kultur eingeschrieben. Das helfende Engagement in Diakonie und Caritas (und weit darüber hinaus) lebt grundlegend von diesem Narrativ. Die Solidarität mit den Schwächeren und die explizite Rücksichtnahme auf Menschen in Not versteht sich nicht von selbst. Deshalb muss das Ethos der Rücksichtnahme und des Einstehens füreinander gepflegt werden – dazu bedarf es fundierender Erzählungen und tief verankerter Überzeugungen. Moralische Appelle reichen hier nicht aus. Dass die Kirche Gottesdienste feiert, dass sie im Religionsunterricht in das kulturelle Gedächtnis des Glaubens einführt, dass sie ethische Orientierung leistet und Menschen an den Schwellen ihres Lebens seelsorglich begleitet, dass sie denen hilft, denen sonst niemand mehr hilft – all dies ist von signifikanter Bedeutung für Individuen sowie für die Kultur insgesamt. Dazu tragen nicht nur die Professionen, sondern auch die Gemeinden bei, die als »intermediäre Institutionen«22 vor Ort zwischen Individuum und Gesamtgesellschaft vermitteln. Menschen brauchen die Vertrautheit von Orten und Gesichtern. Im über21 Udo Di Fabio: Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Freiburg im Breisgau 2012, 5; vgl. dazu auch Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001. 22 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995, 59.

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schaubaren Sozialgebilde der Gemeinde ist vielfach beides erfahrbar. Viele Gespräche und Begegnungen ergeben sich zufällig und niedrigschwellig. Nachdem insbesondere aus den Dörfern Institutionen wie die Schule oder das Gasthaus verschwunden sind, repräsentieren die Kirchen vor Ort »noch die elementare Bedürftigkeit des Menschen nach sozialem Eingebettetsein«.23

6

Die Gotteskrise in der Pandemie

Die Kirchen reagierten in der Corona-Pandemie bemerkenswert unsicher, bisweilen sogar theologisch sprachlos. Um nicht missverstanden zu werden: Sie waren teilweise äußerst aktiv auf Gemeindeebene und versuchten mit viel Phantasie der Vereinsamung insbesondere alter Menschen entgegenzuwirken. Viele halfen diakonisch, wo sie nur konnten. Doch vermittelten die Kirchen in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass ein religionsspezifischer Beitrag zur Coronakrise von ihnen erwartet werden könnte. So beobachteten nicht wenige Wissenschaftler*innen und Journalist*innen mit Verwunderung, dass die Kirchen ein Problem damit haben, sich religiös zur Pandemie ins Verhältnis zu setzen. Eine Deutung der Pandemie als Strafe Gottes wie ehedem hat jede Plausibilität eingebüßt, doch seien, so der Soziologe Rudolf Stichweh in einem FAZ Beitrag schon im April 2020, »dem Anschein nach keine religiösen Deutungsvarianten des durch das Virus ausgelösten Krisengeschehens verfügbar«.24 Auch Peter Sloterdijk beobachtet, dass nicht die Kirchen, sondern Gesundheitsminister und Virologen die Lage interpretieren.25 Zugleich sieht Sloterdijk in der »skandalösen Nutzlosigkeit«26 der Religion eine Chance: Er betrachtet sie als ein Zeichen für die Freiheit der Religion. Religion wird endlich nicht mehr für fremde Zwecke instrumentalisiert, sondern kann sich auf das konzentrieren, wofür sie eigentlich da ist – für die unlösbaren Fragen, die man nicht wegbearbeiten oder wegentscheiden kann. Auch die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr attestiert den Kirchen eine »spirituelle Hilflosigkeit«: »Man hat […] ein Feld preisgegeben in der öffentlichen Diskussion, wo man hätte eine Sprache formulieren können, die den Menschen hilft, mit der Krise fertig zu werden«27 – mit der Krise und auch mit der 23 Rolf Schieder: Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008, 185. 24 Rudolf Stichweh: Simplifikation des Sozialen. Die Corona-Pandemie und die Funktionssysteme der Weltgesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 07. 04. 2020, 9. 25 Vgl. Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Frankfurt am Main 2020, 263. 26 Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen (s. Anm. 25), 268. 27 Michael Hollenbach: Totengedenken in der Pandemie. »Trauer ist systemrelevant«. 2021, verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/totengedenken-in-der-pandemie-trauer-i st-systemrelevant.886.de.html?dram:article_id=491997 [abgerufen am 14. 10. 2021].

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Trauer, der Wut, der Enttäuschung und Verletzung. Dabei hat das Christentum eine Tradition, die genau solchen Erfahrungen Ausdruck zu geben in der Lage ist, die Unsicherheit und Zweifel reflektiert und thematisiert. Mitscherlich-Schönherr denkt, dass die Kirche durch dieses Erbe der säkularen Gesellschaft etwas zu bieten hat – so sollte die Kirche zur Nachdenklichkeit ermutigen und das Leiden der Menschen ins Bewusstsein heben. Die Coronakrise stellt die Frage nach Gott. Zugleich kann man fragen, ob die Theodizee inzwischen durch die Soziodizee28 abgelöst wird. Es stellt sich nicht mehr so sehr die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, sondern nach der Gerechtigkeit der Gesellschaft. Wir wissen, dass die Pandemie nicht einfach als Gottesschicksal über uns hereingebrochen ist, sondern sich aus einem Zusammenspiel von natürlichen, menschlichen und sozialen Faktoren erklärt. Deshalb wird heute eher die Gesellschaft als Gott angeklagt. Doch wie ist es nun mit Gott? Hat Gott etwas mit der Pandemie zu tun? Und wenn ja, was? Dass Gott als unmittelbarer Verursacher zu denken ist, wird schon seit dem verheerenden Erdbeben 1755 in Lissabon infrage gestellt. Aber heißt das, dass Gott nichts mit der Pandemie zu tun hat? Die Pandemie weist auf einen wunden Punkt moderner Theologie hin. Wir tun uns immer noch schwer mit Blick auf den Gottesgedanken nach der Aufklärung, obwohl wir uns am Gottesbild schon seit über 250 Jahren abarbeiten. Letztlich steckt hinter der Sprachlosigkeit der Kirche eine Gotteskrise, so meine These. Michael Welker betont in einem Beitrag zur Corona-Pandemie, dass wir endlich theologisch redlich werden und unglaubwürdige Vorstellungen von Gottes Allmacht klar und deutlich kritisieren müssten. Ein primitiver Theismus, der von Gottes Allwirksamkeit ausgeht, sei wie »religiöses Gift angesichts grauenhafter Entwicklungen«29. So sollten wir uns von der Vorstellung, dass Gott in die Schöpfung eingreift, endgültig verabschieden. »Gott hat Respekt vor der geschöpflichen Selbständigkeit«30. Und: »Gott ist nicht ein kosmologischer Uhrmacher. Gott respektiert die menschliche Freiheit zum Guten und zum Bösen; und Gott respektiert auch […] Eigenkräfte der Evolution.«31 Gott ist mithin nicht derjenige, der die Schöpfung im Einzelnen steuert und überwacht. Gott hat der Schöpfung eine große Eigenmacht eingeräumt und greift nicht »als eine himmlische Feuerwehr beständig dann ein […], wenn es brennt und wenn Elend sich ausbreitet«32.

28 Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021, 30–60. 29 Michael Welker: Trostbedürftig und hassgefährdet. Religiosität in Zeiten globaler Krisen, in: Evangelische Theologie 81 (2021), (152–160) 154. 30 Welker: Trostbedürftig und hassgefährdet (s. Anm. 30), 155. 31 Welker: Trostbedürftig und hassgefährdet (s. Anm. 30), 155. 32 Welker: Trostbedürftig und hassgefährdet (s. Anm. 30), 155.

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Diese Überlegungen sind nicht wirklich neu. Friedrich Schleiermacher hat sie schon vor über 200 Jahren in ähnlicher Weise formuliert. Doch bis heute werden sie kaum so deutlich ausgesprochen. Im Anschluss an Welkers Überlegungen stellt sich die Frage, wie Gottes Präsenz denn zu denken ist, wenn er nicht als Weltenrichter in den Gang der Geschichte oder in die Schöpfung eingreift. Ist er dann nur ohnmächtiger Zuschauer? Dietrich Bonhoeffer hat uns gelehrt, von der Ohnmacht wie von der Macht Gottes zu sprechen. Bonhoeffers ohnmächtiger Gott schaut nicht aus sicherer Distanz auf die Weltereignisse, sondern ist unmittelbar involviert in seine Schöpfung, Gott leidet mit und zeigt sich verletzlich. Zugleich sprach Bonhoeffer von einer grundlegenden Geborgenheit in Gottes guten Mächten.33 Bonhoeffer vertraut den guten Mächten, die ihn umgeben und von denen er sich selbst in tiefster Bedrohung getragen und gehalten weiß. Es ist das vertonte Gedicht »Von guten Mächten«, das bis heute am häufigsten bei Kasualien auftaucht – vor allem bei Bestattungen, Konfirmationen und Taufen. Nach einer jüngsten Umfrage der EKD ist das Lied auf Platz 1 der TOP 5 der Gesangbuchlieder gelistet. Viele Menschen sind zutiefst berührt von der religiösen Imagination, dass gute Mächte sie umgeben und sie deshalb getrost der Zukunft entgegen gehen können. Gottes gute Mächte verweisen auf die Macht der Liebe, die uns durch die Unbestimmbarkeit und Ungewissheit der Zukunft hindurch begleitet. Damit sind freilich noch nicht alle denkerischen Abgründe der Gottesfrage gelöst. Die wissenschaftliche Theologie ist, denke ich, nicht zuletzt durch die Coronakrise dazu herausgefordert, hier weiterzudenken. Weder die liberale noch die dialektisch-theologische Tradition hat bislang zu Ergebnissen geführt, mit denen man zufrieden sein könnte. Beide akzentuieren, metaphorisch gesprochen, in verschiedener Weise Bild und Rahmen. Die liberale Theologie konzentriert sich so sehr auf den Rahmen, dass sie das Bild dabei vergisst oder doch mindestens vernachlässigt (deshalb interessiert sie sich bei Schleiermacher nur für die Einleitung zur Glaubenslehre und nicht für seine materiale Dogmatik). Die dialektisch-theologische Tradition wiederum ist so sehr auf das Bild fokussiert, dass sie dazu tendiert, den Rahmen auszublenden. Im ersten Fall bleibt Gott eine abstrakte Chiffre (das Woher schlechthinniger Abhängigkeit), im zweiten Fall wird über Gott so geredet, als ob man mit Gott frühstücken könnte und werden moderne Verstehensprobleme weithin ausgeklammert. »Der Rahmen des Textes, die Unterscheidung Glauben/Unglauben, wird […] nicht Thema des 33 Zum Motiv des ohnmächtigen Gottes vgl. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Vollständige Ausgabe versehen mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentaren. Herausgegeben von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (Dietrich Bonhoeffer Werke 8), Gütersloh 2011 (1998), 534; zum Gedicht »Von guten Mächten« Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 607–608.

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Textes – so wenig wie der Rahmen eines Bildes im Bild zu sehen ist.«34 Der Glaube wird immer schon vorausgesetzt. Es gibt für die wissenschaftliche Theologie damit noch einiges zu tun.

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Endlichkeit

Ein weiteres Problem hat die Pandemie wie unter einem Brennglas verschärft: Wie gehen wir mit den religionsaffinen Themen Sterben und Tod um? Es ist ohne Frage richtig, alles zu tun, um Infektionen nach Möglichkeit zu verhindern. Doch zugleich hat die Pandemie zu einem problematischen und nicht selten würdelosen Umgang mit Sterbenden, Toten und ihren Angehörigen geführt. Auch hier war die Kirche erstaunlich zögerlich, bevor sie sich zur Anwältin der Sterbenden und ihrer Angehörigen machte. Es ist eine grundlegende Aufgabe der Kirche, die Kranken, Sterbenden und Trauernden zu begleiten und sie nicht alleine zu lassen. Die Balance zwischen Schutz und menschenwürdigem Sterben ist dabei nicht immer einfach zu finden. Doch entschied man sich allzu oft einseitig für den Schutz des Lebens und gegen das menschenwürdige Sterben. Zugleich wurde gesellschaftlich radikal unterschätzt, wie dramatisch die psychischen Folgeschäden bei den Hinterbleibenden sind, die sich nicht von ihren Angehörigen verabschieden, sie nicht mehr sehen und nicht würdig bestatten konnten. Die israelische Soziologin Eva Illouz spricht von einem Kulturbruch, von einer tiefgreifenden Zäsur.35 Der Tod ist in der spätmodernen Gesellschaft »zu einer derartigen Zumutung geworden […], dass wir um jeden Preis verhindern wollen, dass auch nur irgendjemand an Corona stirbt, wenn wir schon das Sterben an sich nicht verhindern können.«36 Dagegen bestand die Weisheit religiöser Lebensführung einmal darin, »Umgangsformen mit dem Unverfügbaren zu kultivieren«37 und das memento mori zu üben wie es 34 Niklas Luhmann/André Kieserling (Hg.): Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 333. 35 »Wir erleben einen anthropologischen Bruch im Umgang mit Leid, Sterben und Tod. Mich treibt um, wie leicht wir die Anordnungen hinnehmen, dass wir die Leidenden und Sterbenden allein lassen sollen. Schlagartig haben wir ihnen den Trost, die Begleitung und Beistand ihrer Nächsten entzogen. Bis dahin, dass die Toten in Isolation bestattet werden. […] Das bedeutet eine Zäsur, wie auch die Tatsache, dass wir dieses Geschehen einfach hinnehmen. Mir scheint, dass unsere Gesellschaften ein bleibendes Trauma erleben.« Illouz, in: Elisabeth Von Thadden: Reagieren weiblich geführte Staaten besser auf die Pandemie?, 2020, verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/2020-04/corona-pandemie-frauen-lockdown-so ziologin-eva-illouz [abgerufen am 14. 10. 2021]. 36 Joachim Negel: Theologie der Lebenskunst – oder: Was das Coronavirus mit dem lieben Gott zu tun hat. Theologisches Mucken und sapientiale Grillen aus gegebenem Anlass, in: IKaZ Communio 50 (2021), (260–271) 266. 37 Negel: Theologie der Lebenskunst (s. Anm. 36).

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beispielhaft Johannes Brahms mit seiner Vertonung von Psalm 39,5 im Deutschen Requiem vorführt: »Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.« Dadurch, dass wir uns die Welt auf allen möglichen Ebenen verfügbar zu machen trachten, wird die Welt zu einer »Serie von Aggressionspunkten«38, von Objekten, die es zu beherrschen gilt. Das gilt nicht zuletzt auch für den Tod. Gegen die Verlängerung des irdischen Lebens um jeden Preis wäre es Aufgabe der Religion, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass nur der, der die ständige Angst zu kurz zu kommen, überwindet, auch zu leben weiß. Jesus fordert deshalb dazu auf: »Sorget nicht um euer Leben« (Mt 6, 25).39 Nur in diesem Vertrauen ist es möglich, sich dem Leben hinzugeben und seinen Reichtum zu entdecken, denn das Leben findet in der Gegenwart statt, nirgendwo sonst. Wir können die Jahre, die uns geschenkt sind, nicht »bis ins letzte aus[..]pressen. Wir können sie vielmehr in Demut, Aufmerksamkeit und mit einer gehörigen Portion Humor hinnehmen lernen als das, was sie sind: eine uns auf Zeit gewährte Lebensspanne«40 mit guten und weniger guten Tagen. Ich denke, es gehört zur Funktion von Religion und ihrer Reflexionswissenschaft, der Theologie, in diesem Sinn an die Endlichkeit zu erinnern und sie bejahen zu lernen, um Menschen gerade dadurch zum Leben zu verhelfen.

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Überforderte Gesellschaft

Die Beispiele zeigen, dass es mir um religionsspezifische Beiträge von Theologie und Kirche zur modernen Gesellschaft geht – und nicht um moralische. Aus theologischer Verlegenheit sind die Reaktionen der Kirche auf politische wie gesellschaftliche Großereignisse nicht selten moralischer Natur. Das liegt daran, dass es einfach ist, moralisch zu kommunizieren. In der Kommunikation unter Anwesenden kann moralische Kommunikation sehr wirkungsvoll sein, in der Öffentlichkeit verpufft sie in der Regel und erzeugt den Eindruck, dass die Sprecher*innen der Moral sich damit lediglich selbst aufwerten und andere abwerten wollen. Diese Dynamik gilt es theologisch wie soziologisch kritisch zu reflektieren. Armin Nassehi wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass und inwiefern die moderne Gesellschaft mit sich selbst überfordert ist.41 Die Funktionssysteme folgen ihren jeweiligen Leitcodes wie Macht/Ohnmacht in der Politik oder zah38 Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Salzburg 2018, 10. 39 Siehe dazu auch: Isolde Karle: »Sorget nicht«, in: Anna Henkel u. a. (Hg.): Sorget nicht – Kritik der Sorge. Dimensionen der Sorge. Baden-Baden 2019, 19–30. 40 Negel: Theologie der Lebenskunst (s. Anm. 36), 270. 41 Vgl. Nassehi: Unbehagen (s. Anm. 28).

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len/nicht-zahlen in der Wirtschaft oder krank/gesund in der Medizin – für diese eine Funktion sind sie jeweils universal zuständig, zugleich aber auch nur für diese eine Funktion. Ich kann in der Wissenschaft nicht primär ökonomische oder auch politische Interessen vertreten, sondern bin der Wahrheit verpflichtet. Das heißt, die moderne Gesellschaft ist zutiefst dezentralisiert und arbeitsteilig organisiert. Diese Differenzierung macht ihre enorme Leistungsfähigkeit aus. Zugleich tut sie sich aus genau demselben Grund schwer, auf Großkrisen wie den Klimawandel oder die Pandemie konzertiert – wie aus einem Guss – zu reagieren und eine koordinierte Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Das Differenzierungsschema steht ihr im Wege. Deshalb ist es auch ein Euphemismus, von einer Krise der Gesellschaft zu sprechen – die Rede von der Krise legt nahe, dass sie überwunden werden könnte und nur von vorübergehender Dauer ist. »Die Semantik der Krise suggeriert, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Womöglich ist genau das in der und durch die Struktur der modernen Gesellschaft ausgeschlossen.«42 Die moderne Gesellschaft stößt mithin durch ihre eigene Struktur, die in so vieler Hinsicht ein Segen ist, an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität. »Das meint Überforderung mit sich selbst.«43 Es ist diese Situation der Überforderung, die das Unbehagen an der Moderne verursacht, es »ist das Unbehagen, dass diese Funktionssysteme nicht eingehegt werden können«44, dass es keine Stoppregel gibt. Nassehi belässt es nicht bei dieser wenig ermutigenden Beschreibung, sondern überlegt, wie die Zielkonflikte der unterschiedlichen Funktionssysteme so aufeinander bezogen und ineinander »übersetzt« werden können, dass es – z. B. mit Blick auf den Klimawandel – möglich ist, dennoch zu zukunftsorientierten Verfahrensweisen und Strategien zu kommen. Solche Bemühungen sind mühsam, komplex und hoch voraussetzungsvoll. Sie bedürfen der Orte, in denen Sprecher unterschiedlicher Interessenund Betroffenenebenen zusammenfinden, um handhabbare Lösungen zu entwickeln – Ethikkomitees in Krankenhäusern sind beispielsweise solche Orte. Entscheidend ist: Moralische Kommunikation verharmlost die Problemlage radikal und geht davon aus, es gehe um so etwas wie den guten Willen. Dabei ist die Annahme leitend: Wenn wir uns alle kräftig anstrengen, dann können wir die Probleme lösen. Doch unterschätzt diese Annahme die sachliche Komplexität der Problemlage eklatant. Deshalb Vorsicht vor zu viel moralischer Kommunikation!45 Sie mag im zwischenmenschlichen Bereich hier und da geeignet sein,

42 43 44 45

Nassehi: Unbehagen (s. Anm. 28), 59. Nassehi: Unbehagen (s. Anm. 28), 18. Nassehi: Unbehagen (s. Anm. 28), 226. Siehe dazu: Niklas Luhmann: Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral, in: ders., Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anlässlich

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um Verhaltensänderungen zu provozieren, mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen ist sie in aller Regel wirkungslos und löst eher Verdruss und Ärger aus.

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Theologie und Glaube

Nach diesem Ausflug in die Gesellschaft komme ich zum Schluss noch einmal zur Theologie als Wissenschaft zurück. Die Theologie ist eine bekenntnisgebundene Wissenschaft, so formulierte ich bereits zu Beginn. Wissenschaft möchte möglichst objektiv und unvoreingenommen sein – wie passt das zu einem Bekenntnis bzw. einem Glauben? Das muss man heute an der Universität erklären. Dass Glaube und Wissenschaft aufeinander bezogen sind, heißt: Die theologisch Forschenden sind immer auch persönlich in das involviert, was sie erforschen. Anselm von Canterbury brachte dies im Anschluss an Augustin auf die Formel fides quaerens intellectum – der Glaube sucht nach Einsicht, er will sich selbst verstehen und verweigert sich einer magischen Sonderwelt. Meine Entscheidung für ein Theologiestudium vor vier Jahrzehnten rührte genau aus einem solchen Bedürfnis her: Ich wollte wissen, ob und wie man Glauben und Verstehen aufeinander beziehen kann, ohne zu erwarten, dass sich alle Fragen, die sich damit stellen, einfach lösen lassen. Mich haben in der Folge die Theologinnen und Theologen am meisten beeindruckt, bei denen ich beides erleben konnte: Eine persönliche, existentielle Tiefe und ein großer Intellekt, der mit viel Engagement der Frage nachging, wie man vom Glauben im 20. – heute im 21. – Jahrhundert so sprechen kann, dass er anschlussfähig ist, dass er verstehbar ist, dass er existentielle und orientierende Relevanz für das Leben in der Gegenwart gewinnt und nicht nur antike Erfahrungen spiegelt. Die Confessiones von Augustinus sind ein eindrückliches Beispiel für dieses Ineinander von praktiziertem Glauben und Reflexion. In der Regel unterscheiden wir Glauben bzw. die religiöse Kommunikation von der wissenschaftlichen Reflexion. In der Wissenschaftssprache nehmen wir deshalb Distanz, sie darf nicht zur Predigtsprache mutieren. Und doch wird auch eine intellektuell redliche wissenschaftliche Theologie von einer Glaubenshaltung getragen. Thorsten Moos formuliert: »Es gibt ein Kontinuum religiösen Deutens und Kommunizierens, das sich erstreckt von Bildern und Liedern bis zu hochstufigen Reflexionsfiguren der theologischen Lehrbildung. Es ist kaum je sinnvoll zu sagen, hier ende die Frömmigkeit und hier beginne die Theologie. der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Laudatio von Robert Spaemann: Niklas Luhmann. Heraus-forderungen der Philosophie, Frankfurt am Main 1996, 7–48.

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Vielmehr war mindestens das Christentum immer bestimmt von einem Wechselverhältnis zwischen elementaren Ausdrucksgestalten der Frömmigkeit, biblischen Texten, […] religiösen Traditionen und theologischem Denken. In diesem Kontinuum lebt religiöse Rationalität.«46 Lernen hat deshalb nicht nur mit Wissen zu tun, sondern mit Erkenntnis und damit nicht zuletzt mit dem Erleben von und dem Austausch mit Lehrerfiguren, die selbst von der existentiellen Tiefe der Texte, die sie interpretieren, berührt sind, bei denen die Texte Resonanz hervorrufen und die selbst immer wieder neu um die Wahrheit ringen. Die Bekenntnisgebundenheit der Theologie schränkt die Wissenschaftlichkeit der Forschung insofern nicht ein, sondern bildet vielmehr das Feuer der Fragestellung, das ansteckend und motivierend wirkt, um weiter nachzudenken und sich den unlösbaren Fragen der Religion in dieser Welt zu stellen. Wozu Theologie? Der Glaube will sich selbst verstehen. Dazu ist die Theologie da.

46 Thorsten Moos: Religiöse Rationalität des Helfens. Systematisch-theologische Beiträge zu einer Theorie diakonischer Praxis, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 63 (2019), 104–116.

Cornelia Richter

Couragierte Theologie in der Krise: Beherzt, intellektuell risikobereit und »zupackig«. Reflexionen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis mit persönlicher Note

Abstract Since the Reformation Protestant theology still faces the traditional problem of combining academic theory and research with religious and spiritual practices, be they driven by conservative, liberal or fundamentalist intentions. While these different approaches are often considered as alternative or even oppositional approaches, this paper argues for their reconciliation in order to maintain a theology that is theoretically and methodically sound, inspired by its rich tradition, clearly able to address the basic demands of human life in liturgy and ritual practice, and contributing to interdisciplinary research. Hence, the paper (1) addresses Melanchthon’s notion of fiducia, (2) reflects on present dynamics in Protestant theology in a biographical key, and (3) presents resilience research as one example of how to combine classical theology with ongoing interdisciplinary discourses.

Der Titel dieses Beitrags mag Verwunderung hervorrufen, weil der Untertitel »Beherzt, intellektuell risikobereit und ›zupackig‹« als dreifache Umschreibung des Obertitels »Couragierte Theologie« gelesen werden kann und tatsächlich so gemeint ist. Dies ist jedoch nicht (nur) der akademischen Freude an intellektuellen Wortspielen geschuldet, sondern eine spielerisch variierte Version der reformatorischen Unterscheidung Melanchthons von notitia, assensus und fiducia bzw. von notitia, voluntas und affectus, die als Ausdruck des Gottvertrauens im fiducialen Glauben zusammenspielen. Wer mit der lateinischen Begrifflichkeit unserer Tradition etwas weniger vertraut ist, mag dahinter ein verstaubtes Formelspiel vermuten: Intellektuell vielleicht herausfordernd, aber ansonsten gerade noch recht und nachgerade typisch für eine Disziplin, die es im heutigen akademischen und gesellschaftlichen Kontext mancherorts schwer hat, als lebensnahe oder gar »zupackige« Disziplin wahrgenommen zu werden. Nicht wenige mögen sich fragen: »Braucht man das oder kann das weg?« Noch schwerer wiegt, dass diese Frage auch von manchen Vertreter*innen der Kirchen, in den Gemeinden und nicht zuletzt auch unter den Studierenden artikuliert wird: »Ist das Theologiestudium nicht viel zu verkopft?« »Wozu noch Latein lernen, von Altgriechisch und Hebräisch ganz zu schweigen?« »Wäre es nicht viel wichtiger,

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im Studium endlich etwas Ordentliches für die Praxis zu lernen?« »Reicht es nicht, als Pfarrer*in oder Religionslehrer*in den eigenen Glauben weiterzugeben, ganz authentisch zu sein?« Nun sind freilich weder diese Fragen neu, noch wäre es ihre Beantwortung, denn das Theorie-Praxis-Problem durchzieht die Theologie seit jeher und hat maßgeblich dazu beigetragen, die Bildungsprogramme reformatorischer Theologie auf den Weg zu bringen.1 Luther und Melanchthon waren ohne jeden Zweifel überzeugte Praktiker und hielten es genau deshalb für unabdingbar, den Pfarrern eine ordentliche Ausbildung zukommen zu lassen wie der Gemeinde eine ordentliche Schulbildung – denn nur wer Lesen und Schreiben kann, wer die Heilige Schrift recht auszulegen vermag und sich in reflektierter Weise auf Predigt, Sakramente und Seelsorge einlassen kann, wird die nötige Kunstfertigkeit und das nötige Durchhaltevermögen besitzen, der Gemeinde in allen Nöten, Anfechtungen und Zweifeln beistehen zu können. Solange das Leben – buchstäblich – Friede, Freude und Eierkuchen ist und in routinierten Bahnen verläuft, mag man angesichts der möglichen Homogeneität aus Lobpreis, Dankgebet und fröhlicher Bibelstunde noch verführt sein zu denken, es mit der theologischen Bildung vergleichsweise leicht nehmen zu können. Aber sobald das Leben, der Glaube oder auch die Kirche in die Krise geraten, ist es mit der Leichtigkeit vorbei. Spätestens dann braucht es die Reflexionsfähigkeit, um Art, Ausmaß und Konsequenzen der jeweiligen Krise sowie der individuellen wie kollektiven Involviertheit analysieren zu können und es braucht die theologische Bildung, um möglichst viele Antwortmöglichkeiten der christlichen Tradition zu kennen und anbieten zu können. Ganz elementar wird diese Befähigung in der seelsorgerlichen Praxis, wenn einem Menschen das bisher vielleicht unhinterfragte Gottesbild fraglich wird, wenn sich vor einem Menschen die Theodizeefrage aufbaut, oder wenn es darum geht, in der Gemeinde unterschiedliche, vielleicht sogar konflikthaft gegenläufige moralische Überzeugungen zusammen zu halten. Unabhängig davon, was der/die Pfarrer*in persönlich glaubt, geht es in all diesen Fällen zunächst einmal darum, die Anfragen zu verstehen, sie sachkundig und kritisch sortieren zu können, sie mit der Vielstimmigkeit der in der jüdisch-christlichen Tradition möglichen Antworten zusammenbringen zu können und eine für diesen Menschen hier und jetzt aufklärende, tröstliche und Hoffnung gebende Antwort finden zu können. Wichtig daran ist: Die Gemeinde selbst muss diesen fachtheologischen Bildungsprozess nicht mit vollziehen, sie darf ihren Glauben im Hier und Jetzt leben, feiern und bezweifeln. Zwar gehört es zu den Binsenweisheiten gestandener Pfarrer*innen, die Bildungsfreudigkeit und das faktisch vorhandene Bildungsbzw. Reflexionsniveau der Gemeinde niemals zu unterschätzen! Aber die theo1 Vgl. Markus Wriedt: Art. Bildung, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 231–236.

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logische Fachausbildung ist davon zu unterscheiden, weil sie die Spannung von selbstreflexiver Distanz und eigener Positionierung im Umgang mit der Multiperspektivität und Polyvalenz der Gottesbilder, der altsprachlichen Bibeltexte und deren jeweiliger kultureller Prägung, der Schriftverständnisse und Auslegungstraditionen, Frömmigkeitstypen und -stile, Gemeinschaftsformen und liturgischen Gestaltungsmöglichkeiten etc. aushalten muss. Schon deshalb sind z. B. Schleiermachers »Kurze Darstellung des theologischen Studiums« ([1811] 21830) und seine »Glaubenslehre« ([1821/22] 21830) auf das Profil der Berufstheologen zugeschnitten. Sie müssen als kirchenleitende und in der Praxis tätige Persönlichkeiten in der Lage sein, alle Glaubenssätze (auch die schwierigen und unbequemen wie z. B. Allmacht Gottes, Kreuz, Sünde, Gericht etc.) eigenständig und auf der diskursiven Höhe ihrer Zeit kritisch zu durchdenken und zu vertreten.2 Das gilt, auch wenn die zugehörigen Studienpläne und die gesamte Ausrichtung des Theologiestudiums im Lauf der Zeit ohne Zweifel immer wieder aktualisiert und an die gesellschaftsrelevanten Anforderungen angepasst werden müssen.3 Zu einer »Theologentheologie« im strikt theoretischen, wissenschaftsinternen Sinne muss es bei all dem dennoch nicht kommen – und zwar umso weniger, je höher die Bereitschaft ist, sich dem Theorie-Praxis-Problem offensiv zu stellen,4 das theologische Fachwissen mit den ureigensten Glaubensfragen zu verbinden und es im Gespräch mit Dritten dem Härtetest der Praxis auszusetzen. Im Folgenden soll dies exemplarisch in drei Stationen erörtert werden: Erstens anhand einer knappen Reflexion des Fiducialglaubens unserer reformatorischen und reformierten Tradition; zweitens anhand des Verhältnisses von »beherzt« 2 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen [21830], in: Dirk Schmid(Hg.): Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, Berlin/Boston 2011, bes. §19; ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: Rolf Schäfer (Hg.): KGA Bd. 13, 1 und 2, Berlin/Boston 2011, bes. § 218; vgl. Cornelia Richter: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Martin Breul/Aaron Langenfeld (Hg.): Kleine Philosophiegeschichte. Eine Einführung für das Theologiestudium, Leiden u. a. 2017, 161–167. Ebenso Martin Fritz: »Schleiermachers Bildungsideal setzt bei jedem angehenden Theologen die Bereitschaft voraus, sich in der Reflexion der eigenen Leitbilder vom Entscheidend-Christlichen sowohl mit den allgemein in Geltung stehenden Wahrheitskriterien zu konfrontieren als auch mit den vielfältigen Erscheinungsformen, die das Christentum in Geschichte und Gegenwart hervorgebracht hat.« (Schleiermachers Idee theologischer Bildung. Zur Aktualität der »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums«, in: Ders./Markus Buntfuß (Hg.), Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (TBT 163), Berlin/Boston: de Gruyter, 2014, 167–218, hier: 208. 3 Vgl. Falk Wanger: Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999; Dietrich Korsch: Mit der Theologie anfangen. Orientierungen für das Studium, Tübingen 2020. 4 Vgl. Susanne Heine: Über den Gemeinspruch »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (Immanuel Kant). Zur Standortbestimmung der Praktischen Theologie, in: Verkündigung und Forschung 37 (1992), 63–77; dies., Reflexionen zum Theorie-PraxisVerhältnis, in: Amt und Gemeinde 52 (2001), 258–265.

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und »intellektuell-risikobereit« im Blick auf das Theologiestudium und die in der pfarramtlichen und schulischen Praxis erforderliche theologische Mehrsprachigkeit. Denn einerseits ist es unverzichtbar, unsere jeweilige konfessionelle Identität gut zu kennen und wach zu halten. Andererseits müssen wir diese Identität in einer Gesellschaft vertreten, die konfessionelle Differenzen kaum noch kennt und in der es viel eher um die grundsätzliche Frage geht, ob das Christentum bzw. die jüdisch-christliche Tradition künftig überhaupt noch eine Rolle spielen soll oder nicht. Diese Frage könnte man als eine Apologetik hören, d. h. als eine defensive Frage, die der medial vermittelten Wahrnehmung von Kirche und Theologie mit Blick auf die Austrittszahlen nur noch im Modus der Verteidigung begegnen würde. Aber das ist nicht der Fall. Denn in meiner Tätigkeit in der Forschung im Zusammenhang mit der seit 2018 avisierten Exzellenzstrategie der deutschen Universitäten, in der kirchlichen Praxis und nicht zuletzt als Dekanin (seit 2020 an der Ev.-Theol. Fakultät in Bonn) erlebe ich durchgängig ein hohes, sogar anwachsendes Interesse an der Theologie. Es wird von uns erwartet, dass wir uns einbringen; es wird erwartet, dass wir etwas zu sagen haben in dieser Gesellschaft und in ihren Krisen. Es wird, um es kurz zu sagen, erwartet, dass wir eine »couragierte Theologie« betreiben und uns mit einer »zupackigen« Haltung an den aktuellen Diskursen beteiligen. Ein Beispiel dazu möchte ich im dritten Teil geben und verbinde dies mit dem Dank für die ehrenvolle Einladung und den herzlichsten Glückwünschen an die EvangelischTheologische Fakultät der Universität Wien zu ihrem 200jährigen Jubiläum.

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»Beherzt, intellektuell risikobereit und zupackend«. Variationen des reformatorischen Fiducialglaubens

Als Evangelische Kirche A.B. führen wir selbstverständlich Bekenntnis und Erbe der Theologie Luthers im Titel, aber es war Philipp Melanchthon, dem wir die erste evangelische Dogmatik oder Glaubenslehre verdanken. Er hat mehr als 30 Jahre lang daran gearbeitet, die spektakulären und rhetorisch groß angelegten reformatorischen Einsichten Luthers zu systematisieren, d. h. zu ordnen und in ihrem logischen Aufbau der Glaubenslehre verständlich zu machen. Von seiner ersten lateinischen Fassung in den »Loci theologici« von 1521 bis zu seiner deutschsprachigen Version von 1553, publiziert unter dem Titel »Heubtartikel Christlicher Lere«, hat er das reformatorische Profil präzisiert und je nach Adressatenkreis pointiert in den Diskurs eingebracht.5 Die erste Phase ab 1521, 5 Für eine ausführliche Darstellung zur Entwicklung von Melanchthons Glaubenslehre vgl. Cornelia Richter: Melanchthons fiducia – gegen die Selbstmächtigkeit des Menschen, in: Ingolf U. Dalferth/Simon Peng-Keller (Hg.): Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die

Couragierte Theologie in der Krise: Beherzt, intellektuell risikobereit und »zupackig«

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prima aetas genannt, war von der Konsolidierung und Identitätsbildung geprägt: Was ist es denn nun, was die angehenden evangelischen Pfarrer lernen sollen und worin bestehen die Kernsätze für die Gemeinden? In dieser Phase ist Melanchthon v. a. die Affektenlehre wichtig, weshalb er die Idee christlicher Freiheit mit anthropologischen und emotionstheoretischen Überlegungen begründet. Aus dem Zusammenspiel von Sünde und Rechtfertigung wird klar, dass wir von Gottes Gnade im Herzen getroffen und bewegt sind und dass alles darauf ankommt, uns Christi Wirkweisen vor Augen zu halten. Seine Argumentation läuft hier ganz und gar auf die Gnade Gottes und die Rechtfertigung des Menschen zu – sie bilden den Höhe- und Schlusspunkt der Loci von 1521. In der zweiten Phase, secunda aetas, tritt Melanchthon seit seiner Vorlesung von 1533 sehr viel selbstbewusster in das Gespräch mit der scholastischen Theologie ein und beginnt, die reformatorische Glaubenslehre auf akademischer Augenhöhe mit den Kollegen zu diskutieren. In dieser Vorlesung beginnt er nicht mehr mit der Anthropologie, sondern stellt die Gottes- und Schöpfungslehre an den Anfang. Als nächste Höhepunkte folgen Rechtfertigungslehre und die Lehre von der Christlichen Freiheit und ab den »Loci communes theologici recens collecti et recogniti« von 1535 liegt das Ziel in dem Verhältnis von Ekklesiologie und Herrschaft Christi. 1533 ist er mit seiner Vorlesung noch nach der Prädestinationslehre »hängen geblieben«, so dass der Themenkatalog unvollständig ist. Im zweiten Anlauf 1535 ist ihm der vollständige Durchlauf gelungen, so dass wir dort erstmals alle Kernthemen des christlichen Glaubens präsentiert finden. In der dritten Phase ab 1543, der tertia aetas, konzentriert Melanchthon die Glaubenslehre unter dem Titel »Loci praecipui theologici« auf die Ekklesiologie und lässt sie geradezu triumphal im Manifest Christlicher Freiheit enden. Man merkt diesen Entwürfen an, dass sie aus einem neuen, starken Selbstbewusstsein der Reformatoren heraus geschrieben sind, die wissen, dass sie sich kirchenpolitisch konsolidiert haben, dass sie philosophisch und im intellektuellen Anspruch auf Augenhöhe mit den Kollegen argumentieren können und dass sie diese theologische Neuorientierung mit der nötigen Courage vorbringen können. In der älteren Reformationsforschung hat man Melanchthon vor allem für diese Phase vorgeworfen, die reformatorischen Ideale Luthers verraten und die evangelische Seite sozusagen »rekatholisiert« zu haben. Aber die exakte Analyse seiner lateinischen Entwürfe über die 30 Jahre hinweg zeigen, dass es nie darum ging, Luther fiducia, Freiburg/Br. 2012, 209–242. Die Vorlesungen Melanchthons sind zu finden in: Heinrich Bindseil (Hg.): Corpus Reformatorum Bde. XXI und XXII, Braunschweig 1854/55. In Übersetzung: Philipp Melanchthon: Loci communes 1521, lat.-dt., übers. u. komm. v. Horst Georg Pöhlmann, hg. v. Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh 21997; ders.: Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner LOCI THEOLOGICI, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553, hg. v. Ralf Jenett und Johannes Schilling, Leipzig 2002.

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zurück zu nehmen. Sondern um eine solche Präzisierung der reformatorischen Lehre, die auf der Ebene der Wissenschaftstheorie und der Philosophie ebenso exakt formuliert war wie auf der Ebene der Theologie. Liest man die Texte im Gesamt, dann können wir nicht nur der ersten evangelischen Dogmatik im Werden zuschauen, sondern auch einer evangelischen Theologie, die sich mit Bezug auf unterschiedliche Gesprächspartner im akademischen Diskurs verortet. 1553 hat Melanchthon all dies in den deutschsprachigen »Heubtartikel Christlicher Lere« noch einmal elementarisiert. In dieser späten Glaubenslehre wählt er einen katechetischen Stil und wendet sich direkt an die jungen Studenten und an die gebildete Gemeinde. Er wechselt sozusagen noch einmal Argumentationsebene und Sprachspiel, nun eben hin zur kirchlichen Praxis. Eine ähnliche Dynamik könnten wir in der reformierten Tradition für Calvin aufzeigen, der mit der »Institutio Christianae Religionis« zwischen 1536 und 1559 die zweite, ebenso großartige evangelische Dogmatik geschrieben hat und dem man m. E. zu Unrecht eine moralisierende Gesetzlichkeit und starre Prädestinationslehre vorwirft.6 Auch das wäre einmal ein spannendes Thema für Wien, aber für heute bleiben wir bei Melanchthon und ich erlaube mir, dies anlässlich des Jubiläums meiner Studienfakultät mit einer persönlichen Note zu verbinden: Als ich 2006 mit der Arbeit an meiner Habilitationsschrift zum Thema »Bodenloses Vertrauen« begonnen habe, hatte ich ein Kapitel zum reformatorischen Glaubensbegriff eher aus Pflichtgefühl, denn aus Überzeugung eingeplant. Das Pflichtgefühl hat mich noch mehr seufzen lassen als mir klar geworden ist, dass ich mich zur Analyse des Vertrauensbegriffs, der fiducia, in Melanchthons lateinische Texte würde vertiefen müssen. Also bin ich brav in die Bibliothek gestapft und habe die verstaubten, leicht angeschimmelten und muffig riechenden Bände XXI und XXII des Corpus Reformatorum mit nach Hause genommen. Zu meiner eigenen Verblüffung hat mich Melanchthon dann so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich erst 2 Jahre später wieder aus dieser lateinischen Denkwelt aufgetaucht bin – das Papier ist inzwischen auf meinem Schreibtisch schön durchgetrocknet und hat jeden muffigen Geruch verloren. Die Faszination bestand für mich darin, der ersten dogmatischen Glaubenslehre im Werden zuschauen zu können und zu beobachten, wie Melanchthon diese und jene Argumentation ausprobiert hat, wie er verschiedene Traditionen herangezogen hat, um die Argumentation ganz auf die jeweiligen Gesprächspartner auszurichten. Eine seiner bis heute wichtigsten Erkenntnisse ist der komplexe Dreiklang des fiducialen Glaubens: Da ist (1.) die notitia – das sind die Kenntnisse, die ein Mensch vom Glauben haben muss, um überhaupt zu wissen, worum es geht; wer noch nie von Gott, Christus und Geist gehört hat, wer die Bibel nicht kennt, kann 6 Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, hg. v. Matthias Freudenberg, Göttingen 2022.

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keine Worte für das haben, was im christlichen Glauben gemeint ist. Weil der Glaube aber kein bloß rationales Geschäft ist und schon gar keines, das wir uns theoretisch ausdenken könnten, deshalb braucht es (2.) den assensus als Teil der voluntas, der funktional zum liberum arbitrium gehört und für dessen Bedeutung unverzichtbar ist. Aber weil der freie Wille des Menschen bekanntlich durch die Sünde korrumpiert ist, kann der Mensch im assensus nie den ersten Schritt auf Gott hin tun, sondern nur auf Gottes Zuwendung reagieren. Melanchthon hat das sprachlich außerordentlich klug gelöst, indem er meist die verbalisierte Form assentiri benützt und diese bis 1553 immer öfter mit »annehmen« übersetzt.7 Wie sehr es Melanchthon um eine auf Gott bezogene und reaktive Bewegung des Herzens geht, wird noch deutlicher in dem Begriff der fiducia: Hier impliziert bereits das Nomen selbst die Dialektik des Vollzugs. Denn worauf es Melanchthon im Kern ankommt, ist dies: Weil sich kein Glaube ohne Anfechtung denken lässt – Mk 9,24 und Hebr 11,1 gehören für Melanchthon zu den wichtigsten Bibelexten der Glaubenslehre –, deshalb ist der Glaube nur zu verstehen als eine Performanz der eigenen Affektivität: Im Zusammenspiel von notitia, assensus und fiducia wirkt Gott selbst affektiv in uns und vermag unsere Affektivität umzukehren, auf ihn hin auszurichten. Melanchthons Grundlegung halte ich bis heute für unübertroffen. Es ist eine im Wortsinne »beherzte« Theologie, die sich weder vor den Risiken des intellektuellen Diskurses scheut noch die elementaren Anforderungen des praktischen Handelns aus dem Blick verliert. Sie hat die Anfechtung und das Ringen mit Destruktivität immer im Blick und hat ihr Ziel in einer »zupackigen« Glaubenspraxis. Das ist ein Erbe, mit dem wir bis heute arbeiten können. Die Frage ist nur, wie lässt sich das heute lernen und realisieren?

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Wie und wo sich reformatorisches Erbe heute lernen und realisieren lässt. Eine nicht nur biographische Reminiszenz

Mit diesem Erbe vor Augen bin ich 1989 aus dem Pfarrhaus in Bad Goisern wie so viele meiner Kommiliton*innen zum Studium nach Wien gekommen und habe die Universität als einen unglaublichen Freiraum des Denkens empfunden. Hier durfte man alles denken, alles ausprobieren, von der Exegese bis zu Religionsphilosophie und Religionskritik. Als Studentin war das für mich deshalb so 7 Ann-Kathrin Armbruster hat in ihrer soeben in Bonn verteidigten Dissertation diesen Gedanken über den Gedanken der Aneignungsfigur in Melanchthon ausdifferenziert: Ann-Kathrin Armbruster: Figuration und Aneignung. Hermeneutische Konklusionen zur Bedeutung von narrativ-bildhaften Elementen im Kontext dogmatischer Lehre im Anschluss an Philipp Melanchthon, Dissertation Bonn 2022, wird zum Druck vorbereitet.

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wichtig, weil ich aus einem liberalen Pfarrhaus komme – meine Eltern stammen aus Berlin, das im reformationsbewussten Bad Goisern auf eine stark bibelzentrierte Frömmigkeit getroffen ist, verstärkt durch Kontakte zur damaligen FETA in der Schweiz. Nach dem frühen Tod meines Vaters hatte ich als Jugendliche oftmals keine Antworten auf diesen clash of cultures und habe deshalb das Theologiestudium in Wien gewählt. Zu meiner allergrößten Verblüffung hat sich in Wien allerdings dieser Zusammenprall von kirchlich konservativem Erbe, geistiger Offenheit liberaler Theologie und Biblizismus bis hin zu biblischem Fundamentalismus an der Wiener Fakultät wiederholt. In der Folge habe ich mich, damals angeleitet durch Susanne Heine und Falk Wagner, mit Begeisterung in die religionskritische, religionspsychologische und liberale Theologie vertieft. Auf meinem weiteren Weg über Marburg und Kopenhagen nach Bonn hat sich die damals eröffnete Freiheit im Denken dann allmählich zu einer eigenständigen theologischen Haltung verdichtet, aus der heraus ich inzwischen alle beteiligten Seiten in ihrer Eigenlogik schätzen kann und es für wichtig erachte, alle Seiten miteinander im Gespräch zu halten. Und zwar, das ist entscheidend, ausgemittelt und vermittelt durch eine sichtbare, das kirchliche Leben konstruktiv mit gestaltende und darin »zupackige« Glaubenspraxis. Eine auf den akademischen Diskurs reduzierte Theologie hilft uns ebenso wenig wie eine emotional-moralisierende Repetition biblischer Texte. Das Ziel unserer Theologie muss es stattdessen sein, die geistige Offenheit im konkreten Leben zu bewähren, und zwar dort, wo es existentiell dringlich wird. Das erfordert auch von der kirchlichen Praxis eine Offenheit. Aber beide, Theologie wie Kirche, finden sich darin in einer hochgradig differenzierten Gesellschaft, in der sie auf die vielfältigen Stimmen innerhalb des Christentums angewiesen sind, auf die intellektuelle Risikobereitschaft ebenso wie auf deren explizit christliche Diktion – und das muss sich sowohl im Studium der Theologie als auch in ihrer öffentlichen Tätigkeit abbilden. Auf der einen Seite steht dabei die theologische, intellektuell risikobereite Theoriebildung: Die wissenschaftstheoretische und methodische Arbeit in den theologischen Fächern hat in den letzten Jahren zu einer ungeheuren Dynamisierung scheinbar fester Überzeugungen geführt: Durch die religionsgeschichtliche Erweiterung der alttestamentlichen Exegese in die Altorientalistik und die Funde von Qumran wissen wir sehr viel genauer über die kulturgeschichtlichen Abhängigkeiten und Interaktionsfelder unserer biblischen Traditionen Bescheid.8 Seit der Etablierung der Judaistik und den Forschungen zur zwischen-

8 Vgl. Konrad Schmid/Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 2022; John Barton: A History of the Bible. The Book and Its Faiths,

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testamentarischen Zeit sind unsere Vorstellungen der Kanonbildung und Kanonisierung gründlich über den Haufen geworfen.9 Seit den patristischen Studien zu Bekenntnis- und Kirchenbildung in den ersten Jahrhunderten wissen wir, dass offenbar zu keiner Zeit klar war, was das christliche Bekenntnis, der christliche Gottesdienst oder die christliche Kirche sein sollte.10 Je genauer und spezialisierter wir forschen, desto variantenreicher und verschwommener wird das, was wir so gerne als das Christentum oder die christliche Kirche bezeichnen würden.11 In der systematischen Theologie trifft dies auf eine Disziplin, die sich mit gutem Grund seit den 1970er Jahren wieder der Religionsphilosophie geöffnet und vor den kritischen Fragen der Religionskritik nicht zurückgescheut ist. Der gute Grund liegt darin, dass wir die Begründung christlicher Glaubensüberzeugungen im Kontext der europäischen Geistesgeschichte zu durchdenken haben, also im Gespräch zwischen Reformation und Aufklärung. Beide sind für unser Fach maßgeblich und es ist eben kein Zufall, dass das Jahr 1781 sowohl für das Toleranzpatent Joseph des II. steht als auch für die Veröffentlichung von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Ohne diese beiden Meilensteine und die daraus erwachsene Universitätsreform, Stichwort Humboldt in Berlin mit Friedrich Schleiermacher in der Theologischen Fakultät, wäre die Theologie heute nicht Teil der Universität. Zu dieser Entwicklung gehört aber auch das Bewusstsein, dass sich die religionskritische Haltung der Aufklärung mit Blick auf die Konfessionskriege gebildet hat. Wer damals in aufgeklärtem Geiste an der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft interessiert war, konnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass eine auf Frieden ausgerichtete Politik die Religion besser in ihre Schranken zu weisen habe – und es wäre absurd, wollten wir diese Einsicht im 20./21. Jahrhundert für überholt halten. Religion ist bis heute riskant und zuweilen brandgefährlich, weil sich in ihr metaphysische Vorstellungswelten mit emotionaler Betroffenheit, dem Impuls zum lebenspraktischen Handeln und institutioneller Stärke aufs Engste verbinden. Im Bewusstsein dieser gefährlichen Riskanz halte ich es für unabdingbar und selbstverständlich, dass sich unsere Studierenden auf der Höhe des wissenschaftstheoretischen Diskurses bewegen. Dazu gehört in der Systematischen Theologie, dass sie sich mit der philosophischen Kritik seit der klassischen deutschen Philosophie auseinandersetzen, also mit Kant, Fichte, Schleiermacher, London 2019; Jan Dietrich: Hebräisches Denken. Denkgeschichte und Denkweisen des Alten Testaments (BThSt 191), Göttingen: V&R 2022. 9 Vgl. Elisabeth Gräb-Schmidt/Volker Leppin: Kanon (Marburger Jahrbuch Theologie 31; MThSt 132), Leipzig 2019. 10 Vgl. Wolfram Kinzig: Faith in Formulae. A Collection of Early Christian Creeds and Creedrelated Texts, Vol. 1–4, Oxford 2017: Vol. 1, Introduction, 1–32. 11 Vgl. Christian Albrecht (Hg.): Kirche (Themen der Theologie 1), Tübingen 2011.

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Schelling und Hegel. Nur dann verstehen sie, dass es einen Unterschied macht, ob ich von einer religiösen Vorstellung, von einem Begriff oder von einer Idee spreche. Nur dann verstehen sie, was das jeweils für die Differenz von Wahrheit und Realität ausmacht bzw. welche Arten von Wahrheitsverständnissen sich unterscheiden lassen. Ebenso unverzichtbar ist die Religionskritik von Kant über Feuerbach, Nietzsche, Marx und Freud, weil sie auf der Basis dieser erkenntnistheoretischen Einsichten hypertrophe Geltungsansprüche religiöser Überzeugungen und Institutionen im Blick auf das Handeln verbinden. In ihrem Gesamtwerk sind die Religionskritiker inzwischen ebenfalls überholt, aber wer einmal Feuerbachs Gedanken der Projektion oder Freuds Einsicht in die illusionäre Selbsttäuschung verstanden hat, wird für diese berechtigten Warnungen dankbar sein: Auch religiöse Überzeugungen dürfen nicht einfach so als Einsicht in Gottes Wesen oder als Wahrheit menschlichen Lebens postuliert werden.12 Nimmt man die Sprachphilosophie seit Wittgenstein und Cassirer hinzu, dann erweitert sich all dies um das Bewusstsein für die Geltungsbereiche unterschiedlicher Sprachspiele und ihre jeweils Wirklichkeit konstituierende Kraft. Bezieht man die Phänomenologie ein, dann erweitert sich schlagartig das Bewusstsein für die Perspektivität dessen, was ist bzw. was sich zeigt.13 Und mit der Literaturwissenschaft erhalten wir endlich eine konstruktive Argumentationshilfe für den Umgang mit unseren hochgradig narrativen und fiktionalen Bibeltexten.14 Ich habe damit nur wenige Stationen aus dem interdisziplinären Diskurs benannt – aber es sind genug, um die Komplexität unserer theologischen Aufgabe zu verstehen: Wenn wir die evangelische Theologie reflektiert, gegenwartsbezogen, sozial konstruktiv und an Friedens- und Versöhnungsprozessen orientiert vertreten möchten, darf es kein sacrificium intellectus geben. Freilich sind wir mit dieser Einsicht bei der anderen Seite angekommen: Bei der Sehnsucht nach einer bibelzentrierten, christlich positionierten Frömmigkeit, deren Sichtbarkeit heute maßgeblich zur Sichtbarkeit unserer Kirchen beiträgt. Ungeachtet der Tatsache, dass wir an den Fakultäten für eine philoso12 Stellvertretend sei verwiesen auf die nach wie vor höchst instruktiven Arbeiten von Falk Wagner: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1993; ders.: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986. Ebenso in Form einer religionsphilosophisch versierten Dogmatik: Dietrich Korsch: Antwort auf Grundfragen des christlichen Glaubens. Dogmatik als integrative christliche Disziplin, Tübingen 2015. Oder in Form eines Gesamtüberblicks: Christian Danz: Systematische Theologie, Tübingen 2016; Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018. 13 Vgl. Cornelia Richter: Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen (RPT 7), Tübingen 2004. 14 Vgl. Katharina Opalka: Was man erzählen kann, wenn man an seine Grenzen kommt. Zur Bedeutung der Narrativität im Resilienzdiskurs, in: Cornelia Richter (Hg.): An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen (RuG 3), Stuttgart 2021, 97–115.

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phisch und wissenschaftstheoretisch reflektierte Theologie einzustehen haben, wäre es fatal, wenn sich die Theologie in ihr erschöpfen würde. Für ein lebendiges Christentum reicht es nicht aus, bei der theoretischen Differenziertheit und selbstkritischen Theologiegeschichte stehen zu bleiben. Denn in der kirchlichen Praxis ebenso wie im gesellschaftlichen Diskurs mit Menschen, die dem Christentum eher fernstehen, werden wir an der Art und Weise gemessen, wie wir die Fragen und Bedürfnisse in temporär und situativ überzeugenden Antworten zusammenbringen können: im Seelsorgegespräch zwischen Tür und Angel, im Kindergarten und beim Schulgottesdienst, im Spital, bei der Taufe ebenso wie am Grab oder in Zeiten einer Pandemie. Das Bedürfnis nach Klarheit und Positioniertheit ist in diesen Kontexten nur zu verständlich. Es macht dabei erstaunlich wenig Unterschied, ob uns diese Fragen und Bedürfnisse im Kontext der akademischen Theologie entgegen gebracht werden, z. B. aus Mathematik oder Ökonomie, Jura, Soziologie oder Medizin; oder ob sie im Zuge gesellschaftspolitischer Debatten vorgebracht werden, z. B. bei Talkshows, in Radiosendungen oder Zeitungsinterviews; oder ob sie in der gemeindlichen Praxis von sog. kirchenfernen Menschen aufgerufen werden, die sich zu ihrem eigenen Erstaunen anlässlich von Kasualien oder eines Festgottesdienstes in einer Kirche finden, weil es sich halt so gehört; oder ob die Fragen von der sog. Kerngemeinde vorgebracht werden, die von ihrer regionalen und lokalen Glaubenstradition getragen ist und sich daher in stark geprägten Wortfolgen ausdrückt. Entscheidend ist in all diesen Kontexten, dass wir hören, wie wir gefragt sind und dass wir der Frage entsprechend antworten können. Das theoretische Handwerkszeug, das wir in diesen Situationen brauchen, erwächst aus beiden Seiten gemeinsam und es findet seine stärkste Sichtbarkeit in Verbindung mit der kirchlichen Praxis. Aus der bibelorientierten, positionierten Seite gewinnen wir das Handwerkszeug der Schrift- und Traditionskenntnis, aus der kirchlichen Praxis die liturgischen Formen samt allen damit verbundenen Präsenzen und Performanzen.15 Wer das in der Theologie nicht ad hoc, z. B. in einem akuten Trauerfall oder in einer akuten Seelsorgesituation, abrufen kann, wird der Theologie nur begrenzt gerecht. Aus der Reflexionsarbeit gewinnen wir allerdings erst die Fähigkeit, zwischen einer bibelzentrierten Frömmigkeit und einem radikalen Fundamentalismus zu unterscheiden und uns auf die unterschiedlichen Sprachspiele zwischen Kerngemeinde, intellektueller Öffentlichkeit oder religiös indifferenten Gesprächspartnern einzustellen. Nur solange es eine wissenschaftlich verfasste Theologie gibt, gibt es im evangelischen Christentum einen institutionalisierten Raum, an dem in völliger Wissenschaftsfreiheit gedacht und gelehrt und die religiöse Praxis kritisch geprüft 15 Vgl. Michael Meyer-Blanck (Hg.): Die Sprache der Liturgie. Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e.V. Braunschweig/Leipzig 2012.

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werden kann. Die Universität müsste schon deshalb allerhöchstes Interesse daran haben, über die theologischen Fakultäten eine Beziehung und damit auch produktive Einflussmöglichkeiten auf eine religiöse Gemeinschaft zu haben. So wie es umgekehrt gerade für eine kleine Kirche umso wichtiger ist, eine Fakultät als Korrektiv zu haben. Die besondere Kunst von Theologie und Kirche scheint mir darin zu liegen, die in den unterschiedlichen Sprachspielen häufig nur implizit artikulierten Auffassungen von Welt und Wirklichkeit, Anspruch und Geltung zu erkennen und in die Antworten einbeziehen zu können. Und zwar so, dass es in uns selbst zu keiner Schizophrenie kommt oder wir uns gar als Lügner fühlen. Das Handwerkszeug der reflexiven Theologie ermöglicht es mir, am Vormittag in der Lehrveranstaltung mit den Studierenden nachzudenken über die theoretische Problematik von Aussagen über Gottes Wesen, seinen Willen, sein Planen und Handeln in diesem Leben und über unser Leben hinaus. Um nur wenige Stunden später in einer Kerngemeinde einen Menschen zu beerdigen, dessen Angehörige von der Sprache biblischer Texte geprägt sind – so dass ich als Liturgin voll und ganz darauf vertrauen kann und darf, dass sich in der repräsentativen Begleitung und in der Fürsprache qua Amt in den traditionsgesättigten Worten die performante Kraft des Geistes entfalten wird, die uns allen und ganz besonders den trauernden Angehörigen zugesagt ist. Und am Abend desselben Tages mache ich die Handwerkskiste vielleicht noch einmal auf, um in einer intellektuellen Runde manch religionskritisches oder religionspsychologisches Argument zu diskutieren, hinter dem sich öfter als man so denkt, ein glaubensbedürftiger und spiritualitätssensibler Mensch verbirgt.16 In diesen Gesprächen wäre der direkte Indikativ der traditionsgesättigten Glaubenszusage überfordernd, aber der Konjunktiv eröffnet Beziehungsräume – vor allem dann, wenn er keinem theoretischen Einwand ausweicht und zu erklären vermag, dass die Wahrheit der TheoLogik eine andere ist als die von richtig oder falsch, dass die Wahrheit der Empirie anders gefunden wird als jene der Historie und dass sogar eine nur im Modus des Narrativen und/oder Fiktionalen formulierbare Wahrheit eine wirklichkeitsverändernde Performanz entfalten kann. Wer diese Art des Handwerkzeugs nicht beherrscht, wird solche Gespräche entweder gar nicht führen oder nur im Streit oder nur in der Defensive. Aber es geht auch anders, vor allem in krisenhaften Zeiten.

16 Vgl. Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden, Göttingen 2005.

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Ein Beispiel aus der Krise: Integration von Negativität und Ambivalenz

In Bonn arbeiten wir seit 2014 am Thema von »Resilienz in Religion und Spiritualität«, 2019–2022 als DFG-Forschungsgruppe »Resilienz in Religion und Spiritualität«, seit 2023 als Forschungsgruppe »Resilience and Humanities« in einer interdisziplinären Kooperation aus Theologie, Philosophie, Psychosomatik und Psychotherapie, Palliativmedizin und Spiritual Care. Wir arbeiten mit Resilienz als dem dynamischen Prozess einer adaptiven Bewältigung von Stress und Widrigkeiten (Adversity) bei Aufrechterhaltung und Entwicklung psychischer und physischer Funktionalität. Dieser Prozess ist als individueller wie interpersonaler, sozialer und umweltbezogener Prozess zu verstehen,17 und zwar sowohl in struktureller Hinsicht als auch in seiner situativen und flexiblen Kontextualität. Teil dieser situativen und flexiblen Kontextualität ist nicht nur die psychophysische Verfasstheit der betroffenen Person, sondern auch – darauf kommt es uns im Zusammenspiel von Theologie und Lebenswissenschaften ganz besonders an – der Grad ihrer Ambiguitäts- bzw. Komplexitätstoleranz, ihre Fähigkeit der sinnhaften (»meaningful«) Artikulation und der Integration von Negativität bzw. der konstruktiven Verknüpfung von negativen und positiven Emotionen/Affekten, Wahrnehmungen, Einschätzungen, Erwartungen sowie deren konterregulative Konsequenzen.18 Aktive, medio-passive19 und passive sowie bewusste und unbewusste Apperzeptions- und Reaktionsphasen sind hierbei gleichermaßen in Betracht zu ziehen. Man könnte denken, dass es sich dabei um ein primär ethisches Projekt handelt, oder um ein Projekt, an dem die Theologie vor allem in praktischtheologischer Ausrichtung beteiligt ist. Doch die Programmatik ist aus einer religionsphilosophischen und religionskritischen Dogmatik erwachsen, die ihre Bewährung in Klinikseelsorge und Kasualpraxis findet. Die hier vorgestellte Zusammenstellung zentraler Aspekte eines komplexeren Resilienzbegriffs markiert mit den Stichworten »Ambiguitäts- und Komplexitätstoleranz« und »Integration von Negativität« eine entscheidende Konsequenz unserer kritischen Analyse des aktuellen Resilienzdiskurses. Die Resilienzforschung basiert zu Recht auf der zuversichtlichen Annahme, dass Menschen in erstaunlich hohem 17 Vgl. Cornelia Richter (Hg.): Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie (Religion und Gesundheit 1), Stuttgart 2017. In der Reihe »Religion und Gesundheit« sind inzwischen zwei weitere Konferenzbände erschienen, in denen sich jeweils aus allen beteiligten Disziplinen umfangreiche Literaturangaben zur Thematik finden. 18 Mit z. B. Klaus Rothermund (Hg.): Gute Gründe. Zur Bedeutung der Vernunft für die Praxis, Stuttgart 2003. 19 Vgl. Beatrice Han-Pile: Nietzsche and Amor-Fati, in: European Journal of Philosophy 19 (2009), 224–261.

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Maße widerstandsfähig sind, Ressourcen aktivieren und sich Coping-Strategien effizient aneignen können – seien sie religiös-spirituell motiviert oder nicht. Problematisch ist jedoch der geradezu neo-liberale »Drive«, Resilienz als Prozess persönlicher Optimierung und Effizienzsteigerung zu betrachten und die Ergebnisse der Resilienzforschung für Schulung und Begleitung im Unternehmensund Personalbereich auf Führungs- wie Arbeitnehmerebene zu instrumentalisieren. Darin ist eine elitäre und exkludierende Tendenz impliziert, die konträr ist zu der ursprünglichen sozial-inkludierenden Tendenz der Resilienzforschung einerseits20 und ihrer Relevanz in der klinischen Phänomenologie andererseits.21 Diese neo-liberale Tendenz spiegelt sich zwar nicht notwendigerweise, aber möglicherweise auf subversive Art in den derzeit gängigen Resilienzfaktoren, die auffällig dominant als aktive Leistungsbegriffe konnotiert sind: Angemessene Selbst- und Fremdwahrnehmung, Kontrollfähigkeit, positive Selbstwirksamkeitserwartung, soziale Kompetenz (Konfliktlösung, adäquate Selbstbehauptung, Einholen von Unterstützung, Fähigkeit zu Selbstregulation und Steuerung), Fähigkeit zur Problemlösung, aktive Bewältigungskompetenzen in Anforderungs- und Krisensituationen (Stressbewältigung), Autonomie, Fähigkeit zur Annahme und konstruktiven Bearbeitung von Herausforderungen. Zwar wird die Wirksamkeit dieser Faktoren in den meisten Studien erstens vom Vorhandensein weiterer Faktoren externer Unterstützung abhängig gemacht, wozu v. a. soziale Faktoren wie Familie, stabiles soziales Umfeld bis hin zur Minimalressource einer einzigen relevanten weil zugewandten Person im weiteren Umfeld gehören; wichtig sind auch eine – wenn auch möglicherweise auf niedrigem Level – stabile sozioökonomische und soziopolitische Situation mit gesichertem Grundeinkommen, Wohnraum als Rückzugsraum, Zugang zu gesellschaftlich standardisierten Ressourcen wie Schule bzw. Berufsausübung, Sport und sonstige Freizeitaktivitäten; ebenso werden meist die begrifflich etwas dehnbareren Faktoren von Vertrauen, Kohärenz und Sinnstiftung in weltanschaulichen, religiösen und/oder spirituellen Gemeinschaften oder in ritueller Praxis mit berücksichtigt. Zweitens lässt sich das Verhältnis zwischen internen und externen Resilienzfaktoren mit vielen Studien alters- und situationsbedingt variabel definieren, weil die Frühförderung im Kindergartenalter unter den Bedingungen einer stabilen Kindheit anders auf die Entwicklung autonomer und vertrauensvoller Persönlichkeitsstrukturen setzen kann, als es in der Begleitung schwerkranker Kinder in Kliniken, in der Begleitung traumatisierter Erwachsener oder auf Palliativstationen der Fall ist. Dennoch bleibt in all dem der 20 Werner, E.E., Bierman, J.M., French, F.E.: The Children of Kauai. A Longitudinal Study from the Prenatal Period to Age Ten, Honolulu 1971. 21 Nina Hiebel u. a.: Resilience in Adult Health Science Revisited. A Narrative Review Synthesis of Process-Oriented Approaches, in: Frontiers in Psychology 12 (2021). In diesem Aufsatz aus unserer Forschungsgruppe ist ebenfalls eine sehr umfangreiche Literatursichtung enthalten.

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Bezug zwischen den individuell zugänglichen Resilienzfaktoren und ihren externen Bezugspunkten primär der Struktur subjektiver (Eigen-)Aktivität mit Akzentuierung der kognitiven und voluntativen Kontrollfähigkeiten verhaftet. Das hat zur Folge, dass die Resilienzfaktoren in ihrem Verhältnis zwar graduell und quantitativ unterschiedlich bestimmt werden können, es aber selten zu einer qualitativ anderen, nämlich weniger aktiven und weniger leistungsorientierten Bestimmung interner und externer Resilienzfaktoren kommt. Das ist der Grund, weshalb wir mithilfe der interdisziplinär-offenen hermeneutischen Methodik in unserer eigenen Zusammenstellung zentraler Resilienzfaktoren auch Aspekte wie die Integration von Negativität oder mediopassive bis passive Apperzeptionsund Reaktionsphasen mit aufgenommen haben, die der Analyse religiös-spiritueller Vorstellungen, Texttraditionen und ritualisierter Praktiken entstammen. Besonders zentral haben sich hierfür die Auslegung der Klagespalmen erwiesen, die Analyse von Kreuz und Auferstehung als Resilienznarrative, die spirituelle Praxis z. B. in Taizé ebenso wie die religionsphilosophischen Arbeiten Paul Tillichs, v. a. im »Mut zum Sein«. Von besonderer Bedeutung ist uns in all dem das Motiv des Ringens mit Destruktivität geworden, an dem sich die dynamische Prozessualität als innovative Ergänzung der gängigen Resilienzfaktoren erweist und exemplarisch den Gewinn unserer interdisziplinären Forschungsgruppe zeigt. Denn letztlich arbeiten wir gemeinsam an einer allgemeinen religions- und spiritualitätssensiblen Resilienztheorie zur Förderung einer entsprechenden Resilienzpraxis in Medizin und Therapie, Seelsorge und Spiritual Care. Das führt bei allen Disziplinen zur Notwendigkeit der Präzisierung und auch Infragestellung der eigenen Prämissen, Rezeptions- und Transformationsprozesse und der normativen Ansprüche. Auf diese Weise lässt sich ein Bogen spannen von den beiden allgemein anthropologischen Phänomenen der Empathie und der Achtsamkeit hin zu den für den Spiritualitätsdiskurs relevanten, theologischen Perspektiven der jüdisch-christlichen Tradition und deren Wirkungsgeschichte in ökumenische und spirituelle Praxistraditionen hinein, hin zur alltäglichen Arbeit von Caretakern aller Arten in medizinischen und psychotherapeutischen Praxen, Fachkliniken und diakonischen Handlungsfeldern. Die Theologie ist in dieser gesamten Forschung angefragt und herausgefordert. Vor diesem Hintergrund bin ich überzeugt davon, dass wir es uns zutrauen dürfen, für eine couragierte Theologie einzutreten: Also explizit einzutreten in den akademischen und gesellschaftlichen Diskurs – dazu möchte ich uns ermutigen, gratuliere der Evangelisch-Theologischen Fakultät noch einmal herzlich und bin sicher, dass uns die Fragen und Antworten auch in den nächsten 200 Jahren nicht ausgehen werden.

Wolfgang Eßbach

Was in der Moderne heilig sein kann. Historische Schichten europäischer Religionen*

Abstract By applying a historical-sociological analysis to the status of the subject »Return of Religion,« the author develops a typology of European religions in the modern era. Topics include the traditional confessions, but also reason, nationalism, art and science as religion, as well as elements of faith within modes of thinking and action. He explores their connections with the major historical events in modern Europe ranging from the wars of religion in early modern Europe to the twentieth century societal ecosystems increasingly shaped by technology and virtual reality – events that have always preoccupied intellectuals.

Warum befasst sich ein Soziologe mit Fragen, für die an Universitäten europäischen Stils ganze Fakultäten eingerichtet sind? Mit dieser Frage möchte ich meinen Vortrag beginnen (1). Dann werde ich den Grundriss für meine religionssoziologische Forschung skizzieren (2). Schließlich möchte ich meinen Vorschlag für eine Religionstypologie exemplarisch erläutern (2). Mein Dank gilt der Ev. Theologischen Fakultät der Universität Wien für die Einladung zu diesem Gastvortrag.

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Religion, soziologisch betrachtet

Es sind zwei Gründe, die einen Soziologen dazu bringen können, sich mit Fragen zu befassen, für die an Universitäten europäischen Stils ganze Fakultäten eingerichtet sind. Sie liegen auf verschiedenen Ebenen.

* Dieser Gastvortrag war als Sonderveranstaltung der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien im Jubiläumsjahr 2021 geplant; aufgrund der Corona-Pandemie musste er jedoch um ein Jahr auf den 30. 5. 2022 verschoben werden. Als substantieller Beitrag zum Thema des 200-JahrJubiläums wird er hiermit den Hauptvorträgen der zentralen Festtage hinzugefügt (Anm. d. Hg.).

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Wolfgang Eßbach

Ein Grund ist in der Geburtskonstellation meines Faches, der Soziologie, zu finden. Soziologie, d. h. die Wissenschaft von der Gesellschaft, entsteht als Antwort auf die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts, auf die Verwerfungen im Zusammenhang von Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, Demokratisierung, Individualisierung, um das einmal mit unseren geläufigen, etwas abgegriffenen Vokabeln zu sagen. Aber bei welchem unserer Klassiker wir auch nachschlagen, was sie als Modernisierungsprozesse – um noch so ein Allerweltswort zu gebrauchen – zu verstehen sich bemühten, das stand im Horizont der Auseinandersetzung mit Religion. Auguste Comte, dem wir den Namen unseres Faches verdanken, hat sich selbst als Stifter einer neuen Religion betätigt. Von Karl Marx, mit dem Gesellschaftswissenschaft in Deutschland zu einer ersten Hochform aufläuft, stammt die Maxime: »Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.«1 Émile Durkheim resümiert, »dass fast alle großen sozialen Institutionen aus der Religion geboren wurden. (…) Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist.«2 Wenn Georg Simmel über die sozialen Effekte sich ausbreitender Geldwirtschaft nachdenkt, so entdeckt er: »Allein in Wirklichkeit hat das Geld, als das absolute Mittel und dadurch als der Einheitspunkt unzähliger Zweckreihen, in seiner psychologischen Form bedeutsame Beziehungen gerade zu der Gottesvorstellung«.3 Und zu Max Webers zentralen Schriften gehören nicht zuletzt seine religionssoziologischen Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Der zweite Grund liegt auf der Hand. Das Thema ›Wiederkehr von Religion, Rückkehr von Religion‹, oft mit einem Fragezeichen versehen, ist fester Bestandteil der öffentlichen Debatte geworden. Für manche Zeitgenossen war der 11. September 2001 das Datum des Eintritts einer als vormodern eingestuften religiös motivierten Gewalt in die moderne Welt. Mein Interesse am Thema Religion geht auf meine Studienzeit zurück. Als junger Student im linksradikalen Sozialistischen Deutschen Studentenbund hatte ich Mitte der 1960er Jahre keinen Grund, an den Zeilen aus der Internationale, dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung zu zweifeln, die da lauten: »Es rettet uns kein höh’res Wesen,/kein Gott, kein Kaiser noch Tribun/Uns aus dem Elend zu erlösen/können wir nur selber tun!«. – Irritiert hat mich die enge Verbindung von Protest und Religion in der amerikanischen Linken. Für die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen war Religion und Politik ohnehin das Gleiche. 1 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1976, (378–391) 378. 2 Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1984, 561. 3 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe (GSG) Bd. 6, Frankfurt a.M. 1989, 305.

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Dann hatte sich am kalifornischen Küstenstreifen Big Sur ein Treffpunkt für Künstler, Gelehrte, Wissenschaftler und religiöse Lehrer entwickelt, die sich vorgenommen hatten, alle möglichen Ideen für die Transformation der Menschheit in Richtung einer synkretistischen Welt- und Lebenssauffassung zu entwickeln. In Big Sur entstanden das Human Potential Movement ebenso wie esoterische Weltanschauungen, die unter dem Label New Age beworben wurden, und der Ort wurde ein Treffpunkt für die Vernetzung der Counterculture, der Lebensgemeinschaften, die eine ideale Werteordnung ohne Hierarchie, Repression und Krieg verwirklichen wollten.4 Mich haben damals die Manifestationen dieser kalifornischen Szene neugierig gemacht. Wie konnte sozialer und politischer Protest und Beschwörung von Geistern oder kosmischen Mächten überhaupt zusammen gehen? Diese Neugier hing auch mit der Schwerpunktverlagerung meiner wissenschaftlichen Interessen zusammen. Bevor ich 1970 formell zur Soziologie wechselte, hatte ich eine germanistische Staatsexamensarbeit über triviale Science-Fiction Romane abgeschlossen und war ein Liebhaber surrealistischer Literatur geworden. Rückblickend gesehen, hat mir dies geholfen, das, was bei Marx ideologischer Überbau heißt, nicht bloß als ein verqueres, falsches Bewusstsein zu bestimmen, sondern zugleich als Resultat der menschlichen Phantasie in den Blick zu nehmen, als faszinierende Fähigkeit, Dinge und Geschehnisse zu imaginieren, die die bloße Realität überschreiten, eine Fähigkeit, von der eben Religionen zeugen. Allerdings war mein Interesse für religiöse Phantastik nicht recht in der Soziologie jener Tage unterzubringen. Mit Marx konnte ich schon ganz gut punkten, aber wer sich in Deutschland mit Religionsfragen in den späten 1960er und 1970er Jahren beschäftigen wollte, traf auf eine Religionssoziologie, die es mit der Realität eines historischen Einbruchs der Zahlen der Kirchenmitgliedschaft zu tun hatte. Die Institutionalisierung der Soziologie als empirische Fachdisziplin hatte in vielen westlichen Ländern zu einem vermehrten Interesse an der empirischen Erforschung kirchlicher Phänomene geführt. In der Religionssoziologie wurde faktisch eine Kirchensoziologie betrieben, in der das Verhalten von Kirchenmitgliedern, ihre Mitgliedschaftskriterien, ihr Gottesdienstbesuch, die Gebetshäufigkeit und anderes mehr erfragt, gezählt und mit Blick auf die soziale Lage untersucht wurde. Diese Forschung wurde in den Kirchen durchaus wertgeschätzt, aber sie führte in der Konsequenz zu einer schleichenden Gleichset-

4 In Deutschland gehörte Hubert Knoblauch zu den ersten Religionssoziologen, die sich an eine theoriegeleitete Erforschung von New Age machten. Hubert Knoblauch: Das unsichtbare neue Zeitalter. ›New Age‹, privatisierte Religion und kultisches Milieu, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989), 504–525.

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zung von Kirchlichkeit und Religiosität, d. h. zu einer Verengung eines allgemeinen Religionsbegriffs. Eine Diskussion über grundlegende gesellschaftstheoretische Fragen kam dann mit der breiten Marxrezeption in der Soziologie um 1970 in Gang und im Gegenzug mit der Wiederentdeckung Max Webers als einem bürgerlichen Gegenpart zum Neomarxismus. Allerdings bot die Lektüre von Max Webers Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus keine weiterführenden Anknüpfungspunkte für das Thema ›Wiederkehr von Religion‹, im Gegenteil, seine These, dass mit wachsendem Reichtum kapitalistischer Gesellschaften die Bedeutung der Religion sinke, stützte diejenigen, die für moderne Gesellschaften einen unaufhaltsamen Säkularisierungsprozess annahmen. Den initialen Schritt zur Aufhebung der Beschränkung des Religionsbegriffs auf kirchlich verfasste Religion verdanken wir dem 1927 im Königreich Jugoslawien, in Jesenice (heute Aßling im österreichisch Bezirk Osttirol) geborenen österreichisch-amerikanischen Soziologen Thomas Luckmann. Er studierte in Wien und Innsbruck Sprachwissenschaften, Kirchenslawisch, Ägyptologie, Philosophie, Psychologie und anderes mehr. 1950 ging er an die New School for Social Research in New York, 1953 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er wird dort Schüler des ebenfalls ausgewanderten, in Wien geborenen Landsmanns Alfred Schütz, einem der Begründer der phänomenologischen Soziologie. 1967 erschien in den USA The Invisible Religion.5 »Unsichtbare Religion« war eine Anspielung auf den in der Reformationszeit zirkulierenden Topos von der ecclesia invisibilis. Gegen die Säkularisierungsthese argumentierte Luckmann: Auch in modernen Gesellschaften habe Religion keineswegs ihre Funktion verloren. Funktionsverluste gäbe es allenfalls für die kirchliche Form der Religion, nicht aber für private Formen des Religiösen und deren neue Sozialformen. Luckmann griff den Grundgedanken seines Lehrers auf, dass alle Sinnkonstitution auf der Ablösung vom Strom eigener Erlebnisse beruht und nannte diese Ablösung »Transzendieren«. Es handelt sich um ein »Stehenbleiben und Nachdenken«, um eine Verbindung zu Nichtgegenwärtigem, zu Vergangenem oder Zukünftigem herstellen zu können, in jedem Fall ein Modus der Distanzierung von der Unmittelbarkeit ablaufenden Erlebens, wie es durch die Biologie unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten gegeben ist.6 Transzendieren ist in dieser anthropologischen Sicht nichts Besonderes. Es ermöglicht den Aufbau von Sinnsystemen, die »Typisierungen, Deutungsschemata und Verhaltensschemata auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit«

5 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991 (übersetzt und eingeleitet v. Hubert Knoblauch). 6 Luckmann: Unsichtbare Religion (s. Anm. 5), 81–86.

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kennen.7 Luckmann unterscheidet kleine, mittlere und große Transzendenzen, die gestuft und geordnet eine Bedeutungshierarchie ergeben, die Luckmann, den korrumpierten Terminus »Weltanschauung« vermeidend, eine »Weltansicht« nennt.8 Luckmann behauptet, »dass die Weltansicht als eine ›objektive‹ historische und gesellschaftliche Wirklichkeit eine elementare religiöse Funktion erfüllt. Sie lässt sich bestimmen als die grundlegende Sozialform der Religion, eine Sozialform, die in allen menschlichen Gesellschaften zu finden ist.«9 Man kann zurecht davon sprechen, dass mit The Invisible Religion der Grundstein gelegt wurde »für eine Revitalisierung eines weiten, umfassenden und im Kern funktional bestimmten Religionsbegriffs, der es erlaubte, die Vielzahl gegenwärtig zu beobachtender religiöser Phänomene unvoreingenommen zu erfassen und auf ihre Kulturbedeutung hin zu befragen«, so hat es der Religionssoziologie Winfried Gebhart formuliert.10 Ich habe von Luckmann viel gelernt und hatte auch durch meinen Göttinger Lehrer Hans Paul Bahrdt einen Zugang zur Phänomenologie gefunden. Allerdings schien mir die Unterscheidung zwischen einem privaten religiösen ›Individualismus‹ auf der einen und die schwächere oder stärkere Bindung an eine der christlichen Kirchen auf der anderen Seite schon vom Ansatz her für eine Religionssoziologie zu unterkomplex, weil sie dem Reichtum religiöser Ambitionen in Europa nicht gerecht wird. Blockierend wirkten die beiden Extreme, entweder den Religionsbegriff für die Gestaltungen des Christentums und der approbierten Weltreligionen zu reservieren oder den Religionsbegriff für eine ungeordnete Vielheit von Erscheinungen freizugeben, sofern man etwas ausmachen konnte, das wie eine Religion funktionierte.

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Theoretischer Grundriss

Für meine Arbeit wählte ich, der phänomenologischen Soziologie folgend, als allgemeinen elementaren Ausgangspunkt: Menschen machen Erfahrungen, legen sie sich zurecht, sortieren sie nach Schemata vergangener Erfahrung und der Erwartung einer Zukunft, bewerten sie als wichtig oder unwichtig, tauschen sie miteinander im Zwischenreich des Dialogs aus und motivieren und legitimieren so ihr Tun oder Unterlassen. Über Erfahrungen, die verschwiegen werden, können wir nichts sagen, für Soziologen geht es immer um sozial ausgetauschte Erfahrungen. 7 8 9 10

Luckmann: Unsichtbare Religion (s. Anm. 5), 92. Luckmann: Unsichtbare Religion (s. Anm. 5), 94–95. Luckmann: Unsichtbare Religion (s. Anm. 5), 89–90. Winfried Gebhardt: Religionssoziologie als Allgemeine Soziologie, in: Sociologia Internationalis (SOCINT) 56 (2018), (157–165) 163.

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Handelt es sich um Erfahrungen, die sich im jeweiligen Horizont des Üblichen, des schon mal Dagewesenen bewegen, dann finden sich leicht brauchbare Schemata der Interpretation des Geschehens. Man weiß dann, was los ist: Ein Mensch wird geboren, die Ernte ist reif geworden, es drohen Konflikte mit Nachbarn. Sich wiederholende Erfahrungen sind auch die Krankheit nahestehender Menschen, das Glück über einen Karrieresprung. Das sind Ereignisse, die im Guten wie im Schlechten erfreuen oder betroffen machen. Ich nenne dies episodische Erfahrungen. Kinder und Jugendliche machen irgendwann derartige Erfahrungen und erwerben in der Sozialisation Typisierungen und Schemata, die es erlauben, derartiges im späteren Leben wiederzuerkennen. Religion spielt in den Schemata der Deutung episodischer Erfahrungen eine wichtige Rolle. Weite Partien der praktischen Theologie und der kirchlichen Seelsorge sind darauf gerichtet. Der Soziologe Niklas Luhmann sah in der Religion eine spezifische Form der Kontingenzbewältigung. Dann gibt es aber auch Geschehnisse, für die sich nur sehr schwer passende Schemata aus vergangener Erfahrung finden lassen. Irgendwie entsteht der Eindruck von etwas Neuem, nicht recht Einzuordnendem. Wenn solche Geschehnisse andauern, entsteht Unruhe und Ratlosigkeit und damit ein vermehrter Diskussionsbedarf. Diese Erfahrungen sind nicht episodisch, sondern epochal. Es sind dies Zeiterfahrungen, die über mehrere Generationen Thema bleiben. Mein Hauptaugenmerk hat sich auf die Rolle der Religion im Zusammenhang ratlos machender, epochaler Zeiterfahrungen gerichtet. Wo Ratlosigkeit herrscht, wo geglaubte Gewissheit ins Wanken gerät, kommt es in vermehrtem Maße zu einer Wiederkehr, nicht unbedingt der Religion, aber des Themas Religion. »Soziologie der Ratlosigkeit« war der interne Untertitel meiner religionssoziologischen Bemühungen. Bei meiner Modellvorstellung von epochaler Zeiterfahrung standen der Philosoph Bernhard Waldenfels und der Historiker Reinhart Koselleck Pate. Im Unterschied zu Luckmann, der den Akzent auf die sichernde Deutung von Erlebnissen und Erfahrungen gelegt hat, fand ich in der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels eine andere Akzentuierung. Waldenfels zeigt in seinem Buch Bruchlinien der Erfahrung, dass Erfahrung auch noch etwas anderes bedeuten kann als ein gesicherter Boden, etwas, worauf wir uns verlassen, wenn wir Sätze bilden wie ›Die Erfahrung lehrt, dass …‹ oder ›Es ist empirisch gesichert, dass …‹. Erfahrung kann eben auch ein Widerfahrnis sein, eine Berührung, ein Getroffensein, das eingeordnet werden will, das Antworten und schließlich auch technische Eingriffe herausfordert.11 11 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M. 2002.

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In historischer Hinsicht waren für mich die metahistorischen Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont orientierend, die Reinhart Koselleck in seiner Schrift Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten entwickelt hatte.12 Bei Koselleck ist Erfahrung »gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können.« Erwartung ist »vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das Noch-Nicht«.13 Diese Perspektive hat mir geholfen, den phänomenologischen Universalismus Luckmanns zu überwinden. Denn epochale Zeiterfahrungen sind von solch unterschiedlicher Art, dass sie mit Verweis auf die conditio humana kaum zu spezifizieren sind. Sie sind nicht schlicht allgemein existentiell, sondern haften an thematisch sehr verschiedenen Erfahrungen, die mit der historischen Genese unserer Welt gemacht wurden. Wenn angesichts ratlos machender epochaler Zeiterfahrungen ein vermehrter Diskussionsbedarf entsteht, so sind Diskurse von Intellektuellen eine ideale Quelle. Dabei bin ich nicht geizig, was die Bezeichnung Intellektueller betrifft. Intellektuelle, das sind für mich Leute, die hauptberuflich, nebenberuflich oder gelegentlich geistige, d. h. immaterielle Arbeit ausführen und die sich für die Resultate ihrer Arbeit, d. h. für Schriften und Werke ein Publikum suchen. Intellektuelle sind meine Gewährsleute, nicht nur weil sie meist belesen sind, sich differenziert artikulieren können und mehr Zeit haben, sich den Kopf zu zerbrechen, wenn epochale Zeiterfahrungen schwer zu deuten sind, sondern auch weil Intellektuelle sehr oft zu dem neigen, was Max Weber »Intellektuellenreligiosität« genannt hat. Damit meint er »den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können.«14 Bei meiner Beobachtung der Kommunikationen von Intellektuellen sind Selbstaussagen über die eigene Religiosität der Intellektuellen nicht minder relevant als Fremdaussagen über die gegebene oder auch vermutete Religion der anderen. Religionsdeutungen sind für mich ebenso wichtig wie Religionskritiken. Ich habe auch nie verstanden, wie man echte Religionen von unechten mit wissenschaftlichen Mitteln unterscheiden könnte. Wohl aber ist es ein Tatbestand, dass in heutigen wie in historischen Gesellschaften Phänomene als Religion oder als etwas Religiöses gehandelt oder mit Worten charakterisiert werden, die im semantischen Feld von Religion liegen: heilig, transzendent, göttlich, die 12 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1970. 13 Koselleck: Vergangene Zukunft (s. Anm. 12), 354–355. 14 Max Weber: Religiöse Gemeinschaften, in: Hans G. Kippenberg (Hg.): Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe (MWS I/22–2), Tübingen 2005, 69.

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letzte Instanz, die wahre Weltanschauung, das Unbedingte, das Unverfügbare, das Absolute und wie die 1000 Namen Gottes, der Götter und des Göttlichen auch heißen. Ich bevorzuge einen weiten Religionsbegriff: Religion ist, was Menschen heilig sein kann. Nun geht es mir um die Spezifizierung: Was Menschen in der Moderne heilig sein kann. Einem Soziologen fallen dazu vier sehr verschiedene epochale Zeiterfahrungen ein, die mit der Genese von Strukturelementen der europäischen Moderne und Veränderungen im Bereich der Religiosität zusammenhängen. Zunächst ist der Transformationsprozess der europäischen Herrschaftsformen von personaler Gewalt zu territorialer Staatsgewalt zu nennen. Es entsteht für die europäische Moderne ein bis heute bleibendes Strukturelement: der Flächenstaat mit staatlichem Gewaltmonopol. Und dieser Prozess ist gewaltförmig. Der moderne Territorialstaat bildet sich in Kriegen, und diese Staatenbildungskriege sind zugleich Glaubenskriege. Mit der Französischen Revolution kommt ein zweites Strukturelement unserer Moderne hinzu: die Veränderbarkeit des politischen Systems nach Maßgabe von Werten und Idealen, für die sich Menschen begeistern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte und Demokratie. Diese Ideale sind so beschaffen, dass ein Ende der Versuche, sie zu verwirklichen, bis heute nicht abzusehen ist. Mit der Entfesselung der Marktgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt ein drittes Strukturelement unserer Moderne hinzu: Es werden nicht mehr nur Güter auf Märkten gehandelt, sondern die menschliche Arbeit, der Boden und das Geld selbst werden mit der Aufhebung der Beschränkungen der Gewerbefreiheit zu Waren. Es entsteht auch ein Religionsmarkt der Alternativen, etwas zu seiner heiligen Sache zu machen, um Anhänger werben, – ein Religionsmarkt, auf dem der Glaube an die Wissenschaft als einer letzten Instanz eine beherrschende Stellung beansprucht. Mit der Artifizierung der menschlichen Lebenswelt kommt ein viertes Strukturelement unserer Moderne hinzu: die unaufhaltsame Vermehrung von Artefakten, die durchdringende Technisierung und Ästhetisierung der Umwelten, in denen Menschen existieren. Ron Milo vom Weizmann-Institut in Jerusalem berichtete im Dezember 2020 im Fachjournal Nature, dass die Masse der von Menschen hergestellten und gebauten Dinge einer Schätzung zufolge 2020 erstmals die Masse aller Lebewesen der Erde übertreffen könnte. Seine Forschergruppe hatte herausgefunden, dass die Masse von Menschenhand hergestellter Objekte sich in den vergangenen 100 Jahren alle 20 Jahre verdoppelt habe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug sie demnach nur etwa drei Prozent der Biomasse.15 15 Emily Elhacham u. a.: Global human-made mass exceeds all living biomass, in: Nature 588

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Diese vier Strukturelemente unserer Moderne: Flächenstaat mit staatlichem Gewaltmonopol, Veränderbarkeit des politischen Systems nach Maßgabe von Werten und Idealen, Entfesselung der Marktgesellschaft, Artifizierung der Lebenswelt sind bis heute gleichzeitig konstitutiv für das, was man Moderne nennt. Sie sind aber nicht gleichzeitig entstanden, sie haben einen historischen Ort, an dem sie erstmals erfahren und von Intellektuellen interpretiert wurden. Bis heute sind Flächenstaat mit staatlichem Gewaltmonopol (sog. »Paria«-Staaten in Afrika, Sezessionsversuche wie in Katalonien, Russlands Krieg gegen die Ukraine), Revolution (arabischer Frühling, Maidan), Marktgesellschaft (Gewinner und Verlierer der Globalisierung) und artifizielle Lebenswelt (Infrastrukurierung der Erdkruste, Megastädte, Klimawandel und die Vermüllung der Umwelt sowie der Wille, die Welt mit einer Kunsthaut aus Design zu verkleiden) Themen, die uns beschäftigen. Es ist dies keine Fortschrittsgeschichte, bei der neue Formen die alten überwinden. Die epochalen Erfahrungen gehen auch nicht verloren. Sie waren Anlass für Religionsdeutungen, für Weisen der Religionskritik und für Sozialformen der Religiosität, die tradiert wurden. Der heutige Pluralismus einer Vielzahl von dem, was Menschen heilig sein kann, ist Resultat einer historischen Schichtung, bei dem keine Religionsform einfach verschwindet. Ein Mittel, solche unübersichtlichen Prozesse zu untersuchen, ist die Bildung von Idealtypen. Dazu habe ich einen Vorschlag erarbeitet, bei dem epochale Zeiterfahrungen und Veränderungen im religiösen Feld gemeinsam in den Blick genommen werden.

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Vorschlag zu einer Religionstypologie

Welche neuen Religionstypen können für die europäische Moderne profiliert werden? Die Zeit wird nicht reichen, alle Religionstypen hier vorzustellen. Ich konzentriere mich auf den Komplex: Staatenbildung, Konfession und vernünftige Religion.16 Wenn man sich dem Transformationsprozess der europäischen Herrschaftsformen von personaler Gewalt zu territorialer Staatsgewalt zuwendet, so ist zunächst zu konstatieren: Die vormoderne Welt kennt keine Staaten, sondern Grundherrschaften und Stadtherrschaften, die durch Schutz- und Treueversprechen miteinander verbunden sind und sich in den Modi der Clanbildung und Eroberung zu Imperien fügen. Für das vormoderne Christentum passt der Begriff (2020), 442–444, online: https://www.nature.com/articles/s41586-020-3010-5 (letzter Abruf 5. 6. 2022). 16 Ausführlich dazu Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, 33–316.

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Christentümer, den ich mir von Christoph Markschies ausleihe, genauer. Die Kirchen waren in gewisser Weise gleichgütig gegen den Raum. Sie existierten allein als sedes, als punktuelle Plätze, an denen sich der Heilige Geist im Bischofssitz niederlässt, meist dort, wo dieser Platz durch das Grab eines Märtyrers oder seiner Reliquien dem Himmel nahe ist.17 Der Anspruch des Reformpapsttums, jederzeit Bischöfe ernennen oder absetzen, Klöster einrichten oder schließen zu können, der das gängige Bild des mittelalterlichen Katholizismus geprägt hat, ließ sich freilich nicht glatt umsetzen und musste an die unterschiedlichen Regionen angepasst werden.18 Man war gezwungen, Konkordate mit den Herrschern zu schließen. Bei der vergleichsweise geringen sozialen Verflechtung und Verdichtung der Individuen in der mittelalterlichen Welt war eine räumlich weitreichende effektive hierarchische Kontrolle von oben ohnehin schwierig. Eher schon bestand Kirche zum großen Teil aus unterschiedlichen »Gruppenreligionen«, wie sie Otto G. Oexle genannt hat, die sich in einem Glauben und in Riten vereinigten, ohne dass sie dabei von oben angeleitet, diszipliniert oder häretisiert worden wären.19 Zentral für die vormodernen Christentümer ist die Parallelität der Kirche und der Selbstorganisation religiöser Bewegungen in Ordensgemeinschaften, die mit ihren religiösen Innovationen teils in die Berge vertrieben oder ausgelöscht oder aber als Mönchsorden legitimiert wurden. Die Frage, die alle religiösen Bewegungen jener Zeit bewegt hat, lautete: Finden wir eine Herrschaft, unter der wir unseren Glauben bekennen und leben können? Die Reformationszeit stellt hier eine Wegscheide dar. Einzelne Landesherren weigern sich, die evangelischen Häresien zu verfolgen. Dem katholischen Kaiser gelingt es nicht, die protestantischen Fürsten und Städte zu besiegen. In Europa entstehen die modernen Flächenstaaten als katholische und als protestantische Konfessionsstaaten. In der kriegerischen Genese territorialer Staatsgewalt erhält das Christentum eine neue Form, seine moderne Form. Es entsteht ein neuer Typus von Religion, den Spätantike und Mittelalter nicht gekannt haben, den ich Bekenntnisreligion nenne. Ihre soziale Form beruht auf scharf betonten Unterschieden in Dogmatik und Kultus. Dazu gehören: die Beseitigung dogmatisch offener Glaubensfragen, die Ausgrenzung von Mischreligionen, die sprachliche Normierung der Glau17 Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart/Köln 1961, 137. 18 Zur regionalen Durchsetzung des universellen Führungsanspruchs des Reformpapsttums siehe Jochen Johrendt/Harald Müller: Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin 2008. 19 Zum Typus von »Gruppenreligionen« siehe Otto G. Oexle: Gruppen in der Gesellschaft. Das wissenschaftliche Oeuvre von Karl Schmid, in: Frühmittelalterliche Studien 28 (1994), 410– 423.

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bensinhalte in einem Verbalbekenntnis, die Präzisierung von Kirchennamen der evangelischen Bewegung wie »lutherisch« und »reformiert«, die Ausbildung von Riten, mit deren Hilfe Konfessionen unterscheidbar werden, die Entwicklung konfessioneller Propaganda, die Entfernung von Dissidenten, die Ausrichtung von Bildungsinstitutionen auf die jeweilige Konfession und die martyriologische Verschärfung des Bekenntnisses als eines Ernstfalls für den Glauben. Die epochale traumatische Erfahrung der zweihundertjährigen quer durch Europa aufbrechenden Glaubenskriege ist die Urszene der modernen europäischen Religionsdynamik. An diesem Geschehen kam kaum ein glaubender und kein denkender Mensch vorbei, schon gar nicht die Intellektuellen. Entweder waren sie darauf aus, das Profil ihrer Bekenntnisreligion zu schärfen, oder sie machten sich auf den Weg, eine weitere neue Religion zu stiften, die für Religionsfrieden und Religionsfreiheit eine sichere Grundlage bieten kann. Dies gelang mit der Aufklärung und der Stiftung von Rationalreligion. So nenne ich meinen zweiten Religionstypus im Anschluss an eine Schrift von Theodor Ludwig Lau aus dem Jahre 1719, in der er die religio rationalis als die Form der vernünftigen Erkenntnis Gottes, die allen Menschen gemeinsam ist, verteidigt.20 Dieser Religionstypus hat nicht einen einzelnen Stifter, sondern es ist eine Mehrgenerationenstiftung. Zu diesem variantenreichen Typus rechne ich die weitverzweigten Netze des Sozianismus und des Spiritualismus, auch der Tradition des Spiritualismus der Natur, den englischen Deismus, den wichtigen jüdischen Beitrag der Lehre von der noachidischen Religion und auch jene Glaubenslehren, die in der Botschaft Jesu eine vernünftige Religion wiedererkennen oder die Aussagen der Bibel nur dort als göttliche Gesetze anerkennen, wo gesunde Vernunft sie bestätigt. Die Lehre der neuen Religion lässt sich so zusammenfassen: Ein allmächtiger und gütiger Schöpfergott hat den Menschen das Licht der Vernunft geschenkt. Daher haben alle Menschen eine natürliche Religion, ein nicht aus der Evolution, sondern durch Gottes Schöpfungsakt begründetes lumen naturale. Derselbe Gott fordert von jedem einzelnen Menschen ein unvertretbares Heilsstreben, das der Freiheit seines Gewissens und seiner Religiosität überlassen bleiben muss. Dies ist kein säkulares Verblassen von Religion, sondern eine neue, starke, vernünftige Religion, zu der Juden, Christen und Moslems konvertieren konnten, wenn sie die kriegstreibenden Spitzfindigkeiten der Priester satthatten. Im Vergleich zu den hochkomplexen Dogmatiken, die sich in den Religionskriegen gegenüberstanden, war die Lehre von der Offenbarung Gottes durch 20 Theodor Ludwig Lau: Meditationes, Theses, Dubia philosophico-theologica [1719], in: Martin Pott (Hg.): Theodor Ludwig Lau Dokumente [1670–1740] (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung I,1), mit einer Einleitung hg. v. Martin Pott, Stuttgart/Bad Cannstatt 1992, 44, 133. Zur Interpretation siehe Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010, 17–20.

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natürliche Vernunft einfach. Und diese Simplizität der Lehre war ein wesentliches Moment, das ihren Erfolg begründete. Von primärer Bedeutung ist dabei die Praxis der Diskursverknappung bei Aussagen über Gott. Der alltägliche und der philosophische Skeptizismus, der die Periode der Aufklärung begleitet, gehört ebenso hierher wie die Erinnerung Pierre Bayles an den Arzt Guy Patin, der sein Glaubensbekenntnis nicht mit vielen Glaubensartikeln befrachtet: »Credo in Deum Christum Crucifixum, etc. De minimis non curat praetor; ich glaube an Gott, den gekreuzigten Christus, etc., um Kleinkram kümmert sich der Prätor nicht.«21 Nach John Locke lässt sich das ganze Christentum auf den einen Glaubenssatz reduzieren »Jesus von Nazareth ist der Messias, dem Glaube und Buße entgegengebracht werden müssen.«22 Mehr nicht. Alles, was mehr gesagt wird, ist von Übel. Im Streit um die Aufklärung haben die keine guten Argumente, die in ihr nur die Vorboten für den Atheismus und Szientismus des 19. Jahrhunderts sehen. Der religiöse Charakter der Aufklärung wird freilich erst deutlich, wenn man denn anerkennt, dass ein religiöser Minimalismus, der die religionsgeschichtlich angefallenen Ausstattungen abräumt, eine eigene religiöse Intensität entfalten kann, die nicht nur den Weg für eine undogmatische Naturforschung gebahnt hat, sondern die sich vor allem für Glaubenskriege kriegsuntauglich gemacht hat. Rationalreligion ist auch keine Vorstufe zum Abfall vom Glauben, wie dies Karl Barth gegen Emil Brunner behauptet hat. Barth wirft den neuprotestantischen Richtungen, die eine Vermittlung von Glauben und moderner Welt anstrebten, vor, die »Reduktion der Lehre des Christentums auf den Bestand der Lehre einer sogenannten natürlichen oder vernünftigen Religion« befördert zu haben.23 Der theologische Extremismus Karl Barths übergeht dabei die nicht minder intensive Gläubigkeit der Anhänger der Rationalreligion. Das ganze Pathos der Rationalität haftet ja gerade daran, dass sie ein Gottesgeschenk ist. Ebenso ist der Kosmos nur deshalb rational begreifbar, weil er Gottes Schöpfung ist. Die neuen Religionen der europäischen Moderne vom Typus Bekenntnisreligion und von Typus Rationalreligion beziehen sich auf die gemeinsame epochale Erfahrung der Glaubenskriege als Staatsbildungskriege. Sie sind und bleiben an bestimmte Themen gebunden: Institutionelle Sicherung der Glau21 Pierre Bayle zit. n. Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002, 215. 22 Walter Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung – Blütezeit – Ausklang, Zürich/Leipzig, 85. 23 Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon/Zürich 1952, 80. Siehe auch Emil Brunner: Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen 1934; Karl Barth: Nein! Antwort an Emil Brunner, München 1934.

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benswahrheit auf der einen Seite und Religionsfreiheit und Religionsfrieden auf der anderen Seite. Es geht um miteinander verflochtene Fragen: Wie kann ich als Bekenner der Glaubenswahrheit einen Herrscher finden, der mich schützt, und vice versa: Wie kann ich als Herrscher in meinem Staatsgebiet meine Untertanen zu fleißigen gleichgläubigen Untertanen machen? Wie kann der Glaubenskrieg zwischen den Konfessionsstaaten und der Aufruhr in ihnen durch eine neue Religion oder eine neue Auffassung von Religion beendet werden? Die zweite epochale Erfahrung, in der das Thema Religion wiederkehrt, ist die Erfahrung der Revolution, sie bezieht sich auf das Strukturmerkmal der Veränderbarkeit des politischen Systems nach Maßgabe von Werten und Idealen. Dazu nur kurz: In der Zeit von 1789–1848 ist die sich wiederholende Revolution die beherrschende Zeiterfahrung in Europa, egal ob Intellektuelle dafür sind oder dagegen. Die Erfahrung, die in den intensiven Momenten revolutionären Geschehens hervorsticht, ist die des revolutionären Enthusiasmus. Es ist, als ob die Menschen aus einem Schlaf erwachen. Die Revolutionäre wachsen gleichsam über sich hinaus, die Monster der Vergangenheit fallen der Gewalt zum Opfer, ein Jubel erfüllt die Straßen. Von außen sieht es wie ein Größenwahn aus, aber in der Erfahrung des revolutionären Moments fühlen sich die Menschen in ihrer Begeisterung wie von einer göttlichen Macht ergriffen. Enthusiasten nennt man seit der Antike von göttlichen Mächten Besessene, von Gott erfüllte, Gotttrunkene. Die Erfahrung des revolutionären Enthusiasmus ist der Ursprung zweier neuer Religionstypen: der Kunstreligion und der Nationalreligion.24 Die Entfesselung der Marktgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet ein drittes Strukturelement der Moderne. Sie ist der Motor der sogenannten ›Industriellen Revolution‹. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren Arbeit, Boden und Geld nur beschränkt marktfähig. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich die Marktdoktrin durch, Arbeit, Boden und Geld sind auf Märkten zu kaufen. Das entfesselte Marktsystem ist eine Realität zweiter Ordnung, die sich von ihren Grundlagen: Unersetzbarkeit der eigenen Lebenssubstanz, Begrenztheit der Erde und Unwiederholbarkeit der Zeit losgelöst hat.25 Man musste schon sehr blind sein, wenn man nicht sehen wollte, wie alle sozialen Beziehungen in den Strudel der ökonomischen Rationalität gezogen wurden, wie auch die ehrwürdigsten Güter der Gesellschaft und der Kultur plötzlich einen Preis bekamen, verkäuflich und käuflich wurden. Mit diesen Erfahrungen sind sowohl Anhänger von Bekenntnis- als auch Rationalreligion, sowohl von Kunst- als auch Nationalreligion konfrontiert worden. Aber die Entfesselung des Marktes ist kein Krieg, und sie ist keine enthusiastische 24 Ausführlich dazu Eßbach: Religionssoziologie 1 (s. Anm. 16), 379–751. 25 Karl Polanyi: The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978.

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Revolution. Den neuen Typus von Religion, der zusammen mit der Marktgesellschaft auf den Plan tritt, nenne ich Wissenschaftsreligion. Die Suprematie über die geistige Welt beansprucht der Szientismus, die positivistische Kirche, die säkularistischen Weltanschauungs-Vereine, für die die Wissenschaft – wie Rudolf Virchow sagte – zur Religion geworden ist.26 Mit dem neuen Wissenschaftsglauben verändert sich die Balance von Glauben und Wissen, die sowohl in den Bekenntnisreligionen als auch in der Rationalreligion auf unterschiedliche Weise hergestellt war. Glauben und Wissen koexistieren nicht mehr als zwei Hälften der Wahrheit. Wissen steht jetzt gegen Glauben. Je mehr Wissen es gibt, desto weniger Religion. In diesem Erfahrungshorizont, in dem die Individuen, die vom Marktgeschehen abhängig sind, gut informiert sein müssen, d. h. auf belastbare Informationen über die Wirklichkeit angewiesen sind, weil sie sonst Verluste machen, – in diesem Erfahrungshorizont ist die Säkularisierungsthese verankert. Die Wissenschaft gerät mehr und mehr in die Position einer letzten Instanz, wenn es um Wahrheit geht. Hinzu kommt: Den Titel einer Wissenschaft sollten nur solche Bemühungen erhalten, deren Vertreter bereit waren, von der Voraussetzung eines auf dem Wege der naturwissenschaftlichen Methode ergründbaren, einheitlichen, naturgesetzlichen Zusammenhangs von physikalischen, chemischen, biologischen, sozialen, kognitiven, ästhetischen und ethischen Prozessen auszugehen. Damit war zugleich ein Totalanspruch begründet, ein neuer Typus von Religiosität, der sich von Bekenntnisreligion, Rationalreligion sowie Kunst- und Nationalreligion grundlegend unterschied. Was sich in der postrevolutionären Situation der europäischen Gesellschaften ausbildet, ist ein Konkurrenzfeld unterschiedlicher Religionstypen, ein veritabler Religionsmarkt, den zu sortieren, für die Intellektuellen nicht einfach gewesen ist. Welchen Prozessen lohnt sich nachzugehen? Ein Stichwort lautet: Rekonfessionalisierung. Sie ist zuerst eine Folge der Enttäuschung des revolutionären Enthusiasmus. Der Katholizismus erlebt einen beachtlichen Aufschwung, nachdem sich Pius IX. der Erwartung der Revolutionäre entzogen hat, den Katholizismus zur italienischen Nationalreligion zu machen. Die Ultramontanen sind antiliberal, aber sie reorganisieren die Kirche zu einer modernen, rational bürokratisierten Organisation, die nichts mehr mit der alten Adelskirche gemein hat. Der Protestantismus verkirchlicht sich wieder, und er adaptiert kunstreligiöse und nationalreligiöse Glaubensinhalte. Goethes Maximen und Reflexionen werden in Predigten integriert und Luther wird deutscher Nationalheld. Im Gegenzug zur Verkirchlichung treten, den Spuren Kierkegaards folgend, an den 26 Ausführlich dazu Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 2. Entfesselter Markt und Artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2019, 137–407.

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ausfransenden Rändern protestantischer Kirchlichkeit Theologen auf, die um Anhänger für ihr eigensinniges Christentum werben: Moritz von Egidy, Johannes Müller Albert, Kalthoff und Arthur Bonus. Insgesamt kann man sagen, dass die Rekonfesssionalisierung wesentlich mit zur Etablierung eines verengten Religionsbegriffs beigetragen hat, dem dann das Säkulare als massiver Gegenbegriff zugeordnet wurde. Ein anderes Stichwort lautet: Weltanschauung als ein Oberbegriff für Angebote auf dem Religionsmarkt. Positivisten, Säkularisten, Freidenker reklamieren für sich eine wissenschaftliche Weltanschauung. Der protestantische Theologe Alfred Ritschl nennt den christlichen Glauben eine »religiöse Weltanschauung«.27 Weltanschauung kann auch als persönliche Weltanschauung individualisiert werden. Wiederkehrendes Merkmal der persönlichen Weltanschauung ist das Streben nach einer Synthese. Dazu zitiere ich gerne den Titel der Schrift von Theodor Walther: Heilige Gluten auf dem Altar des deutschen Hauses, entzündet an den alten Volksreligionen, dem germanischen Seelenglauben und dem Urchristentum, neu angefacht an der Entwicklungstheorie zu einer wahren Volksreligion und einer vernünftigen Weltanschauung (Leipzig 1915). Das Buch Heilige Gluten wurde im »Theologischen Literaturblatt« rezensiert. Der Rezensent kommt zu dem Schluss: »Die Sprache des Buchs ist edel und zeugt von religiöser Überzeugung; schade, dass sie sich in die spiritistischen Abgründe verirrt hat.«28 Auf die epochalen Zeiterfahrungen mit ihren Neubildungen von Religionstypen: Staatenbildungskriege mit Bekenntnisreligion und Rationalreligion, Revolution und enthusiastische Sakralisierung von Kunst oder Nation, Marktgesellschaft, Religionsmarkt und Wissenschaftsreligion können wir relativ sicher zurückblicken und ihre Linien bis in unsere Gegenwart verfolgen. Denn alle modernen europäischen Religionen, die ihre stabilisierte Kernstruktur in früheren epochalen Zeiterfahrungen gebildet haben, sind bis heute präsent, und ihre Anhänger suchen nach religiösen Antworten auf die Probleme, die die umfassende Artifizierung der Lebenswelt Gesellschaften aufgibt. Aber welche Wege gibt es für die Intellektuellen, die keiner christlichen Konfession angehören, die weder an die Vernunft noch die Kunst, weder an die Nation noch an die Wissenschaft als Höchstwert glauben und die dennoch an einer religiösen Orientierung interessiert sind, die mit der epochalen Zeiterfahrung einer immer umfassenderen Artifizierung des Planeten, mit den ratlos machenden Folgen bis hin zum Artensterben und dem Klimawandel korre-

27 Alfred Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3. Bd.: Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 1895, 190 u. 581. 28 Hans Hoppe: Rezension von »Theodor Walther. Heilige Gluten«, in: Theologisches Literaturblatt 1916, 179.

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spondiert? Kurz gefragt: Welche Wege werden sie erproben, wenn sie diese Welt transzendieren wollen? Vielleicht kann man zwei Suchbewegungen identifizieren: Entweder folgen die Suchenden dem Pfad einer Transzendierung ins Übertechnische oder ins Vortechnische. Man könnte auch sagen, sie fahnden im Prähistoire, d. h. in einer Welt vor den technologischen Revolutionen, und sie fahnden im Posthistorie, d. h. in Weltenwürfen und Imaginationen vollendeter Artifizierung. Es gibt auch noch andere Pfade. Zum Abschluss möchte ich nur ein stückweit auf den Pfad ins Vortechnische, ins Prähistoire eingehen.29 Um 1900 setzt ein vermehrtes Interesse von Intellektuellen und Künstlern an den Glaubenspraktiken der schriftlosen Völker außerhalb Europas ein. Warum ausgerechnet die schriftlosen Völker? Um 1900 bewegten sich die religiösen Orientierungen von Intellektuellen in der Alternative Christentum oder Säkularismus. Man war entweder gebunden an eine konfessionelle Auslegung der Bibel oder gebunden an die Wissenschaft, dazwischen gab es andere Höchstwerte wie z. B. die Heiligkeit der Nation oder ein philosophischer Glaube, wobei Kombinationen durchaus möglich waren. Gemeinsam war allen diesen religiösen Orientierungen, dass Texte eine zentrale Rolle spielten. Es ging um schriftlich fixierte Aussagen über Gott, das Absolute, die wahre Weltanschauung usw. Die Glaubenspraktiken der schriftlosen Völker außerhalb Europas hatten keine Texte, und dies war eine bislang in Europa unbeachtete und unerschlossene Quelle für Religiosität. Die einfachen kleinen indigenen Völker boten für europäische Intellektuelle dazu ein ideales Gegenbild zur technischen Hochzivilisation. Erschließungsarbeit leisteten die um 1900 entstehenden Religionswissenschaften. Sie waren in einer schwierigen Lage: sie wollten keine Theologen sein, und sie konnten sich auch nicht den Säkularisten anschließen, die alle Religion für Humbug hielten. Also wichen sie aus. Entweder machten sie außereuropäische Weltreligionen zu ihrem Thema oder sie machten sich auf die Suche nach dem Ursprung der Religion in der Frühgeschichte oder bei den »Naturvölkern«, so genannt, weil sie im Unterschied zu sogenannten »Kulturvölkern« keine Schrift besaßen. Wie sehr die Kunst der Indigenen dem Interesse der europäischen Avantgarde entgegenkam, zeigt Carl Einsteins berühmte Studie Negerplastik.30 Bei dieser Kunst handelt es sich Einstein zufolge um eine artifizielle Wirklichkeit transzendenter Qualität, die nicht malerische Fläche ist, die beschaut werden kann, sondern eine räumliche Qualität hat, die soziale Pflichten evoziert. »Das europäische Kunstwerk wurde geradezu die Metapher der Wirkung, die den Be29 Ausführlich dazu Eßbach: Religionssoziologie 2 (s. Anm. 26), 989–1121. 30 Carl Einstein: Negerplastik [1915], Berlin 1992.

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schauer zu lässiger Freiheit herausfordert. Das religiöse Negerkunstwerk ist kategorisch und besitzt ein prägnantes Sein, das jede Einschränkung ausschließt.«31 Die Suche, der Erfahrung technisierter Moderne mit indigener Religiosität zu begegnen, ist nicht auf Europa beschränkt gewesen. Oswald de Andrade, Mitbegründer des brasilianischen Modernismo und der kulturrevolutionären Antropophagie-Bewegung, schreibt 1928: »All das, weil wir weder Grammatiken hatten, noch Sammlungen alter Pflanzen. Und nie wussten wir etwas von Städten, von Vorstädten, von Grenzen und Kontinenten. Träge auf der Landkarte Brasiliens. Ein teilhabendes Bewusstsein, eine religiöse Rhythmik«.32 Aufgegriffen werden heute Impulse der Antropophagie-Bewegung z. B. bei Eduardo Viveiros de Castro in seinen Schriften Die Unbeständigkeit der wilden Seele (Wien 2016), sowie Kannibalische Metaphysiken (Berlin 2019). Zu Rhythmen haben Menschen wohl zu allen Zeiten gern getanzt, auch sind in aller Welt Verbindungen zwischen Tanz und Religion kurrent. Aber dass Intellektuelle einer hochstehenden Zivilisation in den Rhythmen indigener Völker ein Medium gefunden haben, das Lebensgefühl einer hochartifiziellen Lebenswelt zu artikulieren, ist bemerkenswert. Und thematisiert wird nicht nur Rhythmus und Tanz. Das Interesse richtet sich auch auf Magie, Fetischismus und vor allem auf Riten. Dafür steht prominent Arnold Gehlens Schrift Urmensch und Spätkultur.33 Auch Jürgen Habermas ist spät dieser Spur gefolgt und hat in Auch eine Geschichte der Philosophie von 2019 in den Riten der menschlichen Frühzeit den Wesenskern von Religion überhaupt ausgemacht.34 Lassen Sie mich abschließend meinen religionssoziologischen Ansatz auf den Punkt bringen: Europäische Moderne bedeutet: Territorialstaat mit Gewaltmonopol, Revolution, d. h. die Veränderbarkeit des politischen Systems nach Maßgabe von Werten und Idealen, Marktgesellschaft, das heißt Totalisierung des Marktmodells und umfassend artifizierte Lebenswelt. Das In-Erscheinung-Treten dieser zuvor unbekannten Strukturelemente war für Intellektuelle jeweils eine enorme Herausforderung. Mit jeder neu sich aufdrängenden dominierenden gesellschaftlichen Zeiterfahrung epochalen Charakters und ihren ungelösten Problemen kehrt das Thema Religion wieder, entstehen neue Religionen, die ich sehr grob typisiert habe. Und es entstehen Auseinandersetzungen darüber, was 31 Carl Einstein: Religion und afrikanische Kunst, in: Hermann Haarmann (Hg.): Carl Einstein Werke 1, Berlin 1994, (240–243) 242. 32 Oswald de Andrade: Anthropophages Manifest, in: Oliver Precht (Hg.): Manifeste, Wien 2016, (45–67) 37–38. 33 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden 1986. 34 Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019, 182 u. 246.

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davon in welchem Sinne Religion und was davon in welchem Sinne Säkularitäten sind.

2.2 Außenperspektiven. Interdisziplinäre Statements zur Funktion akademischer Theologie an einer Universität

Wolfgang Mayrhofer

Zwischen Brod und Ehre. Was Religion der Wirtschaft zu sagen hat*

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Einleitung

Georg Christoph Lichtenberg, deutscher Physiker und akribischer Chronist des 18. Jahrhunderts, hat seine Eindrücke scharfzüngig in eine Vielzahl von Aphorismen gegossen, gesammelt in den nur mehr teilweise erhaltenen Sudelbüchern A-L. Eine seiner Beobachtungen nimmt die Wissenschaften, ihre Wertigkeit und ihren Stellenwert unter die Lupe. Dabei gruppiert er wesentliche Disziplinen seiner Zeit je nachdem, ob sie Brod und Ehre, weder-noch, Ehre und kein Brod oder Brod und keine Ehre bringen (s. Abbildung 1). Seine Diagnose unter anderem: Mathesis bringt Ehre, bleibt aber brotlos; die Advocatia nährt zwar ihren (damals) Mann, verwehrt diesem aber Ehre; die Medicina kombiniert beides; und die Metaphysica lässt einem überhaupt brotlos und ohne Ehre zurück. Er ordnet, wenig überraschend, auch die Theologia und die Oeconomia ein – aber dazu später. Schauen wir uns zunächst die beiden und ihr Verhältnis zueinander an, oder aus Platzgründen und Anlass fokussierter: was die Wirtschaft der theologischen Reflexion verdankt1.

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Wirtschaft

Zunächst zur Wirtschaft. Allerdings: Die Wirtschaft gibt es nicht. Was es gibt: eine Reihe von Merkmalen, die als konstitutiv für ein als Wirtschaft bezeichnetes, hoch ausdifferenziertes und von den Wirtschaftswissenschaften erfasstes Phänomen gelten kann. Bei allen Unterschieden zwischen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre gibt es doch weitestgehend Übereinstimmung über den Grund* Dieser Beitrag ist eine erweiterte Fassung eines Vortrags anlässlich der 250-Jahr-Feier der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Österreich, am 8. Oktober 2021. 1 S. dazu auch ähnlich und teilweise erweitert: Wolfgang Mayrhofer/Michael Meyer: Wirtschaft und Religion, in: Karsten Lehmann/Wolfram Reiss (Hg.): Handbuch Religiöse Vielfalt in Österreich, Baden-Baden 2021, 471–492.

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Wolfgang Mayrhofer

Abbildung 1: Wissenschaft und ihre Folgen (Lichtenberg, 1768–1771: 60)

tatbestand von Wirtschaften: Knappheit angesichts tendenziell unbegrenzter menschlicher Bedürfnisse2 und der Tausch von Gütern und Dienstleistungen unter diesen Voraussetzungen. Knapp sind Ressourcen und die damit herzustellenden Güter und Dienstleistungen. Ressourcen, auch: Produktionsfaktoren, umfassen alle zu Herstellung benötigten Produktionsmittel (›Kapital‹) wie Werkzeuge, Maschinen oder Geld, natürliche Ressourcen (›Boden‹) wie etwa Land oder Mineralien, sowie menschliche Ressourcen (›Arbeit‹) wie etwa Ar2 Günter Wöhe/Ulrich Döring: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre 23, München 232008.

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beitskräfte und deren Qualifikationen und Kompetenzen3. Geld spielt eine besondere Rolle. Es ist für manche konstitutiv für das System Wirtschaft4, da es den Austausch von Gütern und Dienstleistungen deutlich erleichtert. Zentrale wirtschaftliche Akteure sind aus klassischer volkswirtschaftlicher Sicht Unternehmen und Haushalte. Sie halten den Güter- und Geldkreislauf in Schwung. Beide treten als Anbieter und Nachfrager auf, etwa im Hinblick auf Arbeitsleistung sowie Güter und Dienstleistungen5. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sprechen wir von individuellen und kollektiven Akteuren. Der Akteursbegriff – etwa im Unterschied zu Individuum, menschliches Wesen, Subjekt oder Person – beinhaltet Zuschreibungen der Kompetenz, des verantwortlichen Handelns, der Bindung an den kulturellen und institutionellen Kontext und balanciert zwischen Autonomie und kontextuellen Einflüssen6. Individuelle Akteure sind also die handelnden Einzelnen. Kollektive Akteure7 sind Akteure, die sich aus einer Mehrzahl individueller Akteure zusammensetzen und denen bestimmte Rechte und Handlungsspielräume zukommen. Das Institut der juristischen Person ist Ausdruck davon. Typische kollektive Akteure sind Organisationen wie Unternehmen, Verwaltungseinrichtungen, Social Enterprises, Nonprofits, Gewerkschaften und Kirchen. Die Wirtschaftsordnung regelt die Entscheidungskompetenzen der Akteure und ihre Beziehung untereinander. Idealtypische Wirtschaftsordnungen sind die Marktwirtschaft und die zentrale Planwirtschaft. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundannahmen mit Bezug auf Planung, Koordination, Motivation und Eigentum sowie ihren politisch-philosophischen Wurzeln, also z. B. Liberalismus vs. Sozialismus8. Daneben existieren Mischformen. Dazu zählen etwa die soziale Marktwirtschaft, welche unerwünschte Konsequenzen freier Märkte ausgleicht9 oder der Staatskapitalismus in China mit seiner Integration marktwirtschaftlicher Elemente in die zentrale Planwirtschaft10.

3 Artur Woll: Volkswirtschaftslehre, München 162014; s. dazu aus betriebswirtschaftlicher Sicht insbesondere Erich Gutenberg: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre 1: Die Produktion, Berlin u. a. 1951. 4 Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988. 5 Woll: Volkswirtschaftslehre (s. Anm. 3). 6 Eine genauere Diskussion dazu findet sich in Hugh Gunz/Wolfgang Mayrhofer: Rethinking Career Studies: Facilitating Conversation Across Boundaries with the Social Chronology Framework, Cambridge 2018, 30–33. 7 James S. Coleman: Power and the Structure of Society, New York 1974. 8 Franz X. Bea/Marcell Schweitzer: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre 1: Grundfragen, Stuttgart 2009. 9 Alfred Müller-Armack: Soziale Marktwirtschaft als nationale und internationale Ordnung, Stuttgart 21978. 10 Barry Naughton/Kellee S. Tsai: State Capitalism, Institutional Adaptation, and the Chinese Miracle, New York 2015.

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Der Tausch von Gütern und Geld in Marktwirtschaften führt nicht nur zu einem Preis für das jeweilige Gut, sondern auch zu einer besseren Versorgung. Er passiert üblicherweise auf einem Markt, also dem Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, etwas präziser ein »Organisationsmechanismus, d. h. eine Institution, der durch Bekanntgabe einer Zeit, eines Ortes, eines Preises und der Art und Qualität eines Gutes Käufer und Verkäufer zusammenführt, die Geld gegen Gut tauschen«11. Täusche auf Märkten erfordern Rahmenbedingungen. Diese sollen Sicherheit hinsichtlich der Abwicklung geben und den Ablauf beschleunigen. Der Vertrag ist dafür zentral. Unterschiedlich formal abgesichert sind Verträge wechselseitige Versprechen der Akteure hinsichtlich Qualität, Quantität, Preis, Ort und Zeit des Tauschs. Freilich funktioniert die Wirtschaft nicht bloß auf Basis einfacher Verträge. Die moderne Institutionenökonomie erklärt, warum sich Unternehmen und andere Organisationen bilden. So zeigt etwa die Transaktionskostenökonomie12, dass es unter bestimmten Umständen kosteneffizienter ist, sich zum Tausch in Organisationen zusammenzufinden und nicht jede Leistung und jedes Produkt am Markt nachzufragen. Die Agentur-Theorie13 argumentiert, dass solche Konstellationen zu Informations- und Macht-Asymmetrien zwischen Eigentümern, leitenden und ausführenden Akteuren führen. Beiden Theorien hatten und haben eine gewisse gesellschaftliche Sprengkraft, dienten sie doch auch als Legitimation der sogenannten neoliberalen Revolution, die wirtschaftliches Denken in viele gesellschaftliche Bereiche vordringen ließ. Knappheit angesichts unbegrenzter Bedürfnisse weist unmittelbar auf einen weiteren Kernaspekt von Wirtschaft hin: die Verteilung der Ressourcen und Güter, d. h. was wird wie produziert und wie werden die produzierten Güter und Dienstleistungen auf unterschiedliche Akteure verteilt. Die Wirtschaftstheorie sieht zwei Seiten der Verteilung: Allokation bezeichnet die Verteilung von Ressourcen, Gütern und Dienstleistungen als Input des Wirtschaftssystems unter Effizienzgesichtspunkten; Distribution meint die Verteilung des Outputs unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten. Dazu kommt in jüngerer Zeit die ökologische Nachhaltigkeit14.

11 Peter Weise/Wolfgang Brandes/Thomas Eger/Manfred Kraft: Neue Mikroökonomie, Berlin/ Heidelberg 32013, 111, im Original kursiv. 12 Oliver E. Williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications, New York 1975. 13 Michael C. Jensen/William H. Meckling: Theory of the Firm. Managerial Behavior, Agency Costs and Ownership Structure, Journal of Financial Economics 3 (1976), 305–360. 14 Herman E. Daly: Allocation, Distribution, and Scale: Towards an Economics that is Efficient, Just, and Sustainable, Ecological Economics 6 (1992), 185–193; Dieter Thomaschewski/Rainer Völker (Hg.): Nachhaltige Unternehmensentwicklung. Herausforderungen für die Unternehmensführung des 21. Jahrhunderts, Stuttgart 2016.

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Verteilung ergibt sich nicht per se. Zwar weist das allgemeine Rationalitätsprinzip die grobe Richtung – »Handle stets so, dass mit den vorhandenen knappen Mitteln (Gütern) optimale Ausprägungen der gesetzten Ziele erreicht werden!«15 – und faltet sich in wenigstens vier Bereiche mit entsprechenden Ansatzpunkten für Zielsetzungen aus: ökonomisch, z. B. Gewinn, Rentabilität; sozial, z. B. Zufriedenheit, Gesundheit; technisch, z. B. Gütermenge, Produktqualität; und ökologisch, z. B. Energieverbrauch, Abgasmenge. Allerdings sind Ziele und ihre optimale Ausprägung nicht per se gegeben. Sie stehen vielfach zueinander in Konflikt und sind Ergebnis von Wahlentscheidungen zwischen Alternativen auf der individuellen und kollektiven Ebene. Dabei beinhaltet jede Alternative Opportunitätskosten, d. h. den Verzicht auf die nicht gewählte(n) Alternative(n). Entscheidungen bilden so ein zentrales Element wirtschaftlichen Handelns16. Spätestens bei Entscheidungen und den damit verbundenen Rahmenbedingungen und Kriterien kommt Religion ins Spiel. Wenn kollektive und individuelle Entscheidungen in konfligierenden Situationen mit Opportunitätskosten zentral für Wirtschaft sind, dann liegt es angesichts eines auch auf Transzendenz, auf Über-Sich-Hinaussteigen angelegten Menschen nahe, für Religion eine wesentliche Rolle bei wirtschaftlicher Entscheidungsfindung und -durchsetzung anzunehmen.

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Religion und Wirtschaft

Religion und die damit verbundenen expliziten, i. d. R. alle Lebensbereiche erfassenden Präferenzen konstituieren zentrale Einflussfaktoren für Rahmenbedingungen, Prämissen und Bewertungsmaßstäbe von wirtschaftlichen Entscheidungen. Wie aber sieht diese Rolle von Religion aus – oder präziser: Wie steht es aus wirtschaftlicher Perspektive um die Notwendigkeit, die Brauchbarkeit und die Reichweite theologischer Reflexion, wie sie universitär an theologischen Fakultäten betrieben wird? Zunächst zum ersten: die Notwendigkeit. Wir haben vorhin darauf hingewiesen, dass es im Rahmen von Distribution darum geht, den Output des Wirtschaftssystems mit Blick auf Gerechtigkeit zu verteilen. Auch die wirtschaftliche Logik kann unter Berücksichtigung von Anforderung, Leistung, Qualifikation, Marktsituation oder sozialer Lage der Betroffenen hier Auskunft geben. Allerdings bleiben solche Darlegungen relativ blass. Im Kontrast dazu: Ob 15 Bea: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (s. Anm. 10), 54. 16 Edmund Heinen: Grundlagen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen. Das Zielsystem der Unternehmung. Wiesbaden 21971; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt 1984.

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den Reichen etwas weggenommen, den Armen etwas dazugegeben, den Waisen und Witwen Unterstützung zugesagt und den Notleidenden geholfen wird oder eben nicht – dazu lässt sich aus Religionen unterschiedlichen Zuschnitts und der entsprechenden theologischen Reflexion schwerwiegendes Argumentationsmaterial zusammentragen. Zum zweiten, der Brauchbarkeit. Dabei geht es im systemtheoretischen Sinne um Anschlussfähigkeit angesichts unterschiedlicher Leitdifferenzen gesellschaftlicher Subsysteme, also: versteht man einander überhaupt. Die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Aktivitäten macht es nicht leicht, sich wechselseitig zu verständigen oder gar an die Wirtschaftspraxis anschließen zu können. Allerdings weist der in der Wirtschaft oft nur eingeschränkt vorhandene Sinnbegriff – zugespitzt in »The business of business is profits.«17 – auf eine Leerstelle hin. Diese bedarf dringend der Füllung. Wenn und insoweit theologische Reflexion hier Hilfestellung gibt – sie könnte es allemal –, ist sie auch wirtschaftlich hochwillkommen in einer Zeit, in der Trommeln in den Externsteinen des Teutoburger Walds oder Barfußlaufen über glühende Kohlen bei sog. Motivationsseminaren als Glanz- und nicht als Versatzstücke kollektiver und individueller Sinnsuche gelten. Letztlich dann zur Reichweite theologischer Reflexion. In der aufgeklärten Moderne hat sie es generell nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Nicht nur das Stimmengewirr im aktuellen, oft nach kurzfristigen Effekten haschenden Geflecht öffentlich vorgetragene Meinungen, sondern auch die manchen fast schon als skandalös anmutende Positionierung der Theologia als von der Gesellschaft geförderte Wissenschaft machen es schwierig, auf sich aufmerksam zu machen und durchzudringen. ›Die Wirtschaft‹ ist hier keine Ausnahme und stellt sich – manche würden sagen: systemimmanent – in der Regel taub.

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Laudatio statt Schlussbemerkung

In diesem Sinne: Hut ab vor einer Disziplin dieses Zuschnitts, die einer relativ liederlichen Schwesterdisziplin – Lichtenberg ordnet die Oeconomia ja unter Brod, aber keine Ehre ein – so attraktive und notwendige Angebote machen kann. Und wenn wir schon zu Lichtenberg zurückkehren: wo steckt er eigentlich die Theologia hin? Zu Brod UND Ehre. Wohlverdient, meine ich – und wünsche ihr und den dort Tätigen, v. a. den an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Angesiedelten, dass es so bleibe oder wenigstens werde. Ad multos annos! 17 Theodore Levitt: The Dangers of Social Responsibility. Harvard Business Review 36 (1958), (41–50) 42, oft apokryph und etwas abgewandelt dem US-amerikanischen Nobelpreisträge Milton Friedman zugeschrieben.

Paul Oberhammer

Einige Überlegungen aus Sicht der Rechtswissenschaften

I Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut, mit einem kurzen Redebeitrag an den Feierlichkeiten aus Anlass des 200. Geburtstages der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien mitzuwirken. Die folgenden Zeilen versuchen zu rekonstruieren, was ich dort ganz formlos, essayistisch und in freier Rede geäußert habe. Daher wurde das Formlose und Essayistische auch in der schriftlichen Fassung beibehalten. Die Einladung zur Mitwirkung am Jubiläum hat mich zwar gefreut, zugleich aber erstaunt und herausgefordert: Für derlei bietet man gewöhnlich eher Kirchenrechtler*innen, Rechtshistoriker*innen oder -philosoph*innen auf, bisweilen leisten auch Verfassungsrechtler*innen gute Dienste. Ich bin fachlich hauptsächlich Zivilverfahrensrechtler, Gegenstand meiner wissenschaftlichen Arbeit ist der Streit um Geld; diesem Themenkreis ist der Großteil meiner Forschung gewidmet, und zwar auf einer durchaus technischen Ebene. Die Einladung zur Mitwirkung am Fakultätsjubiläum war daher gewiss nicht meiner fachlichen Eignung geschuldet. Sehr wahrscheinlich resultiert sie vielmehr aus meiner Tätigkeit als Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien in den Jahren 2014 bis 2020. In dieser Zeit habe ich außerordentlich positive Erfahrungen mit meinen Kollegen von der Evangelisch-Theologischen Fakultät gemacht, zunächst mit Martin Rothgangel, dann mit Rudolf Leeb. In meiner Funktion als Dekan ergaben sich Berührungspunkte zur EvangelischTheologischen Fakultät vor allem mit Blick auf das Institut für Ethik und Recht in der Medizin, das ja an der Universität Wien mangels Existenz einer medizinischen Fakultät und mangels Interesse der Philosoph*innen von Theolog*innen und Jurist*innen betrieben wird, in concreto auf Grundlage einer jahrelangen und, wie mir scheint, sehr fruchtbaren Zusammenarbeit von Ulrich Körtner als Vertreter der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Christian Kopetzki als Vertreter der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, in Zusammenwirken natürlich auch mit den Vertreter*innen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni-

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Paul Oberhammer

versität Wien. (Nach der jüngst erfolgten Emeritierung von Christian Kopetzki ist von Seiten unserer Fakultät Karl Stöger in seine großen Fußstapfen getreten.) Meine persönlichen und beruflichen Eindrücke von dieser Kooperation waren außerordentlich positiv, ich kann sie jedoch auch nicht als Stichwort für die folgenden Ausführungen verwenden, weil ich (wie schon angesprochen) weder Medizinrechtler noch Rechtsethiker bin. Im Rahmen der Einladung zur Jubiläumsveranstaltung wurde ich gebeten, die Tätigkeit der Evangelisch-Theologischen Fakultät aus Sicht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zu kommentieren. Dieser Auftrag ist durchaus heikel. Ich wäre ehrlich gesagt in meiner Zeit als Dekan nicht auf die Idee gekommen, die Tätigkeit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät aus Perspektive anderer Fakultäten kommentieren zu lassen, ja noch mehr: Ich hätte mir solche Kommentare wohl verbeten. Aus schierer Kollegialität sollte man sich ja am besten gar keine Meinung über die Existenz und das Sosein anderer Fakultäten als Ganzes anmaßen. Der Umstand, dass genau dies Gegenstand der Jubiläumsveranstaltung sein sollte, lässt darauf schließen, dass dieses Sosein der Evangelisch-Theologischen Fakultät sich von jenem der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien unterscheidet, wobei mir Begriffe wie Bescheidenheit, Reflektiertheit, aber vielleicht auch Furchtlosigkeit in den Sinn kommen.

II Ich beginne mit drei ganz anekdotischen Beobachtungen: Erstens: »… aber ab und zu gestatte ich mir doch eine Erregung« heißt es in einem bekannten österreichischen Theaterstück, das im Universitätsmilieu handelt. Ich denke in diesem Zusammenhang an einen entsprechenden Kontrollverlust im universitären Milieu, den ich in meiner Funktion als Dekan beobachten durfte. Im Rahmen einer Sitzung wurde vor einigen Jahren diskutiert, dass nun an der Universität Wien ein Islamisch-Theologisches Curriculum eingerichtet würde. Dies provozierte, man muss es so nennen, eine Wutrede eines Vertreters der sogenannten MINT-Fächer: Es sei doch unerträglich, dass man nach Jahrhunderten der europäischen Aufklärung just an einer Universität derlei plane – als ob die Existenz von christlich-theologischen Fakultäten nicht schon genüge. Während alle anderen Sitzungsteilnehmer*innen betreten schwiegen, versuchte Martin Rothgangel eine sozusagen seelsorgerlich-mediatorische Intervention und wagte ein Gesprächsangebot an den Erregten; dies provozierte diesen jedoch leider nur noch mehr, wodurch er sich auch noch zu einer Invektive gegen Martin Luther hinreißen ließ. Man möchte fragen, woraus dabei die Gewissheit resultierte, wer an einer Universität »richtig«, und wer »fasch« sei.

Einige Überlegungen aus Sicht der Rechtswissenschaften

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Zweitens: In der 2019 erlassenen Richtlinie der Universität Wien zur wissenschaftlichen Politikberatung postuliert die Universität Wien, wissenschaftliche Politikberatung zeichne »sich jedenfalls dadurch aus, dass Empfehlungen und Schlüsse auf wissenschaftlich produzierter Evidenz basieren« (Punkt 3.2.2), wobei »allfällige Meinungen« »strikt von Evidenz getrennt werden« müssen (Punkt 3.2.3). Es soll und kann hier nicht diskutiert werden, welcher epistemologische Zugang hier zu einer sich so selbstverständlich gebenden Scheidung von »Evidenz« und »Meinung« geführt hat. Es eint aber wohl Theologie und Rechtswissenschaft (und einige andere Wissenschaften), dass sie zu großen Teilen aus der Artikulation dessen bestehen, war hier etwas abschätzig als »allfällige Meinungen« beschrieben wird. Natürlich wird auch in der Rechtwissenschaft recherchiert, Material gesammelt, festgestellt, was in Gesetzen oder Urteilen steht, und natürlich werden ständig Erkenntnisse anderer Wissenschaften als faktische Basis normativer Erwägungen zugrunde gelegt. Das Proprium der Jurisprudenz, wie sie an unserer Fakultät von den meisten betrieben wird, jenes hermeneutisch-rhetorische Ringen um konsistente, wertungsrichtige normative Aussagen auf verschiedenen Abstraktionshöhen innerhalb eines historisch gewachsenen Systems, kann aber kaum ungezwungen als »wissenschaftliche Produktion von Evidenz« bezeichnet werden. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen Theolog*innen ähnlich geht. Man fragt sich, ob die erwähnte Richtlinie ausreichend deutlich erkennt, dass auch das bloße Äußern wohlbegründeter, in wissenschaftlichen Diskursen erprobter und auf umfassender Kenntnis aller relevanten Argumente beruhender, klug bedachter »Meinungen« eine Wissenschaft ausmachen kann. Drittens: Bei einer universitären Sitzung durfte ich erleben, wie ein wissenschaftlicher Erfolg des Astrophysikers João Alves von Seiten der Universität ganz besonders hervorgehoben wurde. Ich habe nicht verstanden, worin dieser wissenschaftliche Erfolg genau bestand, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich nicht Astrophysiker bin. Zweifellos verhält es sich aber so, dass João Alves irgendetwas ganz Faszinierendes in fernen Galaxien entdeckt hat, wozu ihm gewiss zu gratulieren ist; zudem ist er auch ein besonders sympathischer Kollege. Bemerkenswert war aber, dass dieser Erfolg dann als ein Musterbeispiel eines Third-Mission-Erfolgs der Universität Wien gelobt wurde, als eine beispielhafte »Outreach-Aktivität«, wahrscheinlich deshalb, weil darüber in den Medien berichtet worden war. Vielleicht hat es sich dabei insofern um einen »Outreach« gehandelt, als sich die von João Alves erforschten Gegenstände tatsächlich sehr weit weg von der Erde irgendwo im Kosmos befanden. Jedenfalls meinem Verständnis von einer Interaktion mit der Zivilgesellschaft im Rahmen der »Third Mission« entsprach dieser »Outreach« jedoch nicht, bei aller Wertschätzung für die Astrophysik wäre doch zu konstatieren, dass für den Laien unverständliche Forschungsergebnisse über Dinge, die unzählige Lichtjahre entfernt sind, nur

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eine geringe zivilgesellschaftliche Bedeutung haben dürften, sieht man einmal von jener sozialen Relevanz ab, die jeder Erkenntnis als solcher innewohnt. Natürlich trägt derlei zum Ansehen der Universität Wien auch dann bei, wenn das staunende Medienpublikum ebenso wenig davon versteht wie ich, aber um eine zivilgesellschaftliche Relevanz der Universität handelt es sich dabei doch kaum, zumal, wenn man sie mit der laufenden und starken Intervention von Theologie und Jurisprudenz in gesellschaftlichen Prozessen vergleicht. Warum habe ich diese drei Anekdoten erzählt? Kommt in allen drei Geschichten womöglich ein vereinfachendes, technokratisch-szientistisches Bild davon zum Ausdruck, was »Universität« sein soll? Dies träfe die Theologie genauso wie die Rechtswissenschaften. Wenn als Wissenschaft nur durchgeht, was man zählen kann, dann ist es um uns schlecht bestellt. Das trifft natürlich auch auf etliche andere Disziplinen zu, auf uns aber vielleicht in besonderem Maße, wenn und weil wir im Grundsatz auf etwas abstellen, was nur in unserer Vorstellung existiert – eine Rechtsidee, Gott – und uns noch dazu unterstehen, auf solcher Grundlage ein Sollen zu postulieren.

III Ich möchte mich freilich auch bei diesem Fakultätsjubiläum nicht mit falscher Harmonie andienen. Vor rund 400 Jahren stellte Hugo Grotius sein naturrechtliches Hauptwerk (sinngemäß) unter die Prämisse »etsi deus non daretur« – seine Rechtsmeinungen beanspruchten Richtigkeit ganz unabhängig davon, ob man sie aus einem göttlichen Befehl oder aus der bloßen Vernunft ableitet. Bis heute können viele Jurist*innen diesen Satz nicht ohne eine gewisse Rührung über diese Heldentat stolzer Laizität des Rechts lesen; mir geht es jedenfalls so. Nicht, dass Juristen sich vor Grotius verbreitet und ernsthaft auf Gott bezogen hätten, sie waren seit je, wie man schon zur Reformationszeit wusste, »böse Christen«. Die großen Erfindungen der römischen Zivilrechtler hatten ebenso wenig einen besonderen Bezug zur Religion wie etwa der Siegeszug der Menschenrechte seit der Französischen Revolution, auch wenn Letzteres bisweilen kontrafaktisch behauptet wird. Einflüsse der Religion finden sich im Recht natürlich wie in unserer gesamten Kultur, vermittelt zum Beispiel, aber natürlich nicht nur, über das kanonische Recht, das etwa für bestimmte Entwicklungen im Zivilprozess- und oder Eherecht maßgeblich war. Im Großen und Ganzen war die Rechtsentwicklung der letzten 2000 Jahre aber doch ein recht profaner Vorgang. Die hier mit der Bezugnahme auf Grotius bezeichnete Ablösung auch der Rechtswissenschaft von der göttlichen Offenbarung als Erkenntnisquelle ist natürlich eine Entwicklung, die allen Wissenschaften (mit Ausnahme eben der Theologie) bis zur Gegenwart gemein war und ist, sie ist aber bei den Rechts-

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wissenschaften weniger selbstverständlich als etwa bei den Naturwissenschaften, wo man mit der Heiligen Schrift als Erkenntnisquelle kaum weit gekommen wäre. Noch heute gibt es nämlich Rechtsordnungen, die in hohem Maße Bezug auf religiöse Erkenntnisquellen nehmen, man denke etwa an den islamischen Rechtsraum. Ein nicht-religiöses, rationales Recht ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft der abendländischen Rechtskultur, es ist ein wesentliches Charakteristikum gerade unseres europäischen Rechts, dass es eben nicht-religiöses Recht ist. Zu dieser Errungenschaft der europäischen Rechtsentwicklung trat im 20. Jahrhundert die schon verfassungsrechtlich gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität des modernen Rechts- und Verfassungsstaats hinzu. Die Nichtableitung von Recht aus Religion ist daher heute nicht bloß eine Tatsache, sondern auch verfassungsrechtlich geboten. Rechtswissenschaftler*innen zeichnen sich häufig durch eine mehr oder weniger starke Identifikation mit den Errungenschaften des modernen Verfassungsstaats aus, mithin auch mit dessen religiös-weltanschaulicher Neutralität und der grundsätzlich nicht-religiösen Verfasstheit von Recht. Aus dieser Perspektive stellt der Eindruck, es gebe immer noch eine Wissenschaft, die ihren Richtigkeitsanspruch auf irgendeiner Ebene aus göttlicher Offenbarung ableiten könnte, auch aus Sicht vieler Rechtswissenschaftler*innen eine Quelle für Irritation dar. Auch mir als theologischem Laien ist natürlich bekannt, dass nicht die gesamte Tätigkeit theologischer Fakultäten sich auf die Erforschung göttlicher Offenbarung bezieht. Überhaupt ist klarzustellen, dass sich die angesprochene Irritation vieler Rechtswissenschaftler*innen über Theologie als Wissenschaft eher auf ihre moral- und sozialphilosophischen Erweiterungsformen bezieht. Mit Blick auf die theologische Hermeneutik im engeren Sinne werden Rechtswissenschaftler*innen dagegen stets zurückhaltend urteilen, denn die Methoden der Auslegung von schriftlich dokumentierter Offenbarung und von Gesetzgebung ähneln sich ja nicht zufällig, sondern beruhen auf gemeinsamen hermeneutischen Entwicklungslinien. Hermes ist eben bekanntlich nicht nur für die göttliche Botschaft, sondern auch für die Kaufleute und Diebe da. Was aus Sicht der Rechtswissenschaften bisweilen irritieren mag, ist daher eher – wie erwähnt – die Einmischung des Theologischen in ethisch-politische Diskussionen. Hier entsteht manchmal die Befürchtung, dass Religion in unschicklicher Weise auf rechtspolitische Diskurse abfärbt. Das Problem ist dabei natürlich nicht die explizite Berufung auf das religiöse Argument, sondern seine Amalgamierung mit auf Vernunft rekurrierenden Sprechweisen, durch welche das im Hintergrund wirksame, religiös geprägte Welt- und Menschenbild womöglich verheimlicht und damit auch jenen zugemutet wird, die damit nichts zu tun haben wollen. Sehr treffend wurde in diesem Zusammenhang kürzlich von meiner Fakultätskollegin Magdalena Pöschl auf das Diktum Heiner Bielefeldts verwiesen, wonach sich Religionsge-

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Paul Oberhammer

meinschaften doch darum bemühen sollten, dass ihre religiöse Praxis von Gläubigen in mündiger Verantwortung geübt wird, das heißt aus innerer Überzeugung, nicht aus rein äußerem Zwang.

IV Lassen Sie mich mit zwei aktuellen Beobachtungen schließen: Erstens: In Ihrer Stellungnahme zur Einführung einer gesetzlichen Impfplicht vom 21. 12. 2021 führt die österreichische Universitätenkonferenz (uniko) wörtlich Folgendes aus: »Im Lichte der jüngsten Entwicklungen der Covid-19Pandemie und der daraus folgenden gesundheitspolitischen Notwendigkeiten spricht sich die uniko einstimmig für die Einführung einer Impflicht aus. Nur so wird die aus wissenschaftlicher Sicht notwendige hohe Durchimpfungsquote erreicht. Aufgrund der Schwere des Eingriffs in die Rechtsordnung appelliert die uniko, die Impfpflicht verfassungskonform und konsistent in allen Rechtsbereichen zu verankern. Zusätzlich werden umfassende Begleitmaßnahmen empfohlen, welche die Impfbereitschaft positiv beeinflussen. Zu den rechtlichen und medizinischen Details wird auf die einschlägigen Fachdisziplinen der einzelnen Universitäten verwiesen, die sich mit zusätzlichen Stellungnahmen wissenschaftlich fundiert einbringen werden.« Schon auf den ersten Blick fragt man sich, weshalb sich die uniko zu einer solchen Äußerung veranlasst sah. Hier wird ja nicht nur der arbeits- und studienrechtliche Wunsch danach artikuliert, dass Lernende und Lehrende zur Impfung verhalten werden sollen. Ein wenig entsteht doch der Eindruck, als ob hier eine Stimme der wissenschaftlichen Vernunft erhoben, das Banner der Aufklärung hochgehalten werden sollte. Bemerkenswert ist aber dabei, wie hier der Ruf nach einer gesetzlichen Impfpflicht aus der »Pandemie und den daraus folgenden gesundheitspolitischen Notwendigkeiten« abgeleitet und daran anknüpfend gefordert wird, diese sozusagen medizinisch evidenzbasierte Alternativlosigkeit müsse halt »aufgrund der Schwere des Eingriffs in die Rechtsordnung« (wie etwas unbeholfen formuliert wird) »verfassungskonform verankert« werden, und zwar »konsistent in allen Rechtsbereichen«, was auch immer mit Letzterem gemeint war. Die Verfassung hat also zuhanden zu sein, um das »wissenschaftlich Notwendige« zu verwirklichen, für die »rechtlichen Details« sorgen dann die »einschlägigen Fachdisziplinen der einzelnen Universitäten«. Dass die Jurisprudenz dabei, wenn auch nur als Magd der Medizin beziehungsweise einer allein aus dieser abgeleiteten Gesundheitspolitik eine Rolle spielt, wird immerhin noch bemerkt, dass es hier um intrikate ethische Fragen geht, bleibt unbemerkt. Umgekehrt haben sich freilich auch aus der Theologie kommende Ethiker dahingehend geäußert, die Übung staatlichen Zwangs sei hier

Einige Überlegungen aus Sicht der Rechtswissenschaften

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bloß eine juristische cura posterior, zu deren Details den Jurist*innen schon was einfallen werde, womit das Bild einer falschen Gleichung »Ethik + Zwang = Recht« entsteht. Es geht an dieser Stelle naturgemäß nicht darum, Für und Wider einer rechtlichen Impfplicht abzuwägen – wenn aber Recht und Ethik in einer so bedeutenden ethischen und rechtlichen Frage von einem normativen Anspruch der Naturwissenschaft schneidig zur Seite geschoben werden, dann sollte uns das zu denken geben. Wir sollten zum Nutzen unserer Gesellschaft gemeinsam in Erinnerung rufen, dass Naturwissenschaft keine Aussagen über die rechtlichen und moralischen Pflichten von Menschen treffen, sondern nur Expertenwissen zur Beurteilung faktischer Vorfragen normativer Entscheidungen beisteuern kann, und dass dies auch bei Schlechtwetter gilt. Dabei mag es dann zwischen Jurist*innen und Theolog*innen einen Dialog darüber geben, ob und inwiefern Normen aus der »Natur« abgeleitet werden sollten (oder doch besser nicht). Und schließlich hat nicht die Wissenschaft, sondern die Politik zu entscheiden. All das hätte die uniko besser bedenken sollen. Jedenfalls auf mich hat sie mit dieser Ableitung rechtlicher Normen aus der Biologie keinen besonders fortschrittlichen oder aufgeklärten Eindruck gemacht. Zweitens: Unsere Freunde aus den Naturwissenschaften sagen uns, dass die Klimakatastrophe kommen wird, wenn nicht jetzt gleich, schon längst und ganz radikale Maßnahmen gesetzt werden oder worden wären, und Politik und Wirtschaft sorgen offenbar dafür, dass die Klimakatastrophe auch tatsächlich eintreten wird. Die Naturwissenschaft kann uns in der Tat sagen, dass die Katastrophe eintreten wird, und worin die naturwissenschaftlich darstellbaren Veränderungen, welche die Katastrophe ausmachen, bestehen werden. Vielleicht kann sie auch verschiedene technological fixes entwickeln, um die Folgen der Katastrophe abzumildern. Sie kann uns aber nicht sagen, wie die Gesellschaft dann mit den Folgen der Katastrophe umgehen soll. Wie reagieren wir dann auf einen brutalisierten Kampf um Ressourcen, was tun wir dann angesichts der zu erwartenden Flüchtlingsströme? All dies wären gewaltige Herausforderung an den Rechtsstaat, den seine Institutionen allein vielleicht nicht meistern können. Wie kann man unter solchen Umständen Grundrechte, gesellschaftliche Solidarität, einen gewaltfreien Umgang miteinander, Respekt und Menschenwürde wahren? Wie können wir Institutionen so stärken, dass ein so gewaltige Stresstest bestanden wird, sodass auch künftig Freiheit und Eigentum nicht zur willkürlichen Disposition jener zählen, die sich unter solchen Rahmenbedingungen Geld und Macht sichern, und daher anderen Gewalt antun können? Wie soll Hoffnung geschöpft, wie moralische Motivation gewonnen werden, sodass Gesellschaft und Rechtsstaat in angemessener Weise auf diese Herausforderungen reagieren? Wir werden alle kulturellen Ressourcen unserer Gesellschaften brauchen, um der Naturkatastrophe etwas entgegensetzen zu können. Gefragt sind kulturelle Ressourcen, um zum Beispiel unter solchen Umständen souverän

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Paul Oberhammer

mit großen Fragen umgehen zu können, mit Natalität und Mortalität und allem, was dazwischenliegt. Die Theologie bietet ein Vokabular, um über derlei ins Gespräch zu kommen. Insofern ist sie eine soziale Ressource, die dem Recht dann zugutekommen könnte. Meint man, dass Wissenschaft zum Beispiel etwas zur Bewältigung der Herausforderung »Klimakatastrophe« beitragen soll, dann darf man »Wissenschaft« eben nicht eng auf »science« beziehen, sondern wird auch Worte brauchen, »allfällige Meinungen«, Argumente, Diskurse, Verfahren, Werte, Überzeugungen, Verständigung.

Brigitta Schmidt-Lauber

Theologie und Ethnologie. Eine Beziehungsgeschichte

Im vorliegenden Beitrag werfe ich aus der Perspektive der (Europäischen) Ethnologie als empirischer Alltagskulturwissenschaft einen Blick auf die Evangelische Theologie und befrage anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien das Verhältnis zwischen Ethnologie und Theologie. Tatsächlich sehe ich eine Reihe von Anknüpfungspunkten sowie eine nicht unbeträchtliche Schnittmenge an Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen zwischen der »Lehre von Gott und menschlichem Glauben« (Theologie) und der »Lehre der Kulturen und Alltagswelten von Menschen« (Ethnologie), die ich als Beziehungsgeschichte umreiße. Einen zentralen Berührungspunkt zwischen den Disziplinen bzw. Wissenschaftskonzepten sehe ich in der Lebenswelt- und Menschenorientierung theologischer und ethnologischer Perspektiven und Forschungsfragen. Beide Wissenschaften beschäftigt die Frage nach dem Sein und Leben von Menschen, die Frage, unter welchen Umständen und Bedingungen gesellschaftliches Miteinander vonstatten geht und welchen Regeln und Prinzipien es folgt. Es geht in beiden Fällen um Wertorientierungen und Normen, Gewissheiten und Vorstellungswelten, um Fragen der Identität und der Umgangsformen. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden diese als Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlung und Praxis und damit stets als Ausdruck einer bestimmten historischen Situation verstanden und erforscht. Das gemeinsame Forschungsinteresse erschöpft sich in dieser Hinsicht keineswegs in den christlichen Stichworten »Nächstenliebe« und »Mitmenschlichkeit«, wenngleich diese ein aktuell drängendes Thema und gesellschaftliches Anliegen benennen. Schließlich beobachten wir in der Gegenwart zahlreiche gesellschaftliche Spaltungen und stehen vor vielfältigen Herausforderungen angesichts ökologischer Krisenphänomene und der Auswirkungen globaler Ungleichheiten, kriegerischer Konflikte und weltweiter Fluchtbewegungen. Auch die gesellschaftlichen Zumutungen in Folge der Pandemie, die notwendigerweise eine drastische Reduktion von Sozialkontakten und Begegnungen mit sich brachte und neue Alltagsmodelle zwischen Arbeit und Wohnen generierte, verstärken den Bedarf nach Orientierung und sozialem Halt

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Brigitta Schmidt-Lauber

und rufen lebensweltlich ausgerichtete Disziplinen auf den Plan, die aktuellen Transformationen forschend zu begleiten. Und nicht zuletzt erleben wir aktuell in Sachen politischer Moral und Menschlichkeit Erschütterungen, die sich im russischen Besetzungskrieg gegen die Ukraine, in autokratischen Machtgelüsten und Lobbyismus manifestieren und Fragen nach den ethischen Positionen der Gegenwart aufwerfen. Noch in anderer Hinsicht sehe ich ein gemeinsames Interesse zwischen Theologie und Ethnologie, nämlich im Fokus auf Performanz, auf den Vollzug des Geschehens bzw. die gelebte Praxis. Dieser artikuliert sich beispielsweise in dem besonderen Stellenwert der Ritualforschung (und Liturgie). Handlungsabläufe in ihren vielfältigen Aspekten und ihren (nicht unbedingt sichtbaren) Bedeutungen bzw. Wirkungen beschäftigen beide Wissenschaften. Das bedeutungsaufgeladene Tun und sinnlich erfahrene, atmosphärisch gerahmte Geschehen bei religiösen Feiern (und auch weltlichen Ritualen) ist in seinen unterschiedlichen atmosphärischen und materiellen Dimensionen von Belang: Kerzenschein, Kirchenglockenläuten, Kleidung und Körperhaltung oder das gemeinsame Gebet und Singen bzw. die einzelnen Handlungseinheiten von Zeremonien. Ob es adäquat ist, profanen Geschehnissen wie dem Fußballspiel aufgrund des ritualisierten Ablaufs den Stellenwert einer »Ersatzreligion« zuzusprechen, sei dahingestellt. Die eingespielten Handlungsketten – wie die LaOla-Welle, das Kleidungsverhalten, die Gesänge und Sprechchöre oder akkordierten Reaktionen auf Tore – haben Wissenschaftler:innen tatsächlich öfter dazu verleitet, Fußball in diesem Zusammenhang zu sehen. Stadien werden gar als »Kathedralen des Alltags« umschrieben.1 Ungeachtet derartiger Analogien vermögen sich die theologische und ethnologische Ritual- und Feierforschung mit Blick auf Theorien, Konzepte und Analysekategorien zweifelsohne wechselseitig zu befruchten. Konkret beschäftigen sich beide Wissenschaften diesbezüglich besonders mit rites des passage als gesellschaftlich gerahmten Übergangsritualen und Statuswechseln sowie existentiellen Erfahrungen. Allerdings erfolgt dies aus unterschiedlichen Positionen heraus: Die Theologie nimmt dabei eine aktiv gestaltende, sinnstiftende Rolle ein, wohingegen die Ethnologie die kollektive und individuelle Bedeutung des Übergangs analysiert und damit die Herstellung oder Veränderung gesellschaftlicher Ordnungen aufzeigt. Dies erfolgt aus einer praxeologischen Perspektive, die den unterschiedlichen beteiligten Akteur:innen, Interessen, Dynamiken und vor allem der Performanz, dem Vollzug des Geschehens nachspürt. Gesellschaftliches Handeln und menschliche Lebensformen 1 Henry Bernhard: Sport als Ersatzreligion? Kathedralen des Alltags, in: Deutschlandfunk Kultur, 27. 11. 2016, verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kathedralen-de s-alltags-sport-als-ersatzreligion-100.html [abgerufen am 8. 4. 2022].

Theologie und Ethnologie. Eine Beziehungsgeschichte

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zu erkennen, zu deuten und zu verstehen, ist Aufgabe der Ethnologie. Dies hat methodische Entsprechung in dem besonderen Stellenwert der Ethnographie als Zugang zu gegenwärtigen Lebens- und Sinnwelten von Menschen: Über teilnehmende Beobachtung in einem Spagat aus Nähe und gleichzeitig analytischer Distanz, eigene, leibhaftige Erfahrung, Miterleben und Kopräsenz nähern wir uns den Lebensverhältnissen und Umgangsweisen, den Routinen und Werten von Menschen an und suchen nachvollziehend den Ablauf und die Bedeutung von Übergängen für den Einzelnen und die Gesellschaft zu verstehen. Es ist ein Zugang, der auch in vielen anderen Disziplinen wie nicht zuletzt der Theologie an Bedeutung gewinnt. Der oft als Nestor der Feldforschung gefeierte polnischbritische Sozialanthropologe Bronisław Malinowski bezeichnete das Ziel dieser teilnehmend beobachtenden Forschungsweise »to grasp the native’s point of view«2. Damit distanzierte er sich entschieden von der Lehnstuhlethnologie des 19. Jahrhunderts und einer vom Evolutionismus geprägten, Kulturen streng hierarchisierenden Ethnologie. Demgegenüber postulierte Malinowski die Notwendigkeit, nicht über Menschen zu reden, sondern mit ihnen und ihr Leben aus eigener Anschauung (Teilnahme) zu erfahren. Wieweit dieser Dialog auf Augenhöhe auch in der Forschungsbeziehung umgesetzt wurde bzw. wird und welche Machtkonstellationen und -effekte ethnologische Forschungen und Texte kennzeichnen, ist im Zuge der postcolonial studies sowie der Writing Culture Debatte3, die seit den 1980er-Jahren die ethnologische Wissensproduktion und Darstellungsweisen kritisch reflektiert, Gegenstand reger Auseinandersetzung. Die genannten inhaltlichen und perspektivischen Berührungspunkte führen mich zur (vielleicht gewagten) These, dass Theologie und Ethnologie gleichermaßen eine anthropologische Orientierung zugrunde liegt. Im Mittelpunkt steht der Mensch in seinen Bedürfnissen und Formen der Lebensbewältigung und des sozialen Miteinanders, in seinen Annahmen und seinem Glauben. Wir befragen und sehen Menschen in ihrer Beziehung zur Welt, in ihrem Selbstverständnis und ihrem Verhältnis zum Jenseits als Vorstellungsraum und Sinnhorizont. Dies erfolgt allerdings – und das benennt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Wissenschaften – aus anderen Prämissen sowie anhand unterschiedlicher Epistemologien und Methoden. Zweifellos gibt es eine methodologische Verständigungsgrundlage zwischen ethnologischer und theologischer Forschungsarbeit speziell in Teildisziplinen der Theologie wie der Kirchengeschichte, der Religionswissenschaft oder Prak2 Bronisław Malinowski: Argonauts of the Western Pacific, Oxford/New York 2014 [1922], 24. 3 Kritik an Malinowskis Werk und vor allem an den Aussagen in seinen posthum veröffentlichten Feldforschungstagebüchern seiner Zeit auf den Trobriand-Inseln war ein Mitauslöser der Debatten. Vgl. hierzu etwa: James Clifford/George E. Marcus (Hg.): Writing Culture. A School of American Research Advanced Seminar (Seminar held in Santa Fe, N. M., April 1984), Berkeley u. a. 1986; Clifford Geertz: Works and Lives, Stanford 1988.

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Brigitta Schmidt-Lauber

tischen Theologie, wenn es etwa um historische Verfahren und Quellen oder Teilnahmeverfahren geht. Doch für weite Teile der Theologie sind, bezogen auf das jeweilige Wissenschaftsverständnis, die Epistemologie und Zielsetzung, aus meiner Perspektive deutliche Unterschiede zu vermerken. Das theologische Suchmoment ist auf die Frage des Lebens mit Transzendenz ausgerichtet. Dabei gilt das Transzendente/Göttliche, wenn ich das richtig sehe, als Faktizität, als ontologische Realität. Insofern ist die Theologie – mit Ausnahme der erwähnten Teildisziplinen mit empirischen Vorgehensweisen – eine normative Disziplin in dem Sinne, dass der zentrale Inhalt, das Transzendente/ Göttliche selbst, empirisch nicht nachweisbar ist. Es ist eine Prämisse theologischer Arbeit, dass es das Göttliche/Transzendente gibt und Menschen transzendenzbezogene Wesen sind. Aus dieser Position heraus nimmt die Theologie Stellung und unterscheidet in gute und schlechte gesellschaftliche Praxis. Die Theologie tritt als nomothetische Wissenschaft auf, auch wenn sich die Praktische Theologie4 teilweise vom dogmatisch-normativen Verständnis anderer Teilgebiete der Theologie abgrenzt. Das ethnologische Suchmoment hingegen geht in eine andere Richtung, es ist per definitionem empirisch grundiert und nimmt Gestalt in Form einer historisch und gegenwartsbezogen vorgehenden Alltagskulturforschung ein. Eine solche empirische Kulturforschung nutzt und analysiert unterschiedlichste Quellen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben und positioniert sich darüber als deutend interpretierende Disziplin. Wir fragen nach den verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Handlungen oder Dingen – nach sozialen, individuellen, politischen, ökonomischen u. a. Implikationen und Folgen von Handlungen. Die transzendentale und Glaubensdimension benennt dabei nur eine Bedeutungsebene neben anderen. Handlungen kontextualisiert die Ethnologie als historisch argumentierende, gegenwartsbezogene Disziplin in Raum und Zeit, bindet sie an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – und nicht an das Transzendente. Was die explizite Positionierung und Bewertung gesellschaftlicher Zustände anbelangt, tut sich das Fach schwerer bzw. herrschen unterschiedliche Auffassungen über die gesellschaftspolitische Verantwortung und Aufgabe der Wissenschaft. Als anthropologisch orientierte Wissenschaften verfügen Ethnologie und Theologie über eine große Schnittfläche an Themen und Fragen, aber gleichzeitig auch deutliche Gegensätze. Die teilweise konträren Wissenschaftsausrichtungen – zugespitzt in empirische Wissenschaft hier versus normative Wissenschaft 4 Christian Albrecht: Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus praktisch-theologischer Sicht, in: Wilfried Engemann u. a. (Hg.): Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte (Arbeiten zur Praktischen Theologie 33), Leipzig 2007, (7–60) 45.

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dort – scheinen auf den ersten Blick einer Verständigung im Wege zu stehen; sie bieten aber einen Spannungsbogen, der vielleicht gerade in der Ergänzung dem ganzheitlichen Ansinnen anthropologischer Forschung, Menschen und gesellschaftliches Leben zu ergründen, näherkommt. Abschließend möchte ich nur exemplarische Beispiele bisheriger Kooperationen und Berührungspunkte zwischen Ethnologie und Theologie an der Universität Wien in den letzten Jahren einbringen. Das Institutskolloquium am Institut für Europäische Ethnologie in Wien ist ein in der Lehre verankertes Veranstaltungsformat in Form einer Vortragsreihe, die sich zugleich an eine breitere Öffentlichkeit richtet und den Dialog mit anderen Fächern und Standorten zu unterschiedlichen Themen sucht. Im Sommersemester 2013 widmete sich das Kolloquium den »Religionen im urbanen Alltag Wiens« als ein Beitrag zum Stadtforschungsschwerpunkt des Instituts. Es fand in Kooperation mit dem evangelischen Religionspädagogen Martin Rothgangel sowie dem Islamwissenschaftler Ednan Aslan statt und beinhaltete Exkursionen zu Gotteshäusern unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften sowie eine Podiumsdiskussion im Wien Museum, moderiert von Rainer Nowak (Chefredakteur der Presse), mit Vertretenden der größten Religionsgemeinschaften in Wien: Bischof Hon.-Prof. Dr. Michael Bünker (Evangelische Kirche in Österreich), Mag. Schlomo Hofmeister, MSc (Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien), Gerhard Weißgrab (Präsident Österreichische buddhistische Religionsgemeinschaft), DiözInsp. HR MMag. Dr. Christine Mann (Leiterin des Interdiözesanen Amtes für Unterricht und Erziehung), Dr. Fuat Sanac (Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Anlässlich des Lutherjahres thematisierte das Institutskolloquium im Wintersemester 2017/18 das Thema »Protest und Reformation«, wo unter anderem der ehemalige Bischof der evangelischlutherischen Kirche in Österreich Michael Bünker eine Führung durch das protestantische Wien anbot, die auf reges Interesse stieß. Bünker bot Einblicke in die wechselhafte Geschichte des Protestantismus in Österreich sowie die Verfolgungen im Zuge der Gegenreformation, die Spuren an verschiedenen Orten der Wiener Innenstadt hinterlassen hat. Von diesen Rückblicken spannte er einen Bogen zu den religiösen Verhältnissen der Gegenwart und kritisierte die islamophobe Stimmung in der Gesellschaft – speziell nach der sogenannten »Flüchtlingskrise«. Eine weitere disziplinäre Schnittmenge zeigt sich in kirchenund gesellschaftshistorischer Hinsicht, etwa bei der Auseinandersetzung mit sakralen Bauten. Beispiele hierfür lassen sich in der Beschäftigung mit religiösen Materialisierungen und auratisch-atmosphärischen Aufladungen von Kirchenräumen finden, wie sie etwa Jens Wietschorke in seiner Habilitationsschrift darlegt.5 In seiner Arbeit bietet der Europäische Ethnologe einen exemplarischen 5 Jens Wietschorke: Kirchenräume in Wien. Architektur in der Kulturanalyse, Göttingen 2019.

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Brigitta Schmidt-Lauber

Einblick in die Arbeitsweise des Faches, indem er den gesellschaftlichen Zusammenhängen wie der Sozialordnung oder den Geschlechterverhältnissen unterschiedlicher Zeiten nachspürt, die in Kirchenräumen eingeschrieben und materialisiert sind. Somit ergibt sich (nicht nur, aber gerade auch) bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Objektivationen religiöser Themen – unter dem möglichen Einbezug weiterer Disziplinen wie der Architektur oder Kunstgeschichte – eine fruchtvolle Gemengelage zwischen Ethnologie und Theologie.

Karl Vocelka

Theologie und Geschichte. Rede zum 200-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Was wäre die Geschichtsschreibung ohne den Aspekt der Religionen? Wie könnte man über die Antike sprechen ohne die große Welle der Christianisierung, die auf der Infrastruktur des Römischen Reiches basiert, abzuhandeln? Was könnte man über das Mittelalter sagen, ohne dabei die Themen der Religion in den Vordergrund zu stellen? Welche Quellen hätten wir, wenn die Klöster nicht vieles bewahrt und abgeschrieben hätten? Welche Kunstwerke bleiben noch übrig, wenn man die großen Kathedralen, aber auch die kleinen Kirchen und Kapellen, die vielen Gegenstände des religiösen Bereichs, wie Objekte für den Gottesdienst, bis hin zu den Reliquiensammlungen der Zeit nicht beachten würden? Dass es dabei nicht nur positive Aspekte gab, ist unbestreitbar, die Verfolgung von Andersdenkenden, die man als Ketzer bezeichnete, die Kreuzzüge, die viele Menschenleben kosteten, die Kriege der Zeit, die ohne ihren religiösen Hintergrund nicht zu verstehen sind. Aber besonders in der kulturgeschichtlichen Perspektive ist das Thema Religion aus dem Fach Geschichte nicht wegzudenken. Noch mehr Bezug zur evangelisch-theologische Fakultät hat klarerweise die Zeit nach 1517. Wieder stellen sich Fragen. Wie könnte man die Frühe Neuzeit darstellen, ohne auf die Reformation und ihre Nebenbewegungen einzugehen? Welchen Einfluss auf die Menschen aus den verschiedenen Bevölkerungsgruppen hatte die religiöse Spaltung? Wie gingen die Herrschenden mit den AndersGläubigen um? Die Frühe Neuzeit von 1517 bis 1620 ist sicherlich jene Periode der Geschichte, in der die neue konfessionelle Lage alle Bereiche des Lebens der Menschen beeinflusste. Nicht nur die Herausbildung neuer Konfessionen, den Protestantismus, den Calvinismus und die Nebenströmungen der Reformation, besonders die Täufer beeinflussten auch die Politik der Zeit. Die Luther-Sache, wie man es nannte, war nicht nur vom Glauben, sondern auch von der Politik stark beeinflusst. Die Spannungen zwischen dem katholischen Kaiser und den zu einem guten Teil vom Protestantismus geprägten Reichsständen, wie BrandenburgPreußen, Sachsen oder Hessen und vieler kleinerer Territorien des Heiligen

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Karl Vocelka

Römischen Reiches spiegeln die Machtkämpfe im Reich und auch in der Habsburgermonarchie konturiert wider. Wenn man sich mit der Habsburger Monarchie beschäftigt, so war im 16. Jahrhundert ein klares Wachstum des Protestantismus zu sehen, viele der Länder, vor allem der Osten und Süden der österreichischen Erbländer, Oberösterreich, Niederösterreich, Kärnten und die Steiermark waren mehrheitlich protestantisch. Selbst die Residenzstadt Wien hatte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr protestantische als katholische Bewohner, man schätzt, dass 70 Prozent der Bewohner Wien protestantisch waren. Eine Erkenntnis, die in der stark katholisch geprägten Geschichtsschreibung lange ausgeblendet war. Vor allem der Adel, der auch politische Ambitionen hatte, war mehrheitlich der neuen Konfession zugewandt. Die adeligen Grundherren waren dabei ein wesentlicher Aspekt der Ausbreitung der Reformation, denn sie besetzten die Pfarren nicht mehr mit katholischen Priestern, sondern mit lutherischen Prädikaten und passten die jeweiligen Untertanen ihrem Glauben an. Dieses Phänomen kehrte sich in der Gegenreformation, die schon im 16. Jahrhundert in kleinen Schritten sichtbar wurde, völlig um. Wenn man den adeligen Grundherrn sanft oder später auch mit großem Druck katholisch machte, hieß, dass auch seine bäuerlichen Untertanen diesen Schritt gehen mussten. Jedoch hatten die langen außenpolitischen Konflikte mit dem Osmanischen Reich eine positive Auswirkung auf die Protestanten. Da die Steuern, die für den Krieg gegen die Osmanen notwendig waren, von den adeligen Ständen bewilligt werden mussten, nahmen diese eine Haltung ein, welche dem Protestantismus zugutekam. Ein oft zitierter Spruch dieser Zeit war »Der Türk ist der Protestanten Glück«. Aber dieses Glück wendete sich dramatisch im 17. Jahrhundert. Der große Wendepunkt war dann der Sieg der Katholiken in der Schlacht auf dem Weißen Berg, dem Bilá Hora bei Prag 1620, der den Beginn einer brutalen Gegenreformation bildete. Innerhalb weniger Jahre wurden die böhmischen Länder und die österreichischen Erbländer katholisiert, nur Ungarn, das ja außerhalb des Reiches lag und von der osmanischen Expansion bedroht war, blieb multikonfessionell. Was blieb, war ein in vielen Regionen gelebter Geheimprotestantismus, der verfolgt wurde, sich aber lange gehalten hat. Wäre es sonst verständlich, dass nach dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. innerhalb kurzer Zeit sich protestantische Kirchen und Gemeinden bildeten, so schnell und erfolgreich, dass Kaiser Joseph II. sozusagen die Notbremse ziehen musste, um diese Bewegung in Zaum zu halten. In dieser Epoche des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts mit einem starken Protestantismus gab es große kulturelle Fortschritte, so vermehrte sich die Anzahl der Menschen im deutschen Sprachraum, die Lesen und Schreiben konnten, durch die Reformation. Ein stärkerer Rationalismus und Realismus, der nicht an

Theologie und Geschichte

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Wunder und althergebrachte Dogmen glaubte, war der Wegbereiter zu einer anderen, uns näherstehenden Kultur. Nicht umsonst wird der Protestantismus von einigen Historikern als eine frühe Aufklärung bezeichnet. Sicherlich verloren die religiösen Fragen mit und nach der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ihren zentralen Stellenwert bei den Themen der Geschichte. Fortschritt, Demokratisierung und Menschenrechte rückten ins Zentrum der historischen Diskussion und neue Gruppen, Parteien und Vereine bildeten sich, von denen nur wenige mit Religion in direkter Verbindung standen. All das endete mit einer starken Säkularisierung im 20. und dem beginnenden 21. Jahrhundert, auch wenn es Gegenbewegungen gab – obwohl man hier sehr differenziert an die jeweilige Gesellschaft herangehen muss. In vielen Ländern und vor allem außerhalb der Städte waren und sind die Ideen und Strukturen der religiösen Welt bis heute stark. Selbstverständlich ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Konfessionen eine der Ausrichtungen der evangelisch-theologischen Fakultät, die ihr 200jähriges Jubiläum feiert, aber gerade in diesem Bereich entstehen auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen dem großen Bereich an Forschenden und Lehrenden des Faches Geschichte der Universität Wien mit der evangelisch-theologischen Fakultät. Es ist nicht nur die Fachbibliothek der Fakultät, die den forschenden Historikerinnen und Historikern Bücher zugänglich macht, die sonst nirgendwo aufgestellt sind, es sind nicht nur die Publikationen der Theologen, die uns weiterbringen – insbesondere, wenn man wie ich in der Frühen Neuzeit mit ihren konfessionellen Konflikten arbeitet – sondern auch die persönlichen Kontakte mit den Kolleginnen und Kollegen der evangelischtheologischen Fakultät. Ein wesentlicher Schritt in der letzten Zeit im Sinne in der fächer- und fakultätsübergreifenden Forschung war sicher der Band, in dem vom Historiker Herwig Wolfram initiierten, vielbändigen Handbuch der österreichischen Geschichte. Der Band »Geschichte des Christentums in Österreich von der Spätantike bis zur Gegenwart« aus dem Jahr 2005, deren Herausgeber die Theologen Rudolf Leeb und Maximilian Liebmann und der Historiker Georg Scheibelreiter, sowie der katholische Kirchenhistoriker Peter G. Tropper sind.1 Ich selbst habe in der Zusammenarbeit mit Rudi Leeb, mit dem ich zwei Ausstellungen mit dem Schwerpunkt der Reformation kuratiert habe, viel gelernt. Bei der Arbeit an unserer ersten gemeinsamen Ausstellung, der Oberösterreichische Landesausstellung 2010 zum Thema Renaissance und Refor-

1 Rudolf Leeb u. a. (Hg.): Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003.

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Karl Vocelka

mation im Schloss Parz bei Grieskirchen2 gelang es uns eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit zu entwickeln, die dann in der Ausstellung des Wien Museums mit dem Titel »Brennen für den Glauben«3 2017 weiterführen konnte. Allerdings beschränkt sich die Forschung nicht auf dieses lange 16. Jahrhundert, sondern auch für die Zeit danach kann man nicht von der Religion absehen, wenn man historische Forschungen betreibt, neben der modernen Genderforschung, neben der sozialen Differenzierung der Gesellschaft, ist sicherlich auch die konfessionelle Zugehörigkeit ein wesentlicher Parameter der Analyse. Die neueren Trends der Geschichtsforschung eröffnen große Möglichkeiten Themen von einem interdisziplinären Ansatz zu bearbeiten. In den Geisteswissenschaften sind die einst strengen Trennungen der Fächer nicht ganz aufgehoben, aber viel geringer geworden. Hat man noch vor einigen Dekaden am Titel einer Publikation klar feststellen können, welchem Fachbereich die Arbeit zuzuordnen ist, sind viele neuere Publikationen nicht so leicht einzuordnen. Ein wachsender Anteil behandelt Themen, die im Überschneidungsbereich der Disziplinen angesiedelt sind. Gerade im Bereich der Themen, die sowohl theologische und kirchengeschichtliche Aspekte haben, ist die übergreifende Methodik zu einem verbindenden Element geworden. Waren die früheren Themen – zumindest in der Frühen Neuzeit auf die Aspekte »Religion und Politik«, »Staat und Kirche« oder den »Normen kirchlicher Religiosität« ausgerichtet – und meist sehr schnell nach der Argumentation des Autors einer Konfession zuzuordnen, so hat sich die Forschung liberalisiert und entideologisiert. Dabei spielte auch das »neue Schlagwort« der Konfessionalisierung, die auf alle Konfessionen anwendbar ist, eine große Rolle. Die beiden deutschen Historiker Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard haben diese erfolgreiche These gleichzeitig entwickelt, und damit das Konfessionalisierungsmodell systemtheoretisch begründet.4 2 Karl Vocelka u. a. (Hg.): Renaissance und Reformation. OÖ. Landesausstellung 2010, Linz 2010. 3 Rudolf Leeb u. a. (Hg.): Brennen für den Glauben. Wien nach Luther (Katalog zur 413. Sonderausstellung im Wien Museum), Salzburg/Wien 2017. 4 Wolfgang Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), 226–251; ders.: Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: ders. (Hg.): Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, München 1981, 165–189, und ders.: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), 257–277; Heinz Schilling: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 48), Gütersloh 1981; ders. (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der »Zweiten Reformation«. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, Gütersloh 1986; und ders.: Die Konfessionali-

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Das ist auch an der neuen Diskussion um ein Modell, das Max Weber entwickelte, der sich – wie es zunächst schien – vorwiegend mit dem Protestantismus, speziell mit dem Calvinismus beschäftigt, zu sehen. Seine These, dass der Calvinismus die Grundlage für den Kapitalismus – eindeutig ein historischsoziologisches Thema – darstellte, ist eine oft zitierte Annahme, die allerdings auch heftige Diskussionen hervorbrachte. In der derzeitigen Weber-Renaissance in der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte wurde zuletzt von dem Schweizer Historiker und großen Spezialisten der Religionsgeschichte Peter Hersche Max Webers Beschäftigung mit dem Katholizismus untersucht, der eine bisher wenig beachtete Rolle spielte.5 Damit wurde sein stark an der Reformation ausgerichtetes Weltbild relativiert und verbreitert. Das eröffnet neue Themen der Diskussion, welchen Einfluss die verschiedenen Religionen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur hatten. Neuere Forschungen haben sich von dem politischen und organisatorischen Bild der Konfessionen im 16. Jahrhundert entfernt. Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehntenten neu ausgerichtet und die einst im Winkerl stehende Kulturgeschichte übernahm eine führende Rolle. Dabei kam dem Faktor Religion eine hervorragende Bedeutung zu. Frömmigkeit und Glauben standen im Fokus, und es ist mehr als ein Zufall, dass der Deutsche Historikertag 2016 das Thema Glauben als Gegenstand des Wissens zum Thema gemacht hatte. Damit wurde auch die Säkularisierungsthese in Frage gestellt und vor allem das 19. Jahrhundert, in dem man von einem »Zweiten Konfessionellen Zeitalter« spricht, rückte in den Vordergrund.6 Die Tagung war auf alle Formen des Glaubens, nicht nur im religiösen Sinn, sondern auch z. B. in der Wissenschaftsgeschichte, epochenübergreifend und global angelegt. Auch in Österreich gab es in der letzten Zeit Bemühungen, sich mit religiösen Themen näher zu beschäftigen. Das an der Universität angesiedelte und 2018 gegründete Forschungszentrum Religion und Transformation in Contemporary Society7 umfasst viele Fakultäten und Disziplinen, allerdings ist dabei das Fach Geschichte, in diesem Fall die Zeitgeschichte, leider nicht vertreten. Viele Themen dieser Schnittmenge der evangelisch-theologischen Fakultät und des Fachbereichs Geschichte harren noch der Bearbeitung. Gerade in der Frühen Neuzeit sind manchen Felder nicht gut genug bearbeitet, um nur ein sierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 10–45. Vgl. auch Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988, Gütersloh 1992. 5 Peter Hersche: Max Weber, die Ökologie und der Katholizismus, Basel 2022. 6 https://www.historikertag.de/Hamburg2016/. 7 Zum Forschungszentrum vgl. https://www.religionandtransformation.at/.

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Beispiel zu nennen: Die Frage der Migrationsbewegung der aus den habsburgischen Gebieten vertriebenen Protestanten in der gewaltsamen Rekatholisierung mit ihren demographischen, ökonomischen und kulturellen Folgen, ist noch nicht in einem interdisziplinären Sinn erforscht. Da bietet sich wie bei vielen anderen Themen einer fakultätsübergreifenden Zusammenarbeit geradezu an. Möge diese schon bestehende Kooperation wachsen und gedeihen, das wünsche ich der evangelisch-theologischen Fakultät ganz herzlich zu ihrem 200. Geburtstag.

3. Theologie der Zukunft? Anhaltspunkte der Gegenwart. Ringvorlesung des Professoriums

Wilfried Engemann

Herausforderungen einer zeitgenössischen Theologie. Zur Eröffnung der Ringvorlesung des Professoriums*

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Studierende! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Willkommen zum dritten Teil der Veranstaltungen im Rahmen des 200-JahrJubiläums der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien, zur Ringvorlesung des Professoriums! Im Sommersemester haben wir die Alumni als eine Art Vorhut ins Jubiläumsjahr vorausgeschickt und sie darum gebeten, mit Blick auf ihr jeweiliges Praxisfeld (Gemeinde, Schule, Diakonie, Krankenhaus, Wirtschaft) das Terrain einer Theologie der Zukunft zu erkunden – mit anderen Worten: praxisnahe Anhaltspunkte dafür ermitteln, was in Zukunft von der Theologie zu erwarten sei. Die seit gestern hinter uns liegenden zentralen Festtage haben wir dazu genutzt, mit hochkarätigen Referentinnen und Referenten, mit einer Podiumsdiskussion und durch Statements aus anderen Fakultäten die Belastbarkeit unseres Argumentationsrepertoires zu prüfen, das wir benutzen, wenn wir die Vorstellungen, Intentionen und Inhalte unserer theologischen Arbeit diskutieren. Jetzt können wir uns nicht länger drücken. Wir, die Professorinnen und Professoren der Evangelisch-Theologischen Fakultät, nehmen das 200-Jahr-Jubiläum zum Anlass, unser Verständnis vom Profil einer zeitgenössischen Theologie zu umreißen. Dabei haben wir das Motto dieses Jubiläums ein wenig modifiziert. Es heißt jetzt: »Theologie der Zukunft? Anhaltspunkte in der Gegenwart.« Wir werden versuchen, aus der Perspektive unseres jeweiligen Fachgebiets darzulegen, was wir an unserer theologischen Arbeit für wesentlich halten, wofür sie heute gut ist, worin ihre Relevanz liegt, von wem wir erwarten, dass er sie gebrauchen könnte – und warum wir unsere Arbeit lieben. In elf Vorträgen * Die Ringvorlesung des Professoriums der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien stand ebenfalls im Zeichen des 200-Jahr-Jubiläums. Sie wurde am 11. Oktober 2021 um 19.30 Uhr im Vorlesungsgebäude der Fakultät (Schenkenstraße 8–10) eröffnet.

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bringen wir Wissensbestände, Modelle, Erfahrungen und Ideen zur Sprache, von denen wir finden, dass sie sich bewährt haben und über den Tag hinaus von Bedeutung sein dürften – ohne dass wir dabei die Ewigkeit im Blick hätten. Die vielleicht manchmal etwas pathetisch, unbescheiden oder selbstbewusst dahergekommenen Signalworte, die in den Vorträgen und Reden dieses Jubiläums mit Bezug auf unsere theologische Arbeit gelegentlich gefallen sind – »Lebensdienlichkeit«, »Brauchbarkeit«, »Zeitgenossenschaft«, »Zukunftsfähigkeit« und andere – kommen in irgendeiner Hinsicht zu allen Disziplinen der Theologie zum Tragen, was natürlich nicht heißt, Theologie primär als Anwendungswissenschaft zu deklarieren – eine Charakteristik, die im Übrigen für überhaupt keine Wissenschaft zutrifft. Aber dass wir überhaupt zeitbezogen theologisch arbeiten, dass wir dafür Argumentationsmuster brauchen, die sich auf Existenzfragen beziehen und dass wir von der Erwartung bestimmt sind, dass Menschen durch die christliche Religion als Menschen zum Vorschein kommen dürfen, nicht als spirituelle Leistungsträger oder Glaubensprofis, steht außer Zweifel. Für die Arbeit von Theologie Lehrenden bedeutete das unter anderem, dass sie sich nicht nur als Vermittler theologischen Wissens verstehen, sondern, liebe Studierende, als Ihre Sparringpartner, die die Theologie, die sie austeilen, zurückfordern. Wäre das ein Deal? Damit wollen wir Sie dazu anregen [– Sie groß geschrieben], Theologie nicht nur zu kennen oder anzuwenden, sondern Theologie zu treiben. Wir werden unser Bestes geben. Und Herr Kollege Christian Danz hat sich bereiterklärt, damit anzufangen. Vielen Dank, lieber Christian! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor uns der heutige Moderator, Herr Dr. Thomas Scheiwiller, Assistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, den Referenten dieses ersten Abends vorstellen wird, erlauben Sie mir bitte noch ein paar Hinweise zum Ablauf dieser Veranstaltung. Bitte lassen Sie Ihre Kameras und Mikrophone ausgeschaltet. Über die ChatFunktion des Übertragungstools haben Sie gleichwohl die Möglichkeit, dem Referenten Fragen zu stellen, die der Moderator sammelt, bündelt und – nach dem Vortrag – stellvertretend für Sie an den Referenten richtet. Damit ist der dritte Teil unserer Jubiläumsveranstaltungen eröffnet. Wir freuen uns, Sie unter uns zu wissen!

Annette Schellenberg

»Da entfernte sich der Satan vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel« (Hi 2,7). Zur Relevanz des Alten Testaments und seiner historisch-kritischen Erforschung

Abstract This article recalls two of the most important insights of critical biblical scholarship: the Bible’s historical relativity and its theological diversity. Focusing on the Old Testament, it shows what these insights entail, how they conflict with traditional assumptions about the Bible, how they enable us to appreciate it in new ways, and thereby are significant also theologically. The article concludes with some reflections on the canon and the understanding of the Bible as »Holy Scripture.«

Anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien haben wir heute hier wirkenden Professorinnen und Professoren uns zu einer Ringvorlesung »Theologie der Zukunft? Anhaltspunkte in der Gegenwart« entschlossen. Aus der Perspektive unserer jeweiligen Fächer wollen wir uns über unser Ideal vom Profil einer zeitgenössischen Theologie austauschen und unsere Gedanken mit der Öffentlichkeit teilen. Als Bibelwissenschaftlerin beschäftigt mich natürlich v. a. der Stellenwert der Bibel und ihrer historisch-kritischen Erforschung, als Alttestamentlerin geht es mir dabei konkret v. a. um das AT. Als »Heilige Schrift« spielt die Bibel im Christentum ja eine zentrale Rolle, und im evangelischen Christentum wird ihr besonderer Status durch den reformatorischen Grundsatz des sola scriptura nochmals eigens betont. Dank ihres hohen Stellenwerts hat die Bibel nicht nur die christliche Theologie, sondern die abendländische Kultur insgesamt wesentlich geprägt. Im 17.–19. Jahrhundert entstand die kritische Bibelwissenschaft, deren historisch-kritische Methode es ermöglicht, die Bibel auch wissenschaftlich zu erforschen und so nochmals sehr viel besser zu verstehen. Diese Entwicklung, die mit der Bibel auch die Theologie insgesamt betraf, war wesentlich durch Gelehrte evangelischen Glaubens mitbestimmt;1 und es gilt als eine – von vielen 1 Wichtige evangelische Gestalten waren der Niederländer Hugo Grotius (1583–1645) und die Deutschen Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Johann Salomo Semler (1725–1791), Johann Gottfried Herder (1744–1803), Johann Philipp Gabler (1753–1826) und Wilhelm Mar-

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gerühmte – Besonderheit der evangelischen Kirche, dass sie der wissenschaftlichen Erforschung ihrer heiligen Schriften so offen gegenübersteht. Ohne Spannungen verlief die Etablierung der kritischen Bibelwissenschaft aber auch im evangelischen Kontext nicht. Im Gegenteil: Ihre Erkenntnis, dass die Bibel ein durch und durch menschliches Produkt ist, steht in eklatantem Widerspruch zum altprotestantischen Schriftprinzip und hat damit »eine Grundlagenkrise ersten Ranges« hervorgerufen, »an deren Folgen auch die gegenwärtige protestantische Theologie noch arbeitet«.2 Vielen fällt die Abkehr von traditionellen Vorstellungen schwer, und der methodische Atheismus der Bibelwissenschaft weckt Widerstand.3 Fundamentalisten lehnen die historischkritische Methode ab, um an ihren Vorstellungen von Inspiration und Unfehlbarkeit der Bibel festhalten zu können.4 Auch in evangelikalen Kreisen gilt sie als unangemessen oder zumindest stark defizitär. Nicht-evangelikale Kirchen erkennen die historisch-kritische Methode zwar grundsätzlich an, aber selbst theologisch Gebildete nehmen ihre Grundeinsichten häufig nur selektiv zur Kenntnis und argumentieren noch sehr traditionell mit der Bibel.5 Aufgefallen ist

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tin Leberecht de Wette (1780–1849). Daneben kamen wesentliche Impulse aber etwa auch von den katholischen Franzosen Jean Astruc (1684–1766) und Richard Simon (1638–1712) sowie dem jüdischen Niederländer Baruch de Spinoza (1632–1677). Für einen Überblick vgl. Stephan Bitter: Art. Bibelauslegung, Epochen der christlichen, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2006 (Zugriffsdatum: 31. 8. 2021). Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 76. Vgl. ähnlich Konrad Schmid: Die Wissenschaft vom Alten Testament im Rahmen der Theologie, in: Christian Albrecht/Peter Gemeinhardt (Hg.): Themen und Probleme Theologischer Enzyklopädie. Perspektiven von innen und von außen, Tübingen 2021, (37–46) 38: »Die sich erst rund 250 Jahre nach der Reformation etablierende Bibelkritik riss zunächst einen Graben zwischen Exegese und Dogmatik auf, dann aber auch weitere Gräben sowohl innerhalb der Exegese als auch innerhalb der Dogmatik.« Zur Krise des Schriftprinzips und verschiedenen Versuchen, damit zurechtzukommen, vgl. Danz: Einführung, 76–88, und die dort genannte Literatur; zu jüngeren hermeneutischen Ansätzen weiter Gerd Theißen: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin 2014, 50–64. Dass der kritische Umgang mit der Bibel in der evangelischen Theologie bis heute ein Thema bleibt, bei dem Diskussionsbedarf besteht, zeigt der 17. Europäische Kongress für Theologie, der im September 2021 zum Thema »Heilige Schriften in der Kritik« in Zürich tagte. Mit »methodischem Atheismus« bezeichnet man den in der Neuzeit grundlegenden wissenschaftlichen Standard, die Welt (und alles, was dazu gehört) so zu erklären, als ob es Gott nicht gäbe. Entsprechend sind Erklärungen mit einem Eingreifen Gottes (etwa bei der Entstehung von Texten oder dem Lauf der Geschichte) in der Bibelwissenschaft genauso unzulässig wie in der Assyriologie und Ägyptologie sowie grundsätzlich allen Wissenschaften. Explizit gemacht wird das etwa in den »Chicago Erklärungen«; vgl. den Überblick bei Manfred Oeming: Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes? Protestantische Perspektiven, in: Ralf Rothenbusch/Karlheinz Ruhstorfer (Hg.): Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute, Freiburg u. a. 2019, (52–99) 85–88. Vgl. Konrad Schmid: Wieviel Bibelkritik braucht der Protestantismus? Bilanz und Ausblick nach 500 Jahren Reformation und 250 Jahren historisch-kritischer Exegese, in: Wolfram Kinzig/Julia Winnebeck (Hg.): Glaube und Theologie. Reformatorische Grundeinsichten in

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mir das jüngst etwa wieder in den kirchlichen Debatten um die Ehe für alle. Neben solchen, die gegen die Ehe für alle sind, haben hier auch viele Befürworter*innen mit einzelnen Bibelstellen argumentiert, um darzulegen, dass aus biblischer Sicht nichts gegen homosexuelle Beziehungen spricht. Nur wenige haben gefragt, inwieweit es sinnvoll ist, in Fragen der Sexualmoral und des Eheverständnisses die Bibel zu konsultieren, da solche Fragen doch offenkundig stark zeitbedingt sind und »das biblische Eheverständnis« (so man von einem solchen überhaupt reden kann) viele Details enthält, bei denen hoffentlich allen klar ist, dass sie sich nicht auf heute übertragen lassen.6 Weil die menschliche Natur der Bibel in kirchlichen Kreisen unterbetont bleibt und sich die Metapher von der Bibel als »Wort Gottes« bleibender Beliebtheit erfreut,7 kommen Jahr für Jahr wieder neue Studienanfänger*innen in Vorlesungen wie »Einleitung in das Alte Testament« oder »Geschichte Israels« und haben dann gröbere Dissonanzerfahrungen, weil hier in einer Art über das AT geredet wird, die für sie völlig neu ist und sich mit ihrem bisherigen Bibelverständnis nicht vereinbaren lässt. Und das, obwohl die Pfarrerinnen und Pfarrer, aus deren Gemeinden sie kommen, i. d. R. einige Jahre oder Jahrzehnte zuvor ganz ähnliche Vorlesungen gehört und ein Theologiestudium abgeschlossen haben. Ein Stück weit trägt auch die Bibelwissenschaft selbst zur Spannung bei. Um die biblischen Schriften in ihrem historischen Kontext zu verstehen, ist es notwendig, auch Nachbarsdisziplinen zu berücksichtigen und nicht-biblische Texte der ökumenischen Diskussion (VWGTh 54), Leipzig 2019, (243–258) 245, der davon spricht, dass die Bibelkritik in den volkskirchlichen Vollzügen »ein marginales Schattendasein fristet«. Ähnlich Oeming: Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes (s. Anm. 4), 85, der seine Beobachtungen aber positiv interpretiert. 6 Man beachte etwa die folgenden Passagen: Ex 21,7–11 (Sklavinnen können zur Frau genommen werden); Dtn 21,10–14 (Wer im Krieg eine Frau sieht, die ihm gefällt, darf sie gefangen nehmen und heiraten); Dtn 21,15–17 (ein Mann hat zwei Frauen); Dtn 22,13–21 (Frauen, die bei der Heirat nicht mehr jungfräulich sind, müssen gesteinigt werden); Dtn 22,22 (Ehebruch wird mit Todesstrafe geahndet); Dtn 22,28–29 (wenn ein Mann eine unverheiratete Frau ergreift und mit ihr schläft, muss er sie danach heiraten und darf sie nicht mehr verstoßen; was die Frau will, spielt dabei keine Rolle). 7 Für einen knappen Überblick über die Entwicklung der Vorstellung der Bibel als »Wort Gottes« vgl. Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (ThLZ.F 21), Leipzig 2008, 9–23. Lauster selbst schließt (ebd., 23) mit folgender Einschätzung, die ich teile: »Überblickt man die Folgeschäden der Wort-GottesTheologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. […] Im Umgang mit der Bibel erleben Menschen etwas, was sie als konkretes Angesprochensein beschreiben. Wort Gottes meint dann nicht länger die quasi objektive Vorstellung eines redenden Gottes, sondern es beschreibt vielmehr eine menschliche Reaktion. Wort-Gottes ist in diesem Sinn eine religiöse Deutungskategorie, mit der Menschen dieses innere Angesprochensein und Ergriffensein durch ein persönliches Gegenüber zum Ausdruck bringen. Wort Gottes ist daher als ein Deutungsbegriff aufzufassen, mit dem Menschen eine spezifische Art der Gotteserfahrung beschreiben.« Zu diesem letzten Punkt s. u. 3. mit Anm. 52 und 53.

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zu studieren. Für die alttestamentliche Wissenschaft etwa sind die Archäologie, Semitische Philologie, Altorientalistik und Ägyptologie wichtige Nachbarsdisziplinen, und neben den biblischen Texten werden auch altorientalische Texte, althebräische Inschriften sowie die Schriften von Qumran berücksichtigt. Um hier mitreden und die Forschung vorantreiben zu können, sind Detailkenntnisse notwendig, die den meisten Forschenden nur noch bei einer starken Spezialisierung möglich sind. Entsprechend spezialisiert und für Nicht-Spezialisierte schwer verständlich sind dann auch die Publikationen solcher Forschungen. Schwer lesbar oder langweilig sind exegetische Publikationen für Nicht-Exeget*innen sodann häufig auch darum, weil die begrenzte Anzahl der Schriften im biblischen Korpus und der wissenschaftliche Druck, nicht nur bereits Bekanntes zu wiederholen, sondern auch Neues herauszuarbeiten, viele Bibelwissenschaftler*innen dazu verleitet, Detailprobleme anzugehen und/oder ihre Aufmerksamkeit stärker auf die außerbiblischen Quellen als die Bibel selbst zu richten. Nach der Relevanz der Forschungserkenntnisse für die Theologie und die Bedeutung der biblischen Texte für die Gegenwart wird dabei häufig nicht mehr gefragt – sei es, weil die Bibelwissenschaftler*innen selbst in erster Linie historisch interessiert sind, sei es, weil sie nicht Gefahr laufen wollen, sich durch ein explizit gemachtes theologisches Interesse bei anderen Forschenden (v. a. der Nachbarsdisziplinen) zu disqualifizieren. Ich habe das jetzt sehr pointiert formuliert; es gibt zahlreiche Bibelwissenschaftler*innen, die durchaus große Forschungsfragen angehen und sich bemühen, die Relevanz ihrer Erkenntnisse für die Theologie herauszustellen. Aber anderslautende Vorwürfe haben durchaus einen Anhalt in der Realität.8 Um über diese Schieflagen nicht nur zu klagen, sondern zur Verständigung beizutragen, werde ich diesen Aufsatz nutzen, um einiges an sich wohl Bekanntes zu wiederholen und die Frage nach der (auch theologischen) Relevanz zu stellen.9 8 Vgl. die scharfe Kritik von Friedrich Wilhelm Graf aus der F.A.Z. 44 (21. 2. 2008), 8 (zitiert bei Konrad Schmid: Sind die Historisch-Kritischen kritischer geworden? Überlegungen zu Stellung und Potential der Bibelwissenschaften in der Theologie, in: Martin Ebner [Hg.]: Wie biblisch ist die Theologie?, Neukirchen-Vluyn 2011, [63–78] 63): »Die Theologien leiden unter einem grotesken Übergewicht der exegetischen Disziplinen, die sich, angesichts der knappen Bestände an heiligen Texten, in ein für Außenstehende absurdes philologisches Spezialistentum verrannt haben.« Und die mildere Kritik von Schmid: Wissenschaft vom Alten Testament (s. Anm. 2), 46: »Ihr [der alttestamentlichen Wissenschaft] vielleicht größtes Defizit besteht darin, dass es ihr nicht gelungen ist, auch der theologischen Fachwelt ihre neuen Erkenntnisse in einer Weise zu vermitteln, die deren gesamttheologische Relevanz nachhaltig aufzeigen könnte.« 9 Vgl. ähnlich Schmid: Wieviel Bibelkritik (s. Anm. 5), 243–258; weiter Friedhelm Hartenstein: Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (BThS 165), Göttingen 2016 (mit Überblicken über verschiedene hermeneutische Ansätze); Knut Backhaus: Aufgeben? Historische Kritik als Kapitulation und Kapital von Theologie (ZThK 114), 2017, 260–288; sowie mit deutlich anderen Akzenten Oe-

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Konkret möchte ich an einige Grundeinsichten der kritischen Bibelwissenschaft erinnern, die Spannungen mit einem traditionellen Bibelverständnis benennen und darlegen, warum eine zukunftsfähige Theologie hinter diese Grundeinsichten nicht zurück kann – nicht zuletzt auch darum, weil sie auch theologisch relevant sind, weit über die konkrete Frage nach einem adäquaten Bibelverständnis hinaus. Ich konzentriere mich dabei aufs AT; vieles betrifft aber die Bibel insgesamt. Um den folgenden Ausführungen auch etwas bibelwissenschaftliche Substanz zu geben, bringe ich immer wieder Beispiele aus der konkreten exegetischen Arbeit ein, gehäuft solche aus dem Hiobbuch, aber auch andere. Mein Aufsatz gliedert sich in drei Teile: 1. Geschichtliche Bedingtheit; 2. Theologischer Pluralismus und diskursives Weiterdenken; 3. Kanon und »Heilige Schrift«.

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Geschichtliche Bedingtheit

Die wichtigste Einsicht der kritischen Bibelwissenschaft ist die geschichtliche Bedingtheit der biblischen Bücher. Wie alle anderen Texte der Welt sind auch diejenigen der Bibel von Menschen verfasst. Und als solche enthalten sie keine zeitlosen göttlichen Wahrheiten, sondern geschichtlich bedingte Aussagen von Menschen, die ihre Wirklichkeit deuten. Diese Grundeinsicht ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Ein erster Punkt ist der, dass damit klar ist, dass die Bibel kein Tatsachenbericht ist. Der Prolog des Hiobbuchs (Hi 1–2) bietet hierfür ein hervorragendes Beispiel. In ihm wird berichtet, dass Gott und der Satan Hiob ins Unglück stürzten, weil sie mittels eines Experiments herausfinden wollten, ob Hiob Gott ohne Grund fürchtet oder vielleicht doch nur, weil Gott ihn bisher gesegnet hatte (Hi 1,9–11; 2,4–5). Die beiden Kapitel schildern, dass Hiob deswegen in einem ersten Schicksalsschlag seinen ganzen Besitz verlor (inklusive zehn Kinder, über 10’000 Tiere und zahlreiche Diener) und in einem zweiten Schicksalsschlag seine Gesundheit – den entscheidenden Vers, wonach Satan Hiob mit bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel schlug (Hi 2,7), habe ich meinem Aufsatz als Titel vorangestellt. Diese Erzählung wirft ein derart schlechtes Licht auf Gott, dass nur wenige davon ausgehen, dass sich das hier Erzählte auch wirklich so abgespielt hat. Entsprechend kann man aus der Erwähnung des Satans auch nicht auf dessen Existenz schließen, und die Erwähnung von »Söhnen Gottes« im gleichen ming: Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes (s. Anm. 4), 52–99, der als evangelischer Bibelwissenschaftler und in Anknüpfung an die Dialektische Theologie zwischen der Bibelwissenschaft und traditionellen Vorstellungen (AT als Christuszeugnis, Bibel als inspiriertes Wort Gottes) zu vermitteln versucht.

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Vers (Hi 1,6) ist kein Beweis, dass es mehrere Götter oder einen himmlischen Hofstaat gibt. Im Prolog des Hiobbuchs ist durch märchenhafte Züge angedeutet, dass es sich nicht um einen Tatsachenbericht handelt, sodass die meisten Bibelleser*innen den Unterschied zwischen Erzähltem und historischen Tatsachen intuitiv richtig erfassen. Ähnlich wie für das Hiobbuch gilt auch für all die anderen Bücher des AT, dass sie keine Tatsachenberichte bieten, sondern (bei einem breiten Theologiebegriff) poetische Theologie bzw. religiöse Deutungen der Wirklichkeit durch Erzählungen, Sprüche, Lieder, etc.10 Bei vielen dieser anderen Bücher tun sich Bibelleser*innen mit einem traditionellen Bibelverständnis bei der Unterscheidung von Erzähltem und historischen Tatsachen allerdings schwer. Ein Stück weit hängt das auch mit den biblischen Büchern selbst zusammen. Im AT betrifft dies v. a. die Bücher Genesis bis 2. Könige, die Prophetenbücher sowie weitere Bücher (wie Esra-Nehemia oder auch Esther), die von der Geschichte Israels oder einzelner Israelit*innen handeln. In ihnen fällt die Trennung zwischen Historischem und Fiktivem schwerer als im Fall des Hiobbuchs. Das hängt u. a. damit zusammen, dass diese Bücher sowohl historische als auch unhistorische Informationen enthalten, ohne dass der Unterschied markiert ist. Das sog. deuteronomistische Geschichtswerk (Jos–2Kön) etwa berichtet neben anderem, dass die Israeliten um 1200 v. Chr. das Land Kanaan eroberten, im 6. Jh. v. Chr. dann aber ihrerseits von den Babyloniern erobert wurden, wobei auch der Tempel in Jerusalem zerstört wurde. Während die Eroberung Judas durch die Babylonier und die Zerstörung des Tempels unbestrittene historische Tatsachen sind, sind wir im Fall der sog. Landnahme im Bereich der Legende; die meisten Forscher*innen halten den Bericht von Jos 1–12 für fiktiv.11 Die Bibelwissenschaft ist um die Trennung zwischen Historischem und Fiktivem bzw. Legendarischem bemüht. Im Einzelnen ist die Unterscheidung aber häufig schwierig; die Quellenlage ist für viele Epochen schlecht, und es sind unterschiedliche Rekonstruktionen möglich. 10 Den Charakter der Bibel als Dichtung hat als erster Johann Gottfried Herder stark betont. In jüngerer Zeit wird die poetische Qualität und Kraft der biblischen Texte u. a. stark von Gerd Theißen hervorgehoben, der dabei von »religiöser Poesie« und »Poesie des Heiligen« spricht; vgl. Gerd Theißen: Argumente für einen kritischen Glauben, oder: Was hält der Religionskritik stand?, München 1978 (die beiden Begriffe finden sich ebd., 62, 71, 74, 91, 107–108); vgl. in jüngerer Zeit ders.: Polyphones Verstehen (s. Anm. 2), 325–385 und passim. 11 Das Urteil »fiktiv« wäre missverstanden, wenn man einzig heraushörte, dass Jos 1–12 als historische Quelle für die Entstehung Israels keinen Wert hat. Wesentlicher für das Verständnis des Texts ist die Frage, was seine Autoren mit dieser Fiktion zum Ausdruck bringen wollten – etwa die kriegerische Größe JHWHs, der es mit anderen kriegerischen Göttern wie Assur aufnehmen kann. Für eine knappe Darstellung dieser und verwandter Fragen vgl. Thomas Römer: Josua, in: Thomas Römer u. a. (Hg.): Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013, 308–320.

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Dass in den biblischen Texten zwischen Erzähltem und historischen Tatsachen nicht unterschieden wird, hat neben den Genres der Texte12 auch damit zu tun, dass die biblischen Autoren einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit hatten als wir heute. Anders als für das rationale Weltbild, das in der westlichen Welt seit der Aufklärung vorherrscht und damit auch die Bibelwissenschaft bestimmt, lässt sich in ihrem vorrationalen, magisch-mythischen Weltbild zwischen Geschichte und Mythos, Vernunft und Glaube sowie Natürlichem und Übernatürlichem nicht scharf trennen.13 Die Differenz zwischen dem biblischen und dem heutigen Weltbild schlägt sich darin nieder, dass die alttestamentliche Wissenschaft die beiden Begriffe »biblisches Israel« und »Heilsgeschichte« geprägt hat und diese in Abgrenzung zu den Begriffen »historisches Israel« und »(Profan-)Geschichte« verwendet, um den biblischen Befund zu beschreiben. Die Autoren der alttestamentlichen Bücher hingegen sprechen einfach von Israel, konzentrieren sich bei der Erzählung seiner Geschichte auf das Verhältnis zu JHWH und sind davon überzeugt, dass dieser die Geschichte seines Volks (wie auch mancher Nachbarvölker oder auch der ganzen Welt) maßgeblich bestimmt. Dabei ereignen sich mitunter auch Wunder, wobei diese nach dem Verständnis der biblischen Autoren nicht durch ihre Übernatürlichkeit charakterisiert sind, sondern durch ihren außergewöhnlichen oder unerwarteten Charakter, oder noch allgemeiner formuliert: dass sie die Größe Gottes besonders eindrucksvoll erweisen. Entsprechend sind für die alttestamentlichen Autoren auch Theophanien und Offenbarungen weit weniger außergewöhnlich als für uns heute, denn sie rechnen grundsätzlich wie selbstverständlich mit der Präsenz Gottes in der Welt und damit, dass Gott mit den Menschen kommuniziert und in die Geschichte eingreift. Dass die Unterscheidung von Erzähltem und historischen Tatsachen in der Geschichte der Bibelauslegung vor der Aufklärung nur in Ausnahmefällen beachtet wurde, ist wenig erstaunlich: Im AT selbst spielt die Unterscheidung keine wichtige Rolle und einige seiner Texte erheben den Anspruch, direkt von Gott offenbarte Worte zu enthalten. Und das magisch-mythische Weltbild der Bibel war noch viele Jahrhunderte lang dominant, über die Reformation hinaus, wobei sich auch die Vorstellung entwickelte, die Bibel (insgesamt) sei »Wort Gottes« bzw. inspiriert. Von daher ist es auch ein Stück weit verständlich, dass die Historizität des in der Bibel Berichteten von gewöhnlichen Bibelleser*innen bis heute häufig noch vorausgesetzt oder zumindest nicht explizit bedacht wird. Einen Schritt weiter gehen evangelikale Christ*innen, die die Frage der Histori12 Zum poetischen Charakter der atl. Texte s. o. und s. u. mit Anm. 10 und 54. 13 Allgemein zum alttestamentlichen Weltbild (im Sinn der Welterfahrung) vgl. Jan Dietrich: Art. Welterfahrung (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex. de), 2017 (Zugriffsdatum: 31. 8. 2021) und die dort genannte weitere Literatur.

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zität nicht ausblenden, sondern im Gegenteil sehr viel Energie an den Tag legen, um zu beweisen, dass das in der Bibel Erzählte auch tatsächlich im historischen Sinn passiert ist. Insbesondere beim Exodus und bei der Landnahme scheint die Frage der Historizität für viele Evangelikale fast bedeutsamer zu sein als diejenige nach der Bedeutung der Texte. Manche gehen dann noch weiter, und fordern, Texte wie den Schöpfungsbericht von Gen 1 als eine Art Tatsachenbericht zu verstehen, womit sie sich auch noch einen Konflikt mit den Naturwissenschaften einhandeln. Die Beispiele zeigen, dass die Erkenntnis der geschichtlichen Bedingtheit der biblischen Schriften von weitreichender Bedeutung ist. Sobald klar ist, dass die Bibel keine zeitlosen Wahrheiten enthält, fällt ein folgenreicher Zwang weg. Damit spricht die Hochschätzung der Bibel nicht länger dagegen, dass die Theologie auch solchen Wissenschaften gegenüber offen ist, die die Welt anders erklären, als es die biblischen Autoren taten.14 Und das ist wohl durchaus im Sinn der biblischen Autoren selbst: Da sie in ihrem magisch-mythischen Weltbild zwischen Glaube und Vernunft nicht unterschieden haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie die beiden gegeneinander ausspielen wollten – zumal sie selbst zur intellektuellen Elite ihrer Zeit gehörten, wie sich an ihren Schriften zeigt.15 Während all das, was ich bisher gesagt habe, für Bibelwissenschaftler*innen und andere Kolleg*innen an einer theologischen Fakultät so selbstverständlich ist, dass darüber eigentlich gar nicht mehr gesprochen werden muss, ist die Erkenntnis der historischen Bedingtheit der biblischen Schriften für die konkrete bibelwissenschaftliche Arbeit in anderer Hinsicht wesentlich. Sie nämlich bedeutet, dass die Schriften der Bibel die Zeit ihrer Entstehung spiegeln. Entsprechend können Bibelwissenschaftler*innen versuchen, diesen (zunächst nur 14 Vgl. Schmid: Wieviel Bibelkritik (s. Anm. 5), 246–247: »Es ist vielleicht angebracht, an dieser Stelle an die Errungenschaften zu erinnern, die die Bibelkritik der modernen Theologie verschafft hat […]: Die Bibelkritik hat die Freigabe der Naturwissenschaften ermöglicht. Kein Christ und keine Christin müssen heute zur Auffassung gezwungen werden, die Welt sei nur 6000 Jahre alt und sie sei in sieben Tagen erschaffen worden. Das ist zwar die Position der Bibel, die auch nicht einfach eine Phantasie darstellt, sondern durchaus wissenschaftlich geprägt ist. Aber die Bibel spiegelt eben die Wissenschaft ihrer Zeit wieder, nicht diejenige der unsrigen Zeit.« Schmid fährt fort und legt dar, dass sich die historische Bedingtheit der Bibel auch in ihren ethischen Urteilen spiegelt, etwa in manchen Aussagen zu Homosexualität, Fremden, Sklaven und Menschen mit Behinderung. »Um mit diesen Positionen der Bibel theologisch verantwortet umzugehen, sind die Auslegungsgemeinschaften auf das Element der Sachkritik angewiesen und können sich nicht auf einen naiven Buchstabenglauben zurückziehen« (ebd., 247). 15 Die alttestamentlichen Schriften zeugen von großer Schriftgelehrsamkeit: ihre Autoren kennen andere Schriften und Traditionen (aus Israel und auch seiner Umwelt) und sie nehmen bewusst auf sie Bezug (s. u.). Und immer wieder werden dabei bisherige Denkformen revolutioniert – etwa in der Entwicklung des Monotheismus und der klaren Unterscheidung zwischen Gott und Welt.

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grundsätzlich bekannten) Zusammenhang zwischen einer Schrift und ihrer Entstehungszeit auszuwerten, um mehr über die Entstehung der Texte, die Hintergründe der in ihnen formulierten Gedanken und die Epochen der Geschichte Israels zu erfahren. So lassen sich z. B. aus Beobachtungen an Texten Rückschlüsse auf deren (absolute) Datierung oder die relative Chronologie zu anderen Text(teil)en ziehen. Oder man kann Inhalte von Texten durch die (vermutete) Zeit ihrer Entstehung erklären – etwa die antiimperiale Ausrichtung und die Namenlosigkeit des Pharao im Exodusbuch, die vielleicht damit zusammen hängen, dass es nicht nur um Ägypten geht, sondern auch um die Neuassyrer im 8. Jh. und um »die Institution irdischer Imperien schlechthin.«16 Hier fragt die Bibelwissenschaft nach der geschichtlichen Wirklichkeit hinter den Texten, aber nicht im Sinn der Historizität des Erzählten (gab es einen Exodus oder nicht?), sondern im Sinn der historischen Wirklichkeit der Autoren, die mit ihren Texten die Welt deuten und dabei auch ihre Gegenwart verarbeiten. Weiter lassen sich aufgrund des Zusammenhangs zwischen einer Schrift und der Zeit ihrer Entstehung auch historische Entwicklungen von Ideen bzw. theologischen Vorstellungen rekonstruieren. Stark verändert hat sich im Laufe der Zeit etwa das Gottesbild. Neben vielen anderen Texten verdient hier auch der Prolog des Hiobbuchs Beachtung. In ihm nämlich werden neben JHWH auch »die Söhne Gottes« und »der Satan« erwähnt (Hi 1,6). Spiegeln sich hier etwa ursprüngliche Vorstellungen aus der vorexilischen Zeit, als Israel noch polytheistisch war? Oder ist die Erwähnung des Satans nicht eher ein Hinweis auf eine Entstehung in der nachexilischen Zeit, als solche Zwischenwesen immer wichtiger wurden?17 Warum dann aber »die Söhne Gottes«? War das nachexilische Israel vielleicht immer noch nicht monotheistisch? Oder geht es darum, den Lesenden ein Signal zu setzen, dass das im Prolog Erzählte eine Erzählung ist und keine realen Einblicke in die Zustände »im Himmel« bietet? Mein Beispiel zeigt, dass solche Fragen auf unterschiedlichen Ebenen relevant sein können. Die Frage der Datierung von Schriften ist wesentlich, weil sich Äußerungen von Menschen sehr viel besser verstehen lassen, wenn man weiß, in welchem Kontext sie gesprochen wurden. Im Fall des Hiobbuchs etwa stellt sich die Frage, was seine Autoren dazu gebracht hat, derart scharfe Anklagen an Gott zu formulieren und den Tun-Ergehen-Zusammenhang in Frage zu stellen. Hat ihnen das Schicksal ähnlich böse mitgespielt wie Hiob? Müssen sie eine konkrete Krise verarbeiten? Oder sind sie primär intellektuell motiviert, geht es um eine Auseinandersetzung mit anderen theologischen Schulen? 16 Konrad Schmid: Theologie des Alten Testaments (Neue Theologische Grundrisse), Tübingen 2019, 143; vgl. ebd., 196–197. 17 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 262–265.

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Im Fall der alttestamentlichen Schriften verkomplizieren sich historische Fragen, weil die meisten von ihnen im Lauf der Zeit überarbeitet wurden. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass ein und dasselbe Buch ältere und jüngere Passagen enthält. Das ist wohl auch beim Hiobbuch der Fall: sein Hauptbestand stammt vermutlich aus der Perserzeit (5. oder 4. Jh. v. Chr.), aber die Tradition eines leidenden Gerechten ist sehr viel älter und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass das Buch nicht »aus einem Guss« ist. Gerade auch beim Prolog gehen die Meinungen über seine Ursprünge stark auseinander, und es gibt Hinweise auf eine Überarbeitungsschicht (dazu später mehr). Manche werden jetzt einwenden, dass die Bibelwissenschaft offenbar mit großen Unsicherheiten konfrontiert ist und ihre Thesen entsprechend hypothetisch sind. Das ist wahr. Es ist aber kein Grund, die wissenschaftliche Erforschung der Bibel grundsätzlich in Frage zu stellen. Viele Erkenntnisse der Bibelwissenschaft sind wohl fundiert. Die bisherige Forschung hat entscheidend zum Verständnis der Bibel beigetragen, und von der zukünftigen Forschung ist Ähnliches zu erwarten. Natürlich ist dabei auch die Bibelwissenschaft selbst historisch bedingt. So sehr es historisch-kritisch arbeitenden Bibelwissenschaftler*innen darum geht, die biblischen Texte und die Welt von damals möglichst objektiv zu verstehen, ist ihre Sicht natürlich durch ihre eigene Gegenwart bestimmt. Entsprechend wirken manche Argumentationen aus älteren Publikationen heutzutage seltsam – und genauso werden manche Argumentationen der heutigen Bibelwissenschaft in der Zukunft seltsam wirken. Und das führt mich zu einem weiteren Punkt, inwiefern die Grundeinsicht in die historische Bedingtheit der Bibel relevant ist: Sie erinnert daran, dass alles historisch bedingt ist – auch Glaubensvorstellungen und theologische Reflexionen.18 Diese Grundeinsicht ist für eine zukunftsfähige Theologie zentral. Natürlich spielt die Tradition in der Theologie eine wichtige Rolle, insbesondere auch die biblische. Natürlich wäre es verfehlt, wenn die Theologie jedem Trend 18 Vgl. Danz: Einführung (s. Anm. 2), 87: »Die historische Forschung leistet der dogmatischtheologischen Thematisierung der Schrift nicht nur den Dienst, das Eigenrecht der Quellen gegenüber der dogmatischen Konstruktion in Erinnerung zu rufen, sondern auch den, die geschichtliche Bedingtheit und Kontingenz ihres eigenen Zugangs und Zugriffs auf die Bibel bewusst zu halten.« Weiter Schmid: Wieviel Bibelkritik (s. Anm. 5), 251–252, mit Fokus auf die reformatorische Theologie: »Das reformatorische Lehrgebäude ergibt sich nicht einfach aus der korrekten, heißt wörtlichen Interpretation der Schrift. Vielmehr ist es Produkt einer langzeitigen Rezeption der Schrift, die so legitim ist wie andere Schriftrezeptionen auch. Die reformatorische Theologie – oder vielleicht besser: die reformatorischen Theologien – sind historisch, kulturell, geographisch und philosophisch bestimmt, und es ist kein Schaden, wenn sie ihre historische Bedingtheit anerkennen und theologisch bedenken. […] Die Anerkennung der historischen Bedingtheit der reformatorischen Theologie ist ein genuin reformatorisches Anliegen ihrer selbst. Die reformatorische Bekenntnisbildung und die reformatorische Schriftauslegung formulieren keine überzeitlich gültigen Sätze, das tut nicht einmal die Bibel. Die Reformationskirchen und ihre Theologien sind semper refomandae.«

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folgte und sich ganz vom jeweiligen Zeitgeist bestimmen ließe. Ebenso verfehlt aber wäre es, wenn sie nicht immer wieder neu über Gott bzw. den christlichen Glauben reflektierte, in einer Art, die dem gegenwärtigen Weltbild angemessen ist, und mit einer Sprache, die Menschen der Gegenwart auf Anhieb verstehen. Im Grunde würden dem wohl die meisten Theolog*innen zustimmen. Dennoch bin ich nicht die Einzige, die hier ein großes Defizit wahrnimmt. Als Beispiel sei die Rede von Gott »im Himmel« herausgegriffen. Die Vorstellung, dass Gott im Himmel zu lokalisieren ist, hat sich in alttestamentlicher Zeit entwickelt, als eine Weiterentwicklung gegenüber der älteren Vorstellung, dass Gott in der Welt präsent ist, insbesondere im Tempel, seiner Wohnung. Die Veränderung ergab sich als Reflex auf die Zerstörung des Tempels und das Exil und sie ging einher mit einer deutlicheren Wahrnehmung der Transzendenz Gottes.19 Im Hiobbuch etwa wird das Gespräch zwischen Gott und Satan im Himmel lokalisiert,20 um klar zu machen, dass die Menschen von diesem Gespräch nichts wissen können. Während die Vorstellung von Gott »im Himmel« in einem dreistöckigen Weltbild wie dem biblischen Sinn macht, um die Transzendenz Gottes zu betonen, wirkt sie heute – nach der Entdeckung des Universums und der Erkenntnis, dass sich Gott überhaupt nicht lokalisieren lässt, weder auf der Erde noch außerhalb von ihr – bestenfalls traditionell, für nicht kirchlich-sozialisierte Menschen aber häufig auch naiv oder infantil.21 Daran ändert auch nichts, dass die Rede von Gott »im Himmel« im Christentum über das Vaterunser-Gebet eine besondere Bedeutung hat. Ich schlage nicht vor, dass wir das Vaterunser modifizieren oder gar aufgeben; wohl aber plädiere ich dafür, dass wir die Antiquiertheit (bei wörtlichem Verständnis) bzw. Metaphorizität (bei übertragenem Verständnis) der meisten unserer theologischen Redeweisen expliziter bewusst machen und uns neben der Traditionspflege stärker auch um eine Rede- und Denkweise bemühen, die dem Bewusstsein der Menschen von heute entspricht.

19 Zur alttestamentlichen Entwicklung vgl. Christoph Koch: Art. Welt/Weltbild (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2013 (Zugriffsdatum: 31. 8. 2021), 3.2. 20 Das ist nicht ausbuchstabiert, vgl. aber Hi 1,7; 2,2, wo der Satan berichtet, »von der Erde« gekommen zu sein. 21 Vgl. die Problemdiagnose bei Hubertus Halbfas: Der Herr ist nicht im Himmel. Sprachstörungen in der Rede von Gott (Schriften zur Glaubensreform 2), Gütersloh 2013, 6 etc.

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Theologischer Pluralismus und diskursives Weiterdenken

Neben der geschichtlichen Bedingtheit der biblischen Bücher ist ihr theologischer Pluralismus eine weitere wichtige Einsicht der kritischen Bibelwissenschaft, die auch theologische Relevanz hat. Die altprotestantische Orthodoxie ging noch wie selbstverständlich davon aus, dass sich alle systematisch-theologischen Fragen aus der Bibel klären lassen können, dass sich aus der Bibel ein zusammenhängendes Lehrgebäude ableiten lasse;22 und dieses Verständnis wirkt bis heute im Missverständnis nach, die evangelische Theologie könne und müsse sich direkt aus der Bibel ableiten.23 Im Gefolge von Johann Philipp Gabler (1753– 1826) wurde dann zwar immerhin die biblische Theologie von der systematischen Theologie unterschieden. Seitdem aber hat die Bibelwissenschaft deutlich herausgearbeitet, dass es nicht eine biblische Theologie gibt, dass die Bibel vielmehr verschiedene Theologien beinhaltet. Im Fall des AT ergibt sich das bereits dadurch, dass seine Schriften in unterschiedlichen Epochen entstanden sind. Doch der theologische Pluralismus der Bibel geht weit über historisch bedingte Unterschiede hinaus. Insbesondere für das AT ist die theologische Vielstimmigkeit ein wesentliches Charakteristikum.24 Zu vielen zentralen theologischen Fragen finden sich in ihm unterschiedliche Antworten: Wie ist die Einheit und Vielfalt Gottes zu denken? Wie gefährdet ist die Welt, dass sie wieder ins Chaos zurückfällt? Kann der Mensch sündlos sein? Kann Israel den Bund mit Gott brechen? Wer und was ist heilig? Können Fremde Teil der religiösen Gemeinschaft werden? Wie ist Gott in der Welt präsent? Wie wichtig sind Opfer? Wie einmalig war Mose? Ist für die Zukunft nochmals mit massiven Erschütterungen und dem Kommen eines Messias zu rechnen? Wer gehört zum wahren Israel? Was kommt nach dem Tod? Auf all diese Fragen finden sich im AT unterschiedliche Antworten. Manche von ihnen lassen sich miteinander kombinieren. Andere aber widersprechen sich 22 Zum Schriftverständnis Luthers und der altprotestantischen Orthodoxie, vgl. Danz: Einführung (s. Anm. 2), 65–76. 23 Vgl. Schmid: Wieviel Bibelkritik (s. Anm. 5), 248, der an die »Ungleichzeitigkeit der Reformation und dem Aufkommen der Bibelkritik« erinnert und auf den folgenden Zirkelschluss aufmerksam macht, der »über Jahrhunderte hinweg gültig« war, »sich heute so« aber »nicht mehr aufrechterhalten« lässt: »Es gibt eine unausgesprochene Erwartung, dass die richtige und sachgemäße Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Bibel im Resultat folgerichtig auf das reformatorische Lehrgebäude führt. Denn diese gründet sich ja auf die Schrift und wenn man umgekehrt die Schrift richtig auslegt, gelangt man eben zu diesem Lehrgebäude.« Vgl. weiter das Zitat von Schmid in Anm. 18. 24 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 384–387. Zur Vielstimmigkeit des AT vgl. etwa auch Walter Brueggemann: Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997, xv–xvii und passim. Zur Polyphonie der Bibel und ihrer Auslegungsmöglichkeiten weiter Gerd Theißen: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik (Beiträge zum Verstehen der Bibel 23), Berlin 22015.

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diametral; und viele Aussagen sind ganz bewusst als Gegenposition zu anderen formuliert. Auch hier stellt das Hiobbuch wieder ein gutes Beispiel dar. Seine Autoren nehmen auf verschiedene andere Schriften aus dem AT Bezug, häufig in kritischer Art. Wohl bekannt ist ihre Infragestellung der Gültigkeit des Tun-ErgehenZusammenhangs. Während Hiobs Freunde die traditionelle Position repräsentieren und aus dem Leiden Hiobs schließen, dass er gesündigt haben muss, widerspricht ihnen Hiob vehement, und die Autoren des Buchs geben ihm recht. Dabei beziehen sie nicht nur gegen Hiobs Freunde Stellung, sondern auch gegen andere biblische Bücher – allem voran das Proverbienbuch und das Deuteronomium. Und in beiden Fällen machen die Autoren ihre Frontstellung durch implizite Hinweise klar. Im Fall des Proverbienbuchs ist hier insbesondere Hi 21,17 beachtenswert. Als Teil seiner Argumentation, dass Frevler ungestraft bleiben, fragt Hiob hier: »Wie oft geschieht es denn, dass die Leuchte der Frevler erlischt, dass Unglück über sie kommt […]?« Buchintern bezieht er sich damit auf eine Aussage von Bildad, der in Hi 18,5 behauptete, dass »das Licht des Frevlers erlischt […]«. Buchextern stellt Hiobs Aussage aber auch einen Bezug zu Aussagen aus dem Proverbienbuch dar, wo das Bild der Leuchte, die erlischt, gleich dreimal gebraucht wird, um den Tun-Ergehen-Zusammenhang zu verdeutlichen (Prov 13,9; 20,20; 24,20). Subtiler, aber ebenfalls sehr deutlich erfolgt die Kritik am Deuteronomium. Der Vers, der meinem Aufsatz den Titel gibt (Hi 2,7), enthält nämlich eine Anspielung auf Dtn 28,35. Während es dort das Volk Israel ist, dem Mose für den Fall des Ungehorsams (neben anderem) ankündigt, dass Gott es mit bösen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel schlagen wird, ist es im Hiobbuch Hiob, von dem die Autoren erzählen, dass er mit exakt solchen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel geschlagen wurde – und das, obwohl er keineswegs gesündigt hat, sondern schuldlos und aufrecht war, Gott fürchtete und das Böse mied, wie der Prolog gleich dreimal hervorhebt (Hi 1,1.8; 2,3). Die plausibelste Erklärung für die Ähnlichkeit zwischen Hi 2,7 und Dtn 28,35 ist die, dass die Autoren des Hiobbuchs bewusst einen Bezug zum Deuteronomium herstellten, um so auszudrücken, dass dessen Vorstellungen von Segen und Fluch zu einfach sind, Menschen auch dann vom »Fluch« Gottes getroffen werden können, wenn sie nichts falsch gemacht haben. Wer davon ausgeht, dass die Bibel eine Theologie enthält und in sich widerspruchsfrei ist, kann solchen Anspielungen und Spannungen keine Beachtung schenken, sondern muss sie ignorieren oder harmonisieren.25 Das war früher die 25 Zu verschiedenen Arten des Umgangs mit der »diversity« der Bibel vgl. John Barton: Unity and Diversity in the Biblical Canon, in: John Barton/Michael Wolter (Hg.): Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons/The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin/New York 2003, 11–26.

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gewöhnliche Art, die Bibel zu lesen,26 und auch heutzutage passiert es noch viel zu häufig. Das ist schade, denn man übersieht dabei eine wesentliche Besonderheit der Bibel: ihren stark diskursiven Charakter. Für das AT hat die Bibelwissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher herausgearbeitet, dass die meisten Bücher nicht von einer Person geschrieben wurden, dass vielmehr ältere Teile in jüngerer Zeit redaktionell überarbeitet bzw. fortgeschrieben wurden. Weiter lässt sich beobachten, dass es auch Diskurse zwischen verschiedenen Schriften gibt, dass jüngere (Teile von) Schriften auf ältere Bezug nehmen. Manchmal sind diese Fortschreibungen bzw. Bezugnahmen konfrontativ, insofern sie anderen Positionen vehement widersprechen.27 Häufiger sind sie diskursiv, werden ältere Aussagen und Traditionen relativiert, differenziert, miteinander kombiniert oder sonst irgendwie modifiziert.28 Meist sind die Fortschreibungen durch eine veränderte historische Situation oder eine neue Perspektive motiviert, die es notwendig macht, ältere Traditionen nochmals neu zu bedenken und weiterzuentwickeln. Im Hiobbuch ist die Anspielung von Hi 7,17–18 auf Ps 8,5 ein weiteres bekanntes Beispiel. Wie der Psalmist sprechen auch die Autoren des Hiobbuchs davon, dass Gott sich um den Menschen »kümmert«; sie aber staunen nicht im positiven Sinn über diese Zuwendung, sondern zielen darauf ab, dass das »Kümmern« Gottes von manchen Menschen auch als sehr unangenehm erfahren wird. Die harte Anklage, dass Gott für das Leiden Hiobs verantwortlich ist, ist dann aber einigen offenbar zu weit gegangen. Es gibt nämlich Hinweise, dass die Gestalt des Satans im Prolog später ergänzt wurde: So fällt auf, dass Hi 1,13 (mit dem »sein«, das sich auf Hiob bezieht) sehr viel besser an 1,5 anschließt als an 1,12, und weiter, dass der Epilog viele Bezüge zum Prolog enthält,29 nicht aber zu den Himmelsszenen mit Satan und dem zweiten Schicksalsschlag.30 Diese Auffälligkeiten könnte man dahingehend interpretieren, dass jemand die beiden Himmelsszenen später ergänzt hat, um die Schuld für Hiobs Misere auf den Satan 26 Zu manchen Unterschieden zwischen Judentum und Christentum vgl. Barton: Unity (s. Anm. 25), 11–13. 27 Vgl. z. B. Ex 33,11 (JHWH redet mit Mose von Angesicht zu Angesicht) mit Ex 33,20 (Mose darf Gottes Angesicht nicht sehen); Dtn 15,4 (es wird keine Armen geben in Israel) mit Dtn 15,11 (es wird immer Arme geben in Israel); Dtn 18,15.18 (Gott wird einen Propheten wie Mose auftreten lassen) mit Dtn 34,10 (in Israel stand nie mehr ein Prophet wie Moses auf). 28 Vgl. z. B. Lev 26, wo die beiden an sich sehr unterschiedlichen Bundestheologien der Priesterschrift (Gen 17) und des Deuteronomiums miteinander kombiniert werden; oder Jes 43,14–19; 48,20–21; 51,9–11, wo an die Exodustradition und die Tradition des Chaoskampfes angeknüpft wird, um den neuen Exodus (aus Babylon) und die damit einhergehende Neuschöpfung zu beschreiben. 29 Vgl. Hi 42,10.12 mit Hi 1,3.15–17 (Hiob bekommt doppelt soviel Besitz zurück wie er verloren hat) und Hi 42,13 mit Hi 1,2.19 (Hiob bekommt am Ende sieben Söhne und drei Töchter, gleich viele wie er verloren hat). 30 Im Epilog des Hiobbuchs wird nicht explizit gesagt, dass Hiob geheilt wurde.

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zu schieben und Gott so zu entlasten. Wirklich gelungen ist dieser Versuch allerdings nicht; auch in der Version mit den beiden Himmelsszenen und dem Satan bleibt es dabei, dass die Letztverantwortung für Hiobs Leid bei Gott liegt. Wie die Erkenntnis der historischen Bedingtheit der biblischen Schriften ist auch die Erkenntnis des theologischen Pluralismus der Bibel befreiend. Von nochmals anderer Seite her, mit Fokus auf die Theologie, zeigt sie, dass es keinen Zwang gibt, mit allen Aussagen der Bibel übereinzustimmen. Im Gegenteil: wer die Bibel ernst nimmt und genau liest, merkt, dass eine solche Übereinstimmung mit allen biblischen Aussagen gar nicht möglich ist, weil diese sich gegenseitig widersprechen. Für Leser*innen der Bibel, die ihr gegenüber »treu« sein wollen, ist dies entlastend, denn es zeigt, dass (die von evangelikalen Christ*innen so häufig namhaft gemachte) »Bibeltreue« nicht bedeuten kann, mit all ihren theologischen Aussagen übereinzustimmen. M. E. erweist sich »Bibeltreue« eher darin, dass man ihre Spannungen und Widersprüche wahrnimmt, über die involvierten theologischen Fragen nachdenkt und sich ein eigenes theologisches Urteil bildet. Aus bibelwissenschaftlicher Sicht ist das auch darum zu begrüßen, weil die Praxis zeigt, dass Übereinstimmungen der eigenen Sicht mit derjenigen biblischer Texte häufig dadurch erreicht werden, dass die Texte so ausgelegt werden, dass sie zur eigenen Theologie passen. Realisieren Interpret*innen, dass es keinen Zwang zur Übereinstimmung gibt, entlastet das nicht nur sie selbst, sondern auch die Bibel, denn sie ist damit weniger in Gefahr, durch Eisegese zurecht-interpretiert zu werden. Über die Folgen für den Umgang mit der Bibel hinaus ist die Erkenntnis des theologischen Pluralismus der Bibel theologisch auch noch in einem sehr viel grundlegenderen Sinn bedeutsam: Sie nämlich verdeutlicht in anschaulicher Weise, dass alle Erfahrungen und Reflexionen von Menschen subjektiv sind und kein Mensch die eine objektive Wahrheit besitzt, umso weniger, wenn es bei diesen Erfahrungen und Reflexionen um Gott geht.31 Früher wurde das i. d. R. bekanntlich anders gesehen, was vielen sog. Ketzern das Leben gekostet hat. Und 31 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 385: »Für alle anspruchsvollen Systeme in modernen Gesellschaften, die mit Wahrheitsfindung beschäftigt sind, haben sich pluralistische Modelle durchgesetzt. Das ist in der Wissenschaft und der Kunst nicht anders als in der Politik und eben letztlich auch in der Religion, auch wenn die unterschiedlichen Religionen hier – je nach ihrem Modernisierungsgrad – bislang unterschiedliche Sensibilitäten entwickelt haben. Diese Option ist auch theologisch begründbar: Was immer religiös oder theologisch von Gott ausgesagt wird, kann nicht in den Status einer letztgültigen Aussage eintreten, sondern bleibt vorläufig. Denn aus der Perspektive des Geschöpfs bleibt der Schöpfer letztlich unerreichbar. Das gilt auch für die Bibel – sie enthält deshalb Zeugnisse von menschlichen Erfahrungen mit Gott und nicht unmittelbar geoffenbarte himmlische Wahrheiten.« Vgl. auch Christian Danz: Systematische Theologie (UTB 4613), Tübingen 2016, 105: »Wie auch immer die für das Christentum wesentlichen Momente benannt werden, es handelt sich ausnahmslos um Deutungen und Interpretationen, die sich selbst einer geschichtlich gewordenen christlichen Religionskultur verdanken […]«.

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auch heute werden eigene theologische Ansichten z. T. noch mit der Wahrheit verwechselt. Entsprechend wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass sich in der Bibel selbst abzeichnet, dass es komplizierter ist. Im AT wird die Begrenztheit der menschlichen Fähigkeit, Gott zu erkennen, von einigen Autoren klar benannt.32 Besonders deutlich sind diesbezüglich Kohelet mit Koh 5,1 (»[…] Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde. Darum mach nicht viele Worte«) und Deuterojesaja mit Jes 55,8 (»[…] meine Gedanken sind nicht eure Gedanken […]«). Deutlich sind auch die Autoren des Hiobbuchs: Sie sprechen die Begrenztheit des menschlichen Erkennens wiederholt explizit an,33 ausführlich v. a. in den Gottesreden (Hi 38–41), nach denen Gott Hiob u. a. auch seine Unkenntnis vor Augen führt, und in Hi 28, dem Gedicht über die Verborgenheit der Weisheit, das darauf hinausläuft, dass die Menschen keinen Zugriff auf die Weisheit haben. Und über die Abfolge von Prolog und Gottesreden deuten sie an, dass auch göttliche Offenbarungen Gott nicht vollständig offenbaren, dem Menschen vielmehr Wesentliches vorenthalten bleibt: Hiob weiß auch nach den Gottesreden nicht, warum er so leiden muss; über das Gespräch mit Satan und den wahren Grund seines Unglücks sagt ihm Gott nach der Darstellung des Hiobbuchs nichts. Andere biblische Autoren zeichnen ein bedeutend optimistischeres Bild über die Möglichkeit des Menschen, Gott und Gottes Willen zu erkennen. So präsentieren etwa die Autoren der Bücher Exodus bis Deuteronomium die in ihnen enthaltenen Gesetze als Offenbarung Gottes und als die entscheidende Grundlage für den Bund zwischen Gott und Israel. Damit geben sie ihren Schriften eine besondere Autorität. Inwiefern sie selbst an ihr Konstrukt der Offenbarung geglaubt haben, ist schwer zu sagen.34 So oder so wussten aber offenbar auch sie (bzw. manche von ihnen) um die Zeitbedingtheit ihrer Texte – das zeigt sich daran, dass die Bücher Exodus, Levitikus und Deuteronomium drei Fassungen des Gesetzes enthalten, die sehr ähnlich sind, sich 32 Es versteht sich von selbst, dass die biblischen Theologen dabei anders argumentierten, als es Systematische Theolog*innen oder Religionsphilosoph*innen von heute tun; doch die Grunderkenntnis bleibt die gleiche. Zur »Begrenztheit menschlichen Wissens als Thema der Theologie« vgl. auch Konrad Schmid: Das Geheimnis der Welt. Die Begrenztheit menschlichen Wissens als Thema der Theologie, in: Sara Kviat Bloch u. a.: Grenzen in den Wissenschaften. Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2015, Bern 2017, 41–60, der dabei u. a. auch auf Gen 1 und die dort getroffene »Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf« hinweist (ebd., 46). 33 Vgl. Annette Schellenberg: Reflections on the Limitations of Cognition in the Book of Job, in: HeBAI, forthcoming. 34 Zum »use of revelation as an epistemological category applied to the accumulated religious tradition« als »a piece of theology« und »a scholarly construct« vgl. Karel van der Toorn: Sources in Heaven. Revelation as a Scholarly Construct in Second Temple Judaism, in: Ulrich Hübner/Ernst Axel Knauf (Hg.): Kein Land für sich allein. Studien zum Kulturkontakt in Kanaan, Israel/Palästina und Ebirnâri für Manfred Weippert zum 65. Geburtstag (OBO 186), Freiburg/Göttingen 2002, 265–277 (Zitate ebd., 275).

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dabei aber auch in vielen Fragen widersprechen.35 Auch sonst ist bezüglich des theologischen Pluralismus der Pentateuch besonders beachtenswert, der erste und in gewisser Hinsicht bedeutendste Teil des AT. In ihm sind mit dem Deuteronomium und der Priesterschrift zwei Schriften mit klarem theologischem Profil integriert, und zwar beide nebeneinander, obwohl sich ihre Theologien in wesentlichen Fragen widersprechen. Noch vor allen weiteren theologischen Inhalten des AT scheinen mir diese Hinweise auf die Begrenztheit aller menschlichen Rede über Gott für unsere eigenen theologischen Reflexionen besonders beachtenswert – nicht zuletzt darum, weil diese Einsicht so in der Bibel selbst verankert ist, die durch die Kanonisierung einen besonderen Status hat (s. u., 3.). Nur wenige alttestamentliche Autoren benennen die Begrenztheit aller menschlichen Reflexion über Gott explizit und viele von ihnen haben diese Einsicht vermutlich auch nicht geteilt, sonst hätten sie wohl nicht Teile ihrer Texte als Wort Gottes deklariert.36 Auf der Ebene der Endtexte und des AT insgesamt ist die Begrenztheit aller menschlichen Rede über Gott aber tatsächlich ein zentraler Punkt, nämlich implizit, insofern verschiedene theologische »Stimmen« nebeneinander zu stehen kamen und mit ihnen auch die Diskurse (Vernetzungen) zwischen ihnen kanonisiert wurden.37 Hat die bibelwissenschaftliche Erforschung des AT viele liebgewonnene Vorstellungen zum Einstürzen gebracht, so hat sie an dieser Stelle ein wesentliches Charakteristikum des AT herausgearbeitet, das auch theologisch relevant ist.

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Kanon und »Heilige Schrift«

Eine weitere wichtige Erkenntnis der Bibelwissenschaft ist diejenige, dass es zwischen dem antiken Israel und den Kulturen seiner Umwelt große Ähnlichkeiten gibt. Die religiösen Überzeugungen, die sich im AT spiegeln, sind in vielem vergleichbar mit den religiösen Überzeugungen aus Mesopotamien, Ägypten und weiteren Kulturen aus der Umwelt des antiken Israel. Entsprechend ähneln sich 35 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 319, 324–326, der von einer »dynamischen Wahrnehmung des Rechts« spricht (ebd., 325) und darauf hinweist, dass »in der Tora selbst die Möglichkeit von Adaptionen verankert [ist], die den ›mosaischen‹ Charakter der Tora nicht tangieren« (ebd., 326). 36 Das sei klar ausgesprochen, damit ich nicht selbst in die Falle tappe, die Bibel einseitig zu interpretieren, um sie so mit meiner eigenen Theologie in Übereinklang zu bringen. 37 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 383–388, der die Vernetztheit der alttestamentlichen Bücher untereinander als den Aspekt bestimmt, durch den das AT von innen zusammengehalten wird und so eine Einheit bekommt. Als zweiten Aspekt weist Schmid auf die Rezeptionsgeschichte, in der das AT als eine Einheit (»das AT«) gesehen und so von außen zusammengehalten wird.

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auch die Texte: Die Geschichte von der Sintflut stammt aus Mesopotamien; manche Hymnen aus Ägypten lassen sich kaum von Psalmen aus dem AT unterscheiden; die Frage der Gerechtigkeit Gottes wird auch in ägyptischen Texten gestellt, und Texte aus Mesopotamien reflektieren über das Problem des leidenden Gerechten; zu vielen Gesetzen aus dem AT gibt es enge Parallelen in Rechtstexten aus Mesopotamien; und auch in Mesopotamien wurden prophetische Orakel niedergeschrieben. Dass wir uns heute über das AT unterhalten und nur ganz am Rand auch über die Schriften seiner Umwelt liegt darin begründet, dass das AT (Teil der) Bibel38 ist. Das wiederum verdankt sich zwei Gründen: 1) In einem längeren Prozess, der sich bis ins AT selbst zurückverfolgen lässt, erlangten die alttestamentlichen Schriften kanonische Autorität und wurden so zu »heiligen« Schriften bzw. zur »Heiligen Schrift«; und 2) diese kanonische Autorität wird ihnen im Judentum und Christentum bis heute zugestanden. Bereits im ersten Punkt unterscheiden sich die alttestamentlichen Texte von denen seiner Umwelt: Obwohl es auch in Mesopotamien und Ägypten Ansätze von Kanonisierungsprozessen gab,39 bildete sich dort kein dem AT vergleichbarer Kanon »heiliger« Schriften heraus. Die Religionen Mesopotamiens und Ägyptens blieben Kultreligionen; anders als die Religion des antiken Israel wandelten sie sich nicht zu einer Buchreligion. Diese unterschiedliche Entwicklung ist mit ein Grund, warum der Glaube an die Götter Mesopotamiens und Ägyptens heutzutage praktisch ausgestorben ist, der Glaube an den Gott des AT hingegen mehrfach transformiert fortbesteht.40 Und genau darum hat das AT auch seine kanonische Autorität behalten, die es sich im antiken Juda erworben hat; seine Schriften gelten sowohl im Judentum als auch im Christentum als »heilig«. Damit haben sie eine bleibende religiöse Bedeutung, während die Schriften aus der Umwelt des AT heutzutage nur noch aus historischem Interesse studiert werden. Bibelwissenschafler*innen können mithelfen, den Prozess der Kanonbildung und Kanonisierung historisch zu rekonstruieren. Andere Aufgaben gehören in den Kompetenzbereich anderer Kolleg*innen: insbesondere die empirische Er38 Ein Teil der Bibel ist das AT im Christentum mit seinem zweiteiligen Kanon aus AT und NT. Im Judentum findet das AT bzw. die Hebräische Bibel im Talmud seine Fortsetzung. Als Bibel und »Heilige Schrift« gilt dabei aber nur die Hebräische Bibel. 39 Vgl. Marco Frenschkowski: Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen, Wiesbaden 2007, 96–107; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (beck’sche Reihe), München 21997, 174–177(ff); Sebastian Grätz: Kanonbildung, in: Walter Dietrich (Hg.): Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 2017, (96–109) 96–99. 40 Für das Überleben der Religion der antiken Israelit*innen war v. a. entscheidend, dass die Katastrophe der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier (587 v. Chr.) durch theologische Reflexion verarbeitet werden konnte, was wesentlich der Schriftgelehrsamkeit der Autoren der alttestamentlichen Bücher zu verdanken ist.

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forschung, wie groß die religiöse Bedeutung das AT im Christentum heutzutage tatsächlich ist, und die Reflexion über die theologische Bedeutung des Kanons. Dennoch erlaube ich mir hier einige Bemerkungen. Als Bibelwissenschaftlerin möchte ich als erstes betonen, dass die Charakterisierung der Bibel als »Heilige Schrift« kein Grund ist, die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft am Schluss doch alle wieder zu ignorieren. Die Kanonisierung hebt den menschlichen Charakter der biblischen Schriften nicht auf; auch als »Heilige Schrift« bleibt die Bibel eine Sammlung von historisch bedingten Schriften. Entsprechend bleibt ihre historisch-kritische Erforschung wesentlich, um ihre Inhalte und ihren Charakter adäquat zu verstehen. Im Kontext der Kirche erfolgt die Interpretation der Bibel natürlich primär aus theologischem bzw. religiös-existentiellem Interesse. Das ist durchaus angebracht. Es wird aber zum Problem, wenn dabei die historischen Zusammenhänge aus dem Blick geraten. In Abwandlung eines Zitats von Konrad Schmid gesprochen: Eine Interpretation der Bibel »ist nicht zwangsläufig ›theologischer‹, wenn sie weniger ›historisch‹ ausgerichtet ist; sie läuft dann nur eher Gefahr, sich nicht auf der Höhe der Bibelkritik zu bewegen«.41 Natürlich müssen die historischen Fragen nicht immer im Vordergrund stehen. Sie müssen auch nicht jedes Mal angesprochen werden; in einem Seelsorgegespräch etwa wäre das meist unpassend. Wohl aber ist zu wünschen, dass Pfarrer*innen und andere theologisch Gebildete durchwegs in einer Art über die Bibel reden, die mit den oben genannten Grundeinsichten der Bibelwissenschaft kompatibel ist. Andernfalls nämlich besteht die Gefahr, dass all die Missverständnisse, die die Bibelwissenschaft aufgedeckt hat, weitertradiert werden. Wichtig ist die Beachtung der historischen Dimension insbesondere auch bei den alttestamentlichen Texten, die traditionell mit Jesus Christus in Verbindung gebracht werden – allen voran die messianischen Weissagungen, aber auch viele andere, aus dem Hiobbuch etwa der berühmte Vers »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« (Hi 19,25), wie häufig bereits christlich angehaucht übersetzt wird.42 Diese Tradition geht aufs NT zurück und ist mit ein Grund, warum das frühe Christentum am kanonischen Status des AT festgehalten hat. Die christologische Interpretation des AT hat die christliche Kultur tief geprägt und ist als Phänomen der Rezeptionsgeschichte eng mit dem AT verbunden. Von daher wäre es verfehlt, sie einfach als falsch zu disqualifizieren. Eine aufgeklärte Theologie tut aber gut daran, den historischen Tatsachen ins Auge zu blicken und klar zu kommunizieren, dass die alttestamentlichen Texte mit Jesus Christus ursprünglich 41 Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 83 (mit »Eine Theologie des Alten Testaments« als Subjekt des Satzes). 42 Anders die Zürcher Bibel, die mit »Ich aber weiss: Mein Anwalt lebt […]« den Sinn des Hebräischen Texts besser trifft.

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nichts zu tun hatten, dass ihnen diese Verbindung erst im Nachhinein gegeben wurde. Selbst im westlichen Europa unserer Zeit ist das vielen nicht bewusst, wie sich etwa an irritierten Reaktionen von Theologiestudierenden zeigt. Sowohl aus Gründen der Vernunft als auch aus Respekt dem Judentum gegenüber ist hier weitere Aufklärung von Nöten. Insofern die kritische Bibelwissenschaft die traditionelle Meinung zum Einsturz gebracht hat, dass bereits das AT Jesus Christus bezeugt, stellt sich natürlich auch die Frage, warum seine Schriften auch im Christentum zu den »heiligen« Schriften zählen. Immer wieder werden Stimmen gegen die Kanonizität des AT erhoben. Kritische Anfragen müssen in einer der Vernunft verpflichteten Theologie ihren Platz haben, sonst ist es mit der viel gerühmten evangelischen Freiheit des Denkens und Glaubens nicht weit her.43 Wenn es gute Antworten gibt, dann werden sie überzeugen; und wenn nicht, dann wäre entsprechend zu reagieren. Im Fall der Kanonizität des AT gibt es eine ganze Anzahl von Gründen, die (insbesondere in Kombination) dafür sprechen, an ihr festzuhalten. Ich nenne fünf: 1) Es gibt einen engen Traditionszusammenhang zwischen dem NT und dem AT: Der Gott Jesu ist der Gott des AT; das AT war die »Heilige Schrift« von Jesus und den ersten Christen, und prägte so auch deren Wirklichkeitswahrnehmung – was sich insbesondere auch in den oben schon genannten Deutungen des Wirkens Jesu im Licht alttestamentlicher Aussagen zeigt. 2) Als Teil des christlichen Kanons erinnert das AT so auch an die enge Verbundenheit von Judentum und Christentum und daran, dass Jesus ein Jude war. Dass Judentum und Christentum ein gemeinsames Korpus von »heiligen« Schriften haben, ist eine religionsgeschichtliche Besonderheit, die es nur schon als solche zu schätzen gilt. Darüber hinaus ist es im konkreten Fall auch darum wesentlich, durch den kanonischen Status des AT (auch im Christentum) die enge Verbundenheit von Judentum und Christentum in Erinnerung zu behalten, weil der Antisemitismus ja ein großes Problem ist, und dabei in jüngerer Zeit sogar wieder zunimmt. 3) Zusammen mit dem AT ist die historische Bedingtheit und der theologische Pluralismus der Bibel sehr viel deutlicher erkennbar als allein mit dem NT, und das ist, wie oben dargelegt, auch aus theologischen Gründen bedeutsam. 4) Als Teil der Bibel haben die alttestamentlichen Texte die christliche Theologie und die abendländische Kultur insgesamt maßgeblich geprägt.44 Ihm nun

43 Vgl. Schmid: Wissenschaft vom Alten Testament (s. Anm. 2), 41, mit Bezug auf die durch Notger Slenczka ausgelöste Debatte. 44 Im Fall der Kultur ist das bei der Kunst (Literatur, Musik, bildende Kunst) besonders augenfällig; die Prägung geht aber tiefer und betrifft auch die Sprache (vgl. etwa Ausdrücke wie »Hiobsbotschaft«) und die Wahrnehmung von Welt und Mensch insgesamt (vgl. etwa das

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nach gut 2’000 Jahren den kanonischen Anspruch wieder abzusprechen, macht nur schon aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen wenig Sinn. 5) Das AT im Kanon zu behalten, empfiehlt sich – last but not least – v. a. auch darum, weil es voller Texte ist, die auch unabhängig von ihrem kanonischen Status immer wieder neu überzeugen: Die poetische Qualität der alttestamentlichen Texte ist hoch, und mit ihrer mythisch-metaphorischen Art der Rede über Gott, den Menschen und die Welt sprechen sie viele Menschen unmittelbar an. Inhaltlich verarbeiten sie viele Erfahrungen und enthalten Gedanken, die trotz der großen historischen Distanz auch für Menschen von heute beachtenswert bleiben, darunter einige Themen, die in der christlichen Theologie wesentlich sind, im NT aber höchstens am Rand zur Sprache kommen (Schöpfung, Monotheismus, Gerechtigkeit, etc.). Die Texte des AT sind alt, aber keineswegs veraltet. Natürlich hängt die Frage nach der Zugehörigkeit zum Kanon wesentlich damit zusammen, was man unter »Kanon« versteht. Im Fall der Bibel stellt sich dabei auch die Frage, was es mit der Heiligkeit der »Heiligen Schrift« auf sich hat.45 Die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft haben deutlich gemacht, dass »heilig« in Anführungszeichen zu setzen bzw. in übertragenem Sinn zu verstehen ist: »Heilig« ist die Bibel nicht, weil sie göttlich inspiriert ist oder zeitlose Wahrheiten enthält; »heilig« ist sie, weil ihre Schriften durch den ihr von Menschen zuerkannten kanonischen Status von allen anderen Schriften abgehoben sind.46 Sie gelten als die »Richtschnur« oder der »Maßstab« – so die Grundbedeutung des griechischen Wortes κανών (»Kanon«). Bei der Herausbildung und Abgrenzung des Kanons ging es dabei wesentlich um die Frage der Identität (des nachexilischen Judentums im Fall des AT; des frühen Christentums im Fall des zweiteiligen Kanons) und dabei auch um Abgrenzungen gegenüber anderen. Zumal im Fall des AT spielte dabei von Anfang an auch das Moment des nach innen Verbindenden eine Rolle, wie sich daran zeigt, dass unterschiedliche »Stimmen« kanonisiert wurden.47 Offene Fragen sowie unterschiedliche Antworten bei der Verständnis des Menschen als allen anderen Lebewesen übergeordnetes Wesen; oder die Wichtigkeit des Themas Gerechtigkeit). 45 Zu Recht weist Carsten Colpe darauf hin, dass Heiligkeit und Kanonizität bei Schriften religiöser Gemeinschaften häufig zusammenfallen, dass die beiden Konzepte aber grundsätzlich zu unterscheiden sind: »[D]ie Dignität des Heiligen [ist] nicht an Kanonisierung gebunden« und »[a]uch Schriften profanen Charakters können kanonisiert […] werden« (Carsten Colpe: Sakralisierung von Texten und Filiationen von Kanons, in: Aleida und Jan Assmann [Hg.]: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, [80–92] 83). 46 Ob »heilig« hier das treffende Wort ist, sei dahingestellt. 47 Allgemein zu wesentlichen Aspekten der Kanonbildung (besonders im antiken Israel) vgl. Jan Assmann: Fünf Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen

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Abgrenzung der Ränder des Kanons und der Ordnung seiner Bücher stellten dabei weder in den Anfängen noch später ein wesentliches Problem dar.48 Unabhängig davon, ob man das eine oder andere Buch noch zum Kanon rechnet und wie man die biblischen Bücher anordnet, bleibt es dabei, dass mit den biblischen Büchern ein »limitierter Pluralismus« kanonisiert wurde.49 Beide Momente sind wesentlich: Der Pluralismus, weil so verschiedene theologische »Stimmen« zu Wort kommen, was sowohl eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten bietet als auch an die Begrenztheit allen theologischen Nachdenkens erinnert (s. o., 2.); und die Limitierung, weil erst ein abgeschlossener Kanon ein Kanon ist. Durch ihren kanonischen Status sind die biblischen Schriften von allen weiteren Schriften abgehoben. Der Bibel kommt eine besondere Autorität und Normativität zu. Nach all dem bereits Gesagten ist klar, dass damit in einem heutigen Verständnis nicht mehr gemeint sein kann, dass die Bibel vorgibt, was wir zu glauben haben. Wohl aber hat sie (wie in den Anfängen) eine identitätsund einheitsstiftende Funktion: Trotz allem Pluralismus bietet sie durch ihre Abgeschlossenheit Orientierung, wenn nicht im direkten Sinn, so doch im Sinn eines Bezugs- und Reibungspunktes. Und damit verbindet sie all diejenigen, die sich an ihr orientieren und reiben, durch all die Jahrhunderte hindurch und quer durch die verschiedenen Konfessionen und theologischen Ausrichtungen. Mit dem Autoritäts- und Normativitätsanspruch der Bibel geht auch der Anspruch einer bleibenden Relevanz für die Gegenwart einher. Mit den Verweisen auf die geschichtliche Bedingtheit und Subjektivität aller theologischen Aussagen, die Art der Diskursführung und die identitäts- und einheitsstiftende Funktion habe ich bereits einige Punkte genannt, bei denen sich die bleibende Relevanz der Bibel besonders deutlich zeigt. Diese liegen allerdings alle auf einer Metaebene. Darüber hinaus fordert der kanonische Status der biblischen Judentum, in: János Kristóf Nyíri (Hg.): Tradition. Proceedings of an International Research Workshop at IFK. Vienna 10–12 June 1994, Wien 1995, 45–60; vgl. ebd., 54 mit Anm. 27 zu den zwei Aspekten »Abgrenzung nach außen« und »Zusammenschluß nach innen«. 48 Vgl. Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 398: »Zwar war die Frage, genau welche Schriften zur Bibel zählen, noch bis in das 4. Jahrhundert n. Chr. hinein ungeklärt, ja im Blick auf die konfessionellen Differenzen ist sie es im Grunde genommen bis heute. Der Umstand aber, dass der Kernbestand der biblischen Schriften unstrittig war, scheint eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Ränder des Schriftenkanons ohne weiteres erlaubt zu haben. Damit wird noch einmal deutlich: Die christliche Bibel ist nicht als exklusive und unmittelbare Kodifizierung von Offenbarung anzusprechen. Sie ist Zeugnis, nicht Kodex. Und deshalb konnte es sich die christlichen Kirchen erlauben, über lange Jahrhunderte hinweg nicht mit einem abschließend festgelegten Kanon zu leben, sondern mit einem Kanon biblischer Schriften, der sich in seinem Kernbestand durch den entsprechenden Gebrauch in der Kirche zu ansehnlichen Teilen selbst durchsetzen konnte.« 49 Schmid: Theologie (s. Anm. 16), 386. Vgl. auch Barton: Unity (s. Anm. 25), 26: »The Church thus acquires the benefit of a fixed corpus of texts but without the straitjacket it would impose if all those texts spoke with a single voice.«

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Schriften dazu auf, nach der bleibenden Bedeutsamkeit ihrer einzelnen Texte und Aussagen zu fragen: danach, inwiefern deren religiöse Deutungen der Wirklichkeit unsere eigenen Deutungen bereichern können. Im Einzelnen fallen die Antworten auf diese Frage unterschiedlich aus: der Grad und die Art der Bedeutsamkeit ergibt sich im Spannungsfeld zwischen den biblischen Texten und denen, die sie auslegen und in ihrer eigenen Gegenwart mehr oder weniger mit ihnen anfangen können. Um die theologisch-existentielle Bedeutsamkeit biblischer Texte beurteilen zu können, muss zunächst ihre theologisch-existentielle Bedeutung herausgearbeitet werden. Dazu braucht es sowohl Kenntnisse der historischen Hintergründe als auch Feingefühl für die poetische Qualität der Texte und ihrem Wirkpotential,50 und z. T. auch eine Art Übersetzungshilfe, um den historischen Graben beim Weltbild und der Sprache zu überbrücken. Das sind Aufgaben, die die Bibelwissenschaft übernehmen kann. Gleichermaßen können Bibelwissenschaftler*innen (und andere) auch nach der theologisch-existentiellen Bedeutung von nicht-biblischen Texten fragen, etwa solchen aus Ägypten und Mesopotamien. Die Aufgabe ist nicht im engen Sinn theologisch; wohl aber sind Bibelwissenschaftler*innen, die an theologischen Fakultäten studiert haben, für sie besonders gut qualifiziert, weil sie neben historischen und literarischen auch für (religionswissenschaftliche und) theologische Fragen sensibilisiert sind.51 Die Frage der Relevanz und Bedeutsamkeit für heute gehört dann nicht mehr in den besonderen Kompetenzbereich der Bibelwissenschaft. Wie alle anderen, die sich auch im theologisch-existentiellen Sinn für die biblischen Texte interessieren, können aber natürlich auch Bibelwissenschaftler*innen die Frage stellen und eigene Antworten geben. Gleichzeitig sind sie gefordert, immer wieder an den theologischen Pluralismus der Bibel zu erinnern, der es verbietet, einzelne Aussagen der Bibel als die biblische Sicht zu deklarieren. Eigens anzusprechen ist zum Schluss das Phänomen, dass Texte der Bibel Menschen auf eine ganz besondere Art berühren können. Im Anschluss an Karl 50 Zum »Wirkpotential« und der Bedeutung biblischer Texte, die über deren Sinn hinausgehen können, vgl. Andreas Schüle: Von der Kritik zur Hermeneutik. Ein vernachlässigter Schritt moderner Bibelauslegung, in: Konrad Schmid (Hg.): Heilige Schriften in der Kritik. Kongressband des XVII. Europäischen Kongresses für Theologie, 5.–8. September 2021 in Zürich (VWGTh), Leipzig 2022, forthcoming, der dabei v. a. auch die »produktive Offenheit« der Texte hervorhebt und dabei an die vier Ebenen von Sprache, Text, Kontext und Kanon denkt. 51 Vgl. Schmid: Sind die Historisch-Kritischen (s. Anm. 8), 74–77, der fordert, Bibelwisssenschafler*innen sollten theologischer arbeiten, um damit der Eigenart der von ihnen untersuchten Texte gerecht zu werden. Er schließt seine Überlegungen mit dem Fazit: »Historische Exegese ist dann wahrhaft und historisch verantwortet, wenn sie mit theologischer Sensibilität durchgeführt wird, während theologische Exegese kein grundstürzend anderer Vorgang sein kann als sachorientiert betriebene historische Exegese« (ebd., 77). Vgl. ähnlich idem: Wieviel Bibelkritik (s. Anm. 5), 253–255.

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Barth ist in dem Zusammenhang häufig davon die Rede, dass das Menschenwort der biblischen Texte zum Gotteswort werden kann;52 etwas weniger aufgeladen kann man auch von Resonanzerfahrungen sprechen.53 Beide Beschreibungen sind metaphorisch. Wie auch immer man das Phänomen theologisch interpretiert, klar ist, dass es existiert. Allerdings – und das ist wesentlich, um am Schluss nicht doch wieder eine besondere Heiligkeit des Kanons zu implizieren – nicht nur bei Bibeltexten, sondern auch bei anderen literarischen Texten (etwa Predigten oder Gedichten) und weiteren menschlichen Ausdrucksformen. Mir persönlich geht z. B. häufig bei Musik »der Himmel auf«, um nochmals eine andere Metapher zu verwenden, insbesondere, wenn religiöse Texte vertont sind – etwa »I know that my Redeemer liveth« aus Händels Messias, um zum Schluss nochmals auf dieses Beispiel zurückzukommen. In solchen Momenten ist es selbst mir hartgesottenen historisch-kritischen Bibelwissenschaftlerin egal, dass es in Hi 19,15 eigentlich nicht um Jesus Christus geht; ich höre den Vers im christologischen Sinn und die Musik hilft mir dabei, die Christologie zu verstehen. Als »Poesie des Heiligen« (wie Gerd Theißen es nennt)54 hat die Bibel, wie auch andere Texte, die Kraft, Menschen zu berühren und zu verwandeln. Das ist ein wesentlicher Aspekt der Bibel, der jenseits des Zugriffs der historisch-kritischen Methode liegt. Dennoch sollte er auch an theologischen Fakultäten nicht übersehen werden – nicht nur, weil diese Erfahrungsdimension für viele Bibelleser*innen zentral ist, sondern v. a. auch, weil der reflektierte Umgang mit der eigenen Begrenztheit ein wesentliches Merkmal guter Wissenschaft ist – und damit auch für eine zukunftsfähige Theologie unabdingbar.

52 Vgl. Danz: Einführung (s. Anm. 2), 58–59; weiter das Zitat von Lauster in Anm. 7. 53 Der Resonanzbegriff fand in jüngerer Zeit durch das 2016 erschienene Buch des Soziologen Hartmut Rosa weite Beachtung (vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016). Von »Resonanz« und »Resonanzerfahrungen« hat aber schon viel früher (ab 1978) der Neutestamentler Gerd Theißen gesprochen (vgl. Theißen: Argumente [s. Anm. 10], 48 und passim). Seine jüngeren Arbeiten zum Thema sind im Sammelband Resonanztheologie. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik. Band 2: Gott – Christus – Geist (Beiträge zum Verstehen der Bibel 43), Zürich 2020, erschienen. 54 S. o. Anm. 10.

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Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen? Die Hebräische Bibel und kognitive Metapherntheorien

Abstract The article gives an overview of recent metaphor theories and their application to research on the Hebrew Bible. It presents mainly interaction theories, cognitive metaphor theories and Conceptual Blending/Blending Theory. These theories are illustrated by some examples from the Hebrew Bible, mainly poetic texts. The final evaluation reflects about the role of the reader in the interpretation process, the potential of cognitive theories of metaphor, and the significance of biblical metaphors for theology.

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Sprachbilder und Metaphern in der Hebräischen Bibel

»Alles, was in den Blick oder vor das innere Auge tritt, lässt sich […] zu einem Bild klären oder in ein Bild verwandeln. Wir leben in Bildern und verstehen die Welt in Bildern«1, schreibt der Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting. Ort der Wahrnehmung eines Bildes ist der Mensch. Dieser weite Bildbegriff umfasst sowohl physische – gemalte oder plastische, »piktoriale« – Bilder als auch mentale Bilder, Vorstellungen, die auf unterschiedliche Art und Weise, auch durch literarische Texte hervorgerufen werden können, im Medium der Literatur vermittelte Sprachbilder. Von so einem weiten Bildbegriff her lässt sich eine Verbindung zur Semantik von ‫( ראה‬sehen) in der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, herstellen. Dieses Verb unterscheidet nicht zwischen »physischem« und »mentalem« Sehen: Wenn in den biblischen Texten vom »Sehen« die Rede ist, geht es nicht immer um etwas in unserem Sinne Sichtbares, Materielles, sondern oft auch um innere »Bilder einer ›mentalen Ikonographie‹.«2 Das Sehen umfasst in der Hebräischen 1 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 22002, 11. 2 Friedhelm Hartenstein: Die unvergleichliche »Gestalt« JHWHs. Israels Geschichte mit den Bildern im Licht von Deuteronomium 4,1–40, in: Bernd Janowski/Nino Zchomelids (Hg.): Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Zur Korrelation von Text und Bild im Wirkungskreis der Bibel (AGWB 3), Stuttgart 2003, (49–77) 50–51.

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Bibel oft komplexe Wahrnehmungsvorgänge, ein ganzheitliches Sehen, das vom physischen Wahrnehmen über das mentale Erkennen und Wissen bis zur Vision, zur inneren Schau und auch zur Gottesschau reicht.3 Die Texte der Hebräischen Bibel malen Bilder in Sprachform, ihre Sprache regt die bildliche Vorstellungskraft der Lesenden und Hörenden an. Paul Ricœur hat diese Bildhaftigkeit der biblischen Sprache so beschrieben: »[…] nichts also wird in sinnlichen Bildern gezeigt, alles geschieht in der Sprache.«4 Sprachbilder erfassen Bereiche von Wirklichkeit, die sprachlos machen und schwer mit anderen Worten ausgedrückt werden können. »Religiöse Sprache ist bildliche Sprache.«5 Metaphern sind ein elementares Kennzeichen der Hebräischen Bibel, vor allem poetischer Texte. Die Sprachbilder der Hebräischen Bibel sind in einem Kontext entstanden, in dem Bildern durchaus große Macht zugeschrieben wurde.6 Die poetische Sprache – vor allem die Gebetssprache der Psalmen und prophetische Texte – des alten Israel aktualisiert altorientalische Bildsymbolik.7 Einerseits ist es wichtig, Metaphern in ihrem biblischen und altorientalischen Entstehungskontext8 historisch und literaturwissenschaftlich zu untersuchen und sich die Distanz zu heutigen Vorstellungen immer wieder bewusst zu machen. Andererseits haben sie in ihrer Elementarität ein Potential, das über ihren historischen Hintergrund hinaus bis heute wirkt. Wissen über den Hintergrund altorientalischer Ikonographie kann diese uns heute oft fremde Bildsprache – hoffentlich – verständlicher machen. Sprachbilder und Metaphern können in variablen Rollenaufteilungen verschiedenen Personen zugeordnet werden und machen Aussagen über Menschen und über Gott. Sie finden sich in vielen semantischen Feldern, wie z. B. dem Königtum, dem Bereich der Familie, der Naturmetaphorik im weitesten Sinn oder in Körperbildern als Sonderfall von Metaphern:

3 Vgl. Friedhelm Hartenstein: Vom Sehen und Schauen Gottes. Überlegungen zu einer theologischen Ästhetik aus der Sicht des Alten Testaments, in: MJTh 22 (2010), (15–37) 19–21. 4 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, München 1986, 194. 5 Ruben Zimmermann: Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, in: ThZ 56 (2000), (108–133) 108. 6 Vgl. Angelika Berlejung: Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bildpolemik (OBO 162), Freiburg/Göttingen 1998. 7 Vgl. Silvia Schroer: Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Metaphern, in: Christl M. Maier/Nuria Calduch-Benages (Hg.): Schriften und spätere Weisheitsbücher (Die Bibel und die Frauen, AT 1.3), Stuttgart 2013, (123–152) 124. 8 Vgl. Michael P. Streck: Die Bildersprache der akkadischen Epik (AOAT 264), Münster 1999; Izaak J. de Hulster u. a. (Hg.): Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible/Old Testament. An Introduction to its Method and Practice, Göttingen 2015.

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Das Königtum Gottes9 ist ein Oberbegriff, eine Wurzelmetapher: Die Vorstellung von Gott als König (z. B. in den JHWH-Königspsalmen, Ps 24; 29; 47 u. a.)10 ist ein grundlegendes Konzept im alten Orient, von dem sich viele Metaphern ableiten lassen. Wissen über das altorientalische Königtum trägt im besten Fall dazu bei, unsere Vorstellungen eines Königs zu erweitern. Daneben stehen Metaphern aus dem Bereich familiärer Beziehungen.11 So wird z. B. Gott in Dtn 32,18 als Vater und Mutter beschrieben: Den Felsen (‫)צור‬, der dich geboren/gezeugt hat (‫)ילד‬, hast du vergessen, und vergessen den Gott, der dich unter Wehen hervorgebracht hat (‫)מחלל‬.

Die elterliche Metapher ist hier mit dem »Felsen« verknüpft, es handelt sich also um eine »mixed metaphor.« Die Bildbereiche von Metaphern können zu Netzwerken kombiniert werden.12 »Natur«-Metaphorik13 umfasst sowohl »unpersönliche« Metaphern wie den genannten Felsen als auch das weite Feld der Pflanzen- und Tiermetaphorik.14 So heißt es z. B. in Ps 63,8–9: Du bist mir Hilfe geworden, und im Schatten deiner Flügel will ich jubeln. An dir hängt meine Seele, deine Rechte hält mich fest.

Die Vorstellung vom schützenden Schatten der Flügel einer Gottheit ist im gesamten alten Orient in Darstellungen von einer geflügelten Sonne oder von geflügelten Göttinnen und Göttern weit verbreitet.15 9 Marc Zvi Brettler: God Is King. Understanding an Israelite Metaphor (JSOTSup 76), Sheffield 1989; Anne Moore: Moving Beyond Symbol and Myth. Understanding the Kingship of God of the Hebrew Bible Through Metaphor (SBL 99), New York u. a. 2009. 10 Vgl. Martin Leuenberger: Art. Königtum Gottes (AT), 2012, verfügbar unter: https://www.bi belwissenschaft.de/stichwort/23808/ [abgerufen am 14. 4. 2022]. 11 Gerlinde Baumann: Liebe und Gewalt. Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern, Stuttgart 2000; Claudia D. Bergmann: Childbirth as a Metaphor for Crisis. Evidence from the Ancient Near East, the Hebrew Bible, and 1QH XI, 1–18 (BZAW 382), Berlin/New York 2008. 12 Vgl. Danilo Verde/Antje Labahn (Hg.): Networks of Metaphors in the Hebrew Bible (BEThL 309), Leuven u. a. 2020. 13 Vgl. Göran Eidevall: Metaphorical Landscapes in the Psalms, in: Pierre van Hecke/Antje Labahn (Hg.): Metaphors in the Psalms (BEThL 231), Leuven u. a. 2010, 13–21; Marjo Christina Annette Korpel: A Rift in the Clouds. Ugaritic and Hebrew Descriptions of the Divine (UBL 8), Münster 1990, 560–613, bezeichnet diese als »physiomorphic descriptions of the divine.« 14 Vgl. Ute Neumann-Gorsolke/Peter Riede (Hg.): Das Kleid der Erde. Pflanzen in der Lebenswelt des alten Israel, Stuttgart/Neukirchen-Vluyn 2002. Tiermetaphorik spielt u. a. in den Feindschilderungen der Psalmen eine wichtige Rolle: vgl: Peter Riede: Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn 2000, 150–338. 15 Vgl. Silvia Schroer: Im Schatten deiner Flügel, in: Rainer Kessler u. a. (Hg.): »Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!« FS E. S. Gerstenberger, Münster 1997, 299.312 et al.; Gert Kwakkel: Under YHWH’s Wings, in: van Hecke/Labahn: Metaphors in the Psalms (s. Anm. 13), 141–165.

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Ein weiteres Beispiel einer »mixed metaphor« ist der Löwe, eines der in der Hebräischen Bibel sehr häufig genannten Tiere. Er verbindet Natur- und Königsmetaphorik und kann mit unterschiedlichen Personen in Verbindung gebracht werden. Das Löwenbild kann etwas über Gott aussagen, aber auch über die Feinde oder Juda. Bedrohliche Feinde werden oft als Löwen bezeichnet (vgl. Ps 7,2–3; 22,14.17.22).16 So heißt es z. B. in Ps 57,5: ‫ַנְפ ִשׁי ְבּתוְֹך ְלָבִאם ֶא ְשׁ ְכָּבה ל ֲֹהִטים ְבּ ֵני־ָא ָדם‬ ‫ִשׁ ֵנּיֶהם ֲח ִנית ְוִח ִצּים וְּלשׁוֹ ָנם ֶח ֶרב ַח ָדּה׃‬ Ich liege/meine Seele (‫ )נפשי‬liegt mitten unter Löwen (‫)לבאם‬, die Menschen verschlingen. Ihre Zähne sind Speer und Pfeile, und ihre Zunge ist ein scharfes Schwert.

Die Aggressivität und Kampfkraft der Feinde werden mit dem Verschlingen eines Löwen verglichen. Die Vorstellung vom Löwen evoziert lauernde Gefahr und Bedrohung.17 Werden die Feinde mit Löwen verglichen, geht es um ihre Wildheit und Bedrohung, das Zerstörerische. Werden die Feinde mit Löwen verglichen, ist das eine Strategie im Text, um sie zu dämonisieren und Gott zum Eingreifen zu bewegen.18 In Klgl 3,10 und Jes 38,13 wird JHWH mit einem feindlichen, angreifenden Löwen verglichen. Häufiger ist aber die Hoffnung, dass die Stärke JHWHs die Feinde besiegt, weil JHWH wie ein Löwe kämpfen wird. Ein Beispiel dafür ist Jes 31,4–5: ‫ ַכֲּא ֶשׁר ֶיְה ֶגּה ָהַא ְר ֵיה ְוַה ְכִּפיר ַעל־ַט ְרפּוֹ ֲא ֶשׁר ִי ָקּ ֵרא ָעָליו ְמל ֹא ר ִֹעים ִמקּוָֹלם ל ֹא ֵיָחת וֵּמֲהמוֹ ָנם ל ֹא ַיֲע ֶנה‬4 ‫בּא ַעל־ַהר־ִציּוֹן ְוַעל־ ִגְּבָעָתהּ׃‬ ֹ ‫ֵכּן ֵי ֵרד ְיה ָוה ְצָבאוֹת ִלְצ‬ ‫ ְּכִצֳּפ ִרים ָעפוֹת ֵּכן ָי ֵגן ְיה ָוה ְצָבאוֹת ַעל־ ְירוּ ָ ׁשִָלם ָּגנוֹן ְוִהִּציל ָּפס ֹ ַח ְוִהְמִליט׃‬5 4

Wie der Löwe und der Junglöwe, gegen den die Menge der Hirten zusammengerufen wird, über seinem Raub knurrt, vor ihrer Stimme nicht erschrickt und vor ihrem Lärmen sich nicht duckt, so wird JHWH der Heerscharen herabsteigen, um auf dem Berg Zion und auf seinem Hügel zu kämpfen. 5 Wie schwebende Vögel, so wird JHWH der Heerscharen Jerusalem beschirmen: beschirmen und erretten, schonen und befreien.

JHWH wird hier nicht nur mit einem Löwen verglichen, der seinen Raub/seine Beute (‫ )טרף‬verteidigt, sondern auch mit schützenden Vögeln. Außerdem lässt der 16 Vgl. Brent A. Strawn: What Is Stronger than a Lion? Leonine Image and Metaphor in the Hebrew Bible and the Ancient Near East (OBO 212), Fribourg/Göttingen 2005; Nikolett Móricz: »Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel!« Tiergestaltigkeit Gottes in Ps 22, in: dies. u. a. (Hg.): Ein pralles Leben. Alttestamentliche Studien. Für Jutta Hausmann zum 65. Geburtstag und zur Emeritierung (ABG 56), Leipzig 2017, 109–133. 17 Vgl. Riede: Im Netz des Jägers (s. Anm. 14). 193. 18 Vgl. Brent A. Strawn: Lion Hunting in the Psalms. Iconography and Images for God, the Self, and the Enemy, in: ders. u. a. (Hg.): Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible/Old Testament. An Introduction to Its Method and Practice, Göttingen 2015, (245–261) 257.

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Text vielleicht Rückschlüsse auf den Hirtenberuf in der altorientalischen Lebenswelt zu. Eine Aufgabe der Hirten ist es, durch Geschrei Löwen abzuwehren. Von dieser Metaphorik des Löwen als Zeichen von Stärke und Macht her wird der Löwe in Gen 49,9 zum Symbol für den Jakobsohn Juda, den Stamm und dann das Königtum Juda (wie er bis heute im Wappen von Jerusalem zu finden ist): Ein junger Löwe (‫ )אריה גור‬ist Juda. Vom Reißen, mein Sohn, bist du groß geworden. Er hat sich gekauert, gelagert wie ein Löwe (‫)כאריה‬, wie eine Löwin (‫ – )כלביא‬wer will ihn aufstören?

Das Löwenbild gehört in den weiten Bereich der Königsmetaphern in der Hebräischen Bibel. Im alten Orient können Gottheiten auf unterschiedliche Art und Weise dargestellt werden: So ist der Löwe eine mögliche Symbolik für die mesopotamische Göttin Ischtar, die daneben aber auch als Frau oder als Stern dargestellt werden kann. In dieser Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten drückt sich ein Differenzbewusstsein aus. Sie deutet darauf hin, dass Götterbild und Gottheit nicht als identisch angesehen wurden.19 Die verschiedenen Bildfelder sind also auf unterschiedliche Art und Weise verwoben und miteinander kombiniert. Das vorher genannte Beispiel aus Ps 57,5 enthält neben der Tiermetaphorik auch Körpersprache: Die Zähne der Feinde werden mit Speer und Pfeilen verglichen, ihre Zunge mit einem scharfen Schwert. Körperbilder20, die Rede vom menschlichen Körper, ist ein Sonderfall von Metaphorik. Körperbilder durchziehen die Psalmensprache und betreffen Gott, Beter*in und Feinde. Gerade die Art, wie im Hebräischen Körperbegriffe verwendet werden, – z. B. das weite Bedeutungsspektrum des Begriffs ‫ נפש‬von der »Kehle« bis zur »Seele«, vom »Leben« bis zur ganzen Person; das Wort ‫אף‬, das gleichzeitig »Nase« und »Zorn« bedeutet, oder »das Erbarmen/die Barmherzigkeit« (‫)רחמים‬, die im »Mutterleib«/in der »Gebärmutter« (‫ )רחם‬verortet werden – zeigt, wie eng in der altorientalischen Vorstellungswelt Konkretes und Abstraktes miteinander verbunden sind.21 Der Körper kommt nie allein »physisch« zur Sprache, sondern 19 Vgl. Jürgen van Oorschot: Das Lob des Imperfekten oder zur angemessenen Rede von Gott und Mensch. Anmerkungen eines Alttestamentlers, in: Paragrana 30 (2021), (119–136) 126; Berlejung: Theologie der Bilder (s. Anm. 6); Annette Schellenberg: Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen (ATANT 101), Zürich 2011, 88–91.251–253. 20 Dörte Bester: Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II/24), Tübingen 2007; Howard Schwartz: Does God Have a Body? The Problem of Metaphor and Literal Language in Biblical Interpretation, in: S. Tamara Komionkowski/Wonil Kim (Hg.): Bodies, Embodiment, and Theology of the Hebrew Bible (LHB 465), New York/London 2010. 21 Diese Verbindung von Konkretem und Abstraktem beschreibt Bernd Janowski: Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen-Vluyn 22006 (32009), 23, folgendermaßen: »Die altorientalischen Kulturen trennen nicht zwischen Konkretem und Abstraktem, sondern wahren den Zusammenhang von beiden, indem sie die ›Einheit der Wirklichkeit‹ mit Hilfe von Symbolen

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immer in personalen, sozialen und transzendentalen Bezügen. Der Mensch wird in körperlich-seelischer Einheit gesehen, die Hebräische Bibel hat einen »konstellativen Personbegriff.«22 Metaphern stehen prinzipiell zwischen zwei in Spannung zueinanderstehenden Bedeutungsfeldern. Die konkrete Ausgangsbedeutung geht aber nicht verloren, sondern ist im metaphorischen Prozess anwesend.23 Die Bildwelt der Hebräischen Bibel steht also einerseits in großer Distanz zu heutigen Vorstellungen, weil sie in ganz anderen Kontexten entstanden ist. Andererseits ist sie so elementar, dass sie auch Potential für zeitgenössische Fragestellungen und Herausforderungen hat. Vielleicht können literaturwissenschaftliche Metapherntheorien dazu beitragen, die Sprachbilder der Hebräischen Bibel besser zu verstehen.

2

Metapherntheorien

2.1

Definitionen

Die meisten Metapherndefinitionen fangen bei Aristoteles an: Die »Metapher ist die Übertragung eines fremden Nomens, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine andere oder gemäß der Analogie.«24 Die Metapher ist ein Mittel zur Veranschaulichung in der antiken Poetik und Rhetorik. Das klassische Beispiel ist: »Achill ist ein Löwe.« Der Versuch einer Definition soll hier auf eine Arbeitsdefinition beschränkt werden: Die Metapher, wörtlich »Übertragung« ist »eine Stilfigur, in der mittels eines sprachlichen Bildes, d. h. in übertragenem Sinn, auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird.«25 Drei Elemente sind grundlegend für Metaphern: 1) die semantische Dualität, d. h. das Vorhandensein von zwei Bedeutungssphären;

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24 25

darstellen. Der Akt der Symbolisierung leistet […] die Verbindung des Abstrakten mit dem Konkreten und des Konkreten mit dem Abstrakten, indem es eine Transformation der gegenständlichen in eine nichtgegenständliche Bedeutung (›Idee‹) herbeiführt, dabei aber jede der beiden Seiten mit der Autorität der jeweils anderen Seite stützt.« Vgl. Bernd Janowski: Anerkennung und Gegenseitigkeit. Zum konstellativen Personbegriff des Alten Testaments, in: ders./Kathrin Liess (Hg.): Der Mensch im Alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg u. a. 2009, (181–211) 184. Vgl. Friedhelm Hartenstein: »Spiritualisierung« oder »Metaphorisierung«? Zur Erforschung der Transformation von Kultbegriffen in den Psalmen, in: VF 56 (2011), (52–58) 55; Kathrin Liess: Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II/5), Tübingen 2004, 157–159. Aristoteles, Poetik, 1457b, 6–9; zitiert nach Paul Ricœur: Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 1986 (Paris 1975), 20. Philipp Löser: Art. Metapher I. Literaturwissenschaftlich, in: RGG 5, Tübingen 42002, (1165– 1166) 1165.

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2) eine semantische »Spannung«, das Moment einer »Inkongruenz« zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung, ein »einkalkulierter Fehler«26; und 3) das »tertium comparationis« als das beiden Bedeutungssphären Gemeinsame sowie eine neue, kreative Gesamtbedeutung.27

2.2

Bildfeld- und Interaktionstheorie28

In der Metapher geht es – nach Paul Ricœur – immer […] um ein semantisches Mißverständnis, um einen einkalkulierten Irrtum. Dieser Irrtum besteht in der Assimilation von Dingen, die nicht zusammengehören; aber er lässt, gerade durch die Gunst dieses einkalkulierten Mißverständnisses eine bis dahin unentdeckte Sinnverwandtschaft zwischen Termini entstehen, die durch die alten Klassifizierungen daran gehindert waren, in gegenseitigen Austausch zu treten.29

Die Metapher lebt von der Spannung zwischen unvereinbaren Bereichen, die im Alltagssprachgebrauch nichts gemeinsam haben. Ihre Interpretation liegt darin, das Fernliegende näher zu bringen, Ähnlichkeit herzustellen. Ausgangspunkt zur Identifikation einer Metapher ist, dass ein wörtliches Verständnis nicht möglich ist. Die Metapher geht also von einer Leerstelle aus, produziert aber selbst wieder Leerstellen. Eine Metapher lässt sich nie eindeutig entschlüsseln, sondern sie ist in sich mehrdeutig und kreiert wieder eine Reihe von möglichen Bedeutungen. Interaktionstheorien der Metapher, wie sie von Max Black und Paul Ricœur30 entwickelt wurden, bezeichnen das Verhältnis zwischen bildspendendem und bildempfangendem Bereich, zwischen tenor und vehicle, als Interaktion.31 Metaphern lassen sich nicht übersetzen, sondern Bild und Sache sowie ihre jeweiligen Kontexte beeinflussen einander wechselseitig. Metaphern sind in hohem

26 Paul Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: ders./ Eberhard Jüngel (Hg.): Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, (45– 70) 53; ders.: Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 21991, 188. 27 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar 22000, 342–343. 28 Vgl. zum folgenden Abschnitt Marianne Grohmann: Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen (FAT 53), Tübingen 2000, 10–15. 29 Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher (s. Anm. 26) 48. 30 Vgl. die Metapherndefinition von Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher (s. Anm. 24), 52–53: Die Metapher »[…] ist eine Erweiterung der Denotation durch Übertragung von ›Etiketten‹ (labels) auf neue Objekte, die sich dieser Übertragung widersetzten. […] Die Metapher ist nichts anderes als das Aufkleben eines bekannten Etiketts mit einer bestimmten Vergangenheit auf einen neuen Gegenstand, der sich dieser Übertragung erst widersetzt, dann nachgibt.« 31 Vgl. Baumann: Liebe und Gewalt (s. Anm. 11), 39.

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Marianne Grohmann

Maße abhängig von ihrem Kontext: sowohl vom Textkontext als auch dem Lebenskontext ihrer Produktion und Rezeption.32 Die Grenze zwischen »eigentlicher« und »übertragener« Bedeutung lässt sich in den poetischen Texten der Hebräischen Bibel nicht immer so leicht ziehen. Mehrere wörtliche und bildliche Bedeutungen gehen ineinander über und gelten gleichzeitig. Heißt es z. B. in Ps 58,12 ‫»( לצדיק אך־פרי‬Ja, es gibt Lohn für den Gerechten«), dann klingt hier die umfassende Semantik von ‫»( פרי‬Frucht/Nachkommenschaft/Ertrag/Lohn«) an: Das Nomen kann sowohl die Früchte der Erde (Ps 105,35; 107,34) oder der Bäume (Ps 1,3; 48,9) bezeichnen als auch menschliche Nachkommenschaft. In der Wurzel ‫ פרה‬sind also Vorstellungen einer Analogie der Fortpflanzung zwischen Pflanzen (gelegentlich auch Tieren) und Menschen festgehalten (Dtn 28,4). Aus dem Parallelismus mit dem gerechten Handeln Gottes, das den Psalm abschließt, ergibt sich, dass ‫ פרי‬in Ps 58,12 in übertragener Bedeutung ausgelegt werden kann: als Lohn, Ertrag, Erfolg etc. Aber alle diese Auslegungen haben ihren Ausgangspunkt in der wörtlichen Bedeutung »Frucht« im Sinne von Nachkommenschaft. Während die Nachkommenschaft der Frevler von Anfang an verdorben ist oder gar nicht geboren wird, wird im Gegensatz dazu – als Auswirkung des göttlichen Richtens – dem Gerechten reiche Nachkommenschaft und segensreiches Wirken vorausgesagt.33 Aus den genannten Interaktionstheorien von Metaphern34 lassen sich folgende Elemente gut mit der Exegese der Hebräischen Bibel verbinden: – Bedeutung ist eine Interaktion zwischen verschiedenen Sinnbereichen. Metaphern lassen sich nicht eindeutig »rückübersetzen«. Die Kontexte von Metaphern beeinflussen einander wechselseitig. Der Facettenreichtum von Sprachbildern liegt darin, dass sie eine Vielfalt von Verständnissen sowohl im wörtlichen Sinn als auch in bildlich-übertragenem Sinn hervorbringen. – Die kulturelle Prägung, das konzeptuelle System spielt eine wichtige Rolle. Die Konzepte von Wirklichkeit prägen wiederum die Alltagssprache. – Es ist der Leser oder die Leserin, der oder die Texte und Kontexte miteinander verbindet und so Bedeutung von Metaphern konstruiert.

32 Vgl. Baumann: Liebe und Gewalt (s. Anm. 11), 44. 33 Vgl. Grohmann: Fruchtbarkeit und Geburt (s. Anm. 28), 249. 34 Einen guten Überblick über Interaktionstheorien von Metaphern geben Korpel: Rift (s. Anm. 11), 35–77; Zimmermann: Metapherntheorie (s. Anm. 5). Wichtige Denker, die die Interaktionstheorie – philosophisch und linguistisch – entwickelten, waren Ivor A. Richards: The Philosophy of Rhetoric, Oxford/New York 1936; Max Black: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca 1962; Ricœur: Lebendige Metapher (s. Anm. 4).

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2.3

211

Kognitive Metapherntheorien

Seit den 1970ern und 1980ern wurden Kognitionstheorien in interdisziplinärem Diskurs von Anthropologie, Biologie, Computerwissenschaften, Linguistik, Neurowissenschaften, Philosophie, Physik, Psychologie und Soziologie entwickelt.35 Sie gehen davon aus, dass jede sprachliche Äußerung Teil eines konzeptuellen Systems (domain/frame) ist.36 Metaphern spielen insofern eine wichtige Rolle, als der Mensch die Welt grundsätzlich metaphorisch verarbeitet. Das Phänomen der Metapher ist nicht nur ein Phänomen der Sprache, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis menschlichen Denkens. George Lakoff und Mark Johnson haben eine sehr breite Metapherndefinition vorgestellt: »Das Wesen der Metapher besteht darin, eine Sache in Bezug auf eine andere zu verstehen und zu erleben.«37 Aus einem Bereich konkreter Lebenserfahrung wird mental auf ein weniger vertrautes, abstraktes Gebiet projiziert.38 Metaphern sind nicht auf literarische Texte beschränkt, sondern ein Phänomen der Alltagssprache, ein allgemeines Konzept menschlichen Denkens: »Der größte Teil unseres gewöhnlichen Begriffssystems ist metaphorischer Natur. […] die Metaphern […] strukturieren, wie wir wahrnehmen, wie wir denken, und was wir tun.«39 Metaphorische Äußerungen sind Manifestationen der konzeptuellen Welt der Sprechenden.40 Mit dem Grundmodell von »embodiment« meinen George Lakoff und Mark Johnson, dass konzeptuelle Metaphern einen direkten Bezug zur körperlichen Wahrnehmung haben: »Unsere Realität wird durch die Muster unserer körperlichen Bewegung, die Konturen unserer räumlichen und zeitlichen Orientierung und die Formen

35 Vgl. Rudolf Schmitt: Systematische Metaphernanalyse als Methode der qualitativen Sozialforschung, Wiesbaden 2016; Rudolf Schmitt u. a.: Systematische Metaphernanlyse. Eine Einführung, Wiesbaden 2018. 36 Vgl. Ronald W. Langacker: Foundations of Cognitive Grammar 2, Stanford 1991, 147. 37 George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980, 5: »The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another.« (dt. Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg [1998] 3 2003, 13). 38 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol (KVR 1486), Göttingen 41997, 7–8; Nöth, Semiotik (s. Anm. 27), 344; Zimmermann, Metapherntheorie (s. Anm. 5), 112–114.117. 39 Lakoff/Johnson, Metaphors We Live By (s. Anm. 37), 104: »most of our ordinary conceptual system is metaphorical in nature. […] the metaphors […] structure how we perceive, how we think, and what we do.« 40 Job Y. Jindo: Biblical Metaphor Reconsidered. A Cognitive Approach to Poetic Prophecy in Jeremiah 1–24 (HSM 64), Winona Lake 2010, 31–32, fasst die Grundeinsichten kognitiver Metapherntheorien unter den vier Stichworten Konzeptualität, Systematizität, Ubiquität und Fundamentalität zusammen.

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unserer Interaktion mit Objekten geformt.«41 Konkrete körperliche Erfahrungen dienen der Strukturierung abstrakter Sachverhalte. Statt vehicle und tenor (z. B. Ivor A. Richards) haben George Lakoff und Mark Johnson die Terminologie source (domain) und target (domain) für die beiden semantischen Bereiche geprägt, die in einer Metapher zusammenkommen. Mit dem »source-to-target-mapping« werden Konzepte von einer domain auf eine andere projiziert: »Wir verwenden eine Metapher, um bestimmte Aspekte des Ausgangsbereichs auf den Zielbereich zu übertragen und dadurch ein neues Verständnis des Zielbereichs zu schaffen.«42 Die Projektionsrichtung verläuft in diesem Konzept immer eindeutig von einer Richtung in die andere, von der source domain zur target domain.43 George Lakoff und Mark Johnson unterscheiden zwischen strukturellen Metaphern, ontologischen Metaphern und Orientierungsmetaphern: Bei strukturellen Metaphern stellt die source domain eine Wissensstruktur für die target domain zur Verfügung, durch die diese verstanden werden soll. Ein immer wieder zitiertes Beispiel für eine strukturelle Metapher ist ARGUMENTIEREN IST KRIEG.44 Ontologische Metaphern projizieren einen bestimmten Status, eine Entität auf etwas, das diesen Status ursprünglich nicht hat, z. B. DIE SEELE IST EIN ZERBRECHLICHES OBJEKT.45 Aus körperlichen Wahrnehmungen leiten sich die Orientierungsmetaphern ab, z. B. GUT IST OBEN; SCHLECHT IST UNTEN:46 »Im allgemeinen scheinen sich die Hauptorientierungen oben-unten, innen-außen, zentral-peripher, aktivpassiv usw. quer durch alle Kulturen zu ziehen; welche Konzepte aber welche Orientierung haben und welche Orientierungen dabei am wichtigsten sind, va-

41 Mark Johnson: The Body in the Mind, Chicago 1987, XIX: »Our reality is shaped by the patterns of our bodily movement, the contours of our spacial and temporal orientation, and the forms of our interaction with objects.« George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought, New York 1999, 4. 42 George Lakoff/Mark Turner: More than Cool Reason, Chicago 1989, 38–39: »We use a metaphor to map certain aspects of the source domain onto the target domain, thereby producing a new understanding of that target domain.« 43 Vgl. Christa Baldauf: Sprachliche Evidenz metaphorischer Konzeptualisierung. Probleme und Perspektiven der kongnitivistischen Metapherntheorie im Anschluss an George Lakoff und Mark Johnson, in: Ruben Zimmermann (Hg.): Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen (Übergänge 38), München/Paderborn 2000, (117–132) 118. 44 Vgl. Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern (s. Anm. 37), 12. 45 Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern (s. Anm. 37), 38. 46 Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern (s. Anm. 37), 25.

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riiert von Kultur zu Kultur.«47 Ein Beispiel aus der Hebräischen Bibel zu den Orientierungsmetaphern wäre Ps 113,4–6:48 4

Erhaben über allen Völkern ist JHWH, über dem Himmel ist seine Ehre. Wer ist wie JHWH, unser Gott, – der in der Höhe thront, 6 der in die Tiefe schaut, – im Himmel und auf der Erde?49

5

Eine weitere grundlegende Unterscheidung bei George Lakoff und Mark Johnson ist die zwischen »konventionalisierten« Metaphern in der Alltagssprache50 und »kreativen Metaphern.«51 Metaphern sind »ebenso kognitiv motiviert wie sie auch kulturspezifisch konventionalisiert sind.«52 Aus heutiger Sicht wirken die meisten Metaphern der Hebräischen Bibel konventionalisiert. Eine Einordnung in ihren zeitgenössischen Kontext kann vielleicht an manchen Stellen deutlich machen, worin ihr kreatives oder innovatives Potential liegt. Die Rede von der »Ubiquität der Metaphern«53 drückt aus, dass das Metaphorische letztendlich nicht klar vom Nichtmetaphorischen abgrenzbar ist und dass Metaphern ein Phänomen der Alltagssprache sind.

2.4

Conceptual Blending/Blending Theory

Kognitive Metapherntheorien wurden – zum Teil vom selben, zum Teil von einem erweiterten Personenkreis – zum Conceptual Blending weiterentwickelt: Während die Terminologie bildspendender Bereich/vehicle/source domain auf der einen Seite und bildempfangender Bereich/tenor/target domain auf der anderen Seite eine Zielrichtung von der einen zur anderen annimmt, geht das Conceptual Blending, wie es von Gilles Fauconnier und Mark Turner entwickelt 47 Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern (s. Anm. 37), 34. Sie räumen also kulturspezifische Unterscheidungen ein. 48 Elizabeth R. Hayes, Where is the Lord? The Extended Great Chain of Being as a Source Domain for Conceptual Metaphor in the Egyptian Hallel, Psalms 113–118, in: Hecke/Labahn: Metaphors in the Psalms (s. Anm. 13), 55–69, nimmt das Konzept von »conceptual metaphors« auf und wendet es auf eine Interpretation des Ägyptischen Hallel, Ps 113–118 an. So liest sie z. B. Ps 113,4–6 mit der Aussage von »Gott in der Höhe« als ein Beispiel für die Orientierungsmetapher der höheren Bewertung von »oben«. 49 Vgl. auch Ps 102,20: »Denn JHWH hat von der Höhe seines Heiligtums geschaut, er hat vom Himmel auf die Erde geblickt.« Dazu Antonia Krainer: Gottesbilder in Psalm 102. Netzwerke von Metaphern, in: PZB 29 (2020), (1–23) 17. 50 Lakoff/Johnson, Metaphors We Live By (s. Anm. 37), 108: »metaphors that structure the ordinary conceptual system of our culture, which is reflected in our everyday language«. 51 Lakoff/Johnson, Metaphors We Live By (s. Anm. 37), 108: »metaphors that are imaginative and creative […], capable of giving us a new understanding of our experience.« 52 Nöth, Semiotik (s. Anm. 27), 344. 53 Nöth, Semiotik (s. Anm. 27), 344.

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wurde,54 von einer Gleichrangigkeit der Input Spaces aus. Input Spaces entsprechen tenor – vehicle/source – target. Die input-spaces weisen unterschiedliche organizing frames, »Denkräume« (mental spaces), Hintergrundwissen oder konzeptionelle Muster auf. Diese »Pakete von konzeptuellem Wissen« enthalten mehr Information als das, was explizit in einer Metapher ausgedrückt wird.55 Teile beider frames werden sowohl in den generic space als auch in den blended space übernommen. Gilles Fauconnier und Mark Turner erweitern das interaktionstheoretische Konzept insofern, als sie nicht von einer Interaktion von zwei semantischen Feldern ausgehen, sondern von mindestens vier Bereichen: Der generic space (»Abstraktionsraum« oder »Reduktionsraum«)56 umfasst abstrakte Elemente und Konzepte, die den input spaces gemeinsam sind: […] whatever structure is recognized as belonging to both of the input spaces constitutes a generic space. At any moment in the construction, the generic space maps onto each of the inputs. It defines the current cross-space mapping between them. A given element in the generic space maps onto paired counterparts in the two input spaces.57

Er entspricht ungefähr dem, was traditionell als tertium comparationis bezeichnet wird.58 Dazu kommt der blended space oder blend, der aus Elementen und Konzepten besteht, die aus den input spaces übernommen und neu kombiniert werden. In diesem vierten Bereich liegt die Neuerung des Conceptual Blending, es knüpft an die Interaktionstheorie an: Der blended space ist ein Ort für den »Austausch zwischen Herkunfts- und Zielbereich […], in dem Elemente dieser beiden Bereiche nun ›interagieren‹ können bzw. neue Strukturen ›emergieren‹.«59 Metaphern enthalten Implikationen, die in keinem der beiden input spaces allein enthalten sind, sondern erst aus dem metaphorischen Prozess hervorgehen. Der blended space oder blend (die »Mischung«/Überblendung) ist nicht mit der Bedeutung der Metapher gleichzusetzen, sondern die Struktur und Information des Blend wird wieder in die Input Spaces zurück projiziert und beeinflusst deren 54 Vgl. Gilles Fauconnier/Mark Turner: The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2008. 55 Vgl. Pierre van Hecke: Conceptual Blending. A Recent Approach to Metaphor. Illustrated with the Pastoral Metaphor in Hos 4,16, in: ders. (Hg.): Metaphor in the Hebrew Bible (BEThL 187), Leuven 2005, (215–231), 220. 56 Krainer: Gottesbilder (s. Anm. 49), 4. 57 Gilles Fauconnier/Mark Turner: Conceptual Integration Networks, in: Cognitive Science 22 (1998), (133–187) 143. 58 Vgl. van Hecke: Conceptual Blending (s. Anm. 55), 220. 59 Wolf-Andreas Liebert: Metaphernforschung, in: Ulla Fix u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung 1, Berlin/New York 2008, (743–757) 751.

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Verständnis.60 Die Blendingtheorie ist »[…] das derzeit umfassendste kognitivsemantische Modell zur Beschreibung von Metaphern.«61

3

»Anwendungen« von kognitiven Metapherntheorien und Blended Theory auf die Exegese der Hebräischen Bibel

3.1

Gott als Hirte in Ps 23 und prophetischen Texten

»Der Herr ist mein Hirte« (‫)רעי יהוה‬, der Anfang von Psalm 23, ist wahrscheinlich die bekannteste Metapher der Hebräischen Bibel. Ps 23 ist insgesamt eine Entfaltung der Hirtenmetapher aus V. 1. Nicht nur in der nominalen Gleichsetzung »JHWH ist mein Hirte«, sondern in vielfältigen Verben und Beschreibungen wird das Hirtenbild plastisch. Wenn Gott in Ps 23 als Hirte bezeichnet wird, nutzen wir in der Interpretation dieses Bildes unser Wissen über den konzeptuellen Bereich der Weidewirtschaft, um eine Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu bekommen oder zu bestätigen. Wir tun das, indem wir die Elemente (z. B. »Hirte«, »Schaf«) und Beziehungen (z. B. »hüten«) aus unserem Ausgangsbereich (der source domain) auf den Zielbereich (target domain) übertragen. Das Ziel dabei ist, neue Einsichten über diesen Zielbereich, also über die Beziehung zwischen Gott und Mensch, zu bekommen.62 Hier zeigt sich schon ein Grundproblem der Anwendung kognitiver Metapherntheorien auf die Hebräische Bibel: Diese Theorien wurden anhand gegenwärtiger Sprache entwickelt. Wenn wir sie auf antike Texte anwenden, müssen wir uns der unterschiedlichen Ebenen bewusst werden: Source domain ist die Beziehung zwischen Hirten und Tieren in der altorientalischen Lebenswelt. Zielperspektive, target domain, ist die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel. Hirten im alten Orient entsprechen wahrscheinlich nicht unserem Hirtenbild. Unsere konzeptuellen Systeme sind von anderen Hirtenbildern geprägt als denen des alten Orients. Es ist also wichtig, sich immer wieder diese Differenz bewusst zu machen. Der Vergleich mit anderen Texten der Hebräischen Bibel und die altorientalische Ikonographie können dazu beitragen, den konzeptuellen Hintergrund zu beleuchten, der für die biblische Hirtenmetapher prägend war. Die Unterscheidung zwischen Vergleichen, die durch eine Partikel – häufig ‫כ‬ (»wie«) – gekennzeichnet sind, und Metaphern, in denen zwei Bedeutungsfelder ohne explizite Markierung aufeinander treffen, ist nur formal, spielt aber für die 60 Vgl. van Hecke: Conceptual Blending (s. Anm. 55), 221–223. 61 Liebert: Metaphernforschung (s. Anm. 59), 751. 62 Vgl. van Hecke: Conceptual Blending (s. Anm. 55), 219.

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Exegese der Texte eine untergeordnete Rolle: Inhaltlich ähnliche Sprachbilder werden manchmal als Vergleiche ausgedrückt, manchmal als Metaphern. So besteht z. B. in der metaphorischen Rede vom Hirten inhaltlich kein Unterschied zwischen Ps 23,1 (JHWH ist mein Hirte) und Jes 40,11: ‫ְכּר ֶֹעה ֶע ְדרוֹ ִי ְרֶעה ִבּ ְזר ֹעוֹ ְיַק ֵבּץ ְטָלִאים וְּבֵחיקוֹ ִי ָשּׂא ָעלוֹת ְי ַנֵהל׃‬ Wie ein Hirte (‫ )כרעה‬weidet er seine Herde, die Lämmer sammelt er mit seinem Arm und trägt sie in seinem Schoß (Gewandbausch), die Muttertiere leitet er.

Der Unterschied liegt nur in der expliziten Kennzeichnung, aber nicht im Sprachbild, seiner Interpretation und der Aktivierung der Vorstellungskraft der Lesenden.63 In beiden Fällen ist es klar, dass es um eine uneigentliche Redeweise geht und um eine Ist- und Ist nicht-Beziehung: Gott wird als Hirte beschrieben, aber es ist gleichzeitig klar, dass er kein Hirte ist.64 Das Hirtenbild für JHWH wird also nicht nur in Psalm 23 verwendet, sondern auch an vielen anderen Stellen. Je nach Textbeispiel werden im blended space unterschiedliche Aspekte der Hirtenmetapher aktualisiert. So geht z. B. aus Gen 29,9, wo Rahel als Hirtin bezeichnet wird, hervor, dass der Hirtenberuf auch von Frauen ausgeübt wurde. Texte wie Am 3,12 sprechen gegen allzu idyllische Hirtenvorstellungen: So spricht JHWH: So wie der Hirte aus dem Rachen des Löwen zwei Unterschenkel oder einen Ohrzipfel rettet, so werden die Israeliten gerettet werden, die in Samaria in der Ecke des Lagers sitzen und auf dem Damast des Ruhebettes.

Und auch der bereits erwähnte Text Jes 31,4 zeigt, dass der Hirtenberuf im alten Orient nicht immer so idyllisch ist, wie man sich das heute vielleicht vorstellt: Der Kampf gegen wilde Tiere, wie z. B. Löwen, gehört zur Kernkompetenz eines Hirten. Weitere Facetten des Hirtenbildes zeigt Hos 4,16, wo es auch nicht als Nomen, sondern in verbaler Form ausgedrückt wird: ‫ִכּי ְכָּפ ָרה ס ֵֹר ָרה ָס ַרר ִי ְשׂ ָרֵאל‬ ‫ַע ָתּה ִי ְרֵעם ְיה ָוה ְכֶּכֶבשׂ ַבּ ֶמּ ְרָחב׃‬ Ja, wie eine bockige Kuh ist Israel bockig geworden. Und da soll JHWH sie weiden (‫ )ירעם‬wie ein Schaf auf weitem Feld?

63 Vgl. Hanne Løland: Silent or Salient Gender? The Interpretation of Gendered God-Language in the Hebrew Bible, Exemplified in Isaiah 42, 46 and 49 (FAT II/32), Tübingen 2008, 47–51. 64 Auch im genannten Vers Gen 49,9, steht der Löwenvergleich gleichbedeutend ohne und mit Vergleichspartikel »wie« (‫)כ‬: »Ein junger Löwe (‫ )אריה גור‬ist Juda – wie ein Löwe (‫)כאריה‬, wie eine Löwin (‫)כלביא‬.«

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Pierre van Hecke wendet die Conceptual Blending Theory folgendermaßen auf das Hirtenbild in Hos 4,16 an:65 Die beiden Input Spaces sind Weidewirtschaft, das Verhältnis zwischen Hirten und Schafen, auf der einen Seite, und die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf der anderen Seite. Im Unterschied zum Source-Target-Mapping werden diese beiden Bereiche als gleichrangig angesehen. Der generic space enthält die Konzepte, die den beiden Input Spaces gemeinsam sind. Generic space ist im Fall des Hirtenbildes ein Handelnder, der sich um einen anderen kümmert und für ihn sorgt. Im blended space entsteht: »Gott ist Hirte der Menschen.« Diese Aussage hat wieder Rückwirkungen auf die Input Spaces, indem sie sowohl unsere Konzepte von Weidewirtschaft beeinflusst als auch unsere Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Menschen. Aus dem Hirtenbild wird hier die Fürsorge und das Weiden auf weitem Raum konzeptualisiert. Dazu kommt die Vorstellung vom Antreiben von Tieren als weitere source domain, von der das Abweichen der Tiere in den blended space eingebracht wird. Die Metapher beruht in diesem Vers aus einer Inkongruenz zwischen zwei Vorstellungen: Israel is understood as a balking cow, whereas God’s relation to Israel is understood as that of a shepherd (not) tending his sheep. […] Israel should not expect to behave like a balking cow and, at the same time, be shepherded by God.66

In jedem Text werden also unterschiedliche Facetten des Hirtenbildes aktualisiert: leitend und tröstend in Ps 23, wilde Löwen abwehrend in Jes 31,4 und Am 3,12 oder in Auseinandersetzung mit störrischen Tieren.

3.2

Der Kosmos als Staat und Pflanzenmetaphorik in Jer 1–24

Prophetische Texte sind ein weites Feld für Metaphernforschung in der Exegese.67 Job Y. Jindo verwendet kognitive Metapherntheorien für seine Exegese von Jer 1– 2468 und schlägt folgende vier Methodenschritte vor: – Identifizierung der Einheit einer poetischen Metapher. Diese muss nicht immer mit der literarischen Texteinheit identisch sein;

65 Pierre van Hecke: Shepherds and Linguists. A Cognitive-Linguistic Approach to the Metaphor »God is Shepherd« in Gen 48,15 and Context, in: André Wénin (Hg.): Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History, Leuven 2001, 479–493; ders.: Lamentations 3,1–6. An Anti-Psalm 23, in: SJOT 16 (2002), 264–282; ders.: Conceptual Blending (s. Anm. 55). 66 Van Hecke: Conceptual Blending (s. Anm. 55), 228. 67 Vgl. z. B. Carol Newsom: A Maker of Metaphors. Ezekiel’s Oracle against Tyre, in: Interp. 38 (1984), 151–164. 68 Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40).

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– Klärung des konzeptuellen Wissens, das notwendig ist, um den kognitiven und kreativen Wert einer Metapher zu verstehen, Rekonstruktion des zeitgenössischen Verständnisses; – Klärung der funktionalen Beziehungen zwischen metaphorischen Einheiten und ihrer Beziehung zum Rahmen; – die Frage danach, wie der Text die Wahrnehmung der Leser*innen orientieren will, die Frage nach der Orientierungsrichtung des Textes für Leser*innen.69 Er untersucht zunächst den konzeptuellen Rahmen von Jer 1–24 und sieht im mesopotamischen Muster von Katastrophen und Zerstörungen, die als Ergebnis von göttlichen Entscheidungen gelten, eine »globale Metapher« mit einer festen Abfolge: Schuldspruch/richterliche Entscheidung, Zerstörung/Krieg und Klagen über die Folgen der Zerstörung. Die himmlische Ratsversammlung wird nach der Vorstellung eines staatlichen Gemeinwesens vorgestellt, das metaphorisches Konzept ist: DER KOSMOS IST EIN STAAT.70 Nach Jindo bildet das Modell eines königlichen Gerichtsverfahrens den konzeptionellen Rahmen von Jer 1–24: JHWH sitzt an seinem himmlischen Hof und verurteilt Juda und Jerusalem dafür, dass sie die Verpflichtungen ihres Bundes verletzt haben. […] the overall framework of Jeremiah 1–24 is a royal lawsuit model in which YHWH appears in his heavenly court, condemning and proclaiming the punishment of Judah and Jerusalem for forsaking their covenantal obligations.71

Dieser konzeptionelle Rahmen ist mit der Vorstellung von Israel als JHWHs königlichem Garten verknüpft: Job Y. Jindo nimmt kognitive Metapherntheorie auf, um die Pflanzen- und Gartenmetaphorik in Jer 1–24 als Beispiele für »lokale Metaphern« zu untersuchen. Beschreibungen von Israel als Weingarten (‫ ;כרמל‬Jer 2,7), Olivenbaum (‫ ;זית‬Jer 11,16) oder Feige (‫ ;תאנים‬Jer 24,5) sind Bestandteile des metaphorischen Konzepts ISRAEL IST JHWHS KÖNIGLICHER GARTEN. So heißt es z. B. in Jer 12,10: ‫בְּססוּ ֶאת־ֶחְלָקִתי‬ ֹ ‫ר ִֹעים ַר ִבּים ִשֲׁחתוּ ַכ ְרִמי‬ ‫ָנְתנוּ ֶאת־ֶחְלַקת ֶחְמ ָדִּתי ְלִמ ְד ַבּר ְשָׁמָמה׃‬ Viele Hirten (‫ )רעים‬haben meinen Weinberg (‫ )כרם‬verwüstet, meinen Anteil zertreten, meinen kostbaren/süßen Anteil (‫ )חמדתי חלקת‬zur verödeten Wüste (‫ )שממה מדבר‬gemacht.

Auch wenn politische Staatsmetaphorik und Pflanzenbilder aus heutiger Sicht nichts miteinander zu tun haben, sind sie in der altorientalischen Vorstel69 Vgl. Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40), 48–49. 70 Vgl. Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40), 71–147; Frederick William Dobbs-Allsopp: Weep, O Daughter of Zion. A Study of the City-Lament Genre in the Hebrew Bible, Rom 1993. 71 Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40), 151.

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lungswelt über das Konzept von JHWH als König, dem himmlischen Rat als seinem Hof und der Welt als seinem Herrschaftsgebiet miteinander verbunden.72 Job Y. Jindo zeigt auf, dass Metaphern in prophetischen Schriften nicht sekundär zu den Inhalten dazu kommen, sondern von Anfang an mit ihnen verbunden sind. Sie sind nicht schmückendes Beiwerk, sondern zentrale Bestandteile der poetischen Welt der Texte. Im Jeremia-Buch wird ein kosmisches Drama dargestellt, das sich zwischen den beiden Polen Gedeihen/Wachstum/Fruchtbarkeit im Garten und Verwüstung/Zerstörung bewegt.73

3.3

Kognitive Metapherntheorien als Zugänge zu Klagepsalmen

Alec Basson wendet kognitive Metapherntheorien auf ausgewählte Klagepsalmen an. Er verbindet sie mit klassisch historisch-kritischer semantischer Arbeit und konzentriert sich auf zentrale Metaphern für Gott. So wird z. B. in Ps 7 Gott in Metaphern beschrieben, die eine positive Beziehung zum betenden Menschen ausdrücken: als Zufluchtsort, Schild, Retter und gerechter Richter. In Ps 7,2–3 heißt es: ‫ ְיה ָוה ֱאל ַֹהי ְבָּך ָחִסיִתי הוֹ ִשׁיֵע ִני ִמ ָכּל־ר ֹ ְדַפי ְוַה ִצּיֵל ִני׃‬2 : ‫פּ ֵרק ְוֵאין ַמ ִצּיל‬ ֹ ‫ ֶפּן־ ִיְטר ֹף ְכַּא ְר ֵיה ַנְפ ִשׁי‬3 2

JHWH, mein Gott, bei dir berge ich mich, rette mich von allen meinen Verfolgern und befreie mich! 3 Dass er nicht wie ein Löwe (‫ )כאריה‬mein Leben (‫ )נפשי‬zerreißt, er reißt, und da ist kein Befreier.

In der Bedrohung durch einen Feind, der mit einem reißenden Löwen verglichen wird, wird JHWH als Zufluchtsort und Retter angerufen, ausgedrückt in V. 2 durch Verben: ‫»( חסיתי בך‬in dir berge ich mich«), ‫»( הצילני‬reiß mich heraus«) und ‫»( הושיעני‬rette mich«): In der Metapher JHWH ALS ZUFLUCHTSORT wird Gott als Raum konzeptualisiert: Dieses ›Hineinziehen‹ unterstreicht die Innen-Außen-Orientierung, durch die der Psalmist sicher ist, wenn er sich innerhalb des Schutzes oder der Zuflucht befindet, aber in Gefahr, wenn er sich außerhalb befindet. Das ›Hineinziehen‹ in Jahwe ist also gleichbedeutend mit Schutz.74 72 Vgl. Brettler: God Is King (s. Anm. 9); Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40), 254. 73 Vgl. Jindo: Biblical Metaphor (s. Anm. 40), 168. 74 Alec Basson: Divine Metaphors in Selected Hebrew Psalms of Lamentation (FAT II/15), Tübingen 2006, 84: »This ›moving into‹ also highlights the inside-outside orientation, according to which the psalmist is safe when he is inside the shelter or refuge but in danger when outside. Thus ›moving into‹ Yahweh equals protection.«

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Marianne Grohmann

In der Fortsetzung, in Ps 7,11–12 wird JHWH als Schild und Retter bezeichnet. 11 12

Mein Schild (‫ )מגני‬ist (auf) Gott,75 dem Retter derer, die geraden Herzens sind. Gott ist ein gerechter Richter (‫ )שפט‬und ein zürnender Gott, jeden Tag.

Gott wird in V. 11 mit einem beschützenden Schild, einer Verteidigungswaffe verglichen. Die Schild-Metapher ist Teil der domain des Krieges. Vorstellungen von Schutz und Verteidigung werden auf Gott projiziert.76 In V. 12 wird JHWH als Richter bezeichnet. Das gerechte Richten Gottes wird sowohl mit dem Nomen ‫»( שפט‬Richter«) beschrieben (V. 10) als auch mit den Verben ‫ דין‬und ‫»( שפט‬Recht sprechen/richten«) in V. 7 und 18. Im Parallelismus werden Schild und Retter-Sein nebeneinandergestellt. Die Metapher von Gott als gerechtem Richter ist kein Widerspruch zu seinem Zorn. Alec Basson untersucht in Psalm 7 (und anderen Psalmen: 17; 31; 35; 44; 59; 74; 80) jeweils die konzeptuelle Welt, die hinter den genannten Gottesbildern oder weiteren wie z. B. Fels, Festung, Krieger, Hirte und König steht. Er zeigt, wie sich die Orientierungsmetapher OBEN – UNTEN in Aussagen von JHWH, der nach oben führt (z. B. Ps 44,8.10.20), durch alle analysierten Psalmen zieht. In allen diesen Beispielen wirken die Metaphern nicht nur in ihren nominalen Gleichsetzungen, sondern in den Verben werden die Aktivitäten Gottes und der Feinde weiter entfaltet. Von der hebräischen Grammatik her, in der das Verb zentral ist, ist es notwendig, diese Metapherntheorien über die Gleichsetzung mit Nomina hinaus weiterzuführen und die Differenz zwischen altorientalischen und heutigen Konzeptualisierungen zu beachten.

4

Auswertung: Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen?

4.1

Zur Rolle der Lesenden im Interpretationsprozess

Gibt es in den alten biblischen Sprachbildern so etwas wie einen allgemeinmenschlichen Erfahrungshintergrund, eine anthropologische Konstante, die über die konkret zeitgebundenen Faktoren hinauswirken? Zunächst ist eine Unterscheidung der Ebenen wichtig: Die Metaphern und Sprachbilder der Hebräischen Bibel haben auf der historischen Ebene einen Entstehungshintergrund, der weit weg ist von der Erfahrungswelt des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Bilder, die in den Köpfen der Lesenden und Hö75 Der Masoretische Text lautet hier: ‫»( אלהים על מגני‬mein Schild ist auf/obliegt JHWH«). Die metaphorische Gleichsetzung von Gott mit dem Schild in V. 11 ergibt sich nur, wenn man der syrischen Peschitta folgt und ‫»( על‬auf«) weglässt – so Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 74), 64. Für eine Beibehaltung von MT plädiert z. B. Janowski: Konfliktgespräche (s. Anm. 21), 142. 76 Vgl. Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 74), 63–85.

Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen?

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renden entstehen, sind deshalb vermutlich andere als die der ursprünglichen Autoren. Um sie besser zu verstehen, ist es sinnvoll, sich mit den altorientalischen Vorstellungswelten zu befassen. Die historische Einordnung eines Sprachbildes macht seine Distanz zu heutigen Vorstellungen bewusst, trägt aber vielleicht auch zu einer gewissen Annäherung bei. Trotz des großen geographischen und zeitlichen Abstandes zu ihren Entstehungskontexten haben diese Sprachbilder auf einer zweiten Ebene ein Potential, das über ihre zeitgebundene Bedeutung hinausgeht. Sie haben unsere Kultur und das kulturelle Gedächtnis geprägt. Sie sind in einem Kontext entstanden, in dem Bildern durchaus große Macht zugeschrieben wurde, und sie haben in der Wirkungsgeschichte eine reichhaltige Tradition an Bildern hervorgebracht.77 Die Texte sind so geschrieben, dass sie auf Wirkung angelegt sind, die auch nach über 2000 Jahren noch vorhanden ist. Wolfgang Iser hat das Wirksignale oder »den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens«78 genannt, Sigrid Eder spricht von Identifikationspotenzialen.79 In der Interpretation von Metaphern ist die Wechselwirkung zwischen Bild und Kontext wichtig. Das gilt sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene. Es ist wichtig, die Rolle der Leserinnen und Leser bei der Interpretation zu berücksichtigen: Die semantische Offenheit und Unschärfe der Bildersprache ruft in besonderem Masse die Deutungsaktivität der Rezipienten hervor, die in kognitive, affektive, rhetorische und ethische Aspekte differenziert werden kann. Der sinnbildende Rezeptionsvorgang lässt sich aber nicht nur aus der Perspektive des Lesers erfassen, vielmehr kommt es zu einer echten Wechselwirkung, in der sich der Sinn einer Metapher gerade im Zwischenraum zwischen Text und Autor konstituiert. […] Das Bilderverstehen ist durch den Text vorstrukturiert, wird aber letztlich vom Rezipienten vollzogen. […] Die Bildersprache zieht den Leser in einen umfassenden Verstehensprozess hinein, der mit Ricœur eine Rekonstitution des Selbst, ein ›Sich-Verstehen vor dem Text‹ bewirken kann.80

Diese Deutungsoffenheit betrifft sowohl die sprachlichen Bilder als auch die Ikonographie: Die bildlichen Darstellungen aus den altorientalischen Kulturen sind genauso bedeutungsoffen wie die Texte. Sie können dazu beitragen, den Hintergrund von sprachlichen Bildern etwas zu beleuchten, aber sie sind keine Fotos aus der Zeit. Die sprachlichen Bilder regen die Phantasie der Rezipierenden an und laden sie dazu ein, immer wieder eigene Vorstellungen zu bilden. 77 Vgl. Berlejung: Theologie der Bilder (s. Anm. 6). 78 Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972, 8–9. 79 Vgl. Sigrid Eder: Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147 (BBB 183), Bonn 2018. 80 Zimmermann: Metapherntheorie (s. Anm. 5), 129.

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Marianne Grohmann

Paul Ricœur betont einerseits die semantische Neuerung, die Innovation, die in jeder Metapher steckt, und andererseits ihre heuristische Funktion, ihre Aufforderung, Wirklichkeit neu zu beschreiben: Es ist eine wichtige »Funktion der biblischen Sprache, eine neue Möglichkeit von Existenz zu eröffnen.«81 Metaphern erweitern die Bedeutung einzelner Worte über ihren wörtlichen Sinn hinaus. Einerseits kommen sie aus unterschiedlichen Kontexten, andererseits schaffen sie selbst wieder neue semantische Felder. Die Bedeutungsfindung, die von einer Metapher angeregt wird, geschieht zwischen Text und Leser oder Leserin.82 Die pragmatische Dimension ist also ein wichtiger Aspekt jeder Interpretation.83

4.2

Zum Potential kognitiver Metapherntheorien

Metapherntheorien um das Conceptual Blending als Teilbereich kognitiver Linguistik können dazu beitragen, das Verständnis von Metaphern zu erweitern. Es bleibt das Problem, dass diese Modelle anhand von zeitgenössischen, heute gesprochenen Sprachen entwickelt wurden, während wir es in der Hebräischen Bibel mit einer Sprache zu tun haben, die so heute nicht mehr gesprochen wird.84 Die Rekonstruktion der altorientalischen Vorstellungswelten und mental maps, die hinter den einzelnen Elementen der Metaphern liegen, ist nicht immer einfach. Eine Errungenschaft dieser Theorien ist es, dass sie nicht nur Bild- und Sachhälfte zu rekonstruieren versuchen, sondern das Verstehen von Metaphern als dynamischen Prozess ansehen. Die enge Zusammengehörigkeit von Abstraktem und Konkretem, wie sie für alttestamentliche Texte in ihrem altorientalischen Kontext charakteristisch ist, lässt sich durchaus mit kognitiver Linguistik verbinden. Trotz des großen historischen Abstands lassen sich manche Sprachbilder der Hebräischen Bibel vor diesem Hintergrund neu lesen: Aus einer Kombination von Körperbildern der 81 Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher (s. Anm. 26), 45. 82 Vgl. Antje Labahn: Metaphor and Intertextuality. »Daughter of Zion« as a Test Case. Response to Kirsten Nielsen »From Oracles to Canon« – and the Role of Metaphor, in: SJOT 17 (2003), (49–67) 50. 83 Vgl. Kurz: Metapher (s. Anm. 38), 13: »So muß die metaphorische Bedeutung nicht als Eigenschaft der syntaktisch-semantischen Einheit Satz, sondern als Eigenschaft einer Äußerung bestimmt werden. Mit einer Äußerung ist eine kommunikative Situation gegeben, nach der erst entschieden werden kann, ob ein Ausdruck metaphorisch gemeint ist oder nicht.« 84 Vgl. van Hecke: Conceptual Blending (s. Anm. 55), 229; David H. Aaron: Biblical Ambiguities. Metaphor, Semantics and Divine Imagery (The Brill Reference Library of Ancient Judaism 4), Leiden u. a. 2001, 23–41; Marianne Grohmann: Metapherntheorien und Altes Testament, in: ThLZ 142 (2017), (1153–1166) 1165–1166.

Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen?

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Hebräischen Bibel mit dem Konzept von Embodiment, der Verankerung aller kognitiven Konzepte in körperlicher Wahrnehmung, entstehen neue Perspektiven. Auch das Konzept von Orientierungsmetaphern lässt sich mit Raumvorstellungen in biblischen Texten ins Gespräch bringen. Die Unterscheidung von Zoltan Kövecses zwischen »konzeptueller Metapher« als kognitivem Prozess und »literarischer Metapher« als deren linguistischem Ausdruck85 kann für die Exegese der Hebräischen Bibel durchaus hilfreich sein. Wir haben zwar nur die Texte, den linguistischen Ausdruck. Aber eine Kombination der kognitiven Ansätze mit der klassischen historisch-kritischen Exegese unter Einbeziehung altorientalischer Ikonographie macht es möglich, die dahinterstehenden Konzepte – zumindest ansatzweise – zu rekonstruieren. So kann die altorientalische Bildsprache dazu dienen, den konzeptuellen Hintergrund zu beleuchten, der für die biblischen Metaphern prägend war. Kognitive Metapherntheorien bieten eine Möglichkeit, die Ebenen der historischen Rekonstruktion und der heutigen Lektüre zu verbinden: Zuerst geht es darum, die ursprünglichen Input Spaces, die altorientalischen Konzepte zu beschreiben, die hinter einer Metapher stehen. In einem zweiten Schritt lassen sie sich heutigen Konzepten gegenüberstellen. Beispiele aus der jüdischen und christlichen Rezeptionsgeschichte zeigen wieder andere Rekonzeptualisierungen, die manchmal vielleicht eine Brücke zu einem heutigen Verständnis herstellen, sich manchmal aber auch in sehr unterschiedliche Interpretationsrichtungen verzweigen. Vielleicht lassen sich auf diesem Weg Verbindungslinien zwischen altorientalischem Entstehungskontext und zeitgenössischer Interpretation ziehen. Sowohl Interaktionstheorien als auch kognitive Linguistik zeigen auf, dass sich Metaphern nicht 1:1 »rückübersetzen« – d. h. auf einfache Analogien zurückführen – lassen, sondern dass ihr Verstehen und Interpretieren ein dynamischer Prozess ist. Sie beziehen die Perspektiven der Lesenden in die Auslegung ein.

4.3

Zur Bedeutung biblischer Metaphern für die Theologie

Die Hebräische Bibel stellt bis heute ein Repertoire an Metaphern zur Verfügung, mit dem Aussagen über Gott und Mensch gemacht werden können. Menschliche Rede über Gott hat prinzipiell bildlich-metaphorische Züge.86 Das Faktum, dass Gott im Alten Testament in vielen verschiedenen Metaphern, in einer Mischung aus persönlichen und unpersönlichen Sprachbildern, aus anthropomorphen Bildern und Naturmetaphorik, dargestellt wird, welche die Vielfalt seiner Akti85 Vgl. Zoltan Kövecses/Réka Benczes: Metaphor. A Practical Introduction, Oxford 22010, 4. 86 Vgl. Ulrich Körtner: Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 138.

224

Marianne Grohmann

vitäten und Beziehungen ausdrücken,87 ist bereits ein theologisches Statement: »God is more and God is different. […] God transcends the boundaries of human life.«88 Auch wenn der Anthropomorphismus der alttestamentlichen Rede von Gott häufig abwertend beurteilt wird, liegt in ihm gerade eine besondere Qualität. Der Anthropomorphismus in der Rede über Gott in der Hebräischen Bibel ist eine spezielle Art von Metapher, eine spezielle Art der Personifizierung.89 »Die anthropomorphe Rede von Gott ist kein Unfall oder ein vermeidbares Missgeschick. Sie ist Absicht. Und daher ist dieser Modus der Gottesrede auch inhaltlich für eine heutige Rede von Gott zu gewichten.«90 Die Unterscheidung von immanentem und transzendentem Anthropomorphismus trifft die Rede von Gott in der Hebräischen Bibel nicht. JHWH wird sowohl immanent als auch transzendent dargestellt91 (vgl. z. B. Beschreibungen von Gott im Himmel: 1 Kön 22,19–23; Ps 33,13–15; Jes 6; Ez 1).92 Anthropomorphe Metaphern sind ein literarisches Stilmittel, um theologische Konzepte sowohl von Immanenz als auch von Transzendenz Gottes umzusetzen.93 Metaphern und biblische Bildsprache allgemein ermöglichen es, menschliche Grunderfahrungen auszusprechen, die sich schwer beschreiben lassen. Sie können eine emotionale Verbindung herstellen und neue Denkmöglichkeiten eröffnen.94 Auch wenn die agrarisch geprägte Welt der Bibel, aus der viele Metaphern der Hebräischen Bibel stammen, eine ganz andere ist als die der Leser*innen im 21. Jahrhundert in einer post-industrialisierten Welt, hat sie das Potential, eine Gegenwelt zu Optimierungstendenzen und Machbarkeitsvorstellungen des (post)modernen Menschen aufzuzeigen. Das Ziel ist eine Hermeneutik, »in der sich Bibel und Weltwirklichkeiten wechselseitig erschließen.«95 Es ist wichtig, biblische Metaphern auf zwei Ebenen zu lesen: einerseits in ihrem historischen, altorientalischen Kontext, und andererseits mit ihrem Potential, bis 87 Vgl. Hubert Irsigler: Gottesbilder des Alten Testaments. Von Israels Anfängen bis in die exilische Epoche, Freiburg u. a. 2021. 88 Kirsten Nielsen: Metaphors and Biblical Theology, in: Pierre van Hecke (Hg.): Metaphor in the Hebrew Bible (BEThL 187), Leuven 2005, (263–273) 264. 89 Vgl. Dalit Rom-Shiloni: Hebrew Bible Theology. A Jewish Descriptive Approach, in: JR 96 (2016), (165–184) 176. 90 van Oorschot: Lob des Imperfekten (s. Anm. 19), 123. 91 Vgl. Esther J. Hamori: »When Gods Were Men.« The Embodied God in Biblical and Near Eastern Literature (BZAW 384), Berlin/New York 2008, 30–32. 92 Vgl. Rom-Shiloni: Hebrew Bible Theology (s. Anm. 89), 176–177. 93 Vgl. Rom-Shiloni: Hebrew Bible Theology (s. Anm. 89), 180. 94 Löser: Metapher (s. Anm. 25) 1166 beschreibt diese Funktion der Metapher so: »Der rhetorische Funktionswert der M. kann sich zw. emotionaler Ansprache, erbaulicher Schmuckfunktion, inhaltlicher Präzisierung und Urbarmachung neuer Denkmöglichkeiten bewegen.« 95 Alexander Deeg: Metaphern und Moves, Poesie und Pathos. Wahrnehmungen und Fragen zur gegenwärtigen Transformation der Predigtsprache, in: PTh 108 (2019), (400–421) 415.

Alte Sprachbilder für neue Herausforderungen?

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heute zu wirken. Dies ist ein offener Prozess, in dem die Metaphern immer wieder neue Bedeutungen gewinnen, die sich manchmal von ihren ursprünglichen Entstehungskontexten entfernen.

Markus Öhler

Zwischen den Stühlen? Die Erforschung des Neuen Testaments zwischen säkularer Wissenschaft und theologischer Vermittlung

Abstract New Testament scholarship finds itself in a position that can be described as »caught between two chairs.« On the one hand, it is a theological discipline with multiple references to other subjects of theology, on the other hand, it is a historical discipline that draws on the results and methods of numerous fields. Based on J.P. Gabler’s reflections, the paper argues that the tension between theology and historiography is also anchored within New Testament exegesis and points out ways out of or rather within this dilemma. On the one hand, a multi-level procedure of exegesis is proposed, which distinguishes historical and theological questions. On the other hand, analogous to the importance of imagination in historiography, a continuum between theology and history is suggested on which researchers on the New Testament move in each case.

An einer deutschen Universität lädt der Rektor die wissenschaftlichen Disziplinen zu einem Weihnachtsempfang. Und weil es bei solchen Gelegenheiten Essen und Trinken gratis gibt, kommen sie alle, auch wenn man die Rede des Rektors dafür ertragen muss. Im Festsaal ist ein großes Buffet aufgebaut und an runden Tischen nehmen die einzelnen Disziplinen Platz. Und selbstverständlich setzt sich die theoretische Physik zur technischen Physik und auch die organische und anorganische Chemie haben am selben Tisch Platz genommen. Es entsteht zwar sofort ein Streit, ob Chemie überhaupt eine eigene Disziplin ist und nicht bloß ein Zweig der Physik, aber das war zu erwarten gewesen. An einem anderen Tisch sitzt die Gynäkologie mit der Onkologie zusammen und sie lachen über Pathologiewitze. Und da ist natürlich auch die Geschichte: Die Ur- und Frühgeschichte, die wieder einmal viel zu früh gekommen ist, mit der Zeitgeschichte, der Archäologie und all den anderen historischen Disziplinen. Ihr Tisch ist groß. Am Tisch daneben hat sich die Dogmatik breitgemacht, neben ihr die Ethik und die Praktische Theologie, Kirchengeschichte und Alttestamentliche Wissenschaft wie immer traut vereint. Die neutestamentliche Wissenschaft fehlt noch – immer

228

Markus Öhler

ist sie zu spät, weil sie noch einen Projektantrag schreiben muss oder vielleicht auch bloß wegen eines Fußballspiels. Als die Neutestamentliche Wissenschaft endlich den Saal betritt, fällt ihr Blick zunächst auf den Tisch der Geschichte: Da sitzen ein paar gute Bekannte, die Alte Geschichte, die Epigraphik, die Papyrologie, mit denen kann man immer gut plaudern. Das Neue Testament setzt sich dazu. Sogleich begrüßt sie die Alte Geschichte: »Naja, alte Freundin, ihr habt jetzt ja wieder zu tun gehabt, nicht wahr? Weihnachten ist ja immer so ein Hype um die Geburt Jesu, oder?« »Ja, schon, es ist ja auch wirklich spannend.« »Und wie siehst du das eigentlich mit der Volkszählung unter Quirinius?«, wird das Neue Testament bedrängt. »Nicht anders als ihr,« antwortet die Angesprochene: »So eine Zählung gab es selbstverständlich, das zeigt ja die Inschrift aus Apameia, nur war sie eben nicht zur Zeit des Herodes, sondern erst 6 n. Chr.« Die Epigraphik stimmt zu, bohrt aber weiter: »Und ist Jesus dann wenigstens in Betlehem geboren?« Wieder ist die Neutestamentliche Wissenschaft nicht um eine rasche Antwort verlegen: »Nein, wahrscheinlich nicht. Zum einen gilt er immer als Nazarener, zum anderen sind die Erzählungen in Lukas- und Matthäusevangelium theologische Konstrukte, die die Botschaft von der Herkunft Jesu aus dem Königshaus David narrativ umsetzen.« Da mischt sich die Mittelaltergeschichte ein: »Den Jesus hat es ja überhaupt nicht gegeben, meine ich. Alles Mythos.« »Naja, so simpel ist es dann doch wieder nicht«, entgegnet die Alte Geschichte. »Genauso gut könntest du ja auch bestreiten, dass Sokrates existierte. Nur das mit der Jungfrauengeburt ist ja doch wohl ein bedeutungsloser Mythos.« »Genauer gesagt ist es eine jungfräuliche Zeugung«, korrigiert das Neue Testament und setzt zur Erklärung an: »Theologisch ist das übrigens total interessant. Denn damit wird nichts anderes gesagt, als dass …« »He, Neues Testament«, tönt es plötzlich laut vom Nachbartisch. »Was machst Du denn da drüben bei den historischen Wissenschaften?« Die Dogmatik hat die Neutestamentliche Wissenschaft entdeckt. »Wohl schon wieder dabei, irgendwelche belanglosen historischen Details hin und her zu drehen, oder? Setz dich doch zu uns, du bist doch eine theologische Disziplin.« Hin- und hergerissen wechselt die Neutestamentliche Wissenschaft den Tisch. Alle begrüßen sie. »Naja, alte Freundin Neues Testament, ihr habt jetzt ja wieder zu tun gehabt, nicht wahr? Weihnachten ist ja immer so ein Hype um die Geburt Jesu, oder?«, fragt die Praktische Theologie. »Irgendwo habe ich das schon gehört?«, überlegt die Neutestamentliche Wissenschaft, und sagt »Ja, schon.« Die Dogmatik legt los: »Historisch ist das alles ja schon geklärt, das weiß man längst alles. Aber was Weihnachten theologisch bedeutet, das lässt sich kaum ermessen.« »Naja, so einfach ist das historisch auch nicht. Gerade was die Reise von Nazareth nach Betlehem angeht, haben neue papyrologische Zeugnisse doch weitere Facetten dieser Geschichte im Lukasevangelium erkennen lassen.« Die Ethik meldet sich: »Solange die Herbergssuche nicht auch noch dekonstruiert wird, ist mir das einerlei. Gerade

Zwischen den Stühlen?

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in der Flüchtlingsdebatte ist das doch ein unerhört wichtiger Text.« »Aber gerade die Herbergssuche«, bringt das NT vorsichtig ins Spiel, »die ist dann doch am wenigsten durch die Texte belegt.« »Und was ist dann mit den Krippenspielen? Wollt ihr uns die etwa wegnehmen?«, regt sich die Praktische Theologie auf, sekundiert von der Religionspädagogik. »Ich will doch niemandem was wegnehmen, ich sag nur: Historisch …« »Ach, jetzt kommt sie wieder mit dem Historischen.« Doch noch bevor die Neutestamentliche Wissenschaft darauf reagieren kann, bittet der Rektor ums Wort und eine lähmende Rede beginnt. Diese fiktive Erzählung soll narrativ vor Augen führen, wie es Neutestamentlern und Neutestamentlerinnen oftmals geht, ähnlich wie wohl auch vielen Kollegen und Kolleginnen aus der Alttestamentlichen Wissenschaft oder der Kirchengeschichte. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den verwandten Disziplinen, den einen zu theologisch, den anderen zu historisch, oder umgekehrt: den einen zu wenig historisch und den anderen zu wenig theologisch. So finden sie sich oftmals »zwischen den Stühlen«. Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache wird damit Folgendes bezeichnet: »es niemandem recht machen können; sich aufreiben zwischen widerstreitenden Interessen, Forderungen, Ansprüchen; in einer verzwickten Lage sein, aus der es keinen (idealen) Ausweg zu geben scheint«.1 Genau hier ist der Platz, an dem sich die Disziplin »Neutestamentliche Wissenschaft« häufig wiederfindet. Wie es dazu gekommen ist und wie damit umgegangen werden kann, soll im Folgenden in vier Abschnitten dargestellt werden.

1

Zur Geschichte von »Geschichte und Theologie«

1.1

Die Gablersche Differenzierung

Die Exegese des Neuen Testaments ist seit der Aufklärung eine historische Wissenschaft. Sie wurde das nicht sofort, sondern peu à peu. Diese Entwicklungsgeschichte kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden2, vielmehr möchte ich eine prägende Gestalt dieser Historie hervorheben. Besonders ein1 Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute, s.v. »zwischen allen Stühlen sitzen«, verfügbar unter: https://www.dwds.de/wb/zwischen allen Stühlen sitzen [abgerufen am 2. 2. 2022]. 2 Zur Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft vgl. Werner Georg Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (OA.PT 3), Freiburg/München 1958; Werner Georg Kümmel: Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht (SBS 50), Stuttgart 1970; Cilliers Breytenbach/Rudolf Hoppe (Hg.): Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen-Vluyn 2008.

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Markus Öhler

flussreich für die Positionierung der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft als Geschichtsdisziplin war m. E. Johann Philipp Gabler und seine Antrittsrede zu dem Altdorfer Lehrstuhl im Jahr 1787.3 Seine Vorlesung trug den Titel: De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus (»Von der rechten Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele«). Gabler ging also nicht von der Konstatierung einer Differenz zwischen biblischer und dogmatischer Theologie aus, sondern im Gegenteil von deren Einheit. Er saß also (noch) nicht zwischen zwei Stühlen, sondern wollte vielmehr neue Stühle einrichten. Genauerhin formulierte er Folgendes4: Est vero theologia biblica e genere historico, tradens, quid scriptores sacri de rebus diuinis senserint; theologia contra dogmatica e genere didactico, docens, quid theologus quisque pro ingenii modulo, vel temporis, aetatis, loci, sectae, scholae, similiumque id genus aliorum, ratione super rebus diuinis philosophetur. Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter5, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte.

Im Eigentlichen ging es Gabler also zunächst darum, die historische Dimension der biblischen Texte als geschichtliche wahrzunehmen. Die historische Theologie sei nach seiner Ansicht – und das hat sich dann ja auch durchgesetzt – von der dogmatischen Theologie klar zu trennen. In einem früheren Text hielt er fest: 3 Übrigens wurde die Altdorfer Universität mangels Studenten 1809 aufgelöst, Gabler war aber schon 1804 nach Jena zurückgekehrt. Seine Ansichten dürften auch nicht zur Auflösung der Altdorfina durch Maximilian I. beigetragen haben. 4 Übersetzung durch Otto Merk: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen (MThSt 9), Marburg 1972, 273–284. Zitiert nach Johann Philipp Gabler: De iusto discrimine thelogiae biblicae et dogmaticae regundisque recte untriusque finibus, in: Johann Philipp Gabler 1753–1826. Zum 250. Geburtstag, hg. von Karl-Wilhelm Niebuhr und Christfried Böttrich, Leipzig 2003, (16–41) 22–23. Vgl. zu Gablers Vortrag auch die Überlegungen bei Magne Saebø: Johann Philipp Gablers Bedeutung für die Biblische Theologie. Zum 200-jährigen Jubiläum seiner Antrittsrede vom 30. März 1787, in: ZAW 99 (1987), 1–16; Loren T. Stuckenbruck: Johann Philipp Gabler and the Delineation of Biblical Theology, in: SJT 52 (1999), 139–157; Reinhard Gregor Kratz: Auslegen und Erklären. Über die theologische Bedeutung der historischen Bibelkritik nach Johann Philipp Gabler, in: ders.: Mythos und Geschichte. Kleine Schriften III (FAT 102), Tübingen 2015, 18–38. 5 Zur Übersetzung von est vero theologia biblica e genere historico vgl. die Kontroverse bei Otto Merk: Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede, in: Johann Philipp Gabler 1753–1826. Zum 250. Geburtstag, hg. von Karl-Wilhelm Niebuhr und Christfried Böttrich, Leipzig 2003, (42–52) 45–46, und Stuckenbruck: Johann Philipp Gabler (s. Anm. 4), 142–144.

Zwischen den Stühlen?

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Ich redete auch nur da zuweilen etwas stark und mit Wärme, wo dogmatische Vorurtheile den leichten und natürlichen Sinn der Urkunde verdunkelten, und dogmatische und physikalische Künste den wahren Gesichtspunkt derselben ganz verrückten. Auch der große Mann wird in meinen Augen klein, sobald ihn dogmatisches Interesse in seinen Untersuchungen leitet. Dogmatik muss von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen.6

Das ist gegen eine dogmatische Disziplin geschrieben, die sich mit der heutigen nicht vergleichen lässt, doch blieb diese Differenzierung hinsichtlich der Entwicklung der biblischen Exegese eine wesentliche Weichenstellung. Eine mögliche Definition von historisch-kritischer Exegese geht daher in diese Richtung: Historisch ist sie, weil sie sich der geschichtlichen Dimension der Texte widmet, kritisch, weil sie sich von der Dogmatik »unterschieden« weiß. Gabler war aber noch eine weitere Unterscheidung wichtig, nämlich eine zwischen Menschlichem und Göttlichem innerhalb der Schrift7: […] atque secretis iis, quae in libris sacris proxime ad illa tempora, illosque homines spectent, eas modo notiones puras, quas prouidentia diuina omnium locorum et temporum esse voluit, philosophiae nostrae super religione fundamenti loco substernamus, finesque adeo diuinae sapientiae et humanae curatius signemus. […] und (dass wir) nach Ausscheidung von dem, was in den heiligen Schriften allernächst an jene Zeiten und jene Menschen gerichtet ist, nur diese reinen Vorstellungen unserer philosophischen Betrachtung über die Religion zugrundelegen, welche die göttliche Vorsehung an allen Orten und Zeiten gelten lassen wollte, und so die Bereiche der göttlichen und menschlichen Weisheit sorgfältiger bezeichnen.

Neben der Trennung von biblischer und dogmatischer Theologie, die der Differenzierung von Religion und Theologie durch Johann Salomo Semler entspricht, forderte Gabler also auch, die Religion von ihren zeitbedingten Elementen zu unterscheiden. Die »Meinungen der göttlichen Männer« (sententiis virorum diuinorum) sollten gesammelt und »vorsichtig auf Allgemeinbegriffe zurückgeführt« (ad notiones uniuersas caute reuocatis) werden, damit die Dogmatik dort ansetzen könne. Denn nicht alles, was in der Schrift steht, sei auch relevant, vielmehr ist »nicht der gesamte Inhalt der heiligen Schriften für Menschen jeder Art bestimmt« (non uniuersum sacrarum literarum argumentum destinatum esse cuiuscunque generis hominibus). Daher wäre genauerhin zu bestimmen, was »in den Büchern des Neuen Testaments den Vorstellungen und Notwendigkeiten der ersten christlichen Welt gesagt ist und was auf die bleibende Heilslehre zu beziehen ist« (quid in libris N.T accommodate ad notiones aut necessitates primi orbis Christiani dictum sit, quidue referendum ad constantem 6 Johann Gottfried Eichhorn: Urgeschichte. Erster Theil. Mit Einleitungen und Anmerkungen, hg. v. Johann Philipp Gabler, Altdorf/Nürnberg 1790, XV. 7 Gabler: De iusto discrimine (s. Anm. 4), 24–25.

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salutaris doctrinae typum).8 Eine die Religion umfassende biblische Theologie lasse sich, so Gabler optimistisch, aus den Schriften abstrahieren.9 So entsteht also ein theologischer Dreischritt: Die historische Untersuchung, die biblisch-theologische Zusammenführung und die dogmatische Aktualisierung.10 Bei aller Differenzierung zwischen biblischer und dogmatischer Theologie, die im Endeffekt dazu geführt hat, dass nun tatsächlich unterschiedliche »Stühle« bestehen (und unterschiedliche Lehrstühle), zwischen denen man heutzutage zu sitzen meint, hat Gabler diese beiden theologischen Richtungen nicht als Konkurrenz verstanden11: Während die biblische Theologie die stabile, weil historisch fixierte Ausgangsbasis darstellt, ist die Dogmatik durch Veränderlichkeit und Flexibilität gekennzeichnet. Mit der Sprache des Fußballs ausgedrückt: Die Exegese ist das Standbein, die Dogmatik das Spielbein. Die Entwicklung der historischen Arbeit an den biblischen Texten hat sich seit Gablers Vortrag immer weiter ausdifferenziert. Gegenwärtig stehen Exegeten und Exegetinnen des Neuen Testaments – für das Alte Testament verweise ich auf den Beitrag von Annette Schellenberg – vor der Herausforderung, eine große Zahl historischer Disziplinen zu beherrschen: Klassische Philologie (neben Griechisch selbstverständlich auch Hebräisch und Latein und wenn möglich noch Aramäisch, Koptisch oder gar Ge’ez), Alte Geschichte vom Hellenismus bis zur Spätantike, Epigraphik und Papyrologie, Griechische und Römische Archäologie, Numismatik, Judaistik, Philosophie- und Rechtsgeschichte. Dazu treten humanwissenschaftliche Disziplinen wie Sozialgeschichte oder Kulturund Sozialanthropologie. Will man auch die Rezeptionsgeschichte der Texte berücksichtigen, ist zuallererst die Kirchengeschichte zu nennen, aber auch die Kunst-, Film- oder Musikgeschichte sowie Germanistik oder Anglistik. 8 Gabler: De iusto discrimine (s. Anm. 4), 32–33. Gabler verweist hierzu auf die »mosaischen Riten«, die schon von Christus abgeschafft worden seien, und das Kopftuchgebot bei Paulus: »Wer, frage ich, bezieht [dies] […] auf unsere Zeit?« 9 Weitere Voraussetzungen dieses Konzepts sind zum einen, dass sich die Schrift eindeutig erklären lässt, und zum anderen, dass die persönlichen Ansichten der Exegeten und Exegetinnen dabei keine Rolle spielen würden; vgl. auch Stuckenbruck: Johann Philipp Gabler (s. Anm. 4), 147–148. 10 Etwas anders Stuckenbruck: Johann Philipp Gabler (s. Anm. 4), 144–146, der die Abstraktion auf universale Ideen als einen eigenen Schritt in Gablers Konzept ansieht, aber eingesteht »that Gabler intended these steps to overlap somewhat, since the transition from the second to the third is not so clearly defined.« 11 So auch Joachim Schaper: The Question of a ›Biblical Theology‹ and the Growing Tension between ›Biblical Theology‹ and a ›History of the Religion of Israel‹. From Johann Philipp Gabler to Rudolf Smend, Sen., in: Magne Saebø (Hg.): Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation. Volume III: From Modernism to Post-Modernism. The Nineteenth and Twentieth Centuries. Part I. The Nineteenth Century. A Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, (625–650) 636.

Zwischen den Stühlen?

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Wenn die Neutestamentliche Wissenschaft bei der Weihnachtsfeier des Rektors also bei den historischen Disziplinen Platz nimmt, hat sie mit vielen eine gemeinsame Gesprächsbasis. Zugleich bewegt sie sich aber auch auf dünnem Eis: Zum einen ist diese enorme Vielfalt an Bezugsdisziplinen nicht in allen Feldern gleichermaßen zu beherrschen. Die Neutestamentliche Wissenschaft bleibt daher angewiesen darauf, von den anderen Disziplinen zu lernen, um sich in deren Wissenschaftskultur zurecht zu finden und nicht in Dilettantismus abzugleiten. Doch umgekehrt sind auch die historischen Disziplinen durchaus darauf angewiesen, wenn sie sich zu Jesus von Nazareth oder zum frühen Christentum äußern, von Exegeten und Exegetinnen zu lernen.12 Das gelingt freilich nur, wenn diese demonstrieren können, dass sie keine theologische oder christliche Agenda umtreibt. Wer am Tisch der Geschichte sitzt, kann nicht von Heilsgeschichte reden, wenn er ernst genommen werden will. Historische Forschung muss historische Forschung bleiben, hinter diese Einsicht Gablers führt kein Weg zurück.

1.2

Exegese und Theologie

Dass die neutestamentliche Exegese eine Funktion in der christlichen Theologie hat, ist selbstverständlich. Exegese war immer schon auf Theologie hin ausgerichtet, und wenn Theologie die Exegese nicht mehr braucht, hört sie auf Theologie zu sein. Ich definiere hier christliche Theologie als Wissenschaft vom christlichen Glauben, genauerhin als Untersuchung und intellektuellen Durchdringung dessen, was sich jeweils als Formen christlichen Glaubens bestimmen lässt, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.13 Die Verbindung der Exegese mit der Theologie und der Theologie mit der Exegese hat eine mehrfache Begründung, ich möchte drei Aspekte nennen:

12 Ein jüngeres Beispiel für den Umstand, dass die historische Forschung zu bedauerlichen Fehlurteilen kommt, wenn sie die exegetische Diskussion nicht wahrnimmt (oder wahrnehmen will), ist das Buch des Mittelalterforschers Johannes Fried, dessen Irrwege Adolf Martin Ritter ausgezeichnet dargestellt hat. Vgl. Johannes Fried: Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus, München 2019; Adolf Martin Ritter: Kein Tod auf Golgatha? Von der (höchst wahrscheinlich) müßigen»Suche nach dem Überlebenden Jesus«, in: Malte Dominik Krüger (Hg.): Religion, Fiktion, Wirklichkeit. Philosophische und theologische Beiträge zum Gottesverständnis in der Moderne (Hermeneutik und Ästhetik 7), Leipzig 2021, 113–157. 13 Fraglich erscheint mir, ob die Unterscheidung von Religion und Glaube für die Frage nach der Aufgabe von Theologie sinnvoll ist. Vgl. auch zuletzt Udo Schnelle: Einführung in die evangelische Theologie, Leipzig 2021, 28: »Wie alle anderen Wissenschaften auch widmet sich die Theologie einem Wirklichkeitsbereich menschlicher Existenz: dem Glauben/der Religion als einer zentralen Deutungskategorie des Lebens und der Wirklichkeit.«

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1) Die Schrift selbst ist bereits im weiteren Sinn theologisch: Die Autoren – und vielleicht auch Autorinnen – bemühten sich darum, ihren Glauben schriftlich festzuhalten, was allein schon einen Denkprozess einschließt. Sie haben dabei mehr oder weniger reflektiert die Erfahrungen und Inhalte des Glaubens zu Papyrus gebracht und damit Theologie getrieben. 2) Theologie bezog sich immer auf die Schrift: Auch das ist evident und braucht keine weitere Erläuterung, wenngleich natürlich wichtig ist zu sehen, warum sie dies getan hat. Nämlich weil sie aus dem in der Schrift artikulierten Glauben, in dessen Wirkungsgeschichte sie selbst steht, Inhalte bezogen hat, die für ihr Verständnis des vergangenen bzw. gegenwärtigen christlichen Glaubens wichtig waren und sind. 3) Die Schrift ist Teil des Glaubens: Sie wird gepredigt, gelehrt, gelesen, diskutiert – jenseits der akademischen Theologie, aber immer auch im weiteren Sinn »theologisch«. Was geglaubt wird, kommt aus der Schrift oder wird mit der Schrift in Zusammenhang bzw. Diskussion gebracht. Ulrich Luz hat das so formuliert, »dass das Gespräch mit der Bibel die Identität von Christen und Kirchen bestimmt.«14 Es lohnt sich hier vielleicht noch einmal der Blick auf Johann Philipp Gabler: Dessen Anliegen 1787 war es, an die Stelle einer dogmatisch motivierten Exegese eine historische Exegese zu rücken. Damit bestand nun aber die Gefahr, dass der stetige Rückgriff der dogmatischen Theologie auf die Schrift in der Form von Beweisstellen (dicta probantia) abgelöst würde von einer totalen Ignoranz gegenüber der Schrift. Gabler selbst wollte dieser Entwicklung bereits begegnen, indem er neben der historischen Exegese und der dogmatischen Theologie einen dritten Schritt einführte, die philosophische Synthese bzw. die Erklärung. Ueberhaupt hat man in der Exegese das verschiedene Interesse des Philologen und des Theologen nicht zu übersehen: den Philologen interessirt nur die Auslegung; den Theologen hingegen hauptsächlich die Erklärung der Bibel. Der ächte Exegete verbindet beides; von Auslegung geht er aus, und Erklärung ist sein Ziel.15

Auch in Hermeneutiken der Gegenwart wird dazu angehalten, nicht allein bei der Interpretation des Textes zu verbleiben. So setzt Ulrich Luz ähnlich wie etwa auch Klaus Berger die Applikation als einen notwendigen zweiten Schritt des Verstehens voraus, der es erst ermöglicht, die Texte in einen Dialog mit der Gegenwart 14 Ulrich Luz: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 93. Vgl. Klaus Berger: Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988, 17–19. 15 Johann Philip Gabler: Ueber den Unterschied zwischen Auslegung und Erklärung erläutert durch die verschiedene Behandlungsart der Versuchungsgeschichte Jesu, in: ders.: Kleinere theologische Schriften. Band I, hg. v. Theodor August Gabler und Johann Gottfried Gabler, Ulm 1831, (201–214) 214.

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zu bringen.16 Bereits Rudolf Bultmann hatte das »Woraufhin« als Leitmotiv der Interpretation betrachtet.17 Das darf allerdings nicht um den Preis des Historischen geschehen, das man für akademisch interessant, theologisch aber für unerheblich halten könnte.18 Im Gegenteil meine ich wie auch schon Gabler, dass die historische Untersuchung unabdingbare Voraussetzung theologischer Erklärung ist.19 Es reicht also nicht aus, das Neue Testament mittels historischer Methodik zu analysieren, vielmehr braucht es auch eine theologische Erklärung.20 Für diesen Schritt ist es günstig (oder oft auch nötig), über philosophische, hermeneutische, linguistische, literaturwissenschaftliche und die breite Fülle postmoderner Lektüreweisen Bescheid zu wissen, um sich sowohl am Tisch der Geisteswissenschaften einzubringen als auch im Gespräch mit der Theologie mitzureden. Es ist darüber hinaus aber auch wichtig, die gegenwärtigen Formen des Glaubens, in- und auch außerhalb der Kirchen, miteinzubeziehen. Hier ist vor allem das Zusammenwirken mit der Praktischen Theologie und der Religionspädagogik Teil der Aufgabe Neutestamentlicher Wissenschaft. Dennoch klagen viele Kollegen und Kolleginnen aus der Dogmatik oder Praktischen Theologie, dass ihnen die Ergebnisse exegetischer Forschung zu weit weg von einer theologischen Dimension sind, zu ausdifferenziert, zu unüberblickbar und nicht zuverlässig. Aus exegetischer Perspektive könnte man möglicherweise entgegnen, dass das umgekehrt auch nicht besser sei: Die dogmatischen Entwürfe wären zu verstiegen und einheitliche Perspektiven würden fehlen, die für die Exegese von Belang sein könnten. Im Streit der Disziplinen wird nicht immer mit feiner Klinge gekämpft. Diesen Umstand beklagen freilich nicht nur Theologen und Theologinnen, sondern gilt für die Entwicklung aller Wissenschaftsdiziplinen21: Ausdifferen16 Luz: Theologische Hermeneutik (s. Anm. 14), 97–98, schreibt von einer »›Hermeneutik des offenen Dialogs‹ zwischen den Texten und ihren Interpreten« und plädiert für »die grundsätzliche Unterscheidung von textbezogener Erklärung und rezipientenbezogener Applikation«. 17 Rudolf Bultmann: Das Problem der Hermeneutik (1950), in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Zweiter Band, Tübingen 1993, (211–235) 218. 18 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 131–136. Im Anschluss an Bultmann formuliert Manfred Oeming: Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 22007, 165: »Historisch-kritische Auslegung, existentiale Interpretation und gegenwärtige Applikation koinzidieren.« 19 Auch Pannenberg: Grundfragen (s. Anm. 18), 131, verweist darauf, dass das Interesse an Applikation »die historische Differenz zwischen Urchristentum und Gegenwart im Ergebnis der Interpretation« nicht verdecken darf. 20 Zum Verhältnis von Auslegung und Erklärung bei Gabler vgl. Kratz: Auslegen (s. Anm. 4), 32– 35. 21 Vgl. nur Tony Becher/Paul R. Trowler: Academic Tribes and Territories, Buckingham 22001. Anlässlich des Jubiläums »650 Jahre Universität Wien« formulierten Friedrich Stadler und Bastian Stoppelkamp: »Angesichts der wachsenden Ausdifferenzierung, Spezialisierung und

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zierungen führen zu Kommunikationsverlusten, weil die verbindenden Diskurse schwieriger werden und oberflächlich bleiben. Oftmals besteht schlicht nicht mehr die Notwendigkeit, miteinander in einen Austausch zu treten, weil die Felder sich zu weit auseinanderentwickelt haben. Am Beispiel der Diskurse während der Coronapandemie lässt sich das gut zeigen: Virologen und Virologinnen sprechen über das Virus und Impfungen, andere Experten und Expertinnen nur über Pandemieentwicklungen, weil sie allein von ihrer jeweiligen Sache wirklich etwas verstehen. Auch im Bereich der Medizin vergrößert sich der Abstand zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf der einen Seite und jenen, die tatsächlich Patienten und Patientinnen vor sich haben, immer mehr. Beim Kongress der Gesellschaft für Wissenschaftliche Theologie in Zürich 2021 wurde die Entwicklung innerhalb der wissenschaftlichen Theologie von einem Teilnehmer in etwa so artikuliert: »Wir haben doch alle mit unseren geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen mehr gemeinsam als miteinander. Das Gesamtkonzept einer Theologie ist gescheitert.« Ich würde es, bei aller Anerkenntnis der schwierigen Situation, etwas anders formulieren: Das Gesamtkonzept einer wissenschaftlichen Theologie hat sich verkompliziert. Wir sind nicht mehr in der Situation des 19. Jahrhunderts, als Dogmatiker zugleich Exegeten auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung waren (wie z. B. Schleiermacher) und umgekehrt. Wer versucht, diese Lage wiederherzustellen, landet schnell in der Unterkomplexität. Wer ein Zurück zu den guten alten Zeiten erwartet, versucht die Entwicklung der Wissenschaften insgesamt zurückzudrehen. Doch zugleich ist die Theologie nach meinem Verständnis nicht allein eine universitäre Angelegenheit, sondern auch eine Praxis der Kirche. Jede Pfarrerin, jeder Pfarrer steht auch als wissenschaftlich gebildeter Mensch auf der Kanzel. Das gehört wesentlich zur protestantischen Identität und dies gilt gleichermaßen für Lehrerinnen und Lehrer. Den eigenen Glauben kritisch auf seine Grundlagen und Ausprägungen zu befragen und in intellektuell nachvollziehbaren Formen zu vermitteln, das ist eine Aufgabe, die sich in jedem Gottesdienst, bei jeder Amtshandlung und in jeder Schulstunde stellt.22 Zu dieser Vermittlung von Theologie trägt die universitäre Theologie in mehrfacher Weise bei, und zwar in allen ihren Disziplinen: Anwendungsorientierung von Wissenschaft und Bildung erscheinen die universitären Ideen von Einheit der Wissenschaft sowie Einheit der Forschung und Lehre als gleichermaßen fragwürdig und hinderlich.« Friedrich Stadler/Bastian Stoppelkamp: Die Universität Wien im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft, in: Katharina Kniefacz u. a. (Hg.): Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, (203–239) 234. 22 Im Blick auf den Unterricht ist mir allerdings wichtig zu betonen, dass die Vermittlung des Glaubens der Lehrperson nicht Gegenstand des Unterrichts ist. Allerdings halte ich es für unerlässlich, dass Lehrer und Lehrerinnen aus ihrem Glauben im Dialog Position beziehen können.

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1) Zum einen vermittelt sie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung an diejenigen, die kirchliche bzw. schulische Funktionen wahrnehmen werden. Das Universitätsstudium der Theologie ist daher zum einen ein geistes- und sozialwissenschaftliches Generalstudium und die akademischen Lehrer und Lehrerinnen übernehmen darin die Aufgabe der Vermittlung wissenschaftlicher Theologie auf der Höhe der Zeit. Das gelingt (leider) oft nur sehr partikulär, wenn jede Disziplin nur das jeweilige Eigene einbringt. Dann wird diese Aufgabe an die Studierenden delegiert, die dann selbst Zusammenhänge herstellen und ein Gewebe knüpfen sollen, wo sie nur lose Fäden angeboten bekommen. Allerdings bietet der universitäre Rahmen zahlreiche Möglichkeiten, das Gewebe der Theologie als solches darzustellen: In thematisch orientierten Ringvorlesungen oder interdisziplinären Lehrveranstaltungen, vor allem aber, indem die Aufgabe der Theologie in der je eigenen Fachdisziplin thematisiert wird. Möglicherweise braucht es bei zukünftigen Studienreformen hier noch mehr Mut und Innovation, um diese gemeinsame Perspektive deutlicher zu suchen. 2) Zum zweiten halte ich es für eine eminent wichtige Aufgabe der akademischen Theologie, und zwar jeder Disziplin, sich der kirchlichen Öffentlichkeit zu präsentieren und das Risiko einzugehen, über die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszugehen. Mit Vorträgen und Publikationen in jene Bereiche zu gehen, wo eine theologische Öffentlichkeit besteht, ist zwar leider eine akademisch zumeist unbelohnte, theologisch aber eine in der Regel sehr lohnende Aufgabe. Möglicherweise ist nicht alles, was wir forschen, leicht zu vermitteln oder für eine breitere theologische Öffentlichkeit in- und außerhalb der Kirche interessant. Aber ich denke, dass die jeweilige theologische Existenz sehr viel deutlicher gefragt ist, als uns vielleicht bewusst ist. 3) Aufgabe akademischer Theologie ist es m. E. aber auch, in kirchlichen und gesellschaftlichen Diskursen, zu denen sie einen Beitrag leisten kann, dies auch zu tun. Sie soll sich m. E. nicht nur dann darum bemühen, wenn sie danach gefragt wird – etwa im Rahmen kirchlicher Prozesse –, sondern aus eigenem Antrieb. Dass dabei fächerspezifische Schwerpunkte bestehen, liegt in der Natur der Sache, dennoch halte ich es für wichtig, dass solche Positionsbestimmungen möglichst breit unter Berücksichtigung aller Beteiligten an Theologie erörtert werden, auch auf das Risiko einer innertheologischen Auseinandersetzung hin. 4) Ein viertes, persönlicheres Moment möchte ich noch zusätzlich nennen: Ich erlebe es als wichtigen Teil meiner theologischen Existenz, selbst als Glaubender Theologie zu treiben. Ich meine damit keinesfalls, dass christlicher Glaube eine conditio sine qua non akademischer Theologie sein muss, aber ich halte es für eine Erweiterung theologischen Denkens, wenn der eigene Glaube fordert und gefordert wird, akademische Theologie zu reflektieren.

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Wenn ich als Prediger auf der Kanzel stehe, bin ich es ja als Glaubender und akademischer Theologe zugleich.23

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Die innerdisziplinäre Spannung

Knapper möchte ich darauf eingehen, dass das Auseinandertreten von Geschichte und Theologie, wie es sich mit der Loslösung der biblischen Exegese von der Dogmatik vollzogen hat, auch innerhalb der Neutestamentlichen Wissenschaft besteht. Mein Vorgänger Wilhelm Pratscher äußerte sich bei seiner Antrittsvorlesung 1999 bereits zu dieser Spannung: Es sei bei aller Bedeutung der Historie mehr Theologie nötig, so sein Tenor.24 Seine und viele andere Wortmeldungen haben freilich nicht verhindert, dass sich die Ausdifferenzierung der neutestamentlichen Exegese verstärkt hat. Dieser Prozess ist wenigstens zwei Faktoren geschuldet: 1) Die Literaturproduktion ist wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen regelrecht explodiert. War es schon zu der Zeit, als ich mit meiner Dissertation anfing, kaum möglich, einen Überblick über die Forschungslage zu einem neutestamentlichen Text zu bekommen, ist das heute, 30 Jahre später, völlig illusorisch. Die Ursache dafür liegt m. E. an der akademischen Welt selbst, an Berufungen und Evaluationen anhand von Publikationszahlen, an den immer einfacheren Möglichkeiten, die eigenen Ideen zu veröffentlichen, und vielleicht auch an der akademischen Eitelkeit, den eigenen Namen möglichst oft gedruckt zu sehen. 2) Die Bezüge zu den unterschiedlichen historischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen wurden immer enger, sodass die jeweiligen Spezialexpertisen auch immer wichtiger wurden. Wer heute eine literaturwissenschaftlich orientierte Exegese macht, muss sich in die jeweiligen Autoren und Autorinnen einlesen und zugleich die aktuellen Diskurse dazu verfolgen. Beschäftigt man sich mit antiker Sozialgeschichte, steht man vor einer Flut von komplexen Spezialuntersuchungen zu den jeweiligen Feldern. Einen Überblick über alles kann niemand leisten.25

23 Sehr pointiert Karl Barth: »Wo keine theologische Existenz ist, da kann und wird es in unserer wie zu jeder Zeit der Kirche, in der sie sich selber helfen wollte, nur zu Totgeburten kommen.« Karl Barth: Theologische Existenz Heute! In: ders.: Zwischen Den Zeiten. Beiheft 2, München 1933, (3–40) 13. 24 Vgl. Wilhelm Pratscher: Zur Konzeption der Theologie des Neuen Testaments, in: WJTh 3 (2000), 169–188. 25 Eine Folge dieser Spezialisierungen sind im Übrigen die zahlreichen Handbücher, die rudimentäre Einführungsangebote darstellen.

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In der neutestamentlichen Exegese hat sich daraus eine Teilung der Forschung ergeben: Da sind die einen, die sich vor allem unter historischer Perspektive mit den Texten befassen, und die anderen, die sie vor allem unter theologischem Blickwinkel untersuchen. Die unterschiedlichen Ansätze postmoderner Hermeneutik werden oftmals als eine Art Sonderfeld wahrgenommen, das nur Spezialisten und Spezialistinnen zugänglich ist.26 Auch in diesem innerdisziplinären Konfliktfeld Neutestamentlicher Wissenschaft gibt es keine einfache Lösung.27 Was aber offensichtlich ist, sind die Herausforderungen theologischer Lehre an den Universitäten sowie der Vermittlung in eine kirchliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein. Spätestens dann lässt sich nämlich der Rückzug auf die Ergebnisse »rein« historischer Forschung nicht mehr halten, stehen doch gerade auch theologische Fragen an, die beantwortet werden wollen: Welches Gottesverständnis wird im Neuen Testament deutlich? Welche Bedeutung hat der Tod Jesu? Worin gründet eine neutestamentliche Ethik? Und zugleich lässt sich auch keine bloß theologische Antwort auf Fragen geben, die eminent historische sind: Wer war Jesus von Nazareth? In welchem Verhältnis stand das entstehende Christentum zum antiken Judentum? Wieso ist die Struktur christlicher Gemeinden so geworden?28 Vor allem in Lehre und Vermittlung, aber auch in der Verkündigung, sollten daher historische und theologische Perspektiven neutestamentlicher Wissenschaft, die sich in der Forschung immer mehr ausdifferenziert haben, zusammengeführt werden. Auch mir gelingt das nicht immer oder oft auch nicht, weil ich die historische Frage zu sehr liebe, aber nötig ist es in diesen Kontexten. Für die Forschung wird es hingegen immer wichtiger, hier Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. Eine Möglichkeit, verschiedene Formen einer theologischen Nachfrage zu erörtern, und die historische Forschung dabei nicht zu kurz kommen zu lassen, 26 Alle drei Perspektiven haben ihre Defizite und blinden Flecken. Die historisch orientierte Forschung, zu der ich auch die Philologie zähle, kann sich in detailverliebten Untersuchungen verlieren, deren Relevanz für das Verständnis der Texte fraglich bleibt. Theologisch orientierte Forschung steht in der Gefahr, zugunsten der Suche nach Sinn oder der einen anschlussfähigen theologischen Aussage die Mühen der philologischen Ebene und die nötigen Differenzierungen zu übergehen. Bei postmodernen Zugängen kann es geschehen, dass der weite Weg des Neuansatzes und der Infragestellung der klassischen Forschungsperspektiven das Verständnis der Texte mehr erschwert als erleichtert. 27 So hat die Geschichte der Erforschung einer »Theologie des Neuen Testaments« bzw. einer »Theologiegeschichte des frühen Christentums« gezeigt, dass man das eine nur um den Preis des Verlusts des anderen haben kann. Beides geht nicht – die eierlegende Wollmilchsau gibt es auch in dieser Frage nicht. 28 Die Diskussion ist jüngst mit einer gewissen Schärfe geführt worden, nämlich bei Stephen L. Young: »Let’s Take the Text Seriously.« The Protectionist Doxa of Mainstream New Testament Studies, in: MTSR 32 (2020), 328–363, und C. Kavin Rowe: What If It Were True? Why Study the New Testament, in: NTS 68 (2022), 144–155.

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ist es, mehrere Stufen bzw. Levels zu unterscheiden. Johann Philipp Gabler sah bereits drei Schritte vor, wie wir gesehen haben. 2021 legte John Barclay in einem Vortrag bei dem Annual Meeting der Society for Biblical Studies einen pragmatischen Ansatz vor, der aus drei Schritten besteht. In Anlehnung an sein Konzept sind die drei folgenden Abschnitte verfasst, die an einem Text, dem Gleichnis von den beiden Söhnen in Lk 15,11–32 kurz durchgespielt werden. Im ersten Schritt geht es darum, die Aussagen neutestamentlicher Texte in ihrem zeitgenössischen Kontext zu erheben. Theologisch ist daran, dass der Fokus nicht auf historische »Fakten« oder Abläufe gerichtet ist, sondern nach Themen gefragt wird. Wichtig ist dabei allerdings, dass diese nicht aus der Dogmatik hervorgehen, sondern aus den Texten selbst. Dass dies nicht notwendig ein Widerspruch sein muss, ist klar. Es geht aber auch nicht in allen neutestamentlichen Texten um sämtliche Loci der Dogmatik bzw. werden auch solche Themen angesprochen, die in (gegenwärtiger) dogmatischer Perspektive wenig Interesse erregen.29 Die Perspektive ist also eine ausschließlich exegetische. Die meisten Exegeten und Exegetinnen des Neuen Testaments, so würde ich meinen, verbringen die meiste Zeit ihrer Forschung und Lehre in diesem Bereich. Das ist die oft nur mühsam erarbeitete Grundlage, auf der weitere Arbeit erst ansetzen kann. Für die Interpretation des Gleichnisses in Lk 15,11–32 ist eine genaue Untersuchung der sozialgeschichtlichen Verhältnisse Palästinas bzw. des mediterranen Raums unerlässlich. Das betrifft etwa die vorzeitige Auszahlung des Erbes an den jüngeren Sohn. In der Tora, der LXX und griechisch-römischer Literatur ist diese Praxis durchaus gebräuchlich30, wenngleich sie aus der Perspektive eines Vaters auch als Risiko eingeschätzt wurde.31 Es wird damit aber kein Bruch mit der Familie ausgedrückt oder gar der Vater durch den jüngeren Sohn für tot erklärt.32 Problematisch ist erst sein Handeln in der Fremde, als ihm das Geld ausgeht: Die Anstellung bei einem Nicht-Juden und das Hüten der Schweine33 sind in einer Erzählung, die – wie das Lukasevangelium – Tora und jüdische 29 Udo Schnelle: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 32016, entwirft sein Lehrbuch im Übrigen nach einem dogmatisch geprägten Raster, das über die Texte gelegt wird. 30 Vgl. Gen 25,5–6 (Abraham überlässt Isaak seinen Besitz zu Lebzeiten, die Söhne der Nebenfrauen erhalten nur Geschenke); Jdt 16,24 (Judith verteilte den Besitz vor ihrem Tod an Verwandte); 1Makk 1,6 (Alexander verteilte sein Königreich unter seinen Offizieren). 31 So ausdrücklich in Sir 33,20–24, wo davor gewarnt wird, sich von seinen Kindern abhängig zu machen; vgl. auch Pseudo Quintillian, Declamationes maiores 5. 32 Die inhaltliche Nähe zu Texten aus der griechisch-römischen Literatur lässt zudem erkennen, dass die Erzählstruktur – ein Vater mit zwei Söhnen, von denen einer verschwenderisch, der andere rechtschaffen ist – verbreitet war. Der Klassiker ist hier Pseudo Quintilian, Declamationes maiores 5; vgl. dazu etwa Michael Wolter: Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 529–530. 33 Vgl. dazu Papyri Oxford 10,15–19 (98–102 n. Chr.): Ein verschuldeter Mann verpflichtet sich für ein Jahr die Schweine eines Gutsbesitzers zu hüten.

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Identität als positive Werte präsentiert, deutlich negativ konnotiert.34 So werden die Figuren der Erzählung in Lk 15 transparent gestaltet35: Der Vater verweist zweifellos auf Gott. Der jüngere Sohn, dessen Verhalten in der Fremde problematisch ist, ist durchsichtig auf jene Menschen in Israel, deren Verhalten den Vorgaben jüdischer Tradition widerspricht. Die Reaktion des älteren Sohnes schließlich ist im Kontext so gestaltet, dass die Gegner Jesu darin erkennbar werden, die sich ihrer Gottesbeziehung sicher sind, was im Übrigen auch nicht in Frage gestellt wird. Der theologische Fokus des Lukas liegt dann darauf, die Wiederherstellung der Gottesbeziehung verständlich zu machen: Diese geschieht durch Umkehr des Verlorenen und Erbarmen Gottes, und solches Erbarmen darf nicht kritisiert werden. In einem zweiten Schritt kann auf die kritischen und analytischen Werkzeuge der Theologie zurückgegriffen werden, d. h. auf Fragestellungen, die aus der theologischen Tradition kommen. Das ist selbstverständlich anachronistisch und dessen muss man sich stets bewusst bleiben. Eine Untersuchung aus einer spezifisch theologischen bzw. sogar konfessionellen Perspektive darf auch nicht davor zurückschrecken, neutestamentliche Texte einer sachlichen Kritik zu unterziehen. Diesen Schritt auf die zweite Stufe kann man machen, muss man aber nicht. Angewandt auf Lk 15 könnte hier die Frage gestellt werden, wie der Sinneswandel des jungen Mannes in der Fremde zustande kommt. Von Augustin herkommend, »besteht das Werk der Gnade zunächst und vor allem darin, daß Gott in seiner Barmherzigkeit die Selbstverschlossenheit des Menschen aufbricht, seinem Leben eine neue Orientierung gibt und ihn befähigt, das Gute zu wollen.«36 Der mittelalterliche Kommentar des Bonaventura erkennt hier u. a. die gratia praeveniens wieder. Sie wird erschlossen aus dem Laufen des Vaters, ein Zug, der in der Erzählung allerdings nur illustrative Funktion für die Zuneigung des Vaters zum Sohn hat.37 Ähnliches findet sich u. a. in Philipp Melanchthons 34 Vgl. etwa Karl-Heinrich Ostmeyer: Dabeisein Ist Alles (Der verlorene Sohn), in: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, (618–633) 630. 35 In Lk 15,1–2 werden Zöllner und Sünder sowie Pharisäer und Schriftgelehrte genannt, die in einer unterschiedlichen Beziehung zu Jesus stehen: Mit ersteren hat er Gemeinschaft, letztere verurteilen dieses Verhalten. 36 Wolf-Dieter Hauschild: Art. Gnade IV. Dogmengeschichtlich, in: TRE 13, Berlin/New York 1984, (476- 495) 481. Vgl. etwa Augustin, De diversis quaestionibus ad Simplicianum 1,2,2 (CCSL 44): Incipit autem homo percipere gratiam, ex quo incipit deo credere vel interna vel externa admonition motus ad fidem (»Der Mensch beginnt aber, die Gnade zu empfangen, indem er anfängt, an Gott zu glauben, durch innere oder äußere Ermahnungen zum Glauben bewegt.«). 37 Vgl. dazu Pietro Delcorno: In the Mirror of the Prodigal Son. The Pastorals Uses of a Biblical Narrative (C. 1200–1550) (Commentaria 9), Leiden 2017, 74. Melanchthon betont an anderer Stelle, dass dieses Gleichnis das Grundprinzip des Evangeliums beschreibt: »Insofern wird uns ein sehr schönes Bild in der ausführlichen Beschreibung der Rückkehr des verlorenen Sohnes vorgestellt, das uns zur Reue ermahnt, bezeugt, dass wir angenommen werden, und

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Loci38 oder in der lutherischen Orthodoxie des Johann Andreas Quenstedt.39 Dieser Gedanke steht nun freilich in deutlicher Spannung zu der Darstellung in Lk 15: So ist zum einen von »Gnade« (χάρις) gar keine Rede, sondern von Erbarmen (σπλαγχνίζομαι), zum anderen kommt der Sohn in der Fremde selbst zur Besinnung. Er agiert aus eigenem Antrieb, wenn auch nicht in der Erwartung, wieder als Sohn empfangen und eingesetzt zu werden. Dementsprechend schloss Luther in der Disputation mit Johannes Eck jeden Anschein einer Beteiligung des »verlorenen« Sohnes an seinem Entschluss zur Rückkehr aus.40 Doch dass die im Text nicht einmal genannte Umkehr (μετάνοια) tatsächlich eine Gabe Gottes ist, lässt sich aus Lk 15 keinesfalls entnehmen. In eine historische Rekonstruktion lukanischer Theologie würde damit eine Perspektive eingetragen, die durch den Text eher in Frage gestellt als bestätigt wird.41 Aus der Perspektive der nachfolgenden Diskussionen, v. a. seit der Reformation, wäre dann zu fragen, inwiefern das Gleichnis von den beiden Söhnen gegenüber einem paulinischen Verständnis von Gnade theologisch defizitär ist. Als dritten Schritt einer theologischen Deutung des Textes versteht Barclay eine konstruktive theologische Rekontextualisierung für die heutige Zeit. Auch hier bleibt selbstverständlich wichtig, sich der historischen Differenz bewusst zu sein, um der Gefahr vorschneller Aktualisierungen zu begegnen. Gegenwartsbezogene Aneignung geschieht meiner Meinung nach u. a. in der Predigt, in der die theologischen Aussagen des Textes lebensverändernde Kraft entfalten können. Dies kann sich aber auch in anderen Kontexten vollziehen, u. a. im Bibliodrama.

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fasst sowohl die Ursachen als auch die Wirkungen genau zusammen. Deshalb muss es oft und aufmerksam betrachtet werden, damit wir uns selbst zur Reue und Frömmigkeit antreiben.« (Hactenus in hac longa descriptione reditus filii prodigi, dulcißima imago proposita est, quae nos ad poenitentiam hortatur, et testatur nos recipi, et causas et effectus erudite complectitur. Quare saepe et diligenter cogitanda est, ut nos ad poenitentiam et pietatem excitemus.) Philipp Melanchthon: In Evangelia quae usitato more diebus dominicis et festis proponuntur annotationes, Wittenberg 1551, 152. Melanchthon zitiert das Wort von Basilius μόνον θέλησον καὶ αὐτὸς προαπαντᾷ (»Du musst nur wollen, und er (= Gott, Anm. d. V.) kommt zuvor.« Basilius, Homilia de paenitentia 1480– 1481 (MPG 13), und verbindet dies mit Lk 15 in der Deutschen Version der Loci: Philipp Melanchthon: Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons Deutsche Fassung seiner Loci Theologici nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553, hg. v. Ralf Jenett und Johannes Schilling, Leipzig 2002, 150; vgl. dazu Delcorno: In the Mirror (s. Anm. 37), 404–405. Vgl. dazu Michael Coors: Scriptura Efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift (FSÖTh 123), Göttingen 2009, 258: »Sinn und Zweck der gratia praeveniens ist es also, den Menschen zu den Heilsmitteln hinzuführen, so dass er das in ihnen angebotene Heil annehmen kann oder ihm widersteht.« Vgl. zur Verwendung des Gleichnisses in der Leipziger Disputation 1519 Delcorno: In the Mirror (s. Anm. 37), 377–381. Anders etwa Christof Landmesser: Die Rückkehr ins Leben nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11–32), in: ZThK 99 (2002), (239–261) 254–258.

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In Bezug auf Lk 15 kann gefragt werden, inwiefern Erfahrungen von Kind- oder Elternschaft die Wahrnehmung des Textes prägen und wie dies mit Aussagen über die Vaterrolle Gottes vermittelbar wäre. Die neutestamentliche Erzählung bricht ja mit einem Vaterbild, das Respekt und Unterordnung fordert, und die rechtlichen Konventionen einer vorzeitigen Auszahlung des Erbes unberücksichtigt lässt. Hier lassen sich, verknüpft mit einer »Neutralisierung« genderspezifischer Elemente, Spielräume für ein Gottesbild erschließen. Biblio-dramatisch wäre es möglich zu erkunden, wie Rollenangebote des Textes wahrgenommen und ausgestaltet werden. Wo erzeugt der Text theologische Widerstände, auch jenseits der Frage nach der Ursache göttlicher Vergebung? Wie können Gottesbild und/oder Verständnis von Autorität durch diesen Text verändert werden?

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Historische Imagination

Ich habe betont, dass historische Forschung unabhängig von Theologie stattfinden muss, will sie sich nicht dem Generalverdacht theologischer Projektionen unterstellen, zugleich aber auch versucht, einen Weg von historisch-theologischer Interpretation zu theologischer Aktualität aufzuzeigen. Nun ist es aber so, dass sich nicht nur die Theologie, sondern auch die Geschichte immer und ausschließlich als konstruierte Geschichte darstellt. Sie unterliegt der Perspektivität der Forschenden, weil sie sich nicht von selbst aus den sogenannten Fakten ergibt. Nun bestünde selbstverständlich die Möglichkeit, dass die theologische Forschung beschließt, diese relative Unbestimmtheit von Geschichte dafür zu nutzen, Gott in die Geschichte einzubringen. Allerdings ist Gott kein Faktum der Theologie, sondern eine Imagination des Glaubens, wobei Imagination hier selbstverständlich nicht Kreation meint, sondern die Unverfügbarkeit des Glaubensgegenstandes benennt. In der Geschichtsforschung ist Gott also tot, es gilt die Maxime »etsi deus non daretur«.42 Der Vorwurf der Projektion eigener Überzeugungen trifft allerdings beileibe nicht nur Exegetinnen und Exegeten, sondern alle, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Stets wählen Historiker und Historikerinnen aus, was sie 42 In Dietrich Bonhoeffers Brief an Eberhard Bethge vom 16. Juli 1944 formulierte der Inhaftierte folgende Zeilen: »Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹. Und ebendies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)!« Bonhoeffer greift hier auf Wilhelm Dilthey zurück, der sich wiederum auf Hugo Grotius bezieht. Vgl. dazu Ralf. K. Wüstenberg: Glauben als Leben. Dietrich Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe, in: FZPhTh 42 (1995), (367–381) 379–380.

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darstellen wollen, in welche Zusammenhänge sie es bringen und wie sie es schließlich erzählen. Da das aber für jede Form von Geschichte gilt, halte ich es für müßig, darüber zu klagen. Anders ist Geschichte nun mal nicht zu haben. Doch bei aller Subjektivität ist Geschichte selbstverständlich nicht irrelevant. Menschen erleben am eigenen Leib, dass sie geschichtlich geprägt sind und eine Geschichte haben. Sie können also gar nicht anders als in Bezug auf Geschichte leben. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für die je eigene Geschichte, es gilt für Familie, Gesellschaft und Kosmos. Die Fragen, woher wir kommen und wie es denn eigentlich gewesen ist, treibt Menschen in die historische Re-Konstruktion, wohl wissend, dass die Antworten, die sie sich geben, auch anders aussehen könnten. Zugleich wird die historische Rückfrage (hoffentlich) kontrolliert durch den Bezug auf so etwas wie Fakten und methodenbasierte Argumentation. Zu den Fakten zähle ich im Feld des Neuen Testaments die Texte des frühen Christentums sowie archäologische, epigraphische, papyrologische und numismatische Zeugnisse und das weite Feld literarischer Quellen, die uns aus der Antike erhalten sind. Diese hard facts sind schlicht vorhanden, auch wenn über ihre Deutung gestritten werden kann und muss. Doch dieser Streit wird von Methoden bestimmt, die in Diskursen – auch das zeitbedingt – verankert sind. Denn die Aufzählung von Fakten bringt noch keine Geschichte hervor; sie müssen in Zusammenhänge gebracht werden. Daher ist, um Geschichte zu erzählen, etwas nötig, das in den Geschichtswissenschaften oftmals keinen leichten Stand hat: Imagination.43 Im Rückblick auf ihre hohe Bedeutung in der Romantik wurde Imagination als pure Phantastik betrachtet, und die Forschung verabschiedete sich im 19. und 20. Jahrhundert von ihr mit einem gewissen naiven Optimismus.44 Das bedeutete aber nicht, dass die Funktion von historischer Imagination für die Geschichtsschreibung beendet worden wäre; sie wurde nur nicht mehr berücksichtigt. Die historische Forschung ist freilich keine romanhafte Kreation (oder sollte es nicht sein). Sie wird vielmehr durch drei Faktoren bestimmt: Sie ist an Ort und Zeit gebunden, ist also nicht fiktiv. Sie muss in sich konsistent sein. Und sie muss sich aus Evidenzen (»Fakten«) ableiten lassen. Die Diskrepanz zwischen einer rein beschreibenden Darstellung der Geschichte und einer reinen Fiktion ist freilich schon älter.45 Imagination kann zum 43 Vgl. Richard T. Gray: Introduction, in: Richard T. Gray u. a. (Hg.): Inventions of the Imagination. Romanticism and Beyond, Seattle/London 2011, (3–16) 3–4. 44 Vgl. David J. Staley: Historical Imagination, London/New York 2021, 8: »[…] history, at one time a genre of literature, began to situate itself outside of this tradition. Historians came to conclude that the imagination in this creative sense must be tempered in order for the discipline to become more scientific. Perhaps this rejection of the creative imagination is part of the professionalization of the discipline in the nineteenth century, part of the ›noble dream‹ of objectivity pursued by historians.« 45 Vgl. Staley: Historical Imagination (s. Anm. 44), 11: »At one pole is imagination-as-mimesis, which we can label the Aristotelian imagination. At the other pole would be statements that

Zwischen den Stühlen?

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Ziel haben, Sinneseindrücke wiederzugeben. Eine solche mimetische Imagination im Rahmen der historischen Forschung ist darauf ausgerichtet, Geschichte genauso und nur so abzubilden, wie sie durch Fakten erkannt werden kann. Im Extremfall bedeutet das, nur die Quellen zu sammeln, ohne jede Form von Zusammenhang herzustellen. Die kreative Imagination bildet aus Fakten Zusammenhänge und erzählt eine Geschichte. Sie wird dort radikal durchgeführt, wo auf Quellen vollständig verzichtet und nur noch imaginiert wird. Graphisch kann man diese beiden Felder der Geschichtsschreibung mit Staley so darstellen:46

Mimetische Imagination

Kreative Imagination

Keine historische Darstellung ist ausschließlich eine Wiederholung der Quellen. Sie wäre sinnlos, weil sie nicht erzählt und ordnet. Und keine seriöse Geschichtsdarstellung ist ausschließlich kreativ, denn dann wäre sie fiktiv. Historische Darstellungen bewegen sich also in einer Bandbreite und greifen einmal mehr, einmal weniger zur Imagination, um die Geschichte zu erzählen. An einem Beispiel aus dem Fußball will ich das kurz erläutern. In Zeiten, in denen Privatsender die Rechte an der Übertragung von Fußballspielen an sich gerissen haben, bleiben dem einfachen Fan manchmal nur sogenannte Ticker übrig. Diese enthalten nur wenige Elemente eines Fußballspiels, oft nur Namen und Zahlen. Das Spiel selbst, die Verbindung zwischen Ereignissen, imaginiert der Fan zu einer Geschichte, die das Spiel rekonstruiert. Ob sie stimmt, weiß er nicht, sie muss aber mit den wenigen vorhandenen Angaben übereinstimmen. Eine streng mimetische Wiedergabe wäre nichts anderes als die Quelle selbst. are pure fiction, imagination-as-creation, which we will term ›the Platonic imagination.‹« Vgl. auch T.P. Wiseman: Historiography and Imagination. Eight Essays on Roman Culture, Exeter Studies in History, Exeter 1994, xiii: »Forming a hypothesis, making an inference from evidence, is in its small way a creative act. … Imagination, controlled by evidence and argument, is the first necessity if our understanding of the past is ever to be improved.« 46 Staley: Historical Imagination (s. Anm. 44), 132.

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Markus Öhler

Eine völlig kreative Nacherzählung würde sich in keiner Weise mehr auf die berichteten Ereignisse beziehen, sondern über irgendein Fußballspiel fabulieren. Alles dazwischen aber ist historische Imagination als erzählte Geschichte.

4

Historisch-Theologische Imagination

Die Theologie kommt ebenfalls nicht ohne Imagination aus. Was ich als Historiker nicht vermeiden kann – den imaginativen Akt der Gestaltung der Geschichte –, das kann ich als Theologe auch nicht umgehen. Auch das theologische Denken ist imaginativ, wenn es den Glauben an »Gott« als ihren Gegenstand hat. Dieser Glaube schlägt sich in Quellen nieder, die ihren Ort und ihre Zeit haben. Auch der Glaube sucht nach innerer Konsistenz (bei aller Spannung), auch der Glaube ist argumentativ. Dementsprechend ist die Theologie nicht anders gestrickt als die Geschichte. Ihre Darstellung imaginiert Glaubensinhalte und setzt diese in imaginierte Zusammenhänge, auch hier kontrolliert durch Evidenz und Methode. Geschichte und Theologie gehen im Rahmen der Exegese die Imagination des Glaubens aber – und das könnte ein Weg der Vermittlung sein – von zwei verschiedenen Seiten an.

Historische Imagination

Theologische Imagination

Die Aufgabe aller Theologen und Theologinnen, ob an Universitäten, auf Kanzeln oder in Klassenzimmern, scheint mir zu sein, sich innerhalb dieser Felder zu bewegen, sich auf die damit verbundenen Bewegungen einzulassen und sich jeweils darüber vor sich selbst und vor anderen zu verantworten. Da gibt es dann keine Stühle, zwischen denen hin und her gewechselt werden muss, es ist eher eine Pendelbewegung, oder um im Bild vom Fußballspiel zu bleiben: ein Laufen auf einem gemeinsamen Spielfeld, in dem man einmal Verteidiger und einmal Stürmer ist, oft aber auch im Mittelfeld spielt.

Uta Heil

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

Astract What can the subject of church history, which deals with the past, contribute to the future of theology? Can one simply refer to learning from history? Under the term »aesthetics of the historical,« the limited perception of the past that precedes any learning from the past is critically reflected upon: Only earthly things can be perceived and studied, and this only fragmentarily and under a subjective grasp, and it remains a construct in the presentation. Furthermore, with recourse to Friedrich Nietzsche, the dangers of a monumental, an archival and a critically historical research are pointed out. Despite these limitations, only a thoughtful exploration of the past can make a theology fit for the future.

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Kirchengeschichte der Zukunft

In dieser Vortragsreihe des Kollegiums geht es um die Zukunft der Theologie: Was kann die Kirchengeschichte, die sich mit dem Gegenteil, der Vergangenheit, beschäftigt, dazu sagen? Die Kirchengeschichte befasst sich jeweils heute mit dem Gestern, das noch Vorgestern ein Morgen war – aber nicht mit dem Morgen, der erst zum Gestern wird. Streng genommen hat die Kirchengeschichte also zur Zukunft der Theologie nichts zu sagen – das wäre methodisch eine Grenzüberschreitung und entzöge sich jeglicher wissenschaftlichen Plausibilität. Denn die Geschichtsforschung funktioniert nicht wie beispielsweise die Klimaforschung, die u. a. Prognosen zur Erwärmung der Atmosphäre aufzustellen versucht, indem sie riesige Datenmengen aus der Vergangenheit sammelt, um auf dieser Basis die weitere Entwicklung voraussagen zu können. Menschliche Gesellschaften entwickeln sich nicht nach rein naturwissenschaftlichen Gesetzen wie das Klima, auch wenn Menschen mit ihren Entscheidungen natürlich das Klima beeinflussen. Und wer besitzt schon die Gabe der Prophetie als göttliches Wort zur Stunde! Wirklich schwierig – das ist unser aller Erfahrung – wird die Prophetie, wenn sie im Sinne der Weissagung über die Zukunft spricht. Wie können wir also überhaupt etwas über die Zukunft sagen? Oder für die Zukunft sagen? Die gegenwärtigen Krisen und Umbrüche mahnen zur Vorsicht, im

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Uta Heil

Abb. 1: Zur Zeit der franz. Revolution zerstörte Kirche der Kartause Villeneuve bei Avignon. Foto Uta Heil 2018

Moment erkennbare Entwicklungslinien einfach in die Zukunft weiterzuzeichnen. Allein der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine auf Befehl Putins hin mahnt zur Vorsicht: Warum konnte man vor dem 24. Februar 2022 nicht erkennen, was danach offensichtlich wurde? Und wer weiß schon, wie die Entwicklung weiter gehen wird? Was relevant sein wird? Aussagen zur Zukunft waren schon immer kompliziert, wenn nicht problematisch. Wenn in den vergangenen Jahrhunderten etwas über zukünftige Entwicklungen niedergeschrieben wurde, so geschah das meist in solchen Literaturen, die der Apokalyptik zuzuordnen sind. Apokalyptische Literatur befasst sich bekanntlich entweder mit dem Ende der Welt inklusive unmittelbar vorausge-

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

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henden Schreckensszenarien oder auch mit dem Ende des einzelnen Menschen im Paradies oder in der Hölle, meist in Erwartung des baldigen Eintretens. Die Produktion der christlichen apokalyptischen Literatur selbst ist jedoch ohne Ende – sie ist eine unendliche Geschichte, die aus zahlreichen apokalyptischen Texten besteht, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten entstanden sind, oft in Phasen des Umbruchs oder einer gesellschaftlichen Krise.1 Die Neuauflage des sog. »Hennecke-Schneemelcher«, genauer des Bandes zur Apokalyptik der Reihe »Antike christliche Apokryphen«, dessen erster Teilband bald erscheinen wird, wird fast 60 Texte allein aus der Spätantike enthalten.2 Daher gibt es keinen endgültigen, definitiven Text über das Ende, obwohl jeder Text versucht, genau diesen Eindruck zu vermitteln. So helfen diese Texte kaum, um eine theologische Aussage zur Zukunft zu formulieren – nicht nur, weil sie immer wieder vom Strom der Zeit überholt wurden, sondern auch deswegen, weil sie sich gerade eben nicht mit künftigen Weiterentwicklungen befassen, sondern eben mit deren Ende, d. h., mit der Auferstehung und dem Endgericht, dem Nachleben in Himmel oder Hölle. Apokalypsen thematisieren nicht die zukünftige, sondern das Ende der Geschichte – sie eröffnen also nicht eine Zukunft, sondern beenden diese. Und eine Drohung mit dem baldigen Untergang der Welt lähmt eher oder führt zu Nihilismus, wie man schon bei Jesaja lesen kann: »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!« (Jes 22,13) Es gibt zwar gerade in der Gegenwart Stimmen, die eine Erneuerung apokalyptischen Denkens fordern, vor allem angesichts der Klimakrise, um die Welt radikal anders denken zu können3 – aber die Apokalyptik deutet die eintretenden 1 Vgl. zu Apokalyptik die Definition von John Joseph Collins (Hg.): Apocalypse. The Morphology of a Genre, in: Semeia 14 (Missoula 1979), 1–217, hier auf S. 8: »Bei Apokalyptik handelt es sich um eine Gattung der Offenbarungsliteratur mit einem narrativen Rahmen, in dem eine Offenbarung von einem jenseitigen Wesen an einen menschlichen Empfänger vermittelt wird und eine transzendente Realität offenbart, die sowohl zeitlich ist, insofern sie eine eschatologische Erlösung vorsieht, als auch räumlich, insofern sie eine andere, übernatürliche Welt einschließt.«. Vgl. auch Lars Hartmann: Survey of the Problem of Apocalyptic Genre, in: David Hellholm (Hg.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Proceedings of the International Colloquium on Apocalypticism in Uppsala 1979, Tübingen ²1989, 329–343; John Joseph Collins: The Oxford Handbook of Apocalyptic Literature, Oxford 2014, besonders seine Einleitung auf S. 1–16: »That is Apocalyptic Literature?«; und Adela Yarbro Collins: Apocalypse Now: The State of Apocalyptic Studies Near the End of the First Decade of the Twenty-First Century, in: Harvard Theological Review 104 (2011), 447–457, sowie Martha Himmelfarb: The Apocalypse. A Brief History, Oxford 2010, und den Sammelband Veronika Wieser u. a. (Hg.): Cultures of Eschatology. Empires and Scriptural Authorities in Medieval Christian, Islamic and Buddhist Communities (Cultural History of Apocalyptic Thought 3/1 und 2), Berlin/Boston 2020. 2 Vgl. den Editionsplan, verfügbar unter: https://www.mohrsiebeck.com/mehrbaendiges-werk /antike-christliche-apokryphen-in-deutscher-uebersetzung-884800000?no_cache=1 [abgerufen am 8. 2. 2022]. 3 Vgl. Matthias Drobinski/Christoph Fleischmann im Gespräch mit Gregor Taxacher und Alexander-Kenneth Nagel: Mehr Apokalypse wagen?, in: Publik Forum 16, September 2021,

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Schrecken als gottgewirkte Vorboten des Weltendes und künftigen Gottesgerichts, dem nur ein erwählter kleiner Rest entkommen könne, was angesichts der menschengemachten Katastrophen wenig hilft. Die Zukunft der Theologie liegt m. E. also gerade nicht in einer Erneuerung der Apokalyptik, auch wenn die Theologie sich mit den religiösen und auch säkularen apokalyptischen Stimmen der Gegenwart auseinanderzusetzen hat. Wenn die Kirchengeschichte schon nicht ein Kapitel »Die Zukunft« schreiben kann, dann wenigstens etwas über die Gegenwart? Ein Konsens dürfte darüber bestehen, dass die Geschichte dazu dient, die Gegenwart und die eigene Identität zu verstehen. Ferner dient Geschichte dazu, aus ihr zu lernen, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und so Anregungen für Zukunft zu erhalten.4 Das sind gewiss die wichtigsten Nutzen der Historie. Das Identitätsstiftende leuchtet unmittelbar ein: Warum die evangelische Kirche in Österreich so ist, wie sie ist, macht ein Blick auf ihre Vergangenheit verständlich, ebenso warum es nur eine evangelisch-theologische Fakultät an Österreichs Universitäten gibt. Auch das Lernen aus der Geschichte ist ein allgemein akzeptierter Vorsatz – um das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Nie wieder darf es zu einem Holocaust kommen!5 Daher wird beispielsweise immer am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (27. Januar 1945) an die Gräuel des Massenmordes an den Juden und anderer Entrechteten erinnert. Allerdings gibt 30–34. Vgl. die Publikation von Georg Taxacher: Apokalypse ist jetzt. Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit, Gütersloh 2012. Vgl. auch Margit Eckholt: Gottesrede zwischen Corona und Aurora. Reflexionen zu einem neuen »apokalyptischen Denken« aus dem lateinamerikanischen Kontext von Kirche und Theologie, in: Joachim Werz (Hg.): Gottesrede in Epidemien. Theologie und Kirche in der Krise, Münster 2021, 278–305. 4 Vgl. Margrit Pernau: Aus der Geschichte lernen? Die Rolle der Historiker:innen in der Krise, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), 563–574, mit guten kritischen Reflexionen zur angeblichen »Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens« (historia magistra vitae) sowie weiterer Literatur. Anlass ist hier die Frage, ob die Analyse historischer Epidemien beim Verständnis der gegenwärtigen Corona-Epidemie helfen könnte. Vgl. dazu auch die Textsammlung auf HSozKult, angeregt von Daniel Menning und Claudia Prinz unter dem Stichwort »Forum Corona-Lektüre« (geführt seit 14. April 2020, verfügbar unter https://www.hsozkult.de/debate /id/diskussionen-4966 [abgerufen am 8. 2. 2022]): »Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Teilen der Geschichtswissenschaft möchten wir daher einen Beitrag zur Historisierung der Gegenwart leisten, indem wir zunächst in loser Folge Leseempfehlungen für ein historisch geerdetes Verständnis von Pandemien veröffentlichen.« Vgl. auch den Band zum Historikertag 1996: Stefan Weinfurter/Frank Martin Siefarth (Hg.): Geschichte als Argument. Berichtsband, München 1997. Es war vor allem Hans-Ulrich Wehler, der in der Nachkriegszeit das notwendige Lernen aus der Geschichte betonte; vgl. den Titel seines Sammelbandes: Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988. Vgl. auch den Zeithistoriker Magnus Brechken (Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart, München 2020), der bei Geschichtsvergessenheit die Errungenschaften der Moderne in Gefahr sieht. 5 Das ist auch mir ein Anliegen, weshalb ich mich mit Armin Lange dafür eingesetzt habe, dass inzwischen an der Universität Wien ein Erweiterungscurriculum »Antisemitismus bekämpfen« angeboten wird.

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es seit 2021 bekanntlich eine Neuauflage des Historikerstreits um diese Form der Erinnerung an den Holocaust. Während es im Historikerstreit von 1986 um die Beziehungen zum sowjetischen Gulag-System ging6, dreht sich die gegenwärtige Debatte darum, ob und wie der Holocaust mit den menschenverachtenden Ansichten und Praktiken im Kolonialismus zusammenhängt.7 Ausgelöst wurde er von dem australischen Historiker Dirk Moses (vgl. Die ZEIT, 1. Juli 2021, S. 108), der die deutsche Erinnerungskultur an den Holocaust als erstarrten Katechismus bezeichnet, der eine Staatsideologie der Unvergleichbarkeit dieses Verbrechens generiert habe, was die Basis einer kritiklosen Treue zu Israel bilde. So wie Deutschland den eigenen Beitrag zum Kolonialismus übergehe, übersehe es das angeblich einem Kolonialismus vergleichbare Agieren Israels. Diese Ansicht haben wiederum andere Historiker vor allem in Feuilletons deutscher Zeitungen zurückgewiesen;9 inzwischen ist die Frage nach der Erinnerung an den Holocaust unentwirrbar verwoben mit Debatten über Kolonialismus und Apartheit sowie israelbezogenen Antisemitismus und BDS.10 Leider wird hier ersichtlich, wie schnell die Erinnerung an die Vergangenheit für gegenwärtige politische Zwecke instrumentalisiert, wie schnell und undiffe6 Vgl. Ernst Reinhard Piper (Hg.): »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987. 7 Vgl. dazu jetzt Saul Friedländer u. a.: »Ein Verbrechen ohne Namen«. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München 2022; der Band enthält einen Nachdruck der dazu meist in Zeitungen veröffentlichten Beiträge. Dirk Moses (s. folgende Anm.) hatte provokativ ausgerechnet die jüdischen Autoren Dan Diner und Saul Friedländer zu einflussreichen Hintermännern dieser deutschen »Staatsideologie« erklärt. 8 Auslöser war A. Dirk Moses’ Artikel: »Der deutsche Katechismus« in dem Schweizer online – Magazin Geschichte der Gegenwart vom 23. Mai 2021 (verfügbar unter: https://geschichteder gegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ [abgerufen am 6. 2. 2022]). 9 Vgl. auch Thomas E. Schmidt: Ist der Rassismus etwa unüberwindbar?, in: DIE ZEIT vom 22. Juli 2021, 47–48, der treffend beobachtet: »… Doch geht es immer um Israel und die antiisraelische Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions. BDS ist der weiße Elefant in diesem Diskursraum. BDS ist die Lizenz, sich ideenpolitisch mit der Sache der Palästinenser zu solidarisieren, und zwar in einem Rahmen, den die palästinensischen Kampforganisationen gezogen haben. Dieser Rahmen eröffnet die Möglichkeit, die Kritik an der israelischen Politik mit einer Infragestellung des Staates Israel zu verschleifen, sie vielleicht auch nur in Kauf zu nehmen. Und dies ist nur im Zusammenhang mit einer postkolonialistischen Argumentation möglich: Die jüdische Landnahme stellt dann den letzten großen Fall in der modernen Geschichte der Kolonisierung dar, Israel die derzeit skandalöseste Gestalt westlicher Nationalstaatlichkeit im »rassistischen Jahrhundert« (Moses). …«. 10 Vgl. die Zusammenstellung der Chronologie der Debatte in: »Der Perlentaucher«, verfügbar unter: https://www.perlentaucher.de/essay/die-debatte-ueber-a-dirk-moses-katechismus-de r-deutschen.html. [abgerufen am 6. 2. 2022] Vgl. auch das jüngst erschienene Buch von Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, München 2022. Inzwischen ist die Debatte um den Antisemitismus auf der documenta fifteen (2022) in Kassel angewachsen, auf der Künstler aus Israel nicht vertreten waren und Künstlerkollektive des »globalen Südens« ihre Kritik an den Folgen des Kolonialismus unentwirrbar mit offen antisemitischer Israelkritik verwoben haben.

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renziert Geschichte zum Argument wird. Einzig zutreffend ist die Beobachtung, dass tatsächlich mehr historische Forschung zum Holocaust betrieben wurde als zum Kolonialismus. Hier steht auch die evangelische Kirchengeschichte noch vor Herausforderungen: Zur Geschichte des christlichen Judenhasses und Antisemitismus ist schon viel recherchiert, nachgedacht und gestritten worden, so erneut im Rahmen des Reformationsjubiläums 2017, aber beim eigenen Beitrag zum Kolonialismus gibt es noch Lücken und neue Fragen. Erst in der jüngeren Vergangenheit wurden bekanntlich sukzessive die vormaligen Lehrstühle für Missionswissenschaft in »Interkulturelle Theologie und Religionswissenschaft« umgewandelt, was ein wachsendes Bewusstsein für die Problematik anzeigt.11 Es war beispielsweise die Journalistin Katharina Döbler, die in »Dein ist das Reich« erst im Jahr 2021 die Geschichte ihrer Großeltern, die Missionare aus Neuendettelsau in Papua-Neuguinea waren, als historischen Roman vorlegte. Ebenfalls 2021 erschien die Gesamtdarstellung von Bernhard Meier »Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit«.12 Aber das Defizit betrifft nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch die allgemeine Geschichte, wie der gegenwärtige Streit um das Humboldt Forum in Berlin zeigt. Das 2021 publizierte Buch von Götz Aly zum geraubten Prachtboot der Insel Luf (»Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten«) hat die 11 Vgl. die Empfehlung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie: Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft. Papier der Fachgruppe Religions- und Missionswissenschaft der Gesellschaft für Wissenschaftliche Theologie und Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft (2005), 376–382. Am Fachbereich Theologie in Erlangen beispielsweise hieß der Lehrstuhl seit 2003 »Lehrstuhl für Missions- und Religionswissenschaft« und wurde 2020 zum »Lehrstuhl für Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie«; an der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau selbst heißt es »Lehrstuhl für Interkulturelle Theologie, Missions- und Religionswissenschaft«. »Interkulturelle Theologie« drückt also das geänderte Selbstverständnis aus, Religionswissenschaft nicht nur als Hilfswissenschaft bzw. Religionskunde heranzuziehen, um die anderen Religionen apologetisch in das eigene christliche Weltbild einzubauen und Mission vorzubereiten. 12 Katharina Döbler: Dein ist das Reich. Roman, Berlin 2021; Bernhard Maier: Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit, München 2021. Aufgrund des Missionswerks von Neuendettelsau in Papua-Neuguinea (»Kaiser-Wilhelms-Land«; die Neuendettelsauer Mission im westlichen Papua-Neuguinea wurde im Jahr 1886 von Johann Flierl gegründet) lagern auch in Neuendettelsau viele Objekte, Alltags- und Kultgegenstände der Papua, mitgebracht von Missionaren; momentan arbeitet eine Ethnologin im Auftrag von »Mission Eine Welt« an der Katalogisierung dieser Exponate; die Aufarbeitung hat erst begonnen, verfügbar unter: https://www.evangelisch.de/inhalte/187413/24-06-2021/wie-missio n-einewelt-mit-kulturguetern-aus-papua-neuguinea-umgeht [abgerufen am 6. 2. 2022]. Vgl. Susanne Froehlich: Als Pioniermissionar in das ferne Neu Guinea. Johann Flierls Lebenserinnerungen, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert, Teil I: 1858–1886, Teil II: 1886– 1941 (Quellen und Forschungen zur Südsee A.5), Wiesbaden 2015. Vgl. auch Martina Pauly: »Wir haben es von Euch gelernt!« Die Missionswerke zwischen kolonialem Erbe und postkolonialer Herausforderung, in: Zeitzeichen 23/7 (2022), 30–32.

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Forschungslücke deutlich vor Augen geführt. Alys Urgroßonkel war als Militärgeistlicher dort gewesen, weswegen der Historiker sich überhaupt des Themas annahm. Das Buch hat die Diskussion vorangetrieben, aber auch Apologeten der ethnologischen Sammlungen auf den Plan gerufen.13 Hier ist noch viel Provenienzforschung zu leisten, um museale Präsentationen zu überarbeiten, eventuelle Restitutionen zu überlegen und somit die heute angemessenen Konsequenzen aus dem kolonialen Erbe zu ziehen.

Abb. 2: Luf-Boot; Erläuterungstext zum »Erwerb« des Bootes auf einer Tafel der Ausstellung im Humboldt Forum Berlin (Dez. 2021): »Mit Booten wie diesem fuhren die Männer von Luf auf das offene Meer, trieben Handel und führten Krieg mit ihren Nachbarinseln. Durch die von Europäern eingeschleppten Krankheiten, durch Überschwemmung und Hungersnot sank im 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahl dramatisch. Zudem zerstörte 1882/83 eine »Strafexpedition« der deutschen Marine einen Großteil der Häuser und Boote und tötete Bewohnerinnen und Bewohner. Um 1890 bauten die verbliebenen Männer noch einmal ein großes Auslegerboot, konnten es aber nicht zu Wasser lassen. 1903 erwarb es die Handelsfirma Hernsheim und verschiffte es nach Berlin.« Foto Uta Heil 2021

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Die Ästhetik der Historie und die Grenzen der Kirchengeschichte

Wenn ein Lernen aus der Geschichte vorausgesetzt oder gefordert wird, so ist zunächst zu fragen: Wie kann das überhaupt funktionieren? Wie geschieht ein Lernen aus der Geschichte? Leider ist das Lernen aus der Geschichte oft nur ein 13 Vgl. die emeritierte Ethnologin Brigita Hauser-Schäublin (Göttingen) in ihrem Beitrag »Warum das Luf-Boot im Humboldt Forum bleiben kann«, in: DIE ZEIT 29 vom 15. Juli 2021.

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Vorsatz, der nicht in die Tat umgesetzt wird – und wenn schon darüber Uneinigkeit herrscht, woran aus der Vergangenheit überhaupt erinnert werden sollte, so wird deutlich, dass in der Wahrnehmung der Vergangenheit an sich bereits das Problem liegt. Bevor man nämlich den zweiten Schritt machen und sich dem Lernen aus der Vergangenheit widmen kann, ist zunächst der erste Schritt zu gehen, die Vergangenheit bzw. das Gewordene der Gegenwart und ihre Hintergründe erst einmal wahrzunehmen, wie bereits deutlich wurde. Hierfür bietet sich eine Bezeichnung an, die den Nutzen und den Nachteil der Historie gleichermaßen aufgreift, und zwar die Ästhetik als Wahrnehmbarkeit des Historischen (einer Kirche, eines Dogmas, einer Liturgie, eines biblischen Buches, eines Kunstwerkes, einer religiösen Praxis, …) im Sinne des griechischen Wortes »wahrnehmen« (αι᾿σθάνειν), mit allen Sinnen erfassen. Es ist nur ein erster Schritt, das Gegenwärtige überhaupt als geworden wahrzunehmen, und geht doch zugleich über das hinaus, was Jan Assmann im Jahr 1988 »kulturelles Gedächtnis« genannt hatte.14 Mit dem Begriff bezog er sich auf eine in der Gegenwart gepflegte Erinnerung an Ereignisse der Vergangenheit. Ein »kulturelles Gedächtnis« hat aber als objektivierte Kultur etwas Statisches, mithin nur die jeweils tatsächlich begegnende Präsenz der Vergangenheit vor Augen. Historische Forschung, um die es hier geht, muss aber diesen Rahmen des kulturellen Gedächtnisses erweitern, überschreiten, das Gewordene auch dieser Wahrnehmung durchschauen und Neues, Anderes, Fremdes, Unbekanntes erschließen, um nicht in einer Apologie der Gegenwart und des Eigenen zu verharren. Überdies ist das kulturelle Gedächtnis nur auf eine Gruppe bezogen, hat eine Wertperspektive und sortiert Unrelevantes aus – die historische Forschung muss allerdings über diese »Relevanz-Perspektivierung der Überlieferung, die alles auf den Fluchtpunkt einer kulturellen Identität bezieht«15, hinausgehen. Assmann selbst hatte ja das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft von der Wissenschaft abgegrenzt. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass jeder Mensch ein Historiker werden muss, sondern das ist durchaus als einvernehmliche Arbeitsteilung zu verstehen. Aber eine prinzipiell und durch historische Forschung kritisch erweiterte Einsicht, dass die Dinge, die uns umgeben, oder eben auch nicht mehr umgeben, erst so geworden sind, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Historie überhaupt einen Nutzen und etwas in die Zukunft Weisendes haben könnte. Gleichzeitig zeigt der Begriff »Ästhetik des Historischen« auch drei Grenzen auf – also sozusagen den darin verwobenen Nachteil: 14 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders.: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 9–19. Vgl. die monographische Darstellung in ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992), 7. Auflage München 2013, sowie seinen Aufsatzband: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2018. 15 Assmann, Kollektives Gedächtnis (s. Anm. 14), 14.

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

2.1

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Irdisch

Die Ästhetik des Historischen ist die Ästhetik des Irdischen – nicht des Göttlichen. Es waren christliche Menschen, die einzelne Texte des späteren Neuen Testaments geschrieben haben, die sich so etwas wie das Bischofsamt ausgedacht haben, die für Taufen und Gottesdienste Kirchengebäude konstruiert haben, die es für sinnvoll befunden haben, Kollekten einzusammeln für Bedürftige, die sich gedacht haben, ein asketisches Leben in Ehelosigkeit wäre besonders tugendhaft, die sich überlegt haben, jeden Sonntag um zehn Uhr sei die beste Zeit für den Gottesdienst. Es waren ebenfalls christliche Menschen, die gemeint haben, ein Krieg sei im Namen Gottes zu führen, die Juden stünden auf dem Abstellgleis der Geschichte und seien von Gott verworfen, die Häretiker seien auszugrenzen und gegebenenfalls umzubringen (um nur einige Ereignisse aus der Skandalgeschichte des Christentums zu nennen16). Die Ästhetik des Historischen bezieht sich auf die Wahrnehmung des Menschengemachten, des allzu Menschlichen im Lauf der Geschichte. In der Geschichte oder aus der Geschichte ist Gott nicht wahrnehmbar, so wie ja auch die Existenz Gottes nicht beweisbar ist – eine Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen ist nur grundsätzlich als Axiom denkbar, aber nicht in den geschichtlichen Entwicklungen zu finden.17 Wir nehmen das Geschichtliche wahr als Menschen, die Menschen wahrnehmen, wie sich in ihrem Leben und Denken der christliche Glaube entfaltet. Wie Christoph Markschies formulierte: Die großen Teleologien göttlichen Handelns – beispielsweise sein Handeln in Jesus Christus oder an seinem Volk Israel – müssen nicht noch vom Historiker durch den Hinweis auf dann notwendige kleine, historische Teleologien ergänzt oder am Lauf der Geschichte demonstriert werden.18 16 Formuliert in Anlehnung an die zehnbändige »Kriminalgeschichte des Christentums« von Karlheinz Deschner, Reinbek 1986–2013. 17 Zu Heilsgeschichte vgl. F. Mildenberger: Art. Heilsgeschichte, in: RGG4 3, Tübingen 2008, 1584–1586. Der Begriff »Heilsgeschichte« stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde vor allem von dem Erlanger Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) aufgeworfen. Hofmann wollte mit diesem Konzept die persönliche Erfahrung oder Aneignung des Glaubens mit »objektiven Tatbeständen« der Geschichte zu einem universalen Geschichtskonzept der Heilsgeschichte verbinden. Vgl. Notger Slenczka: Art. Hofmann, Johann Christian Konrad v., in: RGG4 3, Tübingen 2008, 1829f.; Matthew L. Becker: The Selfgiving God and Salvation History. The Trinitarian Theology of Johannes von Hofmann, New York 2004; Wilfried Behr: Politischer Liberalismus und kirchliches Christentum. Studien zum Zusammenhang von Theologie und Politik bei Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) (Calwer theologische Monographien B. Systematische Theologie und Kirchengeschichte 12), Stuttgart 1995; Karl Gerhard Steck: Die Idee der Heilsgeschichte. Hofmann, Schlatter, Cullmann (Theologische Studien und Kritiken 56), Zollikon 1959. 18 Christoph Markschies: Vergangenheit Verstehen. Einige Bemerkungen zu neueren Methodendebatten in den Geschichtswissenschaften, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Verstehen über Grenzen hinweg (Marburger Jahrbuch Theologie XVIII, MThS 94), Marburg 2006, 23–52, hier 52.

256

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Das geschehe überdies nie ohne Peinlichkeiten. Man könnte es noch deutlicher sagen: Das geschieht oft mit gefährlichem Missbrauch und Fehldeutungen.

2.2

Fragmentarisch und Subjektiv

Abb. 3: Zerstörter Sarkophag der Zwölf Apostel in Vaison-la-Romaine, heute in der Cathedrale Notre-Dame, Kreuzgang. Foto Uta Heil 2022

Die Ästhetik des Historischen geschieht zweitens fragmentarisch und subjektiv, nicht objektiv: Wir wissen nicht, wie es wirklich war. Die Ästhetik des Historischen ist daher vorläufig, steht immer unter Vorbehalt und ist nicht endgültig. Es sind unsere subjektiven Perspektiven oder Fragen, die wir an die Geschichte stellen, wie z. B. gegenwärtig die nach der Gewaltgeschichte oder nach dem Kolonialismus. Aber unser Wahrnehmen und Verstehen der Geschichte ist begrenzt. Die Ästhetik des Historischen bleibt immer fragmentarisch, denn sowohl unser heutiger Blick auf die Vergangenheit ist spezifisch als auch der jeweilige »Eigensinn« der historischen Sachverhalte oder Quellen, der nicht einfach so zur Verfügung steht. Vieles ist außerdem vergessen, verschüttet, verloren, entzieht sich unserer Wahrnehmung oder kann gar nicht vollständig erfasst werden. Daher weist die hier vorgeschlagene Ästhetik des Historischen auf das Paradox hin, dass wir selbstverständlich in unserer Wahrnehmung der Geschichte dieser eine sinnstiftende Einheit zusprechen wollen, sei es unserer persönlichen Biographie, der Geschichte des Familie, des Landes oder des Christentums19, diese 19 In diesem Sinn wurde durchaus bereits von Ästhetik der Historie gesprochen; vgl. Antje Bussgen: Der »Sporn« des Handelns. Zur Funktion des Ästhetischen in Schillers und Nietz-

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aber der persönlichen Perspektive unterliegt. Die Ästhetik des Historischen verweist also zusammengefasst auf das Fragmentarische und das Subjektive: Es ist unsere Deutung, unser Wort, es bleibt menschliches Wort – wir selbst sind nicht die Stimme Gottes aus dem Himmel. Um Kurt Nowak zu zitieren: Die Prätentionen der ›interprétation totale‹ sind heute prinzipiell in Frage zu stellen durch das Wissen um die Grenzen der historischen Arbeit. Historiographie ist ›interpretation fragmentaire‹. … kein Historiker wird den zutiefst fragmentarischen Charakter unserer historischen Bemächtigungsversuche der Welt leugnen, es sei denn, wir haben es mit einem Ideologen zu tun.20

Das heißt natürlich nicht, dass man gar nichts über die Vergangenheit sagen kann – hier ist nicht in das Horn der Postmoderne zu blasen und jegliche Geschichtsdarstellungen als unmöglich zu erklären.21 Weder der Holocaust noch der Kolonialismus können als historische Ereignisse geleugnet werden.22 Allerdings sollten historische Darstellungen immer unter Vorbehalt formuliert werden. Große, alles erklärende historische Narrative oder Meistererzählungen haben meistens das Problem, dass entweder historische Details dem doch widersprechen oder diese Meistererzählung morgen schon wieder überholt ist – ihr ergeht es also ähnlich wie der apokalyptischen Literatur. Keine Kirchengeschichte beispielsweise beweist mehr die Wahrheit des Christentums mit dessen missionarischem Erfolg (um noch einmal an den Diskurs über den Kolonialismus anzuknüpfen), keine Kirchengeschichte Deutschlands setzt mehr mit der Völkerwanderung als Kapitel 1 ein und verteidigt das »artgemäße« Christentum sches Geschichtsdenken, in: Alice Staskova (Hg.): Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte, Heidelberg 2007, 141–174; dies.: Die Ketten ästhetischer Geschichtsbildung als Garanten der Handlungsfreiheit. Schillers und Nietzsches Historienschriften, (Nietzscheforschung 26), Berlin/Boston 2019, 57–84. Ästhetisch ist hier gemeint im Sinne der Herstellung von Ganzheit, indem Bruchstücke zu einem Bild vervollständigt werden. 20 Kurt Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? Über die Verbindung und die Differenz von Kirchengeschichtsschreibung und Theologie, in: ThLZ 122 (1997), 3–12, hier 12. 21 Vgl. dazu Uta Heil: Wann ist die Kirchengeschichte biblisch? Anmerkungen zur Bedeutung und Problematik der veritas hebraica et graeca aus altkirchlicher Sicht, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 25 (2010), 147–173, hier 148–149. Vgl. Thomas Brechenmacher: Postmoderner Geschichtsdiskurs und Historiographiegeschichte. Kritische Bemerkungen mit Blick auf eine narrativistische Darstellung, in: HJ 119 (1999), 295–306; Joachim Elbach/ Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch (UTB 2271), Göttingen 2002; Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbeck 1995; ders.: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001; Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Neuausgabe Göttingen 2007; Lothar Kolmer: Geschichtstheorien (UTB 3002), Paderborn 2008. 22 Vgl. das Material zum Prozess des Holocaustleugners David Irving gegen Deborah Lipstadt, die diesen Prozess gewann, verfügbar unter: https://www.hdot.org/ [abgerufen am 8. 2. 2022]. Vgl. ferner Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt am Main/New York 1998.

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mit der angeblichen Germanisierung des Christentums.23 Keine Geschichte des frühen Christentums setzt mehr mit der Dekadenzerzählung eines Niedergangs des Judentums als Spätjudentum ein, um Jesus und das Urchristentum davon abzugrenzen.24

2.3

Konstruiert

Die Ästhetik des Historischen weist daher drittens auch auf das Konstruktivistische hin. Die Vergangenheit ist nicht einfach so bruchlos und vollständig gegenwärtig und wahrnehmbar – sie ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie vergangen ist –, sondern nur durch ihre Erforschung, Darstellung und Interpretation. So sind Historien also die Erzählung über Vergangenes, wie ja auch historein (ἱστορεῖν) im Griechischen »erzählen« oder »das Erforschte berichten« meint. Das griechische Verb bedeutet sogar erst einmal »fragen«, »erfahren«, 23 Die These einer angeblichen »Germanisierung des Christentums« während der Zeit der sogenannten »Völkerwanderung« ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Zwei Aspekte verschmelzen hier: erstens die Entdeckung und Erforschung einer Germanisierung des Christentums in der Zeit der Völkerwanderung, was im 19. Jahrhundert, also zur Zeit des Historismus, besonders durch Textfunde wie das Bekenntnis des Wulfila Impulse bekam, und zweitens das Programm einer Germanisierung als – so würde man es heute beschreiben – identitätspolitische Forderung an Kultur und Religion der Deutschen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Vgl. Patrick Geary: The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002; Rainer Lächele: Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi. Arthur Bonus – Max Brewer – Julius Bode, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, 165–183; Angelo Radmüller: Zur Germanisierung des Christentums. Verflechtungen von Protestantismus und Nationalismus in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: ZjR 7 (2012), 2–16; Hanns Christof Brennecke: Christianisierung und Identität – Das Beispiel der germanischen Völker (1996), in: Uta Heil u. a. (Hg.): Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum (AKG 100), Berlin/New York 2007, 145–156; ders.: Der sog. germanische Arianismus als »arteigenes« Christentum. Die völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus, in: Th. Kaufmann/H. Oelke (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im »Dritten Reich« (VWGTh 21), Gütersloh 2002, 310– 329; ders.: Christianisierung der Germanen oder »Germanisierung des Christentums«. Über Ideologisierung und Tabuisierung in der Geschichtsschreibung, in: Klaus Manger (Hg.): Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Geisteswissenschaftliche Klasse, Sitzungsberichte 5, Klassensitzungsvorträge 2000–2004, Erfurt 2006, 153–172; Knut Schäferdiek: Art. Germanisierung des Christentums, in: TRE 12, Berlin/New York 1984, 521–524; ders.: Germanisierung des Christentums?, in: EvErz 48 (1996), 333–342. 24 Dieses Konzept liegt beispielsweise noch dem ThWNT, herausgegeben von dem Neutestamentler Gerhard Kittel, der Antisemit war, zugrunde. Vgl. Lukas Bormann: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert. Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung, publiziert in dem Nachdruck des ThWNT, Darmstadt 2019, S. V– XXII; Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologie und »Judenforscher« Gerhard Kittel (Berichte und Studien 79), Göttingen 2020.

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»beobachten«, »kennenlernen«. Der Begriff Historie kommt also aus dem Griechischen und ist über das Lateinische in unsere modernen Sprachen gekommen.25 Das klingt im Deutschen etwas antiquiert und ist mehr im Englischen präsent als »history«. An der sprachlichen Verkürzung zu »story« blieb der Aspekt des Erzählens hängen. Αuch das deutsche Wort Geschichte trägt beides in sich, den Aspekt der Vergangenheit und den Aspekt des Erzählens.26 Historie ist also nicht einfach automatisch oder selbstverständlich da, sondern nur, sofern wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, diese wahrnehmen und dann in eine Erzählung gießen. Dies bleibt aber eine vorläufige Konstruktion in einer fragmentarischen und subjektiven Perspektive.27 Daher ist zwar dem Marburger Kirchengeschichtler Wolf-Friedrich Schäufele zuzustimmen, der in der Theologischen Literaturzeitung von 2014 unter dem Titel »Theologische Kirchengeschichtsschreibung als Konstruktionsaufgabe« auf genau dieses konstruktivistische Element hingewiesen hat.28 Allerdings möchte er das, wie er es nennt, affirmativ und apologetisch verstehen, sprich: Die Kirchengeschichte habe die apologetische Aufgabe, die Plausibilität der eigenen religiösen Tradition aufzuweisen. Sie solle den Beweis der Legitimität der Gegenwartsgestalt des evangelischen Christentums liefern und die innere Notwendigkeit und Berechtigung der geschichtlichen Entwicklung aufzeigen. Gerade dieser apologetische Aspekt ist allerdings problematisch und geht weit darüber hinaus, die Gegenwart und die eigene Identität zu verstehen. Die eigene Gegenwart apologetisch zu verteidigen, engt die Wahrnehmung ein und verhindert geradezu eine Zukunftsperspektive. Diese Absicht zementiert regelrecht die Gegenwart und verschließt sich gegenüber Änderungen und sowie eventuellen zukunftsfähigen Details. Ebenso einengend ist es, wenn man sich, wie er es vorschlägt, darauf beschränkt, nur das zu behandeln, was nachgewirkt habe, nicht jedoch Seitenwege, 25 Vgl. Christof Müller: Art. Historia, in: Augustinus Lexikon 3, Basel 2011, 366–377. 26 Vgl. im Grimm’schen Wörterbuch zu Historie (1873): »schon im mhd. aus dem lat. historia, in dem sinne von geschichtserzählung, bericht herübergenommen.« (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, verfügbar unter: https://www.woerterbuchne tz.de/DWB [abgerufen am 7. 2. 2022]). 27 Dies gilt auch für die andere Seite, die Verfasser der überlieferten historischen Quellen, was die historische Forschung zusätzlich vor Probleme stellt. Ein frühes, radikal-konstruktivistisches Beispiel sind die Martyrien, die eine Katastrophe (Hinrichtung) in ein Heilsereignis (Martyrium) umdeuten; s. Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders.: Zeitgeschichtliche Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, 27–77, hier 68–69: Eher die Besiegten werden genötigt, die Geschichte umzuschreiben. So wurde auch die Verfolgungsgeschichte zu einer Triumphgeschichte. 28 Wolf-Friedrich Schäufele: Theologische Kirchengeschichtsschreibung als Konstruktionsaufgabe. Ein Plädoyer, in: ThLZ 139 (2014), 831–850.

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nicht angebliche Sackgassen – das ist doch sehr ein Denken »in der Spur der Sieger«, und wer weiß, was für ein Erbstück aus der Vergangenheit, welches Detail, welche vermeintliche Sackgasse eine Karriere in der Zukunft haben wird. Wenn man sich auf die Entwicklung bis zur Gegenwart unter der Zielsetzung, diese als historisch legitim und unausweichlich nachzuzeichnen, beschränkt, beraubt man sich der Chance, auf neue Aufgaben und Veränderungen in der nahen Zukunft reagieren zu können. Oder man ist gezwungen, bei neuen Entwicklungen und Einsichten seinen Text umzuschreiben. So erging es nämlich oft denjenigen, die Kirchengeschichten in diesem Sinne verfasst haben, also den ureigensten Produkten meines Faches. Die überlieferten Kirchengeschichten und auch die Chroniken enden bekanntlich meistens in der Gegenwart des jeweiligen Verfassers oder kurz davor. Sie haben zwar kein abschließendes vorausdeutendes Kapitel über die kommende, noch ausstehende Zeit. Aber natürlich setzen die jeweiligen Darstellungen ein besonderes Ausrufezeichen an ihr Ende. Und dieses hat durchaus mit der jeweiligen Zukunft zu tun. Das gelingt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man in der geschichtlichen Entwicklung tatsächliche Entwicklungslinien zu erkennen meint, die auf die Gegenwart zulaufen und daher auch einen Ansatz ihrer Zukunft in sich tragen. So war es bereits bei der ersten Kirchengeschichte, die Eusebius von Caesarea verfasst hatte. Sie endet mit dem Aufstieg des Kaisers Konstantin zu Lebzeiten des Eusebius. Insgesamt betrachtet möchte Eusebius mit seinem Werk einer neuen Generation von Elite-Christen eine christliche Vergangenheit vermitteln, die besser zu den griechisch-römischen Sitten passt als die tatsächliche Vergangenheit. Gegen das Bild einer aus allen möglichen Gesellschaftsschichten kommenden neuen Religion beschreibt er daher die Geschichte der Ausbreitung des Christentums im Kontext der Elite des Römischen Reichs, vorgeführt anhand der Bischöfe, so dass mit Kaiser Konstantins Hinwendung zum Christentum eine konsequente Entwicklung zu einem vorläufigen Ende kommt.29 Eusebius konstruiert also eine Apologie seiner eigenen Gegenwart. Er beendet seine Kirchengeschichte mit einer wunderbaren Friedenszeit, die mit dem christlich gewordenen Kaiser Konstantin einsetzt und das Römische Reich christlich macht – solange die Kaiser rechtgläubige Christen bleiben und Häretiker und Barbaren bekämpfen, werde es den Christen und auch dem Römischen Reich gut gehen: 10,9,6 So lag Licinius niedergeschmettert am Boden. Konstantin aber, der mächtigste Sieger, ausgezeichnet durch jegliche Tugend der Gottesfurcht, nahm mit seinem Sohn Crispus, dem gottgeliebtesten Kaiser, der dem Vater in allem ähnlich war, den ihm zugehörenden Osten in Besitz und schuf so wieder nach alter Weise ein einziges und 29 Vgl. dazu jetzt James Corke-Webster: Eusebius and Empire. Constructing Church and Rome in the Ecclesiastical History, Cambridge 2019.

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einheitliches Reich der Römer, indem sie ringsum alle Lande des Erdkreises vom Aufgange der Sonne bis zum äußersten Westen samt dem Norden und Süden ihrem friedlichen Szepter unterwarfen. … 9 Da so alle Tyrannei beseitigt war, verblieb Konstantin und seinen Söhnen allein, fest und unangefochten, das Reich, das ihnen gehörte. Und diese tilgten zu allererst den Gotteshass aus dem Leben und zeigten, eingedenk des Guten, das sie von Gott erfahren, ihre Liebe zur Tugend und zu Gott und ihre Frömmigkeit und Dankbarkeit gegen die Gottheit durch Taten, die sie offen vor den Augen aller Menschen vollbrachten.30

Eusebius hat seine Gegenwart als eine Zeit des Sieges der Kirche über Juden und Heiden wahrgenommen und stand sicher noch unter dem Eindruck der Folgen der letzten, nun überstandenen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian (303–311 n. Chr.). In einer früheren Fassung der Kirchengeschichte war es allerdings Licinius, der Kaiser der Osthälfte des Römischen Reichs, der prominent platziert wurde; nach den sich überstürzenden Entwicklungen bis zum Sieg Konstantins über Licinius, was ihn zum Alleinherrscher machte, wurde die Geschichte etwas umgeschrieben. Es gibt in der Forschung eine lange Debatte über die verschiedenen Editionen der Kirchengeschichte des Eusebius, die von zwei bis zu vier verschiedenen Ausgaben reicht, was hier nicht zu entscheiden ist.31 Auf jeden Fall ist eine kontinuierliche Weiterarbeit des Eusebius an seinem Werk anzunehmen; vor allem die letzte Entwicklung des Sieges über Licinius hat er 30 Euseb, h.e. 10,9,6.9 (GCS 6,2 900,24–902,6.17–24 Schwartz/Winkelmann): (6) ἀλλ’ οὗτος μὲν ταύτῃ πῃ βεβλημένος ἔκειτο ὁ δ’ ἀρετῇ πάσῃ θεοσεβείας ἐκπρέπων μέγιστος νικητὴς Κωνσταντῖνος σὺν παιδὶ Κρίσπῳ, βασιλεῖ θεοφιλεστάτῳ καὶ τὰ πάντα τοῦ πατρὸς ὁμοίῳ, τὴν οι᾿κείαν ἑῴαν ἀπελάμβανον καὶ μίαν ἡνωμένην τὴν Ῥωμαίων κατὰ τὸ παλαιὸν παρεῖχον ἀρχήν, τὴν ἀπ’ ἀνίσχοντος ἡλίου πᾶσαν ἐν κύκλῳ κατὰ θάτερα τῆς οι᾿κουμένης ἄρκτον τε ὁμοῦ καὶ μεσημβρίαν ει᾿ς ἔσχατα δυομένης ἡμέρας ὑπὸ τὴν αὐτῶν ἄγοντες ει᾿ρήνην. … (9) οὕτω δῆτα πάσης τυραννίδος ἐκκαθαρθείσης, μόνοις ἐφυλάττετο τὰ τῆς προσηκούσης βασιλείας βέβαιά τε καὶ ἀνεπίφθονα Κωνσταντίνῳ καὶ τοῖς αὐτοῦ παισίν, οἳ τῶν πρόσθεν ἁπάντων ἀποσμήξαντες τοῦ βίου τὴν θεοστυγίαν, τῶν ἐκ θεοῦ πρυτανευθέντων ἀγαθῶν αὐτοῖς ᾐσθημένως τὸ φιλάρετον καὶ θεοφιλὲς τό τε πρὸς τὸ θεῖον εὐσεβὲς καὶ εὐχάριστον δι’ ὧν ει᾿ς προῦπτον ἅπασιν ἀνθρώποις παρέσχον ὁρᾶν, ἐπεδείξαντο. Übersetzung von Philip Haeuser (1932) und H.A. Gärtner (1967) in der Studienausgabe: Euseb von Caesarea, Kirchengeschichte, Darmstadt 1997, 441. 31 Eine gute Zusammenfassung der Diskussion bei Webster (s. Anm. 29), 57–65; vgl. Timothy D. Barnes: The Editions of Eusebius’ Ecclesiastical History, in: GRBS 21 (1980), 191–201 (vier Ausgaben zwischen 280 und 324); Richard Burgess: The Dates and Editions of Eusebius’ Chronici Canones and Historia Ecclesiastica, in: JThS 48 (1997), 471–504 (drei Ausgaben zwischen 313 und 325); Matthieu Cassin u. a.: La Question des éditions de l’Histoire ecclésiastique, in: Sébastien Morlet/Lorenzo Perrone (Hg.): Eusèbe de Césarée. Histoire ecclésiastique. Commentaire, Tome 1: Études d’introduction. Anagôgê, Paris 2012, 185–207; Aaron P. Johnson/Jeremy Schott (Hg.): Eusebius of Caesarea. Traditions and Innovations (Hellenic Studies 60), Cambridge, MA 2013; Richard Laqueur: Eusebius als Historiker seiner Zeit (Arbeiten zur Kirchengeschichte 11), Berlin 1929 (drei Ausgaben zwischen 303 und 324); Andrew Louth: The Date of Eusebius’ Historia Ecclesiastica, in: JThS 41 (1990), 118–120 (nicht vor 303); Eduard Schwartz: Art. Eusebius, in: PWRE 6, Stuttgart 1907, 1370–1439 (vier Ausgaben zwischen 311 und 324).

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berücksichtigt, so dass die überlieferte Schlusspassage diejenige ist, die zu der letzten veröffentlichten Fassung gehört. Das zeigt exemplarisch die Grenzen in der Ästhetik des Historischen: Sie ist fragmentarisch, subjektiv, konstruktivistisch, korrekturbedürftig und doch sehr irdisch – auch wenn Eusebius gerade das Gegenteil beabsichtigt hatte: eine universale objektive Darstellung des heilsamen Wirkens Gottes bzw. seines Logos/Wortes in der christlichen Kirche im Römischen Reich. Das ist überdies ein bleibendes, grundsätzliches Problem und nicht auf diese vormodernen Kirchengeschichten aus der Spätantike beschränkt. Neue große mehrbändige Gesamtdarstellungen wurden bekanntlich seit der Aufklärungszeit im 18. und besonders im 19. Jahrhundert verfasst.32 Der Professor für Kirchengeschichte und Dogmatik in Jena, Karl von Hase (1800–1890), hatten den Anspruch, diese neuen Erkenntnisse als knappe Zusammenfassung in ein Lehrbuch für den Universitätsbetrieb zu überführen und bis in seine Gegenwart fortzuführen. Sein »Lehrbuch für akademische Vorlesungen« hat er daher seit der ersten Auflage 1834 in den zehn weiteren Auflagen aktualisieren müssen, um die spätere Gegenwart jeweils mit einzubeziehen.33 Mit Karl von Hase ist die Zeit des Historismus erreicht, als Debatten darüber geführt wurden, wie Geschichtsdarstellungen zu konzipieren und ob überhaupt große Entwicklungslinien erzählbar sind. Für von Hase zeige die historische Forschung deutlich, dass die Reforma32 Vgl. exemplarisch die Gesamtdarstellung von Wilhelm Münscher (1766–1814): Lehrbuch der christlichen Kirchengeschichte. Zum Gebrauche bey Vorlesungen ausgearbeitet (1804), 2. Auflage Marburg 1815; oder als umfassendes Werk des Johann Matthias Schröckh, dem aus Wien stammenden Professor in Wittenberg (1733–1808), seine »Christliche Kirchengeschichte« in 45 Bänden, der ausdrücklich feststellt, die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte diene der Überprüfung der Wahrheit der Religion bzw. Konfession: Wenn die Geschichte gesprochen habe, sei klar, was wahr ist. Sein früheres Werk »Historia religionis et ecclesiae christianae« von 1777 wurde unter Kaiser Joseph II. auf den erbländischen Universitäten Habsburgs als Lehrbuch eingeführt (1786) mit der Weisung an die hiesigen katholischen Kirchenhistoriker, die dort enthaltenen Aussagen, die der katholischen Lehre widersprechen, zu widerlegen (s. G. Frank, »Schröckh, Johann Matthias«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 32, 1891, 498–501, verfügbar unter: https://www.deutsche-biographie.de /pnd118761803.html?language=de#adbcontent [abgerufen am 6. 2. 2022]). Vgl. zu Schröckh nun Dirk Fleischer: Urchristentum, Reformation und Aufklärung. Zum Selbstverständnis des Wittenberger Historikers Johann Matthias Schroeckh, in: Albrecht Beutel u. a. (Hg.): Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche in der Aufklärungszeit (AKThG 14), Leipzig 2006, 269–281; ders.: Kirchengeschichte als Wissenschaft. Zur geschichtstheoretischen Theoriebildung von Johann Matthias Schroeckh, in: Johann Matthias Schroeckh: Kirchenhistorik oder Einleitung in die christliche Kirchengeschichte (1772), hrsg. von Dirk Fleischer, Bautz/ Nordhausen 2015, 7–34. 33 Karl von Hase: Kirchengeschichte. Lehrbuch für academische Vorlesungen, Leipzig 1834 (1. Auflage); 21836, 31837; 41841; 51844; 61848; 71854; 81858; 91867; 101877; 111886. Vgl. die ausgezeichnete Studie von Magdalena Herbst: Karl von Hase als Kirchenhistoriker (BHT 167), Tübingen 2012, die Hases Werk als »Spitzenleitung der Kirchengeschichtsschreibung« würdigt (404). Auf S. 96–100 sowie S. 415–416 stellt sie kurz die verschiedenen Auflagen vor.

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tion ein notwendiger Schritt in der Entwicklung der christlichen Religion gewesen sei, aber natürlich nicht die vollkommene Kirche darstelle oder realisiere. Kirche sei immer im Werden. Dahinter steckt sein Verständnis vom Protestantismus als Prinzip34: Die protestantische Identität bestehe, in Anlehnung an Schleiermacher35, eben nicht in einer Hingabe des Einzelnen an die allein seligmachende Kirche, sondern in der persönlichen unmittelbaren Hingabe, durch die Bibel und Heiligen Geist vermittelt, an Gott. So sei die Reformation ein notwendiger Kampf gegen die Behauptung der bestehenden Kirche, unfehlbar und allein seligmachend zu sein, allerdings gleite auch die protestantische Kirche immer wieder in diesen Fehler ab. Auf die lange Sicht hin findet er in der Geschichte aber die Bestätigung für die Wahrheit dieses Prinzips und bindet überdies apologetisch den zeitgenössischen Neuprotestantismus an die Reformation als nächsten notwendigen historischen Entwicklungsschritt an.36 So bietet er trotz aller differenzierten Quellenkritik dennoch eine quasi idealistische Deutung der Gesamtgeschichte, auch wenn ihm das »protestantische Prinzip« einen gewissen Spielraum eröffnete, bei neuen Entwicklungen flexibel zu bleiben. In der Schlusspassage seines Lehrbuchs in der 11. Auflage erklärt er fast schon pathetisch die Genfer Konvention von 1864 sowie den aus der Quäkerbewegung hervorgehenden Kongress der Friedensfreunde (1843) als Aufscheinen des Gottesfriedens.37 34 Vgl. bereits in seinem Lehrbuch in erster Auflage, § 448, S. 453–454: »Der Protestantismus als Princip«. 35 Vgl. Schleiermachers Beschreibung des Unterschieds zwischen Katholizismus und Protestantismus in seiner Glaubenslehre § 24: »Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Missbräuchen war, sondern eine eigentümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, dass ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältnis zur Kirche.« 36 Vgl. im Lehrbuch in der 11. Auflage in § 459 auf S. 733: »Zum Protestantismus führen zwei Wege; jenes Gefühl, dass einst die Reformatoren bewegte, die Angst der Sünde …, oder die Entwicklung religiöser Selbständigkeit …; jenes führte zum alten, dieses zum neuen Protestantismus.« 37 Von Hase, Lehrbuch, 11. Auflage, 743: »… ist aus amerikanischen Quäkervereinen (s. 1815) ein Congress der Friedensfreunde entstanden (s. 1843), welche die Kosten des bewaffneten Friedens für den Abgrund des europäischen Volkswohlstandes und den Krieg für unzulässig nach den Vorschriften des Christenthums erklärend, alle Streitigkeiten der Staaten unter einander durch schiedsrichterliche Sprüche zur friedlichen Ausgleichung bringen wollen. Die Declamation dieser Congresse samt Elihus [gemeint ist der Quäker Elihu Burritt; U.H.] ist zum Gespött geworden, Christus hat auch das Schwert in die Welt gebracht; dennoch wird das Evangelium zugleich mit der steigenden Civilisation, trotz all ihrer eignen Verführungen und Gefahren, nie aufhören dem Ideale dieses Gottesfriedens als einem heiligen Bunde der Völker nachzutrachten; das tausendjährige Reich, das von Jahrtausend zu Jahrtausend immer nur kommt.«

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Der Nutzen und Nachteil dieser Werke ist offensichtlich: Einerseits verdanken wir bis heute dem Fleiß dieser Autoren viel, andererseits ist die darin verwobene Deutung und implizite Perspektive auf die Zukunft schnell überholt, gerade eben aufgrund der bereits beschriebenen fragmentarischen, subjektiven und konstruktivistischen Ästhetik des Historischen. Um Reinhart Koselleck zu zitieren: Wir müssen also mit dem Paradox umzugehen lernen, dass eine Geschichte, die sich im Verlauf der Zeit erst generiert, immer noch eine andere ist als jene, die rückwirkend zu einer ›Geschichte‹ erklärt wird. Hinzu kommt, dass diese Differenz immer wieder aufbricht. Denn jede einmal wissenschaftlich rekonstruierte Geschichte bleibt ein Vorgriff auf Unvollkommenheit, weil die wirkliche Geschichte weitergeht. Die Differenz zwischen jener Geschichte, die sich in Wirklichkeit von Situation zu Situation ständig ändert, und jener Geschichte, die wissenschaftlich vorübergehend fest- oder stillgelegt werden, enthält also eine unlösbare Paradoxie. Denn die Differenz zwischen der wirklichen und der gedeuteten Geschichte reproduziert sich ständig aufs neue.38

Die Ästhetik des Historischen weist also auf die notwendige Voraussetzung, das Gewordene der Gegenwart erst einmal wahrzunehmen. Das eröffnet erst die Möglichkeit, eine reflektierte und distanzierte – nicht eine affirmativ apologetische, wie Schäufele anstrebt – Perspektive zum Gegebenen zu entwickeln und überhaupt die Freiheit zum Verändern zu erhalten. Allerdings bleibt das fragmentarisch und subjektiv und konstruktivistisch und sagt noch nichts über die Zukunft aus – das ist also der Nachteil bzw. die Grenze der Ästhetik des Historischen. Das Fach Kirchengeschichte, das sich professionell mit der Vergangenheit beschäftigt, ist also in einem direkten Sinn keine Zukunftswissenschaft, verfügt sozusagen nicht über prophetische Gaben. Und der Blick in die Vergangenheit auf frühere Versuche aus der Apokalyptik, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, sowie auf die Geschichtswerke seit der Spätantike bestätigt die Vorsicht, etwas zur Zukunft sagen zu können. Die Ästhetik des Historischen ist hier bescheidener, geht vom subjektiven, fragmentarischen und irdischen der Erfassbarkeit der Historie aus. Aber gerade trotz dieser Einschränkungen, oder unter Wahrnehmung dieser, ist historische Forschung notwendig, um vielleicht aus der Vergangenheit lernen, die Gegenwart verstehen und über die Gegenwart hinauswachsen zu können. Die Historie ist allerdings zusätzlich noch gegen ihren Missbrauch zu schützen. Hierzu ist ein Werk hilfreich, dem auch der Titel des Beitrags entlehnt ist:

38 Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2014, 9–31, hier 19f. Vgl. auch ders.: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders.: Zeitgeschichtliche Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, 27–77.

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Nutzen und Nachteil der Historie – Nietzsches Warnung vor Missbrauch

Es handelt sich um »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von Friedrich Nietzsche aus dem Jahr 1873.39 Nietzsche schrieb hier mitten in der Hochzeit des sogenannten Historismus, als die Geschichtswissenschaft zur gesamtuniversitären Leitdisziplin wurde, und in der auch Karl von Hase seine Werke verfasste. Nietzsche war es, der hier erstmals massive Kritik an einem modernen Konzept von Entwicklungslinien übte. Im Grunde schrieb er gegen mehrere Fronten an: Er distanzierte sich erstens von der Religion, genauer dem Christentum mit seiner Fokussierung auf das Jenseits oder das Ende des Lebens, als lebensfeindlich und erdrückend: Eine Religion, die von allen Stunden eines Menschenlebens die letzte für die wichtigste hält, die einen Schluss des Erdenlebens überhaupt voraussagt und alle Lebenden verurteilt, im fünften Akt der Tragödie zu leben, regt gewiss die tiefsten und edelsten Kräfte auf, aber sie ist feindlich gegen alles Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren; sie widerstrebt jedem Fluge ins Unbekannte, weil sie dort nicht liebt, nicht hofft; sie lässt das Werdende sich nur wider Willen aufdrängen, um es zur rechten Zeit als einen Verführer zum Dasein, als einen Lügner über den Wert des Daseins beiseite zu drängen oder hinzuopfern. (258)

Dafür bieten natürlich die erwähnten Apokalypsen reichlich Anschauungsmaterial. Er kritisierte zweitens die Neuauflage dieser christlichen Geschichtsanschauung durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und seine Epigonen wie Eduard von Hartmann: Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelschen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen, so dass für Hegel der Höhepunkt und Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen. (262) 39 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, München 1954, hier in Band 1 auf den S. 209–287. S. o. Anm. 19. Auch wenn hier der Beitrag von Nietzsche nur als Anregung genommen wird wie in vielen anderen Publikationen (eine Recherche zu »Vom Nutzen und Nachteil der Historie …« ergab mehr als 20 Treffer zu verschiedensten Beiträgen von Technikfolgenabschätzung bis hin zu Wiener Ringstraßenbauten; s. auch unten Anm. 40), sei zur Information verwiesen auf: Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon, Darmstadt 2009, 2. Auflage 2011; Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2000, sowie die Biographie von Sabine Appel: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist. Eine Biographie, München 2011. Über die vielfache Rezeption dieses Werkes vgl. Dieter Borchmeyer (Hg.): »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt am Main 1996.

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Und drittens wandte er sich gegen den Historismus als Leitwissenschaft, die dazu geführt habe, dass der moderne Mensch eine ungeheure Menge von unverdaulichem Wissen als Last mit sich herumschleppe. Er richtete sich gegen den Anspruch eines Leopold von Ranke zum Beispiel, gegen das Streben nach Objektivität (238), gegen die »Macht der Fakten«, die Fixierung des Faktischen, des Gangs der Geschichte als ein Muß (265) und das Selbstverständnis der Gegenwart als Ziel- und Endpunkt der Geschichte. Diese Frontstellungen sind nicht mehr aktuell, auch ist die Zielrichtung seines Werkes aus heutiger Perspektive zu hinterfragen, und zwar seine grundsätzliche Wissenschaftskritik, aufgezogen an seiner Kritik am Historismus, und seine fragwürdige Betonung der »Lebenskraft« der Jugend, die nicht durch die Last der Historie gebändigt werden solle. Aber seine Diagnose von drei Herangehensoder Umgangsweisen mit der Historie, die je für sich genommen auf ein Problem hinweisen, sind nach wie vor interessant und ergänzen die bisherigen Ausführungen zur Ästhetik des Historischen. Diese Umgangsweisen betreffen sowohl die Methodik als auch die Absicht, sich mit Historie zu beschäftigen; es sind sozusagen drei Verführungen oder Gefahren: nämlich die monumentalische, die antiquarische und die kritische.40 Wenn alle drei Herangehensweisen ineinandergreifen, kann sogar etwas Gutes dabei herauskommen. Wird einer der Ansätze einseitig überbetont, so verliert die Beschäftigung mit der Historie ihren Nutzen und entwickelt sich zu ihrem Nachteil.

3.1

Monumentalisch

Monumentalisch ist dasjenige oder derjenige, der einen Platz auf einem Monument bekommt: Es meint die Suche nach Vorbildern, Lehrern, Tröstern, nach dem Großen, sozusagen die Leuchttürme der Vergangenheit, und zwar getrieben von der Suche nach ebensolchem Ruhm, um selbst im Tempel der Historie aufgenommen zu werden. Dahinter steht (220) »der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit.« Wer so die Geschichte betrachtet, der »entnimmt daraus, dass das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird.« 40 Vgl. auch Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: ZThK 94 (1997), 84–110, der auf S. 95–102 ebenfalls diese drei Aspekte als »Strukturtypen kirchenhistorischer Arbeit« (95), allerdings in abgewandelter Form, heranzieht: monumentalisch als identitätsstiftend, archivarisch als langweilige historische Fleißarbeit, kritisch als theologische Bescheidenheit, die trotzdem zu christlichem Handeln befreie.

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

267

Abb. 4: Zwei der vier marmornen Kaiserstatuen (17. Jh.) des ehemaligen festlichen Alabastersaals des Berliner Schlosses, nun im Humboldtforum: Cäsar, Konstantin der Große (274–337, mit einem das Kreuz tragenden Kind), Karl der Große (747–814) und Rudolf I. als Begründer der vier Weltreiche, in deren Tradition das Hl. Römische Reich dt. Nation verstanden wurde. Foto Uta Heil 2021

(220) »Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit und den Begeisterten zum Fanatismus« (222) Das funktioniere aber nur, wenn »der wahrhaft geschichtliche Connexus von Ursache und Wirkungen, der, vollständig erkannt, nur beweisen würde, dass nie wieder etwas durchaus Gleiches bei dem Würfelspiel der Zukunft und des Zufalls herauskommen könne« (222), ignoriert werde. Daher »leidet die Vergangenheit selbst Schaden, große Teile daraus werde vergessen, verachtet, nur einzelne geschmückte Fakta heben sich als Inseln heraus.« (222)

268

Uta Heil

Dies ist Heldengeschichte, oft realisiert als Auftragsgeschichte. Als Heldengeschichte wurden auch viele Lutherjubiläen gefeiert. Geschichtsforschung in diesem Sinne ist leider ein Missbrauch der Geschichte und dient gerade nicht dem Lernen aus der Geschichte. Das jeweils unwiederholbare historisch Einmalige wird reduziert und dem eigenen Wunschdenken angepasst. Ähnlich wie im Umgang mit der Bibel ein eklektischer Umgang kritisiert wird, wenn nur eine Suche nach dicta probantia erkennbar ist, so ist eine Geschichtsschreibung abzulehnen, die nur nach Helden und bekannten Vorbildern gesucht, aber anderes außer Acht lässt. Das Monumentalische gibt es auch in Negativform, etwa wenn die Wiederkehr eines ewigen Feindbildes evoziert wird wie der ewig wandernde Jude oder das bis heute wiederholte Stereotyp einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung.41

3.2

Antiquarisch

Gegen das rein Monumentalische hilft der antiquarische Ansatz; dieser birgt aber ebenfalls eine Einseitigkeit: Mit diesem antiquarischen Ansatz wird das von alters her Bestehende gepflegt, bewahrt für die, die nachher kommen, und zwar alles, nicht nur die Heldengeschichte. Gemeint sind bei Nietzsche natürlich besonders die historischen Leistungen des 19. Jahrhunderts mit ihren Entdeckungen und Editionen. Allerdings werde hier alles gleich wichtig genommen (226). Beschrieben wird der Historiker/die Historikerin sozusagen im status confessionis: Nichts ist unwichtig, nichts darf aufgegeben oder vernachlässigt werden. Aber das hat nicht erst Nietzsche beklagt, sondern bereits Karl von Hase schrieb im Vorwort seines oben erwähnten Lehrbuchs in der ersten Auflage von 1834 (S. VI): »Wir haben uns aber mit einer Menge todtgeborener Kleinigkeiten herumgetragen. Wenigstens den Studenten, was soll es ihnen nützen, alle Nebenpersonen eines Ereignisses nennen zu können, alle Namen der Synoden, auf denen nichts beschlossen worden ist, der Päpste, die nicht regiert, und der Schriftsteller, die nichts geschrieben haben.« Und in der Detailversessenheit gehe der Sinn für das

41 Als eine Neuauflage des monumentalischen Zugriffs auf Geschichte lässt sich das einordnen, was der us-amerikanische Historiker James H. Sweet als »Präsentismus« kritisiert (Is History History? Identity Politics and Teleologies of the Present, in: Perspectives on History [Aug 2022; Columne im Newsmagazin of the American Historical Association online: https:// www.historians.org/publications-and-directories/perspectives-on-history/september-2022/i s-history-history-identity-politics-and-teleologies-of-the-present (abgerufen am 1. 9. 2022)]): Gegenwärtig werde mit einer nur selektiven Wahrnehmung der Vergangenheit eher eine politische Agenda der Gegenwart verfolgt als historische Forschung betrieben, was zu einer ahistorischen Gleichsetzung der Vergangenheit mit der Gegenwart führe.

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

269

Ganze verloren. Wie sehr die bis in die Gegenwart noch weiter entwickelte Spezialisierung das befördert, ist offensichtlich. Die Gefahr bzw. das Einseitige des Antiquarischen besteht ferner darin, sich in einer Epoche zu verlieren, diese zu glorifizieren und als Maßstab für alles weitere zu betrachten – also ein Beharren im Vergangenen, was sich der Gegenwart verschließt und nichts Neues zulassen, sondern Altes bewahren möchte. Gemeint ist also ein Konservatismus im negativen Sinne, der etwas Neues, Werdendes ablehnt und daher eigentlich nicht nur konserviert, sondern mumifiziert.

3.3

Kritisch

Gegen diese beiden je auf ihre Art verkürzenden, einseitigen Herangehensweisen hilft die kritische. Gemeint ist nicht eine noch ausgefeiltere historische Kritik – das ist ja im Gegenteil zu begrüßen –, sondern eine Haltung der kritischen Distanz, die auch mit der Möglichkeit einer Überwindung der Vergangenheit und mit Neuerungen rechnet. Das kann natürlich nicht eine Auslöschung der Vergangenheit meinen; da »wir nun mal Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer« (229). Genau darin liegt wiederum eine Gefahr des Leugnens der Vergangenheit, weil man angeblich nichts mehr damit zu tun habe – so wie es Stimmen gibt, die die Erinnerung an den Holocaust endlich »überwinden« wollen. Selbstverständlich ist nicht alles an der Vergangenheit bewahrenswert, aber gerade deswegen muss mit einer kritischen Distanz die Erinnerung daran bewahrt und nicht übergangen werden. Beschrieben wurden bisher verschiedene Herangehensweisen an die Geschichte und relevante Reflexionsaspekte darüber. Geschichte ist notwendig, um die Gegenwart und die eigene Identität zu verstehen und um aus der Geschichte zu lernen. Voraussetzung dafür ist allerdings, das Gewordene der Gegenwart erst einmal wahrzunehmen. Die Ästhetik des Historischen ist aber begrenzt, da es um die Wahrnehmung des Irdischen, die subjektiv, fragmentarisch und konstruktivistisch bleibt, geht. Die Hinwendung zum Historischen birgt daher die monumentalische Gefahr, sich nur die Helden vorzunehmen oder sozusagen die Rosinen herauszupicken, etwa »Sternstunden« der Christentumsgeschichte. Auch die Entwicklung bis zur Gegenwart als historisch legitim und unausweichlich darstellen zu wollen (839), wie Schäufele es empfahl, birgt den monumentalischen Fehler. Es ist die Gefahr, obwohl es sich um Irdisches handelt, doch in der Geschichte nach dem Göttlichen, nach den »göttlichen« Helden zu suchen. Dagegen hilft das antiquarische Studium der Geschichte inklusive seiner Nebenwege und vermeintlichen Sackgassen, auch wenn dieses dazu verleitet, sich zu sehr mit einer Person oder Epoche der Vergangenheit zu identifizieren oder

270

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diese zu verherrlichen, so dass die Gegenwart verloren geht. Das Geschichtsstudium bleibt fragmentarisch und subjektiv, auch bei noch so intensivem Studium der Quellen. Daher ist eine bleibende kritische Distanz nötig, ohne so weit zu gehen, dass die Vergangenheit einen nicht mehr betreffe. Der Hinweis auf das konstruktivistische Element der Geschichtsdarstellung sollte nicht dazu verleiten, sozusagen alles hinzuwerfen und im Stil der Postmoderne alles zu relativieren. Im Gegenteil: Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen und Gefahren ist erst recht bzw. überhaupt erst ein Studium der Geschichte möglich. Es ist herausfordernd, aber für eine zukunftsfähige Theologie dringend notwendig.

Abb. 5: Unsichere Zukunft – Jesu Einzug in Jerusalem, Kapitell im Klostergang von St. Trophime, Arles. Foto Uta Heil 2018

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine Theologie der Zukunft

4

271

Schluss

In diesem Beitrag wurden Selbstverständlichkeiten, die das Fach Kirchengeschichte betreffen und in eine theologische Enzyklopädie gehören, ausgespart. Vorausgesetzt ist also, dass die Methodik im Fach die der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist, also die historische Kritik mit ihren Verfeinerungen und zusätzlichen Fragestellungen aus der Literaturwissenschaft, der Genderforschung, der Sozialgeschichte etc. Selbstverständlich ist auch, dass die Kirchengeschichte nicht ein Segment aus der allgemeinen Geschichte behandelt, sozusagen ein Teilstück vom Kuchen, sondern den Kuchen insgesamt, nur unter eben eigenen Fragestellungen. Selbstverständlich ist daher der Gegenstand des Faches die Geschichte der »Inanspruchnahme des Christlichen«, um einen weit gefassten Begriff von Albrecht Beutel aufzugreifen.42 Und über die Geschichte der theologischen Teildisziplinen wie der Religionspädagogik, der Homiletik, der Exegese, der Dogmatik, der Ethik ist das Fach Kirchengeschichte ein Netzwerk, in dem sich die gesamte Theologie wiederfindet, wie auch eben alle Aspekte des christlichen Lebens und Denkens in der Geschichte begegnen.43 Der Beitrag ging darüber hinaus und fragte nach der Zukunft der Theologie und was die Kirchengeschichte dazu beitragen könnte. Was ist also der Nutzen davon, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, diese zu erforschen und darzustellen? Gemeint ist hier nicht der Nutzen in dem Sinn, wie ihn gegenwärtig Hochschulleitung einfordern würden, um die Statistik der eingeworbenen Drittmittel aufzufüllen, oder wie ihn vielleicht Verlage erwägen, wenn sie auf der Suche nach Büchern sind, die besonders bei historischen Jubiläen guten Absatz versprechen, sondern es wurde über diesen werbestrategischen Nutzen hinaus grundsätzlich nach dem Nutzen von Historie gefragt. 42 Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: ZThK 94 (1997), 84–110, hier 88. 43 Vgl. zu diesen Aspekten die Reflexionen in: Stefanie Frost u. a. (Hg.): Streit um Wahrheit. Kirchengeschichtsschreibung und Theologie (Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie), Göttingen 2014; Wolfram Kinzig u. a. (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Konzeption von Kurt Nowak (AKThG 15), Leipzig 2004; Volker Leppin: Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer. Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher Religion, in: Markus Buntfuß/Martin Fritz (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive (Theologische Bibliothek Töpelmann 164), Berlin/Boston 2014, 69–93; Christoph Markschies: Kirchengeschichte theologisch – einige vorläufige Bemerkungen, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 47–75; Klaus Tanner (Hg.): Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung, Trutz Rendtorff zum 24. 01. 2006 (Theologie – Kultur – Hermeneutik 9), Leipzig 2008; Martin Wallraff: Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Theologie und Kulturwissenschaft, in: VF 54 (2009), 55–63.

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Uta Heil

Der Begriff Ästhetik des Historischen soll hier die Möglichkeiten und Grenzen sowie Gefahren zusammenfassen. Unter den genannten Voraussetzungen und mit diesen Einschränkungen hilft die Ästhetik des Historischen, die Gegenwart zu verstehen und eventuell aus Fehlern zu lernen. Die Vergangenheit ist sowieso gegenwärtig und fordert heraus. Zukunftsfähig ist die Theologie aber nur, wenn sie gerade nicht die Entwicklung bis zur Gegenwart verteidigt und bestätigt. Wer weiß schon, wie die Geschichte weiter gehen wird? Was relevant sein wird in naher Zukunft (wie zu Beginn gefragt)? Historische Forschung hilft auch nicht, wenn man sich sozusagen nur die Rosinen rauspickt – das war die monumentalische Gefahr; es dient überdies meist dazu, die eigene Perspektive zu loben. Gerade in der Gegenwart gibt es große Unsicherheiten, Veränderungen, Krisen, Erschütterungen, Umbrüche. Eine Erneuerung der Apokalyptik hilft hier aber auch nicht weiter, wie schon angesprochen. Was bedeutet das nun, welche Konsequenzen sind zu ziehen? Um dem Missbrauch zu entkommen, ist nur anlasslose Grundlagenforschung hilfreich, die nicht gleich instrumentalisiert wird oder rein interessegeleitet angesetzt ist. Das Ergebnis ist sonst schnell überholt. Denn wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass wir Kunsthistoriker benötigen, die zugleich mit historischen Werkzeugen wie Archivstudien vertraut sind, um Provenienzforschung betreiben zu können? Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass Pandemiegeschichte so in den Vordergrund rücken könnte? Wer hätte vor dem 24. 2. 2022 gedacht, dass das Thema »Krieg« wieder auf der Tagesordnung steht und christlichen Pazifismus herausfordert? Historische Forschung, auch im Fach Kirchengeschichte, wird natürlich durchaus als Auftragsarbeit betrieben – aber wirklich zukunftsfähig wird Theologie (und Kirche) nur, wenn es nicht dabei stehen bleibt. Die Kirchengeschichte sollte zwar nicht überschätzt werden (auf die Grenzen wurden im ersten Teil hingewiesen), sie sollte aber auch nicht missbraucht werden (darauf wurde im zweiten Teil hingewiesen) – unter diesen Vorzeichen kann die Erforschung der Geschichte des Christentums die Ästhetik des Historischen erweitern und so die Theologie zukunftsfähig machen. Auch wenn man nie weiß, was kommen wird. Oder besser gesagt: gerade weil man nie weiß, was kommen wird!

Christian Danz

Die Religion der Menschen und der Gott der Dogmatiker. Zur Zukunft der Systematischen Theologie

Abstract What does systematic theology refer to? Even today it is still disputed whether its object is God or religion. Only a conception that overcomes this contradiction can lead beyond this unsatisfactory controversy, which has driven systematic theology into academic marginalization. Against the background of the historical development of theology in the 20th century, this article elaborates such a conception of systematic theology, which understands its work on the concept of God as a further development of the concept of religion.

In seinem Roman Selbst lässt Thomas Meinecke die Leserinnen und Leser an den Diskursen des fiktiven Personals einer Frankfurter WG über die Konstruktion von Identitäten teilnehmen. Neben Geschlechteridentitäten geht es in den Debatten der Bewohner auch um Religion. Diese wird in Auseinandersetzung mit Jean-Luc Nancys Buch Noli me tangere ins Spiel gebracht.1 Seine Deutung der Begegnung des auferstandenen Christus mit Maria Magdalena nehmen die Protagonisten jedoch nicht nur im Zitat auf, sie führen sie auch weiter. Zwischen Eva, der Nancy lesenden WG-Bewohnerin, und ihrem Freund Henry entwickelt sich der folgende Dialog über ihre Lektüren des französischen Phänomenologen. Und das Ganze glaubt sich aus der Perspektive des Atheisten verfasst, sagt Henri. Wie bei Passolinis Matthäus-Evangelium, das ja auch in der minutiös ikonographisch emulierten, den Spielfilm erschütternd eröffnenden, eher Glauben bildenden denn solchen zersetzenden Verkündigungsszene brilliert. Nancy schätzt das Christentum als jene Religion, die ihre Erfüllung ausgerechnet in Gottes Tod findet (Dekonstruktion des Christentums). Das lässt sich so nicht festhalten, glaubt Eva, Gott war ja nur vorübergehend tot (Karsamstags-Theologie).2

Woran erkennt man, ob Texte, Aussagen, Zeichen religiös sind oder Religion meinen? Wir können jetzt getrost die Nancy-begeisterten Bewohner der Frank-

1 Vgl. Jean-Luc Nancy: Noli me tangere, Zürich 2008. 2 Thomas Meinecke: Selbst. Roman, Berlin 2016, 62.

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Christian Danz

furter WG ihre Diskurse selbst weiterführen lassen und brauchen sie nicht weiter zu beobachten.3 Ihr Umgang mit Nancys Christentumsdeutung sollte uns nur das Problem vor Augen führen, wie man in der Kommunikation Religion identifizieren kann. Ist es der Inhalt der Zeichen oder das, was sie darstellen, an dem Religion kenntlich wird, also die Repräsentationen des Absoluten? Oder ist es etwas anderes, bestimmte Erfahrungen, aus denen Religion und ihre Artikulation entspringt? Ob es zu den Aufgaben einer Systematische Theologie gehört, auf die Frage, was Religion sei, eine Antwort zu geben, ist in ihr selbst umstritten. Sie habe es nämlich nicht mit Religion zu tun, sondern mit Gott. Diese aus der Außensicht kaum nachvollziehbare Auffassung, dass sich die Systematische Theologie nicht mit Religion befasse, hängt mit ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert zusammen. Die protestantische Theologie der ersten Hälfte dieses Säkulums behauptete einen strikten Gegensatz von menschlicher Religion und Gott. Dieser sei allein Gegenstand der Theologie und nicht die menschlich-allzumenschliche Religion. Auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts beherrscht diese Entgegensetzung noch die Selbstverständigungsdebatten des Fachs. Konstruktiv kann man solche endlosen Beschwörungen einer vermeintlichen Sache der Theologie einerseits und der Religion sowie ihrer lebensdienlichen Funktion andererseits wohl kaum nennen. Kein Wunder, dass der Systematischen Theologie schon innerhalb der akademisch betriebenen Theologie kaum noch jemand zutraut, einen sinnvollen Beitrag zu den vielfältigen Religionsdebatten der Gegenwart zu leisten.4 Blickt man sich in Publikationen von praktischen Theologinnen und Theologen, von Religionspädagoginnen und Religionspädagogen um, dann stellt man fest, dass für deren Religionsbeschreibungen die Systematische Theologie kaum noch eine Rolle spielt. An ihre Stelle sind längst schon Sozial- und Kulturwissenschaften getreten, da von diesen Wissenschaften ein viel angemessener Zugriff auf Religion erwartet wird als von der Dogmatik und ihrer Fixierung auf die theologische Lehre und das Dogma. Aber warum sollen Sozial-, Kultur- oder Religionswissenschaften einen angemesseneren Zugang zur Religion haben als eine Systematische Theologie? Damit ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt. Systematische Theologie – so die These – ist als Wissenschaft von der christlichen Religion auszuarbeiten. Ihre Aufgabe muss es sein, die Entgegensetzung von Religion und Gott zu überwinden, die die Debatten des Fachs im 20. Jahrhundert beherrschte und sie ins akademische Abseits taumeln ließ. Systematische Theologie ist weder 3 Zu Thomas Meineckes Roman Selbst vgl. Christian Danz: »Ich als Text«. Beobachtungen zur Konstruktion von Selbstbildern in Thomas Meineckes Roman Selbst, in: ders./Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Verlust des Ichs in der Moderne? Erkundungen aus literarischer und theologischer Perspektive, Tübingen 2018, 205–219. 4 Vgl. Falk Wagner: Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 230.

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der Ort der Wahrheit der christlichen Religion noch ihr Ausfluss in die Wissenschaft hinein, sondern sie beschreibt das innere Funktionieren der christlichen Religion aus der Sicht der Glaubenden. Nur so kann Systematische Theologie Wissenschaft in einem universitären Sinne sein. Sie wäre schlecht beraten, wenn sie diesen Anspruch aufgeben würde. Und nur auf diese Weise bleibt die Systematische Theologie eine normative Wissenschaft, die sich von anderen religionsbezogenen Wissenschaften unterscheidet. Indem die dogmatische Wissenschaft selbst ein vollständiges Bild der christlichen Religion konstruiert, auf die sie sich bezieht, ist sie nicht nur eine autonome Wissenschaft, sie kann auch nur so die Autonomie der von ihr unterschiedenen christlichen Religion in sich berücksichtigen. Als Wissenschaft vermittelt sie dasjenige reflexive Wissen, das bekanntlich von allen protestantischen Theologinnen und Theologen zu erwarten ist.5 Meine Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte. Jede systematisch theologische Position steht unter der Forderung, diese aus der geschichtlichen Entwicklung der Systematischen Theologie verständlich zu machen. Einzusetzen ist deshalb mit einem knappen Blick auf ihre problemgeschichtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund ihrer systematisch zu rekonstruierenden Problemgeschichte seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wird im zweiten Abschnitt der Vorschlag skizziert, die Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion zu verstehen. Im abschließenden dritten Abschnitt wenden wir uns der Aufhebung der Differenz von Religion und Gott in der Systematischen Theologie zu. Der Gottesgedanke, so wird sich zeigen, steht nicht im Gegensatz zur Religion, sondern er ist das Bild, in dem sich diese selbst durchsichtig als Religion darstellt.

1

Gott versus Religion, oder: was ist der Gegenstand einer systematischen Theologie?

Jede Systematische Theologie knüpft an die Entwicklung der Disziplin an. Daraus ergibt sich die Aufgabe, diese Entwicklungsgeschichte durchsichtig zu machen. Letztere liegt freilich nicht einfach vor, sondern ist stets selbst eine Konstruktion derjenigen Position, in die die Geschichte der Systematischen Theologie mündet und die diese weiterführt. Dem eben angedeuteten Zirkel unterliegen alle Deutungen der Entwicklungsgeschichte des Fachs im 20. Jahrhundert – natürlich auch die gleich auszuführende. Signifikant für die Interpretationen der theologiegeschichtlichen Entwicklung der Systematischen 5 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. Heinrich Scholz, Darmstadt 1977, 83 (§ 219).

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Theologie im letzten Jahrhundert ist, dass sie umstritten ist. Das betrifft vor allem die theologiegeschichtliche Einordnung der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Theologien, die sich keineswegs lediglich auf die sogenannte Dialektische Theologie beschränken. Bis in die 1990er Jahre standen sich zwei Deutungen gegenüber.6 Einerseits wird betont, mit dem theologischen Neuaufbruch nach dem Krieg, der sich mit den Namen Karl Barth, Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten verbindet, komme die Theologie wieder zu ihrer eigentlichen Sache, nachdem sie im 19. Jahrhundert vom Menschen und seiner Religion gehandelt habe. Gegenstand der Theologie sei aber nicht der Mensch und seine Religion, sondern Gott und seine Offenbarung. Diese Sicht der theologiegeschichtlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert entspricht durchaus derjenigen der damaligen Protagonisten.7 Sie wurde fortgeschrieben von den Schüler-Generationen der Wort-Gottes-Theologie,8 wobei allerdings notorisch unklar blieb, was diese eigentliche Sache der Theologie, zu der man am Beginn der 20. Jahrhunderts zurückgekehrt ist, denn nun eigentlich sei. Anders fallen die Deutungen der Entwicklung der Systematischen Theologie im letzten Jahrhundert von Theologinnen und Theologen aus, die an die sogenannte liberale Theologie anknüpfen. Sie verstehen den Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg als Ausstieg der Theologie aus dem modernen Wissenschaftsdiskurs, als antihistoristische Revolution sowie als Rückkehr und Erneuerung eines vormodernen Theologieverständnisses.9 Infolge dieses Exodus sowie der mit diesem verbundenen Einschwörung der Systematischen Theologie auf eine hochspezielle dogmatische Binnensemantik, die außerhalb des Fachs völlig unverständlich ist, habe sie sich selbst nicht nur vom wissenschaftlichen Diskurs isoliert, sondern zugleich höchst erfolgreich ihre eigene Selbstmarginalisierung betrieben, indem sie ihre im 19. Jahrhundert erworbene Religionsdeutungskompetenz fahrlässig preisgegeben habe. 6 Zur theologischen Deutung des Umbruchs in der protestantischen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992; Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. 7 Vgl. Friedrich Gogarten: Die religiöse Entscheidung, Jena 1921; Karl Barth: Der Römerbrief [2. Aufl. 1922], Zürich 91954; Rudolf Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders., Glaube und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 31958, 1–25. 8 Vgl. Hermann Diem: Theologie als kirchliche Wissenschaft. Handreichung zur Einübung ihrer Probleme, München 1951; Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, 2 Bde., Berlin (Ost) 1977; Heinrich Vogel: Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, 2 Bde., Stuttgart 1982. 9 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die »antihistoristische« Revolution in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.): Vernunft des Glaubens. Festschrift für Wolfhart Pannenberg zum 60. Geburtstag, Göttingen 1988, 377–405; Wagner: Metamorphosen (s. Anm. 4), 1–74.

Die Religion der Menschen und der Gott der Dogmatiker

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Soweit die Deutungen der theologiegeschichtlichen Entwicklung der Systematischen Theologie im 20. Jahrhundert. Auch wenn deren Hochzeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag und diese theologiegeschichtliche Alternative inzwischen etwas von ihrem alten Glanz und ihrer Faszinationskraft verloren hat, bestimmt sie untergründig noch die gegenwärtigen Debatten des Fachs. Weiterführungen der Wort-Gottes-Theologie bauen sich in Kritik und Absetzung von Konzeptionen auf, die vom Religionsbegriff als Grundlage der Theologie ausgehen. Und umgekehrt konstruieren vom Religionsbegriff ausgehende theologische Entwürfe die Systematische Theologie als Kritik und Absetzung von der Wort-Gottes-Theologie. Worin bestehen die systematischtheologischen Probleme dieser Konzeptionen? Wir diskutieren zunächst Grundzüge von offenbarungstheologischen Verständnissen der Systematischen Theologie und sodann solche, die von einem Religionsbegriff ausgehen. Offenbarungstheologische Konzeptionen, wie sie vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den diversen Weiterführungen der Wort-GottesTheologie ausgearbeitet wurden, verstehen Systematische Theologie als Nachdenken der Selbstoffenbarung Gottes.10 Nur indem die Systematische Theologie von Gott handelt und nicht von Religion, ist sie eine eigenständige Wissenschaft, die sich von anderen religionsbezogenen akademischen Disziplinen unterscheidet.11 Zwar ist ihr Gott selbst gar nicht zugänglich, wohl aber der als Ereignis des Wortes Gottes verstandene Glaube. Dieser – der wiederum sehr unterschiedlich verstanden wird – ist der Gegenstand der Systematischen Theologie und er ist als unabhängig von ihr gegebener ihr vorgegeben.12 Wie aber bezieht sich eine solche Theologie, die ja Wissenschaft sein soll, auf den von ihr unterschiedenen Glauben, den sie auslegt, indem sie ihm nachdenkt? Konzeptionen, die die Systematische Theologie als Funktion des Glaubens oder der Kirche verstehen, neigen dazu, Theologie als wissenschaftliche Selbstauslegung oder Selbstbesinnung des Glaubens zu verstehen.13 Der von der Wissenschaft unab10 Vgl. Eberhard Jüngel: Die Freiheit der Theologie, in: ders.: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 11–36. 11 Vgl. Ingolf U. Dalferth: Radikale Theologie, Leipzig 32013, 15 »Theologie hat es primär mit Gott, nicht mit Religion zu tun.« 12 Vgl. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1991, 20: »Als kritische Binnenreflexion christlichen Glaubenslebens, die dessen implizites Orientierungswissen argumentativ auszuarbeiten sucht, entnimmt sie diese Leitgesichtspunkte vielmehr dem geschichtlich-konventionell gegebenen Selbstverständnis des christlichen Glaubens über seinen eigenen Grund und Charakter selbst. Dieses wird von ihr nicht konstruiert [!] und erfunden, sondern es ist ihr in Bekenntnis, Lehre und Kultus der Kirchen in einer historisch und sachlich komplexen Gemengelage vorgegeben.« 13 Vgl. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York 2011, 3: »Wir verstehen die Systematische Theologie als wissenschaftliche Form der Selbstbesinnung des Glaubens auf seinen Gegenstand, auf seinen Grund und schließlich seine lebenspraktische

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hängige Glaube legt sich gewissermaßen in jener selbst aus und besinnt sich in ihr auf sich selbst und sein Wesen. Systematische Theologie wird damit als eine Art Verlängerung des Glaubens in die Wissenschaft hinein verstanden. Aber wie macht das der Glaube, dass er quasi in die Wissenschaft hineinspringt, um sich in ihr selbst auszulegen? Vollständig abstrus wird ein solches Verständnis des Fachs dann, wenn sich mit ihm die Überzeugung verbindet, dass die Systematische Theologie über die Reinheit des sich in ihr selbst auslegenden Glauben wacht; sie also verhindern soll, dass der Glaube Selbstauslegung des menschlichen Subjekts statt Auslegung durch Gott sei.14 Einen solchen Glauben, wie er hier als Gegenstand der Theologie postuliert wird, und über den sie – um rechte Theologie zu sein – bloß nachzudenken habe, gibt es nicht.15 Er ist ein Konstrukt der Systematischen Theologie. Sie selbst konstruiert den Glauben, auf den sie sich bezieht, als Ereignis des Wortes Gottes, als Wortgeschehen, passive Erschließung eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses und vieles andere mehr. Anders könnte sie gar nicht von diesem Glauben wissen, der von ihr unabhängig und mithin eine theologisch nichtkonstruierte Wirklichkeit sein soll. Auch das Postulat einer wissenschaftlichen Selbstauslegung des Glaubens in der Theologie hilft nicht wirklich weiter. Es ist eine rhetorische Floskel. Mit ihr invisibilisiert die Dogmatik ihre eigene theologische Konstruktionsleistung. Dadurch verliert sie ihren Gegenstand, indem sie ihre eigene Wahrheit mit der des angeblich von ihr unabhängigen Glaubens einfach gleichsetzt. Es handelt sich um theologische Selbstermächtigungen: den richtigen Glauben vermag nur die richtige Theologie auszulegen. Während offenbarungstheologische Konzeptionen der Systematischen Theologie an die Wort-Gottes-Theologie des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen, orientieren sich Konzeptionen, die vom Religionsbegriff ausgehen, an der Theologie des 19. Jahrhunderts, vor allem an der liberalen Tradition von Friedrich Schleiermacher bis hin zu Ernst Troeltsch und Rudolf Otto.16 Was anders als Religion, so das Argument, sind Gott, seine Offenbarung und der Glaube? Unter den Bedingungen der Moderne und der in ihr ausgebildeten Wissenschaftsverständnisse ist Theologie als Wissenschaft nur auf der methodischen Grundlage Gestalt in der Sphäre des Privaten wie in den öffentlichen Funktionsbereichen der Gesellschaft.« Vgl. auch Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 22000, 10–12. 14 Vgl. Jüngel: Die Freiheit der Theologie (s. Anm. 10), 17: »Es gehört zum Wesen des Glaubens, daß er zwar wirklich werden, nicht aber wirklich bleiben kann ohne Theologie.« 15 Vgl. nur die Kritik von Karl Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. 1, München 1927, 32: »Es ist zu bestreiten, daß das fromme Bewußtsein, der Glaube, die Offenbarung oder wie man die Sache bezeichnen will, ein Faktum ist, auf das sich eine Wissenschaft beziehen kann.« 16 Vgl. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, Tübingen 2021; ders.: Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektive, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29–87; Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005.

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eines Religionsbegriffs möglich. Steigt die Systematische Theologie aus den modernen Religionsdiskursen aus, wie von der dialektischen Wort-GottesTheologie und ihren Nachfahren propagiert, dann begibt sie sich in eine selbstgewählte akademische Isolation und verliert jegliche kulturelle und gesellschaftliche Relevanz. Vor allem die Dogmatik sei aufgrund ihrer normativen Begriffswelten vollständig ungeeignet, die modernen Religionswelten, die hohen Transformationsdynamiken unterliegen, analytisch zu erfassen. Damit die Systematische Theologie in ihrem akademischen Elfenbeinturm nicht weiterhin ihren vollständigen Wirklichkeitsverlust zelebriert, müsse sie sich kultur- und sozialwissenschaftlichen Religionsbeschreibungen öffnen. Nur eine Systematische Theologie, welche die Religion der Moderne nicht dogmatisch verfälscht und dadurch verfehlt, sei in der Lage, der Lebensdienlichkeit der Religion, ihrer wirklichen Funktion für den Menschen und sein Leben ansichtig zu werden. Nicht in einem normativen Sinne bezieht sich folglich die Systematische Theologie auf die christliche Religion, sondern sie fungiert als Religions-, Kultur-, Lebenshermeneutik, Wahrnehmung der gelebten Religion etc. Und nur so hat sie es mit der wirklichen Religion zu tun und nicht mit den Phantasieprodukten und normativen Imaginationen der Dogmatiker. Aber worin besteht diese wirkliche Religion, auf die sich eine solche Systematische Theologie bezieht? Grundlegend ist die Überzeugung, dass Religion ein Bestandteil der conditio humana ist. Dem Menschen ist gleichsam von Natur aus eine religiöse Potenz mitgegeben, deren Verständnis subjektivitäts-, bewusstseinstheoretisch oder anthropologisch ausgearbeitet wird. Religion entsteht im Menschen, indem sich diese religiöse Potenz aktualisiert, die religiöse Seele sozusagen ins Schwingen kommt und sich in diversen Bildern, Erfahrungen und Affekten in der Kultur manifestiert. Damit besteht die methodische Grundlage dieser Systematischen Theologien in einem allgemeinen Religionsbegriff, der allen geschichtlichen Religionen zugrunde liegt, die ebenso wie das Christentum als Besonderungen eines selbst invarianten Allgemeinen verstanden werden. Dabei kann diese invariante universale Religion, die im Menschen bereits angelegt ist, selbst wieder sehr unterschiedlich verstanden werden, etwa als Sinndeutung, Transzendenzbezug, Transzendenzerfahrung und anderes mehr. Gibt es aber eine solche Religion, auf deren Suche sich diese systematischen Theologien begeben? Kann man Religionen wirklich als geschichtliche Besonderungen eines ihnen allen zugrunde liegenden Gemeinsamen verstehen? Solche Kern-Schale-Modelle – auch wenn sie in den Religionsdiskursen der Sozial- und Kulturwissenschaften eine wichtige Rolle spielen17 – sind völlig ungeeignet, geschichtliche Religionen theoretisch zu beschreiben. Da sie die Verschiedenheit 17 Vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991; Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.

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der Religionen nur als unwesentliche Oberfläche verstehen können, sind sie nicht mehr in der Lage, die Besonderheit der Religionen zu erfassen. Zudem ist eine Religion, die es als Anlage im Menschen bereits gibt, ein bloßes Postulat, um an der Allgemeinheit der Religion festhalten zu können. Mit einem solchen Religionsbegriff ist das Dilemma verbunden, dass man in der Systematischen Theologie nicht-religiöse Lebensweisen nicht mehr als berechtigt anerkennen kann. Und wenn schließlich in der Systematischen Theologie auf eine eigene theoretische Beschreibung der christlichen Religion verzichtet wird, um die vermeintlich wirkliche Religion des Menschen in den Blick zu bekommen, dann läuft das auf ihre Selbstabschaffung als Wissenschaft hinaus. Religion versus Gott, so stellten sich uns die Selbstverständigungsdiskurse der Systematischen Theologie der letzten Jahrzehnte vor dem Hintergrund der theologischen Entwicklung im 20. Jahrhundert dar. Wie ist mit dieser für das Fach ruinösen Grundlegungsalternative umzugehen, in deren endloser Wiederholung sich auch noch die gegenwärtige Systematische Theologe betätigt? Dem müssen wir uns nun zuwenden.

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Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion

Systematische Theologie, so der Vorschlag, ist Wissenschaft von der christlichen Religion. Er knüpft an die komplexe Entwicklungsgeschichte des Fachs im 20. Jahrhundert an, die wir uns eben in Erinnerung gerufen haben, führt sie jedoch so weiter, dass die anachronistischen Kontroversen über Religion versus Gott – die außerhalb der akademischen Theologie sowieso völlig unverständlich sind – der Theologiegeschichte anheimgestellt werden. Ihren Wissenschaftscharakter wird sich die Systematische Theologie nur dann bewahren können, wenn sie sich weder als Wissenschaft von einem unzugänglichen Objekt noch von einer allgemeinen Religion versteht, sondern eine kontrollierbare Theorie der christlichen Religion ausarbeitet. Was ist damit gemeint? Mit dem Vorschlag, die Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion auszuarbeiten, wird zunächst an die Transformationen der protestantischen Theologie um 1800 angeknüpft. Vor dem Hintergrund der historischen Bibelkritik, der Erkenntniskritik sowie der Entstehung der Fachwissenschaften in der ›Sattelzeit der Moderne‹ (Reinhard Koselleck) konnte die protestantische Theologie sich als Wissenschaft an Universitäten nur dadurch behaupten, dass sie den Religionsbegriff als ihre Grundlage ansetzte. Er trat an die Stelle der von der historischen Kritik aufgelösten Bibelautorität sowie des von der Erkenntniskritik zerstörten metaphysisch-gegenständlichen Gottesge-

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dankens des Altprotestantismus. Beides lässt sich auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts nur um den Preis restituieren, dass sich die Systematische Theologie als Wissenschaft in einem modernen Sinne aufgibt. Nirgends wird das so deutlich wie an theologischen Wissenschaftstheorien, die in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum in fundamentalistischen und evangelikalen Kreisen eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren haben.18 Um eine Berücksichtigung der Erkenntniskritik der Moderne kommt keine Systematische Theologie herum, die sich weiterhin als Wissenschaft verstehen möchte, die an Universitäten gelehrt wird. An dem Religionsbegriff als Gegenstand der Systematischen Theologie ist also festzuhalten. Zugleich ist jedoch die theologische Kritik am Religionsbegriff aufzunehmen, wie sie von den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Theologien vorgebracht wurde, von denen bereits im vorigen Abschnitt die Rede war. Wie wir gesehen haben, wurden diese theologischen Neuentwürfe von der Theologiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts entweder als Rückkehr der Theologie zu ihrer eigentlichen Sache oder als Ausstieg der Theologie aus dem modernen Wissenschaftsverständnis interpretiert. Beide Deutungen sind ebenso abstrakt wie falsch, da sie lediglich die Selbstsicht der damaligen Proponenten und ihrer Schüler wiederholen. Es geht vielmehr bei der Religionskritik der Dialektischen Theologie – aber nicht nur dieser – um eine Neubestimmung der christlichen Religion in der Theologie, also um eine Weiterführung von Grundlegungsfragen der Theologie aus dem 19. Jahrhundert. Den Hintergrund dieser Neubestimmungen der Theologie als Wissenschaft bilden die Ausdifferenzierungen von Gesellschaft, Kultur und Wissenschaftssystem um 1900. Die Etablierung von autonomen Religionswissenschaften, wie Religionssoziologie, Religionspsychologie etc., führte dazu, dass sich auch die protestantische Theologie als eine autonome Wissenschaft konstituierte, die eine eigene, also von Religionsphilosophie, Religionspsychologie etc. unterschiedene Sicht der christlichen Religion ausarbeitet. Angesichts der beschleunigten Ausdifferenzierung der Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren zugleich vermögenstheoretische und anthropologische Religionsbegründungen, wie sie im Jahrhundert zuvor vorgenommen wurden, die Religion als eine dem Menschen bereits mitgegebene Anlage verstehen, ihre Plausibilität. Die theologische Religionskritik der neuen Theologien, die um 1900 entstehen, bezieht sich auf solche vermögenstheoretischen und anthropologischen Religionsbegründun18 Vgl. Sven Grosse: Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019. Grosse versteht im Anschluss an die radical orthodoxy Theologie als Wissenschaft von einem supranaturalen Objekt, von dem nur Eingeweihte eine Kenntnis haben. Eine solche Mysterienwissenschaft hat mit Wissenschaft, wie sie an Universitäten betrieben wird, rein gar nichts mehr zu tun. Vgl. auch ders./Harald Seubert (Hg.): Radical Orthodoxy. Eine Herausforderung für Christentum und Theologie nach der Säkularisierung, Leipzig 2017.

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gen, aber nicht auf eine Kritik der Religion als solcher. Religion, so der Tenor ihrer diversen theologischen Neubestimmungen, gebe es nur, indem sie von Menschen benutzt werde, aber nicht – als mitgegebene Anlage – unabhängig von ihrem Gebrauch. Genau das, nämlich ein vollzugsgebundenes Religionsverständnis, demzufolge es Religion allein als einen Vollzug gibt, zu dem das reflexive Wissen gehört, nur als Vollzug zu existieren, der ohne anthropologische und kulturelle Voraussetzungen im Menschen entsteht, ist der Gehalt der theologischen Neubeschreibungen der christlichen Religion als Offenbarung Gottes und Glaube. Gott und seine bleibende Transzendenz gegenüber der Welt, seine Andersheit gegenüber dieser, die von diesen Theologien in Anspruch genommen wird, haben also eine ganz bestimmte Funktion für eine Neubestimmung der christlichen Religion, die freilich inhaltlich sehr unterschiedlich ausgearbeitet werden. Der Vorschlag, die Systematische Theologie sei Wissenschaft von der christlichen Religion, knüpft an die eben skizzierte Entwicklung der protestantischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert an. Mit der Umstellung auf den Religionsbegriff wird die Voraussetzung eines gegebenen religiösen Gegenstands fallen gelassen. Aber in den Religionsbegriff der Systematischen Theologie ist zugleich die Religionskritik aufzunehmen. Das bedeutet nicht nur, eine anthropologische Anlagekonstruktion der Religion bzw. ein gegebenes religiöses Subjekt aufzulösen, sondern auch, einen allgemeinen Religionsbegriff als ein unplausibles Konstrukt aus der Systematischen Theologie auszuscheiden. Ihr Der Religionsbegriff zielt ausschließlich auf die christliche Religion. Seine Funktion besteht darin, das Christentum als Religion gedanklich zu durchdringen – womit freilich weder gesagt sein soll, dass das Christentum die wahre oder eigentliche Religion ist.19 Als Wissenschaft von der christlichen Religion ist diese der Gegenstand der Systematischen Theologie. Doch die christliche Religion ist von ihr unterschieden.20 Die für die moderne protestantische Theologie konstitutive Unterscheidung von Theologie und Religion ist eine Unterscheidung, die in der wissenschaftlichen Theologie gemacht wird. An dieser Differenzierung hängt sowohl die Wissenschaftsfähigkeit der Systematischen Theologie als auch die Autonomie der christlichen Religion. Jene unterscheidet sich selbst von der christlichen 19 Mit der Beschränkung des Religionsbegriffs auf das Christentum geht es vielmehr darum, den Religionsbegriff selbst zu pluralisieren. Religionen unterscheiden sich nicht einfach durch ihre inhaltlichen Bestimmungen, sie konstruieren bereits das, was sie unter Religion verstehen, unterschiedlich. Vgl. Christian Danz: Religious Diversity and the Concept of Religion. Theology and Religious Pluralism, in: NZSTh 62 (2020), 101–113; ders.: Nochmals: Monistischer Pluralismus oder pluralismusoffene Theologie? Eine Duplik auf Perry SchmidtLeukel, in: ThR 86 (2021), 106–119. 20 Vgl. Christian Danz: Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung. In: Theologie als Streitkultur. Wiener Jahrbuch für Theologie, Bd. 13, hg. v. Uta Heil/Annette Schellenberg, Göttingen 2021, 139–154.

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Religion, auf die sie sich bezieht. Auf diese Weise berücksichtigt die Theologie in sich die Autonomie und Unabhängigkeit der christlichen Religion von ihr. Die christliche Religion wird von Individuen praktiziert, was heißt, notwendig verschieden und plural. Diese gebrauchen ihre Religion unabhängig von theologischer Bevormundung und Besserwisserei. Und umgekehrt kann die Systematische Theologie nur dann eine autonome Wissenschaft sein, wenn sie selbst weder die Wahrheit der christlichen Religion noch deren Verlängerung in die Wissenschaft hinein ist. Sie operiert selbstbezüglich, d. h. sie konstruiert in sich selbst mit ihren eigenen begrifflichen Mitteln ein Bild der christlichen Religion, von der sie zugleich bleibend unterschieden ist. Anders könnte eine Systematische Theologie weder Wissenschaft in einem modernen Sinne sein noch von ihrem Gegenstand wissen. Jeder Gegenstand einer Wissenschaft ist ihr eigenes Konstrukt, welches sie selbst methodisch kontrolliert hervorbringt. Davon macht die Systematische Theologie keine Ausnahme, auch wenn in vielen theologischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts die Neigung vorherrscht, durch die Inanspruchnahme der Wirklichkeit Gottes oder eines eigentlichen Glaubens ihre eigenen Konstruktionsleistungen zum Verschwinden zu bringen. Will also eine Systematische Theologie ihren Gegenstand nicht gerade dadurch verfehlen, dass sie ihre eigenen Konstruktionen an die Stelle der christlichen Religion setzt und sie für deren eigentliche oder wirkliche Wahrheit ausgibt, so wird sie ihr eigenes Bild der christlichen Religion von dieser unterscheiden und dies auch transparent machen. Systematische Theologie konstruiert in sich selbst ein vollständiges Bild der christlichen Religion. Das bedeutet aber auch, dass sie alle Voraussetzungen der christlichen Religion in deren Bestandteile aufhebt, die sie, die Systematische Theologie, selbst setzt, um die christliche Religion zu beschreiben. Wissenschaft kann eine Systematische Theologie nur dann sein, wenn sie nicht von Voraussetzungen ausgeht, die nicht allgemein zugänglich sind. Sie wird auch nicht dadurch zur Wissenschaft, wenn sie solche Sondervoraussetzungen zu Hypothesen deklariert.21 Mit Wissenschaft, die es freilich nur im Plural von unterschiedlichen Wissenschaftsverständnissen gibt, hätte das nichts mehr zu tun. Was bedeutet das nun für die Aufgabe der Systematischen Theologie, ein Bild der christlichen Religion gleichsam in eigener Regie zu konstruieren, sowie den Gegensatz von Gott und Religion?

21 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1987; Härle: Dogmatik, 3–28. Vgl. hierzu auch die Kritik von Johannes Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch und die Religionen, in: Christian Danz/Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 187–203; ders.: Gott im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen, in: Ingolf U. Dalferth/ ders./Hans-Peter Großhans (Hg.): Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 93–112.

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Gott als Bild der christlichen Religion, oder: der christliche Gottesgedanke

Systematische Theologie, so haben wir bislang gesehen, ist Wissenschaft von der christlichen Religion. Bezogen ist der Vorschlag auf die Problemgeschichte des Fachs im 20. Jahrhundert, nämlich die Entgegensetzungen von Gott und Religion, die im Resultat zu ihrer Selbstmarginalisierung im akademischen Diskurs führte. Demgegenüber ist es die Aufgabe einer Systematischen Theologie, in sich als Wissenschaft ein vollständiges Bild der christlichen Religion zu konstruieren. Ihr Gegenstand ist weder einfach Gott oder die christliche Religion noch eine systematisierende Zusammenfassung der Inhalte von dieser. Gegenstand der Systematischen Theologie ist das innere Funktionieren der christlichen Religion als Religion. Sie beschreibt deren Selbstsicht, also das Wissen der die christliche Religion Praktizierenden, Religion zu praktizieren. Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion konstruiert folglich nicht einfach nur diese, sondern sie bezieht ihre Selbstsicht ein, indem sie die Sicht der Glaubenden auf ihren Glauben konstruiert.22 Sie arbeitet eine kontrollierbare Theorie aus, wie in der christlichen Religion Inhalte zur religiösen Kommunikation benutzt werden, die zugleich mit ihr als religiöse Inhalte entstehen, von denen die Kommunizierenden wissen, dass sie diese Inhalte religiös verwenden. Das – nämlich die Berücksichtigung der Selbstsicht – unterscheidet die systematisch-theologische Konstruktion der christlichen Religion von anderen mit Religion befassten Wissenschaften, wobei hier offen bleiben kann, ob man ohne eine Einbeziehung ihrer Selbstsicht überhaupt zu einem angemessenen Religionsverständnis gelangt. Für ihre Konstruktion der christlichen Religion setzt die Systematische Theologie weder einen gegebenen religiösen Gegenstand noch ein religiöses Subjekt oder religiöse Erfahrungen und Affekte voraus. Sowohl religiöse Gegenstände als auch ein religiöses Subjekt und seine Erfahrungen und Affekte gibt es ausschließlich in der christlichen Religion, nicht jedoch als Voraussetzungen, aus denen diese hergeleitet oder begründet werden könnte. Was die Systematische Theologie voraussetzt, ist nicht ein bestimmter Glaube oder ein bestimmtes Gottesverständnis, sondern allein, dass es die christliche Religion als eine eigene Form der Kommunikation in der Kultur gibt. Gäbe es sie nicht mehr, wäre also die christliche Religion ein Phänomen der Vergangenheit, dann bedürfte es auch keiner Systematischen Theologie. Kultur-, Geschichts- und Religionswissen-

22 Allein das ist der Sinn von Karl Barths und Rudolf Bultmanns Bestimmungen der (systematischen) Theologie als Glaubensakt bzw. Glaubenswissenschaft. Vgl. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. 1/1, Zürich 81964, 16–23; Rudolf Bultmann: Theologische Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 166–167.

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schaften würden dann vollkommen ausreichen, die zu einem Phänomen der Vergangenheit gewordene christliche Religion zu erforschen. Indem die Systematische Theologie alle Voraussetzungen der christlichen Religion in deren Bestandteile auflöst, konstruiert sie diese als ein selbstbezügliches und sich als Religion wissendes Kommunikationsgeschehen. Die christliche Religion entsteht als ein in Kommunikation eingebundenes Geschehen aus sich selbst und hat sowohl ihre Begründung als auch ihre Geltung und Wahrheit in sich selbst. Damit sind die offenbarungstheologischen Neubestimmungen der christlichen Religion aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Sie müssen jedoch so weitergeführt werden, dass es nicht der bloße Vollzug der Religion ist, aus dem diese entspringt. Denn der Vollzug selbst ist zu unbestimmt, um die Besonderheit der christlichen Religion zu erfassen. Deshalb sind diese vollzugsbestimmten Neubeschreibungen der christlichen Religion durch eine komplexere kommunikationstheoretische Fassung zu ersetzen. Die christliche Religion ent- und besteht aus dem triadischen Wechselverhältnis von Inhalten, Verstehen und Artikulation.23 Für sie ist dieses strukturierte Wechselverhältnis in seinem Zusammenhang konstitutiv, aus dem sie entspringt. Ohne christlichreligiöse Kommunikation, die es als eine erkennbare Form von Kommunikation in der Kultur bereits gibt, kann die christliche Religion nicht entstehen. Diese ist stets abhängig von der an Medien gebundenen Überlieferung der Erinnerung an Jesus Christus. Doch zur Religion wird diese in der Kultur weitergegebene Erinnerung nur dann, wenn sie von Menschen verstehend als Religion angeeignet und zur Kommunikation ihrer eigenen Religion benutzt wird. Die christliche Religion hängt am verstehenden und artikulierenden Gebrauch, den Menschen von der in der Kultur tradierten Erinnerung an Jesus Christus machen. Als Religion lässt sich die christliche Religion nicht auf eines dieser drei Elemente zurückführen. Sie entspringt aus allen drei Elementen zusammen, wenn Menschen also die in Kommunikation eingebundene Erinnerung an Jesus Christus zur Artikulation von Religion benutzen und mit ihrer Kommunikation Religion meinen. Zwar ist die christliche Religion ohne inhaltliche Bestimmungen nicht zu erkennen, aber ihre Inhalte geben noch keinen hinreichenden Aufschluss darüber, ob es sich bei ihnen um Religion handelt. Denn diese Inhalte können und werden jederzeit auch in einem nicht-religiösen Sinne verwendet. Es ist allein der verstehende religiöse Gebrauch, durch den sich religiöse von nichtreligiöser Kommunikation unterscheidet. Genau deshalb muss das Wissen, Religion zu kommunizieren, Bestandteil der christlichen Religion selbst sein. Eine unbewusste oder implizite Religion gibt es so wenig als eine unsichtbare. Solche Konzepte sind nicht nur mit der Frage konfrontiert, woran eine unsichtbare 23 Vgl. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 118–130; Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 46–55.

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Religion eigentlich erkannt werden kann, sie blenden vor allem die Selbstsicht und das Selbstverständnis der Akteure aus und postulieren eine diesen selbst nicht bewusste Religion. Für die Erschließung der christlichen Religion sind solche Allgemeinheitspostulate wenig förderlich und folglich aus der Systematischen Theologie auszuscheiden. Ebenso wie das Wissen der Religion, Religion zu sein, ein Implikat der christlichen Religion sein muss, so auch ihre Selbstbezüglichkeit. In und mit ihren inhaltlichen Aussagen stellt die christliche Religion sich selbst als Religion dar. Allerdings sind ihre gegenständlichen Inhalte nicht einfach nur Ausdruck von Religion. Vielmehr stellen ihre inhaltlichen Aussagen in ihr und für sie dar, wie sie selbst als Religion entsteht und funktioniert. Gott als Inhalt der christlichen Religion, auf den sie sich bezieht, ist ein Bild ihrer selbst als eines in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundenen Geschehens. Er kommt in dieser Kommunikation zur Welt. Damit ist die Entgegensetzung von Gott und Religion aufgehoben. Beide bilden keinen sich ausschließenden Gegensatz, wie von der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts immer wieder behauptet wurde. Gott und Religion entstehen zusammen in der christlichen Religion und dürfen nicht im Interesse an einer vorgegebenen Wirklichkeit Gottes getrennt werden. Denn eine dem Glauben vorangehende objektive göttliche Wirklichkeit, die diesen fundiert, lässt sich einerseits nicht begründen und andererseits transformiert sie unweigerlich den Glauben zu einem notwendigen sekundären menschlichen Akt, wodurch der Gottesgedanke von der menschlichen Deutung abhängig wird.24 Der Einwand der Werkgerechtigkeit, und sei es einer intellektuellen, lässt sich dann nicht mehr abweisen. Mit ihrem Gottesgedanken stellt die christliche Religion sich selbst und damit diejenige reflexive Struktur dar, aus der sie entsteht und in der sie besteht. Als Religion ist das Christentum an die verstehende Aneignung und symbolische Artikulation der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus gebunden. Der dreieinige Gott repräsentiert in ihr diese Struktur, die die christliche Religion

24 Vgl. hierzu auch Folkart Wittekind: Dogmatik als Selbstbewusstsein gelebter Religion. Zur Möglichkeit theologiegeschichtlicher Beschreibung der reflexiven Transformation der Religion, in: Christian Danz/Jörg Dierken/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, Frankfurt a.M. 2005, 123–152, hier 144–145. Diesem Dilemma entgeht auch die Kritik von Stefan Walser an der von mir vorgeschlagenen Gotteslehre nicht, wenn er – mit Paul Tillich – eine im Unbedingten fundierte existentiale Ontologie postuliert, um die vermeintliche Immanentisierung meiner Konzeption aufzubrechen. Doch auch das Unbedingte ist ein immanenter Gedanke, der lediglich als nicht-gedacht gedacht werden kann. Vgl. Stefan Walser: Gott »existiert« nicht. Zur Wirklichkeit Gottes bei Christian Danz und Paul Tillich, in: V. Hoffmann (Hg.): Wirklich? Konzeptionen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit Gottes, Stuttgart 2022, 183–206.

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selbst ist. Indem Gott in ihr ausschließlich von Gott zu Gott als Gott kommt,25 ist er ein Bild von ihr selbst und ihrer Wirklichkeit als einem selbstbezüglichen, sich als Religion wissenden und in sich strukturierten Kommunikationsgeschehen. Der vorgeschlagene Religionsbegriff nimmt, wie deutlich geworden ist, die Struktur des Offenbarungsbegriffs auf. Dieser wird jedoch nicht, wie in der Systematischen Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als theologische Voraussetzung und Begründung des Glaubens verstanden,26 sondern mit der Theologie aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts auf die christliche Religion und ihr Wissen, Religion zu sein, übertragen. Anders als bei dieser Theologengeneration ist es jedoch nicht der bloße Vollzug, an dem das Religionssein der christlichen Religion hängt, sondern das triadische Wechselverhältnis von Inhalten, Aneignung und Artikulation. Doch ebenso wenig wie deren vollzugsbestimmte Fassungen der christlichen Religion im 21. Jahrhundert weiterzuführen sind, so sind es die von diesen Theologen vorgenommenen Entgegensetzungen von Religion und Glaube sowie deren Anspruch, in der Systematischen Theologie ein allgemeingültiges menschliches Selbstverhältnis oder ein eigentliches menschliches Selbst-Verstehen zu beschreiben. Glaube ist nicht ein eigentliches menschliches Sich-Verstehen oder die wahre Bestimmung des Menschen, welches der Religion entgegengesetzt und von ihr unterschieden ist, sondern das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation und damit die Wirklichkeit der christlichen Religion. In diesem Sinne bezeichnet der Glaubensbegriff die symbolproduktive Wirklichkeit der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Dass freilich die christlich-religiöse Kommunikation gelingt, also die überlieferte Erinnerung an Jesus Christus von Menschen verstehend als Religion angeeignet und zur Darstellung ihrer Religion benutzt wird, lässt sich weder konstruieren noch ableiten. Systematische Theologie muss das innere Funktionieren der christlichen Religion beschreiben. Sie konstruiert in sich ein vollständiges Bild der christlichen Religion bzw. ihrer Selbstsicht von sich selbst als Religion. Aber dieses Bild bleibt ihre autonome Konstruktion. Alle systematisch-theologischen Ansprüche, die wirkliche, wahre oder eigentliche Religion bzw. Glauben erfassen oder aufnehmen zu können, sind demgegenüber bloße Rhetorik. Einer Wort-GottesMagie auf der einen Seite und einer Beschwörung einer angeblichen Lebensdienlichkeit der Religion auf der anderen wird die Systematische Theologie nur dann entgehen können, wenn sie die Konstruktivität ihrer eigenen Religions25 Vgl. Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf, 126–149, hier 126: »Gottes Wort ist Gott in seiner Offenbarung. Gott offenbart sich als der Herr. Er allein ist der Offenbarer. Er ist ganz Offenbarung. Er selbst ist das Offenbarte.« Vgl. auch ders.: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, Zürich 81964, 311–367. 26 Vgl. Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986.

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beschreibungen durchsichtig macht. Nur so bewahrt sie freilich auch ihren Charakter als Wissenschaft. Tut sie das nicht, setzt sie ihre eigenen Konstruktionen an die Stelle der Wirklichkeit, dann verliert sie mit dieser auch ihren Gegenstand. Denn zu größerer Wirklichkeitsnähe – was immer das auch sein soll – gelangt man gerade nicht durch den Rekurs auf vermeintlich wirkliche Gegebenheiten, sondern allein durch die reflexive Unterscheidung von Gegenstand und Gegenstandsbezug.27 Ebenso ist das Bild der christlichen Religion, welches die Systematische Theologie konstruiert, allein dann mit der autonomen, nur individuell zu lebenden christlichen Religion vermittelbar, wenn es von ihr unterschieden bleibt. Eine solche Systematische Theologie, wie sie skizziert wurde, ist nicht die Systematische Theologie. Doch indem sie ihre Arbeit am Gottesbegriff als Arbeit am Religionsbegriff begreift, leistet sie einen konstruktiven Beitrag zur Weiterbestimmung der christlichen Religion in der Moderne – und zwar gerade als Dogmatik. In Nancys Büchlein Noli me tangere, über dessen Christentumsdeutung wir das Personal der Frankfurter WG eingangs diskutieren sahen, wird Religion zugeschrieben. Ob etwas Religion ist, hängt nicht an den Inhalten als solchen, auch nicht an Erfahrungen oder an dem, worauf die Zeichen verweisen. Sie besteht allein darin, dass die Kommunikation von den Beteiligten religiös gemeint und verwendet wird. Aber auch das kann, wie der Roman von Thomas Meinecke klarmacht, immer auch ganz anders verstanden werden. »Hören sollt ihr, aber nicht verstehen; sehen sollt ihr, aber nicht erkennen.«28

27 Vgl. Martin Laube: Die Beobachtung ›gelebter Religion‹ – Überlegungen zu einer theologischen Kategorie in systemtheoretischer Sicht, in: A. Grözinger/G. Pfleiderer (Hg.): »Gelebte Religion« als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002, 161– 189, bes. 184. 28 Meinecke: Selbst, 58, mit Bezug auf Nancy: Noli me tangere, 10, und Mt 13,14.

Ulrich H.J. Körtner

Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? Über die unmögliche Möglichkeit theologischer Wissenschaft*

Abstract According to its name, the task of theology is to speak of God in a thoughtful way. It can do this only by reflecting on the always already preceding speech of Christian faith about God. To speak of God, however, is only possible under the condition that God himself has spoken and is also presently speaking. However, just as the revelation of God cannot be thought without his hiddenness, which can take on the appearance of his absence and non-existence, so also God’s speaking cannot be spoken of responsibly if the experience of his silence is not addressed at the same time. Theology differs from religious studies or cultural studies because it does not examine God’s past speech solely in historiographical or literary terms, but is guided in its consideration by the hope expressed in the Bible that even God’s silence does not deny his earlier speech and the promise of his future, lifecreating and salvific word. Theology that is sustained by the hope that God will break his silence is waiting theology.

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Glaubenskrise und Sprachnot

Nach Ansicht des Journalisten Matthias Kaman beruht der gesellschaftliche Einfluss, den die Kirchen nach wie vor haben, »auf einer spezifischen Form des Schweigens«1, nämlich des Schweigens über die dezidierten Glaubensgründe für konkrete ethische oder politische Optionen. Würden sie sich tatsächlich auf theologische Fragen im engeren Sinne konzentrieren, wäre ihnen ihre gesellschaftliche Bedeutung schon längst abhanden gekommen. Müsste man demnach Rudolf Bultmanns Frage aus seinem berühmten und längst schon klassischen

* Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung zum 200jährigen Jubiläum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien am 22. November 2021. 1 Matthias Kamann: Kirche, Medien und Moral, in: Claas Cordemann/Gundolf Holfert (Hg.): Moral ohne Bekenntnis? Zur Debatte um Kirche als zivilreligiöse Moralagentur, Leipzig 2017, (53–63) 59.

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Ulrich H.J. Körtner

Aufsatz, welchen Sinn es hat, von Gott zu reden,2 dahingehend abwandeln, welchen Sinn es hat, von Gott besser zu schweigen? Aber wäre das eine dem christlichen Glauben gemäße Option? Paulus jedenfalls sieht sich vom göttlichen Geist zum Reden getrieben, mag der Schatz des Glaubens auch nur in irdenen Gefäßen stecken, und zitiert Ps 116,10: »Ich glaube, darum rede ich« (2Kor 4,13). Mit Paulus hält es auch Eberhard Jüngel, wenn es darum geht, seine Theologie kurz zu fassen: Ich glaube, darum rede ich. Nicht von mir und meinem Glauben – das jedenfalls nur, sofern es nun einmal dazugehört. Ich glaube, darum rede ich von dem Gott, an den ich glaube, und von seiner befreienden Wahrheit. Ich glaube, darum rede ich von dem Gott, der als Mensch zur Welt gekommen ist und sich in der Person Jesu Christi zu unserem Heil als Gott offenbart hat. Ich glaube, darum rede ich von Jesus Christus als der Wahrheit Gottes, die frei macht. Solche Rede von Gott, denkend verantwortet, ist Theologie. Sie ist – mit Ernst Fuchs gesprochen – Sprachlehre des Glaubens.3

Die Glaubenskrise in den modernen, westlich und säkular geprägten Gesellschaften, ist im Kern eine Krise der Glaubenssprache. Dietrich Bonhoeffers Beschreibung der Sprachnot des Glaubens in seinen bekannten Gedanken zum Tauftag seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge 1944 trifft immer noch zu: Wir sind ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen, weil nicht nur die Dogmen und theologischen Begriffe der christlichen Tradition, sondern selbst die elementarsten Worte des biblischen Zeugnisses von vielen Menschen nicht mehr verstanden werden.4 Die Radikalität der Aussage Bonhoeffers besteht darin, dass sie nicht nur von der menschlichen Sprachlosigkeit redet, sondern mit dem Verstummen der überlieferten Worte ein Verstummen Gottes selbst andeutet. Die Bedingung jeglicher Theologie als reflektierter Rede von Gott – und nicht etwa nur als Analyse menschlicher Rede von Gott und von Gottesgedanken – besteht darin, dass Gott selbst geredet hat und noch immer zu Menschen spricht, dass er kommt und nicht schweigt (Ps 50,3). Es gibt freilich auch ein Schweigen über Gott, das auf der Erfahrung einer sich dem Gottesgedanken versagenden Sprache beruht. Ohne dass dieser Gedanke bei Bonhoeffer selbst deutlich ausgeführt wird, besteht m. E. eine sachliche Verbindung zu Bonhoeffers tastenden Überlegungen zur mündigen Welt, in deren Zusammenhang der unbeantwortete 2 Vgl. Rudolf Bultmann: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. I, Tübingen 71972, 26–37. 3 Eberhard Jüngel: Meine Theologie, in: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III (BEvTh 107), München 1990, (1–15) 3. Vgl. Ernst Fuchs: Hermeneutik?, in: ders.: Glaube und Erfahrung, Tübingen 1965, 135. 4 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (DBW 8), Gütersloh 1998, 435.

Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?

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Schrei Jesu am Kreuz aus Mk 15,34 theologisch gedeutet wird. Gottes Schweigen auf Golgatha ist nach Bonhoeffer ein beredtes, durch welches Gott uns zu wissen gibt, »daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.«5 Durch die Entwicklung zur Mündigkeit der modernen Welt wird nach Bonhoeffer mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt und der Blick frei gemacht »für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt«6. Hier hat für Bonhoeffer die von ihm intendierte »weltliche« bzw. »nichtreligiöse Interpretation« biblischer Begriffe einzusetzen, deren Thema auch in seinen erwähnten Tauftagsgedanken anklingt. Viele Bemühungen, das Evangelium in einer zeitgemäßen Weise zu verkündigen, laufen nun aber auf seine Moralisierung oder Trivialisierung hinaus. Diese hat ihren Grund vor allem darin, dass der biblische Begriff der Sünde nicht mehr verstanden oder mit moralischem Fehlverhalten gleichgesetzt wird. Wer nicht mehr von der Sünde zu reden weiß, versteht auch nicht mehr, weshalb wir Menschen überhaupt auf Gottes bedingungslose Gnade angewiesen sind und worin sie besteht. Dies führt gleichermaßen zur Verharmlosung Gottes wie zur Verharmlosung des Problems der menschlichen Existenz. Weil das Sündersein nicht mehr ernstgenommen wird, gibt es in der Beziehung des Menschen zu Gott scheinbar kein Problem mehr, und Gott verlangt nichts von uns Menschen. Die Botschaft Luthers und Calvins lautete: »Gott liebt dich, obwohl du bist, wie du bist«. Dieser Satz wird heute oft verkürzt: »Gott liebt dich so wie du bist«. Das aber ist ein fatales Missverständnis, weil es zur Annahme einer billigen Gnade führt, wie Dietrich Bonhoeffer das genannt hat. Mensch und Welt müssen nach biblischem Zeugnis vom Bösen erlöst und mit Gott versöhnt werden. Das aber kann der Mensch von sich aus gar nicht leisten, sondern das kann und tut allein Gott, und eben darum geht jede Reduktion des Evangeliums auf Moral fehl. Wie die Offenbarung Gottes nicht zu denken ist ohne seine Verborgenheit, die den Anschein seiner Abwesenheit und Nichtexistenz annehmen kann, so kann auch von Gottes Reden nicht verantwortlich gesprochen werden, wenn nicht zugleich die Erfahrung seines Schweigens thematisiert wird. Wo diese Erfahrung nicht mehr präsent ist, nimmt die Theologie des Wortes Gottes die Gestalt eines »Offenbarungspositivismus«, d. h. einer »positivistischen Offenbarungslehre« an, wie sie Dietrich Bonhoeffer kritisiert hat.7

5 Bonhoeffer: Widerstand (s. Anm. 4), 533–534. 6 Bonhoeffer: Widerstand (s. Anm. 4), 535. 7 Bonhoeffer: Widerstand (s. Anm. 4), 404, 415, 481–482.

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Ulrich H.J. Körtner

Reden und Schweigen Gottes

Die Erfahrung des Schweigens Gottes ist im 20. Jahrhundert vielfältig artikuliert worden.8 Sie durchzieht aber die gesamte Religionsgeschichte. Mit dem Gedanken des Wortes Gottes korrespondiert derjenige seines Schweigens, seiner sigé. Diese ist gewissermaßen die Gestalt des Deus absconditus, wogegen der Logos der Deus revelatus ist. Innerhalb der Bibel selbst taucht die Wendung von der sigé Gottes allerdings bezeichnenderweise nicht auf. Sie ist letztlich gnostischen Ursprungs.9 Während für Judentum und Christentum das Schweigen Gottes, z. B. indem er auf die Klage des Menschen nicht antwortet, die Erfahrung der Anfechtung ist, wertet die Gnosis in Antike und Gegenwart umgekehrt die Kategorie des Wortes ab und versucht über das Wort der Gottheit hinauszugelangen und vorzudringen in ihr mystisches Schweigen. Das Wort wird nicht als Anrede, sondern als mysteriöser Ursprung einer übernatürlichen Lehre betrachtet, damit aber gegenüber der biblischen Tradition abgewertet, für die Gott wesenhaft Wort ist, und zwar wirksames, schöpferisches Wort. Ignatius v. Antiochien hat versucht, den gnostischen Gedanken des mystischen Schweigens der Gottheit christlich zu rezipieren. In Magn 8,2 erklärt er, Jesus Christus sei das »aus dem Schweigen hervorgegangene Wort«, durch welches sich Gott offenbart habe. Dies ist auch das Anliegen der auf Pseudo-Dionysios Areopagita zurückreichenden Tradition negativer Theologie. Gefragt wird heute, welche Möglichkeiten diese Tradition bereithält, die »Gotteskrise« (Johann Baptist Metz)10 im 20. Jahrhundert theologisch zu bewältigen.11 Die Rede vom Schweigen Gottes bleibt freilich in mehrfacher Hinsicht mehrdeutig. Sie kann einerseits so verstanden werden, als sei Gott definitiv zum Schweigen gebracht worden, andererseits aus religiöser Perspektive aber auch so, dass Gott selbst sich in Schweigen hüllt, was wiederum ein höchst zweideutiges Faktum wäre. Es kann einerseits als Gericht, andererseits aber als abgründige Verborgenheit Gottes gedeutet werden. Sprachlosigkeit und die Erfahrung des Schweigens Gottes sind variantenreich als Folge der neuzeitlichen Krise metaphysischen Denkens erklärt worden. Die Möglichkeit, dass Gott sein Schweigen bricht, kann aber doch nicht abhängig von 8 Theologisch ausdrücklich bei Helmut Thielicke: Das Schweigen Gottes. Fragen von heute an das Evangelium (Stundenbuch 8), Hamburg 1962, 67–84. Es handelt sich um eine Auslegung von Mt 15,21–28. Siehe vor allem V. 23! 9 Vgl. Rudolf Bultmann: Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1933, 71972, (268–293) 278. 10 Johann Baptist Metz: Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation« der Zeit, in: Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 76–92. 11 Siehe u. a. Willi Oelmüller: Negative Theologie. Ein philosophischer Sprechversuch über den einen Gott der Juden, Christen und Muslime, in: Orientierung 62 (1998), 5–8, 20–23.

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der Entwicklung metaphysischen Denkens sein, wenn denn der Gott, den die Bibel bezeugt, tatsächlich gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit ist. Walter Mostert räumt zwar ein, man könne – wie bei Heidegger der Fall – die Verborgenheit des Göttlichen als ein Seinsgeschick darstellen, in dem nichts anderes mehr zu erwarten ist als die Selbsterschließung des Göttlichen in einem Akt neuer Offenbarung. »Aber es gibt, wie gerade die Religion zeigt, Zwischenstufen. Denn im religiösen Akt ist jedes einzelne Individuum in die Ausübung religiöser Funktionen einbezogen.«12 Gegen Erklärungen der Verborgenheit, Abwesenheit oder des Schweigens Gottes als eines epochalen Phänomens wendet Mostert ein: Es erscheint in quantitativer Hinsicht unbedeutend oder gar als Reduktion, ist aber in qualitativer Hinsicht ein Schritt ins Freie, wenn man sieht, daß die Gründe für die Notwendigkeit heilschaffender religiöser Betätigung letztlich nur im jeweiligen Individuum selbst distinkt werden können. Das Aufspüren der Gründe für die Verborgenheit des Göttlichen in geschichtlichen, sozialen, metaphysischen Bedingungen verliert sich daher in der Uneigentlichkeit des rein Vorgestellten. Sie werden aber distinkt, wenn das Individuum lernt, sich zur Begründung der Verborgenheit Gottes nicht in die Nacht des Allgemeinen zurückzuziehen, sondern sie als seine persönliche Hybris zu beschreiben.13

Eben dazu leitet die Passionsgeschichte Jesu Christi an, wie sie in den neutestamentlichen Evangelien geschildert wird. Von ihr aus kann die Rede vom Schweigen Gottes als theologisch sinnvoll und sogar notwendig erschlossen werden, freilich so, dass wir uns nicht – z. B. auf Heideggerschen Spuren – in die Nacht des Allgemeinen zurückziehen, sondern gerade bei unserer persönlichen Hybris behaftet werden. Es gibt ein Schweigen Gottes, das Resultat menschlicher Schuld ist. Gott schweigt, weil er von den Menschen zum Schweigen gebracht wird. Gerade wenn Jesus von Nazareth im Neuen Testament als Gottes Wort in Person bekannt wird, muss in diesem Sinne auch von einem Schweigen Gottes die Rede sein. Indem dieser Jesus zum Schweigen gebracht wird, wird auch der sich mit ihm ganz identifizierende Gott zum Schweigen gebracht. Es fällt auf, dass Gott selbst fast nirgends in den Evangelien spricht, höchstens in Gestalt eines Engels im Rahmen der Geschichten von der Geburt Jesu und ihrer Ankündigung. Lediglich an zwei Stellen, die allerdings für das Verständnis Jesu ganz wesentlich sind, wird berichtet, man habe Gott direkt sprechen hören, nämlich bei der Taufe Jesu und bei seiner Verklärung. Nachdem Johannes der Täufer die Taufe vollzogen hat, öffnet sich der Himmel, und während Jesus – aber nur er! – den Heiligen Geist wie eine Taube auf sich herabkommen sieht, ist eine Stimme zu hören, die Stimme Gottes. 12 Walter Mostert: Glaube – der christliche Begriff für Religion, in: ders.: Glaube und Hermeneutik. Ges. Aufs., hg. v. Pierre Bühler u. Gerhard Ebeling, Tübingen 1998, (186–199) 197. 13 Mostert, Glaube (s. Anm. 12), 197–198.

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Während nach Markus und Lukas nur Jesus selbst diese Stimme hört, ist sie nach der Darstellung des Matthäus auch von den Umstehenden zu vernehmen. Sie spricht: »Du bist« bzw. »dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« (Mk 1,11 par.). Jesus wird bei seiner Taufe also öffentlich zum Stellvertreter Gottes ausgerufen. Bei der Verklärung Jesu (Mk 9,7 par.) wird dies nochmals bekräftigt. Wer Gott sprechen hören will, soll auf ihn hören. Doch was Jesus zu sagen hat, ist nicht unbedingt das, was die Menschen von Gott erwarten. Er kündigt den Anbruch der Gottesherrschaft an, die mit bestehenden Unrechtsverhältnissen, mit religiösen und sozialen Klassengegensätzen ein Ende machen wird. Er spricht auch jenen die Vergebung der Sünden bzw. die Liebe Gottes zu, die dafür scheinbar nicht die von der Religion festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Was den Sündern, den Ausgegrenzten und Hoffnungslosen die Stimme der Befreiung ist, bekämpfen die Mächtigen in Staat und Religion als Stimme des Aufruhrs und der Anarchie. Sie wollen diese Stimme zum Schweigen bringen, und zwar endgültig. Der Hohe Rat, damals das höchste religiöse und politische Gremium des Judentums, beschließt seinen Tod und liefert Jesus der Gerichtsbarkeit der römischen Besatzungsmacht aus. Für ein evangeliumgemäßes Verständnis des Schweigens Gottes kommt der markinischen Passionsgeschichte paradigmatische Bedeutung zu. Dabei ist nicht nur an Jesu Gottverlassenheit am Kreuz (Mk 15,34), sondern schon an die Szene vor Pilatus (Mk 15,1–5) zu denken. Pilatus konfrontiert Jesus mit der gegen ihn erhobenen Anklage. »Bist du«, so fragt Pilatus, »der König der Juden?« Eine mehrdeutige Frage. Ist gemeint, dass Jesus sich als neuer politischer Anführer Israels versteht? Oder als Messias im religiösen Sinne, das heißt als Heilsbringer in der Endzeit? Sprechen also Pilatus und Jesus überhaupt von derselben Sache, wenn Jesus die ihm gestellte Frage beantwortet? Wie auch immer. Jesus antwortet: »Du sagst es.« Und das wird bis zu seiner Sterbestunde nach Darstellung des Markus sein letztes Wort sein. Von nun an schweigt er. Was er zu sagen hatte, hat er im Verlauf seiner öffentlichen Wirksamkeit gesagt. Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Die spätere christliche Gemeinde hat Jesu Schweigen im Sinne des Gottesknechtsliedes aus Jesaja 53 gedeutet. Dort lesen wir (V.7): »Er wurde misshandelt und beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt.« Erst in der Stunde seines Todes öffnet Jesus nochmals seinen Mund. Sterbend ruft er nach seinem Gott und klagt mit Worten aus Psalm 22: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«14 Zuletzt aber versagen die Worte. Jesus stößt einen lauten Schrei aus, bevor er stirbt. Der Rest ist Schweigen. 14 Vgl. dazu ausführlich Ulrich H.J. Körtner: Wie lange noch, wie lange? Über das Böse, Leid und Tod, Neukirchen-Vluyn 1999, 31–51.

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Und wo ist Gott? Warum antwortet er nicht auf Jesu verzweifelten Schrei am Kreuz? Wo bleibt die Stimme aus dem Himmel, die wie bei der Taufe Jesu laut würde, die jetzt vielleicht wie die letzte Posaune zum Jüngsten Gericht alle Welt erzittern ließe und mit donnernder Stimme Jesu Feinde, seine Henker und ihre Helfershelfer vernichten würde? Die Evangelien muten uns den Gedanken zu, dass in der Person des Gekreuzigten Gott selbst zum Schweigen gebracht worden ist. Nicht weil er abwesend wäre, sondern im Gegenteil, weil er ganz gegenwärtig ist, verstummt Gott. Seine Macht ist die Macht der Liebe, die in Jesus von Nazareth menschliche Gestalt angenommen hat. Es ist dies eine ohnmächtige Macht, nicht unwiderstehlich, sondern widerstehlich, verletzbar und zerbrechlich. Wenn wir diesem Gedanken zu folgen versuchen, dann geht uns auf, dass Gottes Schweigen wie das Schweigen Jesu höchst beredt ist. Es ist und bleibt erfüllt von all den befreienden und umstürzenden Worten, die Jesus zuvor gesprochen hat, von all den Taten, die er im Namen Gottes begangen hat. Dieses Schweigen bleibt erfüllt vom Evangelium, das nun freilich allen zur Anklage wird, nicht nur denen, die Jesus nach dem Leben getrachtet haben, sondern auch seinen Jüngern, die ihn verraten und im Stich gelassen haben. In der Stunde seines Todes sind sie alle Täter, nicht Opfer, diejenigen, die ihm als seine Jünger gefolgt sind ebenso wie seine Gegner. Und damit beantwortet sich auch die Frage, wo eigentlich wir selbst in der Passionsgeschichte Jesu vorkommen. Wir sind keine unbeteiligten Zuschauer. Wir stehen aber auch nicht auf der Seite des Gekreuzigten, sondern auf der Seite der Täter. Wer aber als Täter Gott sein Schweigen zum Vorwurf machen will, verhöhnt den, den er selbst zum Schweigen gebracht hat, indem er seine Stimme, die sich z. B. im eigenen Gewissen meldet, unterdrückt oder überhört hat. Jesu Schicksal ist freilich mit seinem Verstummen und Gottes Schweigen nicht endgültig besiegelt. Sondern es wird uns berichtet von seiner Auferstehung, und das heißt von der Auferstehung des göttlichen Wortes. Der Tod macht stumm. Doch mitten im Tod bricht Gottes schöpferisches Wort neu hervor. Es ruft den neu ins Leben, der dem Tod preisgegeben war und verwandelt diejenigen, die von diesem Wort ergriffen werden, so dass sie von Liebe, von Vertrauen und Hoffnung erfüllt werden. Das quälende Schweigen Gottes, welches über Golgatha lastet, wird durchbrochen, indem ausgerechnet einer der Henker neue Worte findet: »Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen« (Mk 15,39). Mit diesem Bekenntnis antwortet er jener Stimme, die bei der Taufe Jesu zu hören war: »Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« Es gehört zu den Zumutungen der Christusbotschaft, dass sie eine Hoffnung nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter verkündigt. Dass sich Gottes Gerechtigkeit gegen allen Augenschein durchsetzt, soll die Hoffnung nicht nur für die Opfer, sondern auch für

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die Täter sein – freilich nur um den Preis einer radikalen Verwandlung, auf dass die Täter nicht ein zweites Mal über ihre Opfer triumphieren. Das ist keine billige Gnade, keine Generalamnestie, welche den Unterschied zwischen Täter und Opfer verwischt, sondern eine teure Gnade, die nur um den Preis schmerzvoller Umkehr und Erneuerung zu haben ist. Wir alle sollen verwandelt werden, jedoch so, dass der alte Mensch, der Gott in sich und in der Welt zum Schweigen bringt, indem er sich an seinem Mitmenschen vergreift und sich ständig nur selbst auf Kosten anderer behaupten will, stirbt und ein neuer Mensch ersteht. Von Gott können wir nur sprechen, wenn er selbst auf neue Weise zur Sprache kommt. Dass dies auch heute geschehen kann, bleibt die Verheißung der biblischen Überlieferung, die uns zugemutet wird. Es gehört zu den Zumutungen des Neuen Testaments zu glauben, dass selbst die abgründigen Erfahrungen von Gottes Schweigen in der heutigen Welt durchdrungen sind vom befreienden Wort des Evangeliums, dass Gottes Schweigen, dessen Erfahrung überhaupt nicht zu leugnen ist, sein Reden nicht dementieren kann.15 Dass seine Stimme neu gehört wird, richtend und rettend zugleich, dazu muss es zuvor uns die Sprache verschlagen, müssen unsere Worte verstummen, mit denen wir Gott zum Schweigen bringen und übertönen.16

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Der verborgene Gott und die Frage nach ihm

Ihrem Namen nach ist es die Aufgabe der Theologie, auf reflektierte Weise von Gott zu reden. Das kann sie nur auf nachdenkliche Weise tun, indem sie der immer schon vorausliegenden Rede christlichen Glaubens von Gott nachdenkt. Theologie ist die praxisorientierte und normative Wissenschaft vom Christentum.17 Praxisorientiert ist sie, insofern es sich um die akademische Berufsvorbildung für Tätigkeiten innerhalb oder im Auftrag der Kirche handelt (Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen und Religionslehrer). Normativ ist sie, insofern sie um ihrer Praxisorientierung willen die Frage nach der Geltung christlicher Glaubensinhalte und der mit ihnen übereinstimmenden Begründung christlicher Glaubens- und Lebensvollzüge bearbeiten muss. Als wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Christentum verfolgt die Theologie über weite Strecken religionswissenschaftliche Fragestellungen. Im Unterschied zur Reli15 Vgl. Michael Trowitzsch: Technokratie und Geist der Zeit. Beiträge zu einer theologischen Kritik, Tübingen 1988, 81–82. 16 Vgl. auch Ulrich H.J. Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, (18–43) bes. 38–40. 17 Die folgenden Sätze sind wörtlich übernommen aus Ulrich H.J. Körtner: Dogmatik (LETh 5), Leipzig 2018 = Studienausgabe 2020, 37–38

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gionswissenschaft hat die Theologie das Christentum allerdings nicht bloß zum Gegenstand (Beobachterperspektive), sondern ist ein Moment desselben (Binnenperspektive). Selbstreflexivität und argumentative Rechenschaft gehören zur christlichen Religion, für welche »Glaube« die Selbstbezeichnung ist. Sofern sie nach dem Grund des Glaubens und seiner Praxis fragt, ist Theologie die Lehre von Gott als derjenigen Größe, welche die Botschaft des christlichen Glaubens als vermittels ihrer selbst Glauben provozierende und als solche in Erscheinung tretende zur Sprache bringt. Die neuzeitliche Privatisierung der Religion hat auf christlichem Boden allerdings zu einer Religion ohne Gott geführt. So könnte man geneigt sein, das Verstummen der Gottesrede als Wink zu verstehen, die Gottesthematik aus der Theologie endgültig zu verabschieden und durch das Thema der gott-los gewordenen Religion zu ersetzen. Demgegenüber möchte ich die These vertreten, dass die Zukunft der Theologie davon abhängt, dass sie auch künftig Theologie im buchstäblichen Sinne bleibt, d. h. es wagt von Gott zu reden und solcher Gottesrede nachzudenken. Die Rede von Gott ist für den christlichen Glauben zentral und unaufgebbar, weil er sich selbst, das menschliche Dasein und die Welt im Ganzen als Gabe versteht, die sich der bedingungslosen Gnade und Güte Gottes verdankt. Verdanktes Dasein ist empfangenes Dasein. Paulus: »Was hast du, das du nicht empfangen hast?« (1Kor 4,7). Diese Grundeinsicht hat die Reformation neu und auf geradezu revolutionäre Weise zu Geltung gebracht, wie sich an Luthers Auslegung des 1. Artikels des Apostolikums in seinem Kleinen Katechismus veranschaulichen lässt. Das sola gratia, sola fide, solus Christus und sola scriptura bzw. solo verbo bündelt sich bei Luther im solus Deus.18 »Gott allein« – »God first« (Ingolf U. Dalferth)19 – steht im Mittelpunkt reformatorischer Theologie als innere Konsequenz und Bedingung der Rechtfertigungslehre. Weil christlicher Glaube denkender Glaube ist und der Lobpreis Gottes auch im Denken vollzogen wird, hatte die reformatorische Erfahrung und Erkenntnis, dass Gott den sündigen und gottlosen Menschen bedingungslos rechtfertigt, zur Folge, Gott neu zu denken. Jeder Versuch, das Erbe der Reformation für unsere Zeit zu vergegenwärtigen, bleibt unzureichend, wenn es nicht gelingt, Gott auf zeitgemäße wie zugleich biblisch fundierte Weise neu zu denken und von ihm zu reden. Das Reformationsjubiläum 2017 hat ausgerechnet dieses Thema nur sehr stiefmütterlich behandelt. Entsprechende Bemühungen, die es durchaus gegeben hat, sind offenbar ohne nennenswerten Erfolg geblieben. 18 Vgl. Gerhard Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 41981, 296. 19 Vgl. Ingolf U. Dalferth: God first. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart, Leipzig 2018.

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Unter gegenwärtigen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern an der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung, so gewiss es keinen natürlichen oder evolutionären Weg von einem allgemeinen Religionsbegriff zum Geltungs- und Wahrheitsanspruch jedes wirklichen Monotheismus gibt. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen.20 Erst aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht die Frage nach Gott.21 Das in Erinnerung gerufen zu haben, bleibt theologiegeschichtlich das Verdienst der Dialektischen Theologie. Nur vor dem Hintergrund des biblischen Offenbarungszeugnisses und der diese wachhaltende Erinnerung ergibt es einen Sinn, von Gottes Abwesenheit und Verlust in der Moderne zu sprechen. Die biblische Tradition mutet uns zu, den der Moderne entschwundenen Gott nicht als abwesenden, sondern als verborgenen, das heißt aber, allem Augenschein zum Trotz gegenwärtigen und wirksamen zu denken, – vor allem aber: zu glauben. »Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, der Gott Israels, ein Erretter!« (Jes 45,15). Angesichts neuzeitlicher Erfahrungen der Verborgenheit Gottes möchte es diesen biblischen Glaubenssatz beim Wort nehmen, d. h. aber als Verheißung begreiflich machen, dass weder die moderne Skepsis noch der neureligiöse Polytheismus das letzte Wort haben werden.

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Handeln und Allmacht Gottes

Zu den theologischen Herausforderungen der Gegenwart gehört das Problem, wie von Gottes Wirken in der Welt, in der Geschichte und im Leben der einzelnen Menschen gesprochen werden kann. Diese Frage berührt den Schöpfungsglauben ebenso wie das Problem der Geschichtstheologie. Im säkularen Zeitalter erscheinen Natur und Geschichte als Kausalzusammenhänge, deren wissenschaftliche Erklärung ohne Gott als Arbeitshypothese auskommt. Gott ist weder als Letztursache noch als Einzelursache vonnöten. Wenn von Gott und seiner Beziehung zur Welt gesprochen werden soll, kommt es offenbar grundsätzlich nicht mehr in Betracht, diese Beziehung in einem Kausalschema zu denken. Wie aber kann dann noch der biblische Gott gedacht und wie von ihm geredet werden, der im Alten und im Neuen Testament stets als lebendiger und handelnder

20 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Der verborgene Gott. Zur Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2000. 21 Vgl. Ernst Fuchs: Hermeneutik, Bad Cannstatt 31963, 70; Hans Weder: Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 45.

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vorgestellt wird? Der lebendige Gott ist kein abstraktes Prinzip, sondern er handelt an und in der Welt als Schöpfer, Erlöser und Versöhner. Die Rede vom Handeln beziehungsweise vom beständigen Wirken Gottes ist für das biblische Zeugnis grundlegend. Auch seine Selbstoffenbarung ist als Handeln zu denken. Und in seinem Offenbarungshandeln zeigt sich nicht nur, dass Gott ist, sondern wer und was für ein Gott er ist. Gott tritt in der Bibel einerseits rettend und andererseits segnend in Erscheinung. Auf diesen Unterschied hat der Alttestamentler Claus Westermann (1909–2000) aufmerksam gemacht.22 Während Gottes Rettungstaten – allen voran die Herausführung Israels aus der Sklaverei in Ägypten – als Eingreifen Gottes, das heißt als ereignishaftes Geschehen erfahren wird, ist der Segen ein stetiges Wirken Gottes. Die Rede vom Handeln Gottes oder vom handelnden Gott wirkt, oberflächlich betrachtet, wie ein massiver Anthropomorphismus, der sich Gott wie eine übermächtige menschliche Person vorstellt. Tatsächlich trägt der biblische Gott personale Züge. Aber die personale Redeweise hat doch metaphorischen Charakter. Sie ist unverzichtbar, weil – mit Paul Tillich gesprochen – das, was uns unbedingt angeht, nicht weniger als der Mensch sein kann, der sich als Person vorfindet und begreift. Metaphorisch ist auch die Rede vom Handeln Gottes. Will man, um anthropomorphe Assoziationen zu vermeiden, lieber vom Wirken Gottes sprechen, besteht die Gefahr, sich Gottes Einwirken auf die Welt und den Menschen quasi physikalisch vorzustellen. Wir sprechen zum Beispiel von der Wirkung eines Medikaments. Zwar können wir auch von der Wirkung eines menschlichen Werkes sprechen, der Wirkung eines Kunstwerks oder auch den Nachwirkungen eines Lebenswerkes. In Literaturwissenschaft und biblischer Exegese spielt die Wirkungsgeschichte eines Textes eine große Rolle. Aber in den genannten Beispielen ist das Wirken gerade nicht vom menschlichen Handeln getrennt, weil das fortwirkende Werk seinen Ursprung im menschlichen Handeln hat. Auch seine Rezeption erfolgt nicht ohne menschliche Aktivitäten. Analog ist auch die Rede vom Wirken Gottes und seiner Werke (Ps 8; Ps 105) nicht ohne die metaphorische Rede von seinem Handeln angemessen zu verstehen. Das biblische Zeugnis denkt Gottes Sein stets als Tätigsein und beschreibt dies in Metaphern. Bei diesen Metaphern handelt es sich nicht lediglich um ein rhetorisches Stilmittel, auf das man auch zugunsten einer philosophisch geschulten Begriffssprache verzichten könnte. Die Rede vom Handeln und Wirken Gottes ist vielmehr im Sinne eines aus der modernen Literaturwissenschaft stammenden Begriffes absolut metaphorisch. Absolute Metaphern sind nicht zu Begriffen verblasste Bilder, sondern Modelle der Reflexion, mit deren Hilfe Begriffen oder Ideen, von denen es schlechterdings keine angemessene Anschau22 Claus Westermann: Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, Gütersloh 1981.

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ung gibt, zu einer Versinnlichung geholfen werden soll.23 Alle religiöse Rede von Gott lässt sich auf absolut-metaphorische Basissätze zurückführen. Die biblische Metaphernsprache hat wiederum eine narrative Struktur. Die absoluten Metaphern biblischer Gottesrede, allen voran die Rede vom Handeln und Wirken bzw. den Werken Gottes, lassen sich nicht in reine Begriffssprache auflösen und auch nicht allein durch Begriffe interpretieren. Sie werden vielmehr durch Erzählungen erläutert, in die sie eingebettet sind. Darum spielen Erzählungen in der biblischen Überlieferung eine so große Rolle. Die metaphorische Rede vom Handeln Gottes bringt die Erfahrung des Glaubens zum Ausdruck, dass der Mensch sein Dasein nicht sich selbst verdankt, sondern dass er es nur als Gabe empfangen kann. Sie bringt zur Sprache, dass der Mensch nicht das Gute schaffen kann, sondern sich nur das Gute gefallen lassen kann, dass ihm von Gott her zuteil wird. Dass wir geboren werden und sterben müssen, aber auch die Erfahrung von Glück und Freude, von Liebe und Vergebung fasst der Apostel Paulus in dem Satz zusammen: »Was hast du, das du nicht empfangen hast?« (1Kor 4,7) So bringt die Rede vom Handeln Gottes das Vonwoher menschlicher Grundpassivität zum Ausdruck. Das Motiv des Handelns Gottes verbindet sich in der christlichen Tradition nicht nur mit der Schöpfung, ihrer Erhaltung und Vollendung (conservatio mundi, concursus divinus) sowie der göttlichen Vorsehung (providentia), sondern auch mit seiner Erwählung Israels und aller an Christus Glaubenden (praedestinatio). Von der paulinischen und der reformatorischen Rechtfertigungslehre aus betrachtet, steht der Gedanke der Erwählung nicht für ein elitäres Überlegenheitsbewusstsein, sondern für die Zusage der Bedingungslosigkeit der göttlichen Liebe, der Güte und Barmherzigkeit Gottes. Sie ist mit anderen Worten das Implikat der reformatorischen Grundaussage, dass der Mensch allein durch den Glauben um Christi willen und allein aus Gnade gerechtfertigt und gerettet wird. Die Schwierigkeiten, welche die Rede von Gottes Schöpfungshandeln und seinem Erwählungshandeln heute bereiten, zeigen sich bis in kirchlichen Stellungnahmen, z. B. zu Umwelt und Klimaschutz, hinein. In kirchlichen Appellen zur Bewahrung der Schöpfung erscheint der biblische Gott oft nur noch als Motivator für menschlichen Einsatz zum Schutz der Natur, gewissermaßen als religiöses Add-on, auf das man notfalls verzichten kann. »Der Geist der Zeit oder Zukunft«, notierte Ludwig Feuerbach 1842/43, »ist der des Realismus. Die neue Religion, die Religion der Zukunft ist die Politik.«24 23 Vgl. Hans Blumenbergs Theorie der absoluten Metapher, die an den Symbolbegriff Immanuel Kants anschließt. 24 Ludwig Feuerbach: Notwendigkeit einer Veränderung (1842/43), in: ders.: Kleine Schriften, hg. v. Karl Löwith, Frankfurt a.M. 1966, (220–235) 231, Anm. 1.

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Echten Gottesglauben gebe es nicht einmal mehr in den fortbestehenden Kirchen. Die Gläubigen sprächen zwar weiter vom Segen Gottes, doch suchten sie echte Hilfe nur beim Menschen. Daher sei der Segen Gottes »nur ein blauer Dunst von Religion, in dem der gläubige Unglaube seinen praktischen Atheismus verhüllt«25. Sofern solch praktischer Atheismus tatsächlich in den Kirchen anzutreffen ist, zeigt sich in ihm, wie sehr auch die Kirchen von der »Gotteskrise« (Johann Baptist Metz) befallen sind. Ohne selbstkritische Auseinandersetzung mit der innerkirchlichen Gotteskrise und dem Misslingen kirchlicher und theologischer Rede von Gott laufen alle Versuche, auf neue Weise von Gott zu reden, ins Leere. Soll von Gott die Rede sein, ohne alle Theologie in Anthropologie und Ethik aufzulösen, wird dies nur möglich sein, wenn an der Rede von der Allmacht Gottes festgehalten wird. Mit ihr steht und fällt alle christliche Rede von Gott, wie ein Blick auf die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse zeigt. Nicht nur fällt auf, dass sowohl das Apostolikum als auch das Nicäno-Konstantinopolitanum ausdrücklich von Gottes Allmacht sprechen (Deus, pater omnipotens, griech. Pantokrátor), sondern, dass seine Allmacht überhaupt die einzige Eigenschaft ist, die Gott in beiden Glaubensbekenntnissen zugesprochen wird. »Sie bringt also nicht nur eine Eigenschaft unter anderen zum Ausdruck, sondern stellt heraus, was Gott in Wahrheit ist, wer er als Gott ist.«26 Oder um es mit den Worten Rudolf Bultmanns zu sagen: Wo »überhaupt der Gedanke ›Gott‹ gedacht ist, besagt er, daß Gott der Allmächtige, d. h. die Alles bestimmende Wirklichkeit sei«27. Die »Gotteskrise« (Metz) und das Misslingen christlicher Rede von Gott haben in der Krise des Glaubens an die Allmacht Gottes, besser gesagt: an den allmächtigen Gott, ihren letzten Grund. Diese Glaubenskrise resultiert freilich aus der Erfahrung, dass die Allmacht Gottes nicht etwa nur von außen durch die moderne Religionskritik bestritten wird, sondern dass seine Allmacht angesichts der Erfahrung des Leidens und des Bösen durch Gott selbst in Frage gestellt zu sein scheint. Schmal ist der Grat zwischen Bonhoeffers bereits oben zitierter wirkmächtiger kreuzestheologischen und paradoxen Rede von dem Gott, der uns zu verstehen gibt, dass wir in der Welt leben müssen, als ob es ihn nicht gäbe, und jenem praktischen Atheismus, von dem Ludwig Feuerbach gesprochen hat. Für die Wiedergewinnung christlicher Rede von Gott in unserer Zeit kommt es entscheidend darauf an, diesen Unterschied ins Auge zu fassen. Die biblische Tradition mutet uns zu, den der Moderne entschwundenen Gott als verborgenen, 25 Feuerbach: Notwendigkeit (s. Anm. 24), 233. 26 Hans-Christoph Askani: Ist die »Ohnmacht Gottes« eine theologische Lösung?, in: HansPeter Großhans u. a. (Hg.): Das Letzte – der Erste. Gott denken (FS Ingolf U. Dalferth), Tübingen 2018, 1–18, hier 1. 27 Bultmann: Sinn (s. Anm. 2), 26.

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das heißt, allem Augenschein zum Trotz gegenwärtigen zu denken, – vor allem aber: zu glauben. Seine Verborgenheit steht nicht im Gegensatz zu seiner Offenbarung. Vielmehr hat die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus die Gestalt der Verborgenheit. In der Menschwerdung wie im Kreuzestod Jesu offenbart sich die Herrlichkeit Gottes in der Gestalt äußerster Niedrigkeit. Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf paradoxe Weise auf dem Antlitz des Gekreuzigten auf. So kann Paulus schreiben: »Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi« (2Kor 4,6). Die Krise heutiger Rede von Gott, die sich durch das Theodizeeproblem in Frage gestellt sieht, lässt sich nicht dadurch überwinden, dass man auf die Rede von der Allmacht Gottes verzichten und sie durch die Rede von der Ohnmacht Gottes ersetzt, wie dies nach 1945 in vielen theologischen Texten und Entwürfen geschehen ist. In Gottes Ohnmacht am Kreuz offenbart sich gerade seine Allmacht. Die christologisch begründete Rede von der Ohnmacht Gottes darf daher nicht gegen die von seiner Allmacht ausgespielt werden, es sei denn um den Preis der Auflösung des christlichen Gottesgedankens. Gottes Ohnmacht ist vielmehr als Weise seiner Allmacht auszubuchstabieren. Inkarnation, Tod und Auferweckung Jesu Christi begründen eine spezifische Form von negativer Theologie, deren via negativa nicht darin besteht, im Wege der Nicht-Identität abstrakt von der Welt und somit indirekt von Gott zu sprechen. Sondern die Nicht-Identität von Gott und Welt ist zunächst im Modus von Klage und Buße auszusagen. Es ergibt sich dann aber auch die Möglichkeit, diese Erfahrung im Lichte eines paradoxen Offenbarungsbegriffs zu interpretieren und aufzuschließen für die Möglichkeit, dass Gott inmitten seiner Abwesenheit auf eine höchst bestimmte Weise anwesend ist, richtend und rettend zugleich. Demgegenüber ist verbreitet eine Rede vom ohnmächtigen Gott anzutreffen, die diesen lediglich als mitleidenden Begleiter der leidenden Menschen oder sogar als Objekt menschlicher Obhut und Fürsorge sieht. Mit Recht fragt sich Johann Baptist Metz, »ob die Rede von einem Gott, der solidarisch mit uns leidet, nicht im Grunde genommen nur eine menschenfreundlichere Projektion ist, so wie man früher, in feudalistischen Zeiten, Gott als den projiziert hat, der als oberster Kriegsherr, als Allmächtiger herrscherliche Macht ausübt«28. Wird der Gedanke der Allmacht Gottes preisgegeben, läuft die Transformation christlicher Glaubensgehalte in ethische Appelle auf eine Hypermoral (Arnold Gehlen) hinaus. So »kann eine Theologie des mitleidenden Begleiters aufgrund des starken Veränderungsinteresses – sozusagen mit umgekehrten Vor28 Johann Baptist Metz: »Welches Christentum hat Zukunft?«. Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz im Gespräch mit Karl Joseph Kuschel, Stuttgart 1990, 34.

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zeichen – so moralisch werden, dass [sc. sie] in ihrer auf Dauer gestellten Empörung Gott seine Schöpfung nicht verzeihen kann«29. Das hat auch für die Sphäre des Politischen dramatische Konsequenzen. »In ihrer vermeintlich strukturell notwendigen und theologisch legitimierten Kompromisslosigkeit ist« eine »säkularisierte und politisierte eschatologische Ungeduld«, die sich in Forderungen nach Rettung und Verbesserung der Welt durch den Menschen Bahn bricht, »bereit, den gegenüber der Kirche notwendig antagonistisch strukturierten Raum des genuin Politischen faktisch aufzulösen«30. Das Nachdenken über biblisch-theologisch verantwortete Rede von Gott in reformatorischer Perspektive liefert im besten Fall einen wesentlichen Beitrag zu einer Theologie und Ethik des Politischen. Die Rede von Allmacht als wesenhafter Eigenschaft Gottes scheint vordergründig auf dem Weg der via eminentiae gewonnen zu sein. Die Erfahrung menschlicher und innerweltlicher Macht wird demnach ins Unendliche gesteigert vorgestellt. Die via eminentiae kann aber nicht ohne die christologisch – und das heißt in reformatorischer Perspektive: kreuzestheologisch – zu bestimmende via negationis beschritten werden. Mit der Allmacht Gottes als Inbegriff seines Seins, seiner Liebe und Güte, seines Wissens und seiner Macht ist »gerade nicht nur ein Mehr innerhalb einer gegebenen Vergleichbarkeit, sondern das Sprengen jeder Vergleichbarkeit zwischen allen zeitlichen Wesen und dem der Zeitlichkeit nicht unterworfenen Gott« gemeint.31 Oder um mit Karl Barth zu sprechen: »Gott ist nicht die ›Macht an sich‹ […], nicht von einem höchsten Inbegriff von Macht aus ist zu verstehen, wer Gott ist«32. Das Vertrauen auf Gottes Allmacht und sein Handeln in der Welt steht nicht im Widerspruch zum Gedanken menschlicher Eigenverantwortung. Vielmehr befreit der Glaube, das bedingungslose Vertrauen auf Gott, zur Verantwortungsübernahme und zur freien Tat. Das verantwortliche Handeln aus Glauben setzt sich nicht an die Stelle Gottes, sondern wird im Gegenteil ganz im Vertrauen auf Gottes Wirken in der Welt gewagt, wie es klassisch in der Lehre vom concursus divinus zu Ausdruck gebracht wird. Auch heutige Rede von Gott soll Menschen in dem Glauben und Vertrauen bestärken, »daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet«33. Mit Gottes Handeln und Wirken ist nicht nur dort zu rechnen, wo Menschen passiv sind, sondern auch dort, wo sie aktiv sind und ihr Leben selbst in die Hand 29 Günter Thomas: Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019, 41. 30 Thomas: Gottes Lebendigkeit (s. Anm. 29), 41. 31 Askani: Ohnmacht Gottes (s. Anm. 26), 2–3. 32 Karl Barth: Dogmatik im Grundriß, Stuttgart 1947, 58. 33 Bonhoeffer: Widerstand (s. Anm. 4), 31.

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nehmen. Wir führen unsere Leben im Spannungsfeld zwischen Tun und Lassen, zwischen Widerstand und Ergebung. Gottes Wirken erfahren wir nicht etwa nur, wenn wir uns passiv oder gar ausgeliefert fühlen, sondern auch in unserer eigenen Stärke, unseren Begabungen und Fähigkeiten. Wir erfahren Gottes Wirken in, mit und unter Widerstand und Ergebung dem gegenüber, was wir Schicksal nennen. Dann erfahren wir, dass menschliche Lebensführung immer auch ein Geführtwerden ist.

5

Beten und Warten

Ohne die kreuzestheologisch bestimmte Rede von der Allmacht Gottes bzw. von dem allmächtigen Gott als der Alles bestimmenden Wirklichkeit fällt auch die Möglichkeit des Gebetes in sich zusammen. Die Krise christlicher Gottesrede ist eben auch eine Krise des Gebetes, so gewiss alle Rede von Gott und über Gott, sofern sie nicht misslingt, in der Rede zu Gott wurzelt und in sie mündet. Beten, so Karl Barth, heißt »sich Gott zuwenden«34. Das Gebet ist der Ort des Lobpreises ebenso wie der Klage. Im Entscheidenden aber ist das Gebet als Bittgebet zu erschließen, das für Christen im Vaterunser seinen Grund und seinen Maßstab hat. Das Vaterunser ist zugleich als Summe der Verkündigung Jesu und somit als Summe christlicher Rede von Gott zu verstehen und als solche zu entfalten. Schon Tertullian hat das Vaterunser als »breviarium totius Evangelii« bezeichnet.35 Die rechte Weise, das Vaterunser zu beten, wie überhaupt jedes Gebet, das in die Schule dessen geht, der seine Jünger gelehrt hat, auf diese Weise zu beten, »ist das seiner Erhörung gewisse Gebet«36. Mit Barth aber ist unter Erhörung »die Aufnahme und Hineinnahme des menschlichen Bittens in den Plan und Willen Gottes«37 zu verstehen. Hier schließt sich nun der Kreis: Ohne die kreuzestheologisch – und das heißt auf paradoxe Weise – bestimmte Gewissheit der Allmacht Gottes und seiner Anwesenheit unter der Gestalt seiner Abwesenheit ist das Gebet als grundlegende Weise der Gottesrede nicht denkbar. Somit ist nun eben auch der Gedanke – besser gesagt: die eschatologische Gewissheit – der Providentia Dei die Bedingung für das Gebet im Sinne echter Bitte und Fürbitte, denen dann auch Lob und Klage zugeordnet sind. Man muss aber wohl auch umgekehrt sagen, dass das

34 35 36 37

Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, Zollikon/Zürich 1951, 95. Vgl. Körtner: Dogmatik (s. Anm. 17), 144. Barth: KD III/4 (s. Anm. 34), 117. Barth: KD III/4 (s. Anm. 34), 117.

Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?

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Gebet der Ort ist, an dem sich die Rede von Gottes Erwählung und Providenz, seinem Plan und seinem Willen allererst als existentielle Gottesrede erschließt. Das Gebet ist die Antwort dessen, der sich von Gott angesprochen weiß, und das auch noch angesichts der mehrdeutigen Erfahrung seines Schweigens. Im Modus der Klage lautet die Bitte, Gott möge sein Schweigen brechen. »Herr, du hast es gesehen, schweige nicht; Herr, sei nicht ferne von mir«, so betet der Psalmist in Ps 35,22. »Gott, mein Ruhm, schweige nicht!« (Ps 109,1). Und Ps 39,13 fleht zu Gott: »Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen.« Der Grund solchen Betens aber ist die Gewissheit des Glaubens: »Unser Gott kommt und schweiget nicht« (Ps 50,3). Angesichts heutiger Erfahrungen des Schweigens Gottes besteht die Aufgabe der Theologie nicht nur darin, die Erinnerung des Glaubens wachzuhalten, dass Gott vormals zu Menschen geredet hat, sondern auch darin, die biblisch bezeugte Verheißung beim Wort zu nehmen, dass Gott kommt und nicht für immer schweigt. Wo mit dieser Möglichkeit nicht mehr ernsthaft gerechnet wird, mutiert Theologie entweder zur reinen Ethik oder zu einem Zweig der Kulturwissenschaft. Von der Religionswissenschaft oder Kulturwissenschaft unterscheidet sich die Theologie darin, dass sie die vergangene Gottesrede nicht allein historiographisch oder literaturwissenschaftlich untersucht, sondern sich bei ihrem Nachdenken von der in Ps 50,3 ausgesprochenen Hoffnung leiten lässt, dass selbst Gottes Schweigen sein früheres Reden und die in ihm beschlossene Verheißung seines künftigen, lebenschaffenden und heilsamen Wortes nicht dementiert. Vielmehr muss und darf dann selbst noch das Schweigen Gottes als ein beredtes, von der Sprache des Evangeliums durchdrungenes Schweigen begriffen werden. Selbst noch im Modus des Schweigens bleibt Gott dem Menschen heilvoll zugewandt. Was Theologie und Kirche zur Erneuerung des christlichen Glaubens beitragen können, ist tätiges Warten.38 Zu Recht kritisiert die Praktische Theologin Birgit Weyel eine »Art Aufregungsbewirtschaftung à la ›Es muss etwas getan werden‹, auch weil angeblich nur noch ein verhältnismäßig schmaler zeitlicher Korridor bleibt, wo man noch etwas ändern kann«, warnt aber genauso richtig vor »einem schlichten ›Weiter so‹«39. Tätiges Warten ist weder das eine noch das andere. Dietrich Bonhoeffer schrieb seinem Patenkind zum Tauftag als Vermächtnis: »Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so aus38 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Theologie in dürftiger Zeit, München 1990, bes. 56–58; Hartmut Rosenau, Vom Warten: Grundriss einer sapientialen Theologie. Neue Zugänge zur Gotteslehre, Christologie und Eschatologie, Münster 2012. 39 Birgit Weyel: »Nachsteuern kaum möglich« (Interview: Reinhard Mawick), in: zeitzeichen 2 (2020), https://zeitzeichen.net/index.php/node/8052 (letzter Zugriff: 5. 8. 2021).

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zusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert«40. Ganz so schrieb auch Luther 1518, die Zeit, wann die Reformation als das Werk Gottes vor sich gehen werde, kenne »nur der, der die Zeit geschaffen hat«41. Eine wartende Kirche im Sinne Bonhoeffers »wartet, indem sie arbeitet«42. Theologie, die sich mit letzter Redlichkeit einer Situation stellt, in welcher der christliche Glaube eben nicht fraglos gegeben ist, ist wartende Theologie, die nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat, sondern bisweilen nur qualifiziert schweigen kann und auch in Glaubensfragen ihre Sprachnot nicht kaschiert. Sie ist ferner in dem Sinne wartende Theologie, dass sie das Erbe des biblischen Zeugnisses hütet, getragen von der Hoffnung, dass es neu zu sprechen beginnt. Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, in dreierlei besteht, nämlich nicht nur im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen, sondern auch im Warten auf Gottes Zeit.

40 Bonhoeffer: Widerstand (s. Anm. 4), 436. 41 Martin Luther: Werke (WA 1), Weimar 1883, 627. 42 Dietrich Bonhoeffer, Die Bekennende Kirche und die Ökumene, in: EvTh 2 (1935), 245–261, jetzt in: ders., Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, hg. v. Otto Dudzus u. Jürgen Henkys in Zusammenarbeit mit Sabine Bobert-Stützel, Dirk Schulz u. Ilse Tödt (DBW 14), Gütersloh 1996, (378–399) 397.

Wilfried Engemann

Der kommunikative Anspruch an theologische Kompetenz. Zur Didaktik einer zeitgenössischen akademischen Theologie*

Abstract Starting from an anthropologically shaped reformulation of the basic idea of Christianity, the »communication of the Gospel« (1.–2.), attention is drawn to the actual challenges (3.) and problems in the academic teaching and ecclesial »implementation« of this principle (4.). As a consequence, the communicative demands of theological competence are explained in detail (5.). The author makes suggestions as to how academic training – without having to fundamentally change its curricula because of this – should react to this. This requires both teachers and students to seriously strive for a subject orientation of theological work and a correspondingly appropriate theology. This is expressed, for example, in an anthropologically reflected understanding of the central concept of the »gospel« and of the medial character of »Holy Scripture«. Professors of theology are expected to play the role of sparring partners who »hand out theology« and in a sense reclaim it within the framework of courses. This is not least about the continuous development and testing of one’s own theological linguistic ability, which both follows the rules of logic and takes into account the symbolic character of religious language.

Der heutige Vortrag und die sich anschließende Diskussion bilden den letzten Akt dieses Jubiläums, das wir anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät am Ende dieses Abends begangen haben werden. Mit diesem sich fast über ein Jahr hinziehenden Veranstaltungsmarathon haben wir viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen und – um es klar heraus zu sagen – »für die Fakultät« geworben: Für unsere Fakultät als Sehnsuchtsort für Studium, Forschung und Lehre, für die Ergebnisse unserer theologischen Arbeit, für die Relevanz und Reichweite evangelischer Theologie überhaupt – und in gewisser Hinsicht auch für die Religion, auf die sich Evangelische Theologie im Kern bezieht. * Vortrag vom 24. Januar 2022, gehalten zum Abschluss der Ringvorlesung des Professoriums der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien zum Thema »Theologie der Zukunft? Anhaltspunkte in der Gegenwart«. Die Ringvorlesung wurde anlässlich des 200jährigen Bestehens der Evangelisch-Theologischen Fakultät (1822–2022) im Wintersemester 2021/22 veranstaltet.

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Anlässlich des heutigen Abschlusses dieses Jubiläums möchte ich diese Werbekampagne in einem ersten Schritt schlaglichtartig unter die Lupe nehmen und mich dabei dem Thema dieses Abends annähern: »Der kommunikative Anspruch an theologische Kompetenz. Zur Didaktik einer zeitgenössischen akademischen Theologie.«

1

Werben mit einem Jubiläum – aber wofür?

Den ersten Teil der Jubiläumsveranstaltungen haben wir im Sommersemester des letzten Jahres ehemaligen Studierenden der Evangelischen Theologie anvertraut, größtenteils Absolventinnen und Absolventen dieser Fakultät. Sie haben sich in einer eigenen Vortragsreihe mit »Praxisfeldern als Testfällen der Theologie« befasst und dargelegt, vor welchen theologischen Herausforderungen sie sich heute sehen und welche Ansprüche, Einsichten und Perspektiven sie im Berufsalltag bestimmen. Dann – Kampagne 2 – standen uns die zentralen Festtage ins Haus: In hochkarätigen Vorträgen und Statements wurde Evangelische Theologie als eine Wissenschaft präsentiert, die sich – durchaus von eigenen Prämissen und spezifischen Argumentationsmustern bestimmt – im Diskurs mit anderen geistes- und humanwissenschaftlichen Disziplinen als verlässliche Dialogpartnerin bewährt hat. Sie wird offensichtlich gebraucht. Evangelische Theologie ist als Wissenschaft portraitiert worden, die sich gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber in der Pflicht sieht und – last not least – bemüht ist, ihrer facettenreichen, unzertrennlichen Weggefährtenschaft mit der Kirche Rechnung zu tragen. (Der Bischof ist hoffentlich zugeschaltet.) Schließlich – 3. Werbekampagne – war die Reihe an den Professorinnen und Professoren. Sie hatten sich zur Aufgabe gestellt, die nur alle 100 Jahre kommende Gelegenheit eines Centennium–Jubiläums dafür zu nutzen, ihr eigenes Verständnis vom Profil einer zeitgenössischen Theologie jeweils aus der Perspektive ihres Fachs zu umreißen und essentielle Einsichten, Erfahrungen und Reflexionsperspektiven zur Sprache zu bringen, von denen sie aus guten Gründen erwarten, dass sie über den Tag hinaus von Bedeutung sind. So weckt man Erwartungen. Welche davon werden sich erfüllt haben? Mit diesem Programm haben wir uns jedenfalls weit aus dem Fenster gelehnt. So weit, dass die eigentlich enttäuschende Nachricht, die mich am Abend vor der Eröffnung der Festwoche aus dem Veranstaltungsmanagement erreichte, nur mäßigen Missmut bei mir auslöste. Stellen Sie sich vor: Obwohl das Banner des 200-Jahr-Jubiläums monatelang im Paket mit anderen Design- und Ausstattungsfragen bedacht und bestellt worden war, zeigt sich nun, dass die neue Aufhängungsvorrichtung nicht zum versehentlich benutzen alten Format passte, und dass der eiskalte Regen die zur Anbringung des Banners erforderliche Fassadenkletterei unmöglich machte. – Man versuche alles, könne aber nichts

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versprechen. Was für eine Enttäuschung! Doch der Gedanke, dass es etwas für sich hat, mit dem Heischen um Aufmerksamkeit nicht zu übertreiben, besänftigte mich zugleich. Denn Werbetafeln dieser Art verströmen vollmundige Versprechen, die eingelöst sein wollen: »200 Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät (1821–2021)«. Unentbehrlich an einer Universität, in der Kirche, für die Gesellschaft? Unverzichtbar für die immer neue Aktualisierung des protestantischen Idioms, in dem Freiheit und Verantwortung, Individualität und Gemeinschaftssinn, Widerstand aus Gewissensgründen und entschlossene Hingabe zu markanten Argumentationsmustern verknüpft sind? An dieser Fakultät?! 200 Jahre lang!? Kommt und seht!? – Wenn sie nun wirklich alle kämen, die das lesen. Würden sie dem, was sie zu hören bekommen, Bedeutung beimessen? Auch der Rektor würde auf dem Weg in sein Arbeitszimmer dieses Banner zu Gesicht bekommen und unseren Anspruch registrieren. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn dieser »Werbeträger« doch nicht zum Tragen käme?

Unübersehbar prangte das orangerote Banner im 8x4-Meter-Format über dem Hauptportal der Universität Wien, gerade noch rechtzeitig, bevor der erste Besucher die unterste Stufe der Freitreppe an der Ringstraße betrat und sein erstes Foto schoss: »200 Jahre Evangelisch-Theologische Fakultät (1821–2021)«.1 Vielleicht haben Sie diesen Werbeträger noch vor Augen: Hinter dem imposanten Schriftzug schaut eine selbstbewusste Dame hervor, Sapientia – mit dem Zepter der Weisheit in der rechten Hand; in der linken balanciert sie einen mächtigen Folianten. Und zum Zeichen ihrer auf Erkenntnis gründenden Autorität trägt sie eine Krone. Erwartungsvoll blickt sie aus dem in das Banner integrierten Universitätslogo über die 200 Jahre hinweg auf die eintreffenden Gäste, Musiker und Referenten, die sich zu einem etwas unbescheiden wirkenden Thema verabredet haben: »Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft.« Das Professorium dieser Fakultät hat dieses Thema für die dann folgende Ringvorlesung etwas variiert und um einen scheinbar selbstverständlichen Gesichtspunkt ergänzt: »Anhaltspunkte in der Gegenwart« – eine Erleichterung der Aufgabenstellung und Formulierung eines Anspruches zugleich: So schwer kann es mit der Theologie der Zukunft nicht sein. Schließlich gibt es richtungweisende Anhaltspunkte in der Welt, in der wir leben. Es geht um Theologie in Fühlungnahme mit prägenden soziokulturellen, sozialpsychologischen und sozioökonomischen Entwicklungen sowie um die Hintergründe und Konsequenzen solcher Prozesse. Es gilt zu sehen, vor welchen Herausforderungen Menschen heute im Führen eines eigenen Lebens stehen, wofür sie ihre Religion in Anspruch nehmen, wie sie sich als Christen verstehen und artikulieren.2 Wie soll man sonst – ohne einen Faible für die Vergegenwärtigung zeitgenössischer Le1 Vgl. das auf dem Buchcover verwendete Foto. 2 Dabei zeigt sich, dass die Praxis der Gemeinden und das, was Einzelne unter einem Leben aus Glauben verstehen, den Kommentierungen und Interpretationen der akademischen Theologie immer ein Stück voraus ist.

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benswelten und Glaubenskulturen – zu einer zeitgenössischen Theologie gelangen, geschweige denn zu einer Theologie der Zukunft? »Anhaltspunkte« bietet natürlich auch die Evangelische Theologie selbst, die einerseits an Universitäten gelehrt wird und andererseits in Gemeinden, an Schulen, im Bereich seelsorglicher und diakonischer Dienste sowie in anderen Kontexten kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens zum Tragen kommt – im Idealfall die beste Werbung für Protestantismus und Kirche. Obwohl die Personen, die in den exemplarisch genannten Bereichen arbeiten, ganz unterschiedliche Aufgaben haben, stehen sie als evangelische Theologinnen und Theologen auch vor einer gemeinsamen Herausforderung: Von ihnen wird erwartet, dass sie mit den Anliegen, Prinzipien, Formen der Kommunikation des Evangeliums vertraut sind, wie es im Fachjargon der Praktischen Theologie heißt.3 Diese spröde Formel – Kommunikation des Evangeliums – bezeichnet nun freilich, etwas salopp formuliert, den Werbeschlager Evangelischer Theologie und Kirche schlechthin. Was ist darunter zu verstehen?

2

»Kommunikation des Evangeliums« als Grundidee des Christentums

Mit dieser Wendung wird die gemeinsame Charakteristik alle jener Ereignisse und Prozesse ins Blickfeld theologischer Reflexion gerückt, in deren Verlauf Menschen an ihr eigenes Leben4 als ein Leben in Freiheit und Liebe herangeführt werden. Schließlich ist das Faible des Menschen für gerade diese beiden Existenzerfahrungen das stärkste Verdachtsmoment für seine Gottebenbildlichkeit. Die Kommunikation des Evangeliums ist ein denkbar vielgestaltiges, sich in Erfahrungen, Geschichten und Biographien manifestierendes Geschehen, für dass es unendlich viele Bilder und Metaphern gibt, die jeweils Ähnliches bedeuten: Dass Menschen in ihre eigene Gegenwart durchbrechen und ihre Füße auf weiten Raum stellen, dass sie neuen Mut fassen, dass sie auf die Doppelspur

3 Zum Verständnis dieser Formulierung vgl. Wilfried Engemann: Kommunikation des Evangeliums. Anmerkungen zum Stellenwert einer Formel in Diskurs der Praktischen Theologie, in: Michael Domsgen/Bernd Schröder (Hg.): Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie (APrTh 57), Leipzig 2014, 15–32. 4 »Leben« ist eine der zentralen Kategorien sowohl der christlichen Theologie als auch der religiösen Praxis des Christentums. Was immer im Einzelnen zu bedenken, zu sagen, zu tun und zu lassen ist, dreht sich im Kern um das Leben, um erfülltes Leben, Leben in Freiheit, Leben in Gemeinschaft, in Verantwortung für das Leben usw. Zum theologischen Hintergrund vgl. Wilfried Engemann: Die Lebenskunst und das Evangelium. Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie, in: ThLZ 129 (2004), 875–896, bes. 879–882.

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des Gewährens und Empfangens von Zuwendung einschwenken und lernen, sich als die Person anzunehmen und zu mögen, die sie sind. In der Kommunikation des Evangeliums geht es bei weitem nicht nur um pastorale Aktionen. Sie drückt sich auch darin aus, dass Gemeindeglieder vonund miteinander leben lernen, dass sie sich gegenseitig ermutigen, ihrem Gewissen zu folgen, dass sie einander beistehen und für ihr Leben Dankbarkeit empfinden – auch dafür, dass die in der Praxis der Religionen so oft kultivierten Beziehungsprobleme mit Gott vom Tisch sind. Die Kommunikation des Evangeliums liefert Beweggründe dafür, sich mit Leidenschaft ins Leben zu werfen, hilft, sich in Gelassenheit zu üben, zieht Veränderungen am Selbstbild nach sich und bahnt den Weg zu einer versöhnlichen Selbsterkenntnis. Kurz gesagt: Kommunikation des Evangeliums trägt bei denen, die in sie involviert sind, dazu bei, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Nicht als fehlerfreier Übermensch, nicht als demütiger Gehorsamsmensch, auch nicht mit dem Primärziel eines frommen Glaubensmenschen. Die Menschwerdung des Menschen mit der ihm eigenen Würde steht im Fluchtpunkt des Evangeliums. Dieses Motiv, diese Erfahrung, dieses Prinzip der Kommunikation des Evangeliums war bei den großen Aufbrüchen des Christentums immer mit im Spiel. Das erklärt bis zu einem gewissen Grad ihren epochalen Erfolg: Wären ihre auf Lebens- und Daseinsfragen bezogenen Grundideen nur Teil theologischer Diskurse gewesen und nicht auch als Ermutigung für eine neue Art zu sein empfunden worden – hätten sie sich nicht auch in einem entsprechenden Lebensgefühl manifestiert –, dann hätte es womöglich keinerlei Bedarf an EvangelischTheologischen Fakultäten und ihren Jubiläen gegeben. Die Evangelische Theologie hat also allen Grund, das Erkennungsmerkmal des Christentums, seine sich durch die Zeiten bewahrte habende »Marke« – die Kommunikation des Evangeliums – wissenschaftlich zu begleiten und sich mit den wandelnden Ansprüchen dieses Vorgangs zu befassen. Dazu gehört es, zu sehen, dass die Erfahrung von Freiheit – womit »Evangelium« und »Protestantismus« bis heute stark konnotiert werden – für viele Menschen nicht mehr nur positiv besetzt ist. Freiheit kann, wie der Soziologe Alain Ehrenberg gezeigt hat, furchtbar ermüden, sofern damit gefordert wird, sich dauernd neu zu erfinden.5 Andererseits wird allenthalben eifrig beklatscht, dass man auf seine Freiheit bedacht sein und sie sich »nehmen« soll. Das steht schon auf der Margarine: »Du darfst.« – Da kommt das Christentum mit dem Evangelium: Falls du’s noch nicht weißt: Du darfst, du brauchst nicht, du kannst einfach – klingt das wirklich

5 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York, 22015, bes. 25–40.

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verheißungsvoll? Hat François Lyotard nicht richtig gesehen, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist? Für die Zukunft von Theologie und Kirche wird es keine geringe Rolle spielen, was als »Kommunikation des Evangeliums« gelehrt wird, ob und wie sich die einzelnen Fächer für die Vermittlung ihrer Grundlagen in Anspruch nehmen lassen und als welche Praxis sie sich etabliert. Schauen wir uns die Programmatik dieser Formel etwas genauer an: Sie enthält einen missverständlichen – und in den 75 Jahren, in denen sie diskutiert wurde –, entsprechend oft missverstandenen Genitiv: Die Formulierung »Kommunikation des Evangeliums« enthält keinen genitivus subjectivus, wonach sich das Evangelium, einmal in Druckerschwärze oder gesprochener Sprache Gestalt gewonnen, auf mystische Weise selbst auf die Reise schickte, sich seinen Weg bahnte und alle, die »es« läsen oder hörten, zu Betroffenen machte. Es handelt sich auch nicht um ein Genitivobjekt, worunter eine Art Einbahnverkehr von Heilsinformationen zu verstehen wäre. Kommunikation des Evangeliums ist auch nicht als partitiver Genitiv zu denken, wonach es immer mal – zum Beispiel sonntags – ein bisschen Evangelium gäbe, das dann für ein paar Tage reichen müsste. Die Redeweise »Kommunikation des Evangeliums« ist die Sammelbezeichnung für die vielfältigen Formen der religiösen Praxis des Christentums, die in lebensdienlichen Interaktionen zwischen Personen Gestalt gewinnen. Sie reichen – ohne damit eine vollständige Aufzählung zu bieten – von der schon in den Schmalkaldischen Artikeln angeführten »geschwisterlichen Unterredung«6, über professionelle homiletische, liturgische, seelsorgliche und pädagogische Kommunikationsformen bis hin zu diakonischem Handeln. Sie haben in starkem Maße mit Hören und Verstehen, mit Wahrnehmung und Stellungnahme, Erkenntnis und Urteilsbildung, mit Umdenken und Bestätigungserfahrungen zu tun. Was diese verschiedenen Formen der Kommunikation des Evangeliums verbindet, ist ihr grundsätzlich subjektbezogener und interpersonaler Charakter, ihr Situations- und Existenzbezug, ihr dialogisches Prinzip und ihr Bezug auf einen gleichermaßen religiösen wie theologischen Referenzrahmen, nämlich auf ein gewaltiges Ensemble an Zeichen und Codes sprachlicher, schriftlicher, ritueller, sakramentaler, architektonischer und anderer Art. Das hat weitreichende Konsequenzen nicht für das didaktische Profil der Praktischen Theologie, wie unter 6 Das Evangelium kommt nach Ansicht der Schmalkaldischen Artikel unter anderem per mutuum colloquium et consolationem fratrum unter die Leute. Vgl. die Schmalkaldischen Artikel, Teil III (Von der falschen Buße der Papisten), Vom Evangelio, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss [1930], Göttingen 121998, 449, Z. 12–13.

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Punkt 3 erläutert wird, sondern – soweit es um berufsqualifizierende Kompetenzen geht – auch für die anderen theologischen Fächer.7

3

Konsequenzen für die Vermittlung von Praktischer Theologie

In der Praktischen Theologie hat das geschilderte Verständnis von der Kommunikation des Evangeliums dazu geführt, die immer gegebenen basalen Elemente und Aspekte dieses Geschehens selbst zu Schwerpunkten in Forschung und Lehre zu machen.8 Das Fach befasst sich also mit der Kommunikation des Evangeliums als einem Mitteilungs-, Partizipations- und Integrationsgeschehen, das sich durch Personen auf der Basis von Zeichen in je konkreten Situationen vollzieht. Es geht um ein Geschehen, von dem alle Gestaltungsebenen von Kirche und Gemeinde betroffen sind, ob es sich nun um Fragen der gesamtkirchlichen Organisation handelt, um Leitlinien für Predigt, Liturgie und Seelsorge oder um den Einzelnen, der in den Situationen des Alltags letztinstanzlich zwischen Tradition und Situation vermittelt und sich so auf seine Weise an der Kommunikation des Evangeliums beteiligt. Das hat eine Fülle methodischer und theologischer Konsequenzen, die ich mit Bezug auf fünf Aspekte dieses Prozesses exemplarisch andeuten möchte: 1. Kommunikation: Für das zentrale, den Charakter der religiösen Praxis des Christentums prägende Geschehen an und mit Menschen können keine Sonderkonditionen in Anspruch genommen werden. Es basiert auf zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Auseinandersetzung mit geeigneten Kommunikationsmodellen ermöglicht es, die Prinzipien und Herausforderungen gelingender Kommunikation zu verstehen, die Parallelität gleichzeitig aktiver Kommunikationsebenen – Inhalte und Beziehungen betreffend – wahrzunehmen und ihnen Rechnung zu tragen. »Verstehen« ist immer das Ergebnis eines Aneignungsprozesses, was die Mitwirkung der je Angesprochenen einschließt. Die Kategorie der »Verkündigung«, proklamiert als Einbahnverkehr des Wortes Gottes, weitergegeben im Modus einer Ansage, ist ungeeignet, jene Rolle zu charakterisieren und für sie zu qualifizieren, die den an der Kommunikation des Evangeliums beteiligten Personen zukommt. Das führt zu einem zweiten Forschungsfeld: 2. Personen: Es ist theologisch und methodisch zu reflektieren, was es heißt, dass notwendigerweise immer Personen mit ganz bestimmten Erfahrungen, Ein7 Detaillierte Vorschläge dazu finden sich unter Punkt 5. 8 Als Gesamtentwurf für die Praktische Theologie skizziert in: Wilfried Engemann: Personen und Zeichen im Prozess der Kommunikation des Evangeliums. Eine Theorie der Lebensäußerungen der Gemeinde, in: Georg Lämmlin/Stefan Scholpp (Hg.): Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/Basel 2001, 388–405.

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sichten, Einstellungen und Erwartungen in diesen Prozess involviert sind. Sie stehen einander nicht als bloße Nachrichtenüberbringer und -empfänger gegenüber, sondern als Subjekte ihres Lebens und Glaubens. Was im Zuge der Kommunikation des Evangeliums von Fall zu Fall zu vermitteln, zu lernen oder zu feiern9 ist, bedarf auf beiden Seiten eines Existenzbezugs. Seit Menschen sich darüber verständigen, was sie unter einem Leben aus Glauben verstehen, äußern sie sich in Form einer persönlichen, auf die eigene Lebenswirklichkeit bezogenen Stellungnahme – in der Sprache der Theologie: eines Zeugnisses. Damit rückt die 3. Reflexionsperspektive ins Blickfeld: 3. Situationen: Praktische Theologie erörtert den Stellenwert, den wechselnde Situationen für die Kommunikation des Evangeliums haben. Im Fall eines sich aus einer konkreten Lebenslage ergebenden seelsorglichen Gesprächs ist das natürlich eine andere Herausforderung als bei einer Predigt mit einem biblischen Text. Dessen Autor konnte nicht ahnen, dass wir auf die Idee kommen würden, das sich aus der Betrachtung seiner Situation ergebende Fazit, überliefert als Erzählung, Bericht oder Brief, zwei- oder dreitausend Jahre später in einer völlig anderen Situation wieder aufzugreifen. Biblische Zeugnisse, das gilt natürlich für viele andere Literaturen auch, sind derart situationsgeladen, dass sie ohne Berücksichtigung der Umstände, die sie hervorbrachten, in der Regel falsch verstanden werden. Deshalb fragen wir einen Text, auf den wir uns beziehen wollen, im Vorfeld jedes Mal: Warum gibt es dich? Wer brauchte dich wofür? Von welchen Erfahrungen bist du das Resultat? Was hast du in welcher Angelegenheit zu sagen? Wie lauten deine Argumente? Welches Ziel verfolgst du damit? Ebenso gilt es, sich den je wechselnden, teils alltäglichen, teils existentiell aufgeladenen Lebensumständen anzunähern, in denen die Kommunikation des Evangeliums zum Tragen kommen soll. Ihnen gebührt die gleiche Aufmerksamkeit wie jenen Ereignissen in der Geschichte des Christentums, die sich als traditionsbildend erwiesen und uns Texte, Dogmen und Rituale beschert haben. Damit sind wir beim 4. Schwerpunkt: 4. Zeichen: Kommunikation ist auf den Gebrauch von Zeichen angewiesen.10 Alles, wovon wir Gebrauch machen, wenn wir uns verständigen, hat insofern Zeichencharakter, als es außer sich selbst noch etwas anderes zeigt, was es selbst nicht ist. Wir fassen das landläufig in die Begriffspaare Ausdruck und Bedeutung, Gestalt und Gehalt, in der Sprache der Semiotik: Signifikant und Signifikat. Verstehen kann nur, wer dem, was er wahrnimmt, einen Sinn 9 Christian Grethlein unterteilt die Modi der Kommunikation des Evangeliums in »Lehren und Lernen: Kommunikation über Gott«, »Gemeinschaftliches Feiern: Kommunikation mit Gott« und »Helfen zum Leben: Kommunikation von Gott her« (Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin/Boston 22016, 528–586). 10 Für eine kurze Einführung immer noch sehr gut geeignet: Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977.

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zuordnen kann, den er nicht wahrnimmt. Diese Zuordnung basiert auf dem Gebrauch von Codes, die solche Verknüpfungen ermöglichen.11 Ob es sich nun um gesprochene Worte oder um Schrift, um Heilige Schrift, Gegenstände, Körperhaltungen, um Verkehrsleitsysteme oder Kunstwerke handelt: Verstehen setzt jedes Mal voraus, dem Wahrgenommenen eine Bedeutung zuordnen zu können. Auch solche Wahrnehmungen, die in der Theologie als Offenbarung bezeichnet werden, sprechen nicht für sich selbst, sondern sind auf die Ermöglichung einer Interpretation angewiesen, um für den Einzelnen eine Bedeutung gewinnen zu können.12 In der Kommunikation des Evangeliums ist es also nicht damit getan, sich heiliger Texte zu bedienen oder mit Zentralbegriffen der christlichen Theologie wie Gnade, Liebe Gottes oder Rechtfertigung um sich zu werfen. Es gilt, die Anknüpfungsmöglichkeit und Fortsetzungsfähigkeit des Gesagten im Blick zu haben, wozu es gehört, der Gestaltung der Kommunikation bzw. der Form des Mitzuteilenden die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie seinem Inhalt. Doch aus welchem Interesse? Das führt zum letzten Schwerpunkt: 5. Leben aus Glauben: Ich habe bisher eine ganze Reihe von Formulierungen benutzt, um den Wirkungen der Kommunikation des Evangeliums einen Namen zu geben. Sie beziehen sich alle auf den Zentralbegriff des Lebens und laufen darauf hinaus, Christsein als eine Lebensform zu charakterisieren, zu der es gehört, dass Menschen in ihrem eigenen Leben ankommen, in ihre Gegenwart vordringen, dass sie ihre Freiheit nicht allein als Freiheit von Sünde, Tod und Teufel verstehen, sondern ihr im Führen eines eigenen Lebens auch Ausdruck geben. Kommunikation des Evangeliums findet um des Lebens konkreter Menschen willen statt, nicht zur Wahrung institutioneller Interessen, nicht zur Entwicklung eines speziell geistlichen Lebens oder zur Steigerung einer spirituellen Kompetenz, sondern weil es sich nicht von selbst versteht, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, mit Grenzerfahrungen umzugehen, von Wünschen begleitet zu leben, ohne von ihnen getrieben zu werden, etwas Bestimmtes zu wollen und sich über seine Gründe Rechenschaft abzulegen, in Beziehungen zu leben, mit sich selbst befreundet zu sein, Dankbarkeit zu empfinden usw. Leben aus Glauben ist demnach auch eine Art und Weise, sich auf sein Leben zu verstehen.13 11 Eine Übersicht über entsprechende Begrifflichkeiten sowie die den Signifikant-SignifikatRelation als Elementareinheit eines Zeichen findet sich bei Wilfried Engemann: Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen, Tübingen/Basel 1993, 43–53. 12 Vgl. Wilfried Engemann: Semiotik und Theologie – Szenen einer Ehe, in: Peter Rusterholz/ Meja Svilar (Hg.): Welt der Zeichen – Welt der Wirklichkeit (Berner Universitätsschriften, Bd. 38), Bern u. a. 1993, 101–129. 13 Vgl. den Zusammenhang von Religion und Lebenskunst bei Wilfried Engemann: Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis, in: ders. (Hg.):

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Wir könnten uns an dieser Stelle mit weiteren Grundfragen der Kommunikation des Evangeliums befassen – etwa mit ihrem institutionellen Rahmen und mit der individuellen Rolle Einzelner –, um diesen Prozess noch weiter zu vertiefen. Die genannten Beispiele sollten aber genügen, um zu verdeutlichen, was es heißt, bei der fachdidaktischen Aufbereitung der praktisch-theologischen Fächer von einem Kommunikationsgeschehen auszugehen. Die genannten Schwerpunkte kehren in jedem Teilgebiet in Variationen wieder. Dementsprechend fragen wir in Seelsorge, Homiletik, Liturgik danach, was es heißt, sich um der Sache willen als Person ins Spiel zu bringen, dabei in der eigenen Existenz verankert zu sein, einer Tradition verpflichtet zu sein, Situationen und ihren Veränderungsbedarf im Blick zu haben, eine geeignete Sprache zu finden und am Ende keine Punktlandung auf einem Fragment der biblischen Tradition zu vollziehen, sondern – mit Bezug auf diese Tradition – bei Erfahrungen anzukommen, die zum Leben der Menschen gehören, mit denen ich gerade kommuniziere. Zu solch einem Ansatz gehört es, im Dialog mit jenen Wissenschaften zu stehen, die sich ihrerseits mit Kommunikation, mit Person- und Subjektsein, mit typischen Situationen des Alltags in der »Gegenwartsgesellschaft«14, mit Zeichen und mit dem Leben befassen. Deshalb ist die Praktische Theologie seit ca. 100 Jahren mit wechselnder Intensität mit der Psychologie, Soziologie und Philosophie verschwistert, seit 40 Jahren mit der Semiotik, und von je her – punktuell – mit jeglichen Geistes- und Humanwissenschaften, die sich aus welcher Perspektive auch immer mit der Conditio Humana befassen und dem Geheimnis des Menschseins auf der Spur sind. Auch als intradisziplinäre Herausforderung aller theologischen Disziplinen ist die Kommunikation des Evangeliums ansatzweise schon im Blick: So tragen die exegetischen Disziplinen dazu bei, biblische Texte nicht im wörtlichen Sinn als »Gotteswort« misszuverstehen, sondern als historistische, meist stark situationsbezogene, persönliche, zeugnishafte Dokumente in den Blick zu bekommen, mit denen sich Menschen – aus ganz bestimmten Gründen dazu veranlasst – eine oftmals recht eigensinnige Stellungnahme abgerungen haben, um ihren Zeitgenossen bei der Bewältigung ihres Lebens beizustehen. Die Kirchengeschichte kann deutlich machen, wie sich die religiöse Praxis des Christentums durch die Jahrhunderte entwickelt und auf das Verständnis eines Leben aus Glauben ausgewirkt hat; sie vermag zu erklären, welche Konsequenzen die Epochen dieser Geschichte für die verschiedenen Frömmigkeitsprofile hatten, für den Stellenwert von IndiMenschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums (WFTR 11), Göttingen 2016, 17–42, bes. 19–27. 14 Zum Begriff vgl. Gerhard Preyer: Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft I. Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen, Wiesbaden 22018.

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viduum und Gemeinschaft, für das Verständnis von Glauben, für die Vorstellungen von Freiheit – und für das Lebensgefühl15 des Einzelnen. Die Systematische Theologie sondiert auf ihre Weise die Prämissen der Kommunikation des Evangeliums, indem sie z. B. deren anthropologische Voraussetzungen durchdenkt, sich mit der Reichweite der Freiheit des Menschen befasst, nach geeigneten Modellen sucht, um seine Gottesbeziehung zu beschreiben und um ein adäquates Verständnis von Leitbegriffen wie Gnade, Vergebung usw. bemüht ist. Professorinnen und Professoren der Theologie müssen sich jedenfalls darüber im Klaren sein, für welche Art von religiöser Praxis des Christentum sie ihre Theologie entwerfen, und dass es in der Lehre um die Vermittlung von Kompetenzen geht, die die Kommunikation des Evangeliums betreffen – ohne die Funktion akademischer Theologie darauf reduzieren zu wollen. Wer Theologie studiert, sollte sich jedenfalls ebenso kritisch wie konstruktiv für diese Kommunikation in Anspruch nehmen lassen können. Die Komplexität dieses Prozesses stellt allerdings vor umfassendere Herausforderungen, als theologisches Wissen flüssig rekapitulieren zu können und von Fall zu Fall die rohen Filetstücke der lutherischen Dogmatik in homiletischen, liturgischen oder sonstigen Dosen zu verabreichen. Das ergibt sich auch aus empirisch dokumentierbaren Problemlagen der Praxis der Kommunikation des Evangelium16; sie dürften mit entsprechenden Modifikationen des didaktischen Konzepts Evangelischer Theologie besser zu bewältigen sein.

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Problemzonen der Kommunikation des Evangeliums

Die Adventszeit liegt noch nicht lange hinter uns. In den in dieser Zeit gehaltenen Gottesdiensten kam zweifellos theologische Kompetenz zur Geltung; gleichzeitig waren sie ein Indikator für bestimmte Desiderate. Drei Beobachtungen dazu:

15 Beispiele hierfür finden sich unter anderem im christlichen Liedgut und in Predigten aus verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte. Sie sind Gegenstand kirchengeschichtlichen Forschung, wobei sich zeigt, dass es in derartigen Textgattungen nicht nur um wechselnde theologische Inhalte und Positionen geht, sondern jeweils auch um eine andere Art und Weise, biblische Texte zu interpretieren und sich auf sein Leben zu verstehen. 16 Vgl. Wilfried Engemann: Pfarrerschaft – theologisch gesehen. Befunde und Ideale, in: Bernd Schröder (Hg.): Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bildung in Studium, Vikariat und Fortbildung (VWGTh 61), Leipzig 2020, 233– 246.

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1. Angesichts des von der Pfarrerschaft im Allgemeinen ausdrücklich befürworteten Anspruchs, der Gemeinde mit dem Evangelium zu dienen17, fällt auf, in welchem Maße die jeweils Anwesenden mit angeblichen Fehlverhaltensweisen konfrontiert und ihnen zugleich unerreichbare, um nicht zu sagen, »unmenschliche« Verhaltensweisen als christliches Ideal präsentiert werden: Sie hätten zu wenig geliebt, zu wenig Geduld aufgeboten, zu wenig geholfen und so weiter. Und die Menschen da draußen – im Prinzip alle, die gerade nicht da sind – warteten darauf, so der Tenor, dass sie von den Anwesenden mehr geliebt würden, dass ihnen mehr Geduld entgegengebracht und ihnen mehr geholfen würde. Häufig geht das mit einer Mobilisierung der Anwesenden angesichts der Katastrophe der letzten Woche einher, die der Welt – so scheint es – erspart geblieben wäre, hätten die Gemeindeglieder mehr getan. »Besser glauben, besser hoffen, besser lieben« hat ein Pfarrer groß an seinen Dienstwagen geschrieben. Nun ist die Adventszeit mit ihren apokalyptischen Themen, ihren schroffen Endzeitgeschichten und ihrem Ruf zur Besinnung zweifellos dazu angelegt, dass ich mir im Gottesdienst zum Thema werde, dass mir ein Umdenken im Blick auf mein Leben zugemutet wird. Aber warum komme ich dann in den Gottesdiensten des Advent so oft gar nicht vor? Statt dass es, im besten Wortsinn, ernst würde mit meinem Leben, statt dass ich anfinge, wirklich und gern zu leben und einmal mehr verstünde, was es heißt, mich in wichtigen, meine Existenz betreffen Fragen, nicht vertreten lassen zu können –, stattdessen werden oft irgendwelche Scheindefizite eines fiktiven Menschseins ventiliert, von denen ich später freigesprochen werde, was als Evangelium ausgegeben wird.18 – Was für ein Verständnis von Evangelium und von Schuld! Was für ein Menschenbild! Solche Inszenierungen sind weit entfernt von einer Anknüpfung an wirkliche, meine Identität und Existenz berührende Herausforderungen, vor denen ich stehe. 2. Die für die Adventszeit als Lese- und Predigttexte vorgesehenen Bibelabschnitte reden zum Teil in drastischen Bildern vom Ende, eingeleitet durch Katastrophen.19 Solche fiktiven Szenarien werden in Gottesdiensten nicht selten ohne jede hermeneutische Brechung mit Schicksalsschlägen heute in Verbindung gebracht, angesichts derer Gott uns mit unserer Begrenztheit konfrontiere und als Ausweg sein Reich in Aussicht stelle. Ein Pfarrer wies ausdrücklich darauf hin,

17 Vgl. u. a. Uta Pohl-Patalong: Vielfältige Kommunikation des Evangeliums. Das »Eigentliche« des Pfarrberufs in der Vielfalt der Handlungsfelder, in: PTh 44 (2009), 25–31, bes. 236. 18 Zur Vertiefung vgl. Wilfried Engemann: Vom Umgang mit Menschen im Gottesdienst. Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie, in: EvTh 72 (2012), 101–117. 19 Vgl. z. B. das Evangelium zum 2. Sonntag im Advent, Lk 21, 25–33.

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dass er als Diener des Wortes Gottes vor unbequemen Botschaften nicht zurückschrecken dürfe.20 Nicht, dass die Gemeinde mit Ausführungen über apokalyptische Literatur21 und die Motivationslage von Autoren der christlichen Antike gelangweilt werden müsste, aber man wünschte manchem Prediger, mancher Predigerin, ein klares Verständnis dafür, was zum Beispiel eschatologische Argumentationsmuster im Rahmen einer Kommunikation des Evangeliums leisten können, und dass sie die Gründe dafür kennten, warum die benutzten Texte weder Gott in den Mund gelegt werden können noch wörtlich genommen werden wollen: Unter anderem nämlich wegen des schon erwähnten Situationsbezugs, aber auch wegen des symbolischen Charakters religiöser Sprache – was diese ja keineswegs daran hindert, eine klare, unmissverständliche, »bezwingende« Sprache zu sein. 3. Der Umgang mit theologischen Argumentationsmustern ist oft so arrangiert, dass positiv konnotierte Begriffe der Dogmatik als Evangelium verkündet und die negativen als Ausdruck des Gesetzes vermittelt werden: »Ihr seid Sünder – aber es gibt Gnade.« Und das Timing vieler Predigten wirkt so, als müsse die eine Hälfte der Zeit ins Gesetz und die andere ins Evangelium investiert werden. Dabei wird übersehen, dass Menschen das, was wir theologisch »Gesetz« nennen, schon als Bürde mitbringen, dass sie aber schon in einem Leben aus Glauben unterwegs sind. Sie brauchen den Gottesdienst nicht als unersetzbare Transferleistung einer Amtsperson, die ihnen einmal pro Woche »das Evangelium« beschaffte, an das sie sonst nicht herankämen, sondern als einen Zeit-Raum, in dem sie mit sprachlichen, rituellen, musikalischen und sonstigen Mitteln darin unterstützt werden, als Mensch zum Vorschein zu kommen, sich ihres Lebens zu vergewissern, Dankbarkeit zu empfinden. In Anbetracht der weithin anzutreffenden hohen Bereitschaft vieler Pfarrerinnen und Pfarrer, der Gottesdienstvorbereitung eine besonders hohe Aufmerksamkeit zu schenken, und angesichts der von ihnen gleichzeitig empfundenen Frustration angesichts eines – wie sie selbst meinen – zu geringen Wie20 So kann man am 3. Sonntag im Advent den Eindruck gewinnen, dass sich mancher Pfarrer, manche Pfarrerin unbewusst eher mit Johannes dem Täufer als mit der Gemeinde identifiziert und ihr freundlich bestimmt die Leviten liest. Dabei war der Täufer – wie Matthäus erzählt – angesichts des Auftretens, Redens und Handelns Jesu so irritiert, dass er nachfragen lassen muss, ob Jesus wirklich der Erwartete sei (vgl. Mt 11,2–10): Er, Johannes, hatte seinen Zuhören den Kopf gewaschen; Jesus wusch ihnen die Füße. 21 Christliche apokalyptische Literatur ist nicht zuletzt als ein literarisch-intellektueller Versuch zu verstehen, der enormen Gefährdung des eigenen Lebens inmitten einer feindlichen Umwelt etwas entgegenzusetzen und in diesem Zusammenhang auch die Ansprüche des Glaubens zu reformulieren. Vgl. dazu u. a. die Passio von Perpetua und Felicitas (mit der entsprechenden Einleitung dazu) in: L. Stephanie Cobb (Hg.): The Passion of Perpetua and Felicitas in Late Antiquity, Oakland 2021, bes. 2–16.

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derhalls ihrer Bemühungen22, scheint ein adäquates Verständnis von der eigenen Rolle im Zusammenhang der Kommunikation des Evangeliums von zentraler Bedeutung zu sein. Wer sich vor dem Anspruch sieht, »das Evangelium am Fließband zu liefern«23, wie es ein Vikar an prominenter Stelle formulierte, darf sich zu Recht überfordert fühlen. Theologie kann helfen. Wir könnten an dieser Stelle weitere Problemzonen der Kommunikation des Evangeliums in Augenschein nehmen, die sich als ziemlich resistent erweisen. Etwa den »heidnischen Charakter«24 so mancher evangelischer Gottesdienste, die den Eindruck erwecken, Gott müsse angesichts der Zumutungen, die wir ihm die Woche über bereiten, durch eine sonntägliche Zeremonie besänftigt werden. Dabei sollte doch jeder Gottesdienst eine große Benefizveranstaltung für die sein, die gekommen sind. Das müsste doch vermittelbar sein. Damit stehen wir vor der Frage, ob die angesprochenen Problemlagen nicht durch Modifikationen am Profil theologischer Lehrveranstaltungen bearbeitet und verkleinert werden könnten, was zum letzten Punkt dieses Vortrags führt.

5

Zum kommunikativen Anspruch theologischer Kompetenz

Es dürfte deutlich geworden sein, dass es bei allem Interesse an der Kommunikation des Evangeliums weder darum geht, mehr Religion an die Fakultät zu bringen, noch darum, diese zu einer Glaubensschule umzuprofilieren.25 Die angesprochenen Probleme sind theologischer Natur, weshalb sie auch durch Theologie bearbeitet und reduziert werden können. Dazu bedarf es aber sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Studierenden des Subjektbezugs theologischer Arbeit und einer entsprechend assimilierten Theologie.26 Sie äußert sich 22 Karl-Wilhelm Dahm: Frust und Lust im heutigen Pfarrberuf, in: DtPfBl 105 (2005), 232–237. 23 Im Originalton lautet dieser Satz: »Das ist die Frage, ob ich das könnte: So etwas [d. h. das Evangelium] am Fließband zu liefern.« Es handelt sich um eine Szene aus dem Dokumentarfilm »Pfarrer«, bei dem Chris Wright und Stefan Kolbe Regie führten (ma.ja.de.–Filmproduktion, Mitteldeutscher Rundfunk und ARTE, Deutschland 2014). 24 Genaueres hierzu bei Wilfried Engemann: Als Mensch zum Vorschein kommen (s. Anm. 13), 34–35. 25 Wer an einer Evangelisch-Theologischen Fakultät seinen Abschluss erwirbt, bekommt ihn nicht für einen nachgewiesenen Glaubensvorsprung gegenüber Laien, Gemeinden oder den »Menschen in der Welt«, sondern aufgrund einer theologischen Qualifikation. Sie soll ihn befähigen, den Prozess der Kommunikation des Evangeliums zu begleiten, zu inszenieren, ihn zu bewerten und zu kritisieren – und dabei kohärent zu argumentieren. 26 Seit mehr als 80 Jahren wird in der Praktischen Theologie gefordert, dass Geistliche ihren Beruf auf Basis einer assimilierten Theologie ausüben, d. h. mit Bezug auf stimmige theologische Argumentationsmuster, die sie im Laufe der Jahre selbst durchdacht, die sie sich – mit Bezug auf die eigene Existenz – angeeignet haben. Vgl. dazu Otto Haendler: Die Predigt.

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unter anderem in einem klaren Verständnis vom Zentralbegriff des »Evangeliums«, vom medialen Charakter der »Heiligen Schrift« und von der vom Christentum so favorisierten Haltung des Glaubens. – Welche Art von Kompetenz gilt es zu stärken, um diese Voraussetzungen zu schaffen?

5.1

»Ein Sack voll Theologie«

Zu Beginn meiner Amtszeit als Dekan habe ich eine von mir sehr geschätzte Person, die kirchlicherseits für die Ausbildung der Theologinnen und Theologen zuständig ist, in einem Sondierungsgespräch gefragt, ob sie wohl unausgesprochene Wünsche bezüglich des didaktischen Profils unserer Fakultät mit sich herumtrage, über die wir reden sollten. Darauf entgegnete sie – mit unverkennbarer Wertschätzung für die akademische Theologie: »Der Fakultät sollte daran gelegen sein, den Absolventinnen und Absolventen einen bis oben hin gefüllten Sack voll Theologie mit auf den Weg zu geben, damit sie sich viele Dienstjahre daraus bedienen können.« Die unter Punkt 4 angedeuteten Verlegenheiten lassen allerdings erahnen, dass man einen ganzen »Sack voll Theologie« mit sich herumschleppen und auspacken kann, ohne dabei auf den Boden der eigenen Existenz zu stoßen. Manch einer stellt mit Befremden fest, dass ihm das, was er da Stück um Stück hervorgekramt, gar nicht gehört, weil er es sich nie zu eigen gemacht hat. Man hat so manche Argumentationsmuster aus den Examensvorbereitungen mitgenommen, ohne im Studium dazu herausgefordert worden zu sein, bei der Erarbeitung theologischer Grundbegriffe und Themen die eigene Existenz mit den sie prägenden Erfahrungen ins Spiel zu bringen bzw. sich mit den Grundüberzeugungen christlicher Dogmatik zu den Bedingungen des eigenen Lebens, Denkens und Urteilens auseinanderzusetzen. Bei manchen Pfarrerinnen und Pfarrern hinterlässt das den demotivierenden Eindruck, sich als Person für die Kommunikation des Evangeliums nicht so recht gebrauchen zu können, was wiederum dazu verleitet, sich doch lieber auf »Lösungen« mit Hilfe theologischer Stilistik zu verlegen. Für die wissenschaftliche Begleitung der Kommunikation des Evangeliums ist aber eine existential vermittelte und angeeignete Theologie unausweichlich. Die Kommunikation des Evangeliums ist eine Art der Verständigung, deren Relevanz von der Stimmigkeit des Lebensbezugs der jeweils Beteiligten abhängt. Sie wird vom Boden der Existenz aus geführt und geht – auf beiden Seiten dieses KomTiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, Berlin [1941] 31960, in: Otto Haendler: Schriften und Vorträge zur Praktischen Theologie 2: Homiletik. Monographien, Aufsätze und Vorträge, eingeleitet, kommentiert und hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2017, 269–633, 301, 333–336, 338, 374–377.

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munikationsgeschehens – in gewissem Sinne »an die Substanz«. Schließlich geht es ja nicht um den Austausch von Informationen, sondern um eine gemeinsame In-Augenscheinnahme des Lebens. Andererseits gibt es Anzeichen dafür, dass das Gefühl des Überfordertseins und »Nicht-Liefern-Könnens« – resultierend unter anderem aus den Divergenzen zwischen theologischen Wissensbeständen und eigenen Ansprüchen an eine stimmige Argumentation – in dem Maße sinkt, in dem das Auftreten, Reden und Handeln in der eigenen Existenz verankert ist. Pfarrerinnen und Pfarrer machen die Erfahrung, dass es sie durchaus nicht überfordert, bei der Kommunikation des Evangeliums bei sich selbst anknüpfen zu können und nichts weitergeben zu müssen, was sie nicht selbst verstanden und als hilfreich empfunden haben.27

5.2

Kommunikation des Evangeliums als gemeinsame Reflexionsperspektive aller theologischen Fächer

Unter den Stimmen, die sich zur Ausbildung der Theologenschaft äußern, wurde immer wieder die Auffassung vertreten, dass die Praktische Theologie jenes Fach sei, das sich um die Kommunikation des Evangeliums als kirchliches Praxisfeld zu kümmern habe. Ich habe versucht, zu zeigen, inwiefern die anderen Disziplinen von der Sache her für dieses Geschehen mitzuständig sind; sie kommen gar nicht darum herum, ihrerseits die Funktion von Personen, Texten, Glaubenstraditionen und Situationen zu reflektieren, was eine theologische Positionie-

27 In der Debatte um theologische und kirchliche Berufsmodelle begegnet man häufig dem Vorwurf, dass die ins Burn-Out treibende Überlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer fatalerweise in den Rollenkonzepten von Theologie und Kirche selbst angelegt sei (vgl. z. B. Hörn Halbe: Das Elend im Pfarrberuf heute. Lage und Lösungswege, in: DtPfBl 108 [2008], 192– 196): Zu Vieles werde von der Person der Amtsträger abhängig gemacht, wobei sich die Fokussierung auf Authentizität, Identität, Glaubwürdigkeit und Kompetenz als besonders überfordernd erwiesen habe. Im Sinne einer angeblich notwendigen Intervention wurde das Programm einer »Entprofessionalisierung« aufgelegt, beworben als »Erneuerung des spirituellen Lebens« (ebd. 196). Dabei wurde nicht bedacht, dass die Kriterien und Grundlagen zur Aneignung personaler Kompetenz gerade die Antwort auf Überforderungserfahrung waren, die insbesondere mit der Dialektischen Theologie in Zusammenhang standen, die Antwort also z. B. auch auf die Zumutung, die Rolle des persönlich unbeteiligten Verkünders spielen zu sollen, die durch »subjektive Beteiligung« nur sabotiert werden könne: Es war Haendler, »der uns lehrte, dass Menschsein-Dürfen die theologische Quintessenz unserer Existenz überhaupt ist, weil eben der Christus Gottes total Mensch geworden ist. Die Inkarnation Gottes im Menschen Jesus Christus war ihm der Schlüssel für die Legitimität der Einbeziehung der Tiefenpsychologie in das theologische Denken. Nun durften wir auch auf der Kanzel Menschen sein, nun durften wir endlich wieder Subjekte sein und waren nicht mehr nur die Objekte des abstrakten Wortes Gottes« (Hans-Joachim Thilo: Zum Schauen bestellt. Begegnungen mit Otto Haendler, in: WzM 34 [1982], [163–168] 166).

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rung – mit Konsequenzen für die Kommunikation des Evangeliums – unausweichlich erscheinen lässt. Gleichwohl ist die Praktische Theologie das einzige Fach, in dem Studierenden explizit abverlangt wird, sich selbst – im Zuge einer Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz – theologisch zu positionieren, selbst Theologie zu treiben und sich dann auch noch, zum Beispiel in Form einer Predigt, religiös zu artikulieren. Eine der größten Schwierigkeiten in den ersten Sitzungen homiletischer Seminare besteht darin, die exegetisch und dogmatisch gut belesenen Studierenden davon abzuhalten, in ihrer Predigt kurzerhand Wissensbestände aus Exegese und Dogmatik zu referieren, ohne sie damit zu demotivieren. Die von ihnen aufgegriffenen großen und kleinen Probleme des Alltags werden gern mit Auskünften über die Intentionen der Texte und mit Versatzstücken aus der der Dogmatik gelöst, also mit einem »Griff in die Wolken«. Es ist immer ein großer Moment, wenn es schließlich dazu kommt, dass Studierende sich mit eigenen, klar formulierten Argumenten theologisch in Stellung bringen und mit gleichzeitigem Bezug auf ihre Existenz darlegen können, was sie unter einem Leben aus Glauben verstehen, welche Gründe sie dafür haben und welche Erwartungen sie damit verbinden. Für die akademische Qualifizierung zur sachgerechten Begleitung, Gestaltung und Korrektur der Kommunikation des Evangeliums wäre viel gewonnen, wenn ihr interpersonaler Charakter, ihr Existenzbezug etc. eine Reflexionsperspektive aller theologischen Disziplinen würde. Darunter stelle ich mir etwa Folgendes vor. In einem alttestamentlichen Seminar zur Exegese von Texten der Genesis steht Kapitel 22,1–14 auf dem Programm, als Erzählung von der »Versuchung Abrahams« bzw. der »Beinahe-Opferung Isaaks« bekannt. Wie in den Kommentaren zu lesen, lernen die Studierenden dabei zum Beispiel etwas über die Distanzierung von Menschenopfern in der jüdischen Religion, über den Zusammenhang von Glauben und Gehorsam und über bedingungslose Hingabe als Ausdruck besonderer Frömmigkeit.28 Müsste die Interpretation eines derart markanten Textes nicht routinemäßig auch auf eine theologische Positionierung zu den dabei aufgeworfenen Fragen hinauslaufen, die ja an theologischer, religiöser und anthropologischer Brisanz nichts verloren haben? Der Respekt, vor dem sich in einer solchen Erzählung manifestierenden Sicht der Dinge läuft ja nicht darauf hinaus, dem Text irgendwann endlich zustimmen zu können oder es »auch so zu machen« (was immer das heißen mag), sondern darauf, sich – z. B. im Blick auf 28 Vgl. z. B. Wilfried Ruff: Abrahams Versuchung. Verstehensansätze für ein ethisches Dilemma, in: MThZ 58 (2007), 69–82, sowie Christoph Levon: Die Prüfung Abrahams (Genesis 22) und ihre innerbiblischen Bezüge, in: ZThK 118 (2021), 397–421.

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die von ihm markierte Vorstellung von Glauben – eine eigene Stellungnahme abzuringen und sie theologisch zu begründen. Wenn in einer Römerbriefvorlesung das Paulinische Verständnis von Sünde und Gnade, Tod und Leben erschlossen wird, landet man unausweichlich auch bei berühmt gewordenen Einsichten, wie sie gern im Rahmen von Kasualien zitiert werden, etwa bei Beerdigungen: »Der Tod ist der Sünde Sold« (Röm 6,23). Wie könnten Studierende die Reichweite solcher Aussagen besser erkunden und dabei ihre hermeneutische Kompetenz unter Beweis stellen, als dass sie nun auch darlegten, was »Sünde« und »Tod« im Kontext der eigenen Theologie bedeuten und mit welchen Einsichten sie ins Gespräch gehen, wenn diese Themen auf der Tagesordnung stehen. Wir können die Kommunikation des Evangeliums jedenfalls nicht an Paulus abtreten, nur weil wir aus seinen Texten zitieren; wer am kommenden Sonntag mit Römer 6 predigt, muss die Herausforderung annehmen, selbst als Paulus oder Pauline vor die Gemeinde zu treten. Ein kirchengeschichtliches Seminar, das die Studiereden dazu motiviert, sich mit den Abendmahlsdebatten der Reformationszeit auseinanderzusetzen und deren Hintergründe zu verstehen, sollte auch dazu befähigen, mit Bezug auf jene historischen Streitigkeiten erklären zu können, wie man die Kommunikation des Evangelium in, mit und unter Brot und Wein heute versteht. »Was teilst du da eigentlich aus?« »Und was meinst du damit, wenn du sagst: ›Für dich gegeben und vergossen.‹« »Welchen Satz würdest du an Stelle dieses Zitats formulieren?« Und um ein letztes Beispiel zu nennen: In einem Seminar über »Eschatologische Konzepte der Theologie des 20. Jahrhunderts« sollte die Herausforderung, vor der die Studierenden stehen, nicht nur in einer selbständigen Erschließung und fachwissenschaftlichen Kommentierung von Kategorien wie »Jüngster Tag«, »Gericht«, »Reich Gottes« oder »Vollendung der Welt« bestehen. Sie sollten auch die Gelegenheit bekommen, für sich selbst zu klären, worin für sie der eschatologische Ernst des Christentums besteht – um dies vor der Seminargruppe darzulegen und die Konsequenzen dieser Positionierung aufzuzeigen. Von Professorinnen und Professoren zu verlangen, das »Theologie-Treiben« zu vermitteln, zum »Theologisieren« anzuregen, setzt voraus, dass sie sich ihrerseits positionieren, dass sie nicht damit hinterm Berg zu halten, welche Überzeugungen und Prinzipien ihrer Ansicht nach für ein zeitgenössisches Christentum konstitutiv sind – und für welche Art von Religion sie ihre »Theologie machen«. Ihnen wird, wenigstens von Zeit zu Zeit, die Rolle von Sparringpartnern zugemutet, die die Theologie, die sie austeilen, im Rahmen von Lehrveranstaltungen zurückfordern. Dabei geht es nicht zuletzt um die kontinuierliche Entwicklung und Erprobung eines eigenen theologischen Sprachvermögens, das

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sowohl den Regeln der Logik folgt als auch dem symbolischen Charakter religiöser Sprache Rechnung trägt.29

5.3

Die »große Erzählung« geht weiter

Ein kritischer Umgang mit den theologischen Vorstellungswelten der christlichen Tradition aus mehr als 2000 Jahren läuft nicht darauf hinaus, dem vielbeschworenen »Ende der großen Erzählungen« das Wort zu reden, auch wenn theologische Arbeit immer wieder mit »notwendigen Abschieden« verbunden ist, wie der Praktische Theologe Klaus Peter Jörns formuliert hat.30 Als »große Erzählungen« bezeichnete Jean-François Lyotard31 jene einst auf Zukunft entworfenen, scheinbar verlässlichen, nach seiner Beobachtung aber schon heute scheiternden »Zielprojektionen von schamloser Linearität«32. Dazu rechnete er fortschritts- und vernunfteuphorische Geschichtsphilosophien wie die von Hegel, liberal-progressive Gesellschaftsentwürfe, den Marxismus und eben auch die sich in der christlichen Dogmatik etablierende Ideenwelt. Nicht wenige Theologinnen und Theologen haben sich die postmodernen Betrachtungsweisen Lyotards zu eigen gemacht und plädieren nun ihrerseits dafür, sich von jeglichen Theoriekonstrukten über Gott und die Welt zu verabschieden, bescheiden zu bleiben und sich in der religiösen Kommunikation aufs Metaphorische zu verlegen.33

29 Es geht um eine Sprachbefähigung, die über die Dechiffrierung griechischer und hebräischer Texte hinausgeht und auf die Aneignung einer stimmigen theologischen Sprache zielt. Schließlich ist die Sprache das wichtigste Medium der christlichen Theologie und Religion – und zwar nicht nur als Bibelwort, sondern als verständliches, einfühlsames, nicht selten mit Enthusiasmus vorgetragenes Menschenwort. In diesen Zusammenhang haben – quasi als Ausstattung eines entsprechenden »Handwerkschranks« – auch die alten Sprachen ihre Berechtigung. Sie gewähren Studierenden, Pfarrerinnen und Pfarrern, Lehrerinnen und Lehrern einen notwendigen hermeneutischen Spielraum bei der Arbeit mit biblischen Texten. Das macht die Arbeit nicht nur interessant, sondern meist auch brisant. Ein solcher Handwerksschrank ist das Gegenmodell zu einem biblisch-dogmatischen Reliquienschrein, aus dem bei Bedarf die (weitere Fragen erübrigenden) Schlüssel zur Problemlösung hervorgeholt werden. 30 Vgl. Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2009. In diesem Werk geht es um eine kritische Auseinandersetzung u. a. mit der »Vorstellung, das Christentum sei keine Religion wie die anderen Religionen« (70– 101), um die Auffassung, »die Bibel sei unabhängig von den Regeln menschlicher Wahrnehmung entstanden« (102–153), um den »Abschied von Erwählungs- und Verwerfungsvorstellungen« (188–216) oder etwa um den »Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühneopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier« (286–343). 31 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 62009, 112 u. ö. 32 So die Interpretation Peter Sloterdijks: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005, 12. 33 Albrecht Grözinger: Homiletik (Lehrbuch Praktische Theologie 2), Gütersloh 2008, 29f., 225.

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Wilfried Engemann

Ich halte das für die falsche Konsequenz. Sollten sich jene »großen Erzählungen« als »ungeeignete Versuche« erwiesen haben, »sich der Weltkomplexität zu bemächtigen«34 und die religiösen Fragen der Menschheit zu bändigen, so delegitimiert das weder das begeisterte Erzählen von Erfahrenem, noch das von Vernunft und Phantasie geleitete, durchaus enthusiastische Ausdenken von künftig zu Erwartendem. Deshalb gilt es zu prüfen, in welchem Modus die Impulse der christlichen Religion jeweils kommuniziert werden. So ist zwar die protestantische Fixierung auf das Bekenntnisformat des Christentums historisch nachvollziehbar, es ist aber zu schmal, um die Funktionen abzudecken, die der Kommunikation des Evangeliums zugeschrieben werden. Um es mit Peter Sloterdijk zusagen: »Das Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart liegt keineswegs darin, dass sie zu groß, sondern darin, dass sie nicht groß genug waren.«35 Im ersten Band seiner Religionssoziologie untersucht Wolfgang Eßbach unter vielen anderen Aspekten der europäischen Religionsgeschichte auch das Phänomen religiöser Begeisterung.36 Ein ausführlicher, interdisziplinär angelegter Diskurs analysiert die Merkmale und Funktionen der enthusiastischen Dimension von Religionen, die u. a. von einem intensiven Werteerleben, vom Glauben an Ewigkeitswerte, von Gemeinschaftskonzepten, von der »Verschwisterung von Religion und Kunst«37 und überhaupt einem neuen Verständnis von religiöser Kommunikation geprägt ist. Die Analyse kompetitiver religiöser Profile, ihres historischen und diskursgeschichtlichen Movens sowie ihrer je eigenen Lösungsansätze schärft den Blick für gegenwärtige Problemlagen religiöser Praxis und die Möglichkeiten ihrer Bearbeitung. Eßbachs offensichtliche Favorisierung einer »theologia fabulosa«38, die visionär angelegt ist, weist in eine interessante Richtung. Eine theologia fabulosa artikuliert ihre Perspektiven mit poetischen und mythischen Mitteln, sie imaginiert gemeinsames Leben im Möglichkeitshorizont Gottes, sie antizipiert Zukunfts- und Heilsvorstellungen in Bildern und Erzählungen gleichsam unter veränderten Umständen. Sie stellt Utopien bereit, die Erwartungshaltungen begründen und mit einem leidenschaftlichen Lebensgefühl einhergehen – kein leichtes Unterfangen in einer »enthusiasmusgeschädigten«39 Gesellschaft.

Um die Zukunftsfähigkeit einer zeitgenössischen Theologie, deren Relevanz in der Stimmigkeit, Verständlichkeit und Lebensdienlichkeit der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart zum Tragen kommt, muss man sich keine Sorgen machen.40 Es ist ja eine Theologie, die Pfarrerinnen und Pfarrer dazu 34 So noch einmal Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals (s. Anm. 32), 13. 35 Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals (s. Anm. 32), 14. 36 Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, 379–451. 37 Eßbach: Religionssoziologie 1 (s. Anm. 36), 381. 38 Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 2. Entfesselter Markt und Artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen, Teilband 2, Paderborn 2019, 209–210. 39 Vgl. zum Kontext Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 1 (s. Anm. 36), 415. 40 Dies hat damit zu tun, einer Art »Selbstaktualisierungstendenz« zeitgenössischer Theologie Raum zu geben. In der Psychologie versteht man unter der »Aktualisierungstendenz« den von

Der kommunikative Anspruch an theologische Kompetenz

327

inspiriert, die als Evangelium unter die Leute gekommene große Erzählung im Detail fortsetzen, sie in neuen Kontexten aufleben zu lassen und die dabei Angesprochenen so in diese Erzählung zu verwickeln, dass sie darin ihre eigene Rolle spielen – die Rolle ihres Lebens.

einem Menschen faktisch unaufhörlich vollzogenen Abgleich zwischen Wirklichkeit und Selbstwahrnehmung, zu dem er dadurch motiviert ist, dass er sich und seine Mitwelt auf einen Nenner bringen muss, in eine lebbare Relation, die wiederum mit einem guten, stimmigen, konsistenten Lebensgefühl, Selbstbestimmtheit, Freiheit und Gewissenhaftigkeit einhergeht. Vgl. z. B. Carl R. Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, München u. a. [1959], 2009, bes. 27–57.

Martin Rothgangel

Ist Ethik wichtiger als Religion? Religionspädagogische Anmerkungen zu einer fragwürdigen Alternative

Abstract To begin with, a few backgrounds will be briefly mentioned which have contributed to the polarization of ethics and religious education in Austria. Subsequently, conceptual considerations on the relationship between ethical and religious education will be put up for discussion. This is followed by reflections on potentials of religious education for ethical education. Finally, the subject group »religion and philosophy/ethics« is presented as a way forward that could lead out of the polarization of ethics and religious education.

Die Titelfrage dieses Beitrags greift die gesellschaftliche Diskussion um das Verhältnis von Ethikunterricht und Religionsunterricht auf. In der Frankfurter Rundschau wurde dazu ein Beitrag veröffentlicht mit dem vielsagenden Titel: »Ethik ist wichtiger als Religion«1. Unschwer könnte man diese Schlagzeile dahingehend kritisieren, dass »Ethik« und »Religion« auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Korrekterweise müssten nämlich entweder die Wissenschaften »Ethik« und »Theologie« bzw. »Religionswissenschaft« oder die von Wissenschaften zu untersuchenden Gegenstandsbereiche »Moral« bzw. »Werte« und »Religion« miteinander verglichen werden. Eine derartige begriffliche Klärung ist zwar hilfreich. Sie trifft jedoch nicht das zugrunde liegende Problem, das sich hinter dieser Schlagzeile verbirgt: Es geht nämlich eigentlich um das Statement, dass der Ethikunterricht wichtiger als der Religionsunterricht sei. In Österreich ist diese Diskussion eher noch virulenter und emotionaler als in Deutschland. Als ein kleiner Beleg dafür möge eine zufällige Lesefrucht aus »Der Standard«2 dienen: In einem Artikel über Nodirbek Abdusattorow, den neuen 1 Markus Tiedemann: Ethik ist wichtiger als Religion, 2016, verfügbar unter: https://www.fr.de /kultur/ethik-wichtiger-religion-11048058.html [abgerufen am 12. 03. 2022]; dieser Titel nimmt Bezug auf: Dalai Lama: Der Appell des Dalai Lama an die Welt: Ethik ist wichtiger als Religion, hg. v. Franz Alt, Wals bei Salzburg 2015. 2 Martin Schauhuber: Schachsensation Abdusattorow: Der jüngste Weltmeister der schnellen Züge, 2021, verfügbar unter: https://www.derstandard.at/story/2000132223449/schach-sensati on-abdusattorowder-juengste-weltmeister-der-schnellen-zuege [abgerufen am 12. 03. 2022].

330

Martin Rothgangel

17jährigen Weltmeister im Schnellschach, konnte man im Diskussionsforum folgendes lesen: Eine Person namens »Liberaler Atheist« schrieb: »Ich verstehe ohnehin nicht, warum Schach kein Pflichtfach an der Schule ist. Kann man von Mathe abzwacken ;-)«. Darauf antwortete eine Person namens »Am Balkan wachsen keine Bananen«: »Nix mathematik, das ist tatsächlich wichtig. Aber der unseelige ›ethik‹unterricht wäre prädestiniert dafür.« Sofort erhob sich Widerspruch von »Panter Reh«: »Der Ethik-Unterricht ist auch sehr wichtig. Religion könnte man allerdings sofort streichen.« Damit war eine muntere Forumsdiskussion zur Bedeutung von Ethik- und Religionsunterricht eröffnet, was wiederum unmittelbar zur Thematik dieses Beitrags führt. Im ersten Teil dieses Beitrags sollen in aller Kürze ein paar Hintergründe genannt werden, welche zur Polarisierung von Ethik- und Religionsunterricht in Österreich beigetragen haben. Im Anschluss daran werden konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis von ethischer3 und religiöser Bildung zur Diskussion gestellt. Es folgt ein Abschnitt über »Potentiale des Religionsunterrichts für ethische Bildung« und schließlich wird die Fächergruppe »Religion und Philosophie/Ethik« als ein m. E. zukunftsweisender Weg vorgestellt, der aus der Polarisierung von Ethik- und Religionsunterricht herausführen könnte.

1

Hintergründe der Polarisierung von Ethik- und Religionsunterricht

Zwar wurde im September 2021 der Ethikunterricht in Österreich für die Oberstufe verpflichtend eingeführt. Bis es aber dazu kam, benötigte es einen über 20 Jahre währenden Schulversuch Ethik – das ist rekordverdächtig, was die Länge eines Schulversuchs anbelangt. Dessen unglaubliche Dauer hängt keineswegs damit zusammen, dass seine empirische Evaluation negativ ausgefallen wäre, im Gegenteil: Trotz positiver Evaluationen4 geschah über 20 Jahre lang wenig bis nichts. Man mag diesbezüglich nur einen Blick in Anton Buchers Publikation werfen, die den vielsagenden Titel trug »Der Ethikunterricht in Österreich. Po-

3 In begrifflicher Hinsicht sei vorab angemerkt, dass im Rahmen der vorliegenden Ausführungen der Terminus »ethische Bildung« weitgehend synonym mit alternativen Begriffen wie z. B. »Moralerziehung« oder »Wertebildung« verwendet wird. Zur Diskussion dieser Begriffe vgl. z. B.: Konstantin Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht. Grundlagen, Herausforderungen und Perspektiven (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 21), Paderborn 2017, 219–227. 4 Anton A. Bucher: Ethikunterricht in Österreich. Bericht der wissenschaftlichen Evaluation der Schulversuche »Ethikunterricht«, Innsbruck/Wien 2001; Christine Clark-Wilson: Ethikunterricht in Österreich 2010. Eine Replikationsstudie zu den Ergebnissen der wissenschaftlichen Evaluation der Schulversuche Ethikunterricht Anton A. Buchers (2001), Wien 2011.

Ist Ethik wichtiger als Religion?

331

litisch verschleppt – pädagogisch überfällig«5. Die in diesem Buch geschilderten Ereignisse erfüllen fast alle Kriterien einer Tragikomödie. Die Gründe für die verschleppte Einführung des Ethikunterrichts in Österreich sind hinreichend bekannt: Prinzipiell befürworteten fast alle Parteien und auch die katholische Kirche einen Ethikunterricht. Jedoch wollten die einen Ethik am liebsten nur als Ersatzfach für diejenigen Schüler:innen, die sich vom konfessionellen Religionsunterricht abmelden, während die anderen für ein Fach »Ethik und Religionen« eintraten, das für alle Schüler:innen verbindlich ist und in dem der konfessionelle Religionsunterricht allenfalls noch Freigegenstand ist. Im September 2021 wurde der Ethikunterricht als Ersatzfach für diejenigen Schüler:innen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, endlich eingeführt. Allerdings muss man sich vor Augen führen, dass abgesehen von den Standorten des Schulversuchs nach wie vor in der Unterstufe der AHS und der Mittelschule kein Ethikunterricht existiert. M.E. ist auch dieser gegenwärtige Zustand kaum tragbar und auf die Dauer nicht haltbar. Wir leben in einer Zeit, in der die technologischen Möglichkeiten von Menschen in guter wie in schlechter Hinsicht von Jahr zu Jahr enorm steigen. Eine damit einhergehende ethische Bildung fällt aber vollkommen aus, wenn ein Land kein Alternativfach für Schüler:innen vorsieht, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Die Einführung des Ethikunterrichts ist demnach aus religionspädagogischen wie gesellschaftspolitischen Gründen uneingeschränkt zu befürworten. Allerdings streben manche Befürworter:innen des Ethikunterrichts dessen Einführung auf Kosten des Religionsunterrichts an und lassen sich zu Schlagzeilen wie »Ethik ist wichtiger als Religion« hinreißen. Deren offensive Haltung gegenüber dem Religionsunterricht kann im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden, die sich im Blick auf Österreich und ihren Auswirkungen auf religiöse und ethische Bildung folgendermaßen skizzieren lassen: Erstens tragen der Schwund von Kirchenmitgliedern und die religiöse Pluralisierung dazu bei, dass z. B. in Neuen Mittelschulen die Anzahl muslimischer Schüler:innen in Wien überwiegt; zweitens führt die Anerkennung von inzwischen 16 Religionsgesellschaften dazu, dass die Organisierbarkeit der Religionsunterrichte zunehmend erschwert wird; drittens ist die stete Zunahme von Schüler:innen ohne Bekenntnis ein wesentlicher Grund für die Etablierung des Ethikunterrichts; viertens geben europäische Empfehlungen zum Religionsunterricht eine (einseitige) Favorisierung eines »inklusiven« und »neutralen« »teaching about religious and non-religious world views« zu erkennen.6 Alle diese 5 Anton A. Bucher: Der Ethikunterricht in Österreich: Politisch verschleppt – pädagogisch überfällig, Innsbruck/Wien 2014. 6 Vgl. Organisation for Security and Co-operation in Europe : The Toledo Guiding Principles on Teaching about Religion or Belief in Public Schools, Warsaw 2007; Council of Europe: Re-

332

Martin Rothgangel

Punkte führen dazu, dass der konfessionelle Religionsunterricht (nicht nur) in Österreich in der Defensive ist. Eine Konsequenz sind in Österreich verschiedene Modellversuche wie beispielsweise der dialogisch-konfessionelle Religionsunterricht (dk:RU) oder W.I.R. (Werte – Interkulturelles Lernen – Religionen).7 Bevor jedoch eine weitere Auseinandersetzung mit der organisatorischen Gestalt des Religionsunterrichts erfolgt, sollen zunächst konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis von ethischer und religiöser Bildung erfolgen.

2

Zum Verhältnis von ethischer und religiöser Bildung8

Den Ausgangspunkt für die nachstehenden Überlegungen bildet die Typologie von Konstantin Lindner9, der hinsichtlich des Verhältnisses von Wertebildung und religiöser Bildung zwischen einem Gleichsetzungsmodell, einem Abgrenzungsmodell sowie einem Verflechtungsmodell unterscheidet. Eine kleine Modifikation wird nur dahingehend vorgenommen, dass Lindners Verflechtungsmodell in drei häufig diskutierte Varianten ausdifferenziert wird, nämlich in eine »konfessionelle«, »neutrale« und »ideale« Variante.

2.1

Ethische Bildung ohne religiöse Bildung – das Abgrenzungsmodell

Spätestens seit der Aufklärung ist es offensichtlich, dass Ethik auch ohne religiöse Bezüge begründet werden kann. Beispielhaft dafür ist Kants Pflichtenethik, in der »die Moralität des Handelns durch die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner commendation CM/Rec(2008)12 of the Committee of Ministers to member states on the dimension of religions and non-religious convictions within intercultural education, 2008, verfügbar unter: https://wcd.coe.int//ViewDoc.jsp?Ref=CM/Rec(2008)12&Language=lanEngli sh&Ver=original&BackColorInternet=DBDCF2&BackColorIntranet=FDC864&BackColorLo gged=FDC864 [abgerufen am 12. 03. 2022]. 7 Vgl. Thomas Krobath/Doris Lindner: Konfessionelle Vielfalt in Begegnung. Perspektiven aus der Evaluation des dialogisch-konfessionellen Religionsunterrichtes in Wien, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 25, 2 (2017), 164–172; Magdalena Feichtinger: Der dialogisch-konfessionelle Religionsunterricht (dk:RU) in Österreich – Empirische Perspektiven. Diplomarbeit, Universität Wien, 2020, verfügbar unter: https://www.theo-web.de/fileadmin/use r_upload/TW_Online-Reihe/Diplomarbeit_Feichtinger_dkRU.pdf [abgerufen am 29. 3. 2021]; zum aktuellen W.I.R.-Projekt gibt es bislang noch keine Publikationen. 8 Die Ausführungen dieses und des folgenden Abschnitts sind eine leicht überarbeitete Fassung aus Martin Rothgangel: Ethische Bildung mit oder ohne Religion? Der Beitrag des schulischen Religionsunterrichts zu ethischer Bildung, in: Konstantin Lindner/Mirjam Zimmermann (Hg.): Handbuch ethische Bildung. Religionspädagogische Fokussierungen, Tübingen 2021, 281–287. 9 Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 250–259.

Ist Ethik wichtiger als Religion?

333

Regeln gewährleistet ist«10. Grob gesagt lassen sich zwei Personengruppen unterscheiden, welche für das Abgrenzungsmodell eintreten: Einerseits jene, welche gegen die Benachteiligung ethischer Bildung im Vergleich zum konfessionellen Religionsunterricht pointiert für die Eigenständigkeit ethischer Bildung plädieren und in diesem Zusammenhang u. a. auf die zunehmende Anzahl von Schüler: innen ohne religiöses Bekenntnis hinweisen. Andererseits gibt es vereinzelt Religionspädagog:innen, welche umgekehrt eine ethische Funktionalisierung von Religion und des Religionsunterrichts befürchten: Sie plädieren für deren Eigenständigkeit und für eine Trennung von Religion und ethischer Bildung.11 Bei aller Berechtigung dessen, was die Eigenständigkeit von ethischer Bildung wie religiöser Bildung anbelangt, werden jedoch von beiden Gruppierungen die bestehenden Unterschiede zwischen beiden überbetont und Überlappungen ausgeblendet: »Das Ethische lebt von Sinndimensionen und Motiven, die tiefer greifen als Werte, Moral und Ethik und diese begründen. Durch Religion und Glaube werden grundlegende ethische Orientierungen immer wieder gleichsam neu gebildet und geschaffen.«12 Weitere Gegenargumente finden sich – wiederum auf überakzentuierte Weise – im Gleichsetzungsmodell, das im Folgenden vorgestellt wird.

2.2

Ethische Bildung als religiöse Bildung – das Gleichsetzungsmodell

Sowohl zu Aufklärungszeiten (z. B. Christian Gotthilf Salzmann) als auch in bestimmten Varianten des problemorientierten Religionsunterrichts kam es teilweise zu einer Engführung des Religionsunterrichts auf Werte und Normen.13 Obwohl dieses Modell gegenwärtig in der Religionspädagogik kaum explizit vertreten wird, finden sich Restbestände in Lehrplänen, wenn z. B. biblische Erzählungen einseitig zur ethischen Kompetenzentwicklung funktionalisiert werden. Im Unterschied zur Religionspädagogik ist das Gleichsetzungsmodell im öffentlichen Diskurs relativ häufig zu beobachten, wenn z. B. aus gesellschaftspolitischen Motiven der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen legitimiert wird.14 10 Ulrich H. J. Körtner: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 4 2019, 67. 11 Vgl. Bernhard Dressler: Religionsunterricht ist kein Werteunterricht. Eine evangelische Perspektive, in: Eva Maria Kenngott u. a. (Hg.): Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2015, 31–45. 12 Edgar Thaidigsmann: Unsichere Aufklärung. Zur Einführung eines verpflichtenden Werteunterrichts in Berlin, in: Herbert Rommel/Edgar Thaidigsmann (Hg.): Religion und Werteerziehung. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Waltrop 2007, 211–217. 13 Vgl. Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 252–254. 14 Vgl. Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 252–254.

334

Martin Rothgangel

Kritisch ist jedoch einzuwenden, dass dabei die berechtigten Anliegen des obigen Abgrenzungsmodells unzureichend gewürdigt werden, welches die Unterschiedenheit von Religion und Moral sowie religiöser und ethischer Bildung hervorhebt. Letztlich besteht auf diese Weise die Gefahr, dass der Religionsunterricht sich selbst überflüssig macht, da seine Eigenart unzureichend zur Geltung kommt.

2.3

Ethische Bildung als Teilaspekt religiöser Bildung – das »konfessionelle« Verflechtungsmodell

Hans Küngs Publikationen und Aktivitäten zum Weltethos haben sehr viel Aufmerksamkeit gefunden. Zwar findet dieser Ansatz auch Kritik, weil in ihm ethische Differenzen zwischen Religionen zu stark nivelliert werden.15 Ungeachtet dessen zeigt aber das Projekt Weltethos, dass Ethik, Moral und Werte einen konstitutiven Bestandteil von Religionen darstellen. Dementsprechend besteht in europäischen Ländern, in denen ein konfessioneller Religionsunterricht dominiert, eine verbreitete Alternative zum Abgrenzungs- und Gleichsetzungsmodell darin, dass im Kontext des Religionsunterrichts ethische Bildung stattfindet. Diese Position findet sich in diversen Verlautbarungen der katholischen wie evangelischen Kirche.16 Unschwer bestätigt auch der Blick in Kompetenzmodelle, Lehrpläne und Schulbücher für den Religionsunterrichts, dass die ethische Dimension eine wesentliche Rolle spielt. Beispielsweise bezieht sich auch eine der acht Kompetenzen der EKD folgendermaßen auf ethische Bildung: »Ethische Entscheidungssituationen im individuellen und gesellschaftlichen Leben wahrnehmen, die christliche Grundlegung von Werten und Normen verstehen und begründet handeln können.«17 Gleichwohl stößt dieser Ansatz an Grenzen, da er der zunehmenden Entkirchlichung in vielen europäischen Ländern unzureichend gerecht wird. Schüler:innen ohne Bekenntnis, welche den konfessionellen Religionsunterricht nicht besuchen, erhalten oftmals keine ethische Bildung. Aber selbst dann, wenn für den konfessionellen Religionsunterricht ein Ersatz- oder Alternativfach wie Philosophie oder Ethik eingerichtet ist, wird jenes häufig nicht durchgängig in allen Jahrgangsstufen angeboten. Die religiöse und weltanschauliche Pluralisierung erfordert früher oder später Lösungen, damit alle Schüler:innen eine ethi-

15 Vgl. Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 107–110. 16 Vgl. Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 256–259. 17 Kirchenamt der EKD (Hg.): Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen (EKD-Texte 111), Hannover 2011, 18.

Ist Ethik wichtiger als Religion?

335

sche Bildung erhalten. Eine Lösung dieser Problematik sehen nicht wenige in dem folgenden Modell.

2.4

Ethische Bildung plus Religionskunde – das »neutrale« Verflechtungsmodell

Ein Blick auf Europa zeigt, dass z. B. in England oder Norwegen der konfessionelle Religionsunterricht durch ein alternatives Modell abgelöst werden kann, das in konzeptioneller Hinsicht »neutral« ist und an dem alle Schüler:innen einer Klasse unabhängig von ihrer jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit teilnehmen. Die Bezeichnung des Faches variiert und zeigt, dass die inhaltliche Zusammensetzung und Proportionierung ethischer, religiöser, kultureller und lebenskundlicher Aspekte komplex ist. In Deutschland haben insbesondere die juristischen Auseinandersetzungen um die Fächer »Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde« in Brandenburg sowie »Ethik« in Berlin zu intensiven Diskussionen geführt. Aufschlussreich ist auch die Entwicklung im Kanton Zürich: Nachdem im Jahr 2006 zunächst das Fach »Religion und Kultur« eingerichtet worden war, wurde es im Zuge der Einführung von »Lehrplan 21« umbenannt in »Religionen, Kulturen, Ethik«, womit ausdrücklich ethische Aspekte aufgenommen wurden. Neben der Frage nach der inhaltlichen Zusammensetzung und Proportionierung muss sich dieses Modell mit der grundsätzlichen Problematik auseinandersetzen, wer die Inhalte dieses Faches verantwortet. Von staatlicher Seite aus ist Zurückhaltung geboten, wenn dieser aufgrund seiner Verfassung einer religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine »Werte-neutrale Schule« kaum eine sinnvolle Option darstellt: Menschen »können und sollen sich in bestimmten Zusammenhängen nicht neutral verhalten – auch und gerade nicht in demokratischen Gesellschaften, die von geteilten Werten abhängig sind.«18 Umgekehrt steht ein »neutrales« Fach auch in der Gefahr, dass es unter der Hand ideologisiert wird: In einer Zeit, in der »illiberale Demokratien« propagiert und populistische Politiker:innen gewählt werden, kann immer wieder die Versuchung beobachtet werden, dass ethische Bildung zu fragwürdigen (national-)politischen Zwecken instrumentalisiert wird. Nicht umsonst ist aufgrund der Erfahrungen des »Dritten Reiches« in Deutschland der von den Kirchen verantwortete Religionsunterricht das einzige Fach, das durch das Grundgesetz geschützt ist.

18 Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 184.

336 2.5

Martin Rothgangel

Ethische Bildung als Bestandteil einer kooperierenden Fächergruppe – das »ideale« Verflechtungsmodell

Mit dem Stichwort »ideal« soll an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht werden, dass diesem Modell die vieldiskutierte Idee zugrunde liegt, dass »Religionsunterricht und Ethikunterricht in einer eigenständigen Fächergruppe«19 verbunden sind. Zwar wird dieses Modell in theoretischer Hinsicht oftmals als weiterführend beurteilt, jedoch wird in der Praxis kaum seine Idealform realisiert, nämlich dass konstitutive Begegnungsphasen zwischen den beteiligten Unterrichtsfächern mit Teamteaching stattfinden. Auf dieses Modell soll im abschließenden Teil dieses Beitrags nochmals eingegangen werden, zumal es auch in einer gemeinsamen Stellungnahme der beiden theologischen Fakultäten der Universität Wien vorgeschlagen wird.

3

Potentiale des Religionsunterrichts für ethische Bildung

Im Anschluss an sozialethische Überlegungen Ulrich Körtners lässt sich vergleichbar für den Religionsunterricht feststellen, dass der Religionsunterricht »nicht nur zur Begründung, sondern auch zur Begrenzung von Moral einen unverwechselbaren Beitrag«20 leisten kann. In einem ersten Schritt soll in diesem Zusammenhang zunächst der schulische Kontext hinsichtlich ethischer Bildung berücksichtigt werden.

3.1

Ethische Bildung im Kontext Schule

Moral, Normen und Werte stellen einen wichtigen Bestandteil von Religionen dar. Von daher legt es sich nahe, dass ethische Bildung gleichermaßen für den Religionsunterricht konstitutiv ist. Allerdings ist im schulischen Kontext zu berücksichtigen, dass ethische Bildung keineswegs allein Aufgabe des Religionsunterrichts ist: Einschlägig ist – sofern er an einer Schule etabliert ist – der Ethikunterricht; darüber hinaus können alle Fächer mehr oder weniger einen Beitrag zu ethischer Bildung leisten. Exemplarisch hervorgehoben sei dies an den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie und Physik, bei denen »Bewertungskompetenz«21 einen der vier naturwissenschaftlichen Kompetenzbe19 Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 74. 20 Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 24. 21 Z. B. Horst Bayrhuber: Biologiedidaktik. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, in: Martin Rothgangel u. a. (Hg.): Lernen im Fach und über das Fach hinaus: Bestandsaufnahmen

Ist Ethik wichtiger als Religion?

337

reiche darstellt. Allerdings kann der Religionsunterricht gemeinsam mit dem Ethikunterricht als Zentrum ethischer Bildung an Schulen dienen und, wo immer sich die Gelegenheit bietet, in Kooperation mit anderen Fächern ethische Themen behandeln. Ethische Bildung vollzieht sich nicht nur in verschiedenen Unterrichtsfächern, gleichermaßen bedeutsam ist die Schulkultur bzw. das Schulethos. Auch hier kann der Religionsunterricht zum einen durch eigene Projekte wie z. B. zum diakonischen Lernen oder zu Compassion22 sowie zum anderen durch die Beteiligung an fächerübergreifenden Projekten wie Gewaltprävention oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung einen essentiellen Beitrag leisten.

3.2

Religiöse Begründungen von Werten

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, »dass Religion in Geschichte und Gegenwart zu den wichtigsten Quellen der ethischen und normativen Orientierung zu zählen ist.«23 Letztgenanntes führt zwar nicht dazu, dass es bestimmte religiöse Werte geben würde, die sich nicht auch im säkularen Kontext finden lassen. Jedoch trägt der religiöse Begründungs- und Sinnhorizont von Werten einerseits dazu bei, dass bestimmte Werte eine größere Bedeutung erhalten. So verdienen aus christlicher Perspektive nach dem Systematischen Theologen Edgar Thaidigsmann z. B. folgende Werte eine erhöhte Aufmerksamkeit: »Barmherzigkeit, die Zuwendung zu Schwächeren, eine fundamentale Sensibilität für die Gabe der Schöpfung und des Lebens, die Erkenntnis, dass ein Mensch nicht zuerst von dem lebt, was er leistet und dass er in seiner unverwechselbaren Individualität […] gerufen ist, seine eigenen Gaben zu entfalten und einzubringen in einem förderlichen Miteinander.«24 Andererseits können aus biblischer Perspektive bestimmte Werte wie z. B. Freiheit auf eine spezifische Weise verstanden werden. Bereits dem Dekalog ist die Erinnerung an die Befreiung aus der Sklavenschaft in Ägypten vorangestellt (Ex 20,2). In diesem Sinne lässt sich feststellen: »Gott will Freiheit für den Menschen, Gott gibt Freiheit als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Einund Forschungsperspektiven im Vergleich (Allgemeine Fachdidaktik Band 2), Münster 2020, 35. 22 Lothar Kuld/Stefan Gönnheimer: Compassion: sozialverpflichtetes Lernen und Handeln, Stuttgart 2000. 23 Kirchenamt EKD (Hg.): Religionsunterricht. 10 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2006, verfügbar unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/religionsunterrich t.pdf [abgerufen am 03. 01. 2020], 3; Bruno Schmid: Ethik- und Religionsunterricht. Vom Gegeneinander zum Miteinander, in: Herbert Rommel/Edgar Thaidigsmann (Hg.): Religion und Werteerziehung. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Waltrop 2007, 32. 24 Thaidigsmann: Unsichere Aufklärung (s. Anm. 12), 216.

338

Martin Rothgangel

halten seiner Weisungen.«25 Ein weiteres zentrales biblisches Motiv ist etwa die Befreiung von Sünde und Schuld (u. a. Eph 1,4−8) – ein Aspekt, dessen Relevanz im folgenden Punkt weiter entfaltet wird. Bei alledem werden spezifische Akzente des christlichen Freiheitsverständnisses deutlich, die im schulischen Kontext bei der Reflexion von Freiheit eingebracht werden können. Solche Punkte tragen dazu bei, dass der Religionsunterricht ein wichtiger Ort im Gespräch über Werte ist. Aufgrund seiner religiösen und weltanschaulichen Neutralität bleibt dem Staat eigentlich nur die Option, dass er »die ihm in der Gesellschaft voraus liegenden Werthaltungen, seien sie religiöser, nichtreligiöser oder quasireligiöser Art, miteinander ins Gespräch bringt.«26 Der Religionsunterricht – idealerweise im Kontext einer Fächergruppe – wird auf diese Weise zu einem wichtigen Erprobungsraum für diesen Dialog, welcher der Wertekonstruktion im Kontext einer unhintergehbaren Wertepluralität und diversen Begru¨ ndungsoptionen dient.27 In diesem Zusammenhang stellt die Reflexion transzendenzbezogener Wertebegründungen eine spezifische religionsunterrichtliche Zielperspektive dar.28 Hier sind auch die Differenzen zu thematisieren, die in religiösen Wertebegründungen innerhalb einer Konfession bzw. Religion oder zwischen Konfessionen oder Religionen bestehen.

3.3

Evangelium als Begrenzung von Werten

Die Kirchen und der Religionsunterricht würden gesellschaftlichen Erwartungen nach einer moralischen Orientierung in Anbetracht diverser Konfliktsituationen etwas Entscheidendes schuldig bleiben, wenn sie – theologisch gesprochen – nur mit dem Gesetz antworten und nicht auch das Evangelium zur Geltung bringen würden. Wenn dies aber nicht erfolgt, »dann verkommt die theologische Ethik zum dezisionistischen Appell«.29 Demgegenüber wird durch das Evangelium »die Rechenschaft fordernde Instanz zugleich als diejenige erfahren, welche Schuld

25 Konstantin Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht. Die bildende Dimension religiöser Bezugnahmen in religionspluraler Zeit, in: Mirjam Schambeck/Sabine Pemsel-Maier (Hg.): Welche Werte braucht die Welt? Wertebildung in christlicher und muslimischer Perspektive, Freiburg i. Br. 2017, 113. 26 Edgar Thaidigsmann: Christlicher Glaube im Streit um ethische Bildung durch »Werteerziehung«, in: Herbert Rommel/Edgar Thaidigsmann (Hg.): Religion und Werteerziehung. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Waltrop 2007, 100. 27 Vgl. Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht. Die bildende Dimension religiöser Bezugnahmen in religionspluraler Zeit (s. Anm. 25), 104. 28 Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht. Die bildende Dimension religiöser Bezugnahmen in religionspluraler Zeit (s. Anm. 25), 110. 29 Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 100.

Ist Ethik wichtiger als Religion?

339

vergibt.«30 Diese die Ethik begrenzende Befreiung von Sünde und Schuld kann durch »die Anerkenntnis der Schuldhaftigkeit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz zur Absage an jeden ethischen Rigorismus«31 führen. Nach biblischem Verständnis ist es die Liebe, welche »das Gesetz als Struktur verantwortlichen Lebens zwar nicht verachtet, jedoch über dem Gesetz steht und sich zu ihm in Freiheit verhält.«32 Sie überschreitet alle Moral auch dahingehend, dass man sie nicht erzwingen kann. Im schulischen Kontext finden diese theologischen Gedanken ihre Entsprechung unter anderem darin, dass eine Fehlerkultur etabliert wird, in der ein guter Umgang mit Fehlern stattfindet, d. h. dass man zur Auseinandersetzung mit Fehlern ermutigt und hilfreiche Strategien aufzeigt, wie man eigene Fehler zuund eingestehen kann.33

4

Fächergruppe »Religion und Philosophie/Ethik« als Weg aus der fragwürdigen Alternative

Nach den grundsätzlichen Überlegungen der beiden voranstehenden Teile sollen in diesem letzten Abschnitt bestimmte Gedanken aus einem gemeinsamen Positionspapier der Evangelisch-Theologischen Fakultät und der KatholischTheologischen Fakultät zur Diskussion gestellt werden, das von beiden Fakultäten vor ziemlich genau sieben Jahren in den Fakultätsgremien beschlossen und veröffentlicht wurde.34

4.1

Motive und Hintergründe

Letztlich ging es in diesem Positionspapier darum, anhand von zwei Vorschlägen einen Impuls zu geben, um die damals festgefahrene Diskussion um Religionsund Ethikunterricht wieder zu beleben und einen konstruktiven Weg gegenüber falschen Alternativen wie »Ethik ist wichtiger als Religion« aufzuzeigen. Keineswegs geht es um eine simple Besitzstandswahrung. Vielmehr zeigt ein Blick über den österreichischen Tellerrand hinaus, dass sich beispielsweise der 30 31 32 33 34

Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 116. Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 116. Körtner: Evangelische Sozialethik (s. Anm. 10), 113. Lindner: Wertebildung im Religionsunterricht (s. Anm. 3), 191, Anm. 256. Johann Schelkshorn u. a.: Der Stellenwert von Religion und Ethik in einer modernen Gesellschaft, 2014, verfügbar unter: https://ph-ktf.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_christl _philosophie/Schelkshorn/Positionspapier_2016_Ethik_Religion.pdf [abgerufen am 17. 03. 2022].

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Religionsunterricht sowie die Ausbildung von Religionslehrer:innen in vermeintlichen »Vorzeigeländern« wie England keineswegs als optimal erweist.35 Darüber hinaus erscheint im europäischen Vergleich die Gestaltung des Religionsunterrichts in Österreich und Deutschland eher als ein Mittelweg zwischen religionskundlichen (v. a. in West- und Nordeuropa) und katechetischen (v. a. in Südeuropa und den Visegrad-Staaten) Varianten.36 Schließlich zeigt sich im Kontext von Fächern wie »Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde« (Brandenburg) oder »Religionen – Kulturen – Ethik« (Zürich), dass hier immer wieder die Gefahr einer Marginalisierung der religiösen Dimension besteht. An dieser Stelle möchte ich kurz begründen, warum die konfessionelle Orientierung des Religionsunterrichts nach wie vor wichtig erscheint. Der Hintergrund sind zahlreiche Umfragen im deutschsprachigen Raum bei Religionslehrkräften und Schüler:innen, die fast durchweg folgende Tendenz aufzeigen: Zwar wird die Trennung von Klassenverbänden wegen konfessionellem RU oft kritisch gesehen, aber es bleibt der Wunsch nach einem konfessionell-kooperativen bzw. ökumenischen oder interreligiösen RU bestehen, in dem die jeweiligen Positionen glaubwürdig vertreten und zur Diskussion gestellt werden.37 Ein rein religionskundlicher Unterricht findet dagegen nur von einer kleineren Minderheit Zuspruch.38 Schon vor etwas mehr als fünfzehn Jahren musste sich der Verfasser dieser Frage im Rahmen eines Gutachtens für den Bremer RU stellen, der eine starke religionskundliche Orientierung besitzt: Eine Muslima hatte nämlich in Bremen den Rechtsweg beschritten, da sie nach dem entsprechenden Studium an der Universität Bremen auch den sogenannten biblischen Geschichtsunterricht erteilen wollte.39 Entscheidend war bereits damals der Blick auf empirische Befragungen von Religionslehrer:innen, die eindrücklich die Erfahrung zu erkennen gaben, dass immer wieder im Religionsunterricht die Positionalität von Religionslehrer:innen als grundlegend erachtet wird.40 Das geht aber eigentlich nur dann, wenn diese Position authentisch vertreten wird – wobei es überhaupt kein Problem darstellt, wenn eigene Fragen und Zweifel 35 Vgl. Brian Gates/Robert Jackson: Religion and Education in England, in: Martin Rothgangel u. a. (Hg.): Religious Education at Schools in Europe. Part 2: Western Europe (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 10,2), Göttingen 2014, 65–98. 36 Vgl. dazu das Buchprojekt »Religious Education at Schools in Europe« (www.rel-edu.eu) [abgerufen am 12. 03. 2022], sowie Martin Rothgangel: The RE-Puzzle of the Visegrád-Group and the Answer of »Collective Memory«, in: Religion & Education 48 (2021), 397–416. 37 Vgl. z. B. Martin Rothgangel u. a.: Praxis Religionsunterricht. Einstellungen, Wahrnehmungen und Präferenzen von ReligionslehrerInnen (REIN 10), Stuttgart 2017, 259–262. 38 Vgl. z. B. Rothgangel u. a.: Praxis Religionsunterricht (s. Anm. 37), 259–262. 39 Vgl. Martin Rothgangel: Religionspädagogisches Gutachten zur Erteilung des »Unterrichts in Biblischer Geschichte« durch Mitglieder nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 5 (2006), 3964. 40 Vgl. Rothgangel: Religionspädagogisches Gutachten (s. Anm. 39), bes. 52–55.

Ist Ethik wichtiger als Religion?

341

gegenüber der eigenen Konfession/Religion zum Ausdruck gebracht werden. Inzwischen sind bis in die Gegenwart hinein zahlreiche weitere empirische Studien im deutschsprachigen Raum erschienen, welche nach wie vor dieses Ergebnis bestätigen.41 Last but not least sei auch festgestellt, dass das Modell der Fächergruppe wesentlich auf konzeptionellen Überlegungen basiert, die bereits in der EKDDenkschrift zum Religionsunterricht »Identität und Verständigung«42 publiziert worden sind.

4.2

Ausgezeichnete Voraussetzungen und Grundkonzeption der Fächergruppe

Ohne Übertreibung kann man m. E. feststellen, dass Österreich wie kaum ein anderes Land in Europa ausgezeichnete Voraussetzungen für diese Fächergruppe besitzt:43 Erstens haben sich in Österreich alle Religionsgesellschaften, die Religionsunterricht verantworten, auf gemeinsame Kompetenzen (Matura, Sek II) verständigt, die Schüler:innen in den verschiedenen konfessionellen Religionsunterrichten erwerben; zweitens liegt mit der Katholisch-Pädagogischen Hochschule Wien/Krems eine Ausbildungsstätte verschiedener Kirchen und Religionsgesellschaften vor, die europaweit einmalig sein dürfte, weil darin sieben christliche Kirchen lehren und eine Kooperation mit den Freikirchen, der Islamischen Glaubensgemeinschaft, der Alevitischen Glaubensgemeinschaft, der Israelitischen Religionsgesellschaft und der Buddhistischen Religionsgesellschaft stattfindet; drittens gibt es darüber hinaus an den Universitäten Innsbruck und Graz bemerkenswerte interreligiöse Hochschulprojekte und lassen sich auch an anderen Standorten derartige Kooperationen beobachten;44 viertens wurde das OERF auf eine interreligiöse Vereinigung und Publikationsorgan45 umgestellt; in diesem Sinne sei schließlich auch angemerkt, dass der frühere »Verein zur Förderung des katholischen Religionsunterrichts« zum interreligiös ausgerichteten 41 Vgl. dazu als jüngste Publikation, die zugleich einen Überblick über Vorgängerstudien enthält: Manfred L. Pirner: Wie Religionslehrkräfte ticken. Eine empirisch-quantitative Studie, Stuttgart 2022. 42 Kirchenamt der EKD (Hg.): Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität; eine Denkschrift der EKD im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 1994. 43 Vgl. dazu ausführlicher Martin Rothgangel: Bildung und Religionen, in: Karsten Lehmann/ Wolfram Reiss (Hg.): Religiöse Vielfalt in Österreich, Baden-Baden 2022, 509–527. 44 Vgl. z. B. für Wien das gemeinsame Publikationsprojekt von Ednan Aslan u. a.: Religion und Gemeinschaft. Die Frage der Integration aus christlicher und muslimischer Sicht, Göttingen 2013. 45 Vgl. https://oerf-journal.eu [abgerufen am 12. 03. 2022].

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Martin Rothgangel

»Verein zur Förderung religiöser Bildung«46 umbenannt und umstrukturiert wurde. Alle diese Entwicklungen bilden eine vorzügliche Voraussetzung und Basis für die Etablierung einer Fächergruppe »Religionen und Ethik«. Die Grundkonzeption dieser Fächergruppe besteht aus gemeinsamen und getrennten Phasen der beteiligten Religionsunterrichte sowie gegebenenfalls des Ethikunterrichts. In ihrer Idealgestalt sieht die gemeinsame Phase so aus, dass eine Stunde im Klassenverband stattfindet. Letztere ist von Schulleitungen besser organisierbar und ermöglicht auch ein Teamteaching, welches in didaktischer Hinsicht für den Dialog zwischen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen ein hohes Potential besitzt. Das Ziel dieser gemeinsamen Phasen im Klassenverband ist eine differenzsensible Bildung für eine religiös-weltanschaulich plurale Gesellschaft. Dabei geht es im Grunde genommen darum, dass Schüler:innen in der Schule auf die in der Gesellschaft vorhandene Pluralität vorbereitet werden. In den getrennten Phasen, welche die andere Hälfte der Zeit ausmachen, sind die jeweiligen christlichen Konfessionen sowie weiteren Religionsgesellschaften für sich. Für kleinere Religionsgesellschaften können diese getrennten Phasen auch in geblockter Form stattfinden. Ziel dieser getrennten Phasen ist insbesondere die bildende Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition. Diese Idee einer Fächergruppe »Religion/Ethik/Philosophie« bewegt sich somit zwischen zwei Extremen: Einerseits ein starres Festhalten am konfessionellen Religionsunterricht als Pflichtfach (sowie Ethik allenfalls als Ersatzfach), andererseits eine Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts durch einen Ethikunterricht oder/und einen Religionskundeunterricht für alle. Das Grundmodell dieser Fächergruppe lässt verschiedene Möglichkeiten der Konkretisierung zu. An dieser Stelle seien nur zwei Ideen zur Diskussion gestellt: Erstens gilt vorab, dass es sich in dieser Fächergruppe um einen Wahlpflichtbereich handelt, d. h. dass die Schüler:innen (bzw. deren Eltern) zu Beginn der Grundschule, zu Beginn der SEK I sowie zu Beginn der Oberstufe zwischen einer Form des von Kirchen und Religionsgesellschaften verantworteten Religionsunterrichts sowie dem Fach Philosophie/Ethik wählen können. Die Schüler: innen bzw. Eltern haben darüber hinaus am Ende eines jeden Schuljahres das Recht, sich von dem gewählten Unterricht abzumelden und in ein anderes Fach des Wahlpflichtbereichs zu wechseln. Zweitens erscheint in inhaltlicher Hinsicht wesentlich, dass der von den Kirchen und Religionsgesellschaften verantwortete Religionsunterricht in einem angemessenen Verhältnis auch ethische und philosophische Themen beinhaltet, während umgekehrt das Fach »Philosophie/ Ethik« auch religionskundliche Themen enthält. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass alle Schüler:innen ethische, philosophische und religiöse Kompe46 Vgl. https://religious-education.info [abgerufen am 12. 03. 2022].

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tenzen erwerben. Darüber hinaus sei hervorgehoben, dass mit diesem Modell der für religiöse und ethische Bildung konstitutive Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive auch von seiner Organisationsform her unterstützt wird. Gleichermaßen wird eine Balance angestrebt zwischen persönlicher Identitätsbildung der Schüler:innen einerseits und dialogischer Verständigungsfähigkeit andererseits. Perspektivisch sei noch ein Blick auf die praktische Realisierung des Fächergruppenmodells gewagt. Die österreichische Bildungspolitik erscheint ungeachtet der Einführung des Ethikunterrichts in der Sekundarstufe II hinsichtlich des Religionsunterrichts gespalten und wenig kalkulierbar. Auch die christlichen Kirchen sowie die muslimische Glaubensgemeinschaft sind in dieser Frage durchaus ambivalent. Die gesellschaftlichen Umstände wandeln sich jedoch enorm. Man muss sich nur den demographischen Wandel der letzten Jahre vor Augen führen.47 Auf früher oder später wird sich die gegenwärtige Organisationsform des konfessionellen Religionsunterrichts kaum mehr halten lassen. Bei alledem ist festzustellen: Das Modell der Fächergruppe wurde v. a. aus der Theorie heraus entwickelt. Der Teufel liegt aber im Detail, d. h. im Organisatorischen. Rückmeldungen von Religionslehrer:innen und Fachleiter:innen zeigen, dass dieses Modell auf sehr großes Interesse stößt, aber die praktische Realisierung aufgrund regionaler Unterschiede und bildungspolitischer Bestimmungen keineswegs einfach ist. Fest steht, dass dieses Modell sich nur dann durchsetzen kann, wenn gemeinsam mit Lehrer:innen, Fachleiter:innen, Schulleitungen sowie Verantwortlichen von Kirchen, Religionsgesellschaften und Staat ein praxistauglicher Weg der Realisierung gefunden wird, der auch regionale Differenzierungen zulässt.

47 Vgl. dazu u. a. Martin Mohr: Statistiken zur Religion in Österreich, 2021, verfügbar unter: https://de.statista.com/themen/2066/religion-in-oesterreich/#topicHeader__wrapper [abgerufen am 12. 03. 2022].

Robert Schelander

Religion und Schule. Religionspädagogische Überlegungen zur österreichischen Bildungspolitik

Abstract The article deals with the role of the subject Religious Education within the Austrian school system. In Austria, religious institutions, and particularly the Roman Catholic Church, have a strong influence on how religion is taught in schools. This legal condition poses challenges for the Austrian government and educational policy. This article explores the place of religion in schools in view of educational law and demographic issues in a larger historical context. The author pleads for a reframing of the relationship between school and religion in in the Austrian context.

Der Religionsunterricht ist in Österreich ein besonderes Fach. Es gibt nicht nur einen, sondern etwa so viele verschiedene Religionsunterrichte wie Jugendliche an einer Mittelschule andere Schulfächer haben. Zu seinen Besonderheiten gehört, dass er ein Pflichtfach ist, aber nicht für jene Schüler und Schülerinnen, die keiner (anerkannten) Kirche oder Religionsgemeinschaft (KoRG1) angehören. Schüler und Schülerinnen wiederum, für die der Religionsunterricht ein Pflichtfach ist, können sich von diesem abmelden. Für Außenstehende klingt dies ungewohnt, zum Teil seltsam. Zu einem besonderen Fach macht ihn der maßgebliche Einfluss der KoRG. Während der Schulunterricht in Österreich auf zentrale bundespolitische Lenkung ausgerichtet ist, – Autonomiebestrebungen haben daran nur wenig geändert – ist der Religionsunterricht in seinen inhaltlichen und organisatorischen Belangen auf die jeweilige KoRG bezogen.

1 Im Folgenden ist der in den österreichischen Gesetzen verwendete Terminus »Kirche oder Religionsgesellschaft« mit KoRG abgekürzt. Bezeichnet sind damit durch den Staat anerkannte religiöse Gemeinschaften. Vgl. Gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften (1874) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesn ummer=10009173 [abgerufen am 1. 4. 2022], sowie die Regelungen nach dem BekenntnisgemeinschaftenG (1998) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnor men&Gesetzesnummer=10010098 [abgerufen am 1. 4. 2022].

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Robert Schelander

Über zwei Jahrhunderte wurde die Rolle des Religionslehrers vom Katecheten, also ausgebildeten Theologen und Priestern, geprägt. Mittlerweile ist es für jüngere Lehrpersonen an den Schulen irritierend, wenn sie erleben, dass der evangelische Religionsunterricht von PfarrerInnen erteilt wird. In ihrer Ausbildung und beruflichen Einbindung in das Bildungssystem unterscheidet sich diese Personengruppe deutlich von anderen Lehrpersonen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für andere Religionslehrende. Die doppelte Zuordnung zu einem kirchlichen Schulamt und einer staatlichen Bildungsdirektion hat ihre Grundlage in den österreichischen Schulgesetzen, welche den Religionsunterricht in der Verantwortung der KoRG sehen. Ich werde rechtlichen Vorgaben und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur gegenwärtigen Situation des Religionsunterrichts nachgehen und Herausforderungen benennen, die sich für die zukünftige Entwicklung religiöser Bildung an der österreichischen Schule ergeben.

1

Der Blick von außen

Mit dem europäischen Einigungsprozess haben die unterschiedlichen schulischen Bildungssysteme und die Verankerung religiöser Bildung in ihnen in der Religionspädagogik verstärkte Aufmerksamkeit erhalten. Europäische religionspädagogische Vereinigungen haben Darstellungen der jeweiligen Situation religiöser Bildung in den Ländern erstellt. Es sind dabei kleine Vignetten über die Situation des Religionsunterrichts in den unterschiedlichen europäischen Ländern entstanden.2 Mittels eines groß angelegten Forschungsprojektes wurde in jüngerer Zeit eine umfassende vergleichende Darstellung dazu veröffentlicht.3 Das Projekt »Religious Education at Schools in Europe« (REL-EDU) beschreibt die Situation des Religionsunterrichts in verschiedenen Ländern Europas anhand von jeweils 13 Fragestellungen und ermöglicht damit eine Vergleichbarkeit.4 Die ersten drei Fragen betreffen die Rahmenbedingungen, welche Gesellschaft, Recht und Politik für den Religionsunterricht bedeuten. 2 Peter Schreiner hat als Direktor des evangelischen Comenius-Instituts viel zu diesen internationalen Vergleichen beigetragen. Peter Schreiner: Erträge international-vergleichender Studien zum Religionsunterricht, in: Peter Schreiner (Hg.): Religiöse Bildung erforschen. Empirische Befunde und Perspektiven, Münster 2014, 277–289. 3 Vgl. www.rel-edu.eu. »Das Ziel des Projektes Religious Education at Schools in Europe (RELEDU) besteht darin, anhand eines gemeinsamen Fragerasters zu beschreiben, wie der Religionsunterricht in den 47 Mitgliedstaaten des Europarates und in Weißrussland organisiert und durchgeführt wird.« Peter Schreiner: Religionsunterricht, international (2016), in: WiReLex https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100208/ [abgerufen am 1. 4. 2022]. 4 Die österreichische Situation wird durch Martin Jäggle und Phillip Klutz anhand dieser analytischen Kategorien dargestellt. Martin Jäggle/Philipp Klutz: Religiöse Bildung an Schulen in

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1. Zum sozioreligiösen Hintergrund des Landes Der knappe Einblick in die sozioreligiöse Situation geht besonders auf wichtige Veränderungen etwa im Gefolge von Migration ein. 2. Rechtliche Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts und des Verhältnisses von Staat und Kirche Das Verhältnis zwischen Kirchen, Religionsgesellschaften und Staat ist in jedem Land unterschiedlich geregelt mit Konsequenzen für die wiederum unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts. 3. Entwicklungen in der Schulpolitik des Landes Europaweit gibt es in jedem Land Reformbemühungen im Bildungswesen, die auch direkte oder indirekte Auswirkungen auf den Religionsunterricht haben.5

Diese drei Fragestellungen (in geänderter Reihenfolge) geben die Struktur der folgenden Ausführungen vor. Für das Verständnis von (religions-)pädagogischen Positionen zur Gestalt religiöser Bildung im Schulwesen sind folgende Unterscheidungen hilfreich.6 Religiöse Bildung findet nicht nur in der Schule statt, sondern auch außerschulische Orte und Gelegenheiten, wie zum Beispiel eine kirchliche Jugendarbeit oder die Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden, tragen zu einer religiösen Bildung bei. Innerhalb der Schule gibt es mehrere Möglichkeiten, wie Religion als Bildungsangebot verankert sein kann. Es kann ein eigenes schulisches Unterrichtsfach dafür geben oder religiöse Themen können als Teil anderer Fächer bzw. allgemein im Klassenunterricht verhandelt werden. Religiöse Bildung kann als Unterrichtsprinzip im Curriculum der Schule verankert sein, ähnlich wie die Aufgabe der Medienerziehung.7 Wenn religiöse Bildung auch in einem eigenen Schulfach vorkommen soll, so ist zu klären welche rechtliche und organisatorische Form dieser Unterrichtsgegenstand haben soll: ein (alternativer) Pflichtgegenstand, ein Freigegenstand oder eine (unverbindliche) Übung.8 Aber auch außerhalb eines eigenen Schulfaches kann religiöse Bildung an der Schule stattfinden. So ermöglichen Schulprojekte, Feste und Feiern, Andachten

5 6 7 8

Österreich, in: Martin Jäggle u. a. (Hg.): Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen 2012, 69–93. Martin Jäggle u. a. (Hg.): Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen 2012, 9. Vgl. die Beschreibung der dreizehn Fragestellungen auf der Projekthomepage von REL-EDU: www.rel-edu.eu/project. Vgl. Friedrich Schweitzer: Religiöse Bildung als Aufgabe der Schule, in: Martin Rothgangel u. a. (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 2014, 92–105. Vgl. Bundesministerium für Bildung und Frauen (Hg.): Unterrichtsprinzip Medienerziehung – Grundsatzerlass, Wien 2014. Vergleiche die Differenzierungen im Rahmen der österreichischen Schulgesetze, u. a. dem Schulunterrichtsgesetz (SchUG 1962), https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfra ge=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009600 [abgerufen am 1. 4. 2022].

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etc. andere Vermittlungsformen und damit Zugänge zu Religion und religiöser Bildung. Schulische Bildung findet nicht nur im Klassenzimmer, im Unterricht, statt, sondern auch durch das Zusammenleben in der Schule insgesamt. Eine ethische Erziehung wird gerne in diesem Bereich verortet. Wie Lehrpersonen miteinander und mit Jugendlichen umgehen, wie schulische Entscheidungen getroffen werden, dies wirkt in höchstem Maße bildend. Gerade für Schulen in konfessioneller Trägerschaft ist dieses (religiöse) Schulleben ein wichtiger Aspekt. Diese Übersicht macht deutlich, wie vielfältig religiöse Bildung sein und in welch unterschiedlicher Gestalt sie im Bildungswesen vorkommen kann. Ein Blick in die Geschichte des Bildungswesens, aber auch in die konkrete Situation verschiedener europäischer Länder zeigt, dass dies keine theoretisch-abstrakten Möglichkeiten, sondern gelebte Formen sind.

2

Die rechtliche Situation von Religion an der österreichischen Schule

Die aktuellen gesetzlichen Regelungen zur religiösen Bildung an der Schule sind nach dem 2. Weltkrieg formuliert worden. Das Religionsunterrichtsgesetz (RelUG 1949) regelt den Religionsunterricht an der Schule.9 Dieser ist für SchülerInnen, die einer bestimmten KuRG angehören, ein Pflichtgegenstand. Religion ist daher Teil des Fächerkanons der Schule. Zugleich wird bestimmt, dass der Religionsunterricht durch die KoRG »besorgt, geleitet und unmittelbar beaufsichtigt« (§ 2 RelUG) wird. D. h. der Religionsunterricht wird von der jeweiligen KoRG verantwortet und organisiert. Häufig wird der Religionsunterricht – einen Begriff des deutschen Staatskirchenrechts aufgreifend – als eine »res mixta« bezeichnet, eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche. Es ist jedoch für Österreich festzustellen, dass alle maßgeblichen inhaltlichen Regelungen sich alleine in kirchlicher Zuständigkeit befinden. Das österreichische Modell des Religionsunterrichts an der Schule wird daher als »Kirche in der Schule« bezeichnet. Dies bedeutet, dass der Religionsunterricht tendenziell – je nach konkreter Situation – zu einem Sonderbereich neben dem anderen schulischen Unterricht wird. Wer sorgt dafür, dass religiöse Bildung organischer Teil des schulischen Unterrichts bleibt? Alleine eine organisatorische und räumliche Eingliederung in die Schule reicht zunehmend nicht mehr aus, um eine ausreichende Verbindung zwischen 9 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer =10009217 [abgerufen am 1. 4. 2022]. Eine Zusammenstellung von rechtlichen Bestimmungen zum Religionsunterricht findet sich unter www.uibk.ac.at/praktheol/kirchenrecht/ru-recht [abgerufen am 1. 4. 2022].

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beiden zu schaffen. Zumeist haben KoRG in der Organisation ihres Religionsunterrichts darauf geachtet, dass der Religionsunterricht nicht zu einem Fremdkörper im Schulorganismus wird10. Wenn die Anzahl der Schüler und Schülerinnen eines bestimmten Bekenntnisses sehr gering ist, lässt sich dies aber kaum vermeiden. Religionsunterricht wird zu einem Randphänomen auch im Hinblick auf die Platzierung im Stundenplan. Hier spielt die demographische Größe, sowie das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, eine wichtige Rolle. Für die Beschreibung der Stellung religiöser Bildung an der Schule wird auf eine zweite Gesetzesmaterie Bezug genommen, dem sog. »Zielparagrafen« des Schulorganisationsgesetzes (§ 2 SCHOG 1962)11 In ihm werden die »Aufgaben der österreichischen Schule« festgelegt. (1) Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen. Die jungen Menschen sollen zu gesunden und gesundheitsbewussten, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil, sozialem Verständnis und sportlich aktiver Lebensweise geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.

Dieser umfangreiche Katalog an Aufgaben erwähnt auch religiöse Werte, an deren Entwicklung der Unterricht mitzuwirken habe. Es ist auffällig in welch unterschiedlicher Weise dieser Text in seiner Bedeutung für die österreichische Schule ausgelegt wird. Während kirchliche Positionen im »Zielparagrafen« eine feste Verankerung des Religionsunterrichts und der religiösen Bildung an der österreichischen Schule sehen, verweisen andere den Gegenstand Religion in einen kirchlichen Sonderbereich, der mit den übrigen Aufgaben der Schule nicht verbunden ist. Schule erfüllt ihre Aufgaben auch, wenn es keine explizite religiöse Bildung in ihr gibt.12 Woher kommen diese unterschiedlichen Sichtweisen? 10 Diese Randstellung kann auch positiv gedeutet werden. Vgl. Helene Miklas u. a. (Hg.): Religionsunterricht – Oase im Schulalltag. Junge Erwachsene kommentieren ihren evangelischen Religionsunterricht, Wien 2001. 11 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnumme r=10009265 [abgerufen am 1. 4. 2022]. 12 Dies gilt für jene Schülerinnen und Schüler, für die Religion kein Pflichtfach ist bzw. die sich von diesem abgemeldet haben. Durch die Einführung des Ethikunterrichts gibt es für jene, die ihn besuchen eine gewisse religiöse Bildung.

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Werfen wir dazu einen Blick in die Geschichte der österreichischen Schule. Die Neuordnung der Schule unter Maria Theresia in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wies den Unterricht in Religion den Geistlichen zu.13 Während der übrige Unterricht durch Lehrer erteilt wird, sollte der Unterricht in Religion von den Pfarrern erteilt werden. Die in Orden und Klöstern vorhandenen personellen Kapazitäten wurden als günstige Voraussetzung hierfür angesehen. Ordensgeistliche könnten durch eine Tätigkeit in der Schule eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen. Diese Regelung hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. In seinem maßgeblichen Werk zur österreichischen Schulgeschichte erkennt Helmut Engelbrecht in mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen der damaligen Schulverwaltung das Hauptmotiv, kirchliche Strukturen in die Schulverwaltung einzutragen.14 Man bediente sich einer funktionierenden kirchlichen Struktur für die Reform der Schule. Ausgebildete Priester übernehmen Funktionen der Schulaufsicht und -verwaltung und garantieren durch ihren Unterricht und ihre Präsenz in der Schule einen gewissen pädagogischen Standard. Die Ausbildung der Priester wurde um pädagogische Themen ergänzt.15 Die konfessionelle katholische Staatsschule prägte das österreichische Schulwesen im 19 Jahrhundert. Die liberalen Schulgesetze in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts brachten eine veränderte gesetzliche Lage. Das Verhältnis von Schule und Kirche war ein zentrales Thema dieser Schulreform. Der Staat formulierte erneut seinen Leitungsanspruch: »oberste Leitung und Aufsicht über das Bildungswesen« komme ausschließlich ihm zu.16 Das konfessionelle Schulwesen bekam einen Platz im Privatbereich zugewiesen, die öffentliche Schule hingegen war nicht mehr konfessionell. In einem eigenen Kirche-Schule-Gesetz werden die gegenseitigen 13 »In der Religion zu unterweisen, bleibt in allen Schulen den Geistlichen überlassen.« Allgemeine Schulordnung, für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern d. d. Wien den 6ten December 1774. 14 »Wirklich von Gewicht war jedoch die Übertragung der pädagogisch-didaktischen Aufsicht über die schulischen Einrichtungen auf der unteren und mittleren Ebene an die Amtskirche. […] Es sollte vor allem eine finanzielle Entlastung des Staates erreicht werden […]« Helmut Engelbrecht: Schule in Österreich. Die Entwicklung ihrer Organisation von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 2015, 99. 15 »Die künftigen Priester wurden in Österreich viel früher zu einem wenigstens minimalen pädagogischen Studienanteil verpflichtet als die weltlichen Gymnasiallehrer.« András Németh: Die Universitätspädagogik und Mildes Rezeption in Ungarn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ines Maria Breinbauer u. a. (Hg.), Milde revisited. Vincenz Eduard Mildes pädagogisches Wirken aus der Sicht der modernen Erziehungswissenschaft, Wien 2006, (143–162) 147. 16 »§. 1. Die oberste Leitung und Aufsicht über das gesammte (sic!) Unterrichts- und Erziehungswesen steht dem Staate zu […].« Schule-Kirche Gesetz (1868) https://www.ris.bka.gv.a t/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009170 [abgerufen am 1.4.2022].

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Ansprüche abgegrenzt: »Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes bleibt die Besorgung, Leitung und unmittelbare Beaufsichtigung des Religionsunterrichtes und der Religionsübungen der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft überlassen« (§2). Der folgende Satz weist nochmals deutlich allfällige kirchliche Absichten, Einfluss auf das Schulwesen zu nehmen, zurück: »Der Unterricht in den übrigen Lehrgegenständen in diesen Schulen ist unabhängig von dem Einflusse jeder Kirche oder Religionsgesellschaft.«17 Kirchliche Regelungshoheit besteht aber weiterhin im Bereich des Religionsunterrichts. Dies sind sehr klare Verhältnisbestimmungen. Es werden zwei Zuständigkeitsund Verantwortungsbereiche definiert: Kirche und Schule. Der Religionsunterricht gehört zur Kirche und die Schule zum Staat. Beide Bereiche sind – und dies ist der wesentliche Punkt – getrennt! Wie unmittelbar erkenntlich, bestimmen diese Regelungen bis heute die Bedeutung und Gestalt von religiöser Bildung an der Schule. Das RelUG 1949 greift direkt auf jene Formulierungen zurück und auch die Schulgesetze von 1962 haben an den Verhältnisbestimmungen nichts Wesentliches geändert. Diese Regelungen im 19. Jh. verdanken sich intensiven religiösen und politischen Auseinandersetzungen.18 Sie führten zu einer Polarisierung und zur Entwicklung zweier konträrer Positionen, welche vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. Versuche von sozialdemokratischer Seite den kirchlichen Einfluss auf das Schulwesen zu beschränken, ließen auf christlich-sozialer Seite die Alarmglocken läuten: hier werde die religionslose Schule propagiert. Umgekehrt wehrte sich die Sozialdemokratie gegen Versuche das religiöse Element in der Schule zu stärken und den kirchlichen Einfluss geltend zu machen: Man erkannte darin den Versuch, das alte Modell der konfessionellen (katholischen) Schule als öffentliche Staatsschule wieder einzuführen. Beide Seiten konnten sich begründet auf die grundlegenden Gesetzestexte berufen. Das österreichische Schulrecht ist im Hinblick auf den Stellenwert religiöser Bildung verschieden auslegbar. Während für die eine Position Religion selbstverständlicher Teil der schulischen Bildung und Erziehung ist, ist sie für die andere ein Fremdkörper, eine Maßnahme, welche von außen dazukommt. Meines Erachtens ist es wichtig zu erkennen, dass im österreichischen Schulrecht beide Sichtweisen angelegt sind. Es ist erstaunlich, dass die Organisation des Religionsunterrichts und die Aufgabe seiner Organisation und Durchführung, dennoch so gut funktioniert 17 Schule-Kirche Gesetz, 1868 (s. Anm. 16). 18 Vgl. Robert Schelander: Streit um die Schule. Der »Schulkampf« in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Theologie als Streitkultur, hg. v. Uta Heil und Annette Schellenberg, Göttingen 2021, 273–287.

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haben. Die Herausforderung auf schulrechtlicher Ebene für die Zukunft liegt m. E. darin, dass der Staat die Frage der religiösen Bildung nicht länger ausschließlich an die KoRG delegieren kann, sondern auch selbst für eine Integration der religiösen Bildung in die gemeinsame schulische Bildung sorgen muss.

Exkurs: Spiegelung der Entwicklung im Schulbuch Ich möchte diese gegensätzlichen Positionen zum Thema Religion und Schule der Zeit der ersten Republik an einem Unterrichtsmaterial anschaulich machen. Das Bild zeigt einen ersten Schultag und eröffnet ein Lesebuch für Schulanfänger. Es greift die Schulanfangssituation auf, welche im Klassengespräch erörtert werden kann.19 Man erkennt einen großen Platz. An der linken Seite ist eine Kirche zu sehen und rechts ein Gebäude mit der Aufschrift: Volksschule. Viele Kinder sind zu sehen. Sie alle gehen auf das Tor der Volksschule zu. Man sieht Kinder im Hintergrund in Gruppen aus der Kirche kommend und im Vordergrund – deutlicher und besser erkennbar dargestellt – Kinder mit ihren Spielsachen und Haustieren an der Hand ihrer Mütter. Im Mittelpunkt der Szene: Das Mädchen im weißen Kleid welches mit ihrer Hand auf die Volksschule hinweist. Wenn wir auf das Eingangstor blicken, so sehen wir ein Kind mit Schultasche und ihm gegenüber einen Mann. Beide reichen sich die Hände. Eine mögliche Interpretation dieser Szene: hier findet ein biographischer Übergang statt: Aus dem Familienkind wird ein Schulkind. Auffällig für unser Thema: Der erste Schultag beginnt in der Kirche. Vielleicht hat eine Schulmesse stattgefunden. Die Kinder gehen danach in Gruppen von der Kirche in die Schule. Das Thema Kirche und Schule bzw. Religion und Unterricht ist in diesem Bild nicht nur angesprochen, sondern wird mit einer bestimmten Position präsentiert. Die Szene ist einer realen geografischen Situation nachempfunden. Wir sehen die Kirche Maria Treu im achten Wiener Gemeindebezirk. Auch heute befinden sich dort eine Volksschule und ein Gymnasium. Es handelt sich nicht um irgendeine Schule, die hier zu sehen ist. Es ist eines der wichtigsten katholischen Schulprojekte im Anschluss an die Schulreform von Maria Theresia in Wien. Man kann daher in dem Bild auch die Botschaft erkennen: Die Forderung nach der Wiedereinführung der konfessionellen katholischen Staatschule. 19 Was kleine Leut’ in Wien erfreut. Erstes Lesebuch für Volksschulen. 1. Teil Winterbuch, hg. v. einer Lehrerarbeitsgemeinschaft (Bildschmuck von Franz Wacik und Ernst Kutzer), Wien/ Leipzig 1935, 1.

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Bild 1: Erster Schultag im Lesebuch (1935)

Auch im Hinblick auf die Religionsdemografie ist dieses Bild aufschlussreich. Es entstammt nicht einem Religionsbuch, sondern dem approbierten Lesebuch für die erste Klasse der Volksschulen in Wien in der Zeit der Ersten Republik. Das Schulbuch bildet eine katholische Situation als Normalfall ab. Auch damals gab es religiöse Pluralität, es gab nicht wenige jüdische Schülerinnen und Schüler und auch jüdische Schulen20. Diese Pluralität wird von diesem Bild nicht erfasst. In diesem Schulbuch ist »katholisch zu sein« der Normalfall. Einen Sonderfall oder eine Ausnahme gibt es nicht. 20 Christine Mann/Erwin Mann: Die Wiener konfessionellen Schulen und ihr Schicksal 1938– 1945. Eine Bestandsaufnahme der katholischen, evangelischen und jüdischen Privatschulen, Wien 2021.

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Die Schulklasse im Bildhintergrund trägt eine Fahne aus der Kirche in die Schule. Es ist eine Kruckenkreuzfahne, ein staatliches Symbol des sog. Ständestaates (1934–1938).21 Das Bild drückt damit die Bedeutung von Kirche und Religion für die Schule aus Sicht der Christlichsozialen Partei bzw. der Vaterländischen Front aus. Diese stand im Gegensatz zur bisherigen Position in Wien: der Wiener Schulreform. Otto Glöckel, der Wiener Staatsschulratspräsident, steht für die sozialdemokratische schulpolitische Haltung jener Zeit. Der sog. Glöckel Erlass, mit welchem er nach dem ersten Weltkrieg die verpflichtende Teilnahme an religiösen Übungen an der Schule abgeschafft hat, steht symbolisch für die Haltung der damaligen Sozialdemokratie zu dieser Frage. Sobald sich die politische Situation änderte,22 wurde die Stellung der katholischen Kirche für die Schule aufgewertet. Das Bild bringt diese Veränderung zum Ausdruck. Vergleichen wir dieses Lesebuch mit seinem Vorgänger, dann ist der Anteil von religiösen Inhalten unvergleichlich geringer. Das Lesebuch des »roten Wien« (1923)23, welches stark von sozialistischen Positionen geprägt war, erwähnt Weihnachten nur kurz, das Lesebuch des Ständestaates hingegen geht in seinem Aufbau dem kirchlichen Jahreskreis entlang. Damit sind zwei wichtige schulpolitische Positionen in der Frage Religion und Schule benannt, welche bis weit ins 20. Jahrhundert die österreichische Schuldebatte in dieser Frage bestimmte.

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Religionsdemografische Entwicklungen als Herausforderung

Demografische Daten werden herangezogen, um Modelle zum Religionsunterricht und schulpolitische Forderungen zu begründen. Es leuchtet ein, dass das Thema religiöse Pluralität sich in anderer Weise stellt, je nachdem ob ich eine konfessionell homogene oder eine religiös vielfältige Bevölkerung vor mir habe.

21 Das Kruckenkreuz ist angelehnt an das Jerusalemkreuz der Zeit der Kreuzzüge. Es wurde von der Vaterländischen Front in der Zeit des sog. Ständestaates verwendet. Das Bundesgesetz über die Flagge des Bundesstaates Österreich von 1936 bestimmte: »Die Kruckenkreuzflagge ist im Inlande der Staatsflagge gleichzuhalten […].« https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex? aid=bgl&datum=19360004&seite=00001371 [abgerufen am 1. 4. 2022]. 22 »Der sogenannte ›Glöckel-Erlaß‹ wurde nunmehr aufgehoben, das Schulgebet jetzt ausdrücklich unter die verbindlichen religiösen Übungen einbezogen; sogar in den Kasernen durften jetzt Kruzifixe angebracht werden.« Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Band 5 Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien 1988, 264. 23 Wiener Kinder 1. Buch, erarbeitet von einer Wiener Lehrergemeinschaft, hg. v. (Hans) Heeger/(Alois) Grün (Bilder von Franz Wacik), Wien u. a. 1923.

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Österreich ist ein Land mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung. Häufig werden die Veränderungen von 2001 zur Gegenwart als Indikatoren für Trends und Herausforderung genannt. Aus dem Jahr 2001 gibt es aufgrund einer – seither nicht mehr stattgefundenen – Gesamterhebung verlässliche Zahlen zu den religiösen Zugehörigkeiten der österreichischen Bevölkerung.24 Mit einer Zugehörigkeit von ca. drei Viertel der Bevölkerung zeigte sich eine deutliche katholische Mehrheit. Das andere Viertel betraf Personen ohne anerkannte religiöse Zuordnung bzw. ohne Bekenntnis (o.B.), sowie andere KoRG (evangelische und orthodoxe Christen und Muslime), sowie einige kleinere KoRG. Vergleicht man dies mit der aktuellen Situation,25 so hat sich einiges geändert. Es fällt auf, dass der katholische Bevölkerungsanteil, welcher weiterhin die Mehrheit bildet, abgenommen hat. Das Bild ist insgesamt bunter geworden und die Gruppe ohne religiöses Bekenntnis hat weiter zugenommen. Angesichts dieser Veränderung wird auf die schulorganisatorische Problematik, verschiedene Religionsunterrichte zu administrieren, verwiesen. Die gesetzliche Anerkennung als KoRG bietet die Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler des jeweiligen Bekenntnisses, Religionsunterricht an der Schule zu organisieren. Tatsächlich sind in den letzten Jahrzehnten einige Religionsgemeinschaften neu dazugekommen, sodass es aktuell 16 anerkannte KoRG gibt. Nehmen wir einen zeitlich gesehen etwas größeren Horizont in den Blick, so ergeben sich neue Einsichten. Die religionsdemografische Lage zur Zeit der Entstehung der Schulgesetze in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigt uns eine absolute katholische Dominanz26. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung bekennt sich zur katholischen Kirche. Der Gegensatz von katholisch und evangelisch (4 %) wird sichtbar. Evangelisch ist die Minderheit und Evangelisch ist die »andere« Konfession. Verständlich, dass das Thema Religion an der Schule mit der Mehrheit, der katholischen Kirche ausgehandelt wird und die Protestanten sich anschließen. Man denkt vom Grundsatz des Proporzes und der Parität her: Etwas, was für die katholische Kirche gilt, steht auch der evangelischen Kirche (in verhältnismäßig kleinerem Anteil) zu. 1960 war »Katholisch zu sein« der Normalfall, »Evangelisch zu sein« der Sonderfall und alles andere die Ausnahme. Dies gilt heute so nicht mehr! 24 »Damals [2001] waren von der Bevölkerung 73,6 % römisch-katholisch, 4,7 % evangelisch, 4,2 % islamisch, 2,3 % orthodox, 12,0 % waren ohne Bekenntnis, 2,0 % machten keine Angaben.« Jäggle/Klutz: Religiöse Bildung an Schulen in Österreich, s. Anm 4. 69. Statistik Austria (Hg.): Volkszählung. Hauptergebnisse I – Österreich, Wien 2002. 25 Franz Höllinger/Gerlinde Janschitz: Religion und Kirche, in: Johann Bacher u. a. (Hg.): Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich. Trends 1986–2016, Wiesbaden 2019, 95–112, 99. 26 Vgl. Statistik Austria, Bevölkerung nach dem Religionsbekenntnis und Bundesländern 1951 bis 2001 (01. 06. 2007), https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellsch aft/bevoelkerung/volkszaehlungen_registerzaehlungen_abgestimmte_erwerbsstatistik/bevo elkerung_nach_demographischen_merkmalen/022885.html [abgerufen am 1. 4. 2022].

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Es wird deutlich, wie stark sich die Situation geändert hat und es noch tut. Es gibt Prognosen für die Zukunft. Ich beziehe mich auf Berechnungen, welche vom Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) veröffentlicht wurden.27 Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten ist nicht mehr so eindeutig. Der katholische Anteil fällt unter 50 %; Der Anteil von Personen ohne Bekenntniszugehörigkeit und von Muslimen und Musliminnen wächst weiter. Der Anteil der anderen KoRG bleibt gering! Für mich auffällig: der Anteil der evangelischen Bevölkerung hat sich über all diese Zeit wenig geändert. Das Verhältnis von Normalfall, Sonderfall und Ausnahme stimmt mit jener Situation, die zur Zeit der Entstehung der Schulgesetze maßgebend war, nicht mehr überein. Da die Größenverhältnisse der demografischen Zahlen für die Organisation des Religionsunterrichts eine wichtige Rolle spielen, ergeben sich Herausforderungen für die religiöse Bildung an der Schule. Sehr kleine Minderheiten können schulorganisatorischen Erfordernissen nicht in gleicher Weise nachkommen wie ein Religionsunterricht mit vielen Schülerinnen und Schülern. Dies beginnt mit der Organisation von einzelnen Stunden und reicht über die Erstellung eines Curriculums bis hin zur Entwicklung von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Kleine Gruppen haben hier weniger personelle und finanzielle Ressourcen, als sie einer zahlenmäßig großen Kirche zur Verfügung stehen. Der Hinweis auf die religiöse Pluralität unterschlägt, dass diese (Pluralität) nicht gleichmäßig verteilt ist. Neben der einen großen Konfession, der katholischen Kirche, gibt es eine mittlere Gruppe, zu der Musliminnen und Muslime, evangelische und orthodoxe Christinnen und Christen zählen. Schließlich gibt es die kleinen Religionsunterrichte, wie beispielsweise jenen der Altkatholischen Kirche oder den Buddhistischen Religionsunterricht. Diese drei Gruppen (groß – mittel – klein) unterscheiden sich jeweils um den Faktor 10. Während die kleinen KoRG ca. 100 bis 1000 SchülerInnen haben, gibt es ca. 35.000 evangelische und wiederum ca. 590.000 katholische SchülerInnen.28 Bisher ist die katholische Kirche in Verhandlungen mit dem Staat zur religiösen Bildung an der Schule vorangeschritten. Sie war die bildungspolitische Lokomotive in Sachen Religionsunterricht. Dies wird in Zukunft nicht mehr in gleicher Weise möglich sein.

27 Es wurden verschiedene Szenarien modelliert, je nachdem wie einzelne Parameter gewichtet wurden. Ich beziehe mich auf die Variante »Diversity scenario«. Anne Goujon u. a.: Demographie und Religion in Österreich. Szenarien 2016 bis 2046, Wien 2017, 80. Michaela Potancˇoková u. a.: Consequences of International Migration on the Size and Composition of Religious Groups in Austria, in: Int. Migration & Integration 19 (2018), 905–924. 28 Zahlen zur Teilnahme am Religionsunterricht sind nicht leicht verfügbar. Obige Angaben beziehen sich auf eine Zusammenstellung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich. https://www.oekumene.at/oerkoenews/2048/665.000-kinder-besuchen-in-sterreich-de n-religionsunterricht-der-kirchen, 10. 9. 2021 [abgerufen am 1. 4. 2022].

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Dies stellt die KoRG vor neue Herausforderungen. Es braucht gemeinsame Foren für den Austausch und die Verhandlung mit der Bildungspolitik.

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Bildungspolitische Herausforderungen

Beobachtet man die aktuelle politische Diskussion, so fällt auf, dass ausführliche Argumentationen zu Fragen religiöser Bildung von den politischen Parteien fehlen. Es finden sich kurze Statements, welche bestimmten Ereignissen zuzuordnen sind. Ausführliche und fundierte Positionen sucht man vergebens. Von manchen politischen Parteien werden Fragen der religiösen Bildung hauptsächlich im Kontext des sog. »Politischen Islam« thematisiert oder mit dem Thema Migration und Zuwanderung verbunden. Auf der anderen Seite wird das Thema religiöse Bildung häufig in einem interkulturellen Kontext behandelt. Am Ende des 20. Jahrhunderts stellt Hermann Schnell, ein Vertreter sozialdemokratischer Bildungspolitik, nach der Lektüre des aktuellen Schulprogramms der SPÖ verwundert fest, »dass es darin keinen Abschnitt über das Verhältnis von Schule und Kirche gibt. Kirche und Religion kommen in einem sozialistischen Schulprogramm gar nicht mehr vor.«29 Bisher seien die Auseinandersetzungen um die Schule entlang des Religionsthemas bzw. der Frage des Verhältnisses von Kirche und Schule ausgefochten worden. Als zentrale Position der konservativen Gegenseite nennt er den »Anspruch auf die öffentlich-katholische Schule« (S. 49). Was auch als positives Zeichen bewertet werden kann: Alte Gräben und Konfliktlinien gibt es so nicht mehr, zeigt meines Erachtens auch eine zunehmende Unfähigkeit und Unwissenheit in Fragen religiöser Bildung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass einzelne Publikationen zum Thema Religion und Schule eine breite Aufmerksamkeit bekommen. Susanne Wiesinger veröffentlicht 2018 das Buch »Kulturkampf im Klassenzimmer«. In diesem Buch – so die Information an die Lesenden im Klappentext – deckt sie schonungslos Missstände an Brennpunktschulen auf. Sie erzählt von SchülerInnen, die eine Parallelgesellschaft bilden, welche ihre Religion über alles stellen und andere Schülerinnen zwingen, sich zu verhüllen und das Kopftuch zu tragen. Aufgrund der medialen Resonanz wurde eine Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte im Bildungsministerium geschaffen und Frau Wiesinger als Expertin und Leiterin angestellt. Für die Öffentlichkeit war das Thema damit erledigt. Inhaltlich ist diese Lösung unbefriedigend. Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf die schulpolitische »Kompetenzverteilung« in Sachen Religion. Die Expertise von ReligionspädagogInnen gilt nur für den Religionsunterricht. 29 Oskar Achs/Karl Sretenovic (Hg.): Hermann Schnell. Erinnerungen und Lebenswerk, Wien 1999, 12.

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Für den anderen Schulunterricht, für (religiöse) Kultur- und Wertfragen, sind sie nicht zuständig, bzw., so kann vermutet werden, weil sie den KoRG zugeordnet sind, befangen. Melissa Erkurt hat 2020 mit ihrem Buch »Generation haram« ein viel beachtetes Buch zu Migration und Religion an der Schule geschrieben. Eine Pflichtlektüre für die bildungspolitische Diskussion – so wurde es in den schulpolitisch interessierten Kreisen empfohlen. Ihr Anliegen ist es, Kindern mit Migrationshintergrund bessere Bildungschancen zu ermöglichen: ihre Forderung lautet daher »allen eine Stimme zu geben« (Buchuntertitel). Sie argumentiert authentisch und überzeugend, weist auf ihre eigene Erfahrung als Kind mit Migrationshintergrund hin. Die Thematik beider Publikationen ist in unserem Themenbereich angesiedelt: Religion und Schule. Beide Autorinnen verfügen nicht über entsprechende religionspädagogische Kompetenz. In der öffentlichen Diskussion wird eine solche aber auch nicht eingemahnt. Ich vermute dies hängt mit der fehlenden religionspädagogischen Expertise in der Bildungspolitik zusammen. Wie kommt Kompetenz in Sachen religiöse Bildung in die bildungspolitische Diskussion und in schulpolitisches Handeln? Die Schulgesetze geben den KoRG eine umfassende Zuständigkeit für die religiöse Bildung an öffentlichen Schulen. Diese zentrale Verantwortlichkeit für die religiöse Bildung im Gesamtzusammenhang der österreichischen Schule wird konterkariert, wenn sich KoRG jeweils auf die Bildung der eignen konfessionellen Gruppe konzentrieren. Eine Bildungsverantwortung muss im Hinblick auf die gesamte Aufgabe der Schule entfaltet werden. Diese Herausforderung betrifft vice versa auch die staatliche Bildungspolitik und Bildungsverantwortung: sie muss erneut und zunehmend mehr religiöser Bildung als eigene Aufgabe wahrnehmen. Überblicken wir die Herausforderungen in allen drei skizzierten Bereichen, so ergeben sich m. E. zwei große Forderungen. Die erste richtet sich an jene, die politische Verantwortung für das Bildungswesen tragen. Nehmen Sie religiöse Bildung als wichtigen Teil schulischer Bildung wahr. Setzen Sie Rahmenbedingungen, dass diese Aufgabe als integraler Bestandteil einer Schulpädagogik wahrgenommen werden kann.

Die andere Forderung richtet sich an die Bildungsverantwortlichen in den KoRG. Denken Sie über den eigenen Religionsunterricht hinaus, denken Sie größer. Wie kann religiöse Bildung nicht nur für meine Konfession, sondern als gemeinsames Anliegen aller KoRG im Gegenüber und in Abstimmung zu einer staatlichen Bildungsverantwortung in das Gesamtgefüge der Schule eingebracht werden?

Wolfram Reiss

Religionswissenschaft und Evangelische Theologie. Herausforderungen für eine Neustrukturierung der Religionswissenschaft und neue Optionen einer konstruktiven Zusammenarbeit

Abstract The paper describes the changes in the research focus within studies of religions and draws attention to the fact that practical questions related to the present, the ethics of religions and education about religions are increasingly moving to the center of religious studies. However, the division of academic studies of religions into systematic-comparative studies of religions and history of religions no longer corresponds to these changes. Instead, a restructuring into six main sub-disciplines is proposed. This restructuring would possibly also open up new options for cooperation with theological disciplines.

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Einleitung

Im Rahmen der Ringvorlesung anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Evangelisch-Theologischen Fakultät wurde ich gebeten, zu beschreiben, welche Herausforderungen ich für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Evangelischen Theologie aus der Perspektive der Religionswissenschaft sehe. Zunächst war mein Plan, darüber zu sprechen, inwieweit die gegenwärtigen Entwicklungen der Diversifizierung der religiösen Landschaft die evangelische Theologie dazu zwingen, sich stärker religionswissenschaftlich auszurichten. Meine Idee dabei war, eine »Evangelische Theologie im Dialog mit Religionen« vorzuschlagen. D. h. eine evangelische Theologie, die sich in all ihren Disziplinen mit Fragestellungen des Dialogs mit anderen Religionen auseinandersetzt. Nicht weil mir als Religionswissenschaftler andere bzw. nicht-christliche Religionen so wichtig sind, sondern weil die Veränderung der religiösen Landschaft in unserer Gesellschaft diese religionswissenschaftliche Ausrichtung erfordert. Ich bin zwar immer noch der Überzeugung, dass diese Auseinandersetzung und dieser Austausch an sich notwendig sind. Nach längerem Überlegen kam mir dieses Vorhaben jedoch als Anmaßung meinerseits vor. Es ist nämlich ganz einfach nicht meine Aufgabe als Religionswissenschaftler, Vorschläge zu machen, auf welche Art und Weise sich die evangelische Theologie oder theologische

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Disziplinen entwickeln sollten. Dies widerspricht zutiefst dem Ansatz der Religionswissenschaft, die sich als empirische und nicht-normative Disziplin versteht, die nicht Teil einer bestimmten Theologie ist und sie mitgestaltet, sondern ihr vielmehr als Dialogpartnerin gegenübertritt und – unter anderem – Theologien aus wissenschaftlicher Perspektive analysiert. Anders formuliert: Wie kann ich einen rein empirischen und deskriptiven Ansatz vertreten – der als eine der grundlegenden Prämissen einer kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft gilt –, wenn ich gleichzeitig Wünsche und Forderungen vorbringe, wie sich die Evangelische Theologie verändern oder weiterentwickeln sollte? Daher kann es in diesem Beitrag nur darum gehen, deskriptiv zu beschreiben, inwieweit sich die Religionswissenschaft selbst in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt hat und inwieweit sich dadurch möglicherweise neue Optionen einer engeren Kooperation mit der Evangelischen Theologie eröffnen. Es ist m. E. ein empirisches Faktum, dass sich die Religionswissenschaft massiv verändert hat, und es ist absehbar, dass sie sich in näherer Zukunft auch noch stärker verändern wird. Dies kann möglicherweise neue Türen öffnen, um den Dialog zwischen Religionswissenschaft und Evangelischer Theologie fruchtbarer zu machen. Und sofern sich die Disziplinen der Evangelischen Theologie darauf einlassen, kann dies indirekt eventuell auch ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Evangelischen Theologie sein. Worum geht es nun konkret bei den nun folgenden Überlegungen? Es geht um die Struktur bzw. die verschiedenen Dimensionen und Teildisziplinen der Religionswissenschaft und in diesem Zusammenhang auch um die Frage danach, wie sie in einen konstruktiven Dialog mit den verschiedenen Disziplinen der Evangelischen Theologie treten kann. Diese Überlegungen sollen in vier Schritten entfaltet werden: Im ersten Schritt werden die gegenwärtigen Arbeitsgebiete und Disziplinen der Evangelischen Theologie und der Religionswissenschaft dargestellt. Daran anschließend wird ein Vorschlag für eine Neustrukturierung der Arbeitsbereiche der Religionswissenschaft vorgenommen, die den empirisch feststellbaren Veränderungen und den gegenwärtigen Herausforderungen in der Religionswissenschaft besser entsprechen. Im dritten Schritt wird beschrieben, inwieweit diese Gliederung aus einer multidimensionalen Betrachtung von Religionen, die sich in der Religionswissenschaft sehr bewährt hat, abgeleitet werden kann. Schließlich werden Konsequenzen für eine möglicherweise intensivere Kooperation mit verschiedenen Disziplinen der Evangelischen Theologie angedeutet, die sich aus dieser vorgeschlagenen Neugliederung der Religionswissenschaft ergeben könnten.

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Arbeitsgebiete und Disziplinen der Evangelischen Theologie und der Religionswissenschaft

Im Blick auf die Evangelische Theologie hat sich spätestens im letzten Jahrhundert eine Gliederung in mindestens sechs theologische Disziplinen herausgebildet. Diese Gliederung hat sich sowohl in unserer Ringvorlesung anlässlich des 200jährigen Jubiläums als auch in der Struktur unserer Fakultät niedergeschlagen. Wir unterscheiden demnach zwischen den folgenden Disziplinen: 1. Altes Testament 2. Neues Testament 3. Kirchengeschichte 4. Systematische Theologie 5. Praktische Theologie 6. Religionspädagogik1 Bisweilen gibt es noch feinere Unterteilungen, insoweit zwischen Ethik und Dogmatik sowie zwischen Patristik und der neueren Kirchengeschichte klar unterschieden wird. An manchen Fakultäten gibt es natürlich leichte Modifizierungen dieser Einteilung, aber insgesamt hat sich diese Struktur als sinnvolle Einteilung der Arbeitsgebiete und Schwerpunkte etabliert und ist im deutschsprachigen Raum weitgehend anerkannt. Auch die Curricula und Prüfungsordnungen für das Studium der Evangelischen Theologie sind entsprechend gegliedert. Wie sieht es nun im Blick auf die Unterteilung der Arbeitsgebiete und Disziplinen der Religionswissenschaft aus? Wenn wir den Anspruch erheben, dass die Religionswissenschaft nicht Teil der Theologie, sondern eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist und die Theologien verschiedener Religionen zum Forschungsgegenstand hat, dann müsste sich eine vergleichbare Differenziertheit der Arbeitsgebiete eigentlich auch in der Struktur der Religionswissenschaft widerspiegeln. Dies ist aber nicht der Fall. Seit Joachim Wach2 sprechen wir nur von der Zweiteilung der Religionswissenschaft in Religionsgeschichte und Systematisch-Vergleichende Religions-

1 Die Religionswissenschaft wird hier nicht aufgeführt, da es sich nicht um eine Wissenschaft handelt, die einer religiös gebundenen Theologie zuzuordnen ist. Dies gilt ungeachtet dessen, dass nicht wenige religionswissenschaftliche Lehrstühle organisatorisch an evangelischen oder katholischen Fakultäten angesiedelt sind. 2 Vgl. Joachim Wach: Religionswissenschaft: Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924.

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wissenschaft. Bisweilen wird nur zögerlich diskutiert, ob eine praktische oder angewandte Religionswissenschaft ein drittes Arbeitsfeld sein könnte.3 Von Religionswissenschaftler*innen wird nach wie vor oftmals erwartet, dass sie mit ihrer Expertise möglichst alle Religionen abdecken sollen, von den sogenannten Weltreligionen bis hin zu neureligiösen Gruppierungen und zeitgenössischen religiösen Strömungen, wie z. B. der Esoterik. Faktisch ist jedoch unbestritten, dass niemand Spezialist*in sowohl für Hindu-Religionen und den Buddhismus als auch für den Islam, das Judentum, die diversen Spielarten des Christentums und weitere Religionen sein kann und zudem Kenntnis von sämtlichen Sprachen und Kulturen der Welt erwerben kann. So klar dies ist, so oft wird aber dennoch erwartet, dass man als Religionswissenschaftler*in nicht nur mit der Geschichte der Religion vertraut ist, für die man sich spezialisiert hat, sondern auch mit ihren Quellen, ihren Sprachen, ihren Moralvorstellungen sowie mit den praktischen Fragen der Religionsausübung. Wenn man sich also auf eine Religion spezialisiert, dann sollte man diese dafür komplett abdecken. Man sollte ihre Geschichte von der Entstehung bis heute kennen, Kenntnisse über die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen haben, ihre Lehren, ihre rituellen Fragen und Traditionen, ihr Recht und ihre Ethik umfassend behandeln können. Ob dies jedoch überhaupt möglich ist, wird nicht hinterfragt. Würde sich eine Patristikerin zu religionspädagogischen Fragestellungen äußern? Würde sich ein Neutestamentler zu bioethischen Fragen äußern? Würde eine Alttestamentlerin zu homiletischen oder aktuellen religionssoziologischen Fragestellungen Stellung nehmen? Die Antwort lautet hier mit Sicherheit eher »Nein«. Vielmehr würde sich jede*r Fachwissenschaftler*in eher auf die eigene Expertise beschränken und andere Bereiche den Kolleg*innen überlassen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht bisweilen eine sehr intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit gibt und auch Theolog*innen in ihrer Biografie zwischen verschiedenen theologischen Disziplinen wechseln oder ein Näheverhältnis zu bestimmten anderen theologischen Disziplinen pflegen können und sich zu interdisziplinären Fragen äußern. In der Religionswissenschaft ist dies – wie anhand dieser Beispiele hoffentlich deutlich wurde – traditionell anders. Insbesondere die Religionsphänomenologie hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, dass man an Religionswissenschaftler*innen mit dem Anspruch herantritt, dass sie sämtliche Religionen in allen Bereichen miteinander vergleichen können. Werke wie jene von Friedrich Heiler haben zu dieser Ansicht beigetraten und vertreten einen solchen Ansatz, in dem Phänomene der verschiedensten Art aus unterschiedli3 Vgl. Johann Figl: Einleitung Religionswissenschaft – Historische Aspekte, heutiges Fachverständnis und Religionsbegriff, in: ders. (Hg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck 2003, 17–80.

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chen Kulturen, Regionen und Religionen miteinander verglichen werden – von der griechischen Religion bis zur aztekischen Religion, von afrikanischen Religionen bis zu ozeanischen Religionen, von indischen Religionen hin bis zum asiatischen Schamanismus.4 Aber nicht nur das: Implizit enthalten solche Werke auch den Anspruch, alle Dimensionen dieser Religionen erfassen zu können: Heilige Schriften, Gottesvorstellungen, Riten, rechtliche Vorschriften, moralische und ethische Vorstellungen sowie religionspsychologische und materielle Phänomene wurden hier miteinander verglichen. Viele dieser Religionswissenschaftler hatten einen systematisch-theologischen bzw. religionsphilosophischen Hintergrund. Somit verschiebt sich hier etwas Grundlegendes gegenüber den Gründervätern der Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert: Während die erste Generation vorwiegend Philologen und Historiker waren, die die ältesten Quellen der Religionen übersetzten und editierten und sich mit den frühesten Anfängen der Religionen beschäftigten, ist die Generation der Religionsphänomenologen ab den 1920er Jahren vornehmlich am Vergleich der religiösen bzw. religionsphilosophischen Systeme interessiert. Dies ist jedoch kein Wunder, da viele von ihnen eben (systematische) Theologen und Religionsphilosophen waren.5 Nun ist in den letzten 60 Jahren innerhalb der Religionswissenschaft viel gegen diese religionsphänomenologische Schule geschrieben und vorgebracht worden. Ihre Ahistorizität, ihre stark christliche Prägung des Ansatzes, ihre selbstverständliche Voraussetzung der Existenz einer transzendenten Größe (egal ob diese nun als Gott bzw. Götter, das Heilige, die Macht oder anders bezeichnet wird), die jedoch keineswegs in allen Religionen gegeben ist, ihre Begrifflichkeiten, ihre Form der vergleichenden Methode sowie die methodische Einbeziehung der persönlichen religiösen Prägung und einiges mehr wurde immer wieder kritisiert.6 Dies führte jedoch nicht dazu, die Bereiche oder Disziplinen der Religionswissenschaft neu zu definieren oder differenzierter zu unterteilen. Ebenso wurde innerhalb der Disziplin kaum beachtet, dass sich in den letzten Jahren die Schwerpunkte der Religionswissenschaft drastisch verändert haben. Waren Re4 Friedrich Heiler: Die Religionen der Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1959; ders.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961. 5 So etwa Nathan Söderblom, Friedrich Heiler, Rudolf Otto oder Gustav Mensching. 6 Vgl. Günter Lanczkowski (Hg.): Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft, Darmstadt 1974; Gebhard Löhr (Hg.): Die Identität der Religionswissenschaft: Beiträge zum Verständnis einer unbekannten Disziplin, Frankfurt 2000; Hans G. Kippenberg/Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003; Volkhard Krech: Wohin mit der Religionswissenschaft? Skizze zur Lage der Religionsforschung und zu Möglichkeiten ihrer Entwicklung, in: ZRGG 58 (2006), 97–113; Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 52014.

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ligionswissenschaftler im 19. Jh. vor allem Philologen und Historiker, die Übersetzungen und wissenschaftliche Editionen von Quellentexten aus der Frühzeit herausgeben und die Frühzeit der Religionen erforschten, so hat sich das im Blick auf die heutige Situation völlig verändert. Die Zahl der historischen Studien ist gegenwärtig sogar so minimal, dass ein Kollege in der Zeitschrift für Religionswissenschaft vor einiger Zeit massiv monierte, dass kaum noch religionsgeschichtliche Forschung betrieben wird.7 Religionsgeschichte ist, wenn sie momentan überhaupt noch betrieben wird, vor allem eine Erforschung der modernen und jüngsten Zeitgeschichte, d. h. der aktuellen Entwicklungen in Religionen. Daneben tritt vor allem die empirische Forschung innerhalb der Religionswissenschaft immer mehr in den Vordergrund, und diese Entwicklung hat auch einen umfassenden Methodenwechsel mit sich gebracht. Verwendeten Religionswissenschaftler*innen in der Vergangenheit vor allem die historisch-kritischen Methoden in der Analyse von historischen Texten, so sind heute quantitative und qualitative Methoden der Sozialwissenschaft die wichtigsten methodischen Grundlagen der Religionswissenschaft. Die Religionswissenschaft ist somit in einem großen Bereich zu einer sozialwissenschaftlichen Disziplin geworden. Darüber hinaus treten im Blick auf die religiöse und nicht-religiöse plurale Gesellschaft und dem in dieser Gesellschaft verorteten System Schule vermehrt Fragen der Ethik und der Vermittlung von religionskundlichem Wissen in den Vordergrund – zwei Bereiche, die bislang in der religionswissenschaftlichen Forschung kaum eine Rolle gespielt haben. Inzwischen beschäftigen sich aber auch vermehrt Religionswissenschaftler*innen mit Religionsdidaktik und Religionspädagogik sowie mit den Möglichkeiten der Vermittlung von ethischen Fragen und moralischen Überzeugungen innerhalb von Religionen im Kontext Schule, die in der Gesellschaft zunehmend in der Auseinandersetzung mit säkularen Überzeugungen debattiert werden.8 7 Vgl. Oliver Freiberger: Die deutsche Religionswissenschaft im transnationalen Fachdiskurs, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21 (2013), (1–28) 7–15; ähnlich auch Michael Stausberg: The Study of Religion(s) in Western Europe III: Further Developments after World War II, in: Religion 39 (2009), (261–282) 275–278; zum Verhältnis von klassischen Religionsgeschichte und der sozialwissenschaftlich orientierten religiösen Gegenwartsforschung vgl. auch Christoph Kleine: Wozu außereuropäische Religionsgeschichte? Überlegungen zu ihrem Nutzen für die religionswissenschaftliche Theorie- und Identitätsbildung, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 18 (2010), 3–38. 8 Vgl. Wanda Alberts: Integrative Religious Education in Europe. A Study-of-Religions Approach (Religion and Reason 45), Berlin/New York 2007; dies.: Religionswissenschaftliche Fachdidaktik in europäischer Perspektive, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 16 (2008), 1–14; Anja Lüpken: Religionswissenschaftliche Fachdidaktik – Auf dem Weg zu einer neuen Disziplin?, in: Michael Klöckner/Udo Tworuschka (Hg.): Handbuch der Religionen 26, Ergänzungslieferung 2010, I-16.2.; Christian Feichtinger: Religionenlernen im Ethikunterricht. Ethikdidaktik und Religionswissenschaft, Graz 2014; Katharina Frank: Schulischer Religionsunterricht. Eine religionswissenschaftlich-soziologische Untersuchung, Stuttgart 2010;

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All diese Entwicklungen haben allerdings bislang in keinster Weise in der Organisation und der Struktur des Faches Eingang gefunden. Dies spiegelt sich in den Curricula ebenso wider wie in den Haupt-Prüfungsgebieten und in den Benennungen der Lehrstühle. Die Religionswissenschaft wird somit seit der grundlegenden wissenschaftssystematischen Studie von Joachim Wach aus dem Jahre 1924 nach wie vor in die zwei Hauptdisziplinen bzw. Arbeitsbereiche der Religionsgeschichte und der Systematisch-Vergleichenden Religionswissenschaft aufgeteilt. Dahingehend sind fast alle religionswissenschaftlichen Seminare und Vorlesungen an der Universität Wien geordnet, obwohl die Zahl der Kolleg*innen, die religionsvergleichende Forschung betreibt, mittlerweile sehr geschrumpft ist und längst andere Schwerpunkte und Arbeitsbereiche eine viel stärkere Bedeutung erlangt haben.9

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Vorschlag für eine neue Aufgliederung der Religionswissenschaft

Meines Erachtens ist es deshalb an der Zeit, die Bereiche und Arbeitsgebiete der Religionswissenschaft genauer zu benennen und auszudifferenzieren im Blick auf das, was tatsächlich in der Religionswissenschaft gemacht wird. Ich möchte hier also einen Vorschlag für eine neue Aufgliederung des Faches vorstellen. Und ich meine, dass eine solche Neuformierung auch für die Kooperation mit der Evangelischen Theologie neue Perspektiven eröffnen könnte. Folgende Bereiche scheinen sich innerhalb der Religionswissenschaft immer stärker als eigenständige Arbeitsbereiche herauszukristallisieren: 1. Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft 2. Historische Religionswissenschaft bzw. Religionsgeschichte 3. Systematische Religionswissenschaft (als Wissenschaft von den religiös-philosophischen Lehren der Religionen) 4. Ethik und Recht der Religionen 5. Pädagogik der Religionen und Religionskunde 6. Anwendungsorientierte Religionswissenschaft Möglicherweise fällt bei dieser Struktur auf, dass ein Bereich nicht mehr vorkommt, nämlich die vergleichende Religionswissenschaft, die seit den Anfängen Bernd Schröder/Moritz Emmelmann (Hg.): Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, Göttingen 2018. 9 Obwohl die Situation an der Universität Wien mit vier religionswissenschaftlichen Lehrstühlen im europäischen Vergleich ausgezeichnet ist, gibt es immer wieder Schwierigkeiten mit dem Angebot von genügend systematisch-vergleichenden Lehrveranstaltungen, die konstitutiver Teil des Curriculums sind.

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der Religionswissenschaft eine zentrale Rolle spielte. Zunächst sollen jedoch die einzelnen Bereiche etwas genauer erläutert werden. Dann wird klar, warum die vergleichende Religionswissenschaft in diesem Vorschlag nicht mehr als eigenständiger Bereich der Religionswissenschaft benannt wird.

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Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft

Seit mehr als 60 Jahren steht die Beschäftigung mit den eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlagen und Methoden im Zentrum der Religionswissenschaft. Insbesondere im Blick auf die Abgrenzung von der Theologie hat sie sich abgearbeitet, und immer wieder werden die unterschiedlichen Ansätze nach wie vor kontrovers diskutiert. Teilweise ist dies auch in Form von Abgrenzungen geschehen, die zu Verletzungen geführt haben, nur wenig produktiv sind und vor allem zu einem Argwohn auf beiden Seiten geführt haben. Die Stichworte der Diskussion sollen nun kurz benannt werden: Der Religionsphänomenologie wurde als Form einer »Krypto-Theologie« vorgeworfen, – dass sie ein ahistorisches Unternehmen ist, das die historische und kulturelle Einbettung von Phänomenen nicht wahrnimmt; – dass ihre Begrifflichkeit und ihre Kategorien durchgehend christlich-europäisch geprägt sind und vielfach nicht den Religionen und ihrem Selbstverständnis entsprechen; – dass ihre Grundthese falsch ist, die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine UrReligion gibt, die hinter allen Religionen stünde; – dass von der Existenz und der Begegnung mit Gott, Göttern oder dem Heiligen ausgegangen wird, obwohl dies nicht empirisch nachweisbar ist; – dass die Methodologie fragwürdig ist, weil sie zu stark die Emotion und die religiöse Prägung der Forschenden zum Ausgangspunkt nimmt; – dass sie sich nicht auf empirisch Nachweisbares beschränkt, sondern eine normative Religionsphilosophie vorlegt, die mehr über den Forscher aussagt als über den Gegenstand. Von der Theologie wurde gegen die Religionswissenschaft eingewendet, – dass sie ihre eigenen Voraussetzungen nicht kritisch überprüft und dass so etwas wie ein »objektiver« und rein deskriptiver Standpunkt gar nicht möglich ist; – dass der a priori Ausschluss einer transzendenten Größe wie Gott oder dem Heiligen nur zu einer verzerrenden Darstellung von Religionen führen könne, da genau diese Begegnung mit dem Transzendenten oft das wichtigste Anliegen bzw. Merkmal der Religionen ist;

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– dass die Religionswissenschaft zwar viel Kritik an der Methodologie der Religionsphänomenologie vorgebracht hat, aber ihrerseits kaum etwas zur Entwicklung einer eigenständigen Methodologie beigetragen hat, die besser ist. Heute versteht sich die Religionswissenschaft – so der weitgehende Konsens – als eine humanwissenschaftlich-kulturanthropologische Disziplin, die nicht konfessionsgebunden ist, eine agnostische Methodologie vertritt und daher eigentlich eine kulturwissenschaftliche Disziplin darstellt. Innerhalb der Kulturwissenschaften ist es jedoch oftmals so, dass diese die Religionswissenschaft nicht als ihnen zugehörig ansehen und sie eindeutig der katholischen oder evangelischen Theologie zuordnen. Die Folge ist bedauerlicherweise eine sehr unproduktive Konkurrenz und eine offensichtlich nie enden wollende Debatte über die wissenschaftlichen Grundlagen und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Fakultäten, wiewohl faktisch etwa die Hälfte aller Lehrstühle im deutschsprachigen Bereich – wie auch hier in Wien – an theologischen Fakultäten angesiedelt ist. Und dies bleibt wahrscheinlich auch für die nächsten Jahrzehnte der Fall, ganz einfach weil die Theologie die Religionswissenschaft und die Religionswissenschaft die Theologie(n) braucht. Diese Auseinandersetzungen müssen und sollen natürlich auch weiterhin diskutiert und ausgetragen werden. Sie gehören aber m. E. in eine eigenständige Subdisziplin innerhalb der Religionswissenschaft, die man »Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft« nennen könnte. Neben der Diskussion über die Abgrenzung, die Berührungspunkte und die Gemeinsamkeiten mit der Theologie, sollte hier auch Gemeinsames und Trennendes im Blick auf die Philosophie, die Soziologie und Anthropologie, die Psychologie und die Geschichte sowie die wissenschaftstheoretische und historische Entwicklung des Faches behandelt werden. Hierher gehört meines Erachtens auch die umfangreiche Diskussion um den Religionsbegriff sowie die verschiedenen Methoden, die in der Religionswissenschaft verwendet werden. Es müssen hier aber auch Basisregeln der Komparatistik und des systematischen Vergleichs vermittelt werden. Das bedeutet, dass der Religionsvergleich somit nicht mehr eine eigenständige Disziplin der Religionswissenschaft ist, sondern eine Methode unter anderen, die in verschiedenen Bereichen der Religionswissenschaft angewendet werden kann und deren Grundregeln im Bereich der Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft abgehandelt werden sollten. Die Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft sind also gewissermaßen die Einleitungswissenschaft und Grundlagenwissenschaft der Disziplin, die sowohl die Geschichte und das Selbstverständnis als auch ihre grundlegenden Prämissen und Methoden erläutert.

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Wolfram Reiss

Historische Religionswissenschaft

Ein weiterer und konstitutiver Bereich der Religionswissenschaft ist und bleibt die Religionsgeschichte. Sie beschreibt die Entstehung und Entwicklung der Religionen im Laufe der Geschichte, teilweise auch ihren Untergang bzw. ihre Adaption in anderen Religionen. Zu untersuchende Quellen sind dabei nicht nur Schriften, sondern auch die Archäologie, die Architektur sowie materielle Ausdrucksformern der Kunst, etwa in Form von Bildern, mündlichen Erzählungen, Dichtungen, Musik und anderem.10 Dabei bedient man sich bei der Interpretation der gleichen Methoden wie die Geschichtswissenschaft, um Geschichte zu rekonstruieren. Teilweise können auch vergleichende Aspekte mit eingearbeitet werden, denn natürlich gibt es auch ähnliche Entwicklungen innerhalb verschiedener Kulturen und Religionen, so dass auch Vergleiche angestellt werden können, sofern der Grundsatz gewahrt bleibt, dass keine chronologischen Sprünge gemacht werden. Die Religionsgeschichte schließt auch die jüngeren und jüngsten Entwicklungen der Religionen mit ein, sie kann und soll sich jedoch nicht darauf beschränken. Insoweit ist die Forderung nach einer Wiederbelebung der intensiveren Erforschung auch der frühen Epochen der Religionen ein wichtiges Desiderat.

3.3

Systematische Religionswissenschaft

Eine Aufgabe, die bleibt, ist die systematische Religionswissenschaft. Hier geht es zunächst um die adäquaten Begriffe und Kategorien, die man benutzt, um Religionen zu beschreiben. Die Kritik an der Religionsphänomenologie hat deutlich gemacht, dass es höchst problematisch ist, Begriffe der christlichen Religion auf andere Religionen zu übertragen. Teilweise ist man dazu übergegangen, die je eigenen Begriffe, die innerhalb der Religion verwendet werden, stehen zu lassen. D. h. Begriffe wie Dharma, Thora, Dschihad, Halacha werden nicht übersetzt, sondern als fremdsprachliche Begriffe verwendet und dann erläutert. Dennoch bedarf es auch meta-sprachlicher Begriffsdefinitionen, denn nur so lassen sich mögliche Bezüge von einer zu einer anderen Religion herstellen, die nicht schon von vornherein durch eine bestimmte Religion geprägt sind.11 Zum anderen ist es die Aufgabe der systematischen Religionswissenschaft, die Lehren und philosophischen Ansätze der verschiedenen Religionen zu erläutern 10 Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 52014, 35. 11 Dieser Aufgabe stellte sich vor allem das Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe. Vgl. Hubert Cancik u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart u. a. 1988–2001.

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und die Gemeinsamkeiten und die Differenzen zwischen ähnlichen Religionssystemen herauszuarbeiten. Also ähnlich wie in einer christlichen Konfessionskunde die verschiedenen Richtungen und Schulen in verschiedenen Religionen, z. B. des Buddhismus, des Islam oder des Judentums herauszuarbeiten. Es geht aber auch darum, Konzepte wie Dharma, Karma, Reinkarnationslehren in einen größeren philosophischen Kontext einzuordnen.

3.4

Ethik und Recht der Religionen

Als besonderen Arbeitsbereich der Religionswissenschaft sehe ich zudem die Ethik und die Moralvorstellungen der Religionen, die in Zukunft eine immer größere Bedeutung haben werden. Gegenwärtig ist dies noch ein Randbereich innerhalb der Disziplin, und nur sehr wenige Forscher*innen widmen sich bislang dieser Thematik.12 Auch hier spielen die bekannten Vorbehalte aus der Auseinandersetzung mit der Religionsphänomenologie und der Abgrenzung gegenüber der Theologie eine entscheidende Rolle. Wie will jemand, der sich mit der Ethik der Religionen befasst, »neutral und objektiv« bleiben? Ist hier nicht ein normativer Zugang zwangsläufig notwendig, und wird dadurch nicht die wissenschaftliche Basis der Religionswissenschaft verlassen? Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist, denn keineswegs ist mit der Vermittlung von Informationen über ethische Konzeptionen auch eine normative Zielsetzung verbunden. Genauso wie Kenntnisse über die Doktrinen von Religionen rein deskriptiv vermittelt werden können, kann dies auch bei ethischen und moralischen Konzeptionen geschehen. Normen, Werte und moralische bzw. ethische Ansätze können deskriptiv beschrieben und erforscht werden, ohne Stellung dazu nehmen zu müssen. Man kann die Argumentation von Jehovas Zeugen im Blick auf Bluttransfusion ohne eine Wertung beschreiben, zumindest genauso neutral, wie man Narrative über die Präsenz Jesu in Amerika beschreiben kann, ohne gleich ein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu werden. Wichtig ist dabei, dass die Darstellung sachlich korrekt ist, das Selbstverständnis der Religionen wiedergibt und keine Polemik und Abwertung enthält. Das ist bei einigen Vorstellungen, gegen die man vielleicht persönliche Vorbehalte hat, manchmal nicht leicht, aber es ist erlernbar. Ebenso können und sollen z. B. Grundprinzipien des islamischen oder des jüdischen Rechts oder der buddhistischen Ethik vermittelt werden. 12 Vgl. Christian Feichtinger: Religionenlernen im Ethikunterricht. Ethikdidaktik und Religionswissenschaft, Graz 2014.

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Wolfram Reiss

Dies ist auch eine wichtige Grundlage für eine weitere Teildisziplin, die m. E. unbedingt entwickelt werden muss und die teilweise bereits entwickelt wurde, weil die gesellschaftlichen Bedürfnisse dies erfordern. Ich meine hier den Bereich der Pädagogik der Religionen.

3.5

Pädagogik der Religionen

Die Pädagogik der Religionen ist ein wichtiges Feld, in dem sich die Religionswissenschaft in den nächsten Jahren engagieren muss, wenn sie als Wissenschaft auch einen Beitrag für die Gesellschaft leisten möchte. Nicht nur weil inzwischen in Österreich der Ethikunterricht eingeführt wurde, der als ein nicht-konfessioneller Unterricht im Rahmen der Vermittlung von Wissen über Religionen ganz klar eine religionswissenschaftliche Didaktik verlangt, sondern weil die Religionswissenschaft auch für die verschiedenen Religionsunterrichte eine ergänzende Didaktik entwickeln könnte, um Religionen auch dort deskriptiv und aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive heraus darzustellen und miteinander zu vergleichen. Es wäre eine völlige Verzerrung evangelischer und katholischer Religionspädagogik, wenn man nicht auch anerkennen würde, dass es mittlerweile durchaus religionskundliche Elemente im konfessionellen Religionsunterricht gibt, in denen andere Religionen nicht nur aus konfessioneller Perspektive bewertet und kritisiert, sondern auch ohne Wertung deskriptiv beschrieben werden. Zudem sollte sich die Religionswissenschaft auch Gedanken darüber machen, wie konkrete Begegnungsformen von Ethik- und Religionsunterricht möglich sein könnten. Dies ist m. E. vor allem für den Ethikunterricht eine Notwendigkeit, wenn man sich in diesem Fach tatsächlich mit lebenden Religionen beschäftigen möchte und nicht nur – im schlimmsten Falle – Zerrbilder und Stereotype wiederholen will, wie dies bei einem einseitigen Reden »über« Religionen ohne direkten Austausch leicht geschehen kann. Zudem sollte sich sowohl der Ethik- als auch der Religionsunterricht vom gewohnten Modell der Darstellung der »klassischen« Weltreligionen entfernen hin zu einem Modell, in dem die tatsächlich in einem Land gelebten Religionen in ihrer Diversität dargestellt werden. D. h. es sollte nicht eine Beschränkung auf die Darstellung von Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus erfolgen, sondern vielmehr von allen religiösen Gruppierungen, die in einem Land präsent sind. Denn viele der Religionsgemeinschaften, die in Österreich existieren, werden im Unterricht so gut wie nie thematisiert – oder wenn, dann in einer problematisierenden Form, wie dies etwa bei Jehovas Zeugen oftmals der

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Fall ist.13 Ähnlich verhält es sich im Blick auf die innere Diversität der religiösen Gruppierungen, die meist nur eine untergeordnete Rolle im Rahmen der Thematisierung spielt. Wichtig ist dabei in jedem Fall, dass eine neutrale bzw. beurteilungsfreie und beschreibende Haltung eingenommen wird. Es geht hier somit nicht um weniger als darum, den empirisch-deskriptiven Ansatz der Religionswissenschaft in die Schule hineinzutragen. Der Ethikunterricht ist hierfür der ideale Ort, weil von den Lehrenden eine entsprechende Position eingenommen werden muss und unterschiedliche weltanschauliche und religiöse Positionen gleichberechtigt nebeneinander dargestellt werden müssen.14 Genauso wie Religionswissenschaftler*innen auch die Grenzen der Neutralität kritisch benennen und Auskunft über den eigenen Standpunkt geben müssen, müssen dies auch Lehrende des Ethikunterrichtes tun und sich mit verschiedenen Methoden vertraut machen, um eine Didaktik der möglichst objektiven Darstellung anderer Religion zu erlernen und diese entsprechend zu vermitteln.15 Der Ethik-Unterricht ist kein Atheismus-Unterricht und dient nicht zur Erziehung hin zu einem strikt säkularen Weltbild. Wenn man ihn so verstünde, wäre er eher so etwas wie der Staatsbürgerkundeunterricht in den ehemaligen kommunistischen Staaten, der eine bestimmte weltanschauliche religionskritische Position normativ zu vermitteln versuchte.16 Vielmehr sollte der Ethik-Unterricht eine Plattform sein, um unterschiedliche weltanschauliche und religiöse Positionen kennenzulernen und ihre jeweiligen Argumente bzw. ihre Argumentationen zu verstehen. Es geht darum, eine eigene Auffassung und eine eigene Position zu entwickeln und diese im Dialog mit anderen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen begründet vertreten zu können, und nicht um die Vermittlung einer bestimmten Anschauung. Insoweit decken sich die Anliegen der Religionswissenschaft sehr stark mit dem Ansatz des Ethikunterrichts.17 13 Dieser Ansatz wird in dem neuen Ethik-Schulbuch »Vielfalt (er)leben« verfolgt, bei dem der Autor mitwirkt. Vgl. Ferdinand Auhser u. a.: Vielfalt (erleben) 1 – Ethik, Linz 2021. 14 Vgl. Wolfram Reiss: Die Religionswissenschaft geht in die Schule. Neues Lehrwerk für den Ethik-Unterricht mit religionswissenschaftlicher Perspektive, 2021, verfügbar unter: https://ra t-blog.at/2021/10/14/die-religionswissenschaft-geht-in-die-schule-neues-lehrwerk-fur-den-et hik-unterricht-mit-religionswissenschaftlicher-perspektive/ [abgerufen am 19. 04. 2022]. 15 Vgl. Joachim Willems: Annäherungen an eine religionskundliche Didaktik, in: Eva Maria Kenngott u. a. (Hg.): Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion (Praktische Theologie heute 136), Stuttgart 2015, 163–178; Zeitschrift für Religionskunde, verfügbar unter: https://religionskunde.ch/index.php [abgerufen am 19.4.22]. 16 Vgl. Anja Kirsch: Weltanschauungen im Schulbuch – Religionswissenschaftliche Perspektiven auf DDR-Staatsbürgerkundelehrbücher, in: Zrinka Sˇtimac/Riem Spielhaus (Hg.): Schulbuch und Religiöse Vielfalt, Göttingen 2018, 119–136. 17 Vgl. Wolfram Reiss/Robert Wurzrainer: Ethikunterricht und/oder Religionsunterricht? Einige Überlegungen aus religionswissenschaftlicher Perspektive, 2019, verfügbar unter: https://ra

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Umso bedauerlicher und bedenklicher ist es, dass sich die Religionswissenschaft im Bereich der Ethik und der Pädagogik nach wie vor kaum einbringt. Ich denke, dass dies dringend erforderlich ist, und dass die religionswissenschaftliche Expertise auch in Curricula und in Schulbüchern aktiv eingebracht werden sollte. Das sage ich nicht nur, weil ich mich selbst in jüngster Zeit in diesem Bereich engagiere,18 sondern weil ich es als ein dringendes Desiderat für die gesamte Disziplin ansehe. Gegenwärtig wird von Seiten der Religionspädagogik sehr viel über das Verhältnis zum Ethikunterricht und auch zum religionskundlichen Unterricht in den verschiedensten Spielarten geforscht. Von religionswissenschaftlicher Seite ist hier bislang jedoch kaum – bis auf wenige Ausnahmen – ein wirkliches Interesse und ein Bemühen in diesem Bereich feststellbar. Ich bin aber überzeugt davon, dass sich dies in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren noch ändern wird – einfach deshalb, weil diese Forschung gesellschaftlich dringend benötigt wird.

3.6

Anwendungsorientierte Religionswissenschaft

Die angewandte, anwendungsorientierte oder praktische Religionswissenschaft ist ein weiterer Bereich, der m. E. dringend zu einer eigenständigen Teildisziplin innerhalb der Religionswissenschaft ausgebaut werden müsste. Es gibt zwar mittlerweile eine nicht geringe Anzahl von Kolleg*innen, die sich in diesem Bereich engagieren, allerdings ist der Ansatz innerhalb der religionswissenschaftlichen scientific community nach wie vor umstritten. Die Hauptfrage ist dabei, inwieweit eine Religionswissenschaft, die sich praktischen Fragestellungen widmet bzw. ihre Erkenntnisse in der Gesellschaft »anwenden« will, nicht automatisch zu einer normativen Disziplin wird, mit ungeklärten und oft verborgenen philosophischen oder theologischen Prinzipien, die dieser Anwendung zugrunde liegen. Der tschechische Religionsphilosoph Bretislav Horyna, der der Entwicklung einer solchen Richtung in der Religionswissenschaft äußerst kritisch gegenübersteht, hat es einmal so formuliert: In dem Augenblick, in dem sich die Religionswissenschaft aus dem Rahmen der deskriptiv-interpretativen anthropologischen Wissenschaft herausbegibt, sich als praktisch anzuwendende, d. h. durch praktische (moralische) Vernunft leitende instru-

t-blog.at/2019/04/29/ethikunterricht-und-oder-religionsunterricht-einige-ueberlegungen-au s-religionswissenschaftlicher-perspektive/ [abgerufen am 19.04.22]. 18 Dies ist Hintergrund für mein Engagement in der Ethik-Lehrer*innenausbildung. Seit 2019 wurden von mir sechs Kurse an der PH sowie die Vorlesung »Ethik der Religionen« an der Universität Wien in Kooperation mit Robert Wurzrainer gestaltet.

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mentalisierte Wissenschaft darstellt und sagt, die konfliktgeladenen Beziehungen zwischen dieser und dieser Religion sollten sich aufgrund unseres Wissen [!] so und so gestalten, um »gut« oder »besser« zu werden … gibt sich die Religionswissenschaft in ihrer Wissenschaftlichkeit dem sogenannten naturalistischen Fehlschluss preis.19

Und an anderer Stelle: Wenn man … Wertregeln in die Religionswissenschaft einpflanzt, bekommt man keine engagierte, praktisch nützliche und heilbringende, sondern nur eine christlich, islamisch, neuthomistisch oder kryptokatholisch angewandte Religionswissenschaft.20 Religionswissenschaft (ähnlich wie z. B. Soziologie und Psychologie) als empirisch angelegte anthropologische Wissenschaft ist« für ihn nur »eine sehr gute, verlässliche Statistik; und das ist nicht gerade wenig.21

Ich glaube allerdings, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Es geht in der anwendungsorientierten Religionswissenschaft nicht darum, eine empirisch-deskriptive Disziplin zu einer normativen Disziplin umzufunktionieren. Das ist m. E. auch gar nicht nötig. Wer zu aktuellen Fragestellungen in der Gesellschaft forscht, muss deshalb nicht automatisch bewertende Aussagen treffen. Auch aktuelle Entwicklungen können und sollen deskriptiv beschrieben werden. Jemand, der sich zum Beispiel mit Fragen der Seelsorge – bzw. religionswissenschaftlicher ausgedrückt mit der Begleitung von Menschen in besonderen Situationen – befasst, muss keineswegs unausweichlich in den Aussagen vom Sein ins Sollen geraten. Wer beschreibt, wie Buddhist*innen Menschen im Spital oder in der Haft begleiten, wie Jehovas Zeugen dies in der gleichen Situation machen oder wie Muslime und Jüd*innen dies angehen, muss keineswegs von der empirisch-deskriptiven Prämisse der Religionswissenschaft abweichen, sondern kann das genauso tun wie Religionswissenschaftler*innen, die historisch arbeiten. Und auch wer aktuelle Religionsdialoge dokumentiert, beschreibt und analysiert, muss keineswegs Partei ergreifen, Bewertungen abgeben oder eine religiöse Position einnehmen. Wer sich der Frage widmet, wie in verschiedenen staatlichen oder öffentlichen Institutionen (z. B. in der Schule, in Alters- und Pflegeheimen oder in der Armee) mit religiöser Diversität umgegangen wird, und analysiert, wodurch es dabei zu Konflikten kommt und welche Lösungsmöglichkeiten angedacht werden, kann sich ebenso der Bewertung enthalten. Praktisch relevante Bereiche mögen zwar leichter zu normativen Aussagen verleiten,

19 Bretislav Horyna: Angewandte Religionswissenschaft – eine weitere Metapher der Ratlosigkeit, Vortragsmanuskript, Erfurt 2003, 7. 20 Horyna: Angewandte Religionswissenschaft (s. Anm. 19), 8. 21 Horyna: Angewandte Religionswissenschaft (s. Anm. 19), 11.

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müssen es aber nicht, solange man sich bewusst auf die deskriptiv-analytische Ebene beschränkt.22 Es ist nicht Aufgabe der Religionswissenschaft, die Gesellschaft und die Religionen zu verändern, sich in Integrationsfragen einzumischen oder Dialoge zu führen. Damit würde sich die Religionswissenschaft auch völlig übernehmen. Wohl kann die Religionswissenschaft aber zu praktischen Fragen forschen, gewisse Entwicklungen dokumentieren und diese auch analysieren, was dann durchaus für Politiker*innen, Religionsvertreter*innen und Praktiker*innen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen interessant und hilfreich sein könnte.23 Nur immer wieder über das Gottesbild in den fünf sogenannten »Weltreligionen« oder zu Texten aus längst vergangenen Zeiten zu forschen und zu lehren, ist zwar wichtig, aber m. E. zu wenig angesichts der Problemfelder und Herausforderungen, die in der Gesellschaft existieren und die das Zusammentreffen von Religionen und Kulturen betreffen. Wir können nicht über einen »Kulturkampf im Klassenzimmer« sprechen und uns in der Religionswissenschaft trotzdem nur darauf beschränken, zu beschreiben, wie die Entwicklungen unter den ersten islamischen Kalifen waren. Wer dies tut, verweigert sich der gesellschaftlichen Realität und den damit einhergehenden Herausforderungen, zu denen wir Religionswissenschaftler*innen durchaus einiges zu sagen hätten. Und dies nicht, weil wir normative Vorstellungen mitbringen, die besser und elaborierter und wissenschaftlich fundierter wären als die von anderen, sondern weil wir eine religionsgeschichtliche und religionssystematische Expertise mitbringen, die bei vielen Debatten oftmals fehlt. Insbesondere die Betonung der Diversität religiöser Gemeinschaften sowie die Beachtung der geschichtlichen Entwicklung – die für das Christentum als selbstverständlich angenommen wird – kann eine Bereicherung für die gesellschaftliche Debatte sein. »Der« Islam oder »das« Judentum ist keineswegs ein so monolithischer Block, wie dies oftmals dargestellt wird. Dasselbe gilt aber auch für das Christentum, Aleviten, die Sikhs und alle anderen religiösen Gruppen. Es geht also bei der anwendungsorientierten Religionswissenschaft darum, die Erkenntnisse sowie die Expertise der Religionswissenschaft in verschiedene 22 Vgl. meine eigenen Versuche: Wolfram Reiss: Austria – Management of Religious Diversity in Austrian Prisons, in: Anne-Laure Zwilling/Julia Martínez-Ariño, Julia (Hg.): Religion and Prison. An Overview of Contemporary Europe (Boundaries of Religious Freedom: Regulating Religion in Diverse Societies 7), Cham 2020, 11–35; Wolfram Reiss: Islamische Seelsorge etabliert sich – aber welche?, in: Michael Klöckner/Udo Tworuschka (Hg.): Handbuch der Religionen, 59, Ergänzungslieferung 2019, IV-1.9.1; Wolfram Reiss: The Management of Religious Diversity in the Austrian Forces, in: Lukas Pokorny/Hans Gerald Hödl (Hg.): Religion in Austria 3, Wien 2018, 93–159. 23 Vgl. Wolfram Reiss: Integration von nicht-islamischen Religionsgemeinschaften in deutschsprachigen Ländern, in: Österreichischer Integrationsfonds (Hg.): Islam europäischer Prägung, Wien 2017, 41–74.

Religionswissenschaft und Evangelische Theologie

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Bereiche der Gesellschaft hineinzutragen, und zwar dort, wo sie benötigt werden. Und diese Einbringung kann im Bereich der Bildung, im Bereich der Medien, im Bereich der Politikberatung und der Informationspolitik durchaus so geschehen, dass die Grundprinzipien der Religionswissenschaft nicht über Bord geworfen werden.24 Umgekehrt geht es aber auch darum, praktische Fragestellungen in der Gesellschaft und Politik aufzugreifen, um deren religionshistorische und religionssystematische Dimension auszuloten. D. h. die Religionswissenschaft ist nicht nur auf interdisziplinäre Arbeit angewiesen, sondern arbeitet sehr stark auch transdisziplinär mit Praktiker*innen aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zusammen, in denen Religion eine Rolle spielt. Das in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern vorhandene Wissen, von konfliktbeladenen wie auch reibungslos funktionierenden Feldern der Religionsbegegnung prägt die anwendungsorientierte Religionsforschung ebenso, wie diese mit ihren Kenntnissen in die Gesellschaft hineinwirkt. Es geht somit nicht nur um die »Anwendung« akademischen Wissens, sondern um einen Austausch auf Augenhöhe, um Einfluss praktischen Wissens auf die Religionswissenschaft. Deswegen spreche ich von »anwendungsorientierter« Religionswissenschaft und nicht von »angewandter« Religionswissenschaft. Wir können unsere Expertise nur in verschiedene Felder einbringen. Ob diese dann genutzt wird, ist Sache von Politiker*innen, Religionsgemeinschaften und Praktiker*innen. Für die anwendungsorientierte Religionswissenschaft sehe ich somit konkret vor allem folgende Aufgabenbereiche: a. Forschung zur Religionsdemographie in verschiedenen Gesellschaften b. Forschung zu praktisch-rituellen Fragestellungen in Religionen (z. B. Formen von Gebeten, Übergangsriten bei Geburt, Erwachsen werden, Familiengründung, Tod) c. Forschung zur Institutionalisierung von und in Religionen (Kirchen, Klöster, Moscheen, Sangha, Traditionsweitergabe, Lehrer*innen-Schüler*innen) d. Forschung zu aktuellen Entwicklungen in Religionen e. Forschung zur Krisenbegleitung von Religionen (Seelsorge, Begleitung) f. Forschung zur Religionspsychologie g. Forschung zur Nutzung von Medien durch Religionen (Presse, Social Media, Internet) und Vermittlung von religionswissenschaftlichen Kenntnissen an Medien 24 Vgl. Wolfram Reiss: Anwendungsorientierte Religionswissenschaft – statt eines Vorwortes, in: Thomas Schönberger: Der Islam im öffentlichen Bewusstsein. Ein empirisches Lagebild aus einer Kleinstadt in Österreich, Marburg 2012, 5–22; Wolfram Reiss: Anwendungsorientierte Religionswissenschaft, in Hamid Reza Yousefi u. a. (Hg.): Wege zur Religionswissenschaft. Eine interkulturelle Orientierung. Aspekte, Grundprobleme, ergänzende Perspektiven, Nordhausen 2006, 289–306.

Mögliche Kooperation mit theologischen Disziplinen Einleitungswissenschaft der Theologie

– Lehren der Religionen – Philosophische Grundkonzeptionen

3. Systematische Religionswissenschaft (SRW)

Dogmatik (inkl. Konfessionskunde)

Systematische Theologie

– Religionsbegriff – Gemeinsamkeiten und Differenzen zu anderen Disziplinen – Geschichte des Fachs – Selbstverständnis und Methodik des Fachs 2. Historische ReligionswissenHistorische Fächer schaft (HRW) Altes Testament – Erforschung schriftlicher und Neues Testament nicht-schriftlicher Quellen von Kirchengeschichte Religionen – (Archäologie, Kunst, mündliche Traditionen) – Werden und Vergehen von Religionen – Adaptionen und Inkulturation von Religionen

Neustruktur der Religionswissenschaft 1. Grundlagen und Methoden der Religionswissenschaft (GRW)

Weitere säkulare Bezugswissenschaften Grundlagenforschung, Einleitungswissenschaften

Entwicklung von Begriffen u. Kategorien; Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Philosophie

– Historisch-kritische Methoden Geschichtswissenschaft zur Analyse von historischen Philologie Quellen; Archäologie – Archäologische Methoden; – Analyse verschiedener Medien

– Hist.-krit. Methode, – empirische Methoden – vergleichende Methode

Vermittlung von Methoden

Aufgabengebiete

Überblick zur Neugliederung der Religionswissenschaft und Option zur Kooperation mit theologischen Disziplinen

376 Wolfram Reiss

– Religiöse Bildung im Ethikunterricht – Religionskunde im Religionsunterricht 6. Anwendungsorientierte Religi- Praktische Theologie onswissenschaft (AORW) Religionsdemografie – Religionsdemographie Kasualien – Beschreibung und Analyse von Seelsorge Übergangsriten, Begleitung in Religionspsychologie besonderen Situationen – Dokumentation und Analyse von interreligiösem Dialog

Neustruktur der Religionswissen- Mögliche Kooperation mit theoschaft logischen Disziplinen 4. Ethik und Recht der Religionen Systematische Theologie (ERR) Ethik – Ethische Grundlagen Religionsrecht – Position verschiedener Religionen zu ethischen Fragestellungen – Religiöses Recht 5. Pädagogik der Religionen (PR) Religionspädagogik

(Fortsetzung)

Sozialwissenschaftliche Methoden: quantitative und qualitative Forschung; Psychologische Methoden

Soziologie Psychologie

Methoden der Pädagogik und Di- Bildungswissenschaft daktik

Weitere säkulare Bezugswissenschaften Darstellung/Vergleich von religiö- Praktische Philosophie/Ethik sen und säkularen Konzeptionen; Rechtswissenschaft Gemeinsamkeiten/Differenzen von religiösem und säkularem Recht

Aufgabengebiete

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Sie hat dabei viele Berührungspunkte mit anderen Wissenschaften wie etwa der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Psychologie, den Rechtwissenschaften und natürlich der Praktischen Theologie.

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Anknüpfung an die multidimensionale Beschreibung von Religionen

Die hier vorgeschlagene Neustrukturierung der Religionswissenschaft knüpft an die multidimensionalen Beschreibungen von Religion nach Rodney Stark, Charles Glock, Ninian Smart und anderen an, die versucht haben, die Beschreibung von Religionen und Weltanschauungen in verschiedenen Dimensionen zu erfassen.25 Ninian Smart will diesbezüglich sieben Dimensionen vorschlagen: die narrativ-historische, die materielle, die doktrinal-philosophische, die praktisch-rituelle, die erfahrungsmäßige, die sozial-institutionelle und die ethisch-rechtliche Dimension. Die Einteilung, die ich vorschlage, knüpft an diese verschiedenen Bereiche der Beschreibung von Religionen – die sich in der Religionswissenschaft sehr bewährt hat – an und plädiert dafür, sie zu eigenen und klar abgrenzbaren Bereichen innerhalb der Religionswissenschaft als Teildisziplinen zu etablieren. Allerdings muss nicht aus jeder Dimension eine eigene Teildisziplin entstehen, denn manche Dimensionen können in einer Teildisziplin zusammen behandelt werden. Die narrativ-historische und die materielle Dimension kann m. E. in der historischen Religionswissenschaft zusammengefasst werden, weil es hier durchgehend um die Deutung von Quellen geht. Sie können schriftlicher und mündlicher Art sein oder die Beschäftigung mit archäologischen Funden, Bildern und Kunst in verschiedensten Arten und Formen umfassen. In der anwendungsorientierten Religionswissenschaft könnten die Bereiche bzw. Dimensionen mit praktischem Bezug zusammengefasst werden, d. h. die praktisch-rituelle, die sozial-institutionelle und die religionspsychologische Dimension. Hingegen muss m. E. die pädagogische Dimension, die bei Ninian Smart nicht vorhanden ist, als eigenes Arbeitsfeld ergänzt werden.

25 Vgl. Charles Glock/Rodney Stark: Religion and Society in Tension, Chicago 1965; Ninian Smart: The nature of a religion, in: ders.: The World’s Religions, Cambridge 21998, 11–22.

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Konsequenzen für die Kooperation mit der Theologie

Diese nun vorgeschlagene Neustrukturierung der Religionswissenschaft, die der bereits vorhandenen Entwicklung in der religionswissenschaftlichen Forschung Rechnung trägt, kann aber auch eine wichtige Funktion haben, um den Dialog mit den theologischen Disziplinen zu fördern. Es ist aus meiner Sicht längst an der Zeit, dass wir endlich von der ständigen und gebetsmühlenhaft formulierten Abgrenzung von Religionswissenschaft und Theologie wegkommen und stattdessen einen intensiven und sicherlich fruchtbaren Dialog mit der Theologie – in klar definierten Bereichen – führen. Wenn nun die Religionswissenschaft neu strukturiert wäre, ergäben sich automatisch sehr interessante Parallelen und neue Möglichkeiten der Kooperation und des Dialogs, die dazu beitragen können, diese Situation und die damit einhergehende Sprachlosigkeit zu überwinden. Wäre die Religionswissenschaft in dieser Weise aufgestellt und würden klare Schwerpunkte gesetzt, wie sie in der abgebildeten Tabelle angedeutet sind, wäre eine Kooperation mit den theologischen Disziplinen um vieles leichter. Man würde sich nämlich dadurch auf gleicher Ebene begegnen und es wäre auch klar, dass die gleichen Methoden benutzt und zudem die gleichen Bezugswissenschaften genützt werden. Insoweit könnte dieser Vorschlag doch auf eine sehr starke Kooperation mit der Evangelischen Theologie hinauslaufen. Es wäre letztendlich genau das, was ich ursprünglich vorschlagen wollte: eine evangelische Theologie im Dialog mit Religionen. Der Unterschied ist nur, dass es keine Aufforderung an die Evangelische Theologie ist, sich zu ändern, sondern dass vielmehr die Überlegung zugrunde liegt, dass sich die Religionswissenschaft verändert hat und sich diese Ausdifferenzierung auch in klar definierten Teilgebieten ausdrücken sollte. Nicht, weil ich meine, dass die Religionswissenschaft das tun müsste, um der Theologie einen Gefallen zu tun, sondern weil ich meine, dass die Religionswissenschaft um ihrer selbst willen dieser Umstrukturierung bedarf, um ihre unterschiedlichen Arbeitsbereiche – die sie längst hat – genauer zu benennen. Wie bereits zu Beginn erwähnt wurde, kann niemand in sämtlichen Religionen eine fundierte Expertise besitzen. Ich glaube allerdings auch, dass niemand ein*e Expert*in sowohl in der Religionsgeschichte, den Doktrinen sämtlicher Religionen, der Religionsdidaktik, der Ethik und der anwendungsorientierten Religionswissenschaft zugleich sein kann. In Anbetracht dieser Tatsache brauchen wir – als Religionswissenschaftler*innen – dringend eine Weiterentwicklung unserer Disziplin hin zu einer Wissenschaft, die klare Schwerpunkte setzt, diese konkret benennt und dies z. B. in weiterer Folge etwa auch in der Benennung von Lehrstühlen zum Ausdruck bringt. Wenn dies erfolgt, dann ist es m. E. auch um vieles leichter, Koopera-

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tionen mit den verschiedenen theologischen Disziplinen einzugehen – die für alle Beteiligten fruchtbar und bereichernd sein können.

4. Der Festgottesdienst

Wilfried Engemann

Grußwort an die gastgebende Gemeinde der Lutherischen Stadtkirche zu Wien*

Sehr geehrter Herr Tichy! Verehrte Pastores – Frau Schnizlein, Herr Fussenegger! Liebe Gemeinde! Im Namen der Evangelisch-Theologischen Fakultät danke ich Ihnen von ganzem Herzen, dass wir in dieser schönen Kirche und mit Ihnen diesen Festgottesdienst feiern dürfen, mit dem wir die zentralen Festtage unseres 200-Jahr-Jubiläums beschließen. Ich habe mich sehr gefreut, liebe Frau Schnizlein, dass die Anfrage, mit der ich mich in dieser Sache vor zwei Jahren an Ihre Gemeinde gewandt habe, alsbald auf fruchtbaren Boden gefallen ist und Ihr Presbyterium uns herzlich willkommen geheißen hat. Was ich damals noch nicht wusste: Ich hätte mich auf eine gute Tradition berufen und daran erinnern können, dass vor 100 Jahren die gleiche Bitte an die Gemeinde gerichtet worden war, und dass es üblich ist, dass die ETF ihre Centenniums-Jubiläen mit Gottesdiensten in der Lutherischen Stadtkirche beschließt bzw. eröffnet (2121 bitte vormerken). Hier ist der Beweis: Ich zitiere aus dem amtlichen Festbericht zum 100-JahrJubiläum: »Der 5. Juni 1921 war ein strahlender Sonnentag, wie geschaffen, um die Teilnehmer an der 100-Jahrfeier in eine gehobene Feststimmung zu versetzen. Dicht gedrängt harrte die Gemeinde des Einzugs der Professoren, die von dem Kurator Dr. Gunesch und dem Senior Stökl in den Altarraum geleitet wurden […]. Prächtige Blattpflanzen gaben dem Raum ein feierliches Gepräge und die machtvollen Akkorde von Gellerts ›Wie groß ist des allmächtigen Güte‹ bildeten den ersten Ton, der das Fest eröffnete.«1 Dass wir es heute etwas bescheidener halten, was den Einzug angeht, hat vielerlei Gründe, die auch mit dem veränderten Bewusstsein des Professoriums zu tun * Vorgetragen im Rahmen des Festgottesdienstes am 10. Oktober 2021. 1 Fritz Wilke: Die Jahrhundertfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien. Amtlicher Festbericht, Wien/Breslau 1923, 14.

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Wilfried Engemann

haben: Wir präsentieren die Fakultät ja nicht allein – und mit allen Studierenden und Assistenten kann man schwerlich einen Einzug in diese Kirche veranstalten. Dazu brauchten wir eine Kathedrale wie die in Chartre. Sei’s drum. Was sich nicht geändert hat, und was durch entsprechende Forschungen im letzten Jahrhundert sogar noch klarer zum Vorschein gekommen ist: Der Gottesdienst ist eine der wichtigsten und am stärksten fließenden Quellen christlicher Theologie. Um Gottesdienste zu gestalten, braucht man die ganze Theologie. Was in den einzelnen Fächern gelehrt wird, soll also auch etwas zu einer Gestaltung von Gottesdiensten beitragen, in denen die gerade Anwesenden an ihr Leben herangeführt werden: Menschen sollen im Mitvollzug der Liturgie in ihre Gegenwart durchbrechen, ihre Füße auf weiten Raum stellen, selber einen Schritt in Richtung Freiheit gehen können und nach einer Predigt genauer wissen als vorher, was sie aus welchen Gründen wollen. Das ist eine der ältesten Aufgaben der Theologie! Da wir diesen Gottesdienst heute mit dem Bischof der Evangelischen Kirche A. B. und dem Landessuperintendent der Evangelischen Kirche H. B. feiern können, wissen wir uns liturgisch und homiletisch in guten Händen. Lieber Herr Chalupka, lieber Herr Hennefeld: Herzlichen Dank Ihnen beiden! Ein letztes Wort des Dankes richtet sich an Herrn Dr. Lauxmann, Assistent am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie, der die Koordination dieses Gottesdienstes mit großer Umsicht und Hingabe übernommen hat. Vielen Dank für Ihre Vorbereitungen!

Michael Chalupka

Predigt*

Predigttext: Sprüche 9,1–6 (Luther 2017): Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen. 2 Sie hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt und ihren Tisch bereitet 3 und sandte ihre Mägde aus, zu rufen oben auf den Höhen der Stadt: 4 »Wer noch unverständig ist, der kehre hier ein!«, und zum Toren spricht sie: 5 »Kommt, esst von meinem Brot und trinkt von dem Wein, den ich gemischt habe! 6 Verlasst die Torheit, so werdet ihr leben, und geht auf dem Wege der Klugheit. …« Liebe Gemeinde, verehrte Studierende, Lehrende und Absolvent*innen der ehrwürdigen Evangelisch-Theologischen Fakultät, deren Geburtstag wir heute mit diesem Gottesdienst feiern, unter Gottes Wort und Segen stellen! Liebe Schwestern und Brüder! Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen aufgerichtet. Die sieben Säulen haben zu allerlei Spekulationen angeregt. Die rabbinische Tradition hat sie als die sieben Tage der Schöpfung oder als die damals bekannten sieben Planeten gedeutet, katholischerseits wurden die sieben Sakramente ins Spiel gebracht und der Kirchenvater Athanasius hat die reichlich unbequeme Vorstellung entwickelt, dass Jesus sich im Mutterleib ein Haus mit sieben Säulen aufgerichtet hätte.1 Heute neigt man der Auffassung zu, dass mit den sieben Säulen die Gliederung des Buches der Sprüche gemeint ist und es selbst somit als Haus der Weisheit zum Lesen einlädt.2 Doch abschließend ist die Sache nicht geklärt. Das ist gut so, nicht Geklärtes ist interpretationsoffen. Wir feiern heute den Geburtstag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, eines Hauses der Weisheit. Dieses Haus wird von sechs Insti* Gehalten im Festgottesdienst am 10. Oktober 2021 in der Lutherischen Stadtkirche zu Wien. 1 James A. Loader: Proverbs 1–9 (Historical Commentary on the Old Testament), Leuven u. a. 2014, 382–384. 2 Loader: Proverbs 1–9 (s. Anm. 1), 383: »… the priniciple of the house with seven pillars as an allusion to the Book of Proverbs in its edited form is strikingly attractive«.

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tuten getragen. Wir feiern diesen Dankgottesdienst im öffentlichen Raum hier in der Stadtkirche gemeinsam mit der Gemeinde. Die Entscheidung der Fakultät, dieses Jubiläum nicht als Universitätsgottesdienst im inneren Raum der universitären Öffentlichkeit zu feiern, sondern als Gottesdienst im Raum der evangelischen Kirche, freut mich besonders, bewährt sich doch die Theologie in der gelebten Praxis. So stellen wir heute neben die sechs Säulen der Wissenschaft die siebente Säule der Kirche, und finden uns in der guten Tradition von Abraham Ibn Esra wieder, der im 12. Jahrhundert die sieben artes liberales, die sieben freien Künste, die als Vorstudium der Theologie galten, in den sieben Säulen zu erkennen glaubte.3 Die sieben Säulen sind aber nur der äußere Rahmen für das Eigentliche, das im Haus der Weisheit geschieht: das große Gastmahl der Weisheit. Frau Weisheit kocht auf. Frau Weisheit lädt ein. Sie schlachtet und bäckt und kredenzt vom besten Wein, der zu haben ist. »Wer noch unverständig ist, der kehre hier ein.« Die Weisheit hat ein Haus gebaut, damit es einen Ort gibt für ihre kulinarischen Genüsse, die zum Leben führen. Dekan Wilfried Engemann hat uns bei der Eröffnung der 200-Jahr-Feierlichkeiten vor Augen geführt, wie viele hervorragende Köche und – noch wenige, aber bemerkenswerte – Köchinnen in den letzten beiden Jahrhunderten in der Evangelisch-Theologischen Fakultät am Werke waren, wie viele Publikationen das Licht der Welt erblickten und in welche Höhen der universitären Rankings die Weisheit die Fakultät geführt hat.4 Dafür ist Dank zu sagen allen, die ihren Beitrag geleistet haben und heute leisten. Dank zu sagen ist hier im Gottesdienst aber auch Gott als dem, der dieses Werk durch seine Begleitung und Offenbarung in der Heiligen Schrift und in Jesus Christus möglich macht. Auf Gott bezieht sich die theologische Reflexion, auf Gottes Sein und Wirken in der Welt. Um im kulinarischen Bild der Frau Weisheit zu bleiben: Vieles wurde in den wechselnden Räumen der Fakultät hergestellt, Rohes und Gekochtes, Ernüchterndes und Berauschendes, schwer Verdauliches und leichte Kost. Vor allem aber wurden an dieser Fakultät Generationen von Theologinnen und Theologen mit dem Rüstzeug ausgestattet, in Kirche und Gesellschaft Gottes Wort zu predigen, Menschen zu begleiten, die Sakramente zu verwalten und in ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen ihre Stimme zu erheben, – und all das in verantworteter, methodisch und intellektuell geordneter Weise zu tun, unterschiedliche Argumentationsmuster zu prüfen und Verschiedenheit anzuerkennen. Ihre Bindung an den Glauben zu leben und zugleich kritisch reflektieren zu

3 Loader: Proverbs 1–9 (s. Anm. 1), 382. 4 Die Rede zur Eröffnung der zentralen Festtage von Dekan Prof. Dr. Wilfried Engemann findet sich in diesem Band auf den Seiten 29–34.

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können. Um mit den Worten der Schrift zu sprechen: Sie wurden dabei unterstützt, die Torheit zu verlassen und auf dem Weg der Klugheit zu gehen. Die universitäre Theologie ist unverzichtbar gerade für eine kleine Kirche, die in der Minderheit mit begrenzten Ressourcen lebt. Sie ist ein Fenster zu den anderen Wissenschaften und zur globalen theologischen Forschung. Sie versorgt uns mit dem frischen Geist, der vor den Mauern der eigenen Beschränktheit weht. Sie ist aber auch ein Fenster in unsere Gesellschaft und repräsentiert durch ihre Öffentliche Theologie den Protestantismus in einer teils weiterhin katholisch geprägten, teils immer stärker säkularen Umwelt. Ein Jubiläum ist Grund zu jubeln. Es ist ein Grund, all jenen zu danken, die heute diese für unsere Kirche so wichtige Institution mitgestalten und vertreten: den Professor*innen, den Vertreter*innen des Mittelbaus in ihren jesuanischen, ungesicherten Existenzen und den Studierenden, in die wir unsere Hoffnung setzen. Frau Torheit aber schläft nicht. »Frau Torheit ist unbändig, trügerisch und weiß nichts. Sie sitzt vor der Tür ihres Hauses auf einem Thron auf den Höhen der Stadt, einzuladen alle, die vorübergehen und richtig auf ihrem Wege wandeln: »Wer noch unverständig ist, der kehre hier ein!«, und zum Toren spricht sie: »Gestohlenes Wasser ist süß, und heimliches Brot schmeckt fein.« Er weiß aber nicht, dass dort nur die Schatten wohnen, dass ihre Gäste in der Tiefe des Todes hausen« (Spr 9,13–18). Im Laufe ihrer Geschichte haben die Evangelisch-Theologische Fakultät und die Evangelische Kirche in Österreich das Haus der Weisheit verlassen und sind vor die Tür des Hauses von Frau Torheit gezogen, haben vom gestohlenen Wasser getrunken und das heimliche Brot der Kriegshetzerei und des Nationalismus gegessen. Im wörtlichen Sinne haben die Kriegstheologie von 1914 und später die mörderische Ideologie des Nationalsozialismus während der Terrorherrschaft die Evangelisch-Theologische Fakultät geleert und sie hat sich selbst theologisch entleert und ihres Auftrags entledigt. Kirche und universitäre Theologie sind schuldig geworden und haben sich obsolet gemacht. Das lässt mich erschrecken, erschaudern und zugleich staunen. Wie ist es möglich, dass es uns heute noch gibt als Evangelische Kirche und Evangelisch-Theologische Fakultät in Österreich. Wir sind es gewohnt, staunend von Gottes Begleitung und Gnade zu sprechen, die uns als Kirche die Gegenreformation, die Verfolgung und Unterdrückung im Geheimprotestantismus überleben ließen. Aber um wieviel erstaunlicher ist es, dass wir unsere Verstrickung in die Schuld überlebt haben und Umkehr möglich war? Gott ist geduldig und langmütig. Seine Barmherzigkeit ist höher als all unsere Vernunft. Es gibt keinen anderen Grund, der es uns erlaubt, heute noch hier zu stehen und nicht im Schlund der Scham versunken zu sein. »Verlasst die Torheit, so werdet ihr leben, und geht auf dem Wege der Klugheit«, heißt es im Vers 6. Verlasst die Torheit. Dieses Wort eröffnet Hoffnung. Nicht nur die Unverständigen sind eingeladen, sondern auch die, die in die Irre

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gegangen sind oder auf den Höhen der Stadt ihr Glück gesucht haben oder auf der Straße vor den Türen der Torheit gelagert haben. Sie alle werden zur Umkehr gerufen. Für sie alle ist Umkehr und Neuanfang möglich – nicht aus ihrer Kraft und Einsicht, sondern allein aus der erstaunlichen, alles neu machenden Gnade Gottes. Neben der Personifizierung von Frau Weisheit und Frau Torheit fällt auf, dass Frau Weisheit ein Ort zugewiesen ist, ein Haus mit sieben Säulen, während Frau Torheit vor den Türen lagert. Das will auch etwas sagen: Der Ort, der Kontext ist entscheidend. Dietrich Bonhoeffer macht den Ort zum Lackmustest der Unterscheidung der Geister. »Gottes Gebot kann nicht zeit- und ortlos gefunden und gewusst, sondern nur in Bindung an Ort und Zeit gehört werden.« (Ethik, DBW 6, 382) Die Kirche seiner Zeit, hatte – so sagt Bonhoeffer 1932 in einer Vorlesung an der Berliner Theologischen Fakultät – »ihren eigentlichen Ort verloren, ist verweltlicht« (Das Wesen der Kirche, DBW 11, 247). Sie hat aber auch ihre tiefste Ortlosigkeit vergessen: Die Kirche »muß sich bewußt sein, daß sie nie selbst den Ort schaffen kann« Denn: »Dort [ist ihr] eigentlicher Ort, wo sie darauf wartet, daß Gott ihr [ihren] eigentlichen Ort […] gibt […] Wo Gott die Kirche den Ort finden läßt, ist Kirchenort! Dann [wird sie] geliebt oder gehaßt nur wegen ihrer eigenen Sache (Evangelium)« (DBW 11, 247f). Dem Warten darauf, dass Gott der Kirche Ort und Raum schafft, steht aber der verkehrte – törichte – Versuch entgegen, als Kirche überall sein zu wollen, sich allem anpassen zu wollen, quasi als Agentur für die Höhepunkte des Lebens und der Kultur. Aber bei den angeblichen »Höhepunkten« ist nicht die Mitte des Lebens, wenn man vom Evangelium aus darauf schaut, sondern die Peripherie (DBW 11, 249). So sagt Bonhoeffer kritisch: »Kirche ist an der Peripherie des Lebens, nicht im Zentrum. […] Kirche will ins Zentrum treten. Aber [sie ist] verlassen im Sonntäglichen. Daher [steigt, M. Ch.] Haß gegen die Kirche [auf, M. Ch.] Aus mangelnder [Selbstkritik] will Kirche von der Peripherie [aus] über zentrale Dinge reden.« (DBW 11, 250) Gegen diese verantwortungslose, leichtsinnig feiernde Kirche, die auf ihre Mitte, das Evangelium, vergisst, sagt Bonhoeffer: Der eigentliche Ort der Kirche ist die Alltagswirklichkeit der Welt. »Gottes Gebot […] ist immer ein konkretes Reden zu jemandem, niemals ein abstraktes Reden über etwas oder jemanden.« (Ethik, DBW 6, 384) Oder wie es Hartmut Rosa in seiner Keynote in diesen Festtagen formuliert hat: Die Sünde ist der Zustand, in dem das Subjekt glaubt, keiner Antwort mehr zu bedürfen. Schuldig werden Theologie und Kirche, wenn sie der Antwortfähigkeit und der Antwortwilligkeit verlustig gehen. In der Beziehung zu den Gaben, zu den Nächsten und zu Gott kreist der sündhafte Mensch nur um sich selbst, er will sich alles verfügbar machen.

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Kirche und Theologie stehen immer wieder in der Versuchung zu meinen, keiner Antwort mehr zu bedürfen, sich den Anfragen, die das gelebte Leben stellt, nicht mehr stellen zu müssen, sich selbst genug zu sein. Kirche und Theologie standen in ihrer Geschichte und in ihrer Gegenwart immer wieder vor der Wahl, im Haus der Weisheit einzukehren und am großen Gastmahl teilzunehmen – zu dem, wie wir wissen, auch die Leute von den Hecken und Zäunen geladen sind – oder vor den Türen von Frau Torheit zu lagern, in der verantwortungslosen Gewissheit, keine Fragen zu brauchen, keine Antworten geben zu müssen und doch zu beurteilen und zu verurteilen, wie es einem zupass kommt. Sie stehen in der Versuchung, haben die Wahl, aber vor allem die Verheißung: »Verlasst die Torheit, so werdet ihr leben, und geht auf dem Wege der Klugheit.« So werdet ihr leben in Fülle und vom großen Festmahl der Weisheit schmecken, vom Rohen und Gekochten, vom Scharfen und Süßen, von der Würze des Alters und vom Trost des Geschmacks der Kindheit, von der lauen Milch des Morgenkaffees und dem kräftigen Aroma des Trösters des Südens. Vor allem aber, die ihr das Haus der Weisheit sucht und feiert mit denen von den Hecken und Zäunen: Ihr werdet schmecken vom Wein der Erlösung und vom Brot des Lebens. Amen.

5. Aus der Forschungswerkstatt

Karl W. Schwarz

Im Schatten der Fakultätsgeschichte – der Kirchenhistoriker Paul Dedic

Abstract The article is devoted to Paul Dedic, a church historian working as a secondary school professor in Graz, who was nominated in 1937 to succeed the late Karl Völker. His appointment was prevented by an intrigue. After the Anschluss to Hitler’s Germany, the Reich Ministry in Berlin set the course and did not consider him. In 1940, when religious education was no longer possible, he switched to the archival service. He wrote a number of important studies on the history of Austrian Protestantism during the Reformation and Counter-Reformation and devoted himself to Anabaptist research. Because of his membership in the NSDAP, he was not accepted into the new staff in Graz after 1945. The attempt to appoint him to the Faculty of Protestant Theology failed again.

Abb.: Paul Dedic ca. 19471

1 Pfarrarchiv Leoben, Mappe Spanuth – Die Druckvorlage wurde von Pfarrer Dr. Herbert Rampler/Eisenstadt zur Verfügung gestellt, wofür geziemend gedankt wird. Vgl. auch Herbert Rampler: Evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen der Steiermark seit dem Toleranzpatent. Ein Beitrag zur österreichischen Presbyteriologie (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 40), Graz 1998, 87–88; 366.

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Einleitung

Ein Beitrag zum 200-Jahr-Jubiläum der Fakultät soll einen Mann in den Mittelpunkt rücken, der zweifellos zu ihrer Geschichte gehört, aber im Grunde genommen nur in deren »Schatten« geblieben ist: Paul Dedic (1890–1950).2 Diese Aussage bezieht sich nicht auf seinen ausgezeichneten Studienerfolg, sondern auf seine Niederlage in den Berufungskämpfen an der Fakultät in den Jahren 1937– 1940. Er galt als exzellenter Vertreter seiner Fachrichtung3, stand auch wiederholt auf Berufungslisten der Fakultät. Als 1937 der aus Lemberg stammende Kirchenhistoriker Karl Völker (1886–1937) verhältnismäßig jung an einer Krebserkrankung starb, hinterließ er als Vermächtnis den Wunsch, seinen Schüler Dedic als Nachfolger am Lehrstuhl für Kirchengeschichte zu präsentieren.4 Die Fakultät entsprach dieser Verfügung und reihte ihn primo et unico loco, und brachte damit zum Ausdruck, dass sie der Auswahl des verstorbenen Kollegen folgen wolle. Diese Rechnung ist freilich nicht aufgegangen – und soll im Folgenden geschildert werden.5

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Paul Dedic – Studium, Qualifizierung und Nominierung

Der aus Mähren stammende Paul Dedic, der 1909 am Deutschen Staatsgymnasium in Brünn/Brno die Reifeprüfung ablegte, strebte den Beruf seines Vaters an, der evangelischer Pfarrer in Olmütz/Olomouc gewesen war.6 Er wählte Theologie und Geschichte und studierte diese Fächer in Wien (1909–1911; 1912–1913), Bonn und Berlin (1911–1912), schließlich hängte er nach Abschluss seines Theologiestudiums mit dem Examen pro candidatura am 3./4. März 1913 ein Sommersemester in Heidelberg an. Er war auf bedeutende Lehrer gestoßen, die 2 Rudolf Leeb: Art. Paul Dedic, in: Mennonitisches Lexikon Bd. 5/1 – http://www.mennlex.de /doku.php?id=art:dedic_paul (Abruf 28. 06. 2022). 3 Rudolf Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil der an der Fakultät lehrenden Kirchenhistoriker und zur österreichischen evangelischen Protestantengeschichtsschreibung, in: Karl Schwarz/ Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der EvangelischTheologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs Universität Wien 10), Wien 1997, 13–50. 4 Gustav Entz: Paul Dedic †, Nachruf und Würdigung, in: JGPrÖ 67 (1951), (205–216) 208. 5 Ich greife damit ein Thema auf, das ich im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte erstmals in Arnoldshain am 10. 10. 1990 vorgetragen habe: Karl Schwarz: »Grenzburg« und »Bollwerk«. Ein Bericht über die Wiener Theologische Fakultät in den Jahren 1938–1945, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG B 18), Göttingen 1993, (361–389) 368–369; vgl. zuletzt ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« Die Evangelisch-Theologische Fakultät in Wien in der NSÄra, Wien 2021, 60–66. 6 Entz: Paul Dedic †, in: Amt und Gemeinde 4 (1950), 55–56.

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ihn ausbildeten und theologisch prägten. Er selbst benannte als für ihn wichtige Bezugspersonen den Historiographen des österreichischen Protestantismus Georg Loesche (1855–1932), den Kirchenhistoriker Karl Sell (1845–1914) in Bonn, den maßgeblichen Kirchenhistoriker liberaler Prägung und Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack (1851–1930) in Berlin oder den Neutestamentler und Ökumeniker Adolf Deissmann (1866–1937), den Neutestamentler Johannes Weiss (1863–1914) und den Reformationshistoriker Hans von Schubert (1859– 1931) in Heidelberg, der ihn später zur planmäßigen Täuferforschung motivierte – nicht zuletzt aber den seit 1912 als Privatdozent in Wien wirkenden Karl Völker, der 1920 zum Professor für Praktische Theologie, 1922 für Kirchengeschichte berufen wurde. Beim Examen pro candidatura nahm Loesche die Kirchengeschichte-Prüfung vor; dieser veranlasste auch die Promotion zum Lic.theol. aufgrund einer reformationsgeschichtlichen Arbeit über Olmütz.7 Die Promotion zum Dr.theol. erfolgte am 23. 2. 1923 bereits unter der Ägide Völkers. Das Thema seiner Dissertation war abermals ein reformationsgeschichtliches8, berücksichtigte aber auch den »linken Flügel« der Reformation, denn die »Täufer« spielten in Mähren eine große Rolle. Für diese Qualifizierungsarbeiten hatte er, angeregt durch Johann Loserth (1846–1936), den besten Kenner der Täufergeschichte, systematisch die mährischen Archive durchforscht und war auf eine reiche Fülle an einschlägigen Quellendokumenten gestoßen. Mit derselben Akribie, mit der er die Reformationsgeschichte Mährens bearbeitete, widmete er sich während seiner pastoralen Tätigkeit in der Steiermark (1918–1930)9, der Erforschung des innerösterreichischen Protestantismus. Als ihm vom Verein für Reformationsgeschichte die Aufgabe übertragen wurde, die österreichischen Täuferakten zu sammeln und zu edieren10, wechselte er im Dezember 1930 an das Akademische Gymnasium in Graz11, wo er sich günstigere Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit erhoffte. In rascher Folge brachte er zahlreiche Monographien über innerösterreichische Themen zum Druck, wobei zwei besonders hervorzuheben sind, nämlich »Der Protestantismus in Steiermark im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation«, eine Studie, die vom Verein für Reformationsgeschichte in Leipzig 1930 herausgebracht

7 Dedic: Geschichte der Reformation in Olmütz, Wien 1917, in: JGPrÖ 52 (1931), 148–174; 53 (1932), 110–151; 54 (1933), 118–160; 55 (1934), 69–112. – Promotion am 21. 3. 1917 zum Lic.theol. 8 Dedic: Die kirchlichen und religiösen Verhältnisse in Mähren im Reformationsjahrhundert bis 1598, handschriftl. theol. Diss. Wien 1923. – Promotion am 23. 3. 1923 zum Dr.theol. 9 Rampler: Evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen der Steiermark (s. Anm. 1), 87–88. 10 Dazu Grete Mecenseffy: Quellen zur Geschichte der Täufer Bd. XI: Österreich, I. Teil, Gütersloh 1964, VII–XIII. 11 Bernhard H. Zimmermann: Dr. Paul Dedic (…), in: Grazer Kirchenbote 5 (1950), 79.

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wurde12, und eine »Geschichte des Protestantismus in Judenburg«13. Zahlreiche kleinere Aufsätze fügten sich dazu.14 In manchen Passagen der damaligen Arbeiten, so vermutet Rudolf Leeb in seiner Würdigung des Grazer Gelehrten, »dürften sich illegale evangelische Nationalsozialisten in den ehemals illegalen Geheimprotestanten wieder gefunden haben«15. In einer so qualifizierten »Illegalität« verschmolzen Trutzprotestantismus und Nationalsozialismus, gerade auch vor dem Hintergrund einer massiven katholischen Konfessionalisierung in der Ära des christlichen Ständestaates. Dessen ungeachtet schien Dedic jedenfalls bestens qualifiziert, um als Nachfolger von Karl Völker den Lehrstuhl für Kirchengeschichte einzunehmen. Er passte als Altösterreicher sehr gut in das Professorenkollegium und hätte eine bedrohliche »Prussifizierung« der Fakultät vermieden.

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Eine kirchenpolitische Intrige

Das Professorenkollegium fasste den erwähnten Beschluss, Paul Dedic für die einstweilige Vertretung des vakanten Lehrstuhls vorzuschlagen, wurde aber vom zuständigen Ministerium zurückgewiesen16, sodass dessen Supplierung im Wintersemester 1937/38 durch Karl Beth (1872–1959) und Josef Bohatec (1876– 1954) erfolgen musste. Die Fakultät fasste am 17. November 1937 über Antrag der Professoren Bohatec und Fritz Wilke (1879–1957) einstimmig den Beschluss, Dedic, obwohl nicht habilitiert, dennoch primo et unico loco zur Neubesetzung vorzuschlagen17, wie es der verstorbene Lehrstuhlinhaber angeregt hatte18. Doch es gab auch gegensätzliche Meinungen, die diesen Beschluss des Professorenkollegiums torpedierten. Eine Gruppe jüngerer Theologen um den Wiener Jugendpfarrer Georg Traar (1899–1980) missbilligten diesen Beset-

12 Dedic: Der Protestantismus in Steiermark im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 149), Leipzig 1930. 13 Dedic: Geschichte des Protestantismus in Judenburg mit besonderer Berücksichtigung des evangelischen Schulwesens in den Jahren 1572—1598, Graz u. a. 1932. 14 Dedic: Literaturbericht, in: ARG 24 (1927), 320; ders.: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Protestantismus. Sammelbericht über die Epoche 1918–1938, in: ARG 35 (1938), 252–281; ders.: Neue Quellen zur Geschichte des Protestantismus in Innerösterreich, in: ARG 39 (1942), 220–241; Der Kärntner Protestantismus von der Adelsemigration bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts, in: JGPrÖ 59 (1938), 63–165. 15 Leeb: Paul Dedic (s. Anm. 2). 16 Erlass des BMU Zl. 36.098/I/1 vom 27. 10. 1937. 17 Sitzungsbericht Nr. 1 und Bericht an das BMU, D.Z. 95/16. 2. 1938. 18 So Gustav Entz in einem Schreiben an Bischof D. Theodor Heckel, Wien 26. 1. 1938 – Evangelisches Zentralarchiv [EZA] Berlin, Bestand 5/1699.

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zungsvorschlag19, weil sie den fleißigen »Lokalhistoriker« als zu »provinziell« empfanden20. Sie trauten Dedic vor allem nicht zu, einen kirchenpolitischen Umschwung an der Fakultät herbeizuführen und die DC-Orientierung, die sie beim Praktologen Gustav Entz (1884–1957) und beim Neutestamentler Richard Hoffmann (1872–1948) registriert hatten, zu konterkarieren. Dedic, der die Grazer »Kreuzfahrer« von der Wiener Gesamtleitung durch Traar trennte und diese nicht zuletzt aus ideologischen Gründen der Alpenvereinsjugend anschloss21, galt als Sympathisant der NS-Bewegung. Traar sprach in dieser Angelegenheit sogar beim hochangesehenen Historiker und Mitglied der Akademie der Wissenschaften Heinrich Ritter von Srbik (1878–1951) vor, um diese Vorbehalte zu deponieren und die Berufung des »Grazers« zu verhindern22. Dieser verwies ihn an den zuständigen Sektionschef. Für das Ministerium war es ein leichtes, aus formalen Gründen einen ausgeführten Ternavorschlag anzufordern. Vorerst aber fasste das Kollegium einen Beharrungsbeschluss am 22. Jänner 1938, der mit dem Sitzungsprotokoll am 16. Februar an das Ministerium geleitet wurde – vier Tage nach der schicksalsschweren Begegnung des österreichischen Bundeskanzlers mit dem deutschen Reichskanzler am Obersalzberg, um die politischen Koordinaten anzudeuten. Es lag am Professorenkollegium, entsprechende Berufungskandidaten – neben dem favorisierten Dedic – zu nominieren. Dekan Beth hatte sich noch im Herbst 1937 an Hans Lietzmann (1875–1942) in Berlin gewandt23, um geeignete Fachvertreter in Erfahrung zu bringen. Dieser empfahl seine beiden Schüler Hans von Campenhausen (1903–1989) und Hans Georg Opitz (1905–1941), ließ freilich auch durchblicken, welche Grabenkämpfe mit der Schule von Erich Seeberg (1888–1945) zu gewärtigen wären, wenn es um die Besetzung einer Professur ging. Wie Traar dem Österreich-Referenten im Kirchlichen Außenamt Hans Wahl (1900–1946) berichtete, hätte der Alttestamentler Wilke von seinem »Wartburg«Verbindungsfreund Hans Koch (1894–1959) eine Empfehlung für den jungen Erlanger Dozenten Walther von Loewenich (1903–1992) erhalten. Gustav Entz wiederum richtete eine Anfrage an Bischof Theodor Heckel (1894–1967) und deutete bei dieser Gelegenheit an, dass die Fakultät eventuell an den BöhmerSchüler Hans Leube (1896–1947) denke, aber sich in erster Linie für Dedic ein19 Georg Traar: Schreiben an Oberkirchenrat Dr. Wahl, den Österreich-Referenten im Kirchlichen Außenamt, Wien 29. 1. 1938 – EZA Berlin ebd. 20 Mitteilung des Zeitzeugen Erwin Schneider an den Verf. am 24. 10. 1989. 21 Heimo Begusch: Von der Toleranz zur Ökumene, in: Karl Amon/Maximilian Liebmann (Hg.): Kirchengeschichte der Steiermark, Graz u. a. 1993, (466–607) 542. 22 Traar: Schreiben an OKR Wahl. 23 Kurt Aland (Hg.): Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892—1942), Berlin/New York 1979, Nr. 1029, 905–906.

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setze, um dadurch »ein Hereinziehen der Fakultät in die Gegensätze des Kirchenstreites [sic!] zu vermeiden«. Er ließ darüber hinaus auch anklingen, dass sich Srbik über die Vorsprache eines jüngeren Theologen »auf das Höchste erstaunt und befremdet« gezeigt habe – ohne einen Namen zu nennen. Der verärgerte Entz behielt sich jedenfalls vor, »den Oberkirchenrat um Schutz zu bitten gegen derartige Umtriebe u. Diffamierungen, die seit Jahren von einer ganz bestimmten kleinen Gruppe ausgehen«. Traar setzte sich demgegenüber dafür ein, wie er Wahl wissen ließ, dass der Präsident des Oberkirchenrates Viktor Capesius (1867–1953) für eine Kandidatur von Loewenichs gewonnen werde und dieser im Ministerium in diesem Sinne interveniere. Doch die Zeit reichte nicht mehr aus; mit dem Anschluss an Hitlerdeutschland geriet der Besetzungsvorgang in den erwähnten Berliner Konkurrenzkampf. Der Ternavorschlag, den das Kollegium am 28. April 1938 fasste24, sah primo loco Paul Dedic, secundo loco Hans Leube aus Breslau und tertio loco Julius Wagenmann (1901–1944) aus Kiel vor.

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Zum Habilitationsverfahren und dessen Abschluss

Um den beklagten Mangel einer Habilitation zu beseitigen, war Dedic offenbar bestrebt, seine Schrift über den Protestantismus in der Steiermark im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation (Leipzig 1930) als Habilitationsschrift einzureichen. Dieses Verfahren wurde nicht mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt. Schon das Maturazeugnis warf ein Hemmnis auf: Es entsprach nicht der 1934 verschärften Habilitationsnorm25, denn es stammte nicht von einem einheimischen Gymnasium. Deshalb meinte Dekan Beth am 14. Februar 1938 beim Ministerium Rücksprache führen zu müssen, ob die am 6. Juli 1909 am k.k. 1. Deutschen Staatsgymnasium in Brünn absolvierte Reifeprüfung für das angestrebte Habilitationsverfahren anerkannt würde26. Am 1. März 1938 erfolgte die Genehmigung, sie trug die Unterschrift des letzten Unterrichtsministers der Ständestaat-Ära Hans Pernter (1887–1951)27. An demselben Tag trat Dedic der NSDAP bei. Seit 1. 3. 1938 wurde er als Parteianwärter geführt, mit 7. Juli 1939 als 24 Sitzungsbericht Nr. 3 vom 28. 4. 1938 D.Z. 53/8; Bericht des Dekanates, D.Z. 274/15. 9. 1938 an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt. IV – Universitätsarchiv [UA] Wien, Bestand Evangelisch-Theologische Fakultät. 25 § 3 Abs. 2 Habilitationsnorm, StGBl. Nr. 415/1920 i. d. F. BGBl. II Nr. 34/1934. 26 Bericht Dekan Beth an das BMU, D.Z. 172/1937–38, 14. 2. 1938. – UA Wien ebd. 27 Erlass BMU GZ 5332/1 – BMU 1938 Abt. IV Erziehung, Kultus u. Volksbildung GZ 13701/1,a P. Dedic Habilitierung für Kirchengeschichte – Verwaltungsarchiv BMU 4 evang.theol. Fak. Dedic.

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Parteigenosse mit der Mitgliedsnummer 6.349.268. In Graz, der »Stadt der Volkserhebung«, konnten die staatlichen Organe schon seit dem Berchtesgadener Abkommen zwischen Hitler und Schuschnigg am 12. Februar 1938 die NSDAP nicht mehr an ihrem öffentlichen Auftreten behindern28, am 24. Februar wehte vom Grazer Rathaus die Hakenkreuzflagge – zum ersten Mal von einem österreichischen Amtsgebäude29. Dedic’ Habilitationsschrift, seine 1930 in Leipzig im Druck erschienene Darstellung des Protestantismus in der Steiermark im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation wurde laut Gutachten der Professoren Bohatec und Entz approbiert. Von einem Habilitationskolloquium wurde abgesehen; die Probevorlesung fand am 27. April 1938 statt und war dem Thema »Die Bedeutung der Bibel, der Postille und des Gesangbuches für den Geheimprotestantismus in der Zeit der österreichischen Gegenreformation« gewidmet30. Mit dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland änderte sich die Zuständigkeit und verkomplizierte die akademischen Verfahren. Die österreichische Habilitationsnorm galt nicht mehr, sie musste der Reichs-HabilitationsOrdnung weichen. Die Fakultät hatte sich mit Bericht vom 28. 4. 1938 an das Österreichische Ministerium für Unterricht gewandt, um die Bestätigung der Habilitation zu erwirken31. Nun schoben sich zwischen das Wiener Ministerium und das Berliner Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung der Reichsstatthalter in Österreich und das Reichsministerium für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Der mit Bericht des Wiener Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 12. August 1938 nach Berlin gerichtete Habilitationsantrag wurde mit Erlass vom 21. März 1939 retourniert, weil die am 17. Februar 1939 novellierte Reichs-Habilitations-Ordnung eine veränderte Durchführung der Habilitation vorsah: Der Dekan habe die Habilitation durch Ausfertigung eines Diploms zu vollziehen. Nebenbei wurde aber auch zum Ausdruck gebracht, dass der ange-

28 Kurt Bauer: Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938– 1945, Frankfurt a. M. 2017, 21. 29 Stefan Karner: »… des Reiches Südmark«. Kärnten und Steiermark im »Dritten Reich« 1938– 1945, in: Emmerich Tálos u. a. (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2001, (292–324) 301. – Zur Grazer Heilandskirchengemeinde: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht: »So dass uns Kindern eine durchwegs christliche Umgebung geschaffen war«. Die Heilandskirche und ihre »Judenchristen« zwischen 1880 und 1953, Graz 2010, 41–47. 30 Vgl. Dedic: Verbreitung und Vernichtung evangelischen Schrifttums in Innerösterreich im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, in: ZKG 57 (1938), 433–458; ders.: Besitz und Beschaffung evangelischen Schrifttums in Steiermark und Kärnten in der Zeit des Kryptoprotestantismus, in: ZKG 58 (1939), 476–495. 31 D.Zl. 53/6. Bericht Dekan Entz, 28. 4. 1938 – Verwaltungsarchiv Wien [AVA], Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten Nr. IV-2-13701/38.

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fragte Stellvertreter des Führers gegen Dedic in politischer Hinsicht keine Bedenken geäußert habe32. In diesem angedeuteten Kompetenzdschungel verstrich die Zeit. Dedic erlangte schlussendlich wohl im Mai 1939 die Lehrbefugnis33, nahm aber davon keinen Gebrauch. Die Frage der Nachbesetzung des kirchenhistorischen Lehrstuhls wurde in Berlin entschieden und dabei spielte Dedic keine Rolle mehr.

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Die Nachbesetzung der Lehrkanzel für Kirchengeschichte

Als im Mai 1939 das Habilitationsverfahren des Grazer Religionsprofessors Paul Dedic zu einem positiven Abschluss gebracht wurde, hatte der junge Berliner Patristiker Hans Georg Opitz bereits seine Wiener Lehrtätigkeit als »supplierender Lehrbeauftragter« begonnen; ab 23. September 1939 setzte er diese Tätigkeit als Dozent neuer Ordnung fort, um mit Wirkung vom 6. Jänner 1940 zum Ordinarius ernannt zu werden34. Er konnte sich gegen die Mitbewerber Erich Vogelsang (1904–1944), der mit einer Studentengruppe im Rahmen eines Reichsberufswettbewerbs die Los-von-Rom-Bewegung der Jahrhundertwende untersucht hatte und zu Feldforschungen nach Wien angereist war, und Ernst Benz (1907–1978), seit 1937 Professor in Marburg/Lahn, durchsetzen. Doch zunächst schien Benz über die besseren Karten zu verfügen, denn er wurde von Erich Seeberg protegiert und dem in Berlin vorsprechenden Präsidenten des Oberkirchenrates Dr. Robert Kauer (1901–1953), der am 12. März 1938 die Nachfolge des zum Rücktritt gezwungenen Präsidenten Capesius angetreten hatte, ans Herz gelegt. Kauer gelang es tatsächlich, den Marburger Kirchenhistoriker nach Wien einzuladen. Dieser legte sein Forschungsprogramm vor, in dem neben der Edition der lateinischen Predigten Meister Eckharts im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Bearbeitung der Reformationsgeschichte im volksdeutschen Raum auf besonderes Interesse stieß. Seine Absicht ging dahin, die bisherigen lokalgeschichtlichen Ansätze inhaltlich wie methodisch zu vertiefen und diese mit den großen Gesamtbewegungen des religiösen, kulturellen und politischen Lebens der Reformation und der deutschen Frömmigkeitsgeschichte in Verbindung zu bringen. Weiters war Benz daran interes-

32 RM WEV, Erlass WP Dedic d, Berlin 21. 3. 1939 – AVA Wien, Min. f. inn. u. kult. Ang. Nr. IV2–318.482 Bestand 4 evang.theol. Fak. 33 Zu ergänzen daher die Auflistung der Habilitationen in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 3), 529. 34 Ernennungsakt Opitz – Archiv der Republik [AdR] Wien, Bestand Min. f. inn. u. kult. Ang. Nr. IV-2a-349.349/39.

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siert, die Beziehungen der Reformation zur Ostkirche zu bearbeiten35, was von Wien leichter zu bewältigen war, setzte freilich den Einsatz wissenschaftlicher Hilfskräfte und einen entsprechenden Bibliotheksetat voraus. Benz erhielt den Ruf und wurde zu Berufungsverhandlungen eingeladen. Doch seinen schriftlich vorgebrachten Wünschen wurde, wie er in einem Schreiben an Präsidenten Kauer klagte36, »die größte Reserviertheit« entgegengebracht, ja ihm wurden »unerwartet knappe Bedingungen« gestellt – mit der Bemerkung, dass er, wenn er sie nicht annehmen wolle, »möglichst bald zurücktreten (soll), um (…) die Aufnahme der Verhandlungen mit den übrigen Anwärtern [Opitz oder Vogelsang] zu ermöglichen«. In der Zwischenzeit hatte Hans Lietzmann, der wiederholt im zuständigen Berliner Ministerium vorsprach, »um für Opitz etwas zu tun«37, vom dortigen Beamten erfahren, dass Benz den Ruf nach Wien erhalten habe. Das veranlasste ihn, in Marburg die Nachfolge Benz’ zugunsten seines Berliner Assistenten Opitz zu entscheiden, um diesem über Marburg die Rückkehr nach Berlin zu ermöglichen. Wiederholt bezeichnete Lietzmann seinen Schüler Opitz als Wunschkandidaten für seine Nachfolge38, er galt als einer der hoffnungsvollsten Mitarbeiter in der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, dem die Schriftleitung der Theologischen Literaturzeitung übertragen wurde. Dem Ministerium schien ein solches Karussell durchaus gelegen zu kommen und auch Lietzmanns Marburger Briefpartner Hans von Soden (1881–1945) zeigte zunächst Verständnis für diese Vorgangsweise39. Er rückte dann aber ganz entschieden davon ab, als Lietzmann bestätigen musste40, dass Opitz Mitglied der NSDAP war und sich zu den Thüringer Deutschen Christen zählte. Das wirkte sich freilich nicht mehr aus, weil sich die Wiener Berufungsverhandlungen mit Benz zerschlugen und Opitz in Wien zum Zuge kam. Dazu haben zwei Schreiben der NS-Reichsdozentenführung in München (14./17. November 1938) »mit stärkster politischer Empfehlung für Opitz, dagegen mit zurückhaltender Beurteilung über Benz«41 das Ihre beigetragen. Die Tatsache, dass Opitz seit 1. Mai 1937 als Par35 Seine in den Jahren 1938 bis 1940 veröffentlichten Studien wurden neu aufgelegt: Ernst Benz: Wittenberg und Byzanz. Zur Begegnung und Auseinandersetzung der Reformation und der östlich-orthodoxen Kirche, Marburg/Lahn 1949. 36 Schreiben Benz an Kauer, Marburg 10. 1. 1939 – Archiv des Ev. Oberkirchenrates [AEvOKR] Wien, Präsidialakten Z. 921/1939. 37 So Lietzmann an Hans von Soden, 9. 11. 1938, in: Glanz und Niedergang (s. Anm. 23), Nr. 1058, S. 928. 38 Lietzmannbriefe Nr. 1029; 1058; 1062, in: Glanz und Niedergang (s. Anm. 23), S. 906; 928; 931. 39 Von Soden an Lietzmann, 8. 1. 1939, in: Glanz und Niedergang (s. Anm. 23), Nr. 1076, S. 937– 938. 40 Lietzmann an von Soden, 27. 1. 1939, in: Glanz und Niedergang (s. Anm. 23), Nr. 1081, S. 944– 945. 41 Schreiben Dekan Entz an ORR Schwarz/Berlin, Wien 16. 1. 1939 – AEvOKR Wien Z. 921/1939 (Abschrift).

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teimitglied und als Blockleiter der Ortsgruppe Berlin-Friedenau geführt wurde, war geradezu ein Atout im Nachfolgeringen in Wien, von seiner Tätigkeit als Fakultätsvertreter im NS-Dozentenbund einmal ganz abgesehen. Doch dessen Lehrtätigkeit in Wien blieb nur ein knappes Intermezzo, denn schon am 8. Jänner 1940 wurde er zur Kriegsdienstleistung eingezogen. Vom Russlandfeldzug kam er nicht mehr zurück, er fiel am 9. Juli 1941 bei Lemberg/ Lwów. Ab dem zweiten Trimester 1940 wurde der Lehrstuhl für Kirchengeschichte durch den Dozenten Hans Freiherr von Campenhausen suppliert.42 Er blieb bis 1945 als Supplent, es gelang nicht, ihn als Professor zu berufen, obwohl ein diesbezüglicher Besetzungsvorschlag nach einem einstimmigen Beschluss des Professorenkollegiums am 20. Dezember 1941 an das Ministerium gerichtet wurde.43 Den Theologischen Fakultäten wehte ein kalter Wind entgegen, sie sollten nach der Überzeugung der Münchener Parteikanzlei der NSDAP aus den Universitäten entfernt werden44; freiwerdende Professorenstellen wurden konsequent nicht nachbesetzt, sondern durch Dozenten suppliert.

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Das Projekt »Grenzlandfakultät«

Die oben geschilderten Vorbehalte des Braunen Hauses in München gegen die Theologischen Fakultäten betrafen drei Katholisch-Theologische Fakultäten in Österreich, die geschlossen wurden45, während die Wiener Evangelisch-Theologische Fakultät noch die Hoffnung schöpfte, aus ihrer besonderen geopolitischen Lage Vorteile zu lukrieren und sich als wissenschaftliches Zentrum für die protestantische Diaspora im Südosten Europas profilieren zu können. Auch der 42 Wolfgang Wischmeyer: Hans von Campenhausen in Wien, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 3), 209–215; Hans von Campenhausen: Die »Murren« (…). »Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber«, hrsg. von Ruth Slenczka, Norderstedt 2005, 193–202, 222–224, 229–231, 238–239. 43 Bericht Dekan Entz an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, D.Z. 244/15. 1. 1942 – AdR Wien, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen Wiens, Karton 2. 44 Eike Wolgast: Nationalsozialistische Hochschulpolitik und die evangelisch-theologischen Fakultäten, in: Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (s. Anm. 5), (45–79) 66; Kurt Meier: Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin/New York 1996, 436–465. 45 Zu Innsbruck: Erlass vom 20. 7. 1938 – dazu Emerich Coreth: Die Theologische Fakultät Innsbruck. Ihre Geschichte und wissenschaftliche Arbeit von den Anfängen bis zur Gegenwart, Innsbruck 1995, 113–114; zu Salzburg: Erlass vom 12. 9. 1938 – dazu Alois Halbmayr/ Dietmar W. Winkler (Hg.): »… und mit dem Tag der Zustellung dieses Erlasses aufgelassen«. Die Aufhebung der Katholisch-Theologischen Fakultät Salzburg1938, Innsbruck-Wien 2022; zur Vereinigung der Grazer Fakultät mit ihrer Wiener Schwesterfakultät: Erlass vom 29. 3. 1939 – dazu Maximilian Liebmann: Kirche in Gesellschaft und Politik. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Graz 1999, 112.

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Deutsche Fakultätentag hatte im März 1938 die Wiener Fakultät »der pfleglichen Behandlung und großzügigen Ausgestaltung durch das Reich« empfohlen46. In einer Denkschrift »Zur Befriedung der Evangelischen Kirche« hatte der Staatssekretär im Reichskirchenministerium Dr. Hermann Muhs (1894–1962) 1938 die Bedeutung der Theologischen Fakultäten im Protestantismus hervorgehoben, sie als »Ursprung« und als »geistigen Mittelpunkt« bezeichnet und daraus die Möglichkeit abgeleitet, »dass das Reichskirchenministerium zusammen mit dem Reichserziehungsministerium einen neuen staats- u[nd] volksverbundenen Pfarrerstand heranzieht«47. Es ist nicht zu übersehen, dass Dekan Entz bestrebt war, seine Fakultät nach diesem Muster zu stricken – und nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland aus der gewonnenen Situation Kapital zu schlagen. Noch im Verlaufe des Sommersemesters 1938, das mit achtzig Studierenden einigermaßen ausgeglichen bilanzierte, verfasste er ein Memorandum über die Stellung und den Ausbau der Wiener Fakultät zu einem solchen kulturund bildungspolitischen Zentrum für das Volksdeutschtum in Ost- und Südosteuropa (30. Juni 1938)48. Blieb er auch insgesamt vage, was den großzügigen Ausbau der Wiener Fakultät betrifft, so bewies er jedenfalls Verhandlungsgeschick, wenn er plakativ die Reizworte der Stunde einbrachte und seine Fakultät in das grelle Scheinwerferlicht tagespolitischer Dienstbarkeit zerrte. Diese »Maßregel«, nämlich die Transformation der kleinen Fakultät zum »südlichste[n] wissenschaftliche[n]Bollwerk des deutschen Protestantismus«49 empfehle sich, so Entz, auch unter dem »rein nationalen und nationalsozialistischen Gesichtspunkt«. Er begründete dies mit der »Atmosphäre (…) an der Wiener Fakultät«, welche für die »Notwendigkeiten der gegenwärtigen nationalen und politischen Entwicklung« aufgeschlossen sei. Entz konnte sich auf die begeisterte Unterstützung seiner Studierenden verlassen, deren Fachschaftsleiter Leopold Schmettan (1916–1941) einen Schriftsatz verfasste, der diese Überlegungen wirkungsvoll zum Ausdruck brachte50, vom Geist der Stunde tief bewegt. Er ging 46 Memorandum des Vorsitzenden Prof. Hans Schmidt (1877–1953) in Halle/Saale an das Reichswissenschaftsministerium, 23. 3. 1938 – dazu Meier: Die Theologischen Fakultäten (s. Anm. 44), 439. 47 Muhs: Denkschrift 1938 – EZA Berlin, Bestand 50/45, fol. 45. 48 Dekan Entz: Memorandum, Wien 30. 6. 1938 – AEvOKR Wien, Beilage zu Amtsvermerk Präs. Kauer Z. 4690/1938, auszugsweise gedruckt in: Reingrabner/Schwarz (Hg.): Quellentexte, Nr. 131, 334–335. 49 Fritz Wilke: Am Tor des Südostens, in: Ev. Deutschland 3. 4. 1938, 111–112; Gustav Entz: Erinnerungen aus fünfzig Jahren kirchlicher und theologischer Arbeit (1954), auszugsweise abgedruckt in: Karl W. Schwarz (Hg.): Gustav Entz – ein Theologe in den Wirrnissen des 20. Jahrhunderts (StT IV/6), Wien 2012, (13–49) 31. 50 Leopold Schmettan: Vorschläge für Erweiterung und Ausbau der evang[elisch] theol[ogischen] Fakultät zu Wien – Bundesarchiv [BA] Berlin, Bestand Reichskirchenministerium [RKM], Generalakten betr. Österreich. Universitäts- u. theol. Ausbildungswesen Bd. 1 (Okt. 37 – März 41), Nr. 21.715, fol. 51–55.

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von der Tatsache aus, dass die Fakultät schon seit je in dem doppelten Kampf gegen die Bedrohung durch den politischen Katholizismus auf der einen Seite, dann aber auch gegen die »fremdvölkische Bedrohung des Deutschtums (…) im Südostraum« gestellt war und einen »Sammelpunkt für die deutschbewussten und reichsbewussten Kräfte dieses zweifachen Abwehrkampfes« bildete. Aus dieser spezifischen Prägung erwachse der Fakultät eine besondere Verpflichtung im Blick auf das kämpfende Südostdeutschtum: eine Theologie zu lehren, die »noch um den natürlichen Zusammenhang von Volkstumskampf und Glaubenskampf« wisse. Die wissenschaftliche Arbeit müsse so geleitet sein, dass sie den Studierenden das besondere Rüstzeug für ihren »künftigen Lebenskampf« mitgebe, nämlich »inmitten fremder Völker nicht nur ganz Christen, sondern auch ebenso Deutsche zu sein«. Auch gegenüber dem Reich komme der Fakultät diese spezifische Aufgabe treuhänderisch zu, eine Theologie zu entwerfen, die um die natürlichen Zusammenhänge zwischen Volk und Christentum wisse und deshalb die Frage beantworten könne, »die heute das deutsche Volk an die Kirchen stellt und auf die bisher keine theologische Schule Antwort gab«51. Neben dieser »Bollwerk«-Funktion notierte Schmettan aber auch die weitere Aufgabe der Fakultät als »Brücke zu den Staaten des Südostens«. Auch damit würde sich die Fakultät in den Dienst der Reichspolitik stellen, weil es von entscheidender Bedeutung für die politischen Beziehungen zu den »Südostvölkern« ist, dass die orthodoxen Theologen eine Studienmöglichkeit in Wien finden. Diese Stadt als »kultureller Mittelpunkt des Süd-Ostens« eigne sich schon aus historischen Gründen. Auch die im Mittelpunkt stehende Fakultät könnte »bei planvollem Neuaufbau« dieser wichtigen Aufgabe gerecht werden. Freilich setzte dies personelle Ergänzungen des Lehrkörpers voraus und zwar durch jüngere Kräfte von wissenschaftlichem Ruf, die sowohl in der volksdeutschen als auch zwischenkirchlichen Arbeit stünden. Namen wurden vorerst keine genannt, aber immerhin die unmittelbare Beteiligung eines Reichsinstituts als unbedingt erforderlich reklamiert, etwa des Osteuropainstituts in Breslau, dessen Leiter Professor Hans Koch mit der Wiener Fakultät bekanntlich in engster Verbindung stand, hatte er doch dort seine akademische Laufbahn begonnen52. Zwischen den Zeilen war freilich unschwer zu erkennen, auf wen das erwähnte Anforderungsprofil zutraf: es sollte ein volksdeutscher Theologe sein, der sich in diesem doppelten Abwehrkampf bewährt hatte, nämlich der jugoslawiendeutsche Pfarrer D. Gerhard May in Cilli/Celje. 51 So lautete auch ein Ceterum censeo des österreichischen Diasporatheologen Gerhard May, dessen Monographie über die »Volksdeutsche Sendung der Kirche« (Göttingen 1934) Furore machte – dazu Karl W. Schwarz: Gerhard May und der Wiener Lehrstuhl für Diasporawissenschaften, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), (163–187) 174. 52 Karl W. Schwarz: Ein Osteuropäer aus »Profession«: Hans Koch, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), 189–206.

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Verhandlungserfolge und Scheitern von Gustav Entz

Als Dekan Entz Anfang September 1938 im Berliner Reichskirchenministerium vorsprach, um den politischen Rückenwind für sein Projekt auszunützen, deponierte er schon die beiden Namen Gerhard May und Paul Dedic. Letzterer war bei der Neubesetzung der Wiener Lehrkanzel übergangen worden. Im Konzept der Grenzlandfakultät sah Entz eine Professur für österreichische und südostmitteleuropäische Territorialkirchengeschichte vor, für die er Dedic in Vorschlag brachte. Was die Besetzung der vakanten Lehrstühle für Kirchengeschichte und Systematische Theologie (Nachfolge Karl Beth) betrifft, so fiel die Entscheidung in Berlin. Es hat den Anschein, dass Dekan Entz, um mit seinem Projekt erfolgreich zu sein, den Berliner Zentralstellen nach dem Mund redete. Umso beharrlicher agierte er für die Diasporaforschung und die Territorialkirchengeschichte – mit der nicht unbegründeten Hoffnung, dass Berlin den Anschein vermeiden wollte, »als sollte Österreich wie eine eroberte Kolonie behandelt werden«. In diesem Sinne zitierte Entz seinen Berliner Gesprächspartner53. In Wahrheit aber war die Fakultät »zum Dispositionsobjekt deutscher universitärer Personalpolitik« geworden54, zu ersehen an der Besetzung der entsprechenden Ordinariate durch Hans Georg Opitz und den aus Bonn berufenen Hans Wilhelm Schmidt (1903–1991), einem ebenso dem Nationalsozialismus ergebenen »Streber«, von dem Campenhausen nicht nur dessen Charakterisierung als »Zeit und Ewigkeitsschmidt« und »gescheiter Streber« übermittelte, sondern auch die Einschätzung, dass er »vielleicht lieber Philosoph als Theologe geworden wäre«55. Mit seinem Projekt konnte Entz zunächst das zuständige Ministerium überzeugen, vom zuständigen Minister Bernhard Rust (1883–1945) wurde jedenfalls grünes Licht gegeben. Als ersten Erfolg ließ sich verbuchen, dass es eine Koryphäe nach Wien zu locken gelang, den Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948), der geradezu als »Mann der Stunde« im Herbst 1939 in Wien willkommen geheißen wurde56. Obwohl bereits Listen der zu schließenden oder zusammenzulegenden Theologischen Fakultäten kursierten57, gab sich Entz noch der Hoffnung hin, seine Fakultät aufgrund ihres modischen volkstumstheologischen Profils sichern zu können. Aber die Fakultätserweiterung wurde vorerst ad Kalendas Graecas vertagt, seit April 1940 aber endgültig abgesagt. Ein konzentrischer Angriff auf den Bestand der Theologischen Fakultäten vereinte 53 54 55 56

Entz: Erinnerungen (s. Anm. 49), 30–31. Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil (s. Anm. 3), 33. Von Campenhausen: Die »Murren« (s. Anm. 42), 194. So Opitz an Lietzmann, 15. 1. 1940, in: Glanz und Niedergang (s. Anm. 23), S. 986 – dazu Karl W. Schwarz: Gerhard Kittel und seine Lehrtätigkeit an der Universität Wien, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), (118–143) 123. 57 Wolgast: NS Hochschulpolitik, 66; 69–70.

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den Amtsleiter Wissenschaft des Reichserziehungsministeriums [REM] Otto Wacker (1899–1940), die Dienststelle Stellvertreter des Führers (StdF) mit Stabsleiter Martin Bormann (1900–1945), den Leiter des Sicherheitsdienstes (SD) Reinhard Heydrich (1904–1942) und den Beauftragten des Führers für die gesamte weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP Alfred Rosenberg (1893–1946)58. Dieser Phalanx an kirchenfeindlichen Kräften fiel das Entz-Projekt zum Opfer: Die Berufung des jugoslawiendeutschen Pfarrers D. Gerhard May auf den schon genehmigten Lehrstuhl für Diasporawissenschaften wurde zurückgezogen: »Die mit meinem Schreiben vom 19. 10. 1939 erteilte Zustimmung ist durch diese Vereinbarung [vom April 1940] überholt.«59. Zu Dedic hieß es in einer Verfügung an das Reichserziehungsministerium vom 12. August 1940 lapidar60: »Der Berufung des Dr.theol.habil. Dedic muss ich daher meine Zustimmung versagen.« Entz gab noch nicht auf. In einem Privatschreiben an die zuständigen Ministerialräte im Reichserziehungsministerium Hermann-Walter Frey (1888– 1968) und im Reichskirchenministerium Julius Stahn (1898–1945) holte er nochmals weit aus, um die Sinnhaftigkeit seines Projekts darzulegen61. Dabei sparte er nicht mit einschlägigen politischen Propagandaargumenten, pries die Treue der Fakultät zur großdeutschen Idee und als Hort und Zuflucht des Nationalsozialismus in der »nationalen Verfolgungszeit« [in der Ständestaat-Ära 1934–1938], er hob den von Hitler proklamierten »Missionsauftrag« der Ev. Kirche in Österreich im Rahmen des gesamtdeutschen Protestantismus hervor, um mit Emphase die »glückliche Personalunion« zwischen nationalsozialistischer Gesinnung und evangelischer Haltung zu demonstrieren. Ein neues Argument lag in der groß herausgestrichenen Inpflichtnahme der Fakultät für außenpolitische Dienste: sie habe nicht gezögert, den rumänischen Theologen und Kulturpolitiker Professor Nichifor Crainic (1889–1972), Minister für nationale Propaganda in der Regierung Antonescu, ihr Ehrendoktorat zu verleihen (Promotion am 5. November 1940), als dies von der deutschen Gesandtschaft in 58 Wolgast: NS-Hochschulpolitik, 66. 59 BA Berlin, Bestand 62 Di Dienststelle RL Rosenberg, 56/4 Theol. Fakultäten: StdF III/15-Gn. An den Beauftragten des Führers, 30. 11. 1940 (Abschrift): StdF III/15-Gn an REM, 16. 10. 1940 (Abschrift). Zu REM 20. 9. 1940, WP 2384, in dem ein bestehendes Einverständnis zum Ausbau der Wiener Fakultät festgestellt wurde, bemerkte ORR Kurt Krüger vom Stab StdF, dass die beabsichtigte Neuerrichtung einer Professur für Diasporakunde mit der getroffenen Vereinbarung vom April 1940 in Widerspruch stünde. 60 BA Berlin, ebd., brauner Leitzordner, Widerspruch zum Ausbau der Fakultät; abschriftlich StdF (i.V. M. Bormann) III D – Es. 3230/7 an REM zu WP 2104/27. 7. 1940. 61 BA Berlin, RKM, ebd. fol. 101–112 (Brief Entz an Frey [Durchschlag], Wien 8. 10. 1940 [Durchschlag]; Brief Entz an Ministerialdirigent Stahn, Wien 9. 10. 1940) – AdR Wien, Bestand Kurator, Karton 20, Nr. 9781 Brief Entz an den Kurator der Wiss. Hochschulen Wiens, Wien, 17. 10. 1940.

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Bukarest angeregt und von den Berliner Ministerien für Wissenschaft und Äußeres betrieben wurde62. Es sei, so Entz, für seine Fakultät eine hohe Freude, dadurch den politischen und kulturpolitischen Interessen des Reiches einen bedeutsamen Dienst leisten zu können. Umso mehr hoffe er auf den weiteren Ausbau der Fakultät durch die Errichtung der beiden Lehrstühle, »durch deren Bestand die Fakultät erst recht für die Balkan-Deutschen und für die Balkannationen überhaupt Anziehungskraft gewinnen würde«. Nach einer desillusionierenden Intervention des Neutestamentlers Gerhard Kittel bei Reichsleiter Baldur von Schirach (1907–1974) am 21. Jänner 194163 ließ Entz abermals über das Reichskirchenministerium im Reichserziehungsministerium urgieren64. Das erbrachte nach mehr als einem halben Jahr das Ergebnis, dass die Besetzung der beiden Lehrstühle »bis zum Kriegsende zurückgestellt« würde65. Im März 1944 unternahm Dekan Entz einen erneuten Vorstoß, um sein Projekt zu realisieren. Er verfasste eine an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gerichtete Denkschrift, in der er die kulturpolitische Bedeutung der Wiener Fakultät für den Südosten Europas hervorstrich. Es ist im Wesentlichen dieselbe Gedankenführung, dass die deutschen Volksgruppen auf die Hilfsarbeit der deutschen lutherischen Kirchen angewiesen seien und in der Förderung ihrer kirchlichen Belange durch die Errichtung jener Lehrstühle an der Wiener Fakultät auch zugleich eine Förderung und Sicherung ihrer nationalen Eigenart sähen. Neu hingegen ist, dass Entz argumentativ auf die gewonnenen Kontakte zur orthodoxen Theologie zurückgriff und etwa den Studiengang einiger orthodoxer Theologen (bis hin zur Promotion) zu einem kulturpolitischen Dienst für das »Großdeutsche Reich« stilisierte66. Wenige Wochen später musste Entz die Umwandlung des nicht zur Besetzung freigegebenen Lehrstuhls für Diasporakunde in einen solchen für Bulgarische Sprachen und Literatur an der Universität Graz67 zur Kenntnis nehmen und dem in Aussicht genommenen Lehrstuhlinhaber Gerhard May Bescheid geben68. Er 62 Dazu eingehend Karl W. Schwarz: Eine politisch motivierte Ehrenpromotion an der Universität Wien im Jahre 1940, in: ders.: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), 145–161. 63 Dazu Schwarz: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), 125–126. 64 BA Berlin, RKM, Generalakten betr. Österreich Bd. I, 21.715, fol. 111: RKM an REM, Z.I 12980/ 40. 12940, 30. 1. 1941. 65 BA Berlin, RKM, ebd. fol. 115: REM an RKM WP 914/41, 4. 8. 1941. 66 Gustav Entz: Die kulturpolitische Bedeutung der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät in Beziehung auf Süd-Ost-Europa, masch. Manuskript, Wien 22. 3. 1944, gerichtet an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin – in Abschrift bei Schreiben Dekan Entz an Präsident Dr. Heinrich Liptak, Wien 24. 3. 1944 – AEvOKR Wien Registratur A 44/1 (Beilage zu OKR Z. 2189/44). Vgl. insgesamt dazu Schwarz: »Wie verzerrt ist nun alles!« (s. Anm. 5), 157–160. 67 AdR Wien, Kurator, Karton 13 – REM Erlass WP 1922/25. 10. 1944. 68 AEvOKR Wien, Registratur A 44/6 – Dekan Entz an Bischof May, Wien 20. 11. 1944.

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hatte wohl schon resigniert, auch wenn er nochmals beim Präsidenten des Deutschen Fakultätentages Dekan Hans Schmidt in Halle/Saale und im Reichskirchenministerium um Intervention zugunsten der Wiener Fakultät ansuchte. Es war vergebens. May war zudem in der Zwischenzeit als geistlicher Rat in den Wiener Oberkirchenrat mit dem Amtstitel »Bischof« berufen worden69. Was den territorialgeschichtlichen Lehrstuhl für Dedic betrifft, so war den weiteren Verhandlungen des Wiener Dekans mit Berlin auch dazu kein Erfolg beschieden. Es gelang nicht einmal eine Dienstzuteilung nach Wien, dass er nämlich bei seiner Ernennung zum Dozenten neuer Ordnung in seinem dienstlichen Charakter als Studienrat belassen bleibe, aber von seiner bisherigen Lehrverpflichtung an Höheren Schulen in Graz enthoben und mit einem Lehrauftrag für die Geschichte des Protestantismus in Österreich betraut werde70.

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Dedic’ Wechsel in den Archivdienst

Seit 1938 verfolgten die neuen Machthaber eine Politik der »Entkonfessionalisierung des ostmärkischen Schulwesens«. Einer der schärfsten Propagandisten dieser Absichten war der von der Münchener Parteikanzlei auf den Wiener Minoritenplatz beorderte Oberregierungsrat Kurt Krüger (1906–1987), der mit Schreiben vom 23. Dezember 1939 eine stolze Bilanz seiner diesbezüglichen Maßnahmen vorlegte71. Es handelt sich dabei um ein verwirrendes Rechtskonglomerat unterschiedlicher territorialer und schultypenspezifischer Geltung – jedoch mit der klaren Tendenz, den Religionsunterricht bzw. »Konfessionsunterricht« auszugrenzen und als dem Schulunterricht gegenüber »wesensfremd« zu entfernen72. Paul Dedic sah sich deshalb veranlasst, in den Archivdienst zu wechseln. Was im Blick auf die Wiener Fakultät nicht gelang, erreichte Dedic in Graz, die Dienstzuteilung an das Steiermärkische Landesarchiv73. Er blieb aber formal weiterhin als Studienrat im Dienststand des Landesschulrates. 69 Quellentexte Nr. 228 (Wien 20. 7. 1944), 474. 70 AdR Wien, Kurator, Karton 13 – Bericht Dekan Entz, 11. 4. 1940 über aktuelle Desiderata der Fakultät. 71 Kurt Krüger: Entkonfessionalisierung der Erziehung in der Ostmark, in: Gertraud Grünzinger (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches 6/1: Die Kirchenpolitik in den ein- und angegliederten Gebieten (1938–1945), Gütersloh 2017, 357–370. 72 Karl Schwarz: Staatskirchenrechtliche Regelungen für den Religionsunterricht in Österreich, in: Jörg Ohlemacher (Hg.): Religionspädagogik im Kontext kirchlicher Zeitgeschichte (ARp 9), Göttingen 1993, (218–234) 224–227; dazu Quellentexte Nr. 203: Franz Fischer: Religionsunterricht. Zusammenstellung der wesentlichen Bestimmungen (5. 11. 1941), 433–436. 73 Steiermärkisches Landesarchiv [StLA] Graz, Bestand LSchRalt – 2 D – 9/1927 (Paul Dedic) K. 1259 – hier Verweis auf Erlass des Reichsstatthalters vom 29. 7. 1941, Zl. II d – 556 De 1/74. Dazu insgesamt Reiner Puschnig: Paul Dedic †, in: Zeitschrift des Historischen Vereins der Steiermark 42 (1951), 168–173.

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Dedic verfügte über ausgezeichnete Kenntnis der Archivarbeit und aller einschlägigen Archive in der Steiermark und in Kärnten und förderte einen Beitrag nach dem anderen zum Druck. Im Zeitraum zwischen 1939 und 1945 waren dies an die zwanzig Studien74 und Monographien75. Im Auftrag des Reichspropagandaamtes Steiermark gestaltete Dedic im Rahmen der Ausstellung »Der Freiheitskampf der Steiermark« den Abschnitt über Reformation und Gegenreformation76 und verknüpfte auf diese subtile Weise das Anliegen der Reformation und den trutzprotestantischen Widerstand in der Ära der Gegenreformation mit antiklerikalen Positionen der Gegenwart. Auch in der Grazer Tagespost nahm er das Wort, ebenso in der bedeutendsten österreichweiten Kirchenzeitung, dem in Graz verlegten »Säemann«. Alle seine Publikationen zeichneten ihn als kundigen Archivar und Quelleninterpreten aus und qualifizierten ihn als Lehrer dieser territorialbezogenen Kirchengeschichte. Außerdem oblag ihm im Rahmen der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich die Herausgabe des Jahrbuchs77, die er nach den vier Jahrgangsbänden 1938, 1939, 1940 und 1941 durch die Edition der nachgeholten Kriegsjahrgänge 1942–1945 besorgte. Daher versteht es sich von selbst, dass nach dem zweiten Weltkrieg der noch immer amtierende Dekan Gustav Entz den Versuch unternahm, Dedic für die verwaiste Lehrkanzel für Kirchengeschichte in Vorschlag zu bringen. Das wurde 74 Dedic: Zur Frage der kirchlichen Organisation des Luthertums in Mähren im Reformationsjahrhundert, in: JGPrÖ 60 (1939), 7–48; ders.: Die Einschmuggelung lutherischer Bücher nach Kärnten in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts, in: JGPrÖ 60 (1939), 126–177; ders.: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Protestantismus, in: ARG 35 (1938/ 39), 252–281; ders.: The Social Background of the Austrian Anabaptists, in: The Mennonite Quarterly Review 13 (1939), 5–20; ders.: Geschichtlicher Überblick, in: Hans Eder (Hg.): Die evangelische Kirche in Österreich. Blüte, Not und neuer Aufbau, Berlin 1940, 9–81; ders.: Die Maßnahmen Maria Theresias gegen die Oberennstaler Protestanten bis zur Errichtung der steirischen Konversionshäuser, in: JGPrÖ 61 (1940), 73–155; ders.: Die Verpflanzung steirischer Familien nach Ungarn in den Jahren 1752 bis 1765, in: Das Joanneum 2 (1940), 139–150; ders.: Die Gegenreformation in der Herrschaft Veldes, in: Carinthia I (1941), 410–437; ders.: Der Geheimprotestantismus in den Vikariaten Schladming und Kulm-Ramsau in den Jahren 1753–1760, in: JGPrÖ 62 (1941), 40–180; ders.: Neue Quellen zur Geschichte des Protestantismus in Innerösterreich, in: ZKG 39 (1942), 220; ders.: Nachwirkungen der großen Emigration in Salzburg und Steiermark, in: JGPrÖ 65/66 (1944–1945), 71–134. 75 Dedic: Der Geheimprotestantismus in Kärnten während der Regierung Karls VI. (1711–1740) (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 26), Klagenfurt 1940; ders.: Die Bekämpfung und Vertreibung der Protestanten aus den Pfarren Pürgg und Irdning im steirischen Ennstal (Buch der deutschen Forschungen in Ungarn), Budapest 1940; ders.: Reformation und Gegenreformation in Bruck an der Mur und im Mürztal (Sonderdruck des JGPrÖ 63–64 [1942–1943]). 76 Schreiben Entz an MinR Dr. Frey, Wien 8. 10. 1940. – AdR, Kurator, Karton 20, Nr. 9781 (Abschrift). 77 Karl Schwarz: 125 Jahre »Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich« im Spiegel ihres Vorstands (1879–2004), in: JGPrÖ 120 (2004), (33–46) 37.

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aber wegen dessen Parteimitgliedschaft bei der NSDAP kategorisch zurückgewiesen78. Im Archivdienst79 leitete Dedic eine Archivabteilung (in der Grazer Hamerlingstraße), da fast alle Beamten durch Einberufung zur Wehrmacht dem Archiv entzogen waren. Er nahm auch die Aufsicht über die Bergung des Archivgutes wahr, die infolge der wachsenden Bombenbedrohung besonders relevant wurde. An 18 Ausweichstellen in der Ost- und Obersteiermark sowie im oberösterreichischen Salzkammergut richtete er Bergungsstellen ein und verlagerte er das etwa 250.000 Kilogramm wiegende Archivgut. Dass somit »die wertvollsten Bestände eines der größten österreichischen Archive erhalten geblieben sind«, war insbesondere ein Verdienst von Prof. Dedic. Ihm waren auch die Rückführungen der Archivalien anvertraut80. Die Archivleitung betrieb, unterstützt durch den ausdrücklichen Wunsch der britischen Offiziere der »monuments and fine art branches«, die weitere Beurlaubung Dedic’ vom Mittelschuldienst. Das wurde mit Erlass vom 30. Oktober 1945 (Zl. 6–370 D 3/12–1945) verfügt, sodass die Rücktransporte unter seiner persönlichen Leitung in 87 Lastautoladungen und 84 Fahrten bis zum 16. Oktober 1948 erfolgen konnten. Das musste mit den Wiederherstellungsarbeiten der zerstörten Archive in Graz koordiniert werden, gefolgt von der diffizilen Einordnung und Wiederaufstellung des Archivgutes. Auch dafür war die weitere Tätigkeit Dedic’ unbedingt erforderlich, denn er verfügte über die gründlichste Kenntnis der Archivalien des 16. bis 18. Jahrhunderts. Das höchste Lob der Archivleitung und die wiederholten Ansuchen um Sonderremunerationen für Dedic können aber nicht über dessen prekäre dienstrechtliche Situation hinwegtäuschen.

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Politische Beanstandung nach dem 2. Weltkrieg

Dedic war nach wie vor dem Landesschulrat dienstrechtlich zugeordnet, aber seit 1941 dem Landesarchiv dienstzugeteilt. Nach Kriegsende holte ihn seine politische Option für die NSDAP ein. Die Leitung des Archivs setzte sich schon seit 78 Entz: Paul Dedic (s. Anm. 4), 215. 79 StLA Graz, Personalakt Dedic – K. 1941-47 – In diesem Akt steht am ersten Blatt der mit 1. Juni 1945 datierte Aktenvermerk, dass der Vorakt wie alle übrigen Personal- und Beiakten über Auftrag des Reichsstatthalters am 4. oder 5. April 1945 verbrannt wurden. Im Folgenden beziehe ich mich auf den Akt »Weiterbeschäftigung« Prof. Dr. Paul Dedic, Begründung zu GZ 6-370 D 5/5-50 – Schreiben der Abt. 6 an die Abt. 1 der Steiermärkischen Landesregierung, Graz 12. 2. 1950. 80 Reinhold Aigner: Zur Rückführung der im Zweiten Weltkrieg verlagerten Bestände des Steiermärkischen Landesarchivs nach Graz 1945 bis 1946. Aus meinem Tagebuch, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 41 (1991), 49–82.

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7. August 194581 für die Weiterverwendung ihres »Bergungsreferenten« ein und betrieb dessen »Freistellung« von den für registrierpflichtige Nationalsozialisten angeordneten Aufräumungsarbeiten. Das hatte die Rückfrage seitens der Personalabteilung zur Folge, ob für eine Weiterbeschäftigung beim Archiv eine »zwingende Notwendigkeit« bestünde82. Sie wurde umgehend bestätigt83: Dedic sei »unabkömmlich«. Er übe derzeit Verwaltungstätigkeit aus, arbeite am Rücktransport des geborgenen Archivgutes und stelle das Archiv neu auf. »Dedic hat sehr viel zu tun. Es kann auf ihn keinesfalls verzichtet werden«. Die Landeshauptmannschaft nahm dies zur Kenntnis84 und ordnete die Auszahlung seiner Dienstbezüge an85, leitete den Akt am 6. September 1945 an die Personalvertretung zur Überprüfung in politischer Beziehung weiter. Davon unabhängig war die Verlängerung der Dienstzuteilung an das Archiv vom Landesschulrat mit Bescheid vom 22. Oktober 1945 genehmigt worden. Die politische Beurteilung von Paul Dedic war freilich widersprüchlich. Die SPÖ-Lokalorganisation Waltendorf-Ruckerlberg verwies in ihrem Gutachten vom 26. Juli 1946 auf Dedic’ Parteimitgliedschaft und dessen Einsatz für die NSDAP. Die ÖVP Bezirksstelle Graz II stellte mit Schreiben vom 10. April 1946 fest, dass Dedic illegales NSDAP-Mitglied bis zur Kapitulation gewesen sei, ein »fanatischer Propagandist«, der »diese Tätigkeit mit seiner Frau noch heute fortsetzen (soll)«. Er sei bei seinen Mitmenschen äußerst unbeliebt und soll nach deren Aussagen im März-April 1945 geäußert haben, dass »Erschießungen abgesprungener alliierter Flieger gutzuheißen wären«. Die Polizeidirektion Graz Abt. II konstatierte demgegenüber, dass bei Dedic »eine illegale NS-Betätigung weder durch Unterlagen noch durch Zeugenaussagen nachweisbar« sei. Wie durch einwandfreie Zeugen bestätigt, habe sich der Genannte weder aktiv noch propagandistisch für die NSDAP betätigt. Auch sonst könne in politischer Hinsicht nichts Nachteiliges berichtet werden86. Als Ergebnis dieser Erhebungen verlangte die Provisorische Personalvertretung für Steiermark87 Ende November 1946 die sofortige Entlassung nach § 14 des Verbotsgesetzes und begründete dies mit der Mitgliedschaft beim Deutschen Alpenverein, Deutschen Schulverein Südmark, bei der Großdeutschen Partei und der NSDAP. 81 StLA Graz – Archiv an die Landeshauptmannschaft AZ 43/3-1945, Graz 7. 8. 1945. 82 StLA Graz – ebd. Schreiben Dr. Türk an Abt. 6, Graz 16. 8. 1945. 83 StLA Graz – ebd. Landeshauptmannschaft zu Zl. 75 De 2/8-45 Abt I b, AV Dr. Waltendorfer, 31. 8. 1945. 84 StLA Graz ebd. Landeshauptmannschaft [LH] zu Zl. Ib – 75 De 2/8-45, Graz 3. 9. 1945. 85 StLA Graz ebd. LH an die Besoldungsstelle, Graz 27. 9. 1945. – Hier die handschriftliche Notiz: »Über Dr. Paul Dedic wurde nichts Nachteiliges in Erfahrung gebracht«. 86 StLA Graz ebd. Polizeidirektion Graz Abt. II Zl. 3289/1/45. 87 StLA Graz ebd. Prov. Personalvertretung bei der Landeshauptmannschaft für Steiermark Zl. PV De 3/6-1946, Graz 30. 11. 1946.

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Um dies zu verhindern, sprach die Leiterin des Landesarchivs Frau Dr. Adelheid Netoliczka (1875–1958) am 13. Februar 1947 in der Landeshauptmannschaft vor und ersuchte um die Verlängerung der Dienstzuteilung, da Dedic »für diese Tätigkeit besonders befähigt ist und sich seiner Arbeit mit besonderer Hingabe widmet«88. Bis zur Durchführung des »neuen Nationalsozialistengesetzes« wurde die Entscheidung vertagt, wobei noch einmal die Klarstellung erfolgte, dass Dedic weder Vertragsangestellter noch Beamter des Amtes der Landesregierung sei, sondern als Mittelschulprofessor zum Zwecke der Leistung von Archivarbeiten vom Landesschulrat beurlaubt worden sei, aber von diesem besoldet werde89. Als »Minderbelasteter« richtete Dedic ein Ansuchen um Weiterbelassung im Dienst90. Der Landesschulrat stellte daraufhin fest91, dass die Personalvertretung der Verwendung von Dedic im Lehrdienst nicht zugestimmt habe, und richtete an das Amt der steiermärkischen Landesregierung die Anfrage, ob er von dieser in den neuen Personalstand übernommen würde. Andernfalls müsste beim Bundesministerium für Unterricht dessen Pensionierung beantragt werden. Die Antwort, datiert mit 11. Oktober 1948, war negativ: Der im Landesarchiv beschäftigte Mittelschulprofessor Dr. Paul Dedic werde in den neuen Personalstand des Amtes der steiermärkischen Landesregierung nicht mehr übernommen92. Die Folge davon war, dass Dedic gemäß § 8 Abs. 2 lit. c des Beamtenüberleitungsgesetzes (StGBl. Nr. 134/1945) in den dauernden Ruhestand versetzt wurde93. Das Ruhestandsdekret wurde am 13. Februar 1950 von Dedic übernommen und der Ruhestand mit 1. März 1950 angeordnet. Schon mit 12. Februar 1950 hatte über Intervention der Direktion des Landesarchivs die Abteilung 6 der Landeshautmannschaft den Antrag gestellt, dass Dedic ab 1. März 1950 weiterhin dem Archiv zu erhalten sei – »gegen Gewährung der Differenz zwischen seinen Aktivbezügen und dem Ruhegenuss«. Das wurde auch ausdrücklich vom zuständigen Landesrat Udo Illig (1897–1989) bestätigt – ein spätes Zeichen der Wertschätzung des Archivars und Wissenschaftlers Paul Dedic. Es konnte leider nicht mehr vollzogen werden, denn schon am 20. März 1950 verstarb Dedic im Alter von 60 Jahren. Er war schon seit 1947 an Krebs erkrankt, fand aber immer wieder den Weg vom Krankenlager ins Archiv und arbeitete buchstäblich bis zum

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StLA Graz ebd. AV 75 Dr. Niederdorfer, 13. 2. 1947. StLA Graz ebd. AV Dr. Niederdorfer, 11. 3. 1947. StLA Graz ebd. Zl. 1–75 De 2/12-47. StLA Graz ebd. LSchR GZ III De 5/4-48, Graz 18. 8. 1948 an Amt der Landesregierung Abt. 1 zu PD PA 1-75 De 2/12-1947. 92 StLA Graz ebd. 93 StLA Graz ebd. – Bescheid des Bundesministeriums für Unterricht Zl. 91.311-IV/17b/1948, Wien 5. 1. 1950.

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Tod an der maschinellen Reinschrift seiner großen Arbeit über den Geheimprotestantismus in der Steiermark94.

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Fazit

Es war die Absicht dieses Beitrags, an Paul Dedic zu erinnern, »der es verdient hätte, (…) Völkers Nachfolger zu werden«95. Er ist es nicht geworden trotz bester Voraussetzungen, sondern gilt im Rahmen der Fakultätsgeschichte des 20. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht als »politisches Opfer«: vor dem März 1938, nach dem März 1938 und nach dem Mai 1945. Dennoch verdient festgehalten zu werden, dass seine quellenorientierten Forschungsergebnisse auch heute noch zur Grundlage unserer territorialgeschichtlichen Arbeit genommen werden. Als Erforscher des Kryptoprotestantismus war Dedic wegweisend, seine Studien über den Bücherschmuggel und über die theologische Prägung der Geheimprotestanten durch die eingeführte Literatur zählen noch heute zum Standard. Auch für die Täuferforschung leistete er Enormes. Leider konnte er selbst seine Sammlung von mehr als 1.800 Dokumenten nicht herausgeben oder monographisch zu Ende bringen, aber aus seinen Artikeln im Mennonitischen Lexikon ist zu ersehen, mit welcher Kompetenz er auch dem linken Flügel der Reformation gerecht zu werden vermochte. Seine Sammlung der Kärntner Exulanten des 17. Jahrhunderts, erschienen in mehreren Folgen im Jahrbuch des Kärntner Geschichtsvereins »Carinthia«, wurde neu aufgelegt96 und ist eine wichtige Grundlage für die Exulantenforschung. Die politische Intervention im Herbst 1937 gegen den Besetzungsvorschlag des Professorenkollegiums verzögerte das Verfahren und ermöglichte dem Berliner Reichsministerium eine politische Weichenstellung zugunsten eines protegierten DC-Theologen aus Berlin, der allerdings als Mitarbeiter in der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften über hervorragende wissenschaftliche Referenzen verfügte. Dass der Urheber jener Intervention Paul Dedic, den er als provinzielle Fehlbesetzung empfand, mehr als dreißig Jahre später für die Wolke von Zeugen reklamierte und ihn als Forscher und Lehrer würdigen konnte97, darf mindestens 94 Entz: Paul Dedic (s. Anm. 4), 216. 95 Peter F. Barton: Vom Kaisertum Österreich zur Massendemokratie der Republik Österreich. Hundert Jahre »Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich«, in: JGPrÖ 96 (1980), (11–52) 35. 96 Dedic: Kärntner Exulanten des 17. Jahrhunderts: Ergänzungen und Berichtigungen von Gustav Adolf von Metnitz, Klagenfurt 1979. 97 Georg Traar: Paul Dedic (…). Der Forscher und Lehrer, in: ders.: Eine Wolke von Zeugen, Wien ²1974, 295–299.

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als Akt einer posthumen Entschuldigung gewertet werden, vielleicht auch als ein Stück Selbstkritik.

Anna Hager

Darf ein Muslime frohe Weihnachten und frohe Ostern wünschen? Eine inner-islamische Polemik um eine soziale Praxis im post-revolutionären Ägypten (2011–2013)

Abstract Following the Arab Spring, Islamist and Salafi movements, among them the Muslim Brotherhood, the Salafi Nur Party and its mother organisation ad-Daʿwa as-Salafiyya as ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya, emerged as key political actors. At first, these actors surwell as al-G prised with moderate comments towards the Christian community of Egypt. However, the Christmas celebrations and the question whether Muslims could attend these or even wish merry Christmas triggered fierce polemics opposing moderate Islam – al-Azhar, the Mufti – to these Islamist and Salafi actors. These polemics occurred for Easter too. This article argues that this apparently minor issue is in fact a wide-spread social practice in the Middle East and highlights the core theological – and a result, political – attitudes of these various Muslim, Islamist and Salafi actors towards Christian Egyptians.

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Einleitung

Der Sturz von Präsident Husnı¯ Muba¯rak1 im Februar 2011 gab Anlass zu großer ˙ Ungewissheit, eröffnete aber auch neue Möglichkeiten für Ägypten. Zu einem traten islamistische und salafistische Kräfte schnell in den Vordergrund, obwohl sie sich während der Revolution weitgehend zurückgehalten hatten. Einige von ihnen, darunter die Muslimbruderschaft, gründeten politische Parteien. Zum anderen warf dies die Frage nach der Zukunft der ägyptischen Christen auf, welche ca. 6–15 % der Bevölkerung darstellen und unter ihnen stellte die koptisch-orthodoxe Gemeinschaft die demographisch wichtigste christliche Gruppe dar2. Wie die meisten islamistischen Kräfte, hatten sich die Kirchen anfangs von den Protesten – an denen auch junge Kopten teilnahmen – distanziert3. Anschließend warnte der damalige Patriarch Sˇinu¯da III. in der Kirchenzeitung al-

1 Es wird die Transkription der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft verwendet. 2 Angie Heo: The Political Lives of Saints: Christian-Muslim Mediation in Egypt, Oakland 2018, 2. 3 Siehe Anna Hager: Die Kopten und der Arabische Frühling. Zwischen politischer Emanzipation und Minderheitenstatus, in: Études Asiatiques/Asiatische Studien 72 (2018), 795–817.

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Anna Hager

Kira¯za vor einem baldigen Machtanritt der Islamisten,4 was durch die raschen Wahlerfolge der Islamisten bestätigt schien. Nichtsdestotrotz überraschten einige Islamisten und Salafisten mit anfangs sehr moderaten Aussagen gegenüber den christlichen Ägyptern, wie etwa der Sprecher der salafistischen Nur Partei im Dezember 2011: »die Haltung der Nur [Partei] gegenüber den Kopten ist sehr klar darin, dass sie sie als Partner in der Nation betrachtet: Sie sind ein ursprünglicher Teil der Kinder des ägyptischen Volkes […] mein Recht ist sein Recht und mein Schicksal ist sein Schicksal«5. Diese Aussage erfolgte im Dezember 2011 während der Parlamentswahlen. Doch gleichzeitig brach eine Debatte unter den Islamisten aus, ob sie an den Weihnachtsfeierlichkeiten der Christen teilnehmen sollen, geschweige denn den Christen frohe Weihnachten wünschen sollen. Diese Polemik brach bis zum Sturz von Muhammad Mursı¯, einem ehemaligen Muslimbruder, anlässlich aller ˙ wichtigsten christlichen Feste aus. Somit gewann eine seit Jahren in salafistischen Kreisen anhaltende Debatte an breiter Relevanz. Derartige soziale Praktiken wurden aber von den offiziellen islamischen Instanzen – al-Azhar und dem Mufti – befürwortet und gefördert. Diese Kontroverse bedrohte die politische Zukunft der Islamisten und Salafisten, weil sie als zu radikal hätten auftreten können. Nichtsdestotrotz verlief die Debatte nicht nur zwischen Kopten und Islamisten, sondern auch zwischen moderatem Islam und Islamisten und innerhalb der islamistischen Parteien. Dieser Aufsatz befasst sich somit mit einer auf dem ersten Blick nebensächlichen Frage, die aber symptomatisch dafür war, wie die ägyptischen Islamisten den Platz der Christen definierten. Diese Frage wird nicht nur aus ihrer theologischen und scharia-rechtlichen Perspektive beleuchtet werden, sondern auch aus einer sozialen und politischen. Denn es handelt sich dabei um ein bedeutendes Element christlich-muslimischer Beziehungen, da es Gegenseitigkeit und Gleichheit impliziert. Für Yvonne Yazbeck Haddad und Rahel Fischbach ist es eine Form des interreligiösen Dialogs: »The ritualistic and ceremonial interfaith dialogue model, in which religious leaders participate in each other’s religious ceremonies, or laypeople collaborate in organizing their religious festivities, such as ifta¯r dinners, and so on«6. Die Frage nach der islamischen Rechtmäßigkeit für Muslime, an christlichen Festen teilzunehmen und Wünsche auszusprechen hat eine theologische Grundlage, doch auf diesem theologischen

4 Hager: Die Kopten und der Arabische Frühling (s. Anm. 3), 802. 5 Asˇ-Sˇuru¯q: »‫ ﺃﺗﻴﻨﺎ ﻟﻨﻌﻤﺮ ﻻ ﻧﺨﺮﺏ …ﻭﻻ ﻳﻤﻜﻨﺎ ﺇﻟﻐﺎﺀ ﺍﻻﺗﻔﺎﻗﻴﺎﺕ‬:‫ﺍﻟﺸﺮﻭﻕ ﺗﺤﺎﻭﺭ ﺍﻟﺪﻛﺘﻮﺭ ﻳﺴﺮﻯ ﺣﻤﺎﺩ ﺍﻟﻤﺘﺤﺪﺙ ﺑﺴﻢ ﺣﺰﺏ ﺍﻟﻨﻮﺭ‬ ‫«ﺍﻟﺪﻭﻟﻴﺔ …ﻭﺍﻷﻗﺒﺎﻁ ﺷﺮﻛﺎﺋﻨﺎ ﻓﻲ ﺍﻟﻮﻃﻦ‬, 18. Dezember 2011, Nummer 1051, 15. 6 Yvonne Yazbeck Haddad/Rahel Fischbach: Interfaith Dialogue in Lebanon: Between a Power Balancing Act and Theological Encounters, in: Islam and Christian-Muslim Relations 26 (2015), (423–442) 424.

Darf ein Muslime frohe Weihnachten und frohe Ostern wünschen?

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Ansatz fundierte die politische Haltung der islamischen Kräfte gegenüber den christlichen Ägyptern. Dieser Artikel verfolgt einen mikro-historischen Ansatz, indem Weihnachten 2011/2012 (das koptische Weihnachten findet Anfang Jänner statt), Weihnachten 2012/2013 sowie Ostern 2013 als Kristallisierungspunkte für die grundlegenden theologischen und politischen Ansichten von islamistischen Akteuren wie der ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya sowie Muslimbruderschaft, der salafistischen Nur Partei, al-G von al-Azhar betrachtet werden. Es werden Medienartikel, religiöse Gutachten (Fatwas) und Aussagen dieser Akteure herangezogen. In einem ersten Schritt wird der post-revolutionäre Kontext näher beleuchtet, anschließend die unterschiedlichen Aussagen zu den christlichen Festen nebeneinandergestellt, welche im dritten Teil auf ihre theologischen Grundlagen hin analysiert werden.

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Die post-revolutionäre Phase

In den Jahren vor dem Arabischen Frühling war es aufgrund mehrerer Faktoren zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen christlichen und muslimischen Ägyptern gekommen. Erstens hatte die erniedrigende Niederlage gegen Israel im ˇ ama¯l ʿAbd an-Na¯sir Sechstagekrieg (1967) den arabischen Nationalismus von G ˙ diskreditiert. In Folge setzte der Nachfolger von an-Na¯sir Anwar as-Sa¯da¯t auf ˙ islamistische Kräfte, um die linken Kräfte zu schwächen. Später setzte Präsident Husnı¯ Muba¯rak auf die salafistische Bewegung als Gegengewicht zur Muslim˙ bruderschaft. Gleichzeitig erstarkte die Religiosität allgemein im Land: »Egyptian society has given birth to comparable phenomena in both communities: packed mosques and overcrowded parishes, inflammatory Muslim preachers and an authoritarian clergy, militant Islamists and combative monks«7. Die 1928 gegründete Muslimbruderschaft fand langsam aus dem Untergrund heraus, zu dem sie die Repression von an-Na¯sir gezwungen hatte. In den 1970er ˙ wurde eine salafistische Organisation, ad-Daʿwa as-Salafiyya, in Alexandria gegründet, die nach der 2011 Revolution die salafistische Nur Partei aufstellte. AdDaʿwa as-Salafiyya kann als quietistisch bezeichnet werden und befasste sich vor allem mit der Predigt und Lehre eines von vermeintlich fremden und korrupten Einflüssen bereinigten Islams8. Zu diesen Einflüssen gehörte auch die Teilnahme 7 Catherine Mayeur-Jaouen: What do Egypt’s Copts and Muslims share? The Issue of Shrines, in: Dionigi Albera/Maria Couroucli (Hg.): Sharing Sacred Spaces in the Mediterranean: Christians, Muslims, and Jews at Shrines and Sanctuaries, Bloomington 2012, (148–173) 167. 8 Siehe Anna Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹: Islamist Attitudes towards Coptic Egyptians in Post-Revolutionary Egypt (2011–2013), in: Islam and Christian-Muslim Relations 29 (2018), (289–308) 291.

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Anna Hager

von Muslimen an koptischen Walfahrten und religiösen Festen9. Außerdem gab es ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya, die in den militante Auswüchse des Islamismus, darunter al-G 1980er und 1990er Jahren Kopten in Oberägypten zwangen, die Kopfsteuer (g˘izia) ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya wurden nach einem zu entrichten10. Die Anführer von al-G versuchten Anschlag gegen as-Sa¯da¯t verhaftet. 2007 schworen sie jeder Gewalt ab11 und nach der Revolution gründeten sie die Aufbau- und Entwicklungspartei. Auf koptisch-orthodoxer Seite fanden ähnliche Entwicklungen statt – ohne deren gewalttätigen Auswüchse. Wie auf islamischer Seite, bemühte sich die Kirchenerneuerung darum, die religiösen Praktiken von ihren »fremden« bzw. griechischen, lateinischen und islamischen Einflüssen zu bereinigen12. Die Laien wurden in die Kirche vollkommen »assimiliert«13. An den Universitäten bemühte sich ein neu gegründetes Bistum für die Jugend darum, dass die koptischen Studenten eigene christliche Studentenverbindungen gründeten14. Gleichzeitig bestand in Ägypten ein Diskurs der nationalen Einheit zwischen Kopten und Muslimen, der vom Regime, al-Azhar und der koptisch-orthodoxen Kirche gefördert wurde. Seit 2003 sind die koptischen Weihnachten am 7. Jänner ein nationaler Feiertag15. Dieser Diskurs der nationalen Einheit wurde auch dazu eingesetzt, den religiösen Charakter von Gewalt an Kopten zu negieren16. Es handelt sich um Gewalt aufgrund von Kirchenbau und -Renovierungen, das Verschwinden von jungen Frauen, Land und Streitigkeiten zwischen Muslimen und Christen, die rapide eskalieren können17. Statt strafrechtlicher Verfolgung mussten die christlichen Opfer den muslimischen Tätern im Rahmen von Friedenssitzungen verzeihen. Diese Praktik setzte sich nach der Revolution fort. In der Zeit nach der Revolution stellten die Kopten trotz ihres demographischen Minderheitenstatus wertvolle politische und symbolische Instrumente für die islamistischen und salafistischen Kräfte dar. Letztere sprachen sich offiziell für eine Beteiligung von Christen in ihren Parteireihen aus. Der politische Arm der Muslimbruderschaft, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, ernannte den koptisch-evangelischen Intellektuellen Rafı¯q Habı¯b zu ihrem stellvertretenden Gen˙ 9 Siehe Mayeur-Jaouen: What do Egypt’s Copts and Muslims share? (s. Anm. 7). 10 Rachel Scott: The Challenge of Political Islam: Non-Muslims and the Egyptian State, Stanford 2017, 100. 11 Guirguis: Les Coptes d’Égypte (s. Anm. 14), 40. 12 Catherine Mayeur-Jaouen: Pèlerinages d’Égypte. Histoire de la piété copte et musulmane. XVe–XXe siècles, Paris 2005, 363. 13 S. S. Hasan: Christians versus Muslims in Modern Egypt. The Century-Long Struggle for Coptic Equality, Oxford 2003, 184. 14 Laure Guirguis: Les Coptes d’Égypte: Violences communautaires et transformations politiques (2005–2012), Paris 2012, 46. 15 Mayeur-Jaouen: What do Egypt’s Copts and Muslims share? (s. Anm. 7), 151. 16 Guirguis: Les Coptes d’Égypte (s. Anm. 14), 42–44. 17 Siehe Mariz Tadros: Copts at the Crossroads: The Challenges of Building Inclusive Democracy in Egypt, Kairo 2013, 50.

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eralsekretär18. Die salafistische Nur Partei, die aus ad-Daʿwa as-Salafiyya hervorging, gab an, 50 koptische Mitglieder zu haben19. Laut Mariz Tadros sollen es lediglich fünf gewesen sein20. Der Generalsekretär ʿIma¯d ʿAbd al-G˙affu¯r zeigte sich enttäuscht über die geringe Zahl an koptischen Mitgliedern.21 Die nach der Re˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya sprachen sich ebenfalls volution befreiten Anführer von al-G für eine Beteiligung von Christen aus: »open to all Egyptians, Muslims and Copts«22. Die Kopten waren auch wertvoll bei der Unterstützung ihrer politischen ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya sprachen Programme. Sowohl die Nur Partei als auch al-G sich für eine Umsetzung der »Scharia« ein, jedoch ohne näher zu erläutern, was sie darunter verstanden23. Während der Parlamentswahlen veröffentlichte adDaʿwa as-Salafiyya einen Artikel, in dem Patriarch Sˇinu¯da III. zitiert wurde, der gesagt haben soll, dass die Kopten unter der Scharia glücklicher und sicherer gewesen seien24. Gleichzeitig betätigten diese Akteure, wie in der Einleitung bereits erwähnt, äußerst moderate Aussagen, die eine Gleichstellung von Christen und Muslimen suggerierten: »die Haltung der Nur [Partei] gegenüber den Kopten ist sehr klar darin, dass sie sie als Partner in der Nation betrachtet: Sie sind ein ursprünglicher Teil der Kinder des ägyptischen Volkes […] mein Recht ist sein Recht und mein Schicksal ist sein Schicksal«25. Ein wichtiges Gegengewicht in der post-revolutionären Phase (2011–2013) war al-Azhar unter ˇsayh Ahmad at-Tayyib, der sich gegen die von den Islamisten ˙ ˙ ˘ ˙ ausgesprochenen Ziele vehement aussprach. Im Juni 2011 lud er Vertreter unterschiedlicher konfessioneller und politischer Richtungen zu einem Gespräch über die Zukunft Ägyptens ein. Daraus ging »die Stellungnahme über die Zukunft Ägyptens« hervor, welche sich gegen die Programme der islamistischen Kräfte richteten, die »das Wesen des Islam bezüglich Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit« widersprechen würden26. Al-Azhar sprach seine Unterstützung aus für einen »nationalen, verfassungsrechtlichen, demokratischen, modernen Staat, auf einer Verfassung basierend […], zwischen den Gewalten des Staates tren-

18 Ahram Onlin: Freedom and Justice Party, 3. Dezember 2011, verfügbar unter: http://english.ahram.org.eg/NewsContent/33/104/24939/Elections-/Political-Parties/Free dom-and-Justice-Party.aspx [abgerufen am 4. 4. 2022]. Rafiq Habib trat Ende 2012 zurück. 19 Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹ (s. Anm. 8), 295. 20 Tadros: Copts at the Crossroads (s. Anm. 17), 211. 21 Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹ (s. Anm. 8) 295. 22 Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹ (s. Anm. 8) 295. 23 Siehe Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹ (s. Anm. 8) 293. 24 Hager: From ›Polytheists‹ to ›Partners in the Nation‹ (s. Anm. 8) 295. 25 Asˇ-Sˇuru¯q, 18. Dezember 2011 (s. Anm 5), 15. 26 Mag˘allat al-Azhar, »‫«ﺑﻴﺎﻥ ﺍﻷﺯﻫﺮ ﻭﻣﺨﺒﺔ ﺍﻟﻤﺜﻘﻔﻴﻦ ﺣﻮﻝ ﻣﺴﺘﻘﺒﻞ ﻣﺼﺮ‬, Juni 2011, Nummer 8, 84. Jahr, Seiten g˘-w.

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nend und […] seine legislative Institution in ihrer gesetzgebenden Gewalt den Vertretern des Volkes gehört«27.

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Die Polemik um die christlichen Festen

Inmitten der Parlamentswahlen, in der die unterschiedlichen islamistischen Parteien um die Stimmen der Ägypter rangen, fielen die koptischen Weihnachtsfeierlichkeiten und es brach eine Kontroverse darüber aus, ob, erstens, die islamistischen Politiker an diesen Feierlichkeiten teilnehmen sollten und, zweitens, ob Muslime frohe Weihnachten wünschen dürfen. Die Polemik brach auch im Jahr darauf und zu Ostern aus. Es handelt sich dabei um eine weitverbreitete Praktik im Nahen Osten, der anderen religiösen Gemeinschaft zu ihren jeweiligen Festen – Weihnachten, Ostern, Ramadan sowie Hochzeiten, Todesfällen – zu gratulieren (bzw. Beileid auszusprechen) und zu besuchen. Wie weiter oben erwähnt war der 7. Jänner seit 2003 ein Nationalfeiertag. Auch im Jänner 2012 nahmen Regierungsvertreter an den Weihnachtsfeierlichkeiten teil28. Im Jahr darauf befürworteten abermals der Mufti ˘ umʿa und Ahmad at-Tayyib diese Praktik, was ad-Daʿwa as-Salafiyya scharf ʿAlı¯ G ˙ ˙ ˙ kritisierte29. Für den Mufti »war, ist und wird die Geburt Christi (Friede sei mit ihm) eine Geburt des Guten, Friedens und der Barmherzigkeit bleiben, nicht nur für unsere christlichen Brüder, sondern auch für die Muslime30.« Die salafistischen Kräfte hingegen lehnten dies strikt ab. Ya¯sir Burha¯mı¯, Leiter von ad-Daʿwa as-Salafiyya veröffentlichte im Dezember 2011 ein Rechtsgutachten (Fatwa), in der er die Muslime dazu aufrief, keine frohen Weihnachten zu wünschen31 sowie im Dezember 201232. Bereits 2007 hatte ad-Daʿwa as-Salafiyya ˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya lehnte dies geein solches Gutachten veröffentlicht33. Al-G nauso strikt ab: »Wir werden bestimmt keinem Gottesdienst beiwohnen oder an irgendeiner Feier teilnehmen«34. 27 Mag˘allat al-Azhar, »‫( «ﺑﻴﺎﻥ ﺍﻷﺯﻫﺮ‬s. Anm. 26). 28 Al-Ahram Hebdo: Prêtres, généraux et barbus, 11.–17. Jänner 2012, Nummer 904, 18. Jahr, 7. 29 Masris: »‫ ﻻ ﻳﺠﻮﺯ ﻟﻠﻤﻔﺘﻲ ﻭﺷﻴﺦ ﺍﻷﺯﻫﺮ ﺃﻥ ﻳﻬﻨﻴﺎ ﺍﻷﻗﺒﺎﻁ» ﺍﻟﻜﻔﺎﺭ‬:‫«« ﺑﺮﻫﺎﻣﻲ‬, 1. Jänner 2013, verfügbar unter: https://www.masress.com/elsaba7/65273 [abgerufen am 4. 4. 2022]. 30 Masris, »‫ ﻻ ﻳﺠﻮﺯ‬:‫( «ﺑﺮﻫﺎﻣﻲ‬s. Anm. 29), 1. Jänner 2013. 31 Sawt al-Salaf: »‫«ﻣﺸﺎﺭﻛﺔ ﺍﻟﻤﺴﻠﻤﻴﻦ ﻓﻲ ﺣﻤﺎﻳﺔ ﺍﻟﻜﻨﺎﺋﺲ ﻭﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻓﻲ ﺃﻋﻴﺎﺩﻫﻢ‬, 31. 12. 2011, verfügbar unter ˙ http://www.salafvoice.com/article.aspx?a=5913 [abgerufen am 4. 4. 2022]. 32 Sawt al-Salaf, »‫«ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺑﺄﻋﻴﺎﺩﻫﻢ‬, 31. Dezember 2012, verfügbar unter: http://www.salaf ˙ voice.com/article.aspx?a=6567 [abgerufen am 4. 4. 2022]. ِ 33 Sawt al-Salaf: »‫«ﻫﻞ ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺑﺄﻋﻴﺎﺩﻫﻢ ﺗﺪﺧﻞ ﻓﻲ ﺍﻟ ِﺒ ّﺮ ﻭﺍﻹﻗﺴﺎﻁ ﺇﻟﻴﻬﻢ؟‬, 19. Mai 2007, verfügbar unter: ˙http://www.salafvoice.com/article.aspx?a=1056 [abgerufen am 4. 4. 2022]. 34 Copts Today: »‫ ﻟﻦ ﻧﺤﻀﺮ ﻗﺪﺍﺳﺎﺕ ﺍﻭ ﺍﺣﺘﻔﺎﻻﺕ ﻟﻠﻨﺼﺎﺭﻯ ﻭﻻﻳﺠﻮﺯ ﺗﻬﻨﺌﺘﻬﻢ ﺣﺘﻰ ﻓﻲ ﺷﻔﺎﺀ ﺍﻣﺮﺍﺿﻬﻢ‬: ‫ﺍﻟﺠﻤﺎﻋﺔ ﺍﻻﺳﻼﻣﻴﺔ‬ ‫ «ﻷﻧﻬﻢ‬verfügbar unter: http://www.coptstoday.com/Archive/Detail.php?Id=20234 [abgerufen am 4. 4. 2022].

Darf ein Muslime frohe Weihnachten und frohe Ostern wünschen?

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Im Gegensatz zu diesen unmissverständlich klaren Positionen war jene der Muslimbruderschaft und ihres politischen Arms sehr ambivalent. Im Jänner 2012 nahmen erstmals hohe Vertreter der Bewegung, darunter der spätere Präsident Muhammad Mursı¯ an der Weihnachtsmette teil, achteten jedoch darauf, wieder ˙ zu gehen, bevor die eigentliche Liturgie begann.35 Einige Monate später anlässlich von Ostern, veröffentlichte der »Mufti« der Muslimbruderschaft, ʿAbd ar-Rah˙ man al-Birr eine Fatwa, in der er es als für Muslime nicht erlaubt erachtete, den Christen frohe Ostern zu wünschen, frohe Weihnachten aber sehr wohl36. Aber der stellvertretende Generalsekretär der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, ʿIsa¯m al-ʿArya¯n, gratulierte den Christen auf seiner Facebook-Seite.37 ˙

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Die theologischen Grundlagen

Obwohl sowohl al-Azhar und der Mufti als auch die Islamisten und Salafisten sich auf den Koran und die islamische Tradition bezogen, kamen sie zu radikal gegensätzlichen Positionen, die signifikante Auswirkungen auf das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in Ägypten hatten. Wie sind diese Widersprüche zu erklären? Die Kontroverse um die Rechtmäßigkeit der Weihnachts- und Osterwünsche warf Licht darauf, dass die islamistischen und salafistischen Akteure, trotz ihrer moderaten Äußerungen, ihre theologische Haltung gegenüber den Christen nicht geändert hatten. Ad-Daʿwa as-Salafiyya begründete ihre Ablehnung der Weihnachtsfeierlichkeiten damit: »Die Feste der Polytheisten beinhalten verherrlichend ihre Doktrinen des Unglaubens (al-kufriya)«38, »Es ist nicht erlaubt, den Festen der Polytheisten beizuwohnen«39, »[die Feste] beinhalten die Bestätigung der Richtigkeit eines korrupten Glaubensinhaltes«40. Ebenso hatte al˘ ama¯ʿa al-Isla¯miyya ihre Ablehnung ausgedrückt: »Diese Leute reden von einem G Dogma, das sich vom Islam unterscheidet, [sprechend] vom Herrn, Sohn und Vater«41, anspielend auf die islamische Ablehnung der Doktrin der Trinität. Auf diese islamische Ablehnung hinweisend, hatte der Muslimbruder al-Birr seine Ablehnung der Osterwünsche begründet: »Ostern widerspricht der Doktrin der 35 Al-Ahram Hebdo: Prêtres, généraux et barbus (s. Anm. 28), 7. 36 Al-Watan: »‫ ﻓﺘﻮﺍﻩ ﺗﺤﺮﻳﺾ ﻋﻠﻰ ﺍﻟﻜﺮﺍﻫﻴﺔ‬:‫ ﻭﺃﻗﺒﺎﻁ‬. .‫«ﻣﻔﺘﻰ ﺍﻹﺧﻮﺍﻥ ﻳﺤﺮﻡ ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻤﺴﻴﺤﻴﻴﻦ ﺑﻌﻴﺪ ﺍﻟﻘﻴﺎﻣﺔ‬, 30. April 2013, ˙ unter: https://www.elwatannews.com/news/details/173429 [abgerufen am 4. 4. 2022]. verfügbar 37 Asˇ-Sˇarq al-Awsat: »‫«ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻷﻗﺒﺎﻁ ﺑـ «ﻋﻴﺪ ﺍﻟﻔﺼﺢ» ﺗﺜﻴﺮ ﺟﺪﻻ ﻓﻲ ﻣﺼﺮ‬, 1. Mai 2013, verfügbar unter: ˙ https://archive.aawsat.com/details.asp?section=4&issueno=12573&article=726843#.Ykr1AC NCSUl [abgerufen am 4. 4. 2022]. ِ 38 Sawt al-Salaf: »‫( «ﻫﻞ ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺑﺄﻋﻴﺎﺩﻫﻢ ﺗﺪﺧﻞ ﻓﻲ ﺍﻟ ِﺒ ّﺮ ﻭﺍﻹﻗﺴﺎﻁ ﺇﻟﻴﻬﻢ؟‬s. Anm. 33), 19. Mai 2007. ˙ 39 Sawt al-Salaf: »‫( «ﻣﺸﺎﺭﻛﺔ ﺍﻟﻤﺴﻠﻤﻴﻦ ﻓﻲ ﺣﻤﺎﻳﺔ ﺍﻟﻜﻨﺎﺋﺲ ﻭﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻓﻲ ﺃﻋﻴﺎﺩﻫﻢ‬s. Anm. 31), 31. Dezember 2011. ˙ 40 Masris: »‫ ﻻ ﻳﺠﻮﺯ‬:‫«ﺑﺮﻫﺎﻣﻲ‬, 1. Jänner 2013 (s. Anm. 29). 41 Copts Today: »‫ ﻟﻦ ﻧﺤﻀﺮ ﻗﺪﺍﺳﺎﺕ ﺍﻭ ﺍﺣﺘﻔﺎﻻﺕ ﻟﻠﻨﺼﺎﺭﻯ‬: ‫«ﺍﻟﺠﻤﺎﻋﺔ ﺍﻻﺳﻼﻣﻴﺔ‬. (s. Anm. 34).

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Muslime, der nach Christus ʿIsa¯ (Friede sei mit ihm) nicht starb und nicht gekreuzigt wurde, deswegen gratulieren wir nicht zu etwas, an das wir nicht glauben«42. Außerdem verwendete ad-Daʿwa as-Salafiyya koranische Begriffe, die die christlichen Ägypter nicht mehr der Kategorie der »Volkschrift« (ahl al-kita¯b) zuordneten, sondern jenen der Polytheisten und Ungläubigen: »Die Feste der Polytheisten«43. Damit beziehen sich diese Akteure – vorrangig ad-Daʿwa as-Salafiyya – auf eine Lesart des Korans, die das Christentum als Korruption der von Jesus Christus erhaltenen Offenbarung sehen: »tahrı¯f«, Fälschung. »Gefälschte« ˙ Dogmen seien etwa die Trinität, die Göttlichkeit und Kreuzigung Jesu, das »Evangelium«, das die Christen nun hätten, welches der ursprünglichen Fassung nicht entspreche.44 Folglich lehnte ad-Daʿwa as-Salafiyya die Bezeichnung ması¯hiyyu¯n, die arabische Selbstbezeichnung der Christen ab: »Auch wenn es nicht ˙ verboten wäre, den Terminus ması¯hiyyu¯n zu verwenden, nicht durch die Be˙ trachtung der korrekten Verbindung zu Christus – Friede sei mit ihm – sondern [weil] er von ihnen frei ist und sie sind von ihm frei [wegen] der Andersartigkeit der Gemeinschaft«45. Doch wie die bisher verwendeten Zitate verdeutlichen, scheuten diese Akteure nicht davor zurück, die Kopten als Polytheisten und Ungläubige zu bezeichnen, womit sie in eine für sie gefährliche Kategorie fielen. Denn von den koranischen Polytheisten und Ungläubigen geht eine permanente Gefahr für den monotheistischen Glauben der Muslime aus. Wie Richard Gauvain zeigte, sind insbesondere die Salafisten von der Reinheit ihres Glaubens und ihrer Praktiken besessen und folglich würden die christlichen Ägypter eine Gefahr für »the social harmony of the Egyptian Muslim community« darstellen46. Dies wird darin ersichtlich, wie ad-Daʿwa as-Salafiyya das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen sah: »Wir betrachten das friedliche Zusammenleben zwischen den Muslimen, Juden und Nazarenern im Land des Islams die Grundlage für die sozialen Beziehungen zwischen uns und ihnen solange sie uns nicht in [Bezug auf] die Religion bekämpfen«47. Im Gegensatz dazu kamen al-Azhar und andere moderate Stimmen in Ägypten, die sich ebenfalls auf den Koran beriefen, zu einem ganz anderen Schluss. Anders als die salafistischen Kräfte, für die der Islam ein Bruch ge42 Al-Watan: »‫ ﻓﺘﻮﺍﻩ ﺗﺤﺮﻳﺾ ﻋﻠﻰ ﺍﻟﻜﺮﺍﻫﻴﺔ‬:‫ ﻭﺃﻗﺒﺎﻁ‬. .‫( «ﻣﻔﺘﻰ ﺍﻹﺧﻮﺍﻥ ﻳﺤﺮﻡ ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻤﺴﻴﺤﻴﻴﻦ ﺑﻌﻴﺪ ﺍﻟﻘﻴﺎﻣﺔ‬s. Anm. 36), ˙ 2013. 30. April ِ 43 Sawt al-Salaf: »‫( «ﻫﻞ ﺗﻬﻨﺌﺔ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺑﺄﻋﻴﺎﺩﻫﻢ ﺗﺪﺧﻞ ﻓﻲ ﺍﻟ ِﺒ ّﺮ ﻭﺍﻹﻗﺴﺎﻁ ﺇﻟﻴﻬﻢ؟‬s. Anm. 33), 19. Mai 2007. ˙ 44 Siehe Sidney H. Griffith: Christians and Christianity, in Jane Dammen McAuliffe (Hg.): Encyclopaedia of the Qurʾa¯n, Leiden 2003, 308–315. 45 Sawt al-Salaf: »‫«ﺍﺳﺘﻌﻤﺎﻝ ﻟﻔﻈﺔ «ﺍﻟﻤﺴﻴﺤﻴﻴﻦ» ﺑﺪ ًﻻ ﻣﻦ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ‬, 25. Juli 2011, verfügbar unter: http://www. ˙ salafvoice.com/article.aspx?a=5537 [abgerufen am 4. 4. 2022]. 46 Richard Gauvain: Salafi Ritual Purity: In the Presence of God, London 2013, 237–238. 47 Sawt al-Salaf: »‫«ﺣﻮﻝ ﺍﻟﻌﻼﻗﺔ ﺍﻻﺟﺘﻤﺎﻋﻴﺔ ﺑﻴﻦ ﺍﻟﻤﺴﻠﻤﻴﻦ ﻭﺍﻟﻤﺴﻴﺤﻴﻴﻦ‬, 30. Dezember 2012, verfügbar unter: ˙ http://www.salafvoice.com/article.aspx?a=6565 [abgerufen am 4. 4. 2022].

Darf ein Muslime frohe Weihnachten und frohe Ostern wünschen?

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genüber dem Judentum und dem Christentum darstellte, gingen Vertreter von alAzhar von einer Kontinuität zwischen den unterschiedlichen monotheistischen Religionen aus. Während der Kontroverse von Dezember 2011, veröffentichte Fawzı¯ Fa¯dil az-Zafza¯f, Mitglied des Rates der Islamischen Forschung (majmaʿ al˙ buhu¯th al-isla¯miyya) einen Aufsatz in Mag˘allat al-Azhar: ˙

Alle offenbarten Religionen kommen von Gott […] Die Quellen aller offenbarten Religionen sind eins und keine Religion unterscheidet sich darin von einer anderen, wie die Beweise für die Existenz Gottes, der Aufruf an ihn zu glauben, seine Einheit, seine Verehrung, der Glaube an seine Propheten und Gesandten, seine Engel und der Jüngste Tag.48

Ausgehend aus dieser monotheistischen Kontinuität ergebe sich somit auch eine menschliche und nationale Brüderlichkeit, die die Grundlage des Zusammenlebens bilde, so Prof. ʿAbd al-Mag˘¯ıd Ha¯mid Subh, in einem Artikel in Mag˘allat ˙ ˙ ˙ al-Azhar im Dezember 2011: »Die Glaubensbrüderlichkeit, die den Muslimen mit seinem muslimischen Bruder verbindet, es bedeutet ebenso die menschliche Brüderlichkeit, die die Menschheit verbindet. Es bedeutet auch, die nationale Brüderlichkeit, die zwischen den Kindern der Nation mit ihren unterschiedlichen Glaubenssätzen verbindet«49. Während ad-Daʿwa as-Salafiyya auf eine Begrenzung der inter-konfessionellen Beziehungen pochte, wollte al-Azhar gerade dem entgegenwirken: »sie sagen ›grüßt nicht den Nicht-Muslimen […], gratuliert nicht zu ihren Festen‹. […] Dies führt zu einem totalen Bruch und einem Nichtvorhandensein jeder Art von Interaktion«50. Stattdessen wies ʿAbd al-Mag˘¯ıd Ha¯mid Subh darauf hin, dass es im Koran zahlreiche Belege für eine auf ˙ ˙ ˙ »Güte und Gerechtigkeit« fundiertes Zusammenleben gebe: im Alltag, das Teilen von Nahrung, das Heiraten51.

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Conclusio

Die politische Mitwirkung der islamistischen und salafistischen Kräfte bedeutete eine weitere Destabilisierung der christlich-muslimischen Beziehungen in Ägypten. Die anhaltende Polemik weist darauf hin, dass sich beide Seiten – moderater und fundamentalistischer Islam – gleichermaßen in Schach hielten.

48 Fawzı¯ Fa¯dil az-Zafza¯f, »‫ «ﻋﻼﻗﺔ ﺍﻹﺳﻼﻡ ﺑﺎﻟﺪﻳﺎﻧﺎﺕ ﺍﻟﺴﻤﺎﻭﻳﺔ ﺍﻟﺴﺎﺑﻘﺔ‬Mag˘allat al-Azhar, Nummer 1, 85. Jahr ˙ 2011), 158–161. (Dezember 49 ʿAbd al-Mag˘¯ıd Ha¯mid Subh: »‫ «ﻗﺎﻟﻮ ﻭﻗﻠﻨﺎ‬Mag˘allat al-Azhar, Nummer 1, 85. Jahr (Dezember ˙ ˙ 2011), 148–161. ˙ 50 Subh: »‫( «ﻗﺎﻟﻮ ﻭﻗﻠﻨﺎ‬s. Anm. 49). 51 S˙ ubh˙ : »‫( «ﻗﺎﻟﻮ ﻭﻗﻠﻨﺎ‬s. Anm. 49). ˙ ˙

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Der barmherzige Roboter. Eine Reflexion über die Eigenschaften von Pflegerobotern in der Diakonie

Abstract Robots are becoming increasingly significant for the care industry. Denominational care institutions such as the Diakonie are challenged to reconcile their image of humanity and self-image with necessary innovations. This paper provides an overview of the developments in nursing robotics and confronts them with central aspects of diaconal care. From this, guidelines for the use of care robots in diaconal institutions are established. The author suggests to focus on the independence of the attitude of caregivers, the priority of dignity over profit, and the irreplaceability of humans by machines.

Die Entwicklung von Pflegerobotern besitzt eine Dringlichkeit, die so nur wenigen Robotern eigen ist. Sie sind keine Apparturen der Bequemlichkeit oder technischen Pioniergeists, sondern reagieren auf die komplexe Herausforderung, die Pflege zukunftsfähig zu machen. Eine Aufgabe, die manchen nur noch durch technische Innovationen lösbar erscheint. Schon das schlichte Aufkommen von pflegebedürftigen Menschen dürfte das Angebot an Pflegekräften in naher Zukunft so weit übersteigen, dass viele Gesellschaften ohne den Einsatz von innovativen Technologien in eine prekäre Zukunft blicken.1 Die Institution der Diakonie macht dabei mit ihrem katholischen Pendant, der Caritas, einen maßgeblichen Teil der Pflegedienste im deutschsprachigen Raum aus. Als konfessionelle Einrichtungen versuchen sie stets den Spagat zwischen wirtschaftlicher Rentabilität und konfessionellem Profil zu meistern. Mit der Integration von Robotern in die Pflege sind konfessionelle Einrichtungen daher in besonderer Weise zur Reflexion gezwungen, wie sie ihr Selbstverständnis und Menschenbild mit Innovation und notwendigem Fortschritt in Einklang bringen. Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund die Frage reflektiert werden, wie die institutionalisierte Diakonie Pflegeroboter so in ihren Einrichtungen einsetzen kann, dass sie dem Spezifikum ihres diakonischen Auftrags entsprechen. 1 Vgl. Alessandro Vercelli u. a.: Robots in Elderly Care, in: DigitCult – Scientific Journal on Digital Cultures 2 (2018), (37–50) 38.

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Roboter in der Pflegepraxis: Möglichkeiten und Grenzen

Was ein Pflegeroboter genau ist, lässt sich schwer allgemeingültig klären. Weder gibt es klar definierte Grenzen noch lässt die rasante technologische Entwicklung auf diese Frage robuste Antworten zu. Dennoch müssen am Anfang ein paar grundlegende Gedanken geklärt werden: Was ist gemeint, wenn hier von Robotern gesprochen wird und was klassifiziert solche im Folgenden als Pflegeroboter? Allgemein gesprochen wird ein Roboter durch die folgenden Funktionen konstituiert, von denen er über mindestens einige, oftmals über alle verfügt. Für jeden Roboter gilt zunächst, dass er über eine Energiequelle betrieben wird und auf eine Software zugreift, die bestimmt, auf welche Weise eine konkrete Aufgabe zu bearbeiten ist. Das Spezifikum eines Roboters ist, anders als bei virtuellen künstlichen Intelligenzen, dass er in der Welt physisch repräsentiert ist. Er besitzt eine Hülle, mit der die kontrollierende Software in der Welt agiert. Diese Interaktion ist im Grunde immer mit Bewegung oder der Fähigkeit, mit Signalen zu kommunizieren, verbunden. Die Teile eines Roboters, die physische Arbeit in der Welt erledigen, nennt man Effektoren bzw. Aktoren. Sensoren dagegen handeln nicht in der Welt, sondern nehmen diese wahr. So gut wie jeder Roboter verfügt daher über eine Sensorik, mit der er Informationen aus seiner Umwelt aufnimmt.2 Pflegeroboter sind wie Operations- und Therapieroboter aus dem Gesundheitssektor nicht mehr wegzudenken3 und werden international bereits für verschiedenste Tätigkeiten eingesetzt: Sie unterstützen bei der Nahrungsaufnahme, ermöglichen einen höheren Grad an Mobilität und assistieren Menschen mit eingeschränkten Sinnesfunktionen bei Aufgaben, die sie nicht aus eigener Kraft ausführen können. Ihr Nutzen ist dabei nicht auf körperliche Assistenz begrenzt. Roboter unterstützen kognitive Prozesse von Demenzpatient:innen durch Spiele und Denkaufgaben und können rudimentäre psychologische und soziale Aufgaben übernehmen, indem sie menschliche Gefühle erkennen und adäquat auf diese reagieren.4 Der Pflegeroboter Pearl ist in der Lage Patient:innen zu besuchen und stellt diesen Informationen zur Verfügung. Andere Pflegeroboter wie HelpMate assistieren Pflegekräften bei körperlichen Arbeiten; Care-O-Bot und TUG transportieren selbstständig medizinische Güter durch die Einrichtung.5 Multifunktionale Roboter wie Lio sind in der Lage sämtliche dieser Aufgaben zu 2 Vgl. Alan F. Winfield: Robotics. A Very Short Introduction (Very short introductions 330), Ox ford/New York 2012, 20–22. 3 Vgl. Oliver Bendel: Roboter im Gesundheitsbereich, in: ders. (Hg.): Pflegeroboter, Wiesbaden 2018, (195–212) 198. 4 Vgl. Vercelli u. a.: Robots in Elderly Care (s. Anm. 1), 39–41. 5 Vgl. Bendel: Roboter im Gesundheitsbereich (s. Anm. 3), 206.

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erfüllen.6 Cody und Robear waschen Patient:innen und helfen diesen bei physischen Aufgaben.7 Weltweit sind viele weitere Modelle bereits im Einsatz oder befinden sich in Entwicklungs- oder Teststadium. Das Ziel von Pflege kann aber nicht nur sein, Menschen bei körperlicher Gesundheit zu halten. Gerade bei älteren Menschen inkludiert die Erwartung ans Altern sowohl Gesundheit als auch Aktivität. Menschen wollen weiterhin Teil kulturellen, sozialen, öffentlichen und spirituell-religiösen Lebens sein, weswegen Pflegeroboter immer auch unter diesen Gesichtspunkten entwickelt und implementiert werden müssen.8 Grundsätzlich ist es um die Akzeptanz von Robotern besser bestellt als gemeinhin oft angenommen. Verschiedene Studien zeigen, dass Betroffene im sozialen Sektor dem Einsatz von Pflegerobotern prinzipiell aufgeschlossen gegenüberstehen.9 Wann und unter welchen Umständen Pflegeroboter begrüßt werden, hängt an verschiedenen Faktoren: Besonders zentral erscheinen die pragmatische und die soziale Dimension der Roboter. Pflegeroboter müssen einen erkennbaren praktischen Nutzen für die Pflegenden und die Gepflegten bieten. Ein entscheidender Vorteil von Pflegerobotern ist, dass Benutzerfreundlichkeit bereits ihrer Konstruktion zugrunde liegt. Roboter werden anders als Tablets speziell für bestimmte Kontexte und Bedürfnisse entwickelt. Dadurch wird die Benutzung von Robotern niederschwelliger, wenn auch oft kostspieliger. Die bisherige Forschung unterstreicht die Annahme, dass es älteren Menschen leichter fällt mit Robotern zu interagieren als mit Displays.10 Die Funktionalität entscheidet auch darüber, wie häufig Pflegeroboter in der Realität genutzt werden. Empirische Untersuchungen zu Pflegerobotern in der Altenpflege deuten darauf hin, dass Roboter zwar akzeptiert werden, jedoch wenig von älteren Menschen genutzt werden, solange sie lediglich stationär zur Verfügung stehen. Vielmehr müssen Roboter ein nicht geringes Maß an Mobilität und damit ver-

6 Vgl. Justinas Miseikis u. a.: Lio-A Personal Robot Assistant for Human-Robot Interaction and Care Applications, in: IEEE Robotics and Automation Letters 5 (2020), (5339–5346) 5340. 7 Vgl. Bendel: Roboter im Gesundheitsbereich (s. Anm. 3), 206. 8 Vgl. Vercelli u. a.: Robots in Elderly Care (s. Anm. 1), 38. 9 Vgl. Kathrin Janowski u. a.: Sozial interagierende Roboter in der Pflege, in: Oliver Bendel (Hg.): Pflegeroboter, Wiesbaden 2018, (63–87) 64; vgl. Fabian Hoose u. a.: Von Robotern und Smartphones: Stand und Akzeptanz der Digitalisierung im Sozialsektor, in: Maik Wunder (Hg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit: Transformationen und Herausforderungen, Bad Heilbrunn 2021, (97–109) 105–106; vgl. Anna-Lena Schönauer u. a.: Akzeptanz und Nutzung digitaler Technologien in der Sozialen Arbeit, in: Carolin Freier u. a. (Hg.): Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit: Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft, Wiesbaden 2021, (49–59) 56. 10 Vgl. Janowski u. a.: Sozial interagierende Roboter in der Pflege (s. Anm. 8), 80.

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bundener Verfügbarkeit besitzen, um überhaupt als relevanter Teile des Pflegebetriebs wahrgenommen zu werden.11 Wo Pflegeroboter eine spürbare Verbesserung im Ablauf des Pflegebetriebs darstellen, wird die soziale Dimension entscheidend. Je autonomer sie agieren, desto mehr werden sie als eigenständige Pflegekraft wahrgenommen und damit emotional bewertet. Dabei zeigt sich bereits die Analogie zu menschlichen Pfleger:innen: Die Gestalt und das soziale Verhalten eines Roboters spielen eine entscheidende Rolle. So sind imitiertes Geschlecht, dargestellte Haltungen und fingiertes Alter keineswegs nebensächliche Designentscheidungen, sondern zentral für das Verhältnis von Mensch und Roboter.12 Betrachtet man Roboter unter Berücksichtigung ihrer sozialen Fähigkeiten, hat man es mit Social Robotics zu tun. Soziale Roboter weisen gegenüber funktionalen Robotern Eigenschaften auf, die sie als soziale Entität qualifizieren und längerfristige persönliche Bindungen ermöglichen oder gar fordern. Dazu müssen sie sich so glaubwürdig und verlässlich verhalten, dass sie eine individuelle Persönlichkeitsstruktur suggerieren. Erst ein Roboter, der sich als vertrauenswürdig erweist, scheinbar intentional agiert, ein emotionales Verhalten an den Tag legt und gezielt auf die Empfindungen und Bedürfnisse seines menschlichen Gegenübers eingeht, kann als sozialer Roboter bezeichnet werden.13 Soziale Roboter existieren schon lange und sind kein Spezialfeld der Pflegerobotik. Vielmehr gab ihr allgemeiner Erfolg Anlass dazu, Pflegeroboter unter besonderer Berücksichtigung ihrer sozialen Eigenschaften zu entwickeln, was zu vielversprechenden Ergebnissen führte: Die Verwendung von haustierähnlichen Robotern wie dem Roboterhund AIBO oder der Plüschrobbe Paro reduzierten nachweisbar Stress und das Gefühl von Einsamkeit sowie depressive Zustände. Sie erleichterten zudem die Kommunikation mit aggressiven Patient:innen und wirkten sich insgesamt positiv auf das soziale Klima in Pflegeeinrichtungen aus.14 Auch zu dem unter Gesichtspunkten emotionaler Responsivität entwickelten Roboter Cozmo bauten Nutzer:innen eine erkennbare soziale Bindung auf.15 Die Integration von sozialen Robotern in die Pflege bleibt jedoch nicht ohne Kritik. Zunächst stellen Pflegeroboter einen radikalen Eingriff in Privatsphäre

11 Vgl. Elizabeth Broadbent u. a.: Benefits and problems of health-care robots in aged care set tings: A comparison trial, in: Australasian Journal on Ageing 35 (2016), (23–29) 28. 12 Vgl. Bendel, Roboter im Gesundheitsbereich (s. Anm. 3), 198; vgl. Dina Utami u. a.: Talk About Death: End of Life Planning with a Virtual Agent, in: Jonas Beskow u. a. (Hg.): Intelli gent Virtual Agents Lecture Notes in Computer Science, Cham 2017, (442–450) 445–447. 13 Vgl. Janowski u. a.: Sozial interagierende Roboter in der Pflege (s. Anm. 8), 66–69. 14 Vgl. Broadbent u. a.: Benefits and problems of health-care robots (s. Anm. 10), 23. 15 Vgl. Lilian Chan u. a.: Designing and Validating Expressive Cozmo Behaviors for Accurately Conveying Emotions, in: 2021 30th IEEE International Conference on Robot & Human Inte ractive Communication (RO-MAN), Vancouver 2021, 1037–1044.

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dar16, bleibt doch bisher offen, was mit den persönlichen und medizinischen Daten, die sie sammeln müssen, um operabel zu sein, geschieht.17 Jenseits technischer und rechtlicher Fragen wie dieser wird diskutiert, ob das Problem der Isolierung im Alter damit nicht nur aus der individuellen und gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängt wird. Auch wenn Roboter der vollkommenen Einsamkeit vorzuziehen sind, übersteigen die Vorzüge menschlicher Gemeinschaft die einer Mensch-Roboter-Beziehung erheblich. Kritiker:innen halten soziale Pflegeroboter für eine Form, das eigene Gewissen zu salvieren, und damit in Kauf zu nehmen, dass pflegebedürftige Menschen, insbesondere unter Demenz leidende, mit einem fortschrittlichen Spielzeug ruhiggestellt werden.18 Wo Roboter, besonders in Form von robotisierten Haustieren, eingesetzt werden, wird der Vorwurf laut, man täusche Patient:innen, besonders jene mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten, und infantilisiere sie. Um die erwünschte Wirkung einer stabilisierenden Bindung zu erzielen, müssen Menschen so tun, als hätten sie es mit einem echten Gegenüber zu tun, oder es muss ihnen dies von Angehörigen und Pflegenden suggeriert werden. Haben wir das Gefühl, wir hätten es nicht mit jemandem, sondern mit etwas zu tun, stellt sich keine vergleichbare emotionale Verbindung ein. Auch wenn ein pragmatischer Ansatz auf die wünschenswerten Effekte von Robotertieren und -puppen verweisen kann, hat deren Einsatz Folgen für das Pflegeverständnis der entsprechenden Einrichtung. Es fällt schwer, darin nicht ein autoritäres und defizitäres Menschenbild von vulnerablen Patient:innen zu erkennen.19 Am Beispiel von Menschen mit Demenz wird dabei nur deutlich, was nach Ulrich Körtner ohnehin im Zentrum einer inklusiven Pflegeethik stehen sollte: Die Orientierung an den Bedürfnissen von autonomen Subjekten. Das ist in doppelter Hinsicht handlungsleitend. Zunächst muss jeder Intervention eine Erhebung des jeweiligen Grades der Pflegebedürftigkeit vorausgehen, ohne dass diese den Menschen darauf reduziert, eine Pflegefall zu sein.20 Daraus folgt, insbesondere für assistive Technologien wie Roboter, eine Ausrichtung an den Bedürfnissen und Vorstellungen der Patient:innen, soweit sich diese erheben lassen, und damit an den konkreten Umständen und Vorstellungen von Menschen, wie ihr Leben auszusehen hat. Das kann auch dem entgegenlaufen, was Pflegende und Angehörige jeweils für das Beste oder Gebotene halten. Die Entscheidungen über 16 Vgl. Vercelli u. a.: Robots in Elderly Care (s. Anm. 1), 48. 17 Das Problem der Datensouveränität und -sicherheit zu lösen, verarbeitet bspw. Lio sämtliche Prozesse intern und nicht über Cloudservices. Vgl. Miseikis u. a.: Lio-A Personal Robot Assistant (s. Anm. 6), 5344. 18 Vgl. Vercelli u. a.: Robots in Elderly Care (s. Anm. 1), 43. 19 Vgl. Amanda Sharkey/Noel Sharkey: Granny and the robots: ethical issues in robot care for the elderly, in: Ethics and Information Technology 14 (2012), (27–40) 35. 20 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Diakonie und Öffentliche Theologie. Diakoniewissenschaftliche Studien, Göttingen 2017, 100–101.

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Interventionen unterliegen dem ethischen Primat der Selbstbestimmung der jeweiligen Patientin oder des Patienten.21 Der Grund, warum Roboter in die Pflege Einzug halten, bietet im Anschluss an diese Überlegung einen weiteren Anlass zur Kritik. Unbestritten stellt die Robotisierung eine Reaktion auf den Mangel an Fachkräften in Pflegeeinrichtungen dar, der sowohl politische wie auch demografische Gründe hat. Die Intention, so löblich sie ist, ist zunächst die Entlastung der Pflegenden. Die Gepflegten dagegen kommen nur indirekt in den Blick. Damit drohen sie zu einer Ressource und einem Objekt des Pflegeprozesses zu werden, der durch Roboter bewältigt werden soll. Insbesondere durch die intimen Tätigkeiten, der die Pflege bedarf, wie das Waschen, Toilettengänge, das Umbetten und Medikamentengabe besteht die Gefahr, dass sich Patient:innen objektiviert fühlen.22 Diese Erfahrung wird bei einer allgemeinen Robotisierung des Pflegebetriebs dadurch verstärkt, dass sich informelle Gelegenheiten menschlicher Begegnung reduzieren. Auch Tätigkeiten wie Reinigung, Bauarbeiten, etc., die nicht primär auf Bewohner:innen von Pflegeeinrichtungen abzielen, bieten Anlass und Möglichkeit sozialer Begegnung. Wo ein Saugroboter, der allein für die Tätigkeit der Reinigung konzipiert ist, das Zimmer eines kranken Menschen abfertigt, bleibt diese Möglichkeit aus. Mehr Roboter, so die begründete Angst, bedeutet weniger Menschlichkeit in der Pflege.23 Angesichts dieser Potentiale und Herausforderungen von Pflegerobotern stellt sich die Frage, wie sie im speziellen Kontext diakonischer Pflege Verwendung finden könnten und welche Aspekte aufgrund des Selbstverständnisses der Diakonie besonderes Gewicht bekommen sollten.

2

Das Spezifikum der diakonischen Pflege

Als Proprium der Diakonie galt bis ins 21. Jahrhundert hinein ein theologisches Surplus in der Begegnung von diakonischem Pflegepersonal und Hilfesuchenden. Helfendes Handeln im Rahmen institutioneller Diakonie wurde dann immer auch als missionarische Gelegenheit verstanden, Menschen mit dem Evangelium Jesu Christi vertraut zu machen. Ohne ein solches Proprium könne die Diakonie nichts tun, was nicht auch Staat und Gesellschaft vermögen und »die Satzungen und Grundsätze der Diakonischen Werke und Anstalten [seien] bloße Makulator,«24 bilanziert Hermann Brandhorst. 21 22 23 24

Vgl. Körtner: Diakonie und Öffentliche Theologie (s. Anm. 20), 223. Vgl. Sharkey u. a.: Granny and the Robots (s. Anm. 19), 30–31. Vgl. Arne Manzeschke: Roboter in der Pflege, in: EthikJournal 5 (2019), (1–11) 5. Hermann Brandhorst: Kleine Dogmatik zur Diakonie: Eine Grundlage für das systematischtheologische Nachdenken – nicht nur in der Ausbildung von Diakoninnen und Diakonen, Kassel 2003, 5.

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In jüngerer Zeit hat sich diese Stimmung sowohl in der wissenschaftlichen Beschreibung, die zurecht oftmals für ihre Realitätsferne kritisiert wird,25 als auch im Selbstbild der Diakonie gewandelt. Anstatt von einem Proprium als unikale Eigenschaft, die allein der Diakonie eigen ist, spricht man zunehmend von Spezifika, für die diakonische Einrichtungen stehen wollen, unabhängig davon, ob andere säkulare Träger diese ebenfalls aufweisen können oder nicht. So verpflichtet sich die Diakonie in Deutschland in ihrem Leitbild auf allgemeinmenschliche Tugenden – wie die Bereitschaft, Ausgegrenzten Gehör zu verschaffen, die Würde aller zu wahren, Menschen in Not beizustehen, den Sozialstaat zu gestalten und mitzutragen –, die sie aus einem christlichen Selbstverständnis ableitet, ohne dabei jedoch selbst ein Proprium zu formulieren. Was sie tut, tut sie im Bewusstsein und Anerkennung ihrer Wurzeln und biblischen Grundlagen.26 Sie sieht sich jedoch nicht in der Verantwortung ihr Handeln jeweils neu theologisch zu begründen. Seelsorge, Glaubenshilfe und Sinngebung stehen als Angebote im Leitbild, die bereitzustellen die Diakonie sich verpflichtet.27 Diakonisches Handeln, so auch die Überzeugung von Christian Albrecht oder Herbert Haslinger,28 muss sich nicht erst theologisch absichern, um als Äußerungsform christlichen Lebens betrachtet zu werden. Den spezifisch christlichen Anteil im Helfen herauszustellen, ist weder notwendig noch hilfreich. Es kommt nicht auf den christlichen Glauben hinter dem Handeln an, sondern weil es hilft, gewinnt es seinen christlichen Charakter egal ob dieser expliziert wird oder nicht.29 Diese Einschätzung ist umstritten. Forderungen an die Diakonie gehen teilweise über das Handeln als Selbstzweck hinaus. Das Profil der Diakonie, so formuliert es Heinrich Bedford-Strohm, besteht in der prinzipiellen Offenheit für seelsorgerliches Handeln. Sie stellt spezifische Ressourcen der christlichen Tradition bereit und ist angebunden an lokale Gemeinden. Eine solche Haltung zur 25 Vgl. Beate Hofmann: Ekklesiologische Begründungsansätze von Diakonie, in: Heinz Rüegge r/Christoph Sigrist (Hg.): Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungs ansätze, Zürich 2014, 95–108. 26 Hierzu weiterführend sind die Erläuterungen der Dimension des Helfens als Wahrung der Würde des gottesebenbildlichen Menschen bei Gerd Theißen: Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Volker Herrmann u. a. (Hg.): Studienbuch Diakonik 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, Neu kirchen-Vluyn 2008, 88–116. 27 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland: Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift, Gütersloh 1998, 42–45. 28 Vgl. Herbert Haslinger: Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie, in: Volker Herr mann u. a. (Hg.): Studienbuch Diakonik 2: Diakonisches Handeln, diakonisches Profil, diako nische Kirche, Neukirchen-Vluyn 2008, (160–174) 162–164. 29 Vgl. Christian Albrecht: Wozu ist die Diakonie fähig? Theologische Deutungen gegenwärtiger Herausforderungen, Tübingen 2016, 8–9.

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Diakonie, wie sie die Öffentliche Theologie vertritt, kann von Pflegenden ein signifikantes Mehr an theologischer Kompetenz erwarten.30 Ein historisch gewachsenes Spezifikum der Diakonie ist es, dass sie geistliche Begleitung in Form von Seelsorgegesprächen, Kasualien, Andachten, etc. bereithält. Anders als weltliche Träger, die solche Angebote ebenfalls zur Verfügung stellen können, ist es der an sich selbst erhobene Anspruch unternehmerischer Diakonie, diese Angebote verlässlich zur Verfügung zu stellen.31 Christian Grethlein betont dabei den engen Zusammenhang von Diakonie und Seelsorge. Ist der Begriff der Seelsorge auch ein originär platonischer, wird er heute aufs Engste mit dem neutestamentlichen Diakoniegedanken verknüpft. Weder ist Seelsorge ohne konkrete Daseinssorge denkbar, noch war das helfende Handeln Jesu frei von Fürsorge für das Seelenheil derer, denen er sich zuwendete.32 Ein wesentliches Charakteristikum der institutionellen Diakonie ist nach Grethlein zudem die Komplementarität von Intervention und Präsenz. Diakonisches Handeln beginnt nicht erst bei abzurechnenden Interventionen, sondern versteht die Präsenz von Menschen bereits als eine Form helfenden Handelns. Die diakonische Präsenzorientierung kann als Gegenentwurf zu der aktionistischen Hilfskultur gängiger Pflegepraxis verstanden werden, in der die intentionslose Anwesenheit von Pflegenden im Krankenzimmer als Nicht-Intervention betrachtet werden muss und dieser keine inhärente Qualität beigemessen wird.33 Dies darf jedoch nicht als Absage gegen eine professionelle Pflegekultur in der Diakonie verstanden werden. Diakonie ist immer auch Teil des Pflegemarktes und muss sich auf diesem behaupten. Um ihrem Auftrag Menschen zu helfen nachzukommen, muss sie in ihrer Arbeit Kriterien der Exzellenz erfüllen und wirtschaftlich rentabel bleiben. Unternehmerische Diakonie muss daher schon um ihres Fortbestands willen ökonomische Konzessionsentscheidungen treffen. Alfred Jäger spricht im Angesicht dieser Realität von einer theologischen Achse, die den wirtschaftlichen und unternehmerischen Entscheidungen einen Rahmen und Horizont gibt, nicht aber die Theologie als Gegenentwurf zur ökonomischen Führung der Diakonie ins Spiel bringt.34 Profitsteigerung um seiner selbst willen oder zugunsten des Führungspersonals widerspricht dabei dem Gedanken der Diakonie. Zwar darf und muss Diakonie wirtschaftlich sein, da sie anders ihren

30 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm: Diakonie in der Perspektive »öffentlicher Theologie«. Gegen wärtige Entwürfe, in: Johannes Eurich/Heinz Schmidt (Hg.): Diakonik: Grundlagen - Konzep tionen - Diskurse, Göttingen 2016, (145-161) 151-153. 31 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Herz und Mund und Tat und Leben (s. Anm. 27), 27. 32 Vgl. Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin/Boston 2016, 310. 33 Vgl. Grethlein: Praktische Theologie (s. Anm. 32), 435. 34 Vgl. Alfred Jäger: Lebenstheologie in Aktion. Werkstatt-Texte, in: Johannes Degen u. a. (Hg.): Leiten.Lenken.Gestalten, Zürich 2016, 181.

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Auftrag nicht erfüllen kann, sie fragt dabei jedoch immer danach, wo das Geld, das sie erwirtschaftet, der Allgemeinheit zugutekommt.35 Diakonie spielt sich folglich stets im Spannungsfeld von Rentabilität und theologischem Anspruch ab. Die wirtschaftliche Ordnung zwingt sie dazu unter ökonomischen Gesichtspunkten zu agieren, ihrem Selbstverständnis nach versucht sie dabei stets eine theologische Achse erkennbar zu machen. Als diakonisch ist sie dabei nicht durch eine bestimmte Art des religiösen Helfens gekennzeichnet36, sondern dass Menschen geholfen wird, qualifiziert Handeln als diakonisch. Dem eigenen Anspruch diakonischer Einrichtungen nach stellen diese seelsorgliche und kasuale Ressourcen zur Verfügung und vertreten eine Anthropologie, die den Menschen nicht nur als zu behandelnden Patienten ansieht, sondern als gottesebenbildliches Geschöpf, das es verdient wahrgenommen und nicht allein gelassen zu werden. Diakonisches Handeln nimmt damit immer auch das seelische Wohlergehen des Anderen ernst und leistet Hilfe zum Leben, die über das körperliche Überleben hinausgeht.

3

Reflexion über den Einsatz von Robotern in der Diakonie

Aus der Beschreibung der Eigenschaften von Pflegerobotern und Überlegungen zum theologischen Charakter diakonischer Einrichtungen lassen sich konkrete Vorschläge für den Einsatz von Robotern in der Diakonie ableiten.

1)

Die Gesinnung ist unerheblich

Diakonisches Handeln ist christliches Handeln nicht erst, wenn es aus einer dezidiert christlichen Haltung heraus geschieht. Was für Pflegende gilt, kann auch für Pflegeroboter nicht anders sein: Sie müssen keine irgendwie geartete christliche Gesinnung nachweisen, um in der Diakonie eingesetzt zu werden. Die entscheidende Frage bleibt, ob ihr Einsatz zu einer menschenwürdigen Pflege beiträgt. Ein Proprium diakonischer Roboter gegenüber anderen Pflegerobotern zu formulieren, ist genauso wenig zielführend wie die Suche nach dem christlichen Proprium in der Diakonie gegenüber säkularen Pflegeanbietern.

35 Vgl. Bedford-Strohm: Diakonie in der Perspektive »öffentlicher Theologie« (s. Anm. 30), 158160. 36 Vgl. Eberhard Hauschildt: Wider die Identifikation von Diakonie und Kirche. Skizze vom Nut zen einer veränderten Verhältnisbestimmung, in: MPTh 89 (2000), (411–415) 415.

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Wohl und Würde haben Priorität vor Profit

Pflegeroboter in der Diakonie dürfen weiterhin nicht zur Maximierung von Profit eingesetzt werden oder die Stellen von Menschen übernehmen, sondern haben die Aufgabe, Pflegenden wie Pflegebedürftigen das Leben zu erleichtern. Zwar muss auch die Diakonie am Pflegemarkt bestehen und daher den Bedingungen des Wettbewerbs Rechnung tragen, sie darf das dabei jedoch nicht unter Absehung der Lebensqualität ihrer Angestellten oder derer, die auf ihre Einrichtungen angewiesen sind, tun. Die Institution der Diakonie kann als Teilnehmerin des öffentlichen Pflegediskurses und durch ihre ökonomische Kraft eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft von Robotern in der Pflege spielen. Sie sollte dabei ihren Einfluss zur Förderung von assistierenden Technologien und nicht von möglichst autonomen Pflegerobotern nutzen. Andernfalls droht sie ihre christliche Anthropologie auf Kosten einer ökonomischen Technologie zu entäußern.

3)

Roboter ersetzen keine Menschen

Müssen Roboter in der Pflege auch kein diakonisches Proprium vorweisen, bleiben sie doch Teil des diakonischen Systems, das sich durch eine spezifische Anthropologie auszeichnet und Seelsorge und Liturgie als Teil ihrer Praxis versteht. Wo diakonisches Handeln immer auch seelsorgliches und liturgisches Handeln bedeutet, kann die Pflege nur zu einem geringen Teil an nicht-theologiefähige Agenten ausgelagert werden. Dieses Spezifikum kann momentan nicht adäquat von Robotern ersetzt werden und die Diakonie muss daher garantieren, dass diese vorerst genuin menschlichen Angebote weiterhin zur Verfügung stehen. Wo sie Roboter integriert, muss dabei vermieden werden, menschliches Personal zu ersetzen. Vielmehr sollten Pflegende durch die Möglichkeiten der Robotik unterstütz und entlastet werden, um dadurch gerade mehr Präsenz in der zwischenmenschlichen Begegnung zu ermöglichen und nicht weniger. Ein diakonischer Pflegeroboter kann diejenigen Aufgaben erleichtern und beschleunigen, die wenig Raum für informelle Seelsorge und menschliche Interaktion bieten, und sollte nicht dort präsent sein, wo sich normalerweise Zeit und Gelegenheit für Zwischenmenschlichkeit ergibt. Sinnvoller scheint hier mit Arne Manzeschke zwischen ›technischer Assistenz‹ und ›menschlicher Hilfe‹ zu unterscheiden. Assistenz meint dabei den funktionalen Teil der Unterstützung, der ohne Sozialität auskommt.37 Roboter leisten in dieser Unterscheidung zwar 37 Vgl. Manzeschke: Roboter in der Pflege (s. Anm. 23), 4.

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technische Assistenz, sind jedoch nicht in der Lage menschliche Hilfe zu leisten, die aber gerade für diakonische Pflege charakteristisch ist. Das mahnt zu einer gewissen Vorsicht gegenüber dem Versuch Social Robots in die Pflege zu integrieren. Besonders wenn Roboter anthropomorphe Züge tragen, was aus Gründen der Akzeptanz und Nahbarkeit wünschenswert erscheinen mag, laufen sie Gefahr, das zu unterbieten, was sie eigentlich darzustellen konstruiert wurden: Soziale Bindung. Die Diakonie versteht Pflege nicht nur als einen Versuch, körperliche Leiden zu lindern, sondern auch vor dem sozialen Tod zu bewahren. Roboter haben vor diesem Hintergrund die Aufgabe ein Mehr an Sozialität zu fördern und nicht versehentlich selbst zur Einsamkeit von Pflegebedürftigen beizutragen.

Anhang: Festprogramm – – – – –

Gesamtprogramm Programm zur Vortragsreihe der Alumni Programm der zentralen Festtage Programm des Festgottesdienstes Programm der Ringvorlesung des Professoriums der ETF

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Gesamtprogramm

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Programm zur Vortragsreihe der Alumni

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Programm der zentralen Festtage

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Programm des Festgottesdienstes

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Programm der Ringvorlesung des Professoriums der ETF

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Die Autorinnen und Autoren

Mag. Michael Chalupka, Jahrgang 1960, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich Dr. Christian Danz, Jahrgang 1962, Professor für Systematische Theologie A.B. am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wilfried Engemann, Jahrgang 1959, Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wolfgang Eßbach, Jahrgang 1944, em. Professor für Kultursoziologie am Institut für Soziologie der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg Dr. Marianne Grohmann, Jahrgang 1969, Professorin für Altes Testament am Institut für Altes Testament und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Anna Hager, Jahrgang 1987, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Hertha Firnberg-Stipendiatin des FWF am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Uta Heil, Jahrgang 1966, Professorin für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Mag. Thomas Hennefeld, Jahrgang 1966, Pfarrer und Landessuperintendent der Evangelischen Kirche H.B. in Österreich

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Isolde Karle, Jahrgang 1963, Professorin für Praktische Theologie und Direktorin des Instituts für Religion und Gesellschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Prorektorin für Diversität, Inklusion und Talententwicklung der Ruhr-Universität Bochum Dr. Dr. h.c. Ulrich H.J. Körtner, Jahrgang 1957, Professor für Reformierte Theologie am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien DDr. Rudolf Leeb, Jahrgang 1958, Professor für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wolfgang Mayrhofer, Jahrgang 1958, Professor und Leiter des Interdisziplinären Instituts für verhaltenswissenschaftlich orientiertes Management an der Wirtschaftsuniversität Wien Dr. Dr. h.c. Paul Oberhammer, Jahrgang 1965, Professor für Zivilverfahrensrecht am Institut für Zivilverfahrensrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Dr. Markus Öhler, Jahrgang 1967, Professor für Neues Testament am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wolfram Reiss, Jahrgang 1959, Professor für Religionswissenschaft am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien Cornelia Richter, Jahrgang 1970, Professorin für Systematische Theologie am Institut für Systematische Theologie und Hermeneutik der Universität Bonn Hartmut Rosa, Jahrgang 1965, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie am Institut für Soziologie der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Jena Dr. Martin Rothgangel, Jahrgang 1962, Professor für Religionspädagogik am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Die Autorinnen und Autoren

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Dr. Robert Schelander, Jahrgang 1960, Professor für Religionspädagogik am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Annette Schellenberg, Jahrgang 1971, Professorin für Altes Testament am Institut für Altes Testament und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Mag. Karl Schiefermair, Jahrgang 1957, bis 31. 08. 2022 Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich Dr. Brigitta Schmidt-Lauber, Jahrgang 1965, Professorin für Europäische Ethnologie am Institut für Europäische Ethnologie an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Dr. Christa Schnabl, Jahrgang 1964, Vizerektorin für Studium und Lehre der Universität Wien Dr. Dr. phil. h.c. Karl W. Schwarz, Jahrgang 1952, Titularprofessor für Religionsrecht an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Mag. theol. Jonas Simmerlein, Jahrgang 1993, Pre-Doc Assistent für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Karl Vocelka, Jahrgang 1947, a.o. Professor (i.R.) für Österreichische Geschichte am Institut für Geschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

Bibelstellenregister

Altes Testament Gen 184 Gen 2,7 92 Gen 17 192 Gen 22 323 Gen 25,5–6 240 Gen 29,9 216 Gen 49,9 207, 216 Ex 187, 194 Ex 21,7–11 81 Ex 33,11 92 Ex 33,20 192 Lev 194 Lev 26 192 Dtn 191–192, 194–195 Dtn 15,4.11 192 Dtn 18,15.18 92 Dtn 21,10–14 181 Dtn 22,13–21 181 Dtn 22,22.28–29 181 Dtn 28,4 210 Dtn 28,35 191 Dtn 32,18 205 Dtn 34,10 192 Jos 1–12 184 1 Kön 22,19–23 224 2 Kön 184 Esr-Neh 184 Est 184 Hi 1–2 183 Hi 1,1.8 191 Hi 1,2–3 192 Hi 1,5 192 Hi 1,6 184, 187

Hi 1,9–11 183 Hi 1,12–13.15–17.19 192 Hi 2,3 191 Hi 2,4–5 183 Hi 2,7 83, 191 Hi 7,17–18 192 Hi 18,5 191 Hi 19,25 197 Hi 21,17 191 Hi 28 194 Hi 38–41 194 Hi 42,10.12–13 192 Ps 1,3 210 Ps 7 219–220 Ps 7,2–3 206, 219 Ps 7,11–12 220 Ps 8 299 Ps 8,5 192 Ps 17 220 Ps 22 294 Ps 22,14.17.22 206 Ps 23 215–217 Ps 23,1 216 Ps 24 205 Ps 29 205 Ps 31 220 Ps 33,13–15 224 Ps 35 220 Ps 35,22 305 Ps 39,5 108 Ps 39,13 305 Ps 44 220 Ps 44,8.10.20 220 Ps 47 205

460 Ps 48,9 210 Ps 50,3 290, 305 Ps 57,5 206, 207 Ps 58,12 210 Ps 59 220 Ps 63,8–9 205 Ps 74 220 Ps 80 220 Ps 105 299 Ps 105,35 210 Ps 107,34 210 Ps 109,1 305 Ps 113,4–6 213 Ps 116,10 290 Prov 191 Prov 9,1–6 385 Prov 9,13–18 387 Prov 13,9 191 Prov 20,20 191 Prov 24,20 191 Koh 5,1 194 Jes 6 224 Jes 22,13 249 Jes 31,4–5 206 Jes 31,4 216–217 Jes 38,13 206 Jes 40,11 216 Jes 43,1 92 Jes 43,14–19 192 Jes 45,15 298 Jes 48,20–21 192 Jes 51,9–11 192 Jes 53 294

Bibelstellenregister

Jes 53,7 294 Jes 55,8 194 Jer 1–24 218–219 Jer 2,7 218 Jer 11,16 218 Jer 12,10 218 Jer 24,5 218 Klgl 3,10 206 Ez 1 224 Hos 4,16 214, 216–217 Am 3,12 216–217 Apokryphen Jdt 16,24 240 Sir 33,20–24 240 1Makk 1,6 240 Neues Testament Mt 13,14 288 Mk 9,7 294 Mk 9,24 119 Mk 15,1–5 294 Mk 15,34 243, 291, 294 Mk 15,39 295 Lk 15,1–2 241 Lk 15,11–32 240, 242 Röm 6,23 324 1Kor 4,7 297, 300 1Kor 12,28 ff 22 1Kor 14,26 ff 22 2Kor 4,6 302 2Kor 4,13 290 Hebr 11,1 119

Personenregister

Alves, João 157 Aly, Götz 252–253 Arendt, Hannah 89 Assmann, Jan 99, 139, 196, 199, 254 Astruc, Jean 180

von Egidy, Moritz 143 Entz, Gustav 59–60, 62–64, 394, 39–399, 401–403, 405–410 Erkurt, Melissa 358 Eusebius (von Cäsarea) 260–262

Bahrdt, Hans Paul 133 Barth, Karl 140, 202, 238, 276, 303–304 Benz, Ernst 400–401 Beth, Karl 54, 58–59, 63, 396–398, 405 Beutel, Albrecht 271 Bielefeldt, Heiner 159 Bohatec, Josef 54, 58, 61, 63, 396, 399 Böhl, Eduard 47–48, 50 Bonhoeffer, Dietrich 106, 243, 290–291, 301, 305–306, 388 Bonus, Arthur 143, 258 Bormann, Martin 406 Bourdieu, Pierre 78 Buber, Martin 92 Bultmann, Rudolf 89, 235, 276, 284, 289– 290, 292, 301

Feine, Paul 15, 51, 54 Fohrer, Georg 15, 64 Frank, Gustav Wilhelm 47 Franz I. 14, 37, 40 Franz II. 23 Frey, Hermann-Walter 406, 409

Calvin, Johannes 24, 53, 118, 291 von Campenhausen, Hans 15, 63, 397, 402 Capesius, Viktor 398, 400 Comte, Auguste 130 Crainic, Nichifor 406 Dantine, Wilhelm 64–66 Dedic, Paul 393–414 Deissmann, Adolf 395

Gabler, Johann Philipp 179, 190, 227, 230– 235, 240 Genersich, Johann 42–43 von Goethe, Johann Wolfgang 142 Gogarten, Friedrich 276 Grotius, Hugo 158, 179, 243 Grundmann, Herbert 63 Händel, Georg Friedrich 202 von Harnack, Adolf 58, 395 von Hase, Karl 262–263, 265, 268 Heckel, Theodor 396–397 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 69, 122, 265, 325 Heiler, Friedrich 362–363 Heine, Susanne 65, 120 Herder, Johann Gottfried 179, 184 Heydrich, Reinhard 406 Hoffmann, Richard 397 Honneth, Axel 86 Horyna, Bretislav 372

462

Personenregister

Ignatius v. Antiochien Illig, Udo 412

292

James, William 92 Jaspers, Karl 92 Joseph II. 38, 121, 170, 262 Kalthoff, Albert 143 Kauer, Robert 400–401 Kierkegaard, Sören 142 Kittel, Gerhard 60, 258, 405, 407 Koch, Hans 51, 397, 404 Kopetzki, Christian 155–156 Körtner, Ulrich 155, 336, 429 Koselleck, Reinhart 134–135, 264, 280 Krüger, Kurt 406, 408 Kuzmány, Karl (Karol) 40, 42, 45–47, 49 Latour, Bruno 74, 87–88 Leeb, Rudolf 155, 171, 396 Leube, Hans 397–398 Lietzmann, Hans 61, 397, 401, 405 Lipsius, Richard Adelbert 47 Loesche, Georg 47, 54, 395 von Loewenich, Walther 397–398 Loserth, Johann 395 Luckmann, Thomas 132–135 Luhmann, Niklas 134 Luther, Martin 23, 53, 90–91, 114, 116–117, 142, 156, 190, 242, 291, 297, 306 Lüthi, Kurt 64–66 Macho, Thomas 87 Markschies, Christoph 138, 255 May, Gerhard 59–61, 404–408 Mecenseffy, Grete 43, 65, 395 Melanchthon, Philipp 113–114, 116–119, 241–242 Merleau-Ponty, Maurice 69–70 Metz, Johann Baptist 292, 301–302 Moses, Dirk 251 Muhs, Hermann 403 Müller, Johannes 143 Mutter Teresa 77 Nassehi, Armin

105, 108–109

Netoliczka, Adelheid 412 Nietzsche, Friedrich 122, 125, 247, 265, 268 Nowak, Kurt 257, 271 Opitz, Hans Georg 61–62, 397, 400–401, 405 Oppenheimer, Robert J. 84 Palacký, Frantisˇek 44, 48 Pernter, Hans 398 Pius IX. 142 Pöschl, Magdalena 159 Rawls, John 77–78 Reimarus, Hermann Samuel 179 Richards, Ivor A. 210, 212 Rosa, Hartmut 202, 388 Rosenberg, Alfred 406 Roskoff, Georg Gustav 47, 50 Rothgangel, Martin 155–156, 167 Rust, Bernhard 405 Schäufele, Wolf-Friedrich 259, 264, 269 Schimko, Daniel 43, 66 von Schirach, Baldur 407 Schleiermacher, Friedrich 92, 94, 96–98, 106, 115, 121, 236, 263, 278 Schmettan, Leopold 403–404 Schmidt, Hans 403, 408 Schmidt, Hans Wilhelm 61–62, 405 von Schubert, Hans 395 Schulze, Gerhard 71 Seeberg, Erich 397, 400 Sell, Karl 395 Semler, Johann Salomo 179, 231 Simon, Richard 180 Skalský, Gustav Adolf 39, 49, 54 Sloterdijk, Peter 87, 104, 325–326 von Soden, Hans 402 de Spinoza, Baruch 180 von Srbik, Heinrich 397–398 Stahn, Julius 406 Stöger, Karl 156 Taylor, Charles 69, 73, 81, 89 Tertullian 304

Personenregister

Theißen, Gerd 180, 184, 202, 431 Traar, Georg 396–398, 413 Virchow, Rudolf 142 Vogelsang, Erich 400–401 Völker, Karl 53, 58, 61, 393–396, 413 Wach, Joachim 361, 365 Wacker, Otto 406 Wagenmann, Julius 398

463 Wahl, Hans 397–398 Weber, Max 85, 93, 130, 132, 135, 173 Weiss, Johannes 395 Welker, Michael 105–106 Wenrich, Johann Georg 42–43 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 180 Weyel, Birgit 305 Wiesinger, Susanne 357 Wilke, Fritz 52–53, 56, 61–62, 396–397