Facetten der Prekarisierungsgesellschaft: Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben [1. Aufl.] 9783839421932

Social securities are being eroded, gainful employment is becoming a lottery, the future is becoming impossible to plan

179 31 2MB

German Pages 224 [223] Year 2014

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Inhalt
Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft
I. Die Passage zur Prekarität: Theorieperspektiven
Wird die Prekarität ein neues Leitmodell der Arbeit?
Flexibilität und Prekarität. Die zwei Gesichter einer entfesselten Marktgesellschaft
Das Regulationsdilemma prekärer Arbeit. Große Krisen des Kapitalismus und (blockierte) Alternativen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
Ungleichheit, Devianz und Differenzierung. Paradigmen der Inklusions- und Exklusionsforschung
Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität?. Überlegungen über Prekarisierung als Denormalisierung
II. Die Passage zum Prekariat: Handlungsperspektiven
Prekarität aus post-operaistischer Perspektive
Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit
Von Ausschluss zu Ausschluss. Migration und die Transformation politischer Subjektivität
Prekäres Regieren. Methodologische Probleme von Protestanalysen und eine Fallstudie zu Superhelden in Aktion
Prekäre Verknüpfungen. Das Protestjahr 2011 aus diskursanalytischer Perspektive
Demokratische Politik im Zeitalter des Postfordismus
Autorinnen und Autoren
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Facetten der Prekarisierungsgesellschaft: Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben [1. Aufl.]
 9783839421932

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Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft

Gesellschaft der Unterschiede | Band 9

Oliver Marchart (Hg.)

Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben

Gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Forschungskommission der Universität Luzern.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2193-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft Oliver Marchart | 7

I D IE P ASSAGE ZUR P REKARITÄT : T HEORIEPERSPEK TIVEN Wird die Prekarität ein neues Leitmodell der Arbeit? Patrick Cingolani | 23

Flexibilität und Prekarität Die zwei Gesichter einer entfesselten Marktgesellschaft Franz Schultheis | 37

Das Regulationsdilemma prekärer Arbeit Große Krisen des Kapitalismus und (blockierte) Alternativen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung Bernd Röttger | 49

Ungleichheit, Devianz und Differenzierung Paradigmen der Inklusions- und Exklusionsforschung Cornelia Bohn | 71

Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität? Überlegungen über Prekarisierung als Normalisierung -UJHQ/LQN | 91

II D IE P ASSAGE ZUM P REKARIAT : H ANDLUNGSPERSPEK TIVEN Prekarität aus post-operaistischer Perspektive Marianne Pieper | 109

Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit Isabell Lorey | 137

Von Ausschluss zu Ausschluss Migration und die Transformation politischer Subjektivität Serhat Karakayali | 147

Prekäres Regieren Methodologische Probleme von Protestanalysen und eine Fallstudie zu Superhelden in Aktion Ulrich Bröckling | 155

Prekäre Verknüpfungen Das Protestjahr 2011 aus diskursanalytischer Perspektive Mario Vötsch | 173

Demokratische Politik im Zeitalter des Postfordismus Chantal Mouffe | 205

Autorinnen und Autoren | 217

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft Oliver Marchart

»Prekarität ist überall«. So Fazit und Titel eines Vortrags, in dem Pierre Bourdieu 1997 die »Allgegenwart« von Prekarität diagnostizierte. Ein »breitgefächerter Prekarisierungsstrom« habe sich in den privaten wie in den öffentlichen Sektor, in die Industrie wie in den Kulturbereich ergossen und reiße die gesamte soziale Welt mit sich (Bourdieu 1998). Prekarisierung gehöre, so Bourdieu, einer neuen Herrschaftsnorm an. Mit ihr wird ein allgemeiner Dauerzustand der Unsicherheit errichtet. Denn die durch Erwerbsarbeit geregelte Existenzsicherung ist nur noch bis auf Widerruf gewährleistet. Im äußersten Fall werden, nach Verlust der Arbeit, alle Lebensverhältnisse der Individuen in Frage gestellt. Wenn diese Diagnose, die inzwischen von vielen weiteren Sozialwissenschaftlern geteilt wird, zutrifft und Prekarität tatsächlich überall ist, dann wird man nach ihren gesellschaftstheoretischen Implikationen fragen müssen. Der vorliegende Band – wie die ihn flankierende Studie Die Prekarisierungsgesellschaft (Marchart 2013a) – unterbreitet den Vorschlag, die gegenwärtigen Gesellschaften des Westens, soweit sie den fordistischen Kompromiss der Nachkriegszeit und den Wohlfahrtsstaat hinter sich lassen, als Prekarisierungsgesellschaften zu verstehen.1 In Prekarisierungsgesellschaften ist das soziale Gefüge einem Prozess der Verunsicherung tendenziell aller Arbeits- und Lebensverhältnisse ausgesetzt, d.h. der Diffusion von Prekarität in den gesamten Raum des Sozialen. Natürlich boten die Wohlfahrtsregime des Westens ihrer Bevölkerung auch zuvor keine vollständige Sicherheit.2 Jeder wisse, so Adorno zu einer Zeit, in der von Hartz IV noch lange nicht die Rede war, »daß die Gesellschaft ihre Gnaden1 | Für eine erste Formulierung des Arguments vgl. Marchart 2010. Für den gesellschaftstheoretischen »Überbau« der Rede von der Prekarisierungsgesellschaft vgl. Marchart 2013b. 2 | Prekarität ist, wie Robert Castel zu Recht betont hat, ein relativer Begriff. Darüber hinaus ist zu ergänzen, dass die sozialstaatlich verbürgte relative Sicherung vor allem dem männlichen und mehrheitsgesellschaftlichen Normalarbeiter zukam.

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geschenke zurücknehmen kann. Was die Angst trägt, ist: Die Gesellschaft ist ihrer selbst nicht mächtig, ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt gibt es nicht, ihre Wohltaten sind nur auf Widerruf« (Adorno 2008: 197-8). Der Unterschied zu den Zeiten des postfordistischen Kompromisses der Nachkriegsjahre besteht schlicht darin, dass Politik heute wahrmacht, was zuvor nur eine vage Drohung blieb. Inzwischen sind nahezu alle Erwerbstätigen mit Fragen wie den folgenden konfrontiert: »Gibt es einen Folgeauftrag? Wird mein Vertrag verlängert? Wird das Weihnachts- oder Urlaubsgeld gestrichen? Lande ich bei Hartz IV? Reicht das Geld – für den Urlaub, für die Ausbildung der Kinder, fürs nackte Überleben? Was passiert, wenn ich krank oder alt bin? Wenn ich ein Pflegefall werde oder jemand aus der Verwandtschaft?« (Hauer 2007: 33) Verängstigung ist endemisch geworden, auch wenn sie nicht alle in gleicher Intensität trifft (zu Angst und Furcht im Postfordismus vgl. Virno 2005). Genauswenig sind alle in gleichem Ausmaß von Prekarisierung betroffen. Prekarisierung ist kein homogener Prozess, der Prekarisierungslasten gerecht verteilen würde. Und so sind auch die Übergänge von der Sicherungsgesellschaft der Nachkriegsjahre zur Prekarisierungsgesellschaft graduell. Nach wie vor befinden wir uns in der Passage vom Fordismus zum Postfordismus, von der Sicherungs- zur Prekarisierungsgesellschaft. Dennoch setzt die Rede von der Prekarisierungsgesellschaft einen Begriff von Prekarisierung voraus, der das Phänomen nicht als Randphänomen sozialer Entwicklung konturiert, sondern als ein tendenziell alle sozialen Felder bzw. Schichten umgreifendes Phänomen. Hinsichtlich seines theoretischen Status könnte man diesen Begriff zu jenen Kategorien zählen, die Bruno Latour als Panoramen bezeichnet: 360-Grad Darstellungen des sozialen Raums. Darunter zählt Latour etwa Luhmanns Begriff des autopoietischen Systems, Bourdieus »symbolische Ökonomie« oder Becks Risikogesellschaft. Latour macht auf den diagnostischen Wert solcher Panoramen aufmerksam. Werden sie nicht mit Alleinerklärungsanspruch vorgetragen, sondern als mögliche Erklärungsansätze unter vielen, dann erweisen sie sich als produktiv, bieten sie doch die einzige Möglichkeit, Geschichte und Gesellschaft überhaupt als etwas »Ganzes« und damit scheinbar divergente Sozialphänomene in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen. Aus ihnen, so Latour, gewinnen wir »unsere Metaphern für das, ›was uns miteinander verbindet‹, für die von uns angeblich geteilten Leidenschaften, für den allgemeinen Grundriß der Gesellschaftsarchitektur und die großen Erzählungen, mit denen wir diszipliniert werden« (Latour 2007: 326). In genau diesem Sinne erlaubt der Begriff der Prekarisierungsgesellschaft, Gemeinsamkeiten und Überschneidungen sozialer Entwicklungen hervorzuheben, wo man andernfalls keine sehen würde. Letzteres ist leider nach wie vor der Normalfall, was die massenmedial geführte deutsche Unterschichtendebatte bzw. die Diskussion um die Ausgegrenzten (zur Begriffsdiversifizierung vgl. Cornelia Bohns Beitrag in diesem

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft

Band) illustriert. Im Herbst 2006 waren von der SPD-nahen Friedrich Ebert Stiftung Ergebnisse einer Studie der Wertevorstellungen von 3000 wahlberechtigten Deutschen vorveröffentlicht worden. In dieser Studie wurde die Existenz eines politischen Einstellungstypus behauptet, der sich ins gesellschaftliche Abseits gestellt und von der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen fühlte. Diese Gruppe eines »abgehängten Prekariats«, wie man sie nannte, wurde auf 8 % beziffert (Brinkmann et al. 2006). War der Begriff des Prekariats bzw. der Prekarität in den Sozialwissenschaften bereits jahrelang diskutiert worden, so drang er nun in die deutschsprachige Öffentlichkeit vor. An der öffentlichen Debatte war bemerkenswert, dass der Streit sich um die 8 % der vorgeblich Abgehängten drehte. Aber die Studie hatte nicht allein ein »abgehängtes Prekariat« ausgemacht, sondern auch eine breite gesellschaftliche Grundstimmung der Verunsicherung: 63 % der Befragten gaben an, die gesellschaftlichen Veränderung bereiteten ihnen Angst, 46 % empfanden ihr Leben als ständigen Kampf, und 44 % fühlten sich vom Staat allein gelassen. Es offenbarte sich eine Form der zumindest subjektiven Prekarisierung, die offenbar weit über die Gruppe des sogenannten abgehängten Prekariats hinausreicht. Die Befunde, obgleich verkürzt rezipiert, hatten in Wahrheit bestätigt, dass wir uns im Übergang zur Prekarisierungsgesellschaft befinden. Diese Entwicklung wurde in Folge der Finanz- und Schuldenkrise der Jahre nach 2008 in bis dahin unerahntem Ausmaß forciert. Der vorliegende Band ist, wie auch sein Zwillingsband, aus der Überlegung entstanden, dass ein umfassendes Phänomen wie das der Prekarisierung mithilfe eines einzigen sozialwissenschaftlichen Ansatzes nicht hinreichend erklärt werden kann. Erforderlich ist eine Art sozialwissenschaftliche »Triangulation« des Phänomens aus divergierenden Blickwinkeln. Dass die Divergenzen zwischen den verschiedenen Erklärungsansätzen nicht überhand nehmen dürfen, versteht sich von selbst. Nicht nur wäre ab einem bestimmten Punkt kein Dialog mehr möglich, auch würde sich der gemeinsame Gegenstand in eine Mehrzahl unterschiedlicher Gegenstände verflüchtigen. Deshalb sollte auf Ansätze zurückgegriffen werden, die den prinzipiell umfassenden Charakter von Prekarisierung weder verleugnen noch kleinrechnen. Das vorausgesetzt, kann sich eine Theorie der Prekarisierungsgesellschaft auf eine Reihe solcher Ansätze stützen: • Da ist zunächst die ökonomische Regulationstheorie, wie sie in Frankreich im Anschluss an den strukturalen Marxismus der Althusser-Schule ausgearbeitet und in Deutschland vor allem durch Joachim Hirsch weiterentwickelt wurde, und die vor allem die für die Kapitalakkumulation notwendigen Formen der politischen, sozialen und kulturellen Regulation im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus untersucht.

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• Da sind die Gouvernementalitätsstudien der Foucault-Schule, wie sie u.a. die »Unsicherheitsdispositive« (Lemke) des Neoliberalismus untersucht hat wie auch die entsprechenden Subjektivierungsformen eines »unternehmerischen Selbst« (Bröckling). • Da ist weiters die pragmatische Soziologie, im Besonderen die prominente Arbeit von Boltanski und Chiapello, die im breiteren Kontext der Économie des conventions die Herausbildung einer neuen Rechtfertigungsordnung der »projektbasierten Polis« und damit eines neuen »Geistes des Kapitalismus« beschrieben haben. • Da ist der italienische Postoperaismus (am bekanntesten vertreten durch Antonio Negri, aber auch durch Maurizio Lazzarato, Paolo Virno oder Sergio Bologna), der die Ausweitung der Sphäre der Produktion unter Bedingungen der Prekarität in die gesamte Gesellschaft beschrieben hat, die nun zur »fabbrica diffusa« eines »kognitiven Kapitalismus« wird. • Und da ist schließlich die diskursanalytische Hegemonietheorie der Essex School (ausgehend von den Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe), die Prekarisierung mithilfe eines integralen Begriffs von Ökonomie fassen lässt. Ökonomie wird hier als eine mit Kultur verschränkte Dimension einer jeden hegemonialen Gesellschaftsformation verstanden. Werden die Erklärungen dieser Ansätze, die von den meisten Autoren und Autorinnen dieses Bandes vertreten werden, in ihren wesentlichen Punkten zusammengeführt,3 kommen wir zum übereinstimmenden Ergebnis, dass unter Prekarisierung ein Phänomen zu verstehen ist, das den gesamten sozialen Raum – wenn auch auf je unterschiedliche Weise – einem tief greifenden Wandlungsprozess unterwirft. Und zwar deshalb, so mein Argument, weil es zumindest entlang dreier Achsen die inneren Grenzen dieses Raums durchschneidet.

D IE ERSTE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : E INE ZU S TR ATIFIK ATION »TR ANSVERSALE P REK ARITÄT« Auf einer ersten Achse verläuft der Strom der Prekarisierung, im Unterschied zum Begriff des Prekariats, quer zu sozialen Schichtungen. Prekarität ist deshalb nicht notwendigerweise mit Armut zu identifizieren. Zwar muss in der Tat unterschieden werden zwischen den verschiedenen Formen von Prekarisierungserfahrungen – und typischerweise wird, wie in der erwähnten Ebert-Studie, auch unterschieden zwischen Prekarität als spezifischer Form der Armut und des Ausschlusses und Prekarität als, um Klaus Dörres (2005) Typisierung 3 | In Die Prekarisierungsgesellschaft werden sie einem systematischen und ausführlichen Vergleich unterzogen.

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aufzugreifen, Form der »atypischen Integration« der Unkonventionellen und Selbstmanager, der intellos précaires, die – aufgrund ausreichenden Bildungskapitals und womöglich auch ökonomischen Kapitals – nach wie vor in einer Zone der Integration verortet werden. Allerdings ist die Erfahrung von Prekarisierung nicht auf diese beiden Gruppen begrenzt. Der Diskursanalytiker Jürgen Link hat den Begriff eines »transversalen Prekariats« geprägt für diese sich »quer durch die Stratifikation« erstreckende neue soziale Situation, die »als Flexibilisierung plus Wegfall bzw. Schrumpfung der sozialen Netze […] entstanden ist«. Von einer »Transgression der Strata« lasse sich sprechen, weil eine objektive Gemeinsamkeit in jener »Gravitation« bestehe, »die alle Betroffenen mit einer durchgehenden Abwärtsspirale, bis hin zum ›Abgehängtwerden‹, bedroht« (vgl. Link in diesem Band). Entscheidende Ursache für diese Transversalität des Phänomens ist, dass sich die zunehmende Flexibilisierung und Prekarisierung vieler Arbeitsverhältnisse auf die integrierten Sektoren der Normalarbeit auswirkt. In unterschiedlichem Grad und unterschiedlicher Form betrifft Prekarisierung »fast alle Arbeitnehmergruppen, den angelernten Hilfsarbeiter nicht anders als den Gründer eines Start-ups« (Castel 2007: 62). Man kann sich in dieser Hinsicht also Dörres Definition anschließen und mit Prekarisierung einen sozialen Prozess bezeichnen, »über den die Erosion gesellschaftlicher Normalitätsstandards auf die Integrierten zurückwirkt« (2005: 58). Aufgrund dieses Rückwirkungseffekts kann Prekarisierung, im Unterschied zu Prekarität, nicht auf bestimmte soziale Strata oder Arbeitsverhältnisse begrenzt werden. Als Drohung wirkt sie auch auf die noch bestehenden Normalarbeitsverhältnisse. Ein solches Konzept nicht nur weitreichender, sondern, wie ich behaupten würde, umfassender Prekarisierung macht ungleichheitssoziologische Untersuchungen natürlich nicht überflüssig. Sie besitzt solchen Untersuchungen gegenüber aber den Vorteil, eine transversale Kondition sozialen Wandels benennbar zu machen, die immer größere Teile der arbeitenden (und nicht arbeitenden) Bevölkerung betrifft, so dass schließlich die Rede von einer Prekarisierungsgesellschaft Plausibilität gewinnt.

D IE Z WEITE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : A RBEIT UND N ICHT -A RBEIT (» INTEGR ALE Ö KONOMIE «) Auch auf einer zweiten Achse erweist sich Prekarisierung als ein tendenziell die Gesamtheit sozialer Verhältnisse prägender Prozess. Dieser Prozess hat die grundlegende Verunsicherung nicht nur der meisten Arbeits-, sondern auch der meisten Lebensbereiche zur Folge: d.h. nicht nur die Sphäre der Ökonomie, sondern auch die der (Alltags-)Kultur. Zunächst aus dem einfachen Grund, dass in unseren Lohnarbeitsgesellschaften soziale Sicherheitsstandards an das Arbeitsverhältnis geknüpft sind und von dessen Prekarisierung mitgerissen

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werden. Aber aus Sicht der erwähnten Sozialtheorien herrscht Übereinstimmung bezüglich einer noch tiefer greifenden Ursache: Zunehmend verschwimmen nämlich die Sphärengrenzen zwischen Produktion und Reproduktion, »Arbeit« und Nicht-Arbeit, bzw. Arbeit und »Leben«. So lautet die Hauptthese des Postoperaismus, der Ort der Arbeit habe sich von der Fabrik über den gesamten sozialen Raum hinweg ausgedehnt (die Rede ist von einer »fabbrica diffusa«, Lazzarato 1998: 45). Die zur Produktion insbesondere sog. immaterieller Güter (Dienstleistungen, Wissen, Kommunikation, Affekte) erforderlichen intellektuellen und kreativen Fähigkeiten breiten sich tendenziell auf das gesamte Arbeitskräftepotenzial aus (Hardt 2004: 183), weshalb Postoperaisten auch von Massenintellektualität sprechen, und werden vor allem jenseits des eigentlichen Orts der Arbeit erworben und trainiert. Auch wenn man scheinbar nicht arbeitet, arbeitet man. Diese Massenintellektualität wird zwar auch innerhalb der klassischen Lohnarbeit zunehmend nachgefragt, ihre typische Entsprechungsform ist aber die neue Selbständigkeit, wie sie u.a. von Boltanski und Chiapello beschrieben wurde: Sie ist charakterisiert durch netzwerkförmig strukturierte Projektarbeit, bei der die Grenze zwischen Freizeit und Arbeitszeit immer schon unbestimmt bleibt (Boltanski/Chiapello 2003: 155). Es kommt zu einer Kolonisierung der Lebenswelt durch das Projektmodell: Das Leben selbst wird »als eine Abfolge von Projekten aufgefasst« (156). Zum Beispiel wird selbst Elternschaft zu einem Projekt, nämlich zu einem, wie Boltanski (2007) es nennt, »Projekt Kind«. Wird also einerseits die Sphäre der Nicht-Arbeit produktiv gemacht, so greift andererseits auch die Prekarisierung der Arbeit auf das Leben über. Da der Normalarbeitstag für Projektarbeit keine zeitliche Bezugsgröße mehr bildet, nehmen Honorarzahlungen an Bedeutung zu. Das impliziert nicht nur die Intensivierung von Arbeitszeit bis hin zu einem schrankenlosen Arbeitstag. Die Ersetzung der Lohnform durch die Rechnung oder das Honorar schafft darüber hinaus das grundlegende Prinzip der Subsistenzgarantie ab (Bologna 2006). War die Lohnform noch an den Anspruch der existenziellen Erhaltung der Arbeitskraft geknüpft, die durch den indirekten Lohn auch bei Verlust der Arbeitsfähigkeit garantiert wurde, so wird dieses Modell inzwischen vom Modell des existenziellen Risikos abgelöst. Auch in dieser Hinsicht – d.h. in Gestalt der Entsicherung von Arbeits- wie auch Lebensverhältnissen – erweist sich der gesellschaftsumfassende Charakter des Wandels durch Prekarisierung.

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft

D IE DRIT TE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : O BJEK TIVE UND SUBJEK TIVE P ROZESSE Mit dem Begriff Prekarisierung lassen sich schließlich sowohl objektive als auch subjektivierende Prozesse beschreiben. Objektiv erweist sich Prekarisierung als eine Form postfordistischer Regulation, die das keynesianische Wohlfahrtsstaatsregime untergräbt.4 War im Fordismus »Prekarität an die Ränder der kapitalistischen Akkumulation gedrängt: die kleinen Subunternehmer, die Landwirtschaft und den Kleinhandel, die Länder der Dritten Welt« (Aglietta 2000: 30), so werden nun Beschäftigungssicherung und Regelmäßigkeit des Einkommens auf breiter Front in Frage gestellt. Das daraus resultierende objektiv größere Abstiegsrisiko, das vom neuen Regulationsprinzip der Prekarisierung erzeugt wird, führt auf subjektiver Ebene zur Angstneurotisierung des Individuums. Die wirkt sich freilich unterschiedlich aus. Im extremen Prekarisierungsfall von Armut und Arbeitslosigkeit wird, wie Bourdieu festhält, das gesamte Verhältnis der Betroffenen zu Welt, Raum und Zeit destrukturiert. Doch als Drohung, inkarniert von der Reservearmee des Prekariats, bleibt Prekarität allzeit in den Köpfen aller präsent. »Weder dem Bewußtsein«, so Bourdieu (1998: 97), »noch dem Unterbewußten läßt sie jemals Ruhe«. Es würde allerdings zu kurz greifen, wollte man ausschließlich diese repressive Seite betonen, wird im Postfordismus doch zugleich die produktive Seite von Subjektivitätsressourcen mobilisiert (Lipietz 1998: 170). Die auf jeden einzelnen übertragene Verantwortung, mit sozialen und beruflichen Risiken selbst umzugehen, muss durch subjektivierende Strategien implementiert werden, die solche Risiken als Bereicherung und prekarisierte Arbeitsbedingungen als Freiheit zur Selbstverwirklichung erfahrbar machen. Darüber hinaus wurde im Anschluss an Foucault immer wieder darauf hingewiesen, dass die Selbstregierungsfähigkeiten der Subjekte heute zu den »Schlüsselressourcen der modernen Regierungsformen« zählen (Miller/Rose 1994: 55). Auch hier spielen objektivierende und subjektivierende Faktoren ineinander. Mithilfe gouvernementaler Technologien werden Herrschaftsmechanismen etabliert, die gerade das Autonomiepotential frei handelnder und unternehmerisch denkender Subjekte befördern und als Produktivitätsressource anzapfen sollen. Dabei handelt es sich um gelebte gouvernementale Technologien. In der Folge dringen die prekarisierten Arbeitsverhältnisse des neoliberalen Regimes – und die damit verbundene Subjektivierungsform des Unternehmers seiner selbst, der sich dem Marktgeschehen und seinen Risiken ausliefert – in Form der positiv kodierten Erfahrung von Kreativität und Selbstverwirklichung bis tief in die Psyche jedes einzelnen vor. 4 | »Deregulierung«, darauf wird in der Regulationstheorie immer hingewiesen, ist nicht keine Regulation, sondern eine spezifisch neoliberale oder postfordistische Form der Regulation.

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D IE POLITISCH - KULTURELLE D IMENSION DES W ANDELS DURCH P REK ARISIERUNG : H EGEMONIE Mir ging es soweit darum, die Konvergenz unterschiedlicher sozialtheoretischer Erklärungsmodelle von Prekarisierung (jedes einzelne gestützt auf empirische Untersuchungen) in einem wesentlichen Punkt herauszuarbeiten: dass nämlich Prekarisierung auf keine bestimmte Zone, Gruppe, Schicht oder Klasse begrenzt ist. Der »umfassende Prekarisierungsstrom«, von dem Bourdieu spricht, durchbricht die Grenzen der sozialen Schichtung (in Form von »transversaler Prekarität«), die Grenze von Arbeit und Nicht-Arbeit oder Arbeit und Leben (in Form einer »fabbrica diffusa«) und schließlich die Grenze zwischen objektiven und subjektiven Aspekten der Prekarisierung.5 Aus ebendiesem Grund darf die im weitesten Sinne politisch-kulturelle Dimension von Prekarisierung in keiner Analyse vernachlässigt werden. Es handelt sich eben nicht um einen rein ökonomischen Prozess. Betrachten wir etwa die dritte Achse der Prekarisierung, dann erweisen sich die Selbstregierungstechniken prekärer Subjekte als tief verwurzelt in deren Alltagshandeln und in populären Vorstellungswelten, wie sie in den Massenmedien, in der Werbung, in den Lebensratgebern etc. verbreitet werden. Ein politischer Begriff von Kultur, der uns erlaubt, all diese Formationen in Rechnung zu stellen, findet sich in dem von Antonio Gramsci entwickelten Konzept der Hegemonie. Darunter lässt sich ein Verhältnis der Sicherung massenhaften Konsenses und freiwilliger Zustimmung zu einer bestimmten sozialen Formation bzw. einem »historischen Block« verstehen. Das Feld der Kultur ist aus dieser Perspektive zutiefst machtgetränkt. Denn wie wäre die kulturelle Konstruktion sozialer Identitäten und Subjektivierungsformen analysierbar ohne Berücksichtigung der Machtverhältnisse, denen sie eingeschrieben sind? Soziale Identität wird in Form asymmetrischer Dominanz- und Unterordnungsverhältnisse artikuliert; man denke nur an Geschlechtsidentität, Zwangsheterosexualität, Klassenidentität oder an rassistische Zuschreibungen. Kultur ist gleichzeitig der Bedeutungshorizont, vor dem Identitäten artikuliert und Subjekte konstruiert werden, und das Werkzeug, mithilfe dessen diese Artikulation vonstatten geht. Ein solch politisch gefasster Kulturbegriff erlaubt es, Licht auf Machtverhältnisse zu werfen, die immer auch kultureller Art sind. Kultur, Identität und Macht stehen also in einem wechselseitigen Implikationsverhältnis (Marchart 2008). In Form hegemonialer Kämpfe – um Dominanz und Subordination, um Ein- und Ausschluss sozialer Gruppen – wird Identität auf dem Feld der Kultur vorübergehend fixiert und 5 | All das hat natürlich wiederum umgekehrt forschungspraktische Implikationen: So wird es beispielsweise nicht ausreichen, Prekarität ausschließlich mithilfe objektiver Indikatoren zu definieren, sondern man wird auch subjektive Prekarisierungserfahrungen zu ermitteln versuchen, etwa durch Interviews.

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft

definiert. Hegemonie ist nichts anderes als der Name, dem man diesem Spiel von Kultur, Macht und Identität geben kann. Wenn wir unter Kultur somit jenes Medium verstehen, durch das hindurch »Macht produziert und um sie gerungen wird« (Grossberg 2000: 256), dann beinhaltet Hegemonie: den Kampf, um eine existierende politische Formation herauszufordern und zu disorganisieren; die Einnahme einer »Position der Führung« (auf welch minoritärer Basis auch immer) gegenüber einer Reihe verschiedener Gesellschaftssphären zugleich – Ökonomie, Zivilgesellschaft, intellektuelles und moralisches Leben, Kultur; das Führen einer breiten und differenzierten Form von Kampf; das Gewinnen, in strategischem Ausmaß, von popularer Zustimmung; und also die Sicherung einer sozialen Autorität, die ausreichend tief reicht, um die Gesellschaft einem neuen historischen Projekt einzufügen. Dieses sollte nie fälschlich als beendet oder vollendet erachtet werden. Es wird immer herausgefordert, muß sich immer selbst sichern, ist immer »im Prozeß«. (Hall 1988: 7)

Was mit Gramsci als hegemonialer »Stellungskrieg« bezeichnet werden kann, findet also wesentlich auf dem Terrain der Kultur statt, auf dem sich entscheidet, ob gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann oder eben nicht. Gelingt das, so wird Kultur zur »organischen Ideologie«, die unterschiedliche Klassen und Strata der Bevölkerung wie durch Zement aneinander bindet. Das Ergebnis ist, in Gramscis Terminologie, ein »historischer Block« oder, in moderner Terminologie, eine hegemoniale Formation. Diese umschließt sowohl die ökonomische Basis als auch, wie es im Marxismus hieß, den so genannten Überbau. Denn nach Gramsci, der sich vom ökonomischen Determinismus der marxistischen Orthodoxie absetzt, wird eine Gesellschaftsformation nicht durch ökonomische Gesetze vereinheitlicht, sondern durch die Konstruktion eines »Kollektivwillens«, der sich zu einem historischen Block erweitert. Und so wie ein Kollektivwille die korporative Identität einer einzigen Klasse oder Klassenfraktion übersteigt, so geht Gramscis Konzept von Ideologie als »Zement« eines »historischen Blocks«, in welchem Institutionen und Apparate des erweiterten Staates wie auch der Ökonomie zu einem organischen Ganzen artikuliert sind, über die traditionelle Basis/Überbau-Unterscheidung hinaus in Richtung einer Theorie hegemonialer Artikulation im Medium der Zivilgesellschaft und des Alltagsverstands, d.h. der Popularkultur.6 Aus dieser Perspektive ist soziale Veränderung Produkt hegemonialer Kämpfe, die soziale Formationen verschieben.

6 | So konnte Stuart Hall (1989: 89) im Anschluss an Gramsci Kultur definieren als »das jeweilige Feld der Praxen, Repräsentationen, Sprachen und Bräuche in jeder historisch bestimmten Gesellschaft«, welches »die widersprüchlichen Formen des Alltagsbewußtseins« umfasst, »die im alltäglichen Leben verwurzelt sind und dazu beigetragen haben, es zu formen«.

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Ein hegemonietheoretisch informierter Blick auf Prekarisierung erlaubt nicht nur, die kulturelle Dimension eines scheinbar rein ökonomischen Phänomens aufzuschließen. Er erlaubt auch, Zusammenhänge zu erkennen und die Verschiebungen zwischen ökonomisch-kulturell-sozialen Formationen in das größere Bild des Kampfes um Hegemonie einzuordnen, der den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus antreibt. Der eingangs vorgeschlagene »Panorama«-Begriff der Prekarisierungsgesellschaft bietet sich zur Bezeichnung dieser Zusammenhänge bzw. dieser neu entstandenen hegemonialen Formation an. Denn Prekarisierung mag auf den Einzelnen unterschiedliche Auswirkungen haben je nach dessen Position im sozialen Gefüge, sie hat aber keineswegs so divergente Ursachen, wird sie doch angetrieben durch ein neoliberales Flexibilisierungs-, Deregulierungs- und Entsicherungsregime im Übergang zum Postfordismus.

F ACE T TEN DER P REK ARISIERUNGSGESELLSCHAF T Letztlich stimmen die fünf eingangs erwähnten sozialtheoretischen Erklärungsansätze darin überein, dass unter Prekarisierung ein die gesamte soziale Formation umfassendes Phänomen zu verstehen ist. Von einer partikularen, auf bestimmte Lohnbeziehungen begrenzten Regulationsform wurde Prekarisierung in regulationstheoretischer Begrifflichkeit: zu einem zentralen Aspekt der postfordistischen Regulationsweise; in gouvernementalitätstheoretischer Begrifflichkeit: zu einem allgemeinen Unsicherheitsdispositiv mitsamt entsprechender Subjektivierungsform; in postoperaistischer Begrifflichkeit: zu einer fabbrica diffusa der prekarisierenden Inwertsetzung aller Lebensbereiche innerhalb des Kognitiven Kapitalismus; und in der Begrifflichkeit der pragmatischen Soziologie: zum neuen kapitalistischen »Geist« der projektbasierten Polis. Anders gesagt, Wandel durch Prekarisierung umfasst nicht allein das Lohnarbeitsverhältnis, sondern zieht inzwischen die meisten anderen Lebensverhältnisse in Mitleidenschaft. So wie sie eine Angelegenheit der Arbeitsbeziehungen ist, ist sie eine des Alltagslebens und der Kultur. Und so wie ihr im Kampf um soziale Rechte zu begegnen ist, so ist ihr auch im Kampf um Subjektivierungsweisen, Vorstellungswelten und Lebensformen zu begegnen. Daraus ergibt sich, dass Prekarität keine ökonomische Verhängnislogik darstellt, die immer weitere Bevölkerungskreise in Armut, Ausschluss und Deprivation stürzt, sondern, da politisch handlungsgetrieben, auch neue politische Handlungsperspektiven eröffnet, die unter fordistischen Bedingungen so nicht denkbar gewesen wären. Der Band organisiert sich demgemäß in zwei komplementäre Teile. Der erste Teil versammelt grundlegende Beiträge, die im Sinne der erwähnten »Triangularisierung« Prekarität unter verschiedenen Perspektiven einordnen.

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft

Den Beginn macht Patrick Cingolani, einer der maßgeblichen französischen Prekaritätsforscher, der vom Mainstream französischer Soziologie insofern abweicht, als er u.a. mit den Philosophen Jacques Rancière und Miguel Abensour zusammengearbeitet hat. Cingolani fasst den Stand der sozialwissenschaftlichen Prekarisierungsdiskussion in Frankreich – wo das Konzept der Prekarität in den 1980er Jahren zuallererst aufkam – zusammen. Cingolani selbst betont vor allem den Wandel der Unterordnungsverhältnisse in der Prekarisierungsgesellschaft. Denn über das Prinzip der zeitweiligen Unterbrechung von Anstellungsverhältnissen (intermittence) sei das Verhalten der Lohnabhängigen zu steuern und deren Arbeitsleistung zu intensivieren. Cingolani illustriert dies an Zeitarbeit, befristeter Beschäftigung und Teilzeitarbeit. Franz Schultheis stellt in seinem Beitrag zunächst den Ansatz von Boltanski und Chiapello vor, um ihn dann anhand einer soziologischen Feldstudie zur Personalpolitik, oder besser: zur Kündigungspolitik eines Schweizer Traditionsunternehmens zu überprüfen. Die Feldstudie trägt weiteres empirisches Material zur Stützung der Thesen von Bourdieu, Boltanski/Chiapello und Castel bei. In Cornelia Bohns Beitrag verschiebt sich die Perspektive ein ganzes Stück weit in Richtung soziologische Systemtheorie. Bohn diskutiert Prekarität unter den Aspekten der sozialen Schließung und Ungleichheit (im Anschluss an Weber), der Devianz (im Anschluss an Foucault) und der Inklusion/Exklusion als einer innergesellschaftlichen Struktur sozialer Differenzierung (im Anschluss an Luhmann). Heutige Gesellschaften, so stellt sich heraus, werden von vielfach verschränkten Exklusionsformen geprägt. Einen weiteren Grundlagentext steuert Bernd Röttger bei, und zwar in Auseinandersetzung mit der regulationstheoretischen Perspektive. Röttger untersucht deren Angebote zur Erklärung weltweiter Wirtschaftskrisen. In Krisen würden die Handlungskorridore der Akteure neu vermessen. So sei es den Gewerkschaften, die seit der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre immer weiter geschwächt wurden, nicht gelungen, eine Antwort auf die neue Regulationsform der Prekarisierung zu finden, zu sehr waren sie auf die Verteidigung der Interessen der Stammbelegschaften konzentriert. Der weitreichende Charakter von Prekarisierung als »integraler Bestandteil einer neuartigen Herrschaftsform des Kapitals«, so Röttger, war ihnen entgangen. Für einen nicht weniger umfassenden Begriff von Prekarisierung plädiert Jürgen Link. Aus Perspektive seiner im Anschluss an Foucault entwickelten Normalismustheorie stellt Link fest, dass Flexibilisierung des Arbeitsmarktes plus Ausdünnung sozialer Sicherungssysteme zu zwei Arten von Prekarisierung geführt haben: In Form des Absturzes in die Armut stellt Prekarisierung, normalismustheoretisch gesehen, eine Denormalisierung dar, wie sie in der deutschen medialen Debatte unter dem Label eines »abgehängten Prekariats« behandelt wurde. Zum anderen aber ist die Entstehung einer transversalen Prekarität zu beobachten, die sich durch einen stetigen Wechsel von Projekten und Tätigkeiten

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auszeichnet. So macht Link sehr wohl Möglichkeiten zum Widerstand und zur emanzipatorischen Wendung von Prekarisierungserfahrungen aus. Genau solchen Handlungsperspektiven, die sich in und durch Prekarisierung eröffnen, sind die Beiträge des zweiten Teils auf der Spur. Marianne Pieper eröffnet diesen Teil mit einer Darstellung des Ansatzes des italienischen Postoperaismus, als dessen prominentester Vertreter wohl Toni Negri gelten darf. Aus postoperaistischer Sicht geht das Regime der Prekarisierung aus den Kämpfen der Arbeiter gegen das fordistische Fabrikregime hervor. Aber auch das Prekarisierungsregime ist von Kämpfen und Fluchtbewegungen gekennzeichnet. Pieper illustriert an Ergebnissen eines Forschungsprojekts, dass autonome Handlungsspielräume der Resistenz selbst noch unter Bedingungen undokumentierter prekärer Arbeit möglich sind. Daran schließt der Beitrag Isabell Loreys an. Sie sieht – mit Bezug auf Paolo Virno und Hannah Arendt – in prekärer Arbeit eine dem Subjekt abgeforderte Virtuosität am Werk. Weil sich die Fähigkeiten zum performativ-virtuosen Umgang mit dem Kontingenten und Unvorhersehbaren unter postfordistischen Arbeits- und Lebensbedingungen verallgemeinern, bringen sie auch ein Potential des Virtuos-Politischen mit sich. Einen ähnlich virtuos-politischen Aspekt des Handelns sieht Serhat Karakayali in den Bewegungen der Migration am Werk. Die Prekarität migrantischer Arbeit dürfe nicht nur als eine Form des Ausschlusses und der Ausbeutung betrachtet werden, sondern Prekarisierung sei genauso eine »zentrale migrantische Praxis«. Schlechtbezahlte und prekäre Arbeiten würden oftmals einer längerfristigen Migrationsstrategie der Akteure eingepasst (die somit alles andere als bloße »Opfer« seien). Deshalb sieht Karakayali in Mobilität und Prekarität eine Ressource in den Kämpfen um Migration. Sehen Lorey und Karakayali in prekären bzw. migrantischen Praktiken einen potentiellen bzw. impliziten politischen Aktivismus am Werk, so untersucht Ulrich Bröckling in seinem Beitrag einen Fall offenen Prekarisierungsprotests: die medienwirksame Intervention von Aktivisten und Aktivistinnen um den Hamburger EuroMayDay. Zugleich adressiert Bröckling damit ein theoretisches und methodologisches Desiderat der Gouvernementalitätsstudien, in denen widerständige Subjektivierungsweisen und gegenstrebige Regime des Regierens nur selten thematisiert werden. Darauf rücken nun aus Sicht der Gouvernementalitätsstudien die Handlungsperspektiven von Prekarisierung in den Vordergrund. Der Beitrag von Mario Vötsch verortet das Protestthema der Prekarität schließlich in den globalen Protesten der Jahre 2011 und 2012. Aus Sicht der von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gegründeten »Essex School« der politischen Diskursanalyse spurt Vötsch vor allem den wechselseitigen Resonanzen dieser Proteste nach: ihren prekären Verknüpfungen. Genau diese Frage nach der Möglichkeit von Verknüpfungen und Allianzen steht im Zentrum des Beitrags von Chantal Mouffe, mit dem der Band schließt. Mouffe formuliert Bedenken u.a. gegenüber dem postoperaistischen Ansatz, da eine radikal-demokratische Politik aus

Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft

ihrer Sicht der politischen Artikulation und des Aufbaus eines gegenhegemonialen »kollektiven Willens« (Gramsci) sowie einer aktiven Auseinandersetzung mit Institutionen bedarf. Prekarisierung, so ließe sich im Sinne Mouffes sagen, kann letztlich nur durch den Aufbau eines breiten gegenhegemonialen und radikaldemokratischen Projekts eine emanzipatorische Wendung gegeben werden. *** Der vorliegende Sammelband ist großteils aus Veranstaltungen im Rahmen eines von mir geleiteten Forschungsprojekts zu Protest, Medien und Prekarisierung hervorgegangen, das von 2006 bis 2012 an der Universität Luzern angesiedelt war und an dessen Durchführung Marion Hamm, Stephan Adolphs, Mario Vötsch, Armin Betschart, Jonas Aebi und Hanna Pütters beteiligt waren. Dank geht an den Schweizerischen Nationalfonds SNF für die Förderung des Projekts und an die Forschungskommission der Universität Luzern für die Unterstützung der beiden Buchpublikationen.

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Die Passage zur Prekarität: Theorieperspektiven

Wird die Prekarität ein neues Leitmodell der Arbeit? 1 Patrick Cingolani

Heute sieht es so aus, als ob die Kategorien »prekär« und »Prekarität«2 sich in Frankreich mehr und mehr durchsetzten. Die Ursache dafür liegt, wie man annimmt, darin, dass sich in ihnen – innerhalb der massenhaften Rückkehr von Armut und Unsicherheit – eine ganz neue Richtungsänderung in der Geschichte der Lohnarbeit spiegle. Dementsprechend soll im folgenden mittels einer historischen und aktuellen Beleuchtung des mit dem Wort »prekär« bezeichneten Komplexes untersucht werden, was dabei auf dem Spiel steht. Sicherlich kann es so scheinen, als habe die »Prekarität« ständig die Lohnarbeit begleitet, schon von Beginn an oder mindestens seit der Schwelle zur Industrialisierung, insofern als Zufall, Statusmangel und Abhängigkeit das allgemeine Los der Lohnarbeiter in der radikalen Phase des Wirtschaftsliberalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts darstellten. Dennoch taucht die Frage der prekären Arbeit im Sinne einer Tatsache und eines ökonomischen und sozialen Knackpunkts (enjeu) erst in den 1960er Jahren in Frankreich und darüber hinaus in Europa auf. Zwar war auch die Lage der eingewanderten Arbeiter in der Nachkriegszeit von hoher Statusunsicherheit gekennzeichnet, insbesondere im Agrarsektor mit seinen zahlreichen Saison- und Schwarzarbeiten – zwar waren zur gleichen Zeit auch die arbeitenden Frauen weitgehend anormalen Erwerbstätigkeiten unterworfen, die teils mit der besonderen Ausbeutung weiblicher Arbeit, teils mit Heimarbeit und der beruflichen Diskontinuität zusammenhingen. Dennoch war es erst die Zunahme der Zeitleiharbeit und die Verdichtung der Netze entsprechender Agenturen in den 1960er Jahren (vgl. Kergoat 1982: 99ff.), die im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und der Gewerkschaften sowohl Aufmerksamkeit erregten wie Alarm auslösten. 1973 publizierte Guy 1 | Zuerst veröffentlicht in kultuRRevolution 52 (2007): 16-32. 2 | Es handelt sich um mehrdeutige Begriffe. Vgl. dazu Akoun/Ansart 1999. Weiterführend Cingolani 1986, 2001, 2005. Zur Übertragbarkeit im europäischen Kontext vgl. Barbier 2005. In Deutsch vgl. auch schon Cingolani 1982 sowie 1993.

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Caire zu diesem Thema ein Buch, das einen Einschnitt markiert, mit dem knalligen Titel Die neuen Menschenhändler? (vgl. Caire 1973)3 – und seitdem entwickelte sich die Forschung über einen Bereich, den man auch als die besonderen Beschäftigungsformen zu kennzeichnen suchte. Indem man die Analyse der Statuslosen im öffentlichen Dienst samt der Praktiken eines Staatskapitals, das Arbeitskraft an Regeln vorbei zu kaufen versucht (vgl. Magaud 1974), verband mit Befragungen über die Statusverschlechterungen durch Mietarbeit voll Subunternehmen und Zeitleiharbeit, versuchte man sowohl im Bereich der Forschung wie des Engagements die Ursachen und die Folgen solcher untypischer Beschäftigungen zu begreifen (vgl. CFDT 1979, 1980). Seit den 1980er Jahren setzt sich, ausgehend von den aus den USA herüberschwappenden ökonomischen Perspektiven, die Vorstellung einer Segmentierung der Arbeitskraft im Sinne einer mittels der Prekarität differenzierten Nutzung des lohnabhängigen Potentials durch, während gleichzeitig die Thesen über die »Dualisierung« (vgl. Piore/ Berger 1979; sowie eher mikrosoziologische Arbeiten wie Linhart 1978) und die »Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten«4 aufkommen. In der Tat hat die prekäre Arbeit seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre praktisch ununterbrochen zugenommen. Ihre Anzahl hat sich im Laufe von 15 bis 20 Jahren vervierfacht, während der Umfang der Lohnarbeit insgesamt nur um 9  % gewachsen ist. Dementsprechend ist der Anteil prekärer Beschäftigung an allen Lohnabhängigen in dieser Zeit von 2,6 % auf 13 % heute gestiegen.

D IE PREK ÄRE A RBEIT Es gibt verschiedene Verwendungen der prekären Arbeit. Das drückt sich schon in der Gesetzeslage aus, weil der Rückgriff auf sie in bestimmtem Umfang – sowohl bei Teilzeitarbeit wie bei CDD (befristete Verträge) – juristisch legitim ist: und zwar bei Ersetzung eines Lohnabhängigen, bei vorübergehender Steigerung der Aktivität des Unternehmens oder bei dringenden oder Saisonarbeiten. Allerdings hat die Forschung diese Multifunktionalität zwecks Kategorisierung unter zwei große Kriterien (traits) subsumiert, die – jenseits der verschiedenartigen Verwendungen – die Funktion der prekären Arbeit für das Lohnverhältnis zu fassen suchen. Aus juristischer Sicht hat Lyon-Caen in einem Text mit dem Titel »Plastizität des Kapitals und neue Beschäftigungsformen« die atypischen Beschäftigungen nach zwei Tendenzen unterschieden: eine neue Einstellungspolitik und eine neue 3 | Es sollte erwähnt werden, dass diese Publikation sich weitgehend auf eine Untersuchung von M. Guilbert, N. Lowit und J. Creusen über Le travail temporaire stützt (1970). 4 | So wird üblicherweise »à deux vitesses« übersetzt, was aber eher »mit zwei Gängen« meint (Anm. der Übers.)

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Strukturpolitik (Lyon-Caen 1982). Er resümiert seine Thesen in zwei gegenüber der typischen Beschäftigung paradoxen Formeln: »Einstellung ohne Beschäftigung« und »Einstellung ohne Unternehmer (employeur)«. Im ersten Fall, z.B. den CDD oder den Praktika, wirkt sich die zeitliche Limitierung als Verschlechterung der mit dem Beschäftigungsstatus verbundenen Sicherungen aus; wie bei Magaud ist die Beschäftigung eine »falsche Beschäftigung«. Während dabei die Menge der Einzustellenden flexibler und direkter an die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens angepasst werden kann, entzieht sich das Unternehmen den diversen Garantien, die mit der Länge der Betriebszugehörigkeit und dem Schutz vor Entlassung verbunden sind. Im zweiten Fall, z.B. der Mietarbeit von Subunternehmen und der Verselbständigung von Betriebsteilen (filialisation), aber auch der Zeitleiharbeit, impliziert die Prekarität infolge des Outsourcing des Personals in eine andere betriebliche Einheit die Ersetzung des eigentlichen Unternehmers durch einen Zweitunternehmer. Das auftraggebende Unternehmen versteckt sich hinter dem Schleier des Dienstleistungsunternehmens. Das zweite ist dem ersten faktisch untergeordnet, und zwar sowohl was seinen Markt wie seinen Absatz betrifft. Die Lohnabhängigen des zweiten sind lediglich juristisch unterschieden, mit den entsprechenden Konsequenzen für Status und Vertretung, stehen aber tatsächlich implizit unter dem Kommando und dem Druck des auftraggebenden Unternehmens bzw. sind mit anderen Tätigkeiten als den Haupttätigkeiten des Unternehmens betraut (Instandhaltung, Instandsetzung usw.) und ohne Kontakt zur Stammbelegschaft (vgl. Linhart 1978). Diese Klassifizierung ist mit der des Wirtschaftswissenschaftlers J.-F. Germe verwandt, der seinerseits innerhalb der besonderen Beschäftigungsformen die Dimension der Prekarität und die Dimension der externen Anstellung (extériorité) unterscheidet (1978). Germe widerspricht den Thesen, die den prekären Werktätigen auf einen »mobilen Werktätigen« reduzieren, und akzentuiert konkret die Funktionsvielfalt der Zeitarbeit: »Die besonderen Beschäftigungsformen können sowohl im Dienste der Selektion der Arbeitskraft eingesetzt werden wir zur Lösung von Rekrutierungsproblemen. Sie dienen sowohl zur Adjustierung der Aufgaben und des Arbeitsaufwands wie zur Umgehung von Dispositiven der Tarifverträge. Sie können sowohl zur Überbrückung einer unsicheren Situation des Unternehmens wie zur Einrichtung von Arbeitsplätzen mit besonders schlechten Arbeitsbedingungen eingesetzt werden.« In diesem Zusammenhang führt Germe konkrete Beispiele an. So arbeiten, um das Risiko einer Konjunkturabschwächung zu berücksichtigen, die fest angestellten Lohnabhängigen auf den Werften häufig gemeinsam mit Teilzeitkräften an den gleichen Aufgaben. Im Maschinenbau, wo meistens Facharbeiter beschäftigt sind, stellen die Unternehmen angelernte Kräfte auf Zeit ein, um schwer zu kontrol-

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lierenden Lohnabhängigen keinen Dauerstatus zu geben. In wieder anderen Fällen wird Zeitarbeit systematisch bei »Drecksarbeit« eingesetzt (ebd.: 83)5 . Über solche vorläufigen Analyseversuche hinaus möchte ich im folgenden meinerseits prekäre Arbeit in einem Kontext verorten, der durch einen Wandel der Unterordnung (mutation de la subordination) charakterisiert ist. In der Tat gründen sich die neuen Beschäftigungsformen nicht zuletzt auf einem Verhältnis zur Zeit und insbesondere zur zeitweiligen Unterbrechung (intermittence), und dieses Verhältnis impliziert eine Unterordnungsweise, deren Prinzip in der jüngsten Bemerkung eines Juristen zusammengefasst werden könnte: »Zu dem normalen Spielraum der Leitungsmacht des Unternehmers kommt die Macht hinzu, bei Auslaufen des Vertrags das Arbeitsverhältnis zu verlängern oder nicht. Der Unternehmer besitzt damit ein mächtiges Instrument, um das Verhalten der Werktätigen zu diktieren, insbesondere das der jungen, die in ihre Berufslaufbahn meistens mit solchen Verträgen einsteigen« (Supiot 1999: 37). In der Tat ist es die zeitweilige Unterbrechung, die in zahlreichen prekären Werktätigkeiten die Verwertung der Arbeitskraft auf spezifische Weise bedingt. Mittels der Diskontinuität bzw. Unterbrechung wirkt sie entweder im Sinne einer Selektionsfunktion je nach der Unterwürfigkeit des Lohnabhängigen (mit der weitgehenden Möglichkeit, diejenigen zu eliminieren, die die geforderte hexis nicht schaffen, umgekehrt aber auch diejenigen einzustellen, die sich willig zeigen) – oder sie trägt zur Intensivierung der Arbeit bei, indem sie die Arbeitszeit in der befristeten Zeitspanne verdichtet.

a) Die Zeitleiharbeit (l’intérim) Wenn man auch manchmal versucht, die Zeitleiharbeit vom Makel des Prekären reinzuwaschen, der ihr historisch anhängt, indem man insbesondere darauf hinweist, dass es sich um eine Brücke zu stabiler Beschäftigung handle, so bleibt es doch dabei, dass die Zeitweiligkeit selber einer Tätigkeit häufig mit besonderen Konfigurationen der Qualifizierung verbunden ist. Der provisorische Charakter der Aufgabe ermöglicht schlechte Arbeitsbedingungen, die von den Vollzeitkräften abgelehnt werden bzw. die von dem Zeitleiharbeiter selber auch abgelehnt würden, wenn sie eben nicht bloß provisorisch wären. In der Tat sind es oft die undankbaren Aufgaben, die den Zeitleihkräften zugemutet werden, so dass dabei die unqualifizierten Tätigkeiten stark überrepräsentiert

5 | Zur funktionalen Aufspaltung s. auch: Centre d’études de l’emploi 1979. In dieser Studie wird festgestellt, dass die Grossunternehmen die Zeitleiharbeit teils einsetzen, um zusätzliche Einstellungen nach Auftragslage zu begrenzen und teils, um in den Nebentätigkeiten (z.B. Lagerarbeit) Einstellungen sparen.

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sind.6 Aber die Zeitleiharbeit stellt sich auch als Diskriminierung innerhalb des Arbeitskollektivs und als Selektionsmittel dar. Einerseits lässt die nur zeitweilige Anwesenheit des Zeitleiharbeiters ihn bloß vorübergehend als Mitglied des Arbeitskollektivs erscheinen, was ihn nach seinen Interessen und Absichten von den anderen Lohnabhängigen trennt und ihn von den Bindungen der Solidarität abschneidet. Zeitkräfte und Vollzeitkräfte können deshalb nur darin zu gemeinsamen Kämpfen finden, wenn sie das Dispositiv der Zeitarbeit sprengen – etwa wenn sie die Integration der Statuslosen fordern. Anderseits werden im aktuellen Kontext von Massenarbeitslosigkeit die Drohung mit der Entlassung, das Gespenst vom Ende des Auftrags, und mehr noch die Hoffnung auf Einstellung als Mittel, der drohenden Marginalisierung und Verelendung zu entgehen, als Mechanismen eingesetzt, um die Willfährigkeit des Lohnabhängigen zu testen. Diese Funktion ist allerdings brüchig, und die Intensivierung der Zeitarbeit hängt vom Verhalten des ständigen und mit Status versehenen Personals ab. »Die Anwesenheit von Zeitleiharbeitern erlaubt sowohl die Sicherung des unbefristet angestellten Personals, wie sie dieses Personal auch unter Druck setzt. Ein Zeitarbeiter arbeitet mit höherer Arbeitsintensität als ein Stammarbeiter« (Gorgue/Mathieu/Pialoux 1998: 72).

b) Die befristete Beschäftigung Die gleichen Folgerungen gelten für die befristete Beschäftigung, weil auch für sie die zeitweilige Unterbrechung charakteristisch ist. Wenn es in der Tat eher die großen Industrieunternehmen als die kleinen und mittleren (PME) sind, die sich der Zeitleiharbeit bedienen, weil die PME diese Form noch immer zu teuer finden, und wenn die Zeitleiharbeit auch nicht, wie man es hätte glauben können, im tertiären Sektor dominiert (vgl. Marchand/Ficquelmont 1993: 8), so finden alle Beteiligten in den CDD (befristeten Verträgen) die gleichen Vorteile wie bei der Zeitarbeit. Die CDD sind noch mehr als die Zeitleiharbeit dem Zufall ausgesetzt, weil sie den Lohnabhängigen im Fall der Entlassung völlig mittellos dastehen lassen, während der Zeitarbeiter immerhin noch die Verbindung zu seiner Interim-Agentur hat. Die CDD stellen daher den größten Teil der Nachfrage nach Beschäftigung dar7, wobei sie gleichzeitig mittels der Hoffnung auf Übernahme und der Drohung mir Entlassung ein einschüchterndes Kontroll6 | Drei Viertel der Zeitleiharbeit findet in der Industrie, im Baugewerbe und bei öffentlichen Arbeiten statt. Ungelernte Arbeiter, deren Anteil an allen Werktätigen bei 17,3 % liegt, sind zu 48,4 % Zeitarbeiter. Vgl. Jounin 2006. Auch in Befragungen zeigt sich die Unzufriedenheit der Zeitarbeiter mit ihrer Arbeit: im März suchte jeder fünfte eine andere Arbeit (vgl. Deneuve 2001). 7 | Die Nichtverlängerung eines befristeten Vertrags ist die wichtigste Ursache von Arbeitssuche (30 % aller Fälle nach einer Befragung im März 2001).

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instrument über die Einstellungen der Lohnabhängigen bilden, einschließlich Bluff. Die entsprechenden Zeugnisse und die Analysen des Personalmanagements per CDD zeigen, wie sehr sich die Arbeitsintensität und eine übertriebene Opferbereitschaft durch das Versprechen einer festen Anstellung und eines Aufstiegs erhöhen lassen, so dass der mit einem CDD Angestellte sich in der Hoffnung auf Karriere und lohnende Beschäftigung verausgabt – häufig vergeblich. Es konnte festgestellt werden, dass bestimmte Formen von Arbeitskräftemanagement mit einer Fluktuationsrate von 100 % in weniger als einem Jahr arbeiten (vgl. Philonenko/Guyenne 1997). Mittels freiwilliger Kündigungen unter absichtlich befristeten Verträgen sowie Ausscheiden infolge auslaufender Verträge bzw. Probezeiten verwandeln bestimmte Firmen ihre Arbeitskräfte in Wegwerf-Arbeiter, nachdem sie von ihnen erst Verzicht und Opferbereitschaft mit den bekannten Folgen für das Familienleben und allgemein für das Privatleben gefordert haben (vgl. Maruani/Nicole-Drancourt 1989).

c) Die Teilzeitarbeit Das Konzept, Zeitweiligkeit und Unterordnung zu kombinieren, erklärt auch die Teilzeitarbeit als prekäres Dispositiv, und zwar umso mehr, als nach der Formulierung von Margaret Maruani »Teilzeitarbeit immer auch Teil-Lohn und Teil-Rente« (Maruani 2000: 35)8 bedeutet. Nun könnte man meinen, dass diese Lage bei unbefristeten Verträgen nur einen geringen Grad von Prekarität darstellen würde – tatsächlich aber haben wir es auch bei der Teilzeitarbeit mit starker Fluktuation zu tun, wie es etwa die Studien über die Kassiererinnen in Großmärkten zeigen, die ebenfalls zu Zeitrhythmen mit starkem Zwangscharakter genötigt werden (vgl. Bouffartigue/Pendaries 1994).9 Die zusätzlichen Anwesenheitspflichten wie auch die Stundenpläne liegen in der willkürlichen Verfügungsfreiheit der Firmen und folgen den von Zufällen des Kundendrangs diktierten Anforderungen10. Im übrigen erlaubt die dynamische Rotation der TeilzeitarbeiterInnen in noch höherem Maße als bei der Zeitleiharbeit oder den befristeten Verträgen die intensivere Nutzung einer kurzfristig ausgetauschten Arbeitskraft, die den Zwang zu repetitiven Aufgaben bei voller Zeit gar nicht aushalten könnte. Auch die Lage der Angestellten in den Fastfoodketten ist mit 8 | »In Frankreich fallen 80 % der niedrigen (unter dem SMIC) und sehr niedrigen Löhne (unter 3600 FF) auf Frauen. 77 % der Löhne unter dem SMIC fallen auf Zeitarbeit.« Ferner liegt nach Bloch und Galtier (1999) der Bruttolohn von Zeitarbeitern durchschnittlich um 26 % unter dem von Vollzeitarbeitern. 9 | »Eine Kassiererin von zwei ist weniger als 5 Jahre dabei und 4 von 5 weniger als 10 Jahre« (ebd.: 341). 10 | Wie es ein Kassenchef sagt: »Ich verpflichte sie lieber kurz und lasse sie bei bedarf dann mehr arbeiten« (ebd.: 351).

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der der Kassiererinnen verwandt. Die Schwierigkeit solcher Arbeiten lässt sich nur per Rotation mehrerer Angestellter mit Teilzeit aushalten (vgl. Burnod/Carton/Pinto 2000, d’Hallivillée 1999).

D IFFERENTIELLES M ANAGEMENT , E THOS UND E RFAHRUNG Bei all diesen Aspekten hat man es natürlich mit einem differentiellen Management der Arbeitskraft zu tun, und es sind vor allem die Jugendlichen und die Frauen (seltener die über Fünfzigjährigen), die den besonderen Beschäftigungsformen unterworfen werden. Die schon zu Beginn der 1980er Jahre von Piore und Berger entwickelten Thesen sind noch heute für diesen Typ von Lohnverhältnissen relevant, nicht bloß, weil die prekäre Arbeit einen spezifischen Arbeitsmarkt voraussetzt und die entsprechende Segmentierung des Marktes, wie die Autoren ausführen, qualitative Differenzen bezüglich des Verhaltens und der Erfahrung der Werktätigen benutzt, sondern außerdem, weil die Rolle der Arbeit für den Betrieb – sei es qua Selektion, sei es qua Personalplanung – Diskriminierungen in der Auswahl der lohnabhängigen Bevölkerungsgruppen impliziert. Verschiedene Studien beziehen sich auf diese Dimension der Zeitleih- und der Teilzeitarbeit. Unter den Forschungsbeiträgen, die eine Soziologie des prekären Werktätigen entwickelt haben, spielt der Artikel »Jugendliche ohne Zukunft und zeitweilig unterbrochene Arbeit« von Pialoux trotz der zu deterministischen Konnotation seines Titels eine entscheidende Rolle. Dieser Artikel gehört bereits zu einer Soziologie der Pariser Vorstädte (banlieues) und ihrer Betonsilos. Er beschreibt den enormen Hiat zwischen dem Ethos der Jugendlichen in den Betonsilos und der Berufstätigkeit mit ihren Identitätszwängen und Disziplinen sowie den sich daraus ergebenden Ausschlussmechanismen auf dem Arbeitsmarkt. Zwischen dem verklemmten Verhalten des Jugendlichen, der nicht über den Schatten seiner Banlieue springen kann, und der spöttischen Arroganz dessen, der mit Wettkampf und Herausforderung sozialisiert wurde, endet die Bewerbung um eine Einstellung oft mit einer Absage. Unter diesen Umständen stellt dann die Zeitleiharbeit für qualifizierte Jugendliche zuweilen »eine Chance dar, mit der Gelegenheit, eine realistische Strategie zu entwickeln« – und zuweilen auch für die weniger Qualifizierten ein Mittel, sich von Tag zu Tag weiterzuhangeln und den Moment des definitiven Eintritts in die Fabrik hinauszuschieben. Mittels verschiedener Aufgaben können die Qualifizierteren eine Karrierestrategie entwickeln, indem sie ein differenziertes und polyvalentes Wissen erwerben und schrittweise ein profilierteres Curriculum aufbauen als lediglich mit ihrem Berufsschulabschluss (CAP), während die weniger Qualifizierten sich bemühen, den unangenehmen

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(dreckigen und lauten) Arbeiten oder der Knechtung in direkten Beziehungen zu den Chefs oder Meistern kleiner Betriebe zu entwischen. Für Pialoux erlaubt es die Zeitleiharbeit den Jugendlichen ferner, Einstellungen, die sie in der Banlieue erworben haben und die im allgemeinen im Beruf nicht positiv angerechnet werden, dennoch zu investieren. Die Mobilität und der ständige Abschluss neuer Verträge, wodurch die Kategorie Entlassung überflüssig wird, der ständige Wechsel der Unternehmer, die Verschiedenheit der Aufgaben und insbesondere das Fehlen auf Dauer gestellter Beziehungen zu einem Unternehmer können als Fortsetzung eines auf Instabilität und Nomadismus (erratiques) angelegten Verhaltensmodells aufgefasst werden. Wie der Autor erklärt, sind auf dem Markt der Zeitleiharbeit Einstellungen gefragt, wie sie das Leben in der Banlieue mit sich bringt. »Ein gewisser Grad an Zynismus passt dazu[…]« – »die angeordnete Arbeit muss den Anschein sorgfältiger Ausführung (lediglich, J.L.) erwecken[…]« (1979: 34f.) – und der Bluff stellt sich um so mehr als legitime Praxis heraus, als er durchaus zur Strategie der Zeitarbeitfirma gehören kann. Inzwischen sieht es so aus, als ob die heutigen Taktiken der Betriebe mit der Befristung von Aufgaben und Verträgen solche Versuche zur Umfunktionierung weitgehend unmöglich machen würden. Allerdings bleiben manche Forscher dabei, der Zeitarbeit eine Funktion der Eingliederung in den Vollzeitarbeitsmarkt und ins Berufsleben zuzuerkennen, in höherem Maße jedenfalls als z.B. den CDD (vgl. Deneuve 2001: 20). Eine solche Ansicht muss aber relativiert werden, wenn man die diskriminierenden Folgelasten länger anhaltender Zeitarbeit bedenkt. Denn diese Art Arbeit birgt die Gefahr, die Betroffenen mit der Zeit zu stigmatisieren und dadurch schrittweise ganz aus dem ersten Arbeitsmarkt auszuschließen, weil die Mobilität je nach individuellem Curriculum und Anforderungen der Betriebe sowohl als Vor- wie als Nachteil aufgefasst werden kann. In ihrer Studie (Retour sur la condition ouvrière) beschrieben Beaud und Pialoux die schwierige Lage jener »alten Zeitarbeiter« zwischen 25 und 30 Jahren: »Zwischen ihrem Schulabschluss und ihrem Vertrag bei Peugeot liegen 7 bis 8 Jahre, in denen Hoffnung und längere Arbeitslosigkeit sich abgewechselt haben. Inzwischen haben sie gegenüber den ›falschen Praktika‹ Misstrauen entwickelt, durch die sie sämtlich gegangen sind. In ihrem jetzt erreichten Alter zählen die Jahre doppelt: Jedes neue Scheitern ist doppelt so schmerzlich wie das vorherige […]. Man merkt, wie sie nun Angst vor dem ›Absturz‹ haben, d.h. davor, sich wie sie sagen ›bei den Sozialarbeiterinnen wiederzufinden‹« (1999: 356). Bei der Teilzeitarbeit, die häufig zusätzlich mit befristeten Verträgen verbunden ist, findet eine analoge Differenzierung entlang der Flexibilität, aber auch entlang der Treue statt. So konnte z.B. festgestellt werden, dass die Supermärkte für ihre Kassiererinnen nicht weniger als sechs verschiedene Modellverträge einsetzen, die ein Spektrum zwischen nahezu full time (35 1/2 Stunden)

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über 28 1/4, 27 1/2, 23 1/2, 16 bis zu 9 Stunden abdecken. »Die Gruppe der Kassiererinnen wird also differenziert nach der Arbeitszeit, die wiederum eng verbunden ist mit dem Grad an Prekarität sowie einer soziodemographischen Unterteilung« (Bouffartigue/Pendaries 1994). Die kürzesten Vertragszeiten dienen als »Lückenbüßer« in der Kassenstruktur und umfassen die Jüngsten mit den besten Schulabschlüssen, häufig Singles und kinderlos, während die älteren und über längere Zeiträume Beschäftigten, häufig mit Familie, eine Art relativ stabilen Kern nahe an full time darstellen. Wie es einige Studien zeigen, erträgt das noch studierende, für kurze Zeiten tätige Personal relativ gut die Flexibilität und den Wechsel je nach Stoßzeiten und nach Kundenandrang, obwohl es mit der Zeit unter den Zwängen leidet, die dadurch für die Studien, aber auch für Urlaub und Freizeit entstehen.11 Der Verdienst dient dabei hauptsächlich als Taschengeld oder Zulage für den Urlaub und steht nicht unter dem Zwang, einen Haushalt oder eine Wohnung zu unterhalten. Übrigens ziehen diejenigen, deren Verhältnis zu der Tätigkeit den ungewissen Status einer Überbrückung zwischen zwei Studienzeiten bzw. vor einer definitiven Berufswahl besitzt, von sich aus einen befristeten Vertrag vor. So sehr möchten sie die Distanz gegenüber der zeitweilig übernommenen Rolle auf dem Arbeitsmarkt wahren. Die Arbeitszeit wird in diesem Zusammenhang nicht als soziales Schicksal empfunden, sondern teils als Halb-drin-halb-draußen bzw. »erster Kontakt« beim Eingang ins Arbeitsleben, teils als Initiationsweg mittels kleiner Jobs und CDD. Selbstverständlich bilden die Unqualifizierten und besonders die (oft alleinerziehenden) Mütter eine vollständig andere Gruppe von Lohnabhängigen.12 Wenn die Unqualifizierten noch ebenfalls eine Distanz wahren und Besseres suchen können, sind die Familienmütter gezwungen, ihre Arbeit als Berufsschicksal zu akzeptieren und damit zu leben. Sie müssen zwei rational getrennte, aber gegenseitig voneinander abhängige und aufzuteilende Zeiträume miteinander vereinbaren: die Arbeitszeit und die Zeit zuhause, die beide von Zufällen regiert werden. Dabei wird das Verhältnis zwischen dem Supermarkt und der Angestellten häufig auf Treue gegründet – mit der Möglichkeit für beide Seiten, in einer Art von EineHand-wäscht-die-andere hier und dort ein Stückchen Zeit auszuhandeln und loszueisen, wobei natürlich die Firma am längeren Hebel sitzt. Einen Mittwoch gegen einen Sonntag, um die Öffnung am Wochenende zu sichern – heute ein paar Stunden früher Schluss, um sich dem kranken Kind widmen zu können, gegen ein paar Überstunden morgen: Solche kleinen Tauschgeschäfte inner11 | Bekanntlich verlängert die Teilzeitarbeit den Arbeitstag durch Abend-, Nacht- und Wochenendarbeit (vgl. OCDE 1998: 8). 12 | »Die Teilzeitarbeit dominiert bei zwei Haushaltstypen: alleinstehende und alleinerziehende Frauen sowie verheiratete, deren Partner eine Vollzeitarbeit hat« (Bloch/ Galtier/Cette 1999: 94).

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halb der unbefristeten Verträge verstärken auch die Abhängigkeit. Der asymmetrische und häufig ungleiche Tausch zwischen Einzelschicksal und Institution bildet das Prinzip des Treueverhaltens der Lohnabhängigen, die solche Regelungen nur erhalten kann, wenn sie sich ganz an die Firma bindet.

D IE PREK ÄRE A RBEIT UND IHRE R ÄNDER So ist die prekäre Arbeit in Frankreich heutzutage mit dem Alltag der Lohnabhängigen eng verschmolzen, und wir haben es mit dem Problem armer Werktätiger zu tun, weil einer von sechs Lohnabhängigen eine Stelle mit Niedriglohn innehat (vgl. Concialdi/Ponthieux 2000). Obwohl die Statistiken nur eine Art Foto unserer Gesellschaft liefern (und keinen Film), zeigen sie doch die Lage an. Circa 11 % der Franzosen arbeiten in Zeitarbeit mit einem CD1 (unbefristeter Vertrag), 10 % in einem Praktikum, in Teilzeit oder befristet (CDD), 10 % sind arbeitslos (Cingolani 2005: 30). Also sind 30 % der erwerbstätigen Bevölkerung mit der zeitweiligen Unterbrechung ihrer Tätigkeit konfrontiert, obwohl dieser Anteil bloß unvollständig die Zerbrechlichkeit und Beweglichkeit ihrer Lage wiedergibt. Aber muss man die prekäre Arbeit nicht unter dem Aspekt ihres Zusammenhangs mit dem übrigen Teil der Gesellschaft betrachten? Zeigt sich dabei nicht ein Anhaltspunkt, um über die Integrationsfunktion der Arbeit in heutigen Gesellschaften nachzudenken? Wieweit kann die prekäre Arbeit im Kontext der Armut betrachtet werden, und bis zu welchem Grade bildet die prekäre Arbeit einen integralen Bestandteil einer immer ausgedehnteren gesellschaftlichen Lage, die gekennzeichnet ist durch Arbeitslosigkeit, aber auch durch Staatsintervention mittels Praktika und mittels verschiedener Eingliederungsdispositive? Während eine Generation nach der anderen in eine Lage mit andauernder Massenarbeitslosigkeit hineinwächst, entwickeln sich die Zeitweiligkeit der Beschäftigung, die Flexibilität und Zerbrechlichkeit des Status ebenfalls zu Massenerscheinungen, wodurch sich die Prekarität ausdehnt. Muss man ferner in diesem Kontext eines Wandels des Verhältnisses zur Arbeit und des Stils von Werktätigkeit nicht unterscheiden zwischen der Kategorie Zeitweiligkeit mit Unterbrechung (intermittence) und der Kategorie Prekarität, wie es jedenfalls die Bewegung der zeitweilig Beschäftigten im Bereich des Theaters (im weiten Sinne: spectacle) nahelegen könnte? Wird für das Bedürfnis nach Unterbrechung in Laufbahn und Erfahrung nicht zu oft mit Verlust an Status und Sicherheit bezahlt? Die Prekarität der Arbeit kann sich zuweilen auch mit den anderen sozialen Determinismen verschränken, die jeden bedrohen: mit den sozialen und psychischen Handicaps im Bereich der Familie (Krankheit, Alkohol oder einfach eine große Kinderzahl), oder mit Unfallfolgen wie Krankheit oder Invalidität, wodurch der einzelne in Krise oder Abhängigkeit mit den entsprechenden so-

Wird die Prekarität ein neues Leitmodell der Arbeit?

zioökonomischen Konsequenzen geraten kann. Die berufliche Verwundbarkeit verstärkt alle anderen Verwundbarkeiten: Sie zeigt die Notwendigkeit von Sicherheiten für die Entfaltung der modernen Person und wirft sie in neue Formen von Elend (vgl. Castel 1995, 2003). Die Flexibilitäten erscheinen dabei als Lagen, durch die der einzelne in Zerbrechlichkeit, materielle wie psychische Verarmung und schließlich in Armut gestürzt wird. Gleichzeitig wird die prekäre Arbeit durch ihre immer weitere Verbreitung zu einer kollektiven Erfahrung, insbesondere der Jüngsten. Paradoxerweise stellt sie zudem den Rahmen des Eintritts in das Arbeitsleben dar. Soweit nicht Diskriminierung zur Untätigkeit verdammt, werden die neuen Generationen häufig durch Praktika, CDD und Zeitleihagenturen in die Lohnarbeit eingeschleust. Im Kontext des Zuwartens, der mehr und mehr den Übergang ins Erwachsenenalter bestimmt, ist die prekäre Arbeit ambivalent: Sie kann zuweilen die Voraussetzung für konkrete Berufserfahrung und den Erwerb von Know-how und Lebensweisheiten werden, in anderen Fällen aber das Verdammungsurteil zu den unterrangigen und entqualifizierten Segmenten des Arbeitsmarkts. Aber in beiden Fällen wird die Zeitweiligkeit mit Unterbrechung, die wir als entscheidendes Kriterium der besonderen Beschäftigungsformen festgehalten haben, den Ort der Arbeit und ihren Rhythmus im Leben der jungen Erwachsenen und also in der Gesellschaft insgesamt relativieren. Zwischen der Diskontinuität der Abschnitte mit und ohne Beschäftigung, mit und ohne Erwerbstätigkeit, zwischen Lagen formeller und informeller Lohnarbeit, zwischen den Tätigkeiten mit sozialen und denen mit direkt ökonomischen Zielen sowie zwischen denen mit Vollzeit und mit Teilzeit bildet sich nicht bloß eine neue Lage, sondern auch eine neue Erfahrung der Lohnabhängigkeit heraus, die nicht mehr viel zu tun hat mit den typischen Erfahrungen während der »30 glorreichen Jahre«13 . An die Stelle einer Arbeit, die durch Bedingungen von training on the job und die Teilhabe an einer auf Selbstkontrolle und Solidarität beruhenden Gemeinschaft (communauté) gekennzeichnet war – an die Stelle einer integrierenden und zur Identifikation einladenden Arbeit scheint in Frankreich ein Typ von Arbeit getreten zu sein, die am Ende eines durch den Schulkomplex bestimmten Sozialisierungsprozesses steht und deren starke Ambivalenz und Unsicherheiten sie als Basis für Identität schwächen. Wenn die besonderen Beschäftigungsformen der 1960er Jahren noch Einzelfälle und »atypisch« waren, so stellen sie heute eine massive Tatsache dar, in der sowohl die Verschlechterung der Sicherung wie die Änderungen des Arbeitsstils zum Ausdruck kommen, wie sie bisher mit der lohnvermittelten Gesellschaft verbunden waren. Bekanntlich ist das Wort »Prekarität« am Ende der 1980er Jahre aus dem ökonomischen in das soziale Vokabular übergegan13 | 1945-1975: Wachstumsperiode mit hohem Beschäftigungsgrad, in Frankreich in Analogie zu den »drei glorreichen Tagen« der Julirevolution 1830 so bezeichnet (J.L.).

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gen; es fungiert nicht mehr nur als Adjektiv, das sich auf eine Arbeit bezieht, sondern als Substantiv, das mit Armut verknüpft ist (vgl. Wrésinski 1987). Darüber hinaus ist es aber auch, weil es die Erfahrung der neuen Generationen von Lohnabhängigen mir der Arbeit dauerhaft und massenhaft verändert, zum Focus einer Bewegung geworden, in der es um die Zukunft der lohnvermittelten Zivilisation als solcher geht. Allein die Zukunft wird zeigen, was aus diesen Wandlungen entsteht: zwischen dem Pol einer Umverteilung von Zeit und Lebensrhythmus und dem Pol einer Aufteilung zwecks Verschärfung von Mobilität, Flexibilität und Verwundbarkeit. (Übers. Jürgen Link)

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Wird die Prekarität ein neues Leitmodell der Arbeit?

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Flexibilität und Prekarität Die zwei Gesichter einer entfesselten Marktgesellschaft Franz Schultheis

R ADIK ALE M ARK T VERGESELLSCHAF TUNG UND IHRE K RITIKER Der vorliegende Beitrag greift eine von Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer zu Recht internationales Aufsehen erregenden Studie »Der neue Geist des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2003) entwickelte These auf und wählt sie als theoretische Ausgangsstellung für eine Interpretation eigener empirischer Befunde und weiter führender theoretischer Überlegungen. Schon der Titel dieser Studie ist Programm, postuliert einerseits Kontinuität der klassischen sozialwissenschaftlichen Paradigmen und ihre fortbestehende Deutungskraft betreffs der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und -bedingungen der Moderne, wirft nichts über Bord, ordnet und platziert die Dinge zugleich aber neu1 . Der Geist des Kapitalismus wird zunächst in einem großen historischen Wurf auf originelle Weise so rekonstruiert, dass er von Beginn an als unweigerlich und unzertrennlich mit seiner Antithese, der Kapitalismuskritik, liiert scheint. Diese Kapitalismuskritik, zunächst in religiösen, philanthropisch-humanistischen, sozialphilosophisch daherkommenden Gewändern, nicht zuletzt aber auch in literarischer Gestalt einen nachhaltigen Ausdruck findend, verläuft, wie die beiden Autoren sehr überzeugend rekonstruieren, auf zwei parallelen Bahnen, die sich manchmal kreuzen und wechselseitig verstärken, ja geradezu bis zur Unkenntlichkeit vereinen, dann wieder in Gegenlage zueinander treten und sich Rang und Publikum ablaufen. »Sozialkritik« an den vom Kapitalismus systematisch erzeugten Widersprüchen und Leiden, an der Ausbeutung von Menschen durch den Mensch hier, »Künstlerkritik« (critique 1 | Man kann im vorliegenden Werk ohne Mühe eine Fortschreibung der für Max Weber prägenden Fragestellung erkennen: »Ausnahmslose jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch darauf hin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-) Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden« (Weber 1973: 517).

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artiste) an den verheerenden Folgen einer vermassten, in die Hörigkeit eines ehernen Gefängnisses bürokratischer Normalisierung und Disziplinierung verbannten Menschentums dort. Stehen zu Beginn die frühsozialistischen Gegenentwürfe zum manchesterliberalen Frühkapitalismus, dann aber noch grundlegender und dauerhafter der Frühmarxismus der Tradition der Sozialkritik an der Wiege und geben ihr langfristig Ton und Stoßrichtung an, so geben sich bei der Geburt der Zwillingsschwester »Künstlerkritik« die verschiedenen Varianten der Bohème ein Stelldichein. Das »J’accuse« der kritischen Intellektuellen gegen die Menschenverachtung der entfesselten Ökonomie, fast allesamt Kinder eben jener Bourgeoisie, die hier auf die Anklagebank gesetzt wird, vermischt sich seitdem in immer neuen Polyphonien mit dem nietzscheanischen Pathos der Künstlerkritik an der Knechtschaft der »masses moutonnières« der modernen Lohnarbeitsgesellschaft, ihrem zum System gewordenen Nihilismus, dem man letztlich nur noch einen aufgeklärten heroischen Nihilismus im Stile Max Webers scheint entgegen setzten zu können. Die besondere Überzeugungskraft der Theoriearbeit Boltanskis und Chiapellos liegt nun aber gerade darin aufzuzeigen, wie sehr diese kritischen Gegenentwürfe selbst vom Kapitalismus assimiliert und positiv bzw. im wahrsten Sinne des Wortes »produktiv« gewendet werden konnten. Die Lektüre dieses spannenden Buches führt Schritt für Schritt vor Augen, wie sehr die immer wieder überraschende Vitalität und Selbsterneuerungskraft des Kapitalismus nicht zuletzt auf der Fähigkeit beruht, die Kritik an ihm aufzunehmen und dadurch aufzuheben. Die Kapitalismuskritiker müssen sich bei dieser Lektüre immer aufs Neue Asche auf ihr Haupt streuen und eingestehen, dass sie ihren Gegner auf sträfliche Weise unterschätzt haben und er sie auf ihren ureigensten Gefilden allzu oft mit ihren eigenen Waffen schlägt. Der Kapitalismus erweist sich in dieser Sicht der Dinge nicht nur als überaus vital, sondern obendrein noch höchst lernfähig und lernbereit, absorbiert historische Erfahrungen und wendet sie reflexiv. Er lässt Kritik und Widerstand nicht einfach an sich abprallen, wie man lange versucht war zu glauben, sondern öffnet sich ihr, assimiliert und akkommodiert, um es mit der Piagetschen Lerntheorie auszudrücken, die aufgesogenen Wissensbestände und Erfahrungswerte, nimmt deren Aufschlüsse in sein Programm auf, wird klüger und reflexiver, schreitet fort, steigert seine Effizienz, stärkt sich und wird dabei immer unausweichlicher. Die Autoren dieses Buches begnügen sich keineswegs mit solchen theoretischen Postulaten. Vielmehr begeben sie sich in die Höhle des Löwen, in seine think-tanks, wo seine Doktrinen und Doxa gehütet und fortgeschrieben werden. Die zeitgenössische Managementliteratur dient ihnen als eine Art Spiegel, bzw. »Anzeiger« für die vor unseren Augen ablaufenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Anhand akribischer Inhaltsanalysen der Lehr- und Handbücher für die Eliten des kapitalistischen Großunternehmens, nach dem Verschwinden einer ohnehin wenig überzeugenden Alternative heute globaler

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und universalistischer daher kommend denn je, zeigen sie auf, wie die Künstlerkritik an entfremdender und abstumpfender Lohnarbeit, an rigiden, fremdbestimmten Arbeitsprozessen, an der für entfremdete Arbeit symptomatischen Spaltung von Arbeit hier und Freizeit und vermeintliche Freiheit dort, Massenproduktion und Massenkonsum etc. aufgegriffen wird und in ihrem Potential für eine erneute Befreiung bzw. Steigerung von Produktivität begriffen wird. Hierbei begeben sich Boltanski und Chiapello nie auf die Ebene einer vulgären 68er-Schelte, verfallen nicht in die altbekannten Mechanismen eines intellektuellen Anti-Intellektualismus, wo Frustration, Ohnmachtsgefühle und Ressentiments regieren. Der Ton ist kühl, die Analyse distanziert, auch wenn man ihr immer wieder Betroffenheit anmerkt. Verschiedene Lesarten sind möglich und verdeutlichen, wie ertragreich der eingeschlagene Weg einer Rekonstruktion der Moderne unter Einbezug der für sie typischen Forme der Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung, genannt »Sozialwissenschaft«, sein kann. So lässt sich z.B. nicht nur eine deutliche Kontinuität hinsichtlich der Weberschen Fragestellung nach dem Ethos des Kapitalismus aufzeigen, die ja angesichts des gewählten Titels ohnehin in die Augen springt, sondern auch eine Fortschreibung des Elias’schen Programms einer Analyse des Prozesses der westlichen Zivilisation erkennen. Hierbei erscheint dann der sich seit den frühen 1980er Jahren abzeichnende folgenschwere Paradigmenwechsel bei der Identifikation und Definition der normativen Anforderungen und Qualitätsstandards des Humankapitals in der Managementliteratur analog zu den mit der Neuzeit auftauchenden Benimmspiegeln und Etikettebüchern wie ein Spiegel der allmählichen Transformation von Anforderungen an die Kompetenzen der Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung des Individuums. Nur jetzt ist es nicht mehr die höfische Gesellschaft und ihre Elite, die eine Art »Treibhaus« für die Entwicklung dieses neuen zivilisierten Habitus abgeben, sondern dieser Prozess hat sich auf die Unternehmens-Chefetagen der heutigen gesellschaftlichen Eliten, dem Management, verlagert. Wie schon im Falle der höfischen Gesellschaft wirkt auch hier wieder ein enormer und omnipräsenter Konkurrenzdruck als Treibstoff dieses Prozesses der Steigerung individueller Kompetenzen an Selbstbeherrschung und Selbststeuerung: savoir-vivre und savoir-survivre waren schon im Zeitalter des Duc de Saint Simon am Hofe Ludwig XIV. Begleiterscheinungen eines sozialdarwinistisches Klimas der Auslese und Züchtung einer neuen Elite, und der neue Ethos des Kapitalismus, der den homo oeconomicus in seiner idealtypischen Form des Unternehmers zum Modell für alle erhebt, fand gerade auf den Chefetagen der Unternehmen und Consulting-Agenturen geeigneten Nährboden. Das Kapital dieses Typus des »Unternehmers seiner selbst« ist unter den heutigen Bedingungen einer hochtechnisierten Informationsgesellschaft immer weniger in seiner klassischen materiellen bzw. patrimonialen Form zu finden, sondern erweist sich immer weitgehender personengebunden, sei es in Form

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inkorporierten bzw. zum Habitus eingefleischten kulturellen Kapitals, sei es in Form personengebundener Netzwerke und sozialen Kapitals. Beide erfüllen die Voraussetzungen maximaler Mobilität und Flexibilität, die heute nach den von Boltanski und Chiapello vorgelegten Analysen als zentrale Merkmale des employable man gelten. Zu den Paradoxien dieses Gesellschaftstypus zählt, dass ausgerechnet bzw. gerade in Zeiten einer immer mehr in zersplitterte Einzelprojekte zerfallenden Erwerbsbiographie und der Normalisierung sog. atypischer Arbeitsverhältnisse in Gestalt von nur punktuell abgesicherten und begrenzten Arbeitszusammenhängen, von den nicht minder prekär werdenden privaten Lebensverhältnissen ganz zu schweigen, ein immer komplexerer und integrierter Persönlichkeitstyp mit einem Höchstmaß an Selbstkontrolle und sozialer Handlungskompetenz gefordert und gefördert wird. Die Dialektik dieses Prozesses der Modernisierung bringt es mit sich, dass Individuen, die durch diese wachsende Anforderung schlicht überfordert werden, insbesondere jene, die auf Grund ihrer sozialen Herkunft und Platzierung nur schlecht mit den für diese radikalisierte Konkurrenz nötigen kulturellen Kompetenzen ausgestattet sind, es riskieren, auf der Strecke zu bleiben. Hier schlägt dann wieder die Stunde der Sozialkritik, die sich mehr denn je mit den Folgen einer Dialektik der Moderne auseinandersetzen muss, welche systematische gesellschaftliche Spaltungen und Widersprüche erzeugt, materielle Lebenschancen und Handlungsspielräume und Projekte subjektiver Selbstverwirklichung für die einen, Schutzlosigkeit und »negative Individualisierung« (Castel 2003) für die anderen erzeugt.

P REK ARITÄT : M ENSCHEN IM M AHLSTROM ENTFESSELTER M ARK TKONKURRENZ Eine zentrale Quelle des Leidens an gesellschaftlichen Lebensbedingungen findet sich im raschen, radikalen oder gar revolutionären Wandel von gesellschaftlichen Strukturen und alltäglichen Lebensverhältnissen. Dieser schlägt sich in einem Bruch zwischen den vom Menschen internalisierten bzw. sprichwörtlich »einverleibten« gesellschaftlichen Strukturen (dem Ensemble an Denkschemata, moralischen Standards und Verhaltensgewohnheiten, die der Soziologe »Habitus« nennt) und den Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Umwelt nieder und produziert das, was der Soziologe Anomie nennt, d.h. einen Mangel an normativen Koordinaten und Orientierungen an denen man seine Erwartungen und Handlungen mit einiger Verlässlichkeit ausrichten kann. Genau hiervon aber wird im Folgenden die Rede sein. Wir leben heute in einer Zeit massiver wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Umbrüche. Darüber besteht bei allen Experten der Sozial-, Wirtschafts- und Humanwissenschaften ein ausgeprägter Konsens, und man ist sich auch einig darin, dass dieser radikale

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Wandel ungefähr in den Jahren um 1980 begonnen hat. Nur wählt man für die Kennzeichnung dieses Wandels sehr unterschiedliche Konzepte und spricht von Globalisierung, post-industrieller Gesellschaft oder Neoliberalismus. Im Rahmen dieses Wandels kommt es nach dem in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Publikationen dokumentierten Stand der Forschung zu einer grundlegenden Veränderung der normativen Anforderungen an den Arbeitnehmer bzw., um es zeitgemäß auszudrücken, an das heutige Humankapital. Gemeinsamer Nenner dieses Steckbriefs des idealen Arbeitnehmers scheint zu sein: er arbeitet ständig und lebenslang an der Perfektionierung oder zumindest Bewahrung seines »Humankapitals« in Gestalt seines inkorporierten kulturellen und sozialen Kapitals, denkt und handelt im Rahmen von je befristeten und begrenzten Projekten statt in Dimensionen lebenslanger beruflicher Karrierevorstellungen, situiert sich im Kontext personengebundener sozialer Netzwerke (seinem »sozialen Kapital« an aktivierbaren Ressourcen an Unterstützung), statt auf institutionalisierte Netzwerke zu bauen. Der »employable man« orientiert sich an seinem eigenen, in Gestalt von konkreter Nachfrage messbaren Marktwert, statt nach einem dauerhaften Status zu streben und begnügt sich mit einer konjunktur- und situationsabhängigen Lebensführung, anstatt sich an einen langfristigen Lebensentwurf zu klammern. Er ist insofern in seiner Lebensorientierung stärker außengeleitet als das klassische bürgerliche Individuum mit starker Innenleitung. Der marktgängige Arbeitnehmer ist geographisch mobil und beruflich flexibel und weiß dies mit seinen privaten Lebensarrangements in Einklang zu bringen, welche dadurch tendenziell auch den Charakter von zeitlich begrenzten Projekten annehmen.2 Der beschriebene ökonomische Habitus des »employable man«3 spiegelt direkt die allgemeinen Grundzüge der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre wider. Hierzu zählen Aspekte wie: Optimierung der Markt-Transaktionen (Zahl und Frequenz), Optimierung der Vertragsabschlüsse (Zahl und Frequenz); Reduktion des Inhalts von Verträgen auf die effektiv zu erbringende Leistungen (reiner Leistungslohn und reiner Zweckkontrakt), maximale Ausdehnung und Intensivierung des Markthandelns im gesellschaftlichen Raum unter Ausräumung aller dabei im Wege stehenden Schranken, Glaube an die Leitfigur des Unternehmer als Prototyp eines sensibel und rational auf die Marktkräfte re2 | Man wird schon gemerkt haben, dass auch das Leben des erfolgreichen Marktmenschen alles andere als reines Honiglecken ist. Man fordert ihm ein sehr hohes (allzu hohes?) Maß an Selbstkontrolle und -diziplin ab, eine Dauerreflexivität, die irgendwann Ermüdungserscheinungen und eine »Fatigue d’être soi«, wie es der treffende Titel eines Buches von Ehrenberg auf den Nenner bringt, zeitigen muss. 3 | Hier wie andernorts wird »man« geschlechtsneutral in seiner anthropologischen Bedeutung verwendet.

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agierenden Akteurs und Forderung nach einer Orientierung an diesem rational wie moralisch überlegenen Modell für Jedermann.

M E TAMORPHOSEN EINES S CHWEIZER TR ADITIONSUNTERNEHMENS So weit der in vielfältigen sozialwissenschaftlichen Studien diagnostizierte Wandel der modernen Arbeitsgesellschaft auf makrostruktureller wie individueller Ebene. Unser Beitrag wird nun den Versuch machen, diesen vor unseren Augen stattfindenden gesellschaftlichen Wandel und seine Folgen für die betroffenen Menschen anhand der Beobachtungen und Analysen der Veränderungen in einem Schweizer Unternehmen von Weltruf näher zu beleuchten. Es handelt sich um ein Traditionsunternehmen, das in den 90iger Jahren seine Unternehmenskultur im Gefolge einer zweifachen Fusion radikal umkrempelte bzw. »modernisierte« und im gleichen Schritt rund 4000 Mitarbeiter entließ bzw. wie man dort sagt: »freigestellt hat«. Hierbei sei gleich einleitend angemerkt, dass dieses Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt einen besonderen Stolz darin zu finden schien, noch nie einen Mitarbeiter vor die Tür gesetzt zu haben. Es handelt sich also um eine tief greifende Metamorphose, nach der dieses Unternehmen auch und gerade für langjährige Mitarbeiter aller hierarchischen Positionen schlicht nicht mehr wieder zu erkennen war. Der Autor hatte Gelegenheit, mit einer Gruppe jüngerer Soziologen und Soziologinnen diesen Prozess über eine Dauer von mehr als zwei Jahren beobachtend zu begleiten und zu forschen (vgl. Buss-Notter 2007). Die Befunde und Ergebnisse dieser konkreten Beobachtungen und Analysen können unseres Ermessens über den Einzelfall hinaus sehr treffend als Spiegel unserer Gesellschaft auf dem Wege in ein neues, neoliberales Zeitalter dienen. Im Zentrum hierbei steht die Frage nach dem Menschen: Was wird aus ihm, dem Homo sapiens, unter den Bedingungen einer brutalen Radikalisierung der Marktlogik? Entwickelt er sich vollends zu einem Homo Oeconomicus, wie es die moderne Wirtschaftslogik zu fordern scheint und viele der beobachtbaren Veränderungen es bereits andeuten? Gibt es Widerstände und Kräfte der Beharrung? Wie wird dieser Wandel konkret erlebt und erlitten? Mit solchen gewollt »naiv« erscheinenden Fragen folgen wir einem zentralen soziologischen Erkenntnisinteresse, welches von Max Weber in der folgenden Weise auf einen klaren Nenner gebracht wurde: »Ausnahmslose jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch darauf hin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden« (Weber 1973: 517). Aber kommen wir nun zur konkreten Anschauung laufender Transformationsprozesse des fortgeschrittenen Kapitalismus. 1997 bekam unser kleines

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Soziologenteam die Möglichkeit, den frisch eingeleiteten grundlegenden Wandel eines Schweizer Traditionsbetriebs aus nächster Nähe zu beobachten und zu analysieren. Nach einer Fusion mit einem anderen inländischen und nachfolgend dem Zusammenschluss mit einem nordamerikanischen Unternehmen der gleichen Branche wurde diese Zusammenlegung für die Durchsetzung einer weit reichenden und tiefgehenden Rationalisierung und Modernisierung genutzt. Zu diesem Zwecke holte man sich eine weltweite bekannte Unternehmensberatungsfirma ins Haus, die den Plan für eine Total-Renovation ausarbeitete und umsetzte. Möglichst viele Arbeitsplätze sollten eingespart werden und hierbei legte man die Elle der employability an, um die rund 4000 Überzähligen, sozusagen den Ausschuss des Modernisierungsprozesses, auszusortieren. Das Prinzip der employability wurde dabei nach den Plänen der für den Umbau zuständigen Consultants in Form von Workshops umgesetzt: alle Mitarbeiter der fusionierenden Firmen wurden eingeladen, um an ausgewählten Tagungsorten einen Wettkampf um ihr Verbleiben bzw. Überleben zu bestehen und dabei zu beweisen, dass sie gegenüber ihren Konkurrenten ein höheres Maß an employability aufzuweisen hatten.4 Um die Verlierer nicht einfach auf der Straße sitzen zu lassen (was auf das Image des Unternehmens wenig erfreuliche Schatten werfen könnte), entwarf das Unternehmen einen recht großzügigen Sozialplan, und dieser gab denn auch den Rahmen dafür ab, Soziologen auf den Plan zu rufen. Die mit dem »sozial verträglichen« Personalabbau beauftragte Gruppe von Kadern des Unternehmens ließ uns Einblick in ihre Arbeit nehmen und ermöglichte es uns, die sozialen und menschlichen Folgekosten der vonstatten gehenden Rationalisierung zu beobachten und zu analysieren.

W EGE EINER SOZIOLOGISCHEN F ELDSTUDIE Unsere Forschung bediente sich unterschiedlicher Methoden wie teilnehmende Beobachtung, Auswertung schriftlicher Quellen unterschiedlichster Herkunft und Funktion, statistische Auswertung von Personaldaten (soziodemographische Profile der Population freigestellter Mitarbeiter nach soziologisch relevanten Kriterien wie Alter, Herkunft, Familienstand etc.) und vor allem qualitative 4 | Es bedarf wohl kaum einer längeren Fußnote, um auf die besondere Brutalität dieser Form sozialer Auslese zu verweisen. Das sozialdarwinistische Prinzip des »survival of the fittest« wird unter den Bedingungen solcher »Überlebensübungen« ohne Umschweife zelebriert, und analog zu den traditionellen Ausscheidungskämpfen (von den Gladiatorenkämpfen im Zirkus des alten Rom bis hin zum modernen Sport oder medial inszenierten Wettbewerben aller Art) lässt sich auch hier die kollektive Illusion wahren, dass Alles mit rechten Dingen zugeht.

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Interviews mit mehr als 100 Betroffenen unterschiedlichster Statuspositionen im Unternehmen. Hierbei ging es darum, die menschlichen Erfahrungen mit dem erlebten Umbruch aus der Sicht der Betroffenen ans Licht zu bringen und deren Zeugnisse einzuholen und festzuhalten. Dieses Kernstück des Projektes diente u.a. auch dem Zweck, den Wandel des Unternehmens, welcher in künftigen Zeiten wohl hauptsächlich aus der Vogelperspektive der Unternehmensspitze als einschneidender Erfolg einer Anpassung an die Zwänge des Marktes und verschärfter globaler Konkurrenz gefeiert werden wird, auch aus der Froschperspektive des ganz normalen Angestellten zu sehen und deutlich zu machen, dass es sich bei diesem Unternehmenswandel um eine sehr doppelschneidige Angelegenheit handelt. Dieser bringt nicht nur auf Seiten der ihn passiv wie einen Schicksalsschlag erleidenden Alltagsmenschen enorme Verlustgefühle und Leiden mit sich, sondern destabilisiert auch das Verhältnis der im Unternehmen Verbleibenden dauerhaft, zerstört langfristig das Vertrauen, das der einfache Arbeitnehmer in es setzte, und schlägt sich im sog. survivorsickness-Syndrom nieder, welches wohl auch für das Unternehmen selbst langfristig negative Konsequenzen in Form von sinkender Identifikation (die viel beschworene corporate identity) und Arbeitsmotivation haben kann. Mittels der statistischen Auswertung der demographischen und sozialen Merkmale der rund 4000 aussortierten Menschen, den Überzähligen, konnten wir zunächst der Frage nachgehen, ob denn der postulierte Wettkampf ums Überleben tatsächlich so egalitär wie behauptet vor sich ging, oder ob es typische Verlierer und typische Gewinner-Profile gab. Schauen wir uns zu diesem Zwecke einmal das Profil der »Verlierer« bei dieser Ausscheidungskonkurrenz an. Fragt man nach den persönlichen Merkmalen und Profilen, die den Arbeitnehmer der fusionierenden Unternehmen für eine Freistellung prädisponierten und in gewissem Sinne also »Handicaps« in der Konkurrenz um knappe (bzw. aus Rationalisierungsgründen in der Logik der shareholder-value künstlich verknappte) Stellen bedeuteten, so stößt man zunächst auf den Faktor Geschlecht. Frauen waren bei der Population ausgesonderter Mitarbeiter, den leaver, weit überrepräsentiert, was zu einem guten Teil mit einem weiteren Typus des Handicaps bzw. der sozialen Verwundbarkeit zusammenhängen dürfte: der Familiensituation. Wie unsere statistische Analyse offen legte, scheinen Mütter von Kleinkindern, aber auch noch schulpflichtigen Kindern in ihrer vom Unternehmen evaluierten employability stark beeinträchtigt (gehandicapt) und wurden weit überdurchschnittlich frei gestellt5 , während 5 | Hier sei darauf verwiesen, dass auch Teilzeitarbeit ein deutlicher Indikator für die Verwundbarkeit von Angestellten im sozialen Selektionsprozess darstellt, allerdings signifikant mit den beiden genannten Faktoren weibliches Geschlecht und Familienlasten korrelierte und in dieser Weise für eine Ausgrenzung der dreifach Betroffenen prädestinierte.

Flexibilität und Prekarität

Vätern in gleichen Familienverhältnissen ein solches Schicksal als »strukturelle Opfer« der Modernisierung erspart blieb. Kinder als Handicap? Glaubt man, dass unsere fortgeschrittenen Industriegesellschaften in Sachen Geschlechterungleichheit doch einige Fortschritte gemacht hätten, so wird man angesichts aktueller sozioökonomischer Veränderungen schnell eines Besseren belehrt. Weiterhin erwies sich der Faktor Alter als zentrales Selektionskriterium: bereits ab 45 Jahren wurden Arbeitnehmer signifikant häufiger freigestellt, ab 55 Jahren aber prinzipiell von einer Frühverrentung betroffen, eine Entscheidung, die aufgrund ihrer für das Unternehmen katastrophalen Folgen schnell revidiert wurde.6 Auch das kulturelle Kapital in Form von schulischen und universitären Diplomen erwies sich als einschneidendes Selektionsprinzip: je geringer das schulische Kapital, desto größer die Ausscheidungswahrscheinlichkeit – so einfach lesen sich die aus der statistischen Auswertung der Profile von Gewinnern und Verlierern destillierten Kriterien. Kommt noch hinzu ein geographisches bzw. sozial-topographisches Selektionselement, welches die spezifischen historisch gewachsenen Verhältnisse der Schweiz gut widerspiegelt: Arbeitnehmer aus den französisch- und italienischsprachigen Regionen der Schweiz waren deutlich häufiger dem Risiko des Arbeitsplatzverlustes ausgesetzt als jene aus der Deutschschweiz, und das sich in dieser Form der Sonderung zum Ausdruck bringende Prinzip der Dominanz des Zentrums (die Deutschschweiz als zentraler Wirtschaftsstandort) spielte auch innerhalb dieses dominanten Sprachraums nochmals nach der Logik der Zentralität eine Rolle (Zürich als Kapitale des Kapitals der Schweiz war der Ort, an dem es sich am ehesten »überleben« ließ, Basel-Land oder die Ostschweiz hingegen gaben schlechte Standorte im Rennen ums Verbleiben ab). Kommen wir nun aber zu einem gerade für den Arzt als Leser der Zeilen eines Soziologen wichtigen Aspekt der Analyse des Leidens an aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Innerhalb der Gruppe der ausgesonderten unemployable des Unternehmens trafen wir viele Personen an, die oft seit geraumer Zeit mit gesundheitlichen Problemen, seien sie körperlicher oder seelischer Art, zu kämpfen hatten.

6 | Hier wie auch an vielen anderen Orten muss der Soziologe schlicht seinem Erstaunen Ausdruck geben und gestehen, immer wieder davon überrascht zu werden, mit welcher Weltfremdheit und Naivität hoch bezahlte Consultants wider allen gesunden Menschenverstand ihre am grünen Tisch der Wirtschaftshochschulen erworbenen abstrakten Modellierungskünste contra-faktisch der Wirklichkeit verschreiben bzw. oktroyieren wollen. Eigentlich müsste man wissen, dass man das soziale Gedächtnis eines Unternehmens zerstört, wenn man eine ganze Generation schlicht vergessen macht. Aber gesellschaftliche Eliten funktionieren nun einmal nicht nach Prinzipien des alltäglichen gesunden Menschenverstandes.

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Hier trafen wir Mitmenschen an, die uns von ihrem vermeintlich individuellen Schicksal berichteten und in Wirklichkeit Zeugnis von einer Renaissance der kollektiven Intoleranz gegenüber Schwächen und Makeln aller Art ablegen. Sie hatten einen Prozess der allmählichen Sicherung gegen die von ihnen hautnah erfahren körperlichen und psychischen »Pathologien« mit erlebt und neue Gewissheiten und Identitäten angesichts dieser Zivilisierung menschlicher Lebensbedingungen gewinnen können, welche ihnen jetzt wieder genommen wurden. Die in der Interviewsituation angetroffenen Reaktionen auf diesen Verlust reichen von der Schilderung persönlichen Dramen, über die fatalistische Hinnahme der Geschehnisse wie bei einer Naturkatastrophe, Wut und Hass auf das Unternehmen, Selbstzweifel, bis hin zu Ressentiments gegenüber bestimmten Vorgesetzten. Vorherrschend war jedoch der Ausdruck eines grundlegenden und tiefgehenden Gefühls des Verlustes, des Verlustes an Heimat, an Identität, an Gemeinschaft und allen voran ein Verlust an Vertrauen in die gesellschaftlichen Spielregeln und die eigene Zukunft.

V OM ELITÄREN E THOS ZUM S TANDARD Der neue Ethos des Kapitalismus entstand, wie in Anlehnung an Boltanski und Chiapello dargelegt, auf den Chefetagen der Unternehmen und den Consulting-Agenturen: hier wurde das Menschenbild des universellen »freien Unternehmers seiner selbst« genährt, bei dem individuelle Selbstsorge kollektive Vorsorge und Fürsorge ersetzen. Es handelt sich um einen Ethos von Eliten, für Eliten entwickelt, dessen Pathos die eigenen sozialen Möglichkeitsbedingungen geflissentlich ignoriert oder verdrängt und vergessen macht, dass die Fähigkeit der Selbstsorge nicht zuletzt als Privileg eines Individuums verstanden werden muss, das über die notwendigen materiellen Privilegien verfügt, um sich selbst in die Hand nehmen zu können. Diese Voraussetzungen haben jedoch unter den heutigen Bedingungen der hoch technisierten Informationsgesellschaft immer weniger einen materiellen, patrimonialen Charakter, sondern sind weitgehend personengebunden, sei es in Form inkorporierten bzw. zum Habitus eingefleischten kulturellen Kapitals, sei es in Form persönlicher Netzwerke und sozialen Kapitals. Beide erfüllen die Voraussetzungen maximaler Mobilität und Flexibilität, die heute zentrale Merkmale des employable man sind. Welch seltsames Paradoxon: ein immer mehr zersplitterter, in Einzelprojekte zerlegter und nur durch isolierte Werkverträge punktuell gesicherter gesellschaftlicher Arbeitszusammenhang soll durch die Forderung und Förderung einer komplexen Persönlichkeitsstruktur mit höchster Handlungs- und Selbststeuerungskompetenz ermöglicht werden. Am Gegenpol zu diesem Bild eines neuen elitären ökonomischen Habitus entsteht unweigerlich die Negativfolie des unemployable man: man muss nur bei

Flexibilität und Prekarität

jeder der von Boltanski und Chiapello aus der Managementliteratur herausgefilterten normativen Erwartungen an den employable man ein negatives Vorzeichen setzen und schon entsteht der Steckbrief des jetzt stigmatisierten klassischen Arbeitnehmerhabitus. Was gestern positiv bewertet wurde und selbst Produkt eines jahrhundertelangen Konstruktionsprozesses der Institutionalisierung des Arbeitnehmers war, wird plötzlich innert kürzester Zeit zum Auslaufmodell deklariert und deklassiert. Die zeitgenössische Gesellschaftsdiagnose hat immer mehr mit neuen Verwundbarkeiten »nach den Sicherungen«, wie Castel (vgl. 2003) es ausdrückt, zu tun, die all jene in ihrer Existenz bedrohen, die nicht über das Privileg verfügen, sich den zur allgemeiner Norm erhobenen Anspruch auf selbstverantwortliche Lebensführung materiell leisten und ihn lebenspraktisch einlösen zu können. Wie Castel richtigerweise unterstreicht, bedarf es des Eigentums als materieller Möglichkeitsbedingung autonomer Lebensplanung und Lebensführung, um sich selbst »eigen« nennen zu können. Dort, wo Privateigentum in ausreichendem Maße vorhanden, oft schon von Geburt an ohne weiteres Verdienst in die Wiege gelegt ist, ist dies kein Problem. Wo aber Menschen nur über ihre Arbeitskraft verfügen, um sie auf dem Markt gegen Subsistenzmittel einzutauschen, dort herrscht eine fundamentale Prekarität, Unsicherheit und Verwundbarkeit. Nun haben unsere kapitalistischen Gesellschaften in einem langwierigen Lernprozess Formen der sozialen Sicherung hervorgebracht, die gegen die Standardrisiken der Erwerbsarbeit, das heißt vor allem Invalidität, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, ein Mindestmaß an kollektivem Schutz gewähren und eine Art »Sozialeigentum«, wie Castel es treffend nennt, fest institutionalisiert haben. Dieser enorme Fortschritt hin zu einer Anerkennung und Garantie universeller sozialer Teilhaberechte ging einher mit einer Art nachholenden Individualisierung bei den unteren Gesellschaftsschichten, deren sozialer Habitus mehr oder minder deutliche Zeichen einer Ver(klein)bürgerlichung aufweist. Mit diesem langfristigen Transformationsprozess gingen aber auch Auflösungen traditioneller Sozial- und Solidarformen einher – von der Familie und der erweiterten Verwandtschaft über Nachbarschaft und Gemeinde bis hin zu gewerkschaftlichen und politischen Organisationsformen, die in ihren unterschiedlichen Kombinationen das widerspiegelten, was man noch in den Zeiten des Wirtschaftswunders der »Arbeiterkultur« zurechnete. Auch diese Formen der Vergesellschaftung in den Volksklassen haben im Zuge der Individualisierung alltäglicher Lebensformen und Verhaltensmuster eine rasche und nachhaltige Erosion erfahren und auf dem Wege vom traditionellen zum traditionslosen Arbeitnehmer sind viele der gemeinschaftlichen Ressourcen an Schutz und Solidarität – wohl unwiederbringlich – verloren gegangen. Hier liegt das radikal Neue der sich abzeichnenden »neuen« sozialen Frage: Der schrittweise Abbau sozialer Sicherungen und der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für eine solidarische Daseinsvorsorge trifft nunmehr hochgradig individualisierte Indivi-

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duen, die dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutzlos ausgeliefert sind, weil ihr Habitus nun ganz grundlegend durch die schrittweise Gewöhnung an ein Mindestmaß an Schutz vor den Unwägbarkeiten des Alltags in der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft geprägt ist, einer Gesellschaft die dazu übergeht, nur noch sehr begrenzt solidarische Haftung für ihre Mitglieder zu übernehmen.

L ITER ATUR Boltanski, Luc/Ève Chiapello (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Buss-Notter, Andrea (2007): Soziale Folge ökonomischer Umstrukturierungen. Konstanz: UVK. Castel, Robert (2003): L’insécurité sociale. Qu’est-ce qu’être protégé. Paris: Seuil. Weber, Max (1973): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: JCB Mohr.

Das Regulationsdilemma prekärer Arbeit Große Krisen des Kapitalismus und (blockierte) Alternativen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung Bernd Röttger

»Alles, was auf Erden erfunden wird,/ liegt irgendwo schon auf der Lauer.« (Peter Rühmkorf)

P ROBLEMAUFRISS Inmitten hektischer krisenpolitischer Betriebsamkeiten des Kapitals, mit denen weitere Konzessionen der abhängig Beschäftigten erzwungen und weitere Schritte zur Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechts vorbereitet werden, lassen sich immer wieder Stimmen hören, die eine neue Epoche der Regulation gesellschaftlicher Arbeit verkünden. Für sie ist die mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 manifest gewordene globale ökonomische Krise des Kapitalismus eine »große Krise«. Die französische Regulationstheorie hatte solche ökonomischen Krisen – im Unterschied zu konjunkturellen Einbrüchen, die das politische Regulationsgefüge nicht erschüttern – bestimmt als historische Zäsuren, weil eine Krisenüberwindung innerhalb des einst hegemonialen wirtschaftspolitischen Paradigmas, der geronnenen Strukturen der Akkumulation und der institutionellen Formen der Bearbeitung des Klassenkonflikts nicht mehr möglich ist. Große Krisen leiten eine neue Epoche kapitalistischer Entwicklung ein, die sich von der vorhergehenden deutlich unterscheidet. In dieser Perspektive bezeichnen sowohl die Great Depression der 1930er Jahre als auch die Weltwirtschaftskrise 1974/75 »große Krisen«. Die erste, weil sie den Weg für die Durchsetzung eines verstärkten Staatsinterventionismus, einer Mixed Economy und institutioneller Macht der Arbeiterbewegung bereitete – eine Entwicklung, in der sich der »Trend zur Politisierung der Ökonomie voll durchsetzt« (Ziebura 1984: 16); die zweite, weil sie diesem Entwicklungstyp

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den Garaus bereitete, um den Weg in die neoliberalen Konterrevolutionen zu ebnen. Christine Buci-Glucksmann und Göran Therborn haben in ihrer Analyse des fordistischen Kapitalismus und des keynesianischen Staates herausgearbeitet, dass solche krisenvermittelten »großen Wendepunkte« vor allem »für die Geschichte der Arbeiterbewegung und für ihr Verhältnis zum Staat von entscheidender Bedeutung sind« (1982: 185f). Wie lässt sich dieses Verhältnis heute fassen? Für den Regulationstheoretiker Alain Lipietz erfordert gerade die Krise, die Frage nach der »Rolle der Arbeiterorganisationen bei der Durchsetzung neuer Akkumulationsregime und neuer kapitalistischer Regulationsweisen« (1998: 43) neu zu stellen. Die regulationsoptimistische Variante der aktuellen Krisenanalyse knüpft an solche Deutungsmuster an. Befördert durch die Tatsache, dass die eher in »apologetischen Phrasen, um die Krise wegzuleugnen« (MEW 26.2: 519), geübten Ideologen des Kapitalismus sich in Konjunkturprognosen zunehmend blamierten oder freiwillig die Segel strichen (vgl. Neuerer 2009), eroberten marxistische ›Krisenspezialisten‹ die Deutungshoheit. Bereits Eugen Varga sprach von der »vollständigen Unfähigkeit der bürgerlichen Nationalökonomen, den Konjunkturverlauf vorauszusehen« (1969: 88f). »New Marxian Times« also – so der Titel einer Konferenz der Zeitschrift Rethinking Marxism, die im November 2009 stattfand? Erste Krisenüberwindungsstrategien des bürgerlichen Staates deuteten auch scheinbar deutlich einen Bruch mit der selbstgefälligen Vergangenheit kapitalistischer Expansion an, in die sich die Ausweitung prekärer Lohnarbeit unentwirrbar eingewoben hatte. Mit der zu konstatierenden »Rückkehr des Staates« sei das Ende der neoliberalen Ära der Deregulierung erklommen. Die lauter werdenden Forderungen nach einer Re-Regulierung der Finanzmärkte würden zeigen, dass das finanzmarktgetriebene Akkumulationsregime seinen Zenit unwiderruflich überschritten hätte. Dazu käme, dass innerhalb exportgestützter Wachstumsmodelle, wie etwa dem »Modell Deutschland« und seiner wettbewerbskorporatistischen Bündnisse, auch keine Krisenüberwindung mehr denkbar sei. Der Entwicklungstyp müsse, um überhaupt einen Pfad aus der Krise ebnen zu können, sozial und ökologisch umgebaut werden. Das Regulationsdispositiv einer Epoche kapitalistischer Expansion – die Epoche der »Prekarisierung« – schien deutlich zur Disposition zu stehen. Einige waren sich sogar gewiss, dass die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise die finale Krise der kapitalistischen Produktionsweise einläute. Der Ausgang der Wahl zum Deutschen Bundestag am 27. September 2009 bestätigte aber eindringlich, dass sich vermeintliche ökonomische Notwendigkeiten kaum zwangsläufig auch politisch durchsetzen. Das Gegenteil scheint der Fall. In der Krise werden die gesellschaftlichen und politischen Prozesse abgewürgt, die sie erst zu einer »großen Krise« entfalten können. Wenn Bundeskanzlerin Merkel im sog. Fernsehduell der Spitzenkandidaten vor der Bundestagswahl von einer »großen Krise« plaudert, um im gleichen Atemzug zu

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verkünden, dass die Krise genau dann überwunden ist, wenn der »Zustand vor der Krise« wieder erreicht ist und man zu den »bewährten« Formen der Wirtschaftsregulation zurückkehren könne, wird offensichtlich, dass die nicht wegzuleugnenden tiefen Krisenprozesse ihrer emanzipatorischen Potenziale enthauptet und die politische Macht jener Kräfte restauriert werden soll, die durch die Krise gerade historisch negiert wurden. In Anlehnung an Elmar Altvaters (1979) Analyse der einsetzenden neoliberalen Konterrevolution kann man davon sprechen, dass die Bourgeoisie vom »Fluchtpunkt Ökonomie« (mit dem sie sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1974/75 aus den Fesseln des fordistischen Klassenkompromisses befreien wollte) zum »Fluchtpunkt Staat« (der sie vor den eigenen Kräften der Selbstvernichtung schützen soll) wechselt. Tatsächlich schreiben sich Finanz- und Industriekapital ihre staatlichen ›Rettungspakete‹ weitgehend selbst. Alle erdenklichen Machtbastionen werden interessenpolitisch aktiviert; Krisenstrategien so restaurativ zum Erhalt der Herrschaft eingehegt. Vorschnell verlautete Endzeiterwartungen sind inzwischen weitgehend zurück genommen. Der Finanzmarktkapitalismus – so fürchtet lakonisch IG Metall Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban bereits vor der Bundestagswahl – sei »viel stabiler […], als wir das noch vor ein paar Monaten dachten« (Urban 2009a: 32). Auch die prekären LeiharbeiterInnen – erste »Opfer« kapitalistischer Krisenanpassung infolge einbrechender Aufträge – können die »Pflaster«, auf die sie »geworfen wurden« (um eine beliebte Metapher von Marx und Engels zu verwenden), vielleicht bald wieder verlassen; die Leiharbeitsfirmen vermelden – kaum schien die »Talsohle« der Krise erreicht – einen neuen »Boom«. In den vorherrschenden Krisenstrategien deutet sich kein Ende der Prekarisierung an. Im Gegenteil: das Kapital hat in der Krise deren Vorzüge als »Krisenpuffer« erkannt und will auf die nächste Krise durch das Aufweichen arbeitsrechtlicher Standards »besser« vorbereitet sein. Wie also das Regulationsdilemma der Prekarisierung denken? Bezeichnet die gegenwärtige Krise tatsächlich die »große Krise« eines kapitalistischen Entwicklungsweges, in dem sich prekäre Lohnarbeit fast hemmungslos ausweiten konnte? Steht eine neue Welle der Emanzipation von den immer dramatischer werdenden Imperativen des Lohnverhältnisses vor der Tür? Im Folgenden werde ich ausgehend von einer marxistisch-regulationstheoretischen Interpretation und Kritik der Bedeutung von ökonomischen Krisen im Prozess der Herausbildung von Regulationsprozessen gesellschaftlicher Arbeit die krisenhafte Entwicklung der Gewerkschaftspolitik analysieren, der es nicht gelungen ist, die kapitalistische Formbestimmung der Prekarisierung – und damit ihren repressiven Charakter – zu durchbrechen. Genau diese »Krise der Gewerkschaften«, die sich schleichend seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 durchsetzte, markiert zugleich die Grenzen, die einer progressiven Regulation der Prekarisierung und damit der Entfaltung ihrer emanzipatorischen Potentiale in der gegenwärtigen Weltwirt-

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schaftskrise entgegenstehen. Abschließend werden einige daraus resultierende Perspektiven auf aktuelle Krisenausgänge eröffnet.

K APITALISMUS – K RISEN – R EGUL ATION Kapitalismus ist nicht Kapitalismus. Schon Marx wusste, dass bürgerliche Gesellschaften »keinen festen Kristall (bilden), sondern einen umwandlungsfähigen und beständig im Prozess der Umwandlung begriffenen Organismus« (MEW 23: 16). Diese sich beständig wandelnde Gestalt des Kapitalismus ist unentwirrbar in die wechselvolle Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung verstrickt. Kapitalismus und Arbeiterbewegung bilden zwei Bewegungsformen, »die einander gegenseitig bedingen, hier Ursache, dort Wirkung sind« (MEW 20: 499). Zugleich kann kapitalistische Dynamik nicht von seiner krisenhaften Dynamik getrennt werden. Krisen sind der Hebel, mit dem oft der historische Formationswandel innerhalb der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte durchgesetzt werden konnte. Marx und Engels haben zunächst im Manifest der kommunistischen Partei, auf die eigentümliche Perversion der kapitalistischen Krise hingewiesen: sie entsteht nicht durch Mangel, sondern als »eine gesellschaftliche Epidemie […], welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre« nämlich durch die »Epidemie der Überproduktion«. Und sie fahren fort: »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert« (MEW 4: 467f). Tiefe Krisen des Kapitalismus, die eine Umwälzung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erforderten, entstanden erst mit der vollständigen Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Herausbildung des Weltmarkts: von nun an war das »Ende eines Zyklus« zugleich der »Ausgangspunkt eines neuen« (MEW 23: 662). Zugleich treten tiefe Krisen stets als Weltwirtschaftskrisen auf. Infolge der beiden Verschränkungen – der von Arbeiterbewegung und Kapitalismus und der von Kapitalismus und Krise – hat es in der Geschichte des marxistischen Denkens eine lange Tradition, den Zusammenhang von ökonomischen Krisen und sozialer Emanzipation zu denken. Sie reicht auf Marx’ Analyse in Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 zurück. Bei allgemeiner Prosperität – so Marx – könne »von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo […] die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen […] in Widerspruch geraten […] Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese« (MEW 7: 98). Diese Hoffnung ist in den tat-

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sächlichen Krisenprozessen des Kapitalismus jedoch oft erstickt worden. Schon Marx musste 1858 zurück rudern, weil sich die revolutionären Konsequenzen der Krise von 1857 nicht einstellen wollten. Er formulierte im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie die berühmte Passage, dass »eine Gesellschaftsordnung […] nie unter [geht], bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind […] ; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten selbst ausgebrütet sind.« (MEW 13: 9) Seitdem waren die Krisenbefunde von Marx und Engels eher ambivalent. Die ökonomische Krise wurde zwar als »Zwangsmittel der gesellschaftlichen Umwälzung« (MEW 20: 268) begriffen, nicht aber zwingend in einem emanzipatorischen Sinn. Sind »im Schoße« der alten Gesellschaft, die die Krise hervorgebracht hat, die Bedingungen einer revolutionären Umwälzung bereits entfaltet, kann die Krise eine revolutionäre Situation hervorbringen; wenn nicht, wird sie zur Triebkraft, die eine »vorzeitige Erneuerung des Betriebsgeräts auf größrer gesellschaftlicher Stufenleiter« erzwingt (MEW 24: 171) – und so die »Brut« der Emanzipation gedeihen lässt. Vor diesem Hintergrund weist Engels der Arbeiterklasse die Aufgabe zu, »auf jeden Fall eine Krise herbeizuführen« (MEW 8: 98f) und steigenden Lohn nicht als Instrument der Krisenüberwindung, sondern als »Sturmvogel einer Krise« (MEW 24: 409) für sich in den Dienst zu stellen. Die »fortwährende« Revolutionierung der »Produktionsinstrumente« und »sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse« (MEW 4: 465) gehört jedoch auch zu den Eigentümlichkeiten, die die Fortexistenz der kapitalistischen Produktionsweise sichern. Elmar Altvater (1983: 84) sah die entscheidende Funktion ökonomischer Krisen – an diesen Marxschen Gedanken anknüpfend – so auch nicht in der »Bestandsgefährdung« der kapitalistischen Produktionsweise; »paradoxerweise [sei] Bestandssicherung […] ihre manifeste Funktion«. Die Krise wird nicht zum Terrain, auf dem sich die subalternen Klassen zum emanzipatorischen Projekt emporschwingen, sondern zum »ökonomischen Moment der Regeneration politischer Macht des Kapitals« (Altvater 1979: 71). Tatsächlich gibt es weder die marxistische Krisentheorie noch den marxistisch zu konzipierenden Ausgang aus der Krise. Es war die Aufgabe der Marx-Exegese, die von Marx aufgedeckten Facetten der Krisenmöglichkeiten innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise – Unterkonsumtion, Überproduktion, Überakkumulation, »profit-squeeze« – zu allgemeinen Krisentheorien zu verdolmetschen. Marx analysierte im Kapital im Kern allein die »Möglichkeiten« der Krisen. Analysen, »wo die Möglichkeit sich zur Wirklichkeit entwickeln kann« (MEW 26.2: 512), mussten die nachfolgenden Generationen schon selbst vornehmen. Das schien zunächst aber gar nicht so einfach. Eric Hobsbawm hat gezeigt, dass die erste Krise des Marxismus just in die Zeit fällt, »da sich die Krise des Kapitalismus in eine neue Expansionsphase auflöst (um 1897)« (1981: 42), wo also die

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Gewissheiten über den Zusammenhang krisenhafter Kapitalentwicklung und sozialer Emanzipation zu verdampfen drohten. Lange hielt sich die Vorstellung – beflügelt durch anhaltende Krisentendenzen des Kapitals, das zwischen 1873 und 1896 die Vorstellungen einer »strukturellen« Krise nährte, und die Eroberungen institutioneller Macht durch die Arbeiterbewegung in den Organen des bürgerlichen Staates –, in Krisen würde der Staat als Krisenüberwindungsinstanz immer gewichtiger. Friedrich Engels notierte 1881, dass mit den Organisationsfortschritten der Arbeiterbewegung »neue Perspektiven für die Arbeiterklasse« (MEW 19: 259f) entstanden seien. Sie erlauben, »den Kampf gegen das Kapital mit neuen Waffen zu führen« – nun auch in den Parlamenten. Schon vorher hatte Marx infolge fortschreitender Konzentration des Kapitals die Notwendigkeit der »Staatseinmischung« hervorgehoben, die er als »Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise« und als »Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform« interpretierte (MEW 25: 454). Teile der nachfolgenden Generation marxistischen Denkens tendierten auf dieser Grundlage dahin, jede Form der staatlichen Organisation der kapitalistischen Ökonomie als »Vorzimmer« zum Sozialismus und als Stärkung institutioneller Gegenmacht der Arbeiterbewegung zu deuten. Grandiose Fehleinschätzung. Auch die Kommunistische Internationale tappte gründlich daneben. Sie hatte in den 1920er Jahren nicht nur eine neue ökonomische Krise vorhergesagt, sondern sie zugleich als Triebkraft der sozialistischen Revolution ausgemacht. Die Krise, die dann tatsächlich ausbrach, mündete in Europa nach wenigen Zwischenetappen (z.B. Volksfront in Frankreich) im Gegenteil. Der italienische Marxist Antonio Gramsci war wohl der erste, der die notwendigen theoretischen Konsequenzen zog, als er in den Gefängnisheften notierte, dass es ausgeschlossen sei, »dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen«. Aber die Terrains, auf denen die antagonistischen Interessenkonflikte ausgetragen und gelöst werden – daran ließ Gramsci keinen Zweifel – verändern sich und ebnen Wege, auf denen Krisenüberwindung tatsächlich stattfinden kann (1991ff.: H.13, § 17: 1563). Diese Handlungskorridore antagonistischer Interessen, die in ökonomischen Krisen immer neu vermessen werden, gilt es zu analysieren. Eugen Varga notierte noch in revolutionsoptimistisch geschwängerter Manier, dass die der kapitalistischen Produktionsweise immanente »Wiederholung der Zyklen« keineswegs auf »die Aneinanderreihung von qualitativ gleichartigen Vorgängen« (1969: 208) hindeute. Er versuchte, die Unterschiede der Weltwirtschaftskrisen von 1873-1895 und 1929-1932 zu reflektieren. Seine Notiz nimmt aber auch deren variierendes Erscheinungsbild 1974/75 und 2008ff vorweg. Inzwischen kommen Analysen der aktuellen Krise kaum noch ohne historische Vergleiche aus. In einem Punkt scheinen sie sich einig zu sein: Der aktuelle Krisenprozess der kapitalistischen Weltökonomie unterscheidet sich massiv von den Depres-

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sionen 1873ff und 1929ff. »Auf ihn antwortet keine sozialistische Massenbewegung mehr« (Fülberth 2008). Im historischen Verlauf haben sich die Krisen erheblich verändert; es gibt unterschiedliche Krisentypen und unterscheidbare Krisenausgänge. Krise ist nicht gleich Krise. Schon Marx unterschied zwischen »partiellen Krisen« und »allgemeinen Krisen« (MEW 26.2: 521). Giovanni Arrighi (1978) notierte, dass Tendenzen zu einer Stärkung der Arbeiterklasse die Natur der Krise verändern. Folglich aber auch deren Schwächung. Diese in den Charakter der Krisenwirklichkeit eingelagerten Kräfteverhältnisse muss eine materialistische Krisenanalyse empirisch enthüllen, zum einen um die objektiven Bedingungen für eine Krisenüberwindung zu bestimmen, zum anderen um emanzipatorische Handlungskorridore in jeder Krise des Kapitalismus neu ausloten zu können. Es geht in der materialistischen Krisenanalyse um relativ traditionelle Fragen: »What is to be done and who – the hell – will do it?« (Harvey 2009) Gilbert Ziebura lässt in seiner Analyse der Doppelkrise von Weltökonomie und Weltpolitik zwischen 1922/24 und 1931 (vor dem Hintergrund der waltenden Weltwirtschaftskrise 1974/75, die 1980/82 ihre zweite Welle erlebte) keinen Zweifel, dass »die drei letzten Weltwirtschaftskrisen jedenfalls […] drei völlig unterschiedliche Erscheinungsbilder [zeigen]. Eine Theorie zu entwickeln, die fähig wäre, ›nur‹ diese drei großen Krisen zu erklären und sich dabei nicht auf den lichten Höhen inhaltsleerer Abstraktionen bewegt, wird für eine historische Sozialwissenschaft sicherlich eine immerwährende Aufgabe bleiben, aber keineswegs unmöglich sein« (1984: 30). Die Regulationstheorie schien Antworten auf unterschiedliche Krisentypen und unterscheidbare Ausgänge aus »großen Krisen« parat zu haben. Regulation wurzelt in der Tendenz einer (zunächst) schrankenlosen Unterwerfung der Menschen unter das Kapital (»freie Menschenverwüstung« MEW 23: 509), die die Notwendigkeit erzeugt, das Kapital »an die Kette der Regulation« (MEW 23: 258) zu legen. Jenseits »rationalistischer Endzeiterwartung« (Lipietz) konnte die Regulationstheorie an Gramscis Erfahrungen anknüpfen. Die Regulationisten trieb die Frage der historischen Kontinuität des Kapitalverhältnisses um – »trotz und wegen« der Periodizität seiner Krisen. Sie erforschten die »Art und Weise, in der sich dieses Verhältnis trotz und wegen seines konfliktorischen und widersprüchlichen Charakters reproduziert« (Lipietz 1985: 109). Am »Golden Age« fordistischen Wachstums entwickelt, sah sich die Regulationstheorie in den späteren 1970er Jahren damit konfrontiert, die Krise der als Fordismus bezeichneten Prosperitätskonstellation des Kapitalismus zu konstatieren. Die Entwicklung einer Krisentheorie erfolgte jedoch allenfalls in Ansätzen. Konsens besteht in der Regulationstheorie darüber, dass die Krise des Fordismus nicht monokausal, sondern als Prozessresultat der Kombination unterschiedlicher »Sphären« der bürgerlichen Gesellschaft, als Resultat eines Krisenprozesses, in dem das fordistische »Gewebe« der Ökonomie auseinander

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riss (Lipietz 1998: 104), zu interpretieren ist. Konsens besteht auch darüber, dass die Weltwirtschaftskrise seit 1974/75 eine »große Krise« bezeichnet. In solchen Krisen »kann die Regulation außerstande sein, die Reproduktion des Systems zu gewährleisten. Wir sprechen dann von einer großen Krise oder Übergangskrise, die schließlich zu einer prinzipiellen Infragestellung der charakteristischen Merkmale der vergangenen Wachstumsperiode führt und die Emergenz neuer Regulationsmechanismen gewährleistet« (Mazier/Basle/Vidal 1984: 14). In einer derartigen »finalen Krise« eines historischen Entwicklungsmodells von Akkumulation und Regulation wird für die Bourgeoisie die »schmerzliche Erfindung einer neuen Form, die eigenen Widersprüche aufzulösen« (Lipietz 1989: 31), zur Notwendigkeit. Jede große Krise kapitalistischer Entwicklung ist das Ergebnis spezifischer historischer Konstellation im Verhältnis von Kapital, Arbeit und Staat. Sie weisen entweder dem Fall der Profitrate oder der Überproduktion ihre Funktion zu. Alain Lipietz hebt in seinem historischen Krisenvergleich hervor, dass »die extensive Akkumulation im 19. Jahrhundert auf den Mangel an Arbeitskräften (Fall der Profirate durch Lohnkonflikte) [stieß]. Die Überproduktionskrise von 1930 führte den Widerspruch zwischen intensiver Akkumulation (starke Produktivitätsgewinne) und Stagnation des Lebenshaltungsniveaus der Arbeiter vor. Die gegenwärtige Krise (die seit 1974/75, B.R.) ist die einer Form, in der die Produktivitätsgewinne von einer Ausweitung des Konsums der Arbeiter begleitet werden. Sie setzt ein mit dem Niedergang der Rentabilität, indem die Politik der ›Austerität‹, die die (durch den hochgehaltenen Ölpreis geschmälerten) Profite wiederherstellen soll, schließlich zu einer Unterkonsumtion führt« (1986: 715). Durchaus plausibel. Im Zentrum des regulationstheoretischen Erkenntnisinteresses stehen jedoch auch die historisch unterschiedlichen Formen der Krisenüberwindung. Sie sollen – der marxistischen Denktradition folgend – im Krisenprozess selbst erzeugt werden (»im Schoße der alten Gesellschaft«). Rezeptionen der Regulationstheorie griffen diesen Gedanken auf, indem sie die Krise seit den 1970er Jahre als gesamtgesellschaftliche Umwälzungsprozesse verstanden, die aber zugleich »die neuen Regulationsformen schaffen« (Esser/Görg/Hirsch 1994: 220). Warum entfalteten sich also die der Krise der 1930er Jahre inhärenten Dynamiken zum Geburtshelfer des Staatsinterventionismus und die der 1970er Jahre zu Triebkräften neoliberaler Konterrevolutionen? Die regulationstheoretische Antwort bleibt unbefriedigend. Sie erschöpft sich im empirisch nicht eingelösten Postulat vom Primat der sozialen Kämpfe, die kapitalistische Regulationen als »›glückliche Fundsache‹ […], die im Laufe der Zeit bewusst konsolidiert werden konnten« (Lipietz 1998: 104), generieren (zur Kritik: Sablowski 1994: 143). Everything goes in Krisensituationen also? Ob die Elemente der Krisenüberwindung durch die Krise selbst hervorgebracht und – ähnlich dem Marxschen Emanzipationsmodell – lediglich von ihren Fesseln befreit, d.h. »in Freiheit gesetzt werden« (MEW 25: 879) müssen,

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ist inzwischen in der »Zunft« der Regulationstheorie selbst strittig. In der »neuen Schule« – etwa der Analyse von Michel Aglietta zum Finanzmarktkapitalismus – werden solche analytischen Zugriffe relativiert. Aglietta spricht davon, dass der Kapitalismus zwar als »eine Macht der Veränderung« fungiere; diese Macht aber trage »ihr Regulationsprinzip nicht in sich […]; dieses befindet sich in der Kohärenz der sozialen Vermittlungen, die die Kapitalakkumulation auf den Fortschritt ausrichten« (2000: 40). Auch die reife Sozialwissenschaft hat – jedem Strukturalismus den Rücken zukehrend – den Begriff der Kontingenz für solche Beliebigkeiten systematisiert. Die Realitäten sprechen dagegen. Ziebura konstatiert etwa für die Ausgänge aus der Krise der 1930er Jahre, dass die sich in der Krise formierenden Kräfte entweder »die Kraft zu einer alternativen Krisenüberwindungsstrategie (Roosevelts New Deal; Volksfront in Frankreich), mit welchem Erfolg auch immer« besaßen, oder aber wenigstens »wie in England […] die Konservativen […] sich von liebgewordenen Vorstellungen (Pfund-Abwertung)« (1984: 182) trennten. Auch die Anhänger des Marktliberalismus mussten sich dem Reproduktionserfordernis der ökonomischen Intervention des Staates und der Regulation effektiver Nachfrage infolge aufstrebender Massenproduktion beugen. Und auch beispielsweise im italienischen Faschismus wurden von einigen Strömungen der faschistischen Bewegung bestimmte Elemente kapitalistischer Regulation, die vom Typus der Krise und den daraus sich objektiv ergebenden »Zwängen« der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise vorgegeben waren, aufgegriffen, politisch kanalisiert und transformiert und im gesellschaftlichen und politischen Prozess letztlich – in der »progressiven« Variante – marginalisiert (Priester 2009). Für die Bestimmung von Krisenausgängen fällt die Regulationstheorie aus. Die Zukunft des nachfordistischen Kapitalismus blieb folglich auch eigentümlich unbestimmt: entweder setze sich ein Neotaylorismus durch, »der sich als eine Art Rückkehr zu prä-fordistischer Flexibilität definieren lässt, charakterisiert durch niedrige Löhne, erhöhtes Entlassungsrisiko und durch die Einführung eine mehr oder weniger modernisierten Technologie«; oder aber es komme zur »kollektiv ausgehandelte[n] Mitwirkung, die darauf beruht, dass die Beschäftigten im Austausch für ihre eigenständige Beteiligung an der Verbesserung von Qualität und Produktivität sowie an der Optimierung der neuen Technologie soziale Garantien erhalten und am Gewinn beteiligt werden« (Lipietz 1991: 98). Die regulativen Prozesse in »großen Krisen«, die zu einem Umbruch in der politischen und sozialen Regulation des Kapitalismus führen, lassen sich anhand der Entwicklung in den USA der 1930er Jahre studieren. Das Beispiel USA zeigt zunächst, dass die Krise in der entwickelten kapitalistischen Weltökonomie die »Vorreiter« am schärfsten trifft. In den USA der damaligen Zeit gelang die fordistische Neuorganisation der Produktion bis zur Great Depression am gründlichsten. Anfänge des Massenkonsums entwickelten sich seit 1870 mit

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der Entstehung von Großhändlern und großen Warenhäusern (Woolworth), die sich – im Unterschied zu den europäischen – eher an den unteren Einkommen orientierten (Hurtienne 1984: 271). Der Einführung der Transportbänder in den Schlachthöfen Chicagos folgte die halbautomatische Fließfertigung bei Ford 1913. Bis 1920 verallgemeinerte sich die initiierte »Revolutionierung des Produktionsprozesses« in der Elektroindustrie, der Nahrungsmittelproduktion und der Zigarettenindustrie (ebd.: 283). Dadurch aber verschärfte sich die Grundproblematik fordistischer Akkumulation: die Regulation an der Schnittstelle (und Krisenmöglichkeit) Produktion/Konsumtion. Der reale Stundenlohn der Industriearbeiter stieg zwischen 1920 und 1929 lediglich um 2 %, während die Einkommen aus Gewinnen und Renten um 45 % stiegen (Ziebura 1984: 51). Begleitet wurde dies durch die drastische Verschuldung privater Haushalte, die sich schließlich im Kollaps der Schwarzen Donnerstags entlud. Die Automobilproduktion halbierte sich zwischen 1929 und 1931; »die Produktion von Schallplatten für arme Leute (race records und Jazzplatten, die sich an ein schwarzes Publikum richteten) wurden für eine Weile sogar fast völlig eingestellt« (Hobsbawm 1995: 134). Erst mit der staatlich vermittelten Neuregulierung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital, die die gewerkschaftliche Organisation stärkte, sowie der Einführung einer keynesianischen Nachfragepolitik in der Politik des New Deal ab 1933 konnte die Krise entschärft; erst unter den Bedingungen der Kriegsproduktion und mit der Belieferung ausländischer Märkte im lendlease-Programm konnte die Arbeitslosenquote von 1939 17,2 % auf 1944 1,9 % gesenkt und das US-amerikanische Handelsbilanzdefizit in einen Überschuss verwandelt werden. Für die Durchsetzung des regulativen Paradigmenwechsels war ein neues Artikulationsmuster von Arbeiterbewegung und Staat entscheidend: Rupert unterscheidet in seiner Studie zur Herausbildung der US-Hegemonie zwei Phasen: »Fordism vs. Unionism« (1914-1937) und »Unionism is Americanism« (1937-1952) (1995: 104ff). Bis es zur Symbiose von Amerikanismus und Gewerkschaftsbewegung kam, musste die US-amerikanische Arbeiterbewegung aber erst viele schmerzliche Kämpfe durchfechten, in denen sie sich aus den Traditionen ihrer Handlungsorientierung löste, um autonome Forderungen zu generieren. Allerdings brauchte auch dies Zeit: der Anstieg der Arbeiterkämpfe infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 setzte erst mit drei bis vier Jahren Verzögerung ein. Fox Piven/Cloward schlussfolgern in ihrer vergleichenden Studie über den Aufstand der Armen in den USA, dass es erst der prozessierenden »weitreichenden sozialen Verschiebungen einer schweren Wirtschaftskrise [bedurfte], damit die Arbeiterbewegung hervorbrechen und die Kraft zur Erschütterung der politischen Arena gewinnen konnte […] Die Arbeiter der dreißiger Jahre hatten keine Richtlinien, denen sie hätten folgen und die ihnen hätten Schutz gewähren können: Ihre Kämpfe trotzten den Konventionen des politischen Spiels um Einfluss und Macht und verschmähten daher auch den Schutz,

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den diese Konventionen zu bieten haben. Die Arbeiter zahlten einen hohen Preis für ihren Widerstand: Tausende wurden festgenommen, Hunderte verletzt und viele getötet. Und doch haben sie auch Erfolge erzielt« (1986: 198f). Zu den Erfolgen zählte, dass die Regierung Hoover, die auf die Krise mit eher tradierten Instrumenten des Schmiedens von »Rettungspaketen« für krisengebeutelte Unternehmen reagierte, durch die Regierung Roosevelt abgelöst wurde, dessen Administration mit der Politik des New Deal einen Klassenkompromiss politisch institutionalisierte und durch die Stärkung der Rechte der Arbeiterund Gewerkschaftsbewegung zugleich die Terrains ebnete, auf denen Gewerkschaften zu »intermediären Organisationen« (Walther Müller-Jentsch) wurden – Organisationen, die zwischen der Durchsetzung von Mitgliederinteressen im Lohnarbeitsverhältnis und Interessen an der Reproduktion des kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnisses vermitteln. Ausgänge aus kapitalistischen Krisen sind offensichtlich auf der einen Seite immer über soziale Kämpfe vermittelt – das wusste auch die Regulationstheorie. Auf der anderen Seite aber sind sie an strukturelle Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung geknüpft. Wie sollte sonst die Absorption korporatistischer Strukturen in den faschistischen Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre und die tendenzielle »Sozialdemokratisierung« aller volksdemokratischen Parteien in der sog. Nachkriegsordnung erklärt werden? Und wie ließe sich erklären, dass selbst die eingefleischsten sozialdemokratischen Keynesianisierer der Gesellschaft zumindest nach der zweiten Welle der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre (1980/82) sukzessive eingebrochen sind und den Schwenk zu angebotspolitischen Paradigmen und wettbewerbskorporatistischen Formen politischer Praxis vollzogen haben? In der Regulationstheorie erfährt man wenig über das prozessierende Zusammenspiel von »objektiven« und »subjektiven« Faktoren im Krisenprozess. »Die Zeit der Krise« – so Marx in einem Brief an Lassalle im Januar 1955 – »ist […] zugleich die der theoretischen Untersuchungen« (MEW 28: 612). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Krise sollte aber auch genutzt werden, die sich wandelnde Fähigkeit der Arbeitenden zur Konstitution zur Klasse sowie das Verhältnis von Arbeiterbewegung und Staat empirisch zu untersuchen; schließlich entscheiden beide über den Pfad, den Krisenstrategien einschlagen.

I NSTITUTIONELLE G E WERKSCHAF TSMACHT – K RISE DES F ORDISMUS – P REK ARISIERUNG Die in den USA am weitesten entwickelte fordistische Produktionsweise verlangte »eine Öffnung der Weltwirtschaft für Produkte und Kapital […], um auf diese Weise die innere Entwicklung von außen abzusichern« (Ziebura 1984: 145). Das gelang erst in der sog. Nachkriegsordnung mit dem Bretton-Woods-

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System. Diese Verallgemeinerung fordistischer Produktionsverhältnisse in den kapitalistischen Hauptländern schuf zugleich die Bedingungen für eine neue politische Existenzform der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Mit der halbautomatischen Fließfertigung, der tendenziellen Dequalifizierung der Arbeit und damit »den für Massen von Lohnarbeitern zunehmend homogenen Arbeitsbedingungen« entwickelte sich eine Konstellation der Arbeitspolitik, die dazu beitrug, »dass sich unter diesen Arbeitern ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Probleme und Bedingungen verbreiterte« (Gordon et al. 1982: 126). Diese Bewusstseinsformen entwickelten sich weniger zur Basis für eine autonome Arbeiterpolitik; starke Gewerkschaften aber konnten als Organisationen dieser in der fordistischen Fabrik vereinheitlichten Klasse entscheidenden Einfluss auf die Regulation gesellschaftlicher Arbeit im Prozess fordistischer Industrialisierung ausüben. Christine Buci-Glucksmann und Göran Therborn interpretieren in ihrer Analyse der »Sozialdemokratisierung« der westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegsordnung die Entwicklung der fordistischen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten zu Recht als einen Prozesse der Ausweitung von verschiedenen Formen von »historischem Kompromiss, den eine herrschende Klasse unter Umständen zwischen Staat und Arbeiterklasse schließen möchte« (1982: 132ff). Dem fordistischen Klassenkompromiss ging eine schwere Niederlage der revolutionären Arbeiterbewegung in der Rätebewegung der 1920er Jahre voraus. Nichtsdestotrotz entfaltete sich die institutionelle Arbeiterbewegung zu einer Kraft, die die Bourgeoisie in ihren Strategien zu berücksichtigen hatte. Die über den bürgerlichen Staat verrechtlichten Strukturen der Interessenpolitik (nicht nur in der BRD) hegten den Handlungsspielraum der Gewerkschaften ein. Gegenmacht (z.B. durch Streik) konnte sich lediglich auf tarifvertraglich zu regelnde Inhalte entfalten, nicht aber für die Durchsetzung politischer Ziele. Tarifpolitik avancierte zum »Kerngeschäft« der Gewerkschaften. Ökonomisch basierte der Klassenkompromiss auf der Kopplung von Lohn- und Produktivitätsentwicklungen. Diese Kopplung wurde exemplarisch im Treaty of Detroit erstmals durchgesetzt. Die United Auto Workers (UAW) und General Motors einigten sich in diesem 1950 für fünf Jahre geschlossene Tarifvertrag darauf, einerseits dem Management die Kontrolle über den Produktionsprozess zu überlassen, andererseits aber die Löhne an die Entwicklung von Produktivität und Preisen zu koppeln (Rupert 1995: 170f). Dieses Modell wurde stilbildend. Sukzessive gelang es allen Gewerkschaften der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften betriebliche Konfliktstrategien mit überbetrieblichen Regulationen im System der Tarifdemokratie zu verknüpfen (»politischer Ökonomismus«). Indem die Gewerkschaften die in den fordistischen Fabriken homogenierte Arbeiterklasse organisierte, kam es zu einer beständigen Ausweitung »historischer Kompromisse«. Abgesichert wurden diese Strategien durch »strategische Beziehungen« von Gewerkschaften und Staat, d.h. durch den Ausbau der

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Institutionen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, die eine Art komplementärer Arbeitsteilung zwischen Staat und Tarifdemokratie im Prozess der Dekommodifizierung der Arbeitskraft ausbildeten. Gewerkschaften avancierten zu Gestaltungs- und Ordnungsmächten (Schmidt 1971). Die Fähigkeit zur Organisation der Arbeiterklasse wurde im »politischen Tausch« mit der Funktion gleichzeitiger Kontrolle der Klasse gekoppelt. Klasseninteressen mussten in den für den Fordismus charakteristischen Korridor der Kopplung von Lohn- und Produktivitätsfortschritten balanciert werden. Gewerkschaften entwickelten sich so aber auch zu unverzichtbaren Scharnieren im System fordistischer Regulation: indem sie die Durchsetzung und Verallgemeinerung tarifierter »Normalarbeitsverhältnisse« erstritten, sicherten sie zugleich eine effektive Nachfrage, die für die fordistische Reproduktion zwingend erforderlich war. Gewerkschaften wurden zu Garanten einer spezifischen kapitalistischer Regulation; nur sie besaßen die Fähigkeit »to canalize the class struggle into forms compatible with the law of accumulation« – ein Kanalisierungsprozess »by collective bargaining« (Aglietta 1979a: 123 bzw. 190). Mit der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre läuteten die Totenglocken dieser Konstellation. Das 1944 vereinbarte Regime von Bretton Woods wurde durch die Angleichung der Produktivitätsniveaus zwischen den kapitalistischen Metropolen Ende der 1960er Jahre, die Aufgabe der Golddeckung des US-Dollar 1971 und schließlich den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse 1973 in die geschichtlichen Annalen verwiesen. Zugleich bröselten die Bedingungen des fordistischen Klassenkompromisses innerhalb der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften sukzessive weg. Regulationstheoretisch kann diese Krise durchaus als finale Krise der fordistischen Entwicklungsweise interpretiert werden. Intensivierte Klassenkämpfe und die tendenzielle Aufnahme der autonomen Forderungen aus den Belegschaften durch die Gewerkschaften hebelten Anfang der 1970er Jahre den Lohn-Produktivitäts-Kompromiss aus. Verteilungskämpfe wurden zugunsten der abhängig Beschäftigten entschieden. Seit Ende der 1960er Jahre hatten sich zudem die Produktivitätsreserven tayloristischer Rationalisierung erschöpft. Der Kapitalismus wurde in eine Rentabilitätskrise gespült (»profit-squeeze« Glyn/Sutcliffe 1974), die noch durch die Entwicklungen hin zu einer »neuen internationalen Arbeitsteilung«, dem Anstieg der Rohstoffpreise und der weitgehenden Sättigung der Märkte für dauerhafte Massenkonsumgüter verschärft wurde. Zunächst gelang es den Gewerkschaften, ihre »institutionelle Macht« zu nutzen. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1974/75, die sich vor allem in regionalen Branchen- und Strukturkrisen manifestierte, wurden die korporatistischen Arrangements zwischen Kapital, Arbeit und Staat noch verstärkt. Oft entstand »ein politisches Kartell zur erfolgreichen, d.h. sachadäquaten und sozialkonsensualen Bewältigung der Krisenfolgen« (Esser/Fach/Väth 1983: 54). Die vor allem in der Montanindustrie entwickelten Instrumente eines »sozial-

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verträglichen Beschäftigungsabbaus« (Frühverrentung, Auffanglösungen, Qualifizierung) im korporatistischen Dreieck zwischen Kapital, Gewerkschaften und Staat wurden sukzessive auf andere Branchen übertragen – und finden in abgespeckter Form bis heute Anwendung. Das als Krisenstrategie durchgesetzte »Gesundschrumpfen« der Krisenbranchen, gepaart mit einer forcierten industriellen Spezialisierung in der »Modernisierung der Volkswirtschaft« zersetzte aber sukzessive die soziale Basis, auf der die Regulationsmacht der Gewerkschaften beruhte. Die durch Modernisierungs- und Spezialisierungspolitik akzentuierte Veränderung in der Zusammensetzung der lohnarbeitenden Klasse drängte die einst politisch fixierten Kompromisslinien zwischen Lohnarbeit und Kapital zurück. Die durch den keynesianischen Klassenkompromiss ermöglichte (stellvertretende) Kooptation der gesamten Klasse im bürgerlichen Staat konnte sich aufgrund waltender Arbeitsmarktsegmentationen nur noch als »selektiver Korporatismus« (Esser 1982: 257ff) entfalten – als Korporatismus, der nur noch immer kleiner werdende Fraktionen der Arbeiterklasse politisch thematisierte. Reagierte die Politik auf den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1974/75 zunächst noch mit dem Einsatz keynesianischer Instrumente der Wirtschaftssteuerung, erfolgte – angetrieben durch das »stagflationäre Dilemma keynesianischer Politik« (Altvater/Hübner/Stanger 1983: 155) – in den späten 1970er Jahren der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel hin zur Austeritäts- und Stabilitätspolitik. Im Unterschied zu radikalen Politikmustern neoliberaler Konterrevolution, die die Gewerkschaften als gesellschaftliche und politische Kraft entmachteten, dominierte in der BRD eine Politik, die die Gewerkschaften krisenpolitisch neu konditionierte. Gewerkschaften manövrierten sich in das Dilemma, einerseits in ihren strategischen Beziehungen zum Staat die monetaristische »Einschränkung des Handlungsrahmens« zu akzeptieren, andererseits aber gleichzeitig diese Beziehungen als »wesentlichen Bezugspunkt ihrer Politik« weiter zu verfolgen (Kastendiek et al. 1981: 152). Gewerkschaftspolitik wurde in einen angebotspolitischen Handlungskorridor gezwängt. Gewerkschaften sahen sich nun genötigt, die Leitlinie einer »produktivitätsorientierten Lohnpolitik« zu beerdigen und einer wettbewerbsorientierten Politik zu folgen. In der Konsequenz blieben die durchsetzbaren Lohnsteigerungen hinter der Produktivitätsentwicklung zurück; die Einkommensschere öffnete sich zugunsten des Kapitals. Diese Redistribution gesellschaftlichen Reichtums setzte die Redistribution sozialer Macht voraus. Gewerkschaften mussten den dramatischen Rückgang ihrer Organisationsmacht zur Kenntnis nehmen. Während die nachfordistische Expansion prekärer Lohnarbeitsverhältnisse die Krise der Wirkungsmächtigkeit »fordistischer« Regulationsmuster spiegelt, konzentrierte sich die Gewerkschaftspolitik auf die Verteidigung der letzten Bastionen, in denen diese Regulationsmuster noch funktionierten. Damit manövrierte sich Gewerkschaftspolitik

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in ein zweites Dilemma. Weil die Erneuerung der sozialen Basis für eine erfolgreiche Gewerkschaftspolitik ausblieb, wurden auch die »Bastionen der Arbeiterbewegung« geschleift. Innerhalb der eingeschliffenen Politikformen der Gewerkschaften konnten kaum mehr interessenpolitische Rückschritte auch für die verbliebenen »Kernbelegschaften« verhindert werden. Das Beispiel der Volkswagen AG zeigt dies deutlich. Der Wolfsburger Konzern übte tarifpolitisch lange Zeit eine Lokomotivfunktion aus. Verbesserungen in der Arbeitszeit konnten im Volkswagenwerk durch Betriebsvereinbarungen erreicht werden, lange bevor sie durch die Tarifpolitik der IG Metall auch allgemeine Gültigkeit bekamen. Die Fünftagewoche wurde hier im Jahr 1957 eingeführt, und die Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden für bestimmte Beschäftigtengruppen galt bei Volkswagen bereits vier Jahre vor der allgemeinen Einführung in der Metallindustrie. Mit der Gründung des Tochterunternehmens Auto 5000 (höhere Arbeitszeiten und geringere Entlohnung als im Haustarifvertrag) und der konzerninternen Leiharbeitsfirma Autovision sollte sich dies ändern. In der Tarifrunde 2004 vollzog sich der »Einstieg in den Ausstieg aus dem Haustarifvertrag« (Jürgens/Krzywdzinski 2006). Mit der Einführung des sog. »Haustarifvertrages II« konnten vorerst die Tarifstandards für die Stammbelegschaft gehalten werden, aber für die ab 2005 neu eingestellten Beschäftigten galt ein neues, niedrigeres Entgeltniveau (genauso wie für die übernommenen Auszubildenden). In der Tarifrunde 2006 mündete das von Betriebsräten und Gewerkschaften akzeptierte Primat der Beschäftigungsversicherung in einer massiven Arbeitszeitverlängerung auch für diejenigen Beschäftigten, die bisher von weitgehenden Konzessionen verschont geblieben waren. Ende September 2006 wurde eine Einigung erzielt, in der das Unternehmen Investitionszusagen machte, die IG Metall aber die Verlängerung der Wochenarbeitszeiterhöhung von 28 auf 33 Stunden ohne Lohnausgleich hinnehmen musste. Diese Tarifentwicklung zeigt, dass die gewerkschaftlichen Defensivstrategien für die Stammbelegschaften faktisch eine gespaltene Tariflandschaft entstehen ließ, die schließlich eine erfolgreiche gewerkschaftliche Defensive unterminierte. Bei den betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen dominierte die Vorstellung, dass erstens das Zulassen von eigenen »Niedrigtarifen« eine notwendige Strategie sei, um unter den veränderten, globalisierten Bedingungen des »Produktionsmodells Volkswagen« den Haustarifvertrag I verteidigen zu können, und zweitens, dass dieses Zulassen von Niedrigtarifen nur eine temporäre Erscheinung ist, d.h. es gelingen kann, die akzeptierten Abweichungen nach unten wieder in den Haustarifvertrag I zu integrieren. Der Zug nahm jedoch eine deutlich andere Richtung. Die neuen »Tarifzonen« wurden von der Unternehmensspitze zu Instrumenten, die alten Tarife zu schleifen. Die geduldete Pluralisierung der Tariflandschaft erwies sich als unterneh-

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menspolitisches Instrument zur Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Beschäftigten. Die »Krise der Gewerkschaften«, von der seit Ende der 1970er Jahre die Rede ist, hat spätestens seit Mitte der 1990er Jahre das »Kerngeschäft« der Gewerkschaftspolitik erreicht: die mittels Flächentarife zu verwirklichende Verknüpfung betrieblicher und gesellschaftlicher Kämpfe begann spürbar in seiner betrieblichen Wirksamkeit zu erodieren. Das System des Flächentarifvertrages, das bislang eine Art Mindestnorm für betriebliche bzw. einzelvertragliche Regulationen der Arbeitsbeziehungen darstellte, verlor seine interessenpolitische »Haltefunktion«. An die Stelle der für die fordistische Formation charakteristischen Generalisierbarkeit von Regeln über Betriebs- und Branchenebenen hinaus, trat ein Prozess betrieblicher Differenzierung nach unten. Scheinbar unaufhaltsam wurde die betriebliche gegenüber der tariflich-gewerkschaftlichen Mitbestimmung gestärkt. In der Konsequenz dieser Erosion wurde der Angriff auf die »politische Ökonomie der Arbeiterklasse«, von der Karl Marx im Zusammenhang mit dem Erkämpfen des Normalarbeitstages sprach, in den Betrieben zur »gesellschaftlichen Manier«. Im Unterschied zu den 1970er Jahren, in denen sich prekäre Lohnarbeitsverhältnisse parallel zum sog. Normalarbeitsverhältnis entwickelten, erweist sich Prekarisierung inzwischen als ein Prozess der umfassenden Restrukturierung der Lohnarbeit. Infolge der Restrukturierung der Unternehmen finden sich heute in den Werkshallen in der Regel Arbeitskräfte mit unterschiedlichsten Tarifsystemen zusammen (Dörre 2005). Das in der fordistischen Konstellation der kapitalistischen Weltökonomie verallgemeinerte Normalarbeitsverhältnis bezeichnete eine bestimmte historische Ausprägung des Lohnverhältnisses. Charakteristisch für diese Form des Arbeitsverhältnisses war ein hoher Grad an kollektivvertraglicher und sozialstaatlicher Formalisierung, der im Prozess der nachfordistischen Restrukturierung des Kapitalismus gründlich zur Disposition gestellt wurde. Prekarisierung der Lohnarbeit gewinnt als deren ReKommodifizierung Gestalt. Abhängig Beschäftigte sollen sich durch »freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei […] verkaufen« (MEW 23: 320). Prekarisierung der Lohnarbeit bezeichnet daher nicht nur ein Phänomen, das die Auflösung eines bislang hegemonialen Dispositivs der Lohnarbeit beschreibt; als eine neue hegemoniale, mit Zwang gepanzerte »Produktionsnorm« (Aglietta 1979b) ist sie integraler Bestandteil einer neuartigen Herrschaftsform des Kapitals über die fragmentierte lebendige Arbeit. Für die Gewerkschaften bedeutet das, Prekarisierung der Lohnarbeit nicht als ein Phänomen zu betrachten, das Gewerkschaften zusätzlich und mit zusätzlichen Organizing-Strategien zu bearbeiten haben; Prekarisierung als hegemoniale Produktionsnorm stellt das ganze Ensemble gewerkschaftlicher Identität zur Disposition.

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K RISE – K L ASSE – G E WERKSCHAF T Die Herausbildung der »großen Industrie« und der fordistischen Fabriken erscheint als ein historischer Glücksfall für die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, war deren Organisationsmacht doch gesellschaftlich unmittelbar sichtbar. Deren Zeiten scheinen unwiederbringlich vorbei. Henry Braverman hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Arbeiterklasse »niemals eine spezifische Gruppe von Personen bezeichnet« hat, sondern vielmehr als Prozess der Klassenkonstitution, als »Bezeichnung für einen fortlaufenden gesellschaftlichen Vorgang« (1977: 29) verstanden werden müsse. Die Ausbeutungsverhältnisse des nachfordistischen Kapitalismus haben in den Jahren vor der großen Krise 2008ff eine deutliche Zunahme von Arbeitskämpfen bewirkt. In den Abwehrkämpfen von Belegschaften und Gewerkschaften gegen Betriebsschließungen, Angriffe auf bestehende Tarife oder das intensivierte Abpressen von Mehrarbeit werden die eingeschliffenen Praxen des institutionalisierten Klassenkonflikts (und der ihm spezifischen Prozesse der Kanalisierung des Klassenkampfs und gewerkschaftlicher Praxisformen) teilweise bereits deutlich überwunden und neue »Suchstrategien« erprobt (Röttger 2007). Zudem bilden sich Formen der kollektiven Interessenpolitik bei den subalternen Klassen heraus, denen die Fähigkeit zur Organisation gemeinhin abgesprochen wird – etwa im Kampf der migrantischen Erntehelfer auf dem westlichen Peloponnes, in Florida oder Brasilien. Diese nicht-normierten Konflikte im Klassenkampf bildeten den Humus, auf dem sich eine Erneuerung der (transnationalen) Gewerkschaftsbewegung in Umrissen abzeichnete. Oft verharrten diese Kämpfe noch in »zersplitterten, in der Trübsal des Einzelloses verkümmernden« Formen (Rosa Luxemburg, GW 1/1: 603); Gewerkschaftspolitik hätte die Aufgabe, die isolierten Klassenkämpfe in einen »fortlaufenden gesellschaftlichen Vorgang« zu verwandeln, d.h. in einen Prozess der (transnationalen) politischen Konstitution der subalternen Klassen. Schon Friedrich Engels notierte: »Also mit Trade-Unions usw. muss es anfangen, wenn’s Massenbewegung sein soll« (MEW 37: 353). In der gegenwärtigen Krise scheint dieser Prozess aber eher blockiert: »Vielmehr weist die Linke eher Lähmungserscheinungen auf, als dass sie aus der historischen Bestätigung ihrer Kapitalismuskritik politischen Honig saugen könnte. Dies gilt auch für die Gewerkschaften. Sie waren im Finanzmarktkapitalismus unter dem Druck des Shareholder-Value-Regimes und der Deregulierungs- und Privatisierungspolitik in die Defensive geraten. Nun trifft sie die Krise in einer Phase, in der es zuletzt Anzeichen einer Revitalisierung und erneuten Stärkung ihrer Organisations- und Verhandlungsmacht gab. Aber damit dürfte es vorerst vorbei sein. Die Wucht, mir der die Rezession Arbeitsplätze, Einkommen und Arbeitsstandards in Frage stellt, droht gewerkschaftliche Ressourcen erneut vor allem in Abwehrkämpfen zu binden« (Urban 2009b: 72).

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Fatale Perspektive. Objektiv nämlich deutet vieles auf die Existenz einer »großen Krise« hin – unabhängig davon, ob sie sich kurzfristig in einem Paradigmenwechsel der Arbeits- und Wirtschaftspolitik manifestiert oder nicht. Die weltökonomische Staubsaugerfunktion der US-Ökonomie infolge des praktizierten »privatisierten Keynesianismus« ist mit dem Finanzcrash unwiderruflich zu Ende gegangen. Ein neuer »Staubsauger« der Weltökonomie ist nicht in Sicht. Vielmehr deuten die nationalstaatlich implementierten Rettungspakete auf eine forcierte beggar-my-neighbour-Politik hin, die versucht, strukturelle Überkapazitäten über (erfolgreichen) Verdrängungswettbewerb zu lösen. Die Tatsache einer »multiplen Krise« droht, solche Lösungen zugleich regressiv zu wenden: sollten sich beispielsweise infolge nationalstaatlich »erfolgreicher« Krisenbewältigung die weltökonomischen Ungleichgewichte weiter verschärfen, steht eine Welle von Arbeits- und Armutsmigration ins Haus, die die »erfolgreichen« Ökonomien (ihrer »Erfolge« willens) nur verteidigen können, wenn sie zu autoritären Formen des Migrationsregimes greifen usw. Von einer politischen Reorganisation der Weltarbeitsteilung, die wirkliche Krisenursachen bekämpft, ist aber auch die neue Global Governance (G20 u.a.) noch meilenweit entfernt. Selbst kurzfristige Krisenüberwindung – jenseits der durch Kapitalvernichtung selbst hergestellten – will sich nicht einstellen. Wenn die Hypothese richtig ist, dass jede »große Krise« des Kapitalismus das Ergebnis der »Widerspruchsakkumulation« der vorhergehenden Phase kapitalistischer Expansion ist, dann leben wir – ob es uns gefällt oder nicht – objektiv in einer keynesianischen Konstellation. Der in der Finanzkrise »im Meer versenkte« Reichtum speiste sich nämlich vor allem durch zwei vorherrschende Entwicklungen: einer neokapitalistischen »Landnahme« (David Harvey), d.h. der Privatisierung öffentlicher Güter und der sozialen Sicherungssysteme, und einer gigantischen Umverteilung von unten nach oben. In der Folge verfestigten sich die Strukturen des »Exportmodells Deutschland«, das, wie auch andere Exportökonomien, von der durch die Implosion des »privatisierten Keynesianismus« verursachten »Krise der Realökonomie« besonders getroffen wurde. Zugespitzt ließe sich behaupten, dass es die Krise der Subalternen, insbesondere die Krise ihrer gewerkschaftlichen Organisation war, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismus hervorgerufen hat. Ihr ist es nicht gelungen, den Geldhahn, aus dem sich die spekulativen Blasen speisten, abzudrehen, und es ist ihr nicht gelungen, durch tarif- und strukturpolitische Interventionen das industrielle Spezialisierungsprofil der bundesdeutschen Ökonomie zu transformieren. Bislang gibt es auch kaum Anzeichen, dass sich dies unter den Bedingungen der Krise ändert. Kapitalstrategien stellen in der Krise verstärkt Löhne, Mitbestimmungsrechte und Arbeitsstandards in Frage und versuchen erneut, die Lasten der Krise unmittelbar den Arbeiterklassen aufzuhalsen – oder über den bürgerlichen Staat zu sozialisieren. Das bedeutet aber auch, dass das Kapital und der bürgerliche Staat als Akteure erfolgreiche Krisenüberwindung weitgehend ausfallen.

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Gegenwärtig deutet vieles darauf hin, dass wirkliche Krisenüberwindungsstrategien blockiert sind. Prozesse ihres Werdens müssen scharf analysiert werden. Vorerst aber ist ein krisenpolitischer Handlungskorridor gezimmert, in dem sich der herrschende Block zur Restauration bereit macht. Eine solche Krisenkonstellation ist nicht neu. Bereits Antonio Gramsci kannte die Situation einer »Krise, die sich manchmal über Jahrzehnte hinzieht. Das bedeutet, dass in der Struktur unheilbare Widersprüche aufgetreten sind, welche die positiv an der Erhaltung der Struktur selbst wirkenden politischen Kräfte jedoch innerhalb gewisser Grenzen zu heilen sich bemühen«. Für Gramsci entsteht eine solche Situation, weil gerade in Zeiten der ökonomischen Krise »die verschiedenen Bevölkerungsschichten nicht dieselbe Fähigkeit besitzen, sich rasch zu orientieren und sich mit derselben Schnelligkeit zu reorganisieren« (1991ff.: H.4, §38: 493). Derart prozessierende Krisen verhindern, »dass die Elemente der Lösung sich mit der nötigen Geschwindigkeit entwickeln; wer herrscht, kann die Krise nicht lösen, hat aber die Macht [zu verhindern], dass andere sie lösen, das heißt hat nur die Macht, die Krise selbst zu verlängern« (1991ff.: H.14, §58: 1682). Vorerst keine allzu rosigen (roten) Aussichten – auch nicht für das Leben in der Prekarität!

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Ungleichheit, Devianz und Differenzierung Paradigmen der Inklusions- und Exklusionsforschung Cornelia Bohn

Der anhaltenden Debatte um Inklusion, Exklusion und die Prekarisierung des Lebens liegt eine Vielzahl unterschiedlicher Beobachtungen zugrunde. Man könnte sie unter den Überschriften: Prekarisierung, Innen-Außen-Differenz, Segregation und Grenzziehung zusammenfassen. Eine allgemeine »Prekarisierung« von Lebensverhältnissen, die seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zumindest grundsätzlich die gesamte Bevölkerung erfasst hat; die Chancen und Risiken einer pluralen Inklusionsordnung – Parsons spricht von einer Pluralisierung der Zugänge in der modernen Gesellschaft; die zunehmende Inklusion größerer Bevölkerungskreise in die höhere Bildung, deren Folge eine zugleich ausschließende und einschließende Wirkungsweise des Bildungssystems im Sinne einer »internen Ausgrenzung« ist – so die Formulierung Bourdieus und seiner Mitarbeiter; ethnische Segregationen, eine zunehmende Ghettoisierung besonders amerikanischer Vorstädte; das Komplementärphänomen der »gated communities«; in Frankreich das Problem der »sans-papiers«; das Problem politischer Inklusion in nationale Wohlfahrtssysteme angesichts von Migration und globalem Strukturaufbau; gesellschaftliche Subordnungen wie der Klientilismus, die Mafia oder soziale Enklaven wie Favelas. Es wird die Frage der Grenzziehung, sei es zwischen Normalität und Abnormalität bis hin zur Frage der Grenzen des Sozialen thematisch, die Desozialisierung der Natur und die Grenzziehung zwischen Humanität, Technik und Animalität werden erforscht. Schließlich wird seit der Subprimekrise 2007 Inklusion in Geld und Eigentum prekär, da das Finanzwesen als Zentrum der modernen Geldwirtschaft sich nicht mehr selbst stabilisiert, sondern das Wirtschaftsleben weltweit labilisiert. Je nach kategorialem Hintergrund und den zugrunde liegenden Annahmen über Strukturen und Operationsweisen der Gegenwartsgesellschaft stehen jetzt gesellschaftliche Integration, gesellschaftsweite Solidarität und das Herausfallen aus gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen bzw. aus den multiplen Zugängen zur relevanten gesellschaftlichen Kommunikation auf dem Spiel.

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Will man angesichts dieser Konstellationen nicht dem Schema einer skandalisierenden oder ideologiekritischen Analyse folgen – beide versuchen die Verhältnisse meist nicht einmal in ihrer gegenwärtigen, sondern in einer ihrer vergangenen Formen festzuschreiben, um sie als normativen Rahmen zu kanonisieren –, will man also nicht diesen Analysetypen folgen, so ist die sozialwissenschaftliche Forschung nach einer angemessenen Analytik gefragt, die auch hinter die Aktualität der Probleme zurückzutreten vermag. Meine Frage lautet daher: Welche theoretischen Möglichkeiten finden sich in den Sozialwissenschaften, um Inklusions- und Exklusionsphänomene zu analysieren? Genauer, wie wird Inklusion und Exklusion als Problem sozialwissenschaftlicher Analyse konstruiert? Es sei zunächst festgehalten: Das Inklusions-/Exklusionsproblem soll hier als ein gesellschaftstheoretisches Problem behandelt werden; das schließt Organisationen und Interaktionen ein. Als eine gesellschaftsinterne Unterscheidung benennt die Analytik Inklusion/Exklusion ein Problem, das an der Schnittstelle von Sozialsystem und Person angesiedelt ist. Im Zentrum steht daher die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe von Individuen als Personen. In der Zuspitzung auf gegenwärtige Problemlagen stellt das neue Paradigma auf der Ebene der Gesellschaft die Regulierungsmechanismen Recht, Markt und Wohlfahrt in Frage. Systemtheoretisch formuliert, lässt sich nach der gesellschaftsuniversellen Wirksamkeit der Medien und Codes der gesellschaftlichen Subsysteme fragen, danach ob sich Bereiche der Gesellschaft ausmachen lassen, in denen diese keine Gültigkeit haben oder nicht zur Anwendung kommen. Damit gerät noch viel mehr in den Blick als Recht, Markt und Wohlfahrt. Aus der Perspektive der Individuen geht es in der gegenwärtigen Problembeschreibung um die Passung von inklusionsgestützten Karrieren und den gesellschaftlichen Prozessstrukturen. In diachroner Perspektive – also jenseits jeder Aktualität – geht es um die Frage der Veränderung der Bedingungen für Zugehörigkeit und in Folge dessen für Nichtzugehörigkeit. Abstrakter formuliert stellt sich das Problem, ob Personen von Sozialsystemen als mitwirkungsrelevant oder als nicht mitwirkungsrelevant bezeichnet werden, ob sie als Einzelne oder als Gruppen in der gesellschaftlichen Kommunikation berücksichtigt werden, ob sie adressabel sind, ob sie diesen Zugang überhaupt wünschen oder ob sie vorübergehend oder dauerhaft, beabsichtigt oder unbeabsichtigt davon ausgeschlossen sind. Wir können daher explizite und einfach geschehene Inklusionen und Exklusionen, die wir als Selektion den Sozialsystemen zurechnen, von Selbstexklusionen unterscheiden, die wir als Selektionen den Personen zurechnen. Die je historische gesellschaftliche Momentaufnahme der Inklusions- und Exklusionsverhältnisse ist freilich immer Resultat einer Kombination von Selbst- und Fremdselektionen.Selbstbeschreibungen: surnuméraires, ghetto poor, vulnerabilité und Prekarisierung Die sozialtheoretische Beschreibung des Sozialen ist nur eine von vielen. Schütz hatte für diese unterschiedlichen Beschreibungsformate die Unter-

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scheidung der Konstruktionen erster und zweiter Ordnung vorgeschlagen, Luhmann formuliert aus der entgegen gesetzten Perspektive und spricht von einem autologischen Verhältnis der Soziologie zu ihrem Gegenstand – wir haben es somit mit einem selbstinklusiven Verhältnis der Sozialtheorie und ihrem Gegenstand und einem zirkulären Verhältnis beider Beschreibungsformen zu tun (vgl. Schütz 1971; Luhmann 1997). Während aber Alltagskonzepten und historisch variierenden Semantiken praktische Leistungen in bestimmten historischen Konstellationen und in bestimmten sozialen Situationen abverlangt werden – etwa die adäquate Reaktion im Umgang mit bestimmten Personen oder die Durchsetzung politischer Programme –, sind soziologische Analytiken durch ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse motiviert. Sozialtheoretische Deutungen des gesellschaftlichen Lebens sind zunächst auf innertheoretische Plausibilität hin zu prüfen und stellen sich selbst unter problemgeschichtliche Anforderungen. Zur Beschreibung der skizzierten divergierenden Phänomene, die hier auf die ihnen gemeinsame Problematik der Inklusion und Exklusion bezogen werden, haben sich zeitgleich in der Alltagskommunikation, in der politischen Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften eine Reihe von Problematisierungskategorien herausgebildet; vermutlich haben sich die verschiedenen Verwendungskontexte die Kategorien wechselseitig zugespielt: Die Kategorie der »Überflüssigen« (les surnuméraires) geht auf Castel zurück. Sie markiert latent oder manifest eine Absetzbewegung zur Marxschen Kategorie des Subproletariats als Reservearmee, eng verbunden mit der Kategorie der »überflüssigen Normalen« (Donzelot), die behauptet, dass Exklusionsrisiken keineswegs auf Randgruppen (psychisch Kranke, Invaliden, Kriminelle, sozial Unangepasste etc.) beschränkt bleiben (vgl. Castel 1996; Donzelot 1994). Gerade deshalb handelt es sich auch bei der gegenwärtigen Problemlage nicht primär um ein sozialpolitisches Problem. Dies ist insofern plausibel, als sich Sozialpolitik in ihren Gründungsakten ja gerade als eine institutionelle Vorkehrung zur Verhinderung von Exklusion bezeichnen lässt. In der amerikanischen öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte besetzen die Begriffe Ghetto und »underclass«, den Wilson jüngst durch den Begriff der »ghetto poor« zu ersetzen vorschlug, jenen Platz. Diese Problematisierungskategorien bezeichnen strukturelle Effekte, die zu Segregation, zu sozial-räumlicher Differenzierung und zu urbanen Ungleichheiten führen, d.h. exkludierte Bevölkerungsteile werden von der übrigen Bevölkerung räumlich getrennt. Es entstehen extraterritoriale sozial-räumliche Konstellationen, die eigenen Strukturen und Gesetzen folgen. Diese Überlegungen stellten in der Folge immer mehr Aspekte der Rassentrennung in den Vordergrund, da ganz offensichtlich vermehrt Angehörige ethnischer Minderheiten von kumulierten Problemlagen und Segregationen betroffen sind. Wacquant beobachtet eine zunehmende Homogenisierung der Sozialstruktur in den Ghettos sowie eine zunehmende Unverfügbarkeit von Sicherheit, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Erziehung

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und Gerichtsbarkeit. Gesellschaftstheoretisch kann man von einer Exklusion aus dem Symbol der Rechtsgeltung und aus dem institutionalisierten Machtmedium sprechen sowie von einer Nichtadressierbarkeit durch die Kommunikationen des Gesundheitssystems. Im Unterschied zu der Inklusionsbewegung der amerikanischen Gesamtbevölkerung in die Staatsbürgerschaft in den sechziger Jahren – diesem Erfahrungshintergrund entspricht noch Parsons Text »Full Citizenship for the Negro American?« (1976) – scheint jetzt der Zugang zur effektiven Ausübung der Staatsbürgerschaft und anderen Publikumsrollen in Frage zu stehen. Jene Form der Exklusion als Segregation stellt sich aber auch als eine Folge zunehmender Inklusion ethnischer Minderheiten dar. Ebenso lässt sich die Entwicklung brasilianischer Favelas, die zwischen 1930 und 1940 massenhaft entstanden, zunächst nicht durch Exklusion, sondern durch Inklusion in den urbanen Arbeitsmarkt bei mangelnder städtischer Infrastruktur erklären (vgl. Pino 1998; Caldeira 2000). In Frankreich wurde seit der Publikation des »Sécrétaire d’Etat à l’Action sociale« René Lenoir die Kategorie »Les exclus« zu einer weiteren Problematisierungskategorie, die ebenfalls eine »Doppelmitgliedschaft« in der politischen Öffentlichkeit und in der sozialwissenschaftlichen Forschung für sich beanspruchen kann (vgl. Lenoir 1974; Kronauer/Neef 1997). Sie löste eine Flut von Forschungen und von politischen Maßnahmen aus, wie das politische Programm der »insertion« und zwischenzeitlich auch Ermahnungen zu einem gemäßigten Gebrauch des Begriffs.

A USGRENZUNG AUS DER G EMEINSCHAF T, A USSCHLUSS E INSPERRUNG , V ERLEIHUNG EINES SPE ZIELLEN S TATUS Castels Überlegungen zu einem eingeschränkten Gebrauch der »Exklusionskategorie« wendet sich v.a. gegen deren Gleichsetzung mit allgemeinen Phänomenen der Degradierung und der sozialen Disprivilegierung, für die er Begriffe der »desaffiliés«, der »vulnerabilité« und der »Prekarisierung« für angemessener hält (vgl. Castel 2000). Für Castel ist Exklusion »weder arbiträr noch zufällig«, sie schließt vielmehr eine Ordnung proklamierter Gründe ein und wird somit als eine »Form negativer Diskriminierung, die nach strengen Regeln konstruiert ist« (ebd.: 22), beschreibbar. Dieser an den Arbeiten Foucaults orientierte strenge Gebrauch des Exklusionsbegriffs führt zu einer Typologie. Darin wird Exklusion aufgefasst: Erstens als vollständige Ausgrenzung aus der Gemeinschaft (Vertreibung, Verbannung, Vernichtung); zweitens als Ausschluss-Einsperrung (Ghettos, Leprosorien, Asyle); drittens als Verleihung eines speziellen Status (Juden in Frankreich am Vorabend der Französischen Revolution, die Situation der Eingeborenen in der Kolonialzeit, verschiedenen Formen des Zensuswahlrechts und die Verweigerung des Wahlrechts für Frauen). Castels überaus brauchbare

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historisch informierte Typologie scheint mir in eine Theorie der Inklusion und Exklusion integrierbar, ersetzt diese aber noch nicht. Vor allem vernachlässigt sie die antiessentialistische und unterscheidungstheoretische Einsicht, dass wir etwas nur beobachten können, wenn wir angeben, wovon wir es unterscheiden. Es bedeutet, dass wir zu systematischen Aussagen darüber, wie sich in einer bestimmten historischen Konstellation Ausschluss aus den verschiedenen Sozialitätsformaten – wie gesellschaftliche Subsysteme, Organisationen, Interaktionen, städtische Räume, politische oder religiöse Gemeinschaften – darstellt, nur dann kommen können, wenn wir auch deren Inklusionsmodus untersuchen. Ich möchte im Folgenden drei theoretische Traditionslinien skizzieren, die jeweils Aspekte einer Theorie der Inklusion und Exklusion beisteuern, um deren Tauglichkeit als theoretische Grundlegung für eine historisch vergleichende und der gegenwärtigen Lage angemessene Inklusions- und Exklusionsforschung zu prüfen. Hier interessiert nicht das empirische Detail vorliegender Untersuchungen, sondern vor allem der allgemeine Theorietypus, dem sie folgen. Damit ist auch der Theorie als Theorie ein Raum gegeben, der einmal eröffnete Reflexionsräume nutzt, um daran anzuknüpfen.

S OZIALE S CHLIESSUNG , D E VIANZ UND GESELLSCHAF TLICHE D IFFERENZIERUNG Fragt man danach, welche Theorien die Inklusions-/Exklusions-Analytik ersetzt oder ablöst, so sind es Assimilationstheorien und Integrationstheorien. Gegen die Assimilationstheorie spricht eine zunehmend plurale Inklusionsordnung, die Parsons für die USA der sechziger Jahre beschrieb. Die Vermehrung von Mitgliedschaftsrollen etwa in Bildung und Wirtschaft, die zunehmend unabhängig von askriptiven Merkmalen wie Herkunft, Religion, Hautfarbe werden, führen nicht nur zu einer pluralen Statusordnung, sondern auch zu einer klaren Unterscheidung zwischen Assimilation und Inklusion. Man kann als Schwarzer amerikanischer Präsident werden, als Schweizer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank sein. Fragt man danach, welche theoretischen Probleme in einer Analytik der Inklusion und Exklusion kontinuieren, so finden sich ungleichheitstheoretische, devianztheoretische und differenzierungstheoretische Gesichtspunkte. Ungleichheitstheoretische Aspekte lassen sich quasi idealtypisch in Webers Theorie der sozialen Schließung und deren Weiterentwicklung durch den amerikanischen Neoweberianismus (Collins; Murphy), sowie in der Sozialtheorie Bourdieus finden. Foucaults Arbeiten zur Grenzziehung zwischen Normalität und Abnormalität argumentieren devianztheoretisch. Eine differenzierungstheoretische Grundlegung findet sich in der an Parsons anknüpfenden, von Luhmann auf den Weg gebrachten systemtheoretischen Inklusions-/Exklusions-

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begrifflichkeit. Im ersten Fall behaupte ich daher Ablösung, im zweiten Fall Kontinuität.

1. Soziale Schließung und Ungleichheit Webers Theorie der sozialen Schließung beruht auf seiner Unterscheidung von »offenen und geschlossenen sozialen Beziehungen«. Er hatte vor allem einen Typ von Gemeinschaftshandeln im Blick, der die Absicherung von Privilegien gegenüber Dritten betreibt. Klassische Beispiele sind Verbände, Zünfte, Professionen, Universitäten und Qualifikationstitel, Landnutzung, Nationalstaatlichkeit, Religionszugehörigkeit etc. Während Webers Analyse der internen Schließung aus der Binnenperspektive von Verbänden, Zünften etc. formuliert ist, greifen die neueren Anschlusstheorien die Idee des »kollektiven Gegenhandelns« auf. Soziale Schließung wird jetzt als Resultat von Strategien vorgeführt, die der Monopolisierung gesellschaftlicher Chancen, Privilegien und Ressourcen dienen. Die interne Schließung sieht sich dem Zusammenschluss der Ausgeschlossenen gegenüber. Die Theorie der sozialen Schließung wird analytisch durch die Annahme der Machtasymmetrie zwischen Ausschließenden und Ausgeschlossenen ergänzt. Staatsbürgerschaft, Bildungstitel, professionelle Nutzung von Chancen, Begünstigungen, Zugänge, Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten werden zum umkämpften Gut. Inklusion und Exklusion kann in dieser theoretischen Perspektive als Resultat unterschiedlicher Typen allgemeiner Handlungsstrategien begriffen werden, die sich als Schließungskämpfe manifestieren. Während in diesen schließungstheoretischen Überlegungen das angestrebte Kampfziel wesentlich Privilegiensicherung durch Zugehörigkeit und Ausschluss anderer ist, findet sich v.a. in Webers religionssoziologischen Schriften auch die umgekehrte Bewegung. Am Beispiel des Judentums wird hier eine Form der Selbstexklusion beschrieben, die ihre Nichtzugehörigkeit gerade als Exklusivität begreift (vgl. Weber 1988; Nietzsche 1988). Nun scheinen mir diese Phänomenbeschreibungen konflikt- und machtgeladene Sonderfälle von Inklusion und Exklusion zu analysieren, aber nicht generalisierbar im Sinne einer allgemeinen Theorie. Deutlich ist – und darüber herrscht weitgehend Konsens in der Literatur –, dass die im Übergang zum 21. Jahrhundert beschriebenen Inklusions- und Ausgrenzungsphänomene nicht mehr als Kampf um Teilnahmerechte bzw. als Folge der Verweigerung dieser Rechte beschrieben werden können, wie dies in früheren Gesellschaften bis hin zur Human Rights Bewegung im 20. Jahrhundert noch der Fall war. Diese Einsicht stimmt im Übrigen mit dem in der Literatur vertretenen Befund einer zunehmenden Invisibilisierung des »Nein« in der modernen Inklusions- und Exklusionsordnung überein. In Frage stehen vielmehr die Realisierung des in der Selbstbeschreibung der funktionalen Differenzierung enthaltenen Postulats, jedem Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben Zugang zu allen Funktionen zu

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erschließen, bzw. die paradoxen Konsequenzen eines solchen Allinklusionsprogramms. Nicht der Kampf um Zugang und Inklusion, sondern die Früchte voraus liegender Kämpfe, die sich eher als Öffnungs- denn als Schließungskämpfe beschreiben lassen, sind das Problem – insbesondere aber die Entwertung ihrer Erträge durch den generalisierten Zugang. Diese Phänomene lassen sich mit den Mitteln der Sozialtheorie Bourdieus analysieren. Der ungleichheitstheoretische Aspekt von Zugehörigkeit und Ausschluss findet sich in modifizierter Form in Bourdieus Klassifikations- und Distinktionstheoremen wieder, die vor allem die symbolischen Dimensionen sozialer Ungleichheit untersuchen (vgl. Bourdieu 1985). Immer geht es um Zugänge zu Positionen, um die Frage der Platzierung im sozialen Raum und um die Positionierung im Feld der Macht, die schließlich über eine gesellschaftsweite Definitionsmacht und damit verbundene Anerkennung entscheidet. Kreisten die Kämpfe um Anerkennung in vormodernen Gesellschaften noch um das gesellschaftsweite enjeux der Ehre – wie dies in den frühen Studien zur Kabylei belegt ist –, differenziert und multipliziert sich dieser Einsatz in der Moderne: Es geht um Geld und Besitz, Bildungstitel, wissenschaftliche Reputation und um die legitimen Mittel, diese zu erwerben. Das legitime Prinzip der Legitimation steht dabei immer mit auf dem Spiel. Exklusion, so meine Lesart der Theorie, heißt dann: Ausschluss aus gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen. Exkludiert waren somit – dies lässt sich auch ex negativo belegen – zumindest im vormodernen christlichen Europa nicht die Armen oder Mittellosen, sondern die Infamen, im Sinne von Ehrlosen; ein Befund, der mit den Überlegungen Foucaults und Luhmanns übereinstimmt. Für die gegenwärtige Situation enthält die Theorie Bourdieus das Potential einer Inklusions- und Exklusionstheorie, die den Zugang und das Herausfallen aus feldspezifischen Anerkennungslogiken untersucht. Der Spielzug, der im Spiel wirkungslos bleibt, ist der Spielzug des Exkludierten. Er ist de facto kein Mitspieler mehr. Umgekehrt lässt sich das Eintreten in eine relevante Feldposition – wie am Beispiel des Einzugs des Impressionismus in das Feld der Kunst untersucht – als Inklusion bezeichnen (vgl. Bourdieu 1992). Die Studien zur gegenwärtigen Entwicklung focussieren allerdings auf zweierlei: erstens auf die Wirkungen zunehmender Exklusionsrisiken auf den Inklusionsbereich, zweitens auf die Entwertung und die unbegrenzt verfeinerbaren Abstufungen feldspezifischer Anerkennungssymboliken wie z.B. Bildungstitel als Konsequenz zunehmender Inklusion. Es geht somit um eine ungleichheitstheoretische Analyse von Inklusionsfolgen (vgl. Bourdieu et al. 1997).

2. Devianz und inkludierende E xklusion Foucaults Analysen werden posthum vor allem von diachron orientierten Inklusions-/Exklusionsforschungen genutzt und durchaus kritisch weiterentwickelt.

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Eine seiner ersten Studien beschreibt eine typische Exklusionsfigur: Den Ausschluss des Wahnsinns durch die Vernunft. Besonderes Gewicht dieser Analysen liegt auf der historischen Veränderung der gesellschaftlichen Exklusionsdiskurse und -dispositive, die deren institutionelle Konsequenzen einschließen. Während vormoderne Inklusions- und Exklusionspraktiken von einem Außen oder einem Jenseits der Gesellschaft ausgehen, besteht das typisch moderne Inklusions-/Exklusionsmuster – so meine Lesart des devianztheoretischen Paradigmas – in der Einrichtung von Asylen und Anstalten. Exklusion vollzieht sich jetzt nicht mehr durch Distanznahme und Meidung (wie in den Leprosorien), sondern als kontrollierte Form der Distanznahme durch Überwachung (Asyle, Gefängnisse) (Foucault 1973, 1976). Die neue Form der Exklusion ist daher gleichzeitig eine Inklusion, die ich als inkludierende Exklusion bezeichnet habe. Darin liegt m.E. eine über Devianzphänomene hinausgehende, generalisierbare Einsicht für eine Analytik der Inklusion und Exklusion, der allerdings in der vorliegenden diskurstheoretischen Fassung die gesellschaftstheoretische Dimension fehlt. Auffällig ist, dass Exklusion als unterstellte Devianz, die sich auf Schuldsemantiken, Semantiken der Andersartigkeit und Abnormalität stützt, ein Phänomen ist, das auch in weit ausgreifender historischer Perspektive als eine der meist verbreiteten Formen sozialer Ausgrenzung beobachtet werden kann (vgl. z.B. Douglas 1991; Hahn 2006). Das Kerkersystem, wie Foucault die moderne Form des devianztheoretischen Inklusions-/Exklusionsparadigmas nennt, »stößt den Unanpaßbaren nicht in eine vage Hölle; es hat kein Außen. Wen es auf der einen Seite auszuschließen scheint, dessen nimmt er sich auf der anderen Seite wieder an. Es geht mit allem haushälterisch um, auch mit seinen Sträflingen. Und es will auch den nicht verlieren, den es disqualifiziert hat«. Von Foucault als das Handwerk der Delinquenz bezeichnet, erweist sich die inkludierende Exklusion jedoch als zu schlicht und unwirksam, »wenn sich große Gesetzwidrigkeiten national oder international organisieren« (Foucault 1976: 394). Beispiele sind der internationale Drogenhandel, Waffenhandel oder ganz allgemein organisierte Kriminalität, wie international organisierter Terror, die Mafia, welche Subordnungen außerhalb der Politik, der Wirtschaft und des Rechts bilden und dennoch auf diese bezogen bleiben. Während Foucault aber Transnationalität als Grenze der inkludierenden Exklusion auffassen muss, denn Staat ist das höchste Ordnungsformat in seinen Analysen, Organisation also und nicht Gesellschaft – ist die Weltgesellschaft in der Systemtheorie gerade eine präzisierende Bedingung für jene in der Moderne unausweichliche inkludierende Exklusion. Wenn Gesellschaft nur noch im Singular vorkommt, es keine unbesetzten sozialen Räume mehr gibt, kann Sozialität nicht mehr in einem Außen vorkommen. Jede Exklusion in der Weltgesellschaft ist somit immer auch eine inkludierende Exklusion.

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3. Inklusion/E xklusion als innergesellschaftliche Struktur sozialer Differenzierung Foucaults Analysen begegnen der systemtheoretischen ganz offensichtlich in der Analyse historisch variierender Inklusions- und Exklusionsformen. Auch Luhmann geht davon aus, dass Inklusions- und Exklusionsordnungen historisch variieren und korreliert sie strikt mit der Differenzierungsform der Gesellschaft. Schematisch könnte man die diesbezügliche Theorie Luhmanns wie folgt zusammenfassen: Gegen Parsons allzu lineare Vorstellung, soziokulturelle Evolution als Zunahme von »adaptive upgrading«, »differenciation«, »inclusion« und »value generalisation« aufzufassen (Parsons, 1971: 26f.), setzt Luhmann eine ungerichtete Relation von Differenzierung und der Variable Inklusion/Exklusion. Die Differenzierungsformen sind dann »Regeln für die Wiederholung von Inklusions- und Exklusionsdifferenzen innerhalb der Gesellschaft, aber zugleich Formen, die voraussetzen, dass man an der Differenzierung selbst und ihren Inklusionsregeln teilnimmt, und nicht auch davon noch ausgeschlossen wird« (Luhmann 1997: 622). Wenn Inklusion/Exklusion eine innergesellschaftliche Differenz ist, finden Inklusionen und Exklusionen in der Gesellschaft statt. Exklusion bezieht sich zwar noch in segmentären Gesellschaften auf ein »Außen« (Tötung, Vertreibung, jeder Kontakt wird unterbunden), findet aber als Operation in der Gesellschaft statt. Bereits in stratifizierten Gesellschaften wird die Differenz insofern innergesellschaftlich reformuliert, als die Exklusion aus einem Stratum, einem Territorium, einer Kirchengemeinde, einer Hausgemeinschaft Inklusion in eine andere Zugehörigkeitssphäre bedeutete bis hin zu Auffanglagern wie Klöstern, Arbeitshäusern, den unehrenhaften Berufen oder anderen ausgewiesenen Positionen. Exklusion – auch in Gestalt spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher expliziter Exklusionspolitik – bedeutet somit nicht Exklusion aus der Gesellschaft, es ist vielmehr ein innergesellschaftliches Regulativ, das in bestimmten Fällen mit Sonderstatus belegt ist. In der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft stellt sich die Inklusions-/ Exklusionsproblematik noch einmal grundsätzlich anders dar. Das Ordnungsprinzip stratifizierter Gesellschaften basiert auf Inklusion bzw. Exklusion von Individuen, während die Berücksichtigung von Individuen in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft überhaupt problematisch wird. Stratifizierte Gesellschaften gehen in bestimmter Weise von Inklusion aus: Man gehört zu einer Gesellschaft aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Kaste, einem Stand einer bestimmten Schicht, die über Inklusion/Exklusion geschlossen wird; man kann nur einem und nicht mehreren Teilsystemen angehören; man verdankt seine Individualität sozialer Inklusion, insofern sie durch Zuweisung eines sozialen Status erworben wird. Inklusion ist an Herkunft und an der Zugehörigkeit zu Familienhaushalten orientiert. Das trifft auch für Sklaven und Dienstboten zu. Inklusion und in der Folge die Bestimmung individueller Lebensformen

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werden hier durch die soziale Position konkretisiert. Erst die Auflösung dieses klassischen Inklusionsmusters setzt an die Schnittstelle Individuum und Gesellschaft ein kontingentes Prozessieren in Gestalt individueller Karrieren. Damit korrelieren die pluralisierten oder multiplen Inklusionsformen in die Subsysteme der Gesellschaft, die nicht untereinander integriert und auch nicht ineinander konvertierbar sind. Während für primär über Strata hierarchisch strukturierte Gesellschaften Inklusions- und Exklusionsmustern selbst eine ordnungsstiftende Kraft zukommt – so könnte man auch die Weberschen Analysen der Privilegiensicherung lesen –, gilt für die moderne, primär über funktionale Sachgesichtspunkte strukturierte Gesellschaft, dass prinzipiell allen Personen der Zugang zu allen gesellschaftlichen Teilsystemen offen steht. Deren Selbstbeschreibung geht folgerichtig von einer Inklusion der Gesamtbevölkerung in alle gesellschaftlichen Subsysteme aus. Aus der Perspektive der Funktionssysteme besteht – anders als aus der Perspektive hierarchisch organisierter Subsysteme – kein Exklusionsmotiv und keinerlei Legitimation zur Exklusion (vgl. Luhmann 1995a; 1997, bes. Kap. 4). Exklusionsmotive liegen in der Moderne bei der Organisation und situativ auch in der Interaktion. Während für die Gesellschaft Inklusion der Normalfall ist und Vollinklusion in der Logik der Selbstbeschreibung funktionaler Differenzierung liegt, ist für Organisationen im Gegenteil Exklusion der Normalfall und durchaus legitim. Der auf Vollinklusion setzenden Ordnung der Moderne korrespondiert nun eine gravierende Veränderung im Selbstverständnis der Individuen. Die neue Form der Individualisierung wird zunächst als Exklusionsindividualität begreifbar (vgl. Luhmann 1989; Bohn 2006a). Da die Gesellschaftsstruktur keine Konditionierung von Individualität mehr nahe legt und garantiert, geraten individuelle Lebensverläufe zu riskanten karriereorientierten Optionen von Personen angesichts knapper und hoch strukturierter Inklusionsangebote von Funktionssystemen. Meine These ist nun, dass der gesuchte Theorietyp, der in diachroner und in synchroner Perspektive den singulären Fall als Fall des Möglichen zu analysieren vermag, ein devianztheoretisch informiertes, differenzierungstheoretisches Paradigma ist.

S YNTHESEN UND R E VISIONEN Die Anmerkung, dass die Analytik der Inklusion/Exklusion Problemstellungen der Ungleichheitsforschung und der Devianzforschung kontinuiert, aber nicht darin abbildbar ist, lässt sich jetzt präzisieren: Die Ungleichheitsforschung schließt an das Inklusions-/Exklusionskonzept auf der Seite der Inklusion an, ist aber mit dieser nicht identisch. Inklusion und Exklusion lassen Gleichheit und Ungleichheit zu. Inklusion ist ein offenes Prinzip, das alleine über sich wandelnde Zugangs-, Zugehörigkeits- und Erreichbarkeitsbedingungen in ver-

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schiedenen historischen und kulturellen Kontexten Auskunft gibt. Ungleichheitsforschung der Gegenwart untersucht hingegen die unbegrenzt verfeinerbaren Abstufungen in der Definition von Aneignungserfolgen auf Grund jener Zugänge – etwa im Sinne gleicher Rechte – und deren gesellschaftliche Bewertung. Ungleichheitsforschung ergänzt somit Inklusionsforschung in einer bestimmten Hinsicht, lässt aber viele andere inklusions- und exklusionstheoretische Probleme unberührt. Das Devianzparadigma indessen instruiert die Seite der Exklusion des Inklusions-/Exklusionskonzeptes. Es ersetzt dieses aber nicht, da Devianz nur ein Anlass oder eine Folge von Exklusion – immer im Sinne der beschrieben inkludierenden Exklusion – neben vielen anderen wie Knappheit, regionale oder arbeitsmarktpolitische Disparitäten, religiöse oder kulturelle Andersartigkeit, biographische Konjunkturen, wie immer motivierte Selbstexklusionen und deren Kumulationen sein kann. Das Devianzparadigma lässt sich in der Luhmannschen Theorie auf der Beschreibungsebene unschwer wieder finden. Man denke für die Vormoderne nur an Häresie und den Exklusionsmodus der Infamie (Ehrlosigkeit), an den der Exkommunikation, für die Moderne nur an die immer wiederkehrenden Beschreibungen nicht legitimer Zugänge zu Macht und Geld wie Patronage, Klientilismus oder Korruption als die »andere Seite« der Differenzierung. Während Foucaults Analysen der Moderne aber nur die Grenzen der Staatlichkeit thematisieren, lässt sich gesellschaftstheoretisch genauer analysieren, dass nämlich die Kopplungen der Medien und Codes wie Recht, Geld und Macht an sichtbare Grenzen stoßen. Devianz ist dann auch eine von der Normalität der gesellschaftlichen Strukturvorgabe abweichende Kommunikationsform. Denn selbst wenn das durch Schutzgelder erpresste Geld als Zahlung in das Wirtschaftssystem eingeht – somit die Geld besitzende Person punktuell in gesellschaftliche Kommunikation inkludiert ist –, umgeht dieser Vorgang die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft, indem er Eigentums- und Vertragskonventionen bricht. Wie lässt sich nachweisen, dass legal investiertes Vermögen illegal erwirtschaftet wurde? Eine ähnliche Analyse lässt sich für den Terrorismus als Weltereignis durchführen, der, so meine These, eine Kombination aus Selbstexklusion und inkludierender Exklusion darstellt. Freilich ist die inkludierende Operation hier nicht eine ökonomische, rechtliche oder politische, sondern eine massenmediale. Man kann somit die innergesellschaftliche Unterscheidung Inklusion und Exklusion selbst als eine Struktur der gesellschaftlichen Differenzierung auffassen – wie etwa Zentrum und Peripherie oder Globalisierung und Regionalisierung. Möglich wird damit in weit ausgreifender diachroner und synchroner Perspektive der Vergleich und daran anschließende Systematisierung, Abstraktion und Respezifizierung. Dies erlaubt, so heterogene Phänomene in den Blick zu nehmen wie die komplizierte Inklusionsordnung in den antiken Stadtstaaten zwischen Bürgern der Polis, Metöken und den Kosmopoli-

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ten; die Inklusion fremder Herrscher in den kulturellen Kontext Ägyptens im griechisch-römischen Ägypten (vgl. Pfeiffer 2005); die Juden im europäischen Mittelalter, die in den städtischen Raum inkludiert, aber aus den politischen und religiösen Kontexten exkludiert waren (vgl. Cluse 2004); dem Lecturer im England des 19. Jahrhunderts, der die Popularisierung als Inklusionsfigur in der Wissenschaft verkörperte, die Leistungs- und Publikumsrollen in der modernen Inklusions- und Exklusionsordnung, die gestufte Inklusion in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie der Geldwirtschaft (vgl. Bohn 2009). Es ermöglicht außerdem, zwischen den Inklusions- und Exklusionsformen, die fungibel gegenüber der jeweiligen Gesellschaftsstruktur sind und zu deren Normalitätsprofil gehören, und den Formen zu unterscheiden, die sich in die Selbstbeschreibung der jeweiligen Gesellschaft nicht einfügen. Bei einer Sichtung des Inventars der Inklusions- und Exklusionsfiguren fällt auf, dass die legitimierten und codifizierten Inklusions- und Exklusionspraktiken in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen deutlich auf der Seite der Exklusion differenzierter und ausgearbeiteter sind, während funktionale Differenzierung ungleich höheren Regelungsaufwand auf der Seite der Inklusionspraktiken betreibt. Europäische stratifizierte Gesellschaften kennen die Exkommunikation, den Bann, die Infamie und Ehrlosigkeit, die Verdammnis, die Entmenschlichung durch Benennung oder stigmatisierende Kennzeichnung, Ghettobildung, ethnische Überschichtung, Rechtlosigkeit, Siedlungspolitik, Nostrifizierung oder Verzicht auf Nostrifizierung; Repatriierung, privilegierende oder disprivilegierende Statuszuweisung, Korporation, den Königsschutz, Gastfreundschaft, Immediatsstellung, die Nicht-Anerkennung des Personenstatus, Fremdenausweisung, Galeerenstrafen, Todesstrafe, die Stadt- und Landesverweisung, Acht, Deportation, und viele andere mehr. Dagegen kennt die primär nach Sachgesichtspunkten differenzierte Gesellschaft eine Fülle institutionalisierter und systematisierter Inklusionsregeln, um nur einige Beispiele zu nennen: Allgemeine Rechtsfähigkeit, allgemeine Schulpflicht, Vollinklusion in die Staatsbürgerschaft und wohlfahrtsstaatliche Leistungen, Mitgliedschaften in Organisationen, generell die Leistungs- und Publikumsrollen in den Funktionssystemen, Eigentum und Einkommen, Eintritt in eine religiöse Organisation. Dem induktiven Befund entspricht der systematische. Während stratifizierte Gesellschaften von Inklusion ausgehen – man ist inkludiert durch die Zugehörigkeit zu einem und nur einem Stratum – und ihre Exklusionspraktiken systematisieren und legitimieren müssen, geht die funktionale Differenzierung von Exklusion aus: Das Exklusionsindividuum ist zwar sozial erzeugt, aber als ganzes nicht mehr sozial präsent. Sie regelt daher die gesellschaftsweite Inklusion über die soziale Konstruktion von Personen, deren ereignishafte Adressierung und durch institutionalisierte Leistungs- und Publikumsrollen. Wenn Inklusion und Exklusion als eine Struktur der Differenzierung je historischer Gesellschaftsformen begriffen werden kann, so ist dies kein Zusatz,

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der ohne Konsequenzen für die Differenzierungstheorie selbst bleibt. Wenn Inklusionsbedingungen die Form sozialer Ordnung spezifizieren und mit den Ausgeschlossenen der Gegenfall und die Gegenstruktur symbolisiert sind, so bleiben Exklusionen immer konstitutiv auf diese Ordnungen bezogen. Die vorliegende Fassung dieser im Ansatz entwickelten differenzierungstheoretischen Inklusions- und Exklusionstheorie bedarf aber nach dem Durchgang durch historisch-empirisches Material einiger Präzisierungen und Modifikationen. Ich nenne nur einige Punkte. Erstens stellt sich die Frage des Primats einer Differenzierungsform angesichts je historischer Inklusions- und Exklusionspraktiken. Inklusions- und Exklusionsformen variieren nicht nur historisch, regional und innerhalb der Subsysteme wie Stratum, Funktionssystem, Organisation, Interaktion, auch innerhalb dieser Ordnungsformate lassen sich plurale Inklusions- und Exklusionsformen beobachten. So findet sich in stratifizierten Gesellschaften eine Fülle von Exklusionsmodi, für die Schichtzugehörigkeit nicht informativ ist. Die Differenz Einheimische/Fremde etwa lässt sich in vielen Gesellschaften auf den verschiedenen Ordnungsniveaus wie Königreich, städtischer Raum, Familie, Haus, Kirchengemeinde wiederholen. Dies führt zu höchst unterschiedlichen, zum Teil konträren Inklusions- und Exklusionsfiguren. Ähnliches gilt für die funktionale Differenzierung. Hier ist z.B. an die eingangs beschriebenen innerstädtisch-räumlichen Inklusions- und Exklusionspraktiken zu erinnern. Nimmt man die Kontingenz der Ordnungsformate Interaktion, Organisation, Gesellschaft hinzu, so zeigt sich, dass Inklusions- und Exklusionspraktiken eigenlogische Strukturen generieren, die durchaus gegenläufig auf den verschiedenen Ordnungsniveaus operieren. In der Konsequenz heißt das, dass wir z.B. inklusions- und exklusionsrelevante sachliche Aspekte in der Stratifikation finden und dass wir regionale oder kulturelle Gesichtspunkte in der funktionalen Differenzierung finden. Es wird somit die Koexistenz und Kombinierbarkeit von Differenzierungsformen in den Inklusions- und Exklusionspraktiken deutlich. Daraus folgt weiter, dass Inklusion und Exklusion keine schlichte Applikation, kein Anwendungsfall der Primärdifferenzierung einer Gesellschaftsform ist, ja diese sogar in Frage stellt. Präzisierungsbedürftig ist zweitens der Zusammenhang von Sozialstruktur und Semantik für konkrete Inklusions- und Exklusionsordnungen einer gegebenen Gesellschaft. Für das europäische Spätmittelalter lässt sich zeigen, dass die christliche Jenseitsvorstellung in Gestalt des Inklusions-/Exklusionsmusters Heil/Verdammnis von gesamtgesellschaftlicher Höchstrelevanz ist. Dieses Muster lässt sich aber keineswegs aus der Stratifikation ableiten, unterläuft diese sogar subversiv. Für die Gegenwart stellt sich diese Frage angesichts der Selbstmordattentate und des islamischen Terrors, der mit religiöser Semantik eine konflikthafte Substruktur im weltpolitischen Feld in Gang hält. Semantiken können die Inklusionsordnungen stützen und legitimieren wie etwa die

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Menschenrechts- und Gleichheitssemantik dem modernen Allinklusionsimperativ zur Durchsetzung und kontrafaktischen Geltung verhilft. Sie können sich aber auch gegenläufig zur etablierten Struktur artikulieren, diese modifizieren, in Frage stellen oder neben dieser als Gegenstruktur bestehen. Wenn es drittens so etwas wie Exklusionsbereiche gibt, sei es in Gestalt von Institutionen der inkludierenden Exklusion oder in Gestalt sozial-räumlicher Segmentierung, verfügen auch diese über eine Symbolik, die eine soziologische Analyse ebenfalls zu beschreiben hätte. Goffmans Studien der Asyle, die ohne diesen Titel zu verwenden Analysen inkludierender Exklusionen sind, bieten hier Anknüpfungspunkte, die freilich an aktuelle Theorielagen anzuschließen wären. Sie gehen nicht nur über Foucault hinaus, der die Diskurse, nicht aber die Praktiken untersucht, indem sie zeigen, dass jede Überwachung und Asylisierung zu einer Form des »underlife« führt. Sie gehen auch über Luhmanns These der Abwesenheit von Symbolen in Exklusionsbereichen hinaus (1997: 332f.), da diese selbst differenzierte Regelwerke und Symbole hervorbringen, deren Bezug zur Ordnung in den Feldern der Inklusion eine je empirisch zu klärende Frage ist. Mein Argument enthält zwei Aspekte: erstens das zu klärende Verhältnis von Diskursen, bzw. Semantiken und Praktiken und zweitens die unterschätzten Strukturen, Subordnungen und Symboliken des auf den Inklusionsbereich bezogenen Exklusionsbereichs, die weder bei Luhmann noch bei Foucault gesehen werden. Der Befund vielfach verschränkter Inklusions- und Exklusionsfiguren (inkludierende Exklusion, Kombinationen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit) setzt – wie gezeigt – voraus, dass es sich um eine innergesellschaftliche Differenz handelt. Darüber hinaus impliziert er – und das ist mein vierter Punkt – die beiden Seiten der Unterscheidung nicht wie gegeneinander gerichtete Pole einer Opposition zu begreifen, sondern als ein Kontinuum, dessen beide Enden bis hin zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergehen. Die Semantik der Helenen und Barbaren, wonach die Barbaren nicht Helenen und die Helenen nicht Barbaren sein können, war noch an Oppositionspaaren orientiert, die einer hierarchischen Weltarchitektur als Ordnungsgarantie verpflichtet waren – ungeachtet freilich der antiken Praxis. Am Beispiel der Juden lässt sich zeigen, dass Fremde zu Einheimischen und Einheimische zu Fremden werden können, ebenso am Beispiel der Nationalstaatlichkeit und der Fremdheitssemantik des inländischen und des ausländischen Fremden im 19. Jahrhundert bis hin zur generalisierten Fremdheit in der Gegenwart, die die Unterscheidung Einheimische/Fremde selbst kassiert. Auch die devianztheoretische Differenz Normalität/Abnormalität ist keine konträre Opposition feststehender Entitäten, vielmehr muss Normalität immer wieder neu gegen Abnormalität gewonnen werden, so wie vormals Abnormes zur Normalität werden kann und umgekehrt. Für die Felder oder Funktionssysteme der Politik, der Ökonomie, der Religion, der Kunst ist die Schwelle anhand derer, Ausgeschlossenes im Ein-

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geschlossenen als normal empfunden wird, fließend: Erwartungsunsicherheiten im Recht, angesichts eingelebter Praktiken des Übersehens; Netzwerke, die Wahrheiten zur Geltung und Macht zu deren Stabilisierung verhelfen; marktunabhängige Einkommensquellen, die wirtschaftliches Kalkül unkalkulierbar machen. Agambens Analyse des modernen politischen Feldes, in dem die Ausnahme zur Regel wird und immer mehr mit dem politischen Raum zusammen fällt »und auf diesem Weg Ausschluss und Einschluss, […] Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten« (2002: 19), ist das extreme Beispiel für jenes Kontinuum von Inklusion und Exklusion. Schließlich treten fünftens konkrete Inklusions- und Exklusionspraktiken häufig zeitlich und sachlich graduiert und limitiert auf. Sie sind in der Regel eine Kombination von Inklusion und Exklusion – wie der Status des Fremden eine Kombination aus Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit war. Nimmt man religiöse Semantiken als gesellschaftliche Struktur hinzu, was sich gerade für Gesellschaften, die sich auf ein Jenseits hin entwerfen (z.B. das europäische Mittelalter) geradezu aufdrängt, trifft dies auch für »irreversible« Formen der Exklusion wie den Tod zu; selbst die Galeerenstrafe ist zeitlich limitiert. Inklusionen und Exklusionen sind in der Regel zeitlich und sachlich limitiert und nur selten irreversibel.

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Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität? Überlegungen über Prekarisierung als Denormalisierung Jürgen Link

Die folgenden Überlegungen werden versuchen, das seit geraumer Zeit, ausgehend von der französischen und italienischen Soziologie, proliferierende Konzept der Prekarität (bzw. der Prekarisierung und eines »Prekariats«) unter normalismustheoretischem Aspekt zu betrachten1 . Diese Sicht ist selbstverständlich selektiv, indem sie das Phänomen hauptsächlich unter der Fragestellung behandelt, inwieweit dadurch bisherige soziale Normalitäten destruiert bzw. u.U. soziale Normalitäten neuen Typs stimuliert werden. Anders gesagt lautet die Frage, ob und in welchem Ausmaß Prekarisierung einen spezifischen Fall sozialer Denormalisierung darstellt und/oder inwieweit sie ggf. einen Beitrag zur sozialen Normalisierung liefern kann. In seiner ursprünglichen Fassung entstand der folgende Text im Jahre 2006, also in einer Situation, die in Deutschland durch die ersten Erfahrungen mit den sog. »Hartz-Reformen« (»Agenda 2010« der Regierung Schröder-Fischer) sowie einen beginnenden Konjunkturaufschwung (mit rückläufigen Arbeitslosenzahlen) gekennzeichnet war (vgl. Link 2007). Damals war die unerhörte multidimensionale Denormalisierung, die durch die plötzliche Implosion des kapitalistischen Finanzsystems seit dem Herbst 2008 ausgelöst wurde, nicht absehbar und kaum vorstellbar. Durch diese Reihe »unerhörter Begebenheiten« (nach Goethe der Gegenstand von Novellen) gewinnen die folgenden Überlegungen aber eine zusätzliche erhebliche Aktualität, da ein weitgehender Konsens der Beobachter in der Auffassung herrscht, dass die prekär Beschäftigten (insbesondere die Zeitarbeiter, Leiharbeiter, befristet Eingestellten und sog. »Ich-AGs«) als erste massenhaft in die Arbeitslosigkeit fallen werden. (In Gestalt der chronisch Kurzarbeitenden 1 | Die Ausführungen stützen sich auf die Beiträge – insbesondere von Robert Castel, Patrick Cingolani und Pierre Lantz – zum Schwerpunktheft »Prekarität« der Zeitschrift »kulturrevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie« (Heft 52/2007).

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hat die Krise inzwischen eine weitere Kategorie von Prekariern produziert.) Wir haben es also inzwischen mit Phänomenen der Kopplung (oder der »Überdetermination«) zwischen spezifisch prekären Denormalisierungen und allgemein kriseninduzierten Denormalisierungen zu tun. Ich werde solche Kopplungstendenzen zusätzlich signalisieren, folge aber insgesamt dem damaligen Text. Ich beginne mit kurzen, notwendig sehr kondensierten Definitionen zum Konzept des Normalismus als Rahmen meiner Überlegungen (vgl. Link 2006). Unter »Normalismus« sei die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen verstanden, durch die in modernen Gesellschaften »Normalitäten« produziert und reproduziert werden. Konstitutiv sind dabei insbesondere die Dispositive der massenhaften Verdatung, d.h. die statistischen Dispositive im weitesten Sinne: auf der Ebene der Datenerfassung einschließlich der Befragungen, auf der Ebene der Auswertung einschließlich der mathematisch-statistischen Verteilungstheorien, auf der Ebene der praktischen Intervention einschließlich aller sozialen Um-Verteilungs-Dispositive. Dabei sind die produzierten und reproduzierten Normalitäten in der Synchronie im wesentlichen durch »gemittelte« Verteilungen gekennzeichnet (breiter mittlerer »normal range« mit dichter Besetzung und zwei tendenziell symmetrische, »anormale« Extremzonen mit dünner Besetzung), idealiter einer »symbolisch gaußoiden Verteilung« angenähert. In der Diachronie ist der Idealtyp das »normale Wachstum« in Gestalt der »endlos wachsenden Schlange« (einer kontinuierlichen Folge logistischer Kurven, also gelängter S-Kurven). Diese Dispositive regelmäßiger, systematischer und flächendeckender Verdatung stellen nach diesem Ansatz das historische Apriori des Normalismus dar, der demzufolge also erst seit dem 18. Jahrhundert entstanden wäre. Der Normalismus als ein auf flächendeckende statistische Verdatung und normalisierende Um-Verteilung von Massen gestütztes Regime des Industrialismus und der »Moderne« ist theoretisch im Prinzip autonom gegenüber dem Kapitalismus, ist nicht eine bloße und notwendige »Ableitung« des Kapitalismus. Auch nicht-kapitalistische politökonomische Regime des Industrialismus bzw. der Moderne wären auf statistische Verdatung und Um-Verteilung angewiesen, wie es auch die Leninismen gezeigt haben. Historisch ist allerdings seit dem 18. Jahrhundert infolge langer Koevolution und durch Schübe von »Reformen« in mehreren schweren Krisen eine enge Kopplung (Symbiose) zwischen Kapitalismus und Normalismus entstanden. Die kapitalistischen statistischen Kurven, symbolisch am sichtbarsten die Börsenkurven, bilden eine wesentliche Komponente der normalistischen »Kurvenlandschaft«. In einer symbolisch gaußoiden Verteilung (also einer Massenverteilung mit starker Zentraltendenz und gegen Null sich verdünnenden Ausläufern der Kurve an den Extremen) nimmt der Grad an Normalität, der in der »Mitte« am größten ist, in Richtung der Extreme ab. Irgendwo endet die Normalität

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ganz: an dieser Grenze beginnt die Anormalität. Beispiel Soziales: supernormaler Reichtum bzw. subnormale Armut. Je nach historischer Phase und je nach Gesellschaft können die Normalitätsgrenzen »enger« oder »weiter« gelegt werden. Beispiel Sexualität: entweder bloß monogame Heterosexualität normal und alles andere anormal, oder Inklusion/Integration möglichst vieler früherer »Anormalitäten« in das normale Spektrum. Die normalistische Strategie mit engem Normalspektrum, breiten Bereichen der Anormalität und massiven Normalitätsgrenzen (Gefängnis-, Anstalts- und KZ-Mauern) nenne ich Protonormalismus, die heute herrschende umgekehrte Strategie mit breitem Normalspektrum, maximaler Inklusion und porösen Normalitätsgrenzen flexiblen Normalismus. Spezifisch soziale Normalität besteht infolgedessen unter modernen Verhältnissen in einer Struktur der Stratifikation des Lebensstandards, die sich einer symbolisch »gaußoiden« Verteilung mehr oder weniger annähert, worauf ich in Kürze noch näher eingehe. Da der Lebensstandard in modernen, monetarisierten Gesellschaften vor allem monetär (per monetärem »Einkommen«) gemessen wird, kann eine Gesellschaft als sozial »normal« gelten, in der erstens das Kontinuum nicht durch »Risse« oder »Löcher« unterbrochen ist, und in der zweitens breite Schichten mittlerer Einkommen (»middle classes«) dominieren, während die oberen und unteren Extreme sich grob gesehen symmetrisch in Richtung geringer Besetzungen ausdünnen. Denormalisierung ist dementsprechend Verlust dieser Art von Normalität – etwa dadurch, dass eine symbolisch gaußoide Verteilung stark schief (»Schieflage«) oder gar durch einen »Riss« diskontiniuierlich wird. Jede Denormalisierung schafft im Normalismus dringenden »Handlungsbedarf« nach Normalisierung.

R EGULIERUNG UND N ORMALISMUS Um die französischen Theorien der Prekarität (bzw. der Prekarisierung und des Prekariats), auf die ich mich im folgenden beziehen werde, zu begreifen, ist kurz an einige ihrer Voraussetzungen zu erinnern. Da ist zunächst die grundlegende These der Regulations-Schulen, nach der wir es bei dem Ensemble der »sozialen Netze« im sog. Wohlfahrtsstaat mit einem staatlich garantierten kollektiven Eigentum der »beschäftigten« Lohnabhängigen zu tun haben. »Beschäftigung« (emploi) ist dabei sozusagen als staatlich garantierte individuelle Teilhabe an dem Kollektiveigentum zu verstehen. Das ist mit »Status« gemeint: Es betont die juristische Einklagbarkeit, die in Analogie zu einem Eigentumstitel begriffen wird: So wie die Kapitaleigner per Aktien einen Anteil am Großkapital besitzen, so die »Beschäftigten« am Kollektiveigentum der sozialen Sicherheit (vgl. Castel 1995; 2007; ebd./Haroche 2001). Von dieser These aus erklärt sich die spezifische Dramatisierung der neoliberal genannten »Reformen« in

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Frankreich: Sie werden als gigantische entschädigungslose Enteignungsaktion von epochaler, wahrhaft historischer Bedeutung eingeschätzt. So genügte es festzustellen, dass die Europa-Verfassung auf dieser Welle schwimmt, um sie in Frankreich unannehmbar zu machen. Normalismustheoretisch betrachtet, stellt sich Regulation im Sinne der französischen Soziologie als spezifische Form von Normalisierung dar. Die »freien« (kapitalistischen) Kapital- und Arbeitsmärkte produzieren spontan einen breiten Fächer verschiedener sozialer Verteilungen des Lebensstandards, wobei lediglich der Pol gleicher oder auch bloß annähernd ähnlicher Lebensstandards ausscheidet. Den umgekehrten Extrempol der »Pyramide« (die meisten arm, je reicher, um so weniger) hielt noch Jean-Baptiste Say für gesetzmäßig – und Marx zeigte, im Einklang mit den damaligen empirischen Daten, dass die Basis der Pyramide sich tendenziell verbreiterte, dass der Anteil arbeitslosen und arbeitenden Elends in ihr zunahm und dass die Kontinuität zu den höheren Schichten tendenziell abbrach – mit dem Resultat eines strukturell »abgehängten« Proletariats. Dabei stand die Diskontinuität (das »Abgehängtsein«) in krassem Gegensatz zu jeder Normalität, für deren mögliche Verteilungen die Kontinuität eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung darstellt: Jedes Individuum kennt viele andere Individuen gleicher Lage, viele direkt anschließend nach oben und viele direkt anschließend nach unten. Genauer wäre die entsprechende »Pyramide« also als ein breiter unterer »Sockel« vorzustellen, über dem in der Mitte eine relativ schmale und spitze Pyramide »in der Luft schweben« würde (Riss im Kontinuum, unbesetzte Zone zwischen Proletariat und middle class). Spontan können die freien Märkte verschiedene soziale Verteilungen zwischen den Polen der Pyramide und der symbolisch annähernden Normalverteilung (symbolisch »gaußoide« Verteilung) produzieren: von der »Flasche« über den »Bocksbeutel« bis zum »Rhombus« oder zur »Zwiebel« – aber auch die »oben gespitzte Sanduhr« (Wegfall einer Mitte). Das Ideal aller kapitalistischen Alternativen zu sozialistischen Vorstellungen ist dabei die Normalverteilung des Lebensstandards, weil sie eine eigene, evident wirkende Form von Akzeptanz impliziert: Wenn die große Mehrzahl der Bevölkerung einen mittleren Lebensstandard genießt und dieser Standard sowohl nach oben wie nach unten kontinuierlich symmetrisch »gaußoid« numerisch abnimmt, dann können die oberen und unteren Spitzen akzeptiert werden, sofern sie als für die Reproduktion der Gesamtverteilung notwendig erscheinen. Theoretisch gesehen, geht es also im Normalismus um die Subjektivierung objektiver sozialer Lagen und umgekehrt. Dazu kann ein kulturwissenschaftlicher Ansatz, wie ihn die Diskurs- und Interdiskurstheorie darstellt, einen substanziellen Beitrag leisten. So gehören die erwähnten »Bilder« für verschiedene Strukturen gesellschaftlicher Stratifikation zum Bereich der Kollektivsymbolik (vgl. Link 2003), wodurch »objektive« statistische Lagen – etwa in Form bebil-

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derter Infografiken oder exemplarischer Sozialreportagen als Fallgeschichten – zur »subjektiven« Applikation aufbereitet werden. Unter Applikation sei die Gesamtheit von »Identifikationen«, »Gegenidentifikationen« und »Entidentifizierungen« verstanden (vgl. Pêcheux 1984). Die Applikation findet im »Alltag« (Bereich des Elementar- und Interdiskurses) statt: So wird ein Slumbewohner, der in Richtung Stadt eine »leere« no-go-Zone durchqueren muss, sich kaum mit dem »Zwiebel«-Modell einer kontinuierlichen »Mittelstandsgesellschaft« identifizieren können, während das einem Kleingärtner, der viele etwas bessergestellte und viele etwas schlechtergestellte Kollegen und Nachbarn kennt, sehr viel leichter fallen dürfte. Der erste wird sich subjektiv als denormalisiert, der zweite als normal wahrnehmen. Diese Art von normalistischer Subjektivierung objektiver Datenlagen (und umgekehrt) spielt eine entscheidende Rolle bei der Bildung von »Konsensen« (vgl. Link 2009) sowie von »Stimmungslagen« bezüglich »Gerechtigkeit« oder »Fairness« in normalistischen Kulturen.

»L IBER AL« VS . » SOZIALDEMOKR ATISCH « GLEICH SOZIALE N ORMALITÄT DURCH SPONTANES TRICKLING - DOWN PLUS P RIVAT VERSICHERUNG VS . DURCH STA ATLICHE R EGUL ATION »Liberal« mag man nun eine Auffassung nennen, nach der sich die symbolisch annähernde Normalverteilung des Lebensstandards ohne staatliche Maßnahmen der Um-Verteilung mittels eines spontanen trickling-down (Wieder-Herunterrieseln des Reichtums von oben nach unten), kombiniert mit privaten Versicherungen, reproduzieren könne und werde. Der Pferdefuß dieses Modells liegt dabei darin, dass die Fähigkeit zu ausreichender privater Versicherung vom jeweiligen (absolut ungarantierten) Anteil am trickling-down abhängt. Als Beweis des guten Funktionierens werden die USA angeführt: Abgesehen von der dortigen erheblichen »abgehängten« Unterschicht beruht das Funktionieren aber auf ständig steigenden Börsenkursen der privaten Versicherungen, die wiederum zum größten Teil auf einer einmaligen »Supermacht-Monopolrente« beruhen dürften.2 »Sozialdemokratisch« nannte man früher die alternative Strategie der staatlich garantierten Normalisierung der Verteilung mittels Um-Verteilung – bis die realexistierende Sozialdemokratie in unseren Tagen diese Signatur desavouierte und zur Ideologie des trickling-down konvertierte. Wie Bodo Hombach, seiner2 | Eine Weltfinanzkrise später liegt das Modell des trickling-down in Scherben. Ein großer Teil der amerikanischen lower middle class hat infolge des Börsencrashs 2008 dramatische Kürzungen seiner Altersrenten erlitten. Die vorläufige Reaktion »dann arbeite ich eben länger« wird demnächst dem Test chronischer Arbeitslosigkeit ausgesetzt werden.

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zeit erster Kanzleramtschef unter Schröder, dann Chefnormalisierer im Kosovo und seither Chef des großen europäischen WAZ-Konzerns, es in der ersten Zeit der rot-grünen Euphorie etwas naiv ausgesprochen hatte: »In der Sozialpolitik müssen wir […] das soziale Netz umbauen zu einem Trampolin, mit dem die aus der Arbeitswelt Gefallenen wieder auf die Beine zurückgefedert werden« (1998: 73). Das war 1998 die symbolische Verdichtung der inzwischen weitgehend realisierten Agenda 2010. Genau das ist das Rezept für Prekarisierung: Aufstellung des Trampolins, partieller oder völliger Wegfall des alten sozialen Netzes ohne Errichtung eines neuen. Die »sozialen Netze« besaßen (und besitzen) mehrere normalisierende Funktionen: 1. Sie schützen die soziale Verteilung gegen das Risiko des Risses im Kontinuum, schützen also die Kontinuität. 2. Sie fangen die sinkenden Strata mittels staatlicher und/oder staatlich garantierter korporativer Kompensationen (unbefristete Einstellung, Kündigungsschutz, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Krankengeld, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rente) vor dem Absturz in die untere Spitze auf und verhindern so die Verbreiterung dieser unteren Spitze zu einem »Flaschenboden«. 3. Indem sie einen »Beschäftigten-Status« garantieren (z.B. durch Festeinstellung und Kündigungsschutz), bewahren sie tendenziell vor Abwärtsspiralen und fördern statt dessen mindestens »Besitzstandswahrung« (deshalb ein Horrorwort für »Reformer«) oder sogar Aufwärtsspiralen. Dadurch wirken sie tendenziell gegen ein »Auslaufen« des Glockenbauchs der Verteilungskurve nach unten und fördern die annähernde symbolische Glockenförmigkeit der Verteilung insgesamt. Wenn die französische Soziologie der Prekarität die »Reformen« also als epochale entschädigungslose Enteignung eines kollektiven Eigentums auffasst, so ist das normalismustheoretisch identisch mit einer epochalen Denormalisierung. Die Enteignung des »Status der Beschäftigung« bedeutet für die unteren Strata, die sich keine ausreichenden privaten Versicherungen leisten können, den Entzug der normalistischen »Sicherheit« (Ver-Sicherung). Der Wegfall bzw. die erhebliche Schrumpfung der drei oben genannten normalisierenden Funktionen der »sozialen Netze« birgt außerdem die Risiken des Risses im Kontinuum der sozialen Verteilung (das Risiko des »Abgehängtwerdens«) und der Bildung eines breiten »Flaschenbodens« (»abgehängtes Prekariat«).

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D ISKONTINUITÄT UND Z EIT WEILIGKEIT ALS S TRUK TURMERKMALE DER P REK ARITÄT (P ATRICK C INGOL ANI) Patrick Cingolani, einer der Hauptvertreter der französischen Prekaritätsforschung, unterscheidet drei Aspekte von Prekarität (vgl. 1986; 2005; sowie in diesem Band), zwei eher objektive und einen eher subjektiven: Erstens geht es objektiv um die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (verstärkt durch »Reformen«). Als wesentliches Strukturmerkmal betrachtet Cingolani die Diskontinuierung und die Zeitweiligkeit mit Unterbrechung: Der einzelne Werktätige, in normalistischer Symbolik das einzelne Kügelchen, tritt nicht länger in einen kontinuierlichen parcours ein, sondern hangelt sich von Teilzeitjob zu Teilzeitjob, oder von Praktikum zu Praktikum, oder von befristetem Job zu befristetem Job, kurz von »Projekt« zu »Projekt«, wie es Luc Boltanski und Ève Chiapello resümieren (vgl. 2003). In den Zwischenzeiten liegen Phasen von Arbeitslosigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Umschulung. Strukturell wird damit das »Normalarbeitsverhältnis« der Phase des Sozialstaats aufgekündigt. Dieses Verhältnis war (idealtypisch für den Mann) durch eine kontinuierliche biographische Kurve in Gestalt eines umgekerhten J mit anschließender Horizontale oder auch einer quergestellten Sichel gekennzeichnet: Aufschwung in der Jugend durch Lernen, Lehre, Berufseinstieg und weiteren Aufstieg, bis zur (relativ frühen) Einmündung in eine stabile »Position«. Diese kontinuierliche Kurve wird durch die Flexibilisierung vielfältig gebrochen, und es entsteht eine diskontinuierliche Kurve mit bloß noch statistisch generierter Haupttendenz, die flexibilisierten »Beziehungs«-Kurven verblüffend ähnelt. Insofern darf zweitens ein subjektiver Aspekt nicht unterschlagen werden: Von bestimmten Subjektivitäten, vor allem jungen mit Qualifikationen und sog. postmodernen Mentalitäten, kann die Prekarisierung als Emanzipation erfahren werden: Wechselnde Erfahrungen statt langfristiger Festlegungen, Pausen als sogenannte »Auszeiten«, die kreativ genutzt werden können, Verbreiterung des Spektrums der Fähigkeiten. Dieses positive Trampolingefühl stoße jedoch drittens wiederum an eine neuerliche objektive Grenze, und zwar die des Risikos eines definitiven Absturzes in Billiglohnjobs und/oder Arbeitslosigkeit auf Dauer, also in das, was auch als »neue Armut« bezeichnet wird bzw. eben als »Prekariat«. Wir haben es also beim Absturz mit einer grundsätzlich anderen Spielart von Diskontinuität als bei dem bloßen Wechsel zwischen »Projekten« zu tun, worauf ich zurückkommen werde. Unter normalismustheoretischem Aspekt erscheint mir die Betonung einer »disziplinierenden Funktion« und einer »Selektionsfunktion« (fonction de sélection) der prekären Diskontinuität bei Cingolani wichtig: Durch die Drohung mit dem Absturz und die Hoffnung auf mehr Kontinuität ließen sich die willigen von den unwilligen Subjekten differenzieren, so dass die unwilligen in das Kernprekariat hinab ausgesiebt werden könnten. Die Selektion funktioniere viel glatter, wenn an den vielen Punk-

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ten von Diskontinuität lediglich »nicht verlängert« zu werden brauche (statt der aktiven Entlassung aus einer Dauertätigkeit früher). Sehr wichtig ist auch die Beobachtung, dass die Tendenz von Wirtschaft und Politik auf eine allgemeine Prekarisierung der Berufseingangsphase ziele, in der eine erste grobe Selektion zwischen Billiglohnarbeitsmarkt, sehr häufig für Frauen und Einwanderer, und Kernarbeitsmarkt getroffen werde.

Z WEI S PIEL ARTEN VON PREK ÄRER D ISKONTINUITÄT, Z WEI S PIEL ARTEN VON P REK ARITÄT Normalismustheoretisch betrachtet, wäre deutlich zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Spielarten der prekären Diskontinuität, wie Cingolani sie beschreibt, zu unterscheiden. Dabei geht es zunächst um Diskontinuitäten in der individuellen Lebenskurve, etwa durch Phasen der Arbeitslosigkeit, Umschulung oder eines befristeten »Jobs«. Von anderer Qualität ist aber die Diskontinuität der definitiven Verarmung (zweiter »objektiver« Aspekt von Prekarisierung): Hier geht es um eine Diskontinuität, die in ihrem Wesen nicht bloß individuell, sondern gleichzeitig kollektiv ist, weil sie mit einem durchgehenden Riss in der sozialen Verteilungskurve einhergeht (»abgehängt werden«). Am Modell von Hombach lässt sich der Unterschied so exemplifizieren: Bei der ersten Diskontinuität fällt das soziale Kügelchen tatsächlich auf das Trampolin und wird tatsächlich in einen neuen »Job« katapultiert – im zweiten Fall fällt es daneben bzw. herunter und bleibt unten liegen. Eine neosozialdarwinistische Sicht (verharmlosend »neoliberal« genannt) führt den Unterschied auf unterschiedliche individuelle »Motivation« und »Leistung« zurück – in Wirklichkeit geschieht die Selektion, wie von Cingolani belegt, nach strukturellen Kriterien wie Ausbildung, Alter und Geschlecht. Der »abgehängte Billiglohnarbeitsmarkt« ist vom neuesten Globalkapital gewollt, und geht strukturell mit der neuerlichen Enklavenbildung einer Zweiten Normalitätsklasse innerhalb der Ersten parallel (vgl. Link 2006: 431-444). Wenn es auch manchmal so scheint, als mache sich die Elite der GlobalPlayer-Kapitalisten keine allzu großen Sorgen wegen des drohenden Risses im unteren Segment der sozialen Verteilungskurve, ja als favorisiere sie die Entstehung eines besonderen Billiglohnarbeitsmarkts, so gilt das nicht gleichermaßen für die hegemoniale politische Elite. Offensichtlich lehnen die Global Players sich ruhig zurück, weil sie auf die durch den Kollaps des Ostblocks und den Übergang Chinas zum Kapitalismus entstandene Alternativlosigkeit ihres Systems bauen. Auch in der politischen Elite scheint keineswegs die Sorge vor einer drohenden Renaissance von Sozialismen umzugehen, wohl aber die Furcht vor Denormalisierungen, die »chaotische« Ausmaße annehmen könnten. Gegen solche Gefahren des Risses werden mit zunehmender Deutlichkeit

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Ersatzdispositive für die liquidierten sozialen Netze in Stellung gebracht, deren gemeinsamer Nenner in einer Art von »gemildertem« Arbeitszwang besteht, wie er in Deutschland exemplarisch durch die Hartz-IV-Dispositive (Zwang zur Annahme von Ein-Euro-Jobs) vertreten ist. Man nennt das euphemistisch »aktivierende Sozialpolitik« (sehr aktivierend war allerdings auch der faschistische Arbeitsdienst). Durch diesen Arbeitszwang soft möchte die »Reform«-Politik drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: 1. kapitalistisch unrentable öffentliche Dienstleistungen (darunter immerhin auch solche der Bildung und Wissensvermittlung) aufrecht zu erhalten; 2. die Arbeitslosenstatistik zu senken und damit einen symbolisch »normalisierenden« Effekt zu erzielen; 3. durch die Bildung eines Hartz-IV-Prekariats »mit Zulagen« den Riss des sozialen Kontinuums zu verhindern. (Durch die Megakrise von 2008ff. scheint hier geradezu eine Revolution in Gang gesetzt worden zu sein: Während die »neoliberalen« Superprofitklassen auf Tauchstation gehen, überschlagen und überbieten sich die politischen Klassen der westlichen Länder in Staatsinterventionismus. Bedeutet das eine Weichenstellung zurück zum »sozialdemokratischen« Sozialstaat? Das ist in Zeiten der erwartbaren chronischen Arbeitslosigkeit eine unmögliche Option. Strukturell stehen die politischen Klassen also im Gegenteil vor der Notwendigkeit, die Prekarität auszudehnen (am Beginn der Krise z.B. durch die Institutionalisierung chronischer Kurzarbeit) und auf Dauer zu stellen. Damit stehen sie allerdings auch vor der Frage, ob und wie »soziale Netze« neuen Typs für die strukturelle Prekarität geschaffen werden könnten oder sollten – vgl. dazu den Schlussabschnitt dieser Überlegungen – und wie sie ggf. finanzierbar wären. Dabei hat die Krise zusätzliche enorme Legitimationsprobleme geschaffen, weil die staatlichen »Bailout-Netze« für Banken und andere Großkapitalien in ihrem Umfang von Billionen (Billionen!) Euros bzw. Dollars den einfach unbeschreiblichen Reichtum der westlichen Gesellschaften enthüllt haben und das Argument, für soziale Netze fehle das Geld, dadurch stark invalidiert worden ist. In der strukturell prekarisierten Gesellschaft unter Krisenbedingungen hat sich das Risiko des »Risses« natürlich erheblich vergrößert. Eine »Brüning-Politik«, wie der IWF sie Ländern unterer Normalitätsklassen wie Ungarn, Lettland, Irland noch immer aufzwingt, bedeutet den »Riss« und damit die katastrofische Denormalisierung.)

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Z WEI P REK ARIATE : DAS » ABGEHÄNGTE « UND DAS » TR ANSVERSALE « Wie es auch resümierende Glossen über semantische Innovationen des Jahres 2006 in Deutschland konstatieren, gehörte das (vermutlich von Robert Castel »erfundene«) »Prekariat« (neben der »Fanmeile«) zu den auffälligsten »Durchbrüchen«. Dass es sich um einen Import aus Frankreich handelte, wurde häufig unterschlagen (vermutlich, um den Begriff nicht gleich zu desavouieren). Aber natürlich beruhten auch die teils medial bekannt gewordenen Befragungen und Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (»Gesellschaft im Reformprozess«3) auf den Vorgaben der französischen Soziologie (vgl. Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006)4 . Die deutsche Debatte um die Existenz oder Nichtexistenz einer »Unterschicht« war (im technischen Sinne einer Verwechslungs-Komödie) komisch. Dieser alte Terminus (den man seinerzeit als »erlaubt« eingeführt hatte, weil man nicht »Klasse« sagen durfte, was ja marxistisch war) galt nun plötzlich als anstößig – und zwar, weil er nun als »deutsche Übersetzung« von »abgehängtes Prekariat« funktionierte. Warum Kurt Beck vor beidem zurückschreckte, wusste er vermutlich selber nicht – wir können es ihm aber erklären: Der springende Punkt war sicher das »abgehängt«, also der Riss des normalistischen Kontinuums, also die Denormalisierung. Das ist die Achillesferse der »Reformen«, dass sie Denormalisierung bedeuten. Genau das kann man von keinem »Reformer« hören: Dass mindestens einige Resultate seiner Reformen alles andere als »normal« sind (wenn er auch sonst alles mögliche entweder »völlig normal« oder »keineswegs normal« finden wird). Wir haben es also mit zwei Prekariaten zu tun: 1. einem subnormalen Stratum (»Unterschicht«), dessen Kontinuität mit der sozialen Gesamtverteilung abgerissen ist (dritter Aspekt nach Cingolani), dessen Nichtnormalität demnach nicht zu verbergen ist und das rundum einen Skandal darstellt –

3 | Diese Studie bezieht sich auf subjektive Einschätzungen der Bevölkerung und teilt die Gesamtverteilung in neun Milieus auf, die je nach ihrer Akzeptanz oder Ablehnung der »Reformen« sowohl auf Parteienpräferenzen wie auf Stratifikation bezogen werden. Das neunte, unterste Milieu heißt eben »abgehängtes Prekariat«. Interessant ist u.a. der Befund, dass 61 % der Bevölkerung meinen: »Es gibt keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten« (»oben zugespitzte Sanduhr«). Das ist objektiv sicher übertrieben, zeigt aber das subjektive Gefühl einer epochalen Denormalisierung – deutlich als Gefühl des »ausgelaufenen« Glockenbauchs. 4 | Das ist ganz explizit in der sorgfältigen Studie von Ulrich Brinkmann/Klaus Dörre/ Silke Röbenack über Prekäre Beschäftigung (Internet 2006).

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2. einer sich quer durch die Stratifikation erstreckenden neuen sozialen Situation, die als Resultat der Flexibilisierung plus Wegfall bzw. Schrumpfung der sozialen Netze (»Trampolinisierung« nach Hombach) entstanden ist – nennen wir diese Situation das »transversale« Prekariat. Von dieser zweiten, transversalen Prekarisierung (Aspekte eins und zwei nach Cingolani) handelt Robert Castel (vgl. 2007) in Gestalt einer grundsätzlichen Reflexion. Für dieses zweite Prekariat ist gerade die Transgression der Strata charakteristisch: »Prekär« in diesem Sinne ist sowohl die Situation einer Aushilfskraft im Supermarkt wie die eines Jugendlichen mit Abitur, der befristet in einer kleinen Softwarefirma »jobbt«, wie die einer promovierten arbeitslosen Philosophin, die zu einem Ein-Euro-Job genötigt ist, wie die eines »zu alten« habilitierten Wissenschaftlers ohne universitäre Anstellung. »Subjektiv« erscheint so etwas wie die Herausbildung eines gemeinsamen Bewusstseins dieses transversalen Prekariats und damit die Voraussetzung einer solidarischen gemeinsamen Aktion nicht einfach zu sein – am ehesten wahrscheinlich längs der Computerisierung sowohl der »einfachen« wie der wissensbasierten Tätigkeiten. »Objektiv« liegt die Gemeinsamkeit in einer Art von »Gravitation«, die alle Betroffenen mit einer durchgehenden Abwärtsspirale, bis hin zum »Abgehängtwerden«, bedroht. Diese Gravitation nimmt mit dem Alter zu; schon die Schwelle von 30 Jahren impliziert, auch unabhängig von einer »Familiengründung«, für die meisten ein erheblich erhöhtes Bedürfnis nach normalistischer Ver-Sicherung. (Dass übrigens die transversale Prekarisierung – anders als die eines subnormalen Stratums – die neuerdings so vehement eingeklagte demographische Reproduktion direkt konterkariert, sei nur am Rande vermerkt). Nach der Schwelle von 30 Jahren nimmt die Bereitschaft, ständig den »Job« zu wechseln, außer bei lebenslangen Yuppies mit Anschluss an die Dynamik der Börsen (jedenfalls vor 2008), bei der Mehrheit der normalen Individuen rapide ab.

P FERDEFÜSSE DER F LE XIBILISIERUNG UND EINIGES TR ANSNORMALISTISCH B E WAHRENSWERTE MIT PROTONORMALISTISCHER F ARBE Im Versuch über den Normalismus ist gezeigt worden, dass wir es historisch mit zwei idealtypisch entgegengesetzten fundamentalen normalistischen Strategien zu tun haben: einer »protonormalistischen« und einer »flexibel-normalistischen«. Während die erste das Normalspektrum maximal kondensiert und die Anormalitäten entsprechend häuft, dehnt die zweite umgekehrt das Normalspektrum möglichst aus, was mit der Inklusion und Integration protonormalistischer Anormalitäten (wie z.B. sexueller »Perversitäten«) identisch ist. Die

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entsprechende Problematik kann an dieser Stelle nicht nochmals ausgeführt werden; es genüge zum Verständnis des folgenden dieser kurze allgemeine Hinweis. Beide Strategien sind normalistisch beschränkt; meistens bietet aber der flexible Normalismus lebenswertere Möglichkeiten. Ebenso aber muss um solcher lebenswerter Möglichkeiten willen in vielen Fällen der Normalismus grundsätzlich, also auch der flexible Normalismus, überschritten werden. Solche Überschreitungen kann man transnormalistisch nennen. Flexibel-normalistisch ist nicht einfach mit flexibel identisch: Wo eine Flexibilität nicht normalisiert wird, fällt sie aus dem Normalismus heraus. Das gilt es bei den folgenden Überlegungen zu berücksichtigen. Obwohl die Propaganda der »Flexibilität« inzwischen schon fast den Ekel ausgelatschter ObstblockParolen erweckt, besaß sie einmal attraktive Elemente, wie sie den zweiten, »subjektiven« Aspekt der Prekarität nach Cingolani kennzeichnen. Die »Enge« des (protonormalistischen) »Normalarbeitsverhältnisses«, die große Teile der werktätigen Bevölkerung (insbesondere angelernte Arbeiter) lebenslang in eine oft genug langweilige Spezialarbeit presste (und durchaus weiter presst), stellt sicher kein Ideal menschlicher Tätigkeit dar. Deshalb haben ja konkret utopische bis annähernd realistische as-sociative und kulturrevolutionäre (darunter anarchistische wie sozialistische) Überlegungen sowohl über Modelle der wechselnden Multitätigkeit wie der Rotation nachgedacht. Konkreter schon ging es um das Recht auf lebenslanges Lernen und seine gesellschaftlich garantierte Alimentierung. Dabei handelt es sich natürlich um transnormalistische, d.h. vom Idealtypus der symbolisch gaußoiden Verteilung ganz unabhängige, eurhythmische bzw. polyeurhythmische (einen guten Lebensrhythmus für alle erstrebende), mehr oder weniger egalitäre Modelle. Der flexible Normalismus geht zwar nicht so weit, bietet aber (z.B. durch Inklusion bzw. Integration von Behinderten oder sexuellen Minderheiten in das normale Spektrum, oder durch gender mainstreaming) in einer Reihe von Bereichen eine Verbreiterung des Spektrums der »Optionen«. Das gilt im Prinzip auch für einige Aspekte der Flexibilisierung der Arbeitsbiographie durch häufigere Umschulungen (insbesondere im ICT-Bereich) und die Diversifizierung von »Projekten« (zweiter, »subjektiver« Aspekt von Prekarisierung nach Cingolani und »neuer Geist des Kapitalismus« nach Boltanski/Chiapello). Genau diesen potentiell positiven Aspekt haben die französischen Soziologen durchaus im Blick. Sie betonen aber den entscheidenden Pferdefuß, der darin besteht, dass es für diese Flexibilisierung (noch) keine neuen, dazu passenden sozialen Netze gibt. Oder, normalismustheoretisch gesagt: Flexibilierung minus Normalität gleich Prekarität. Gerade weil die arbeitsbiographische Kurve durch die Flexibilisierung gestückelt, verkurzzeitigt und diskontinuiert wird, braucht der flexibilisierte Werktätige eine um so größere Sicherung für die Bruchpunkte und Übergangszeiten – normalismustheoretisch gesagt: braucht er neue Typen von normalistischer Ver-Sicherung, neue Typen von Normalität

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und Normalisierung. Statt dessen geht die realexistierende Flexibilisierung mit der Liquidierung bzw. Schrumpfung der bisherigen normalistischen Sicherungen einher. Erleichtert wird diese Politik der Liquidierung und Schrumpfung (»Reformen«) dadurch, dass einige der bisherigen Sicherungen eine protonormalistische Farbe von »Enge« und »Starrheit« zu tragen scheinen, wie eben der lebenslange ultraspezialistische »Beruf« oder der Normalarbeitstag und bezahlte Minimalurlaub oder die Ladensschlusszeiten oder der feste Renteneintritt. Scheinbar haben die Verteidiger solcher Sicherungen, etwa in den Gewerkschaften, im mediopolitischen Diskurs schlechte Karten, weil sie angeblich »rigide« an protonormalistischen »Starrheiten« kleben. Bei dieser Polemik handelt es sich allerdings um Begriffsverwirrung: Fixe Regelungen wie der Normalarbeitstag oder die Nachtruhe oder der Minimalurlaub sind transnormalistische, eurhythmische Schwellenwerte, die auch unabhängig vom Normalismus als »soziale Menschenrechte« Bestand haben. Sie wurden in den Normalismus in Form von Grenzwerten integriert und passten in der Tat gut in die protonormalistischen Dispositive. Bei solchen Regelungen ist also, um nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, sorgfältig zwischen dem garantierten eurhythmischen Minimum (Kind) und einer spezifisch protonormalistischen Enge (Bad) zu unterscheiden. Das gilt auch für das grundlegende Problem der Breite der Spreizung des sozialen Kontinuums: Auch hier trägt eine engere Spreizung (kleinerer Maximalabstand zwischen der oberen und unteren Spitze der Verteilung) eine eher protonormalistische und eine größere Spreizung eine eher flexibel-normalistische Farbe. Wiederum aber ist die engere Spreizung, da egalitärer, transnormalistisch evidenter (»gerechter«). Die aktuelle enorme Dehnung der Spreizung (sowohl nach oben: Stichwort Aktienraketen und Managergehälter, wie nach unten: abgehängtes Prekariat) im Namen der Flexibilisierung hat in Wirklichkeit auch nichts mit flexiblem Normalismus zu tun, weil es ja an neuen Normalitäten fehlt.

W ELCHE NEUEN S ICHERUNGSDISPOSITIVE , UM DIE F LE XIBILITÄT ZU NORMALISIEREN ? Wenn also die eben erwähnte Gleichung gültig ist (Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität), dann lautet die Frage innerhalb des flexiblen Normalismus, welche neuen, spezifisch auf die Bedingungen des flexiblen Normalismus zugeschnittenen, Normalitäten an die Stelle der liquidierten oder geschrumpften alten treten können oder sollen. Bevor allerdings über solche möglichen Tauben auf dem Dach nachgedacht werden kann, ist mit Castel unbedingt zu fordern: keineswegs die Spatzen in der Hand (d.h. die bestehen-

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den sozialen Netze) vorzeitig wegfliegen lassen (wie es leider durch die Agenda 2010 schon großenteils geschehen ist). Anders gesagt: Keine entschädigungslose Enteignung kollektiven Eigentums. So haben die meisten Sicherungen des alten Sozialstaats gar nichts mit verhinderter Flexibilität zu tun, sondern sind allgemein normalistische Dispositive: Das gilt für Unfall- und Krankheitsschutz wie für Arbeitstag und Rentenalter. Nun scheinen aber z.B. die Festeinstellung und der Kündigungsschutz der Flexibilität zu widersprechen. Es ginge dann darum, ein Sicherungsdispositiv zu finden, das den Wechsel zwischen verschiedenen Werktätigkeiten einschließlich Übergangszeiten pauschal und nicht an individuelle Arbeitsverhältnisse gebunden versichern könnte. Castel nennt einige dieser Vorschläge gegen Ende seines Artikels in der »kulturrevolution«; dazu gehört ebenfalls das auch in Deutschland vieldiskutierte Dispositiv eines garantierten Mindesteinkommens (von nennenswertem Umfang).

R ESISTENZ GEGEN P REK ARISIERUNG ALS D ENORMALSIERUNG ? In der Fassung von 2006 dieser Überlegungen erwähnte ich die erfolgreiche französische Massenbewegung des gleichen Jahres gegen den neuen CPE (Vertrag Ersteinstellung) als möglicherweise exemplarisch. Dieses Gesetz sollte Ersteinstellungen vom Kündigungsschutz entkoppeln und stellte damit ein Musterbeispiel für Prekarisierung des Berufseinstiegs dar. Die insbesondere von der betroffenen Jugend selbst getragene Protestbewegung richtete sich auch wörtlich in erster Linie gegen die »précarité« und zwang die Regierung zum Rückzug. Ich sah darin das Modell für die eminent wichtige Möglichkeit, die Taktik des »Überrollens«5, mit der die »Reformer« meistens (besonders in Deutschland) Erfolg hatten, zu stoppen und allererst Zeit für Resistenz (als erstes für breite Information) zu gewinnen. Unter den völlig neuen Bedingungen der Megakrise seit 2008 ist auch die Frage der Resistenz, sowohl was ihre Ziele wie ihre Mittel angeht, ganz neu zu stellen. Strukturell sind alle einzelnen Denormalisierungen infolge von einzelnen Prekarisierungen nun durch den globalen und generellen Denormalisierungsschub der Krise überdeterminiert. Die notständische Politik eines bisher für unvorstellbar gehaltenen Grades an Staatsinterventionismus (bis hin zur Vorstellung eines verstaatlichten Finanzsystems am Horizont) stellt zum einen eine weitere Klimax der Taktik des »Überrollens« und der »Shock Therapies« dar (überfallartige Notstandsgesetze und Notverordnungen an »schwarzen Wochenenden«). Zum anderen offenbart diese Politik aber den gigantischen Reichtum westlicher Gesellschaften und also z.B. konkret die Möglichkeit, ein substanzielles garantiertes Mindesteinkommen und substanziell garantierte 5 | Das ist die gleiche Taktik, die Naomi Klein (2007) als »Shock Therapy« bezeichnet.

Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität?

Optionen aller Arbeitslosen nicht bloß auf eng fachlich bezogene Umschulungen, sondern auch auf eine Art ökonomisches und/oder soziologisches und/ oder kulturwissenschaftliches Erwachsenenstudium zu institutionalisieren. Ein solches Studium während der Wartezeiten zwischen lohnabhängigen Tätigkeiten müsste pluralistisch ausgerichtet sein und neben hegemonialen auch kritische Ansätze einschließen. Was die Durchsetzungsmittel betrifft, so eröffnet die Kopplung zwischen einzelnen Prekarisierungen und dem Prozess der Megakrise im Prinzip die Einbeziehung eines vermutlich bald quantitativ »explodierenden« Prekariats in gewerkschaftliche Streik- und Besetzungsaktionen. Was konkrete Ziele wie Verstaatlichungen betrifft, so stehen plötzlich auch »utopische« Alternativen wie die von volldemokratischen Vergesellschaftungen auf der Tagesordnung.

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II Die Passage zum Prekariat: Handlungsperspektiven

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive Marianne Pieper

P REK ARITÄT – B EGRIFFE UND K ONTE X TUALISIERUNGEN Die exzessive Produktivität diskursiver Konjunkturen hat dem Neologismus Prekarität1 eine changierende Bedeutungsvielfalt verliehen. Je nach sozialem, geopolitischem und historischem Kontext, variieren und verschieben sich die Bedeutungen unterhalb des Signifikanten »Prekarität« und bilden neue Konturen aus. Im deutschsprachigen Feuilleton und in Politikerreden grassiert diese Begriffsfigur vor allem als Amalgam aus dem lateinischen precarium und dem Marxschen »Proletariat«: als das »Prekariat«. Dessen diskursive Figur verdichtet sich in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Müller-Hilmer 2006) zu dem mit Ressentiments geladen »abgehängten Prekariat«2 . Dieses fungiert als Synonym für die ebenso diskreditierende wie denunziatorische Vokabel der »neuen Unterschicht« sowie als innovative Bezeichnungspraxis für eine auch in den Sozialwissenschaften geführte Verelendungsdebatte über die Protagonist/-innen einer neuen Armut und deren vermeintlich selbst induzierte und selbst zu verantwortende Ausschlusspraktiken3 . Bemerkenswert an dieser Form 1 | Alltagssprachlich wird der Begriff »prekär« mit »provisorisch«, vorübergehend«, »unsicher« übersetzt, abgeleitet aus dem französischen »précaire«, was soviel wie »durch Bitten erlangt«, »widerruflich« oder »auf Widerruf gewährt« bedeutet. Bereits das römische Recht kennt das »precarium« als ein auf eine Bitte hin eingeräumtes Recht, das allerdings keinen Rechtsanspruch begründet. 2 | Kurt Beck, damaliger SPD-Vorsitzender, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 8.10.2006. 3 | So argumentiert der Kasseler Soziologe Heinz Bude in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2006), dass das Problem beim »abgehängten Proletariat« darin bestehe, »dass sich die Betreffenden aussortiert fühlen und sich im sozialen Aus sehen.« Es habe ein »wachsender Teil unserer Gesellschaft den Anspruch aufgegeben, ein Leben in eigener Regie zu führen«. Bei diesen handele es sich um »›gebrochene Existenzen‹, an denen Anforderungen zur Weiterbildung und Zumutungen von Eigenverantwortung abprallen.«

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der Wissensproduktion ist die Konstruktion des Ausschlusses als Effekt »gefühlter Ausschlüsse«, die ihrerseits Selbstexklusion produzierten und mithin die Verantwortlichkeit für Exklusionsprozesse als »Selbst-Prekarisierung« (Lorey 2007: 122) interpretierbar machen. Weiter zugespitzt finden wir diese Argumentationsfigur der »selbst viktimisierenden Agent_innen des eigenen Ausschlusses« (Raunig 2008: 71) in der Rhetorik der »Überflüssigen« (Bude/Willisch 2006: 22) in »Gelegenheitsjobs und Scheinfirmen, mit prekären Beschäftigungsverhältnissen«, denen »im Alter Einsamkeit und Verwahrlosung« drohen und die überdies – ganz im Sinne der Culture of PovertyHypothese – »diese Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben und so zu einer Vererbung stiller Entkoppelung beitragen« (Bude/Willisch 2006: 22). Der Impetus einer solchen Argumentationsfigur ist evident: Ihre kritische Spitze richtet sich gegen diejenigen, die als »Überflüssige« und als das »abgehängte Prekariat« konstruiert werden: »Mangelnde Verantwortungsübernahme« auf Seiten der Eltern führe zu »sozialer Vererbung«, diese gerät gleichsam zur naturalisierenden Folie und zum Erklärungspotenzial sozialer Ungleichheit. Ganz im Sinne neoliberaler Gouvernementalität operiert hier eine Regierung von Armut und Unsicherheit über die Technologie der Responsibilisierung Betroffener. Sozialwissenschaftliche Diskussionen in Frankreich hingegen verzeichnen bereits seit den 1980er Jahren ein verstärktes Auftauchen des Begriffes précarité, der vor allem ungesicherte Arbeits- und Lebensverhältnisse charakterisiert. »Prekarität ist überall« unter diesem Titel skandalisierte Pierre Bourdieu (2004: 107ff.) in seiner vielzitierten theorie-politischen Intervention die ungesicherten Arbeitsverhältnisse. Bourdieu beschreibt Prekarität als Variante »symbolischer Gewalt«. Sie sei Teil einer innovativen Herrschaftsform, deren Wertschöpfungssystem über eine systematisch implementierte, auf Dauer gestellte Unsicherheit – eine Flexiploitation – operiere und die Menschen zur Akzeptanz ihrer Ausbeutung zwinge. Damit erkennt Bourdieu ein neues Regime der Mehrwertaneignung, aber er analysiert Prekarität – begrifflich verengt – als Unterwerfungsprojekt, in dem sich »objektive Unsicherheit« (Bourdieu 2004: 108) als subjektive Angst in Köpfe und Körper der Betroffenen einschreibe und nachhaltig die gesamte Gesellschaft zu durchdringen drohe.

Bezeichnend für diese Gruppe sei »ein verfestigtes Exklusionsempfinden, dass sich in dem Gefühl ausdrückt, dass es auf den Einzelnen nicht mehr ankommt.« Daher existiere in Deutschland gegenwärtig eine Zäsur zwischen denen, »die in der Welt der Chancen leben« und denen, »die sich in die Welt des Ausschlusses geworfen sehen«.

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive

D AS P REK ARIAT REBELLIERT Anders als in den beiden zuvor skizzierten Szenarien, die zum einen die »Selbstprekarisierung einer verantwortungslosen Klasse« skandalisieren oder in der Version Bourdieus eher die Vision einer ohnmächtigen, viktimisierten Klasse Ausgebeuteter heraufbeschwören, kehrt die transnationale »EuroMayDay-Bewegung« die politische Perspektive um. Sie wendet den Begriff »Prekariat« synkretistisch und artikuliert ihn offensiv als Kampfbegriff. Bereits die frühen Initiativen der Organisierung mit dem Notruf »Mayday« in Mailand 2001 oder »Stop Precarité« in Paris problematisieren zwar die prekären Verhältnisse, setzen Prekarität jedoch nicht mit Verelendung oder einem Opferstatus von gesellschaftlich Marginalisierten gleich. Personen und Gruppen in sehr heterogenen Lebenslagen prekärer Existenzweisen riefen dazu auf, sich zusammenzufinden, um in die traditionellen Repräsentationsformen der Arbeiterbewegung zu intervenieren.4 In deren politischen Ritualen und Forderungen zum »Tag der Arbeit« am ersten Mai seien die prekären Arbeits- und Lebensformen nicht mehr repräsentiert. Das in diesen Feiern zelebrierte Wunschszenario von Vollbeschäftigung und die dort beschworene Ordnung von Arbeit seien längst von einem Produktionsregime überholt worden, in dem nicht mehr Arbeit und Arbeitslosigkeit die Existenzformen bestimmten. Es ginge vielmehr um die aleatorischen Unbeständigkeiten einer Myriade von ungesicherten und fragmentierten Arbeits- und Lebensarrangements der Prekarität, die angesichts des Exodus aus fordistischen Arbeitsverhältnissen und der Transformation des Produktionsregimes entstanden seien. Nicht das Fehlen von Arbeit, sondern ein Übermaß an Arbeit, das das gesamte Leben zu vereinnahmen drohe, kennzeichne die gegenwärtige Situation. Charakteristisch sei vielmehr der Mangel an existenzieller Absicherung der alltäglichen Produktions- und Reproduktionstätigkeiten in der neuen postfordistischen Ausbeutungsordnung. Prekarität bezieht sich somit keineswegs nur auf spezifische Arbeitsverhältnisse und die Entgarantierung von Arbeitsplätzen, sondern auf komplexe, fragmentierte Verortungen und ungesicherte Existenzweisen sowie auf gestufte bzw. eingeschränkte Zugänge zu Rechten und zu Teilhabechancen an nationalstaatlichen Sicherungssystemen. Dies betrifft ein Kontinuum von Menschen, das von den Angehörigen eines elitären Kognitariats transversaler Prekärer einer »digitalen kosmopolitischen Bohème« (Raunig 2008: 69) der kreativen Klasse bis zu den Sans Papiers reicht. Eine Dichotomisierung in ein »abgehängtes« Erwerbslosenproletariat einerseits und ein autonomes »Luxusprekariat« von Akademiker/-innen andererseits beschreibe diese Situation nicht angemessen. 4 | Chainworkers, Mitglieder aus einem sozial-kulturellen Zentrum und eine Basisgewerkschaft mobilisierten zum ersten MayDay in Mailand (vgl. Hamm/Adolphs 2009: 321).

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Als 2002 die Paraden in Italien mit dem Slogan »Mayday. Il primo Maggio del precariato sociale« – »Der erste Mai des sozialen Prekariats« – auftreten, markiert dies eine Zäsur im Kontinuum von Viktimisierung und Ohnmacht. Mit der Selbstbezeichnung »precariato sociale« eignet sich die Bewegung die diskreditierende Formel »Prekariat« an. »Prekariato sociale« verweist auf die Prekarität der gesamten Sozialität und die Ausbeutung eines mehr oder weniger diskontiniuerlichen Alltags, aber auch darauf, dass der Begriff positiv gewendet als Selbstbezeichnungspraxis für eine im Entstehen begriffene soziale Bewegung reklamiert wird. Die Slogans »Das Prekariat rebelliert« (Berlin 2003) und »La Parade del precariato Europeo« (Mailand 2003) markieren, dass mit der Selbstbezeichnung Prekariat und Prekarität – statt Prekarisierung – die Formierung einer neuen politischen Kraft angestrebt wird, die den Passivierungsund Viktimisierungsstrategien zu entkommen sucht und auf die ambivalente Struktur prekärer Existenzweisen aufmerksam macht. Der Begriff »Prekariat« kann daher angesichts heterogener, schwer zu vereinheitlichender singulärer Lebensformen und Existenzbedingungen als strategischer Einsatz verstanden werden, um mit der Notwendigkeit zu konfrontieren, die radikal gewandelten politischen Bedingungen, die Transformation des Produktionsregimes ebenso wie die damit einhergehenden ungesicherten Existenzbedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Es gelte entsprechende innovative Politikformen, Konzepte, Forderungen und Untersuchungsperspektiven zu kreieren. Prekarität wird somit zur Chiffre für die Potenzialität der Formierung eines innovativen politischen Projekts und einer neuen – nicht-homogenen – Bewegung, die sich als »offener Prozess der zerstreuten Organisierung« (Raunig 2008: 77) bildet. Diese Bewegung hat zu neuen politischen Formen gefunden. Charakteristisch sind sowohl die Transnationalität5 der Bewegung – Paraden finden zeitlich synchronisiert in verschiedenen europäischen Städten statt – als auch die Vernetzung über das Web 2.0. Wichtig sind die Versuche, eine Transversalität der Kämpfe zu initiieren – zum Beispiel hinsichtlich der Verbindung zu Migrations- und Antirassismusbewegungen (Adolphs/Hamm 2008: 174). Aktivist/ -innengruppen setzen innovative Methoden ein zur Untersuchung der eigenen prekären Lebensverhältnisse und Bedürfnisse mittels sogenannter »derives«, »militanter Untersuchung« und des Mappings, mit denen das Terrain der Prekarität erkundet und zugleich zur Sphäre der politischen Intervention wird (vgl. Precarias a la deriva 2007; Negri 2003). Typisch ist überdies die Entwicklung neuer kreativer Aktionsformen, die sich auf Selbstaneignung – wie die »Aneignung der Straße« (»reclaim the streets«), die »Wiederaneignung der Stadt« 5 | Mit Recht weisen Birkner/Foltin (2006: 171) auf den »Westeurozentrismus« der Bewegung hin, der u.a. durch die Existenz bereits länger bestehender Netzwerke zu erklären sei.

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sowie auf Politiken des Affizierens und »vernetzter Affektionen« (Panagiotidi 2007: 3) beziehen und dabei eine Flut von Zeichen sowie Formen von Performativität, Theatralität und des Spektakels erfinden. Auffallend sind die überbordende Vielfalt und die Qualität des Medieneinsatzes (Hamm/Adolphs 2009: 317). Darin artikulieren sich zum einen die Erfahrungen im prekären Alltag, die zum Thema gemacht werden und zum anderen das in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen entfaltete Kreativitätspotenzial eines prekären Kognitariats. Die Bewegung konstituiert sich sowohl als lokal wie global agierende, uneinheitliche, fluide dissidente Vielheit. Allerdings bedurfte es innerhalb der EuroMayday-Bewegung angesichts der Bedeutungsvielfalt des Begriffsfeldes Prekarität anhaltender Selbstverständigungsprozesse.6 Vorschnelle Homogenisierungen unter der gemeinsamen politischen Chiffre der Prekarität wurden angesichts der heterogenen und vielfältigen »Situiertheiten« (Haraway 1995: 73ff.) von Akteur/-innen immer wieder befragt. So stellen die spanischen Aktivistinnen der »Precarias a la deriva« fest: »Sicher ist, dass unsere Situationen so unterschiedlich und einzigartig sind, dass es uns sehr schwierig erscheint, einen gemeinsamen Nenner auszumachen, der es uns möglich machte, kollektiv zu sprechen und zu kämpfen. Es erweist sich als schwierig, uns durch die Gemeinsamkeit ›Prekarität‹ zu definieren. Einerseits auf zu starke Vereinfachungen zu verzichten, andererseits aber eine gemeinsame Verortung zu ermöglichen. Es ist notwendig, die Entbehrungen und das Übermaß unseres Lebens und Arbeitens zu thematisieren, um der neoliberalen Fragmentierung zu entkommen, die uns voneinander trennt und schwächt […]. Das Hervorheben der Singularität speist sich aus der Absicht, eine Politik zu entwickeln, die nicht zum wiederholten Male falsche Homogenitäten produziert« (Precarias a la deriva 2007: 90f.). Daher konstituiert sich die Entwicklung einer Bewegung als – keineswegs konfliktfreies – »Werden« (Deleuze 1991: 196) einer Verkettung unterschiedlicher Singularitäten, in dem Bestreben, ein gemeinsames politisches Projekt zu erfinden (Adolphs/Karakayali 2005). Inspiriert durch »post-operaistische« (vgl. Hardt/Negri 2002, 2004; Virno 2005) Theoriebildung werden die Ambivalenzen prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse artikuliert, um sowohl Konflikte im prekären Alltag als auch Praktiken und Potenziale eines dissidenten Begehrens zum Ausgangspunkt netzwerkförmiger politischer Praxen zu machen. Diese Sicht konzipiert Prekarität nicht als Unterwerfungsprojekt, sondern markiert eine Unterbrechung im Kon6 | Die bewegungsinternen Auseinandersetzungen über Prekarisierung sind zum Beispiel dokumentiert in den Texten des eipcp-Webjournals transversal. http://eipcp.net.trans versal/0704, in den Kulturrisse-Ausgaben 02/05 (http://kulturrise.at/1114329221 und 04/06 http://kulturrisse.at/1168344588), in analyse und kritik 504/2006 und Precarias a la deriva (2007).

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tinuum eines ohnmächtigen Opferstatus und betont gleichermaßen die subjektiven, kreativen und utopischen Momente, die in Formen der Selbstaneignung und dem nomadischen Begehren nach einem anderen, besseren Leben liegen. Der Rekurs der MayDay-Bewegung auf den sogenannten »Post-Operaismus« findet keineswegs zufällig statt. Denn dieser bietet eine theoretische Perspektive, die im politischen Aktivismus verortet ist und den Wandel des Produktionsregimes sowie die Bedeutung prekärer immaterieller Arbeit und die darauf basierende Neukonstituierung des Politischen in das Zentrum ihrer theoriepolitischen Intervention stellt. Diese post-operaistische7 Perspektive auf Prekarität wird in den folgenden Ausführungen kontextualisiert und auf ihren Gebrauchswert für sozialwissenschaftliche Analysen befragt.

P OST -O PER AISMUS Post-Operaismus bezeichnet eine Form der Wissensproduktion und eine politische Strömung, die auf den sogenannten »Operaismo« (operaia = Arbeit; operaio = Arbeiter), eine oppositionelle Richtung des italienischen Marxismus der frühen 1960er Jahre zurückgeht. Die Operaisten kritisierten das orthodoxmarxistische Ritual, die Bewegungsmomente der Geschichte aus den Eigengesetzlichkeiten der kapitalistischen Entwicklung abzuleiten (vgl. Tronti 1974; Balestrini/Moroni 1994; Alquati 1974; Atzert 1998:113ff.). Nicht das Wertgesetz, sondern die Massenarbeiter hätten mit ihren – nicht immer unmittelbar wahrnehmbaren – Kämpfen das Regime der kapitalistischen Mehrwertproduktion herausgefordert und damit die Krise des tayloristisch organisierten Ausbeutungssystems in den großen Fabriken erzeugt. Aus dem Operaismus entstand der Post-Operaismus im Kontext der sozialen Bewegung der 1970er Jahre als theoriepolitische Intervention in die Debatten der radikalen Linken, als der Operaismus nicht in der Lage war, die grundlegenden Veränderungen der Produktionsweise und die nunmehr zentrale Bedeutung von sozialer Kommunikation und Wissen in der Passage vom Fordismus zum Postfordismus zu erkennen. Immaterielle Arbeit und intellektuelle Tätigkeit seien die fundamentalen Elemente gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion. Autoren – wie Antonio Negri, Paolo Virno und Maurizio Lazzarato – brachen mit dem hegemonialen Bild des Massenarbeiters als privilegierter Figur sozialer Umwälzungsprozesse und zielten darauf ab, den Begriff des Proletariats zu transformieren. Mit der semantischen Amalgamierung »oparaio sociale« (gesellschaftliche/r Arbei7 | Ich werde mich hier schwerpunktmäßig auf Antonio Negri bzw. die Arbeiten von Hardt/Negri (2002; 2004; 2010) beziehen. Eine differenzierte Darstellung der Perspektiven unterschiedlicher Autoren findet sich u.a. in Negri et al. 1998; Birkner/Foltin 2006.

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive

ter/-innen) nahmen sie Bezug auf die Verbindung von sozialer Bewegung und vergesellschafteter Arbeit und bezogen sich auf die Kämpfe der Frauen, der Jugendlichen, der Studierenden und Marginalisierten in den 1970er Jahren in Italien, die sich der kapitalistischen Ausbeutung und Verwertung verweigerten und eine »autovalorizzazione«8, eine Selbstinwertsetzung und Wiederaneignung des gesellschaftlichen Reichtums forderten. Die Autoren negierten die Idee einer Linearität der Entwicklung und sprachen von der Zirkulation der Kämpfe und Konflikt im Stadtteil wie in der Fabrik. Allerdings wurde die Fabrik nicht mehr als der privilegierte Ort der Auseinandersetzungen angesehen, vielmehr galt es nun, auch Revolten gegen die »Ordnung der Familie« und gegen das Bildungssystem sowie das Wissen aus den Erfahrungen von Migration und Mobilität mit einzubeziehen (Atzert 1998: 119). In ihnen artikulierte sich ein Massenbegehren, das gegen die tradierten fordistischen Arbeits- und Disziplinarmechanismen rebellierte. Der Kampf wandte sich gegen die Monotonie der Fließbandarbeit, gegen das Normalarbeitsverhältnis als Arbeitsverweigerung, »Krankfeiern« und Sabotage. Aber die Kämpfe richteten sich auch gegen unbezahlte Reproduktionsarbeit und gegen die Einschließungsmilieus von Psychiatrien und Armeen. Diese Dissidenz initiierte die Krise des fordistisch-tayloristischen Fabrikregimes. Auch als die politischen Organisationen der Bewegung in den ausgehenden 1970er Jahren in Italien scheiterten, bedeutete das nicht das Ende des politischen Subjekts.9 Mit den Überlegungen zum »operaio sociale« und zur immateriellen Arbeit entwickelten Autoren des Post-Operaismus – wie Antonio Negri (1998) – eine neue Vision des Sozialen und des politischen Projekts. In der Passage des Postfordismus und der Entstehung eines neuen Produktionsregimes erkennt Negri zugleich die Herausbildung einer neuen insubordinativen Kraft, die das Potential besitze, die Kontrolle über die Produktion dem kapitalistischen Kommando zu entziehen und die Reproduktion der Gesellschaft selbst zu organisieren (Atzert 1998: 118ff.). In diesen Überlegungen wird die negative Bestimmtheit eines Kampfes gegen die Arbeit – in Form von Sabotage und Verweigerung – umformuliert in die Vorstellung einer konstituierenden Praxis des neuen Produktionsregimes (Atzert 1998:119).

8 | Angesichts der unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten entscheide ich mich hier nicht – wie gelegentlich in anderen Veröffentlichungen vorkommend – für »Selbstaufwertung«, sondern für »Selbstinwertsetzung«, weil mit diesem Begriff das Potential gesellschaftlicher Arbeiter/-innen benannt wird. 9 | Eine sehr differenzierte Aufarbeitung zur postfordistischen Restrukturierung der italienischen Linken findet sich bei Birkner/Foltin (2006: 42ff.).

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I MMATERIELLE A RBEIT UND DIE TR ANSFORMATION DES P RODUK TIONSREGIMES IN DER P ASSAGE DES P OSTFORDISMUS Prekarität deuten post-operaistische Autoren als Ergebnis von Kämpfen der lebendigen Arbeit gegen das fordistische Fabrikregime. Die Kämpfe hätten als Reaktion des Kapitals eine »Konterrevolution« (Virno 1998) ausgelöst, die ein neues Produktionsregime, einen neuen Modus der Ausbeutung sowie neue Formen der Vergesellschaftung initiiert hätten – wie Paolo Virno betont: Das Meisterstück des Kapitalismus in Italien besteht darin, genau die Verhaltensweisen, die in einem ersten Moment alle Züge radikalen Konflikts trugen, zu produktiven Ressourcen gemacht zu haben. Die kollektiven Haltungen der 77er Bewegung – der Fabrik den Rücken zu kehren, eine Abneigung gegen Festanstellung, Wissen und die Vertrautheit mit Kommunikationsnetzwerken – in ein innovatives Verständnis dessen, was Professionalität ausmacht […] verwandelt zu haben: Das ist das wertvollste Resultat der italienischen Konterrevolution. (Wobei »Konterrevolution« nicht als die einfache Restauration eines vorherigen Zustandes zu verstehen ist, sondern im wörtlichen Sinn als eine Verkehrung der Revolution in ihr Gegenteil, das heißt als die Durchsetzung tief greifender Neuerungen in Ökonomie und Institutionen mit dem Zweck, die Produktion und die politische Herrschaft zu relaunchen). (Virno 2005: 125)

Insofern dechiffrieren post-operaistische Autoren wie Negri und Virno den gegenwärtigen Kapitalismus als ein historisches System, das versucht, die Bewegungen des Begehrens, der Bedürfnisse und der Dissidenz zu reintegrieren und sie zur eigenen Expansion zu entwenden. Dieses Projekt sei zugleich durch konstitutive Instabilitäten, Krisen und Konflikte gekennzeichnet. In diesem neuen Produktionsregime liege jedoch die Möglichkeit, dass die entfalteten und freigesetzten Potentiale nicht umstandslos in den Akkumulationsprozess zurückgebunden werden können, sondern ein Reservoir widersetzlicher Praxen bilden. Grundlage dieser Überlegungen ist eine gesellschaftstheoretische Perspektive, die als Resultat dieser Kämpfe gegen das fordistische Disziplinarregime sowie im Zeichen einer Globalisierung der kapitalistischen Produktion und des ökonomischen und kulturellen Austauschs einen epochalen Umbruch erkennt. In dieser Passage bildeten sich neue Formen einer dezentralisierten souveränen Macht heraus, die die Grenzen nationalstaatlicher Souveränität überschreite: das »Empire«. Dies sei – so Hardt und Negri (2002) – eine im Entstehen begriffene neue Weltordnung, die weder von der »unsichtbaren Hand« des globalen Marktes noch vom Kommando einzelner Machthaber gelenkt werde. Hardt und Negri entwerfen das Bild einer autopoietischen »imperialen Maschine« (Hardt/ Negri 2002: 48) eines neuen Ausbeutungsregimes. Mit dem Empire entfalte sich eine Macht, die keinen externen Standpunkt mehr ermögliche. Diese Macht operiere – wie die Autoren in Anlehnung an Foucault (1983) beschrei-

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ben – als »Biomacht«, denn sie forciere eine Weiterentwicklung kapitalistischer Vergesellschaftung, die auch die Produktion von Subjektivitäten, Körpern, Intellekten, Affekten und die Herstellung sozialer Beziehungen und kollaborativer Praktiken – also das gesamte Leben (bíos) – als Humanressource in den grenzenlosen Verwertungsprozess einspeise. Damit werde eine »reelle Subsumtion« des Gesellschaftlichen unter das Kapital erreicht. Das fordistische Regime der traditionellen Fabrik- und Industriegesellschaft zielte noch auf das »Disziplinarindividuum« (Foucault 1977), das eingepasst in den maschinellen Produktionsapparat entsprechenden Konformitätsforderungen gehorchte und normierte Handlungsvollzüge ausübte. Es hatte abgegrenzte identitäre Positionen inne, wusste Arbeitszeit und Privatleben zu trennen und war schließlich durch kernfamiliale Strukturen einer heteronormativen Arbeitsteilung sowie durch ein korporatistisch-kollektives wohlfahrtstaatliches Sicherungssystem abgefedert. In der Passage zum Postfordismus wandelte sich das Paradigma der Produktionsweise: Statt tayloristischer Disziplin ist nun Kreativität, Selbstgestaltung, Eigenmotivation, die Fähigkeit zur Selbstvermarktung und Aktivität, die Abwägung zwischen Chancen und Risiken sowie die Übernahme von Eigenverantwortung gefordert. Kurz: Das neoliberalistische Aktivierungscredo, der kategorische Imperativ des Selbstunternehmer/-innentums ist zur Signatur dieser Entwicklung geworden. Dienstleistungen und in diesem Zusammenhang die gesamte Subjektivität und deren alltägliche Produktion von Affekten, Motivation, Lebensstilen und Differenzkulturen mitsamt der intellektuellen, techno-wissenschaftlichen und schöpferischen Potenziale und dem Wissen über Arbeitsabläufe und Produktkonzeptionen wird zur Basis von Wertschöpfung. Kapitalakkumulation zielt nicht nur auf die im Fordismus abgespaltene, männlich codierte Arbeitskraft. Produktivität schließt nun auch all jene Bereiche ein, die traditionellerweise nicht als »Arbeit« im Sinne von »Erwerbsarbeit« galten. »Immaterielle Arbeit« (Lazzarato 1998) gerät zur Chiffre des gegenwärtigen Produktionsregimes. Dieser Neologismus bezeichnet eine Arbeit, die nicht materiell ist, »auch wenn sie körperlich und affektiv ist, insofern als ihre Produkte unkörperlich und nicht greifbar sind« (Hardt 2002: 5). Hier erkennen wir Reminiszenzen an die feministische Ökonomiekritik der 1970er Jahre und deren Ringen um die Anerkennung von Reproduktionsarbeit als »Arbeit«. Allerdings, blenden die post-operaistischen Autoren die jeweiligen Organisationsbedingungen und Verwertungsstrukturen aus (kritisch dazu: Eichhorn 2004: 98; Pieper 2007: 228f.) – wie hier einzuwenden wäre. Im fordistischen Produktionsregime wurde das (Alltags-)Leben noch als das »Außen« der Arbeit konzipiert und gedacht. Die gegenwärtige Ausbreitung immaterieller Arbeit konfrontiert uns mit einem vollkommen gewandelten Bild. Das gesamte soziale Leben (nicht nur die Erwerbsarbeit) wird produktiv und gerät damit zum Epizentrum der sozialen Transformationsprozesse und Kämpfe.

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Post-operaistische Autoren konstatieren das Aufkommen einer »Massenintellektualität« – und rekurrieren in einer etwas unorthodoxen Lesart auf Marx sogenanntes »Maschinenfragment« in den Grundrissen zur politischen Ökonomie. (MEW 42, 1974: 602). In diesem formuliert Marx die Vision eines »general intellect«. In Anlehnung daran sehen Hardt und Negri das Entstehen einer kollektiven sozialen Intelligenz, die sich durch die Akkumulation von Wissen, Techniken und know how formiert. Nicht die Maschinensysteme, sondern Sprache, Kommunikation, Kooperation, Kreativität und die Fähigkeit zur Herstellung sozialer Beziehungen und Affekte bestimmen die neue Kontur der Produktivkraft. Massenintellektualität konstituiere sich als soziales Verhältnis. Sie sei das produktive Potential, das gesellschaftlich produziert wird, aber nicht von den Arbeiter/-innen zu lösen sei. Insofern bildet Massenintellektualität eine Kapazität der Produzent/-innen, die die gesellschaftlichen Produktivkräfte sind. Hier verorten die Autoren das Potenzial zur Transformation des Verhältnisses von Subjektivität und Arbeit und die Chance zur Neuformierung einer auf Autonomie gerichteten »konstituierenden Macht«, die von der Neuzusammensetzung der Arbeit ausgehen könne. Mit der Figur einer »konstituierenden Macht« – einer dissidenten Vielheit oder Menge – taucht ein über Marx hinausweisendes Konzept von Macht, Widerstand und ein neues Kollektivsubjekt auf. Dissidenz wird nicht mehr als Gegenmacht begriffen, die sich außerhalb des kapitalistischen Kommandos und der Staatsmacht, sondern gleichsam in vollkommener Immanenz formiert und zugleich in der Lage ist, die Herrschaftsverhältnisse zu übersteigen. Allerdings dürfte sowohl bei schnellen Rückschlüssen von der Idee des General Intellect (kritisch dazu: Virno 1998) als auch vom Konzept der immateriellen Arbeit auf die Entstehung neuer Subjekte der lebendigen Arbeit Vorsicht geboten sein. Die simplifizierende Annahme, dass sich immaterielle Arbeit allein über die Ausbreitung ihrer Qualitäten mit gegenwartsdiagnostischen Allgemeinplätzen wie »Wissensgesellschaft« oder »Netzwerkgesellschaft« oder über den Bedeutungszuwachs von Wissen, Kreativität, Kooperation und »Subjektivität« zu charakterisieren sei, ist zu kurz gegriffen. Denn anders als beispielsweise in mittlerweile redundant diskutierten Debatten der Industrie- und Betriebssoziologie um die »Subjektivierung der Arbeit« (Moldaschl/Voß 2002; Pogratz/ Voß 1998; Kleemann et al. 2003), die ebenfalls die Transformation des Produktionsregimes beschreiben, sind Subjekte keineswegs vorgängig existent oder schlichte Effekte des Produktionsregimes (kritisch dazu: Pieper 2008; Pieper et al. 2009: 344ff.). Es bedarf eines differenzierteren Blicks auf Machverhältnisse und die Produktivität von Subjektivierungsprozessen, die in den Konfigurationen immaterieller Arbeit als »kontinuierliche verkörperte Erfahrung« (Papadopoulos/Stephenson 2006: 139ff.) der Prekarität entstehen in den Auseinandersetzungen mit der neuen Ausbeutungsordnung des postfordistischen Produktionsregimes.

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive

D AS TERRITORIUM DER P REK ARITÄT Dort, wo sich das neue Ausbeutungsregime in die Körper der Arbeiter/-innen einschreibt, materialisiert sich Prekarität als verkörperte kontinuierliche Erfahrung. Denn diese neuen Formen der Ausbeutung sichert kein protektionisch operierendes korporatistisches Wohlfahrtsregime mehr. Daher entsteht Prekarität im Sinne ökonomisch ungesicherter Bedingungen von Arbeitenden an jenem Punkt, an dem die Ausbreitung immaterieller Produktion in der Passage zum Post-Fordismus eine Fülle flexibilisierter, ent-garantierter Beschäftigungsverhältnisse hervorbringt und auf eine Krise sozialer Sicherungssysteme trifft. Diese basierten auf Vollbeschäftigung und dem korporatistisch-nationalstaatlichen Kompromiss der Regelarbeitsverhältnisse. Allerdings sind historisch betrachtet prekäre Lebens und Arbeitsverhältnisse – d.h. ökonomisch und existenziell nicht gesicherte, entgarantierte Formen der Reproduktion des Lebens – kein neues Phänomen. Auch können wir sie nicht als »a-typische« Beschäftigungsverhältnisse betrachten, die gleichsam die Ausnahme von der Regel des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses bildeten. Vielmehr war das fordistische Arbeitsregime mit seinen flankierenden Sicherungssystemen historisch und geopolitisch betrachtet eher ein Ausnahmephänomen – von relativ kurzem, episodalem Charakter. Es galt überwiegend für männliche Bürger westlicher Industriestaaten. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung, ebenso wie für die Mehrzahl von Frauen und Migrant/-innen in westlichen Industrienationen, die bezahlten Tätigkeiten nachgingen, war es zu keiner Zeit obligatorisch, existenzsichernd und ausreichend sozial abgesichert zu ein. Das gleiche gilt für Angehörige spezifischer Berufsgruppen – wie zum Beispiel Künstler/-innen, Freiberufler/-innen, Beschäftigte in der Unterhaltungsbranche und Sexarbeit. Ein Novum ist allerdings, dass charakteristische Elemente prekärer Arbeit in zunehmendem Maße den Bereich früherer tarifvertraglich abgesicherter sowie arbeits- und sozialrechtlich abgefederter Beschäftigungsverhältnisse erobern.10 Insofern wird Prekarität zur Signatur des Ausbeutungsregimes der lebendigen Arbeit in der Gegenwart nordatlantischer postfordistischer Staaten. Ein immer kleiner werdender Teil von Arbeiter/-innen ist in industrielle und fordistisch abgesicherte Produktionsprozesse eingebunden. In der Prekarität materialisieren sich die subjektivierten Risiken, die durch mangelnde Absicherung der Beschäftigungsverhältnisse immaterieller Arbeit auferlegt werden. Das Regime der Prekarität operiert über eine marktgetriebene 10 | Der Leiharbeiter/-innenanteil im BMW-Vorzeigewerk in Leipzig beträgt bereits 30 %, in der Zulieferindustrie sogar 50 %. (Dörre 2005). Ein Drittel aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeitet in nicht-standardisierten Arbeitsverhältnissen; im Jahr 2006 waren ca. 6,5 Mio., d.h. mehr als 22 % dem Niedriglohnsektor zuzurechnen. (IAQ-Report 2008: 1).

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Institutionalisierung von Unsicherheit und regiert über Temporalität (Neilson/ Rossiter 2005; Pieper 2008; Pieper et al. 2009: 346ff.). »Keine Zeit zu haben« markiert die Emblematik des postfordistischen Ausbeutungsmodus, in dem die Arbeit dazu tendiert, die gesamte Lebenszeit zu okkupieren und dem Verwertungsregime zu unterwerfen, da ständige Verfügbarkeit zum Arbeitsimperativ wird und zugleich lebenslange Perspektiven zerstört und in kleine, sukzessive ausbeutbare Arbeitseinheiten fragmentiert werden. Das protektionistische Zeitreglement des fordistischen Wohlfahrtsstaats mit seiner Zerteilung in Arbeitszeit und Freizeit, aber auch mit Schutz vor Risiken der Zeiten von Nichtarbeit (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter) schwindet: Mit dem neuen Arbeitsregime breitet sich die Kontrolle des Kapitals über die herkömmlichen Arbeitsorte hinaus aus. Damit wird auch das Alltagsleben, das Verhältnis von Arbeit und Leben, der individuelle Körper zum Austragungsort sozialer Konflikte. Diese »Verkörperung« verweist auf eine Veränderung der Art und Weise, in der Mehrwertaneignung gegenwärtig stattfindet. Das Ausbeutungsregime wird in den singulären Körpern von prekären Arbeiter/-innen verankert. Das zeigt sich im Imperativ der ständigen Verfügbarkeit, dem permanenten Ringen mit dem Unvorhergesehenen, der Hyperaktivität sowie der anhaltenden Übersteigerung und Überziehung eigener Arbeitsfähigkeiten, aber auch in den Formen affektiver Erschöpfung sowie der Flexibilität und Verletzbarkeit ohne Absicherung, in der die Risiken subjektiviert werden (Pieper et al. 2009: 347f.). Doch hier fungiert nicht mehr die anonyme Disziplinarinstanz des fordistischen Fabrikregimes. Ausbeutung im Regime der Prekarität beruht darauf, sich selbst zum Subjekt und Objekt der Ausbeutung zu machen. Körper und Leben werden zum Gegenstand von Selbstdisziplinierung, Selbstmanagement und Selbstlenkung, d.h. hier operiert ein Ausbeutungsregime im Sinne neoliberaler Gouvernementalität (Foucault 2000) über die Steuerung der Selbstführungskapazitäten der Subjekte, über Prozesse der Subjektivierung.

B IOPOLITISCHE P RODUK TIVITÄT Eine Untersuchung der Grammatik des Ausbeutungsregimes allein eröffnet indes keine erschöpfende Perspektive für eine kritische Analytik der sozialen Verhältnisse und des gegenwärtigen Ausbeutungsregimes, die der Statik einer »strukturalistischen Epistemologie« (Hardt/Negri 2002: 43) entgehen will. Mit ihrer »post-operaistischen« Wendung des Blicks hin zu den produktiven Dynamiken, d.h. hin zu den schöpferischen, generativen und rebellischen Dimensionen kultureller und sozialer (Re-)Produktion eröffnen Hardt/Negri ein innovatives Register der Macht. »Biopolitische Produktivität« bezeichnet ein neues, dynamisiertes Machtparadigma, das die konstituierenden Elemente fokussiert,

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive

die der lebendigen Arbeit innewohnen. Hier kommt eine neue – produktive – Seite von Subjektivierungsprozessen ins Spiel: Wertschöpfung operiert nicht mehr schlicht über die Aneignung von Arbeitszeit, sondern über die Ausbeutung der Potentiale von Arbeitenden. Deren Wissen, deren Fähigkeiten zur Kommunikation und Kooperation sowie zur Herstellung sozialer Beziehungen und Netze wird in immer neuen Kombinationen zum Gegenstand von Ausbeutung. Dieses Vermögen und diese Fähigkeiten produzieren Wertschöpfung, aber sie stellten aus der Sicht des Kapitals, – nicht aus der Sicht der Arbeitenden wie Negri (2010: 66) betont –, einen »Exzess« dar, weil sie nicht vollständig vom Produktionsregime angeeignet und ausgebeutet werden könnten. In diesem nicht-angeeigneten Potenzial an Soziabilität, das sich gleichsam im Innern des »verkörperten Kapitalismus« (Papadopoulos et al. 2008: 223; Pieper et al. 2008) in einem Vakuum der Kommodifizierung und Aneignung entwickelt, liege das Movens für den Exodus, für das Sich-Entziehen, in dem die Arbeitskraft ihre potenzielle Autonomie aktualisiert. Damit entfaltet sich eine Subjektivität, die nicht vollständig im Verwertungsprozess aufgeht, sondern diesen gleichsam übersteigt. In diesen überschüssigen, vom Kapital entfalteten, aber nicht gänzlich angeeigneten schöpferischen Dynamiken der Intelligenz, des Wissens, der Affekte und kollaborativen Praxen verorten Hardt/Negri das dissidente Potential. In den alltäglichen Formen der Subversion und Insubordination, in den Kämpfen und dem Begehren der Massen sehen die Autoren das Movens gesellschaftlicher Transformationsprozesse und das Vermögen, in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen und sich diese anzueignen. In diesem Kontext erscheint Prekarität nicht – wie in einer strukturalistischen Epistemologie – ausschließlich als Herrschaftsprojekt. Diese Perspektive betont gleichsam eine Doppelbewegung: Zum einen die Umwälzung des Machtparadigmas, das im Zeichen imperialer Souveränität und schrankenloser Akkumulation über Prozesse der Entfaltung und Verwertung von Subjektivität und des sozialen Lebens operiert. Aber zum anderen setzt dieser neue Modus der Vergesellschaftung und Ausbeutung kreative und subversive Potentiale frei und formt Praxen, die nicht in einer bloßen »Unterwerfung« münden. Post operaistische Autoren entdecken im Prekären die Ambivalenz einer neu gewendeten Biomacht/Biopolitik, die einerseits durch ein neues Ausbeutungsregime, andererseits aber auch durch die Neukonstituierung einer dissidenten Kraft gekennzeichnet sei, die Antonio Negri mit Rekurs auf die MayDay-Bewegung emphatisch als »Konstituierung des neuen postfordistischen Proletariats« (Negri 2009: 192) bestimmt.

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F IGUREN DER TR ANSFORMATION : E XODUS – PRODUK TIVE S UBJEK TIVIERUNG – M ULTITUDE Im Innern des Ausbeutungsregimes, d.h. in strikter Immanenz, entwickelt sich diese konstituierende Macht in Form einer »biopolitische Produktivität«, als Kraft, die gleichsam »von unten« wirksam wird und nicht unmittelbar von Herrschaft und Staat zu vereinnahmen ist.

E xodus Die Frage, wie Konstituierungsprozesse zu denken seien, in denen sich aus »spontanen Synergien« (Lazzarato 1998: 50) widerständige und subversive Praxisformen entwickeln, beantworten Hardt und Negri (2002: 224) mit zwei verschiedenen Gestalten der Multitude als transformativer Kraft: Einer eher selbstläufigen Form nicht-repräsentierter Subversion – des Exodus – und eines Konzepts der Multitude, die »zugleich als politischer Konstitutionsprozess wie als ökonomischer Produktionsprozess« (Hardt/Negri 2010: 191) zu verstehen sei und in der Lage wäre, »das Projekt Exodus und die Befreiung politisch zu organisieren« (Hardt/Negri 2010: 179). In Anlehnung an Deleuze und Guattari (1997) entwerfen Hardt/Negri mit den Figuren des Exodus, der Desertion, der Mobilität, des Nomadismus, der Deterritorialisierung Kampfformen der Arbeitskraft im Zeichen von Wünschen und des Begehrens nach besseren Lebensbedingungen. Begehren markiert dabei nicht den Ausdruck eines Mangels, sondern bezeichnet eine positive, produktive, über die gegenwärtigen Produktionsbedingungen und Gesellschaftsformationen hinausweisende Kraft (Deleuze 1996: 25ff.). Anders als in den Überlegungen Foucaults zu den Dispositiven der Biomacht, konzipieren die post-operaistischen Autoren mit Rekurs auf Deleuze (1996) Begehren nicht als durch die Machtverhältnisse konstituiert und produktiv gemacht, sondern gleichsam als eine Kraft, die zwar gesellschaftlich produziert ist, aber die Verhältnisse als ein Überschuss an Praxisformen und Wünschen immer bereits übersteigt und den Dispositiven der Macht vorausgeht. Vor allem die Formen des Sich-Entziehens und Entfliehens stehen im Mittelpunkt der theoretischen Überlegungen: »Im biopolitischen Zusammenhang nimmt der Klassenkampf die Form des Exodus an« konstatieren Hardt/Negri (2010: 166). Im Exodus oder »exit« – wie Paolo Virno (2005: 82) diese politische Artikulationsform in Anlehnung an Albert O. Hirschman (1981) auch bezeichnet –, liege kein passives Verhältnis.11 Vielmehr verändere das Weggehen die 11 | Der Politikwissenschaftler Albrt O. Hirschman (1981: 246) unterscheidet mit Exit, Voice und Loyality drei Verhaltensmöglichkeiten, die sich den Regierten bieten im Umgang mit einem jeweiligen Regierungssystem bieten. Im Gegensatz zu der in den Sozial-

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Rahmenbedingungen, statt diese als unveränderlichen Horizont hinzunehmen; es verändere den Kontext, in den ein Problem eingelassen ist (Virno 2005: 82). Die These ist, dass sich mit dem anonymen, kollektiven beständigen Abtrünnigwerden die Spielregeln, bestehende Ordnungen unterminiert werden, die Orientierungen durcheinander geraten und soziale, politische und ökonomische Transformationsprozesse initiiert werden.12 Exodus stellt mithin eine politische Taktik der Subversion dar, die nicht auf direkter Konfrontation oder der Übernahme der Macht beruht, sondern die auf Verweigerung setzt und damit auf die Evakuierung der Orte der Machtausübung. Exodus und Flucht lassen sich daher nicht als resignativer Rückzug, sondern als aktive Suche nach anderen Existenzbedingungen dechiffrieren, da sie als Ausdruck des Begehrens nach einem besseren Leben zu verstehen sind. Transformationsprozesse und soziale politische und ökonomische Umwälzungsprozesse sind in diesem Kontext nur prozessual zu verstehen, nicht »messianisch« als Effekt eines spezifischen Ereignisses im traditionellen Sinne – wie eines Aufstandes oder einer Revolution –, die abrupte Brüche im Ablauf der Geschichte erzeugen. »Biopolitische Ereignisse« hingegen wohnten den schöpferischen Tätigkeiten und der Produktion inne (Hardt/Negri 2010: 190). Mit dem Exodus beschreiben Autoren wie Virno oder Hardt/Negri nicht den transformativen Endpunkt – wie eine Revolte oder einen Streik –, sondern fragen danach, wie soziale Transformation in ihren – flüchtigen, schwer fassbaren und nicht unmittelbar repräsentierbaren – biopolitischen Akten beginnt mit der initialen Weigerung, in einer spezifischen historischen Situation an einem bestimmbaren sozialen und geopolitischen Ort bestimmte Aspekte einer sozialen Ordnung zu akzeptieren und zu ratifizieren, die scheinbar unausweichlich für die Bewältigung des Lebens sind.

Produktive Subjektivierungsprozesse in Regimen der Prekarität An zwei Interviewsequenzen aus dem Forschungsprojekt »Prekarisierte Arbeit und Subjektivierung« möchte ich illustrieren, wie Formen subalterner biopoliti-

wissenschaften zumeist vertretenen Vorstellung, löse jedoch nicht Voice, sondern die »Abstimmung mit den Füßen« – Exit – soziale, ökonomische und politische Transformationsprozesse aus. 12 | Beispiele für die Potenziale des Exodus sind für post-operaistische Autoren die ökonomischen Transformationsprozesse im italienischen Norden und die Umstrukturierungen des Produktionsregimes (Virno 1998: 83ff.), aber auch der nachhaltige Exodus aus der ehemaligen DDR, der das Ende des Realsozialismus auslöste (Hardt/Negri 2002: 226; Mezzadra 2004: 267).

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scher Produktivität operieren, in denen sich die Konstituierung von Subjektivität als kontinuierliche verkörperte Erfahrung der Prekarität artikuliert13: Immer wieder kommt es vor, dass Arbeitgeber den prekären Status Illegalisierter in undokumentierten Beschäftigungsverhältnissen dazu nutzen, ihnen Rechte und Entlohnung vorzuenthalten. Julio reiste als Vierundzwanzigjähriger mit einem Touristenvisum aus einem südamerikanischen Land nach Deutschland ein und lebt nach dessen Ablauf als »Sans Papier« von undokumentierten Arbeiten als Küchenhilfe und Servicekraft in Restaurants. Er beschreibt, dass er an einem Arbeitsplatz ständig zu unbezahlten Überstunden genötigt wurde mit der Aussicht, diese als Freizeit ersetzt zu bekommen. Als er jedoch von Woche zu Woche vertröstet wird, fordert er einen Lohnausgleich: Julio: Da habe ich gesagt: »Ok, wenn ich nicht frei bekomme, dann will ich mein Geld für die Tage.« »Nein, du kriegst kein Geld.« Da hab ich mein Geld einfach aus der Kasse genommen und am nächsten Tag angerufen: »Chef, ich werde nicht weiterarbeiten. Ich komme morgen nicht mehr.« Da war er sauer. Aber was konnte er machen. Ich war ja illegal, hab ohne Papiere gearbeitet. Wenn er mich angezeigt hätte, wäre er selbst auch dran gewesen. ((lacht))«

Zunächst verdeutlicht das Beispiel, dass Prekarität auch durch gegenwärtige Grenzregime erzeugt wird, die eine große Zahl undokumentierter Arbeiter/ -innen produzieren. Zugleich verweist Prekarität auf die Möglichkeit, in einem komplexen und beweglichen Verhältnis von Begehren, Freiheit und Zwang, die sich daraus ergebenden Handlungsräume auszuloten (Pieper et al. 2009: 353). Julio akzeptiert die Ausbeutungsverhältnisse nicht ohnmächtig und resignativ, wie es angesichts seines prekären illegalisierten rechtlosen Status zu erwarten wäre. Der Rückgriff auf ein Netzwerk von ebenfalls migrierten Landsleuten macht es möglich, die Ausbeutung zu verweigern und die inakzeptablen Arbeitsbedingungen zu verlassen. Er wendet seine Position des illegalisierten und undokumentiert Beschäftigten und die fehlende Vertragsbindung offensiv in einen Freiheitsspielraum und einen Mangel an Rechtsansprüchen seitens seines Arbeitgebers um, eine Taktik, die es ihm erlaubt, das Beschäftigungsverhältnis abrupt zu beenden. Damit setzt er das Abhängigkeitsverhältnis außer 13 | Es handelt sich um Interviewausschnitte aus einem gemeinsam mit Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos an der Universität Hamburg durchgeführten Forschungsprojekt »Prekarisierte Arbeit und Subjektivierung« im Rahmen des Forschungsverbundes PRECLAB. Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt zwischen Universität und Netzwerkaktivismus der EuroMayDay-Bewegung. Es wurden 80 biografische, durch einen Leitfaden ergänzte narrative Interviews erhoben: mit Kulturproduzent/-innen, Praktikant/-innen, hochqualifizierten Freiberufler/-innen, Studierenden, Ein-Euro-Jobber/-innen, Sans Papiers und undokumentierten Arbeiter/-innen.

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Kraft. Julios Beispiel illustriert die verkörperten Praxen eines Entkommens oder doch zumindest einer momentanen Unterbrechung der Ausbeutungs- und Unterwerfungslogiken, denen er sich zu entziehen sucht. Dies kann als Ausdrucksform für den »Aufwand« (Lorenz 2007) einer das Ausbeutungsregime übersteigenden und »durchquerenden« Neuverhandlung von Subjektivierungsprozessen unter Bedingungen von Prekarität und Illegalisierung gelesen werden. Hier lässt sich erkennen, dass Prozesse der Subjektivierung in Regimen der Prekarität nicht in der blanken Affirmation des Produktionsregimes und als bloße Effekte von Ausbeutungsverhältnissen entstehen, sondern sich in der Bearbeitung der Engpässe, in der Durchquerung dieses Regimes und in der verkörperten Erfahrung herausbilden. Produktion von Subjektivität in den postfordistischen Produktionsregimen findet in einer Doppelbewegung von Subjektivierung und Subjektwerdung statt, d.h. in einer Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung, von Zwang und einer die Produktionsverhältnisse übersteigenden Autonomie des Werdens und Anderswerdens (Deleuze 1991: 156), die sich in einem Vakuum der Ausbeutungsund Aneignungsverhältnisse herausbilden kann. Auch stellt Produktion von Subjektivität nicht das Resultat eines reinen Austauschs an Information und wissensbasierter Information dar, wie etwa Virno (2005) oder Lazzarato (1998) unterstellen, sondern die Schöpfung eines indeterminierten Überschusses an informellen, affektiven, Welt schaffenden Verbindungen, die sich in der verkörperten Erfahrung des Regimes von Prekarität aktualisiert (Pieper et al. 2009: 353). Nicht Wissen, Kognition und immaterielle Arbeit als solche sind daher die Determinanten der Produktion von Subjektivität im neuen Produktionsregime, sondern die kontingenten Intensitäten einer Erzeugung einer Mannigfaltigkeit weltschaffender Verbindungen und Beziehungen, eine Produktion exzessiver Soziabilität (Pieper et al. 2009: 351). Diese ermöglicht den Rekurs auf das Gemeinsame sowie die Potenzialität von Solidarität und damit ein Übersteigen der repressiven Strukturen des Ausbeutungsregimes. Dies belegt das Beispiel von Olaf (28 Jahre alt), der nach einer abgeschlossenen Lehre als Tischler mit verschiedenen zum Teil parallel ausgeübten undokumentierten Tätigkeiten ohne Festanstellungen seine Existenz sichert, nicht nur in seinem erlernten Beruf, sondern als Beleuchter beim Theater, Bühnentechniker, Kellner, Hausmeister, Gärtner, Fotograf, Betreuer in einem Wohnprojekt und Koch. Allerdings bietet Olaf weder das Bild ohnmächtiger Resignation angesichts des Übermaßes an Arbeit noch das des überlasteten, verzweifelt um seinen Unterhalt kämpfenden prekarisierten Arbeiters: »Ich habe immer versucht, soweit wie möglich fern vom System zu leben«, fasst er seine Strategie zusammen: »Ich hab’ nicht so ’n richtigen Begriff von Arbeit, dass ich denke ich muss. Ich mache ganz viele Sachen, die Arbeit sind, bei relativ wenigen davon verdiene ich Geld.« So kocht er ehrenamtlich in

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einem Kollektivprojekt oder arbeitet gering bezahlt bei Theaterproduktionen mit. Diese Haltung »so ein bisschen eine Gegenströmung zu sein« – und sich auch »Zeit für andere Dinge« zu nehmen, wie Olaf seinen auf Autonomie und Selbstaneignung von Zeit gerichteten Ausstieg aus den Zwängen des Produktionsregimes und wohlfahrtstaatlicher Versorgung charakterisiert, wird möglich durch seine affektiven Fähigkeiten zur Herstellung von Gemeinschaft stiftenden Beziehungen: »Ich komm ganz gut über die Runden. Also ich hab einen sehr großen, sehr gut funktionierenden Sozialkreis um mich herum, den ich mit für mich wenig Aufwand so aufrecht erhalte mit Kontakten und so. Also irgendwie dabeibleiben, also mit ’ner hohen Handyrechnung ((lacht)). Und dadurch passiert’s mir halt oft, dass ich so Tage, Wochen, sogar ganze Monate hab, wo ich keinen Pfennig Geld habe, wo ich halt gerade die 200 ¼ Miete auftreiben kann und das war’s. Ansonsten aber trotzdem jeden Abend in die Kneipe gehe, auf Konzerte gehe. Entweder kenn ich den Kellner, oder ich kenn den Türsteher oder ich bin mit Leuten unterwegs, die für mich bezahlen und so, aber ohne dass ich ’n schlechtes Gefühl hab deswegen, weil ich so arm bin.«

Mit der Beschreibung des Exodus und solcher »Fluchtlinien« (Deleuze/Guattari 1997: 313) der Subjektivierung in Assemblagen der Prekarität – wie sie in den Interviewsequenzen präsentiert werden – ist sicherlich keine messianische Vision des Entkommens aus den Flexibilisierungs- und Kommodifizierungsimperativen der Prekarität in eine »bessere Welt« formuliert. Es gibt kein striktes »Außen« der Bedingungen, sondern nur ein »unwahrnehmbares« (Papadopoulos et al. 2008: 71) Unterlaufen und die »Randgänge« eines »Werdens« und »Anderswerdens« (Deleuze 1991:156; Pieper 2007: 235) in den Praxen der Durchquerung, Umarbeitung und Verhandlung. In diesen artikuliert sich die »biopolitische« Produktivität der exzessiven und indeterminierten Überschüsse an Soziabilität, die unsere Interviewpartner/-innen hervorbringen. Prekarität als biopolitische Assemblage zu analysieren, kann also nicht bedeuten, den Blick ausschließlich auf das Herrschaftsprojekt zu richten. Es gilt vielmehr auch, die nicht zu überspringenden produktiven Praxen der Subjektivierung zu untersuchen. Sie sind das Terrain der unwahrnehmbaren Kämpfe und ein transformatorisches Potential, mit dem versucht wird, das Herrschaftsprojekt zu evakuieren.

M ULTITUDE UND DAS R ÄTSEL DES Ü BERGANGS Diese Formen der Subversion artikulieren sich jedoch nicht (nur) als solipsistische Subjektivierungsweisen und -prozesse der »Werdens« und Anderswerdens«, die in der Lage sind, »Fluchtlinien« zu beschreiben und Bruchlinien

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in den bestehenden Ordnungen des Ausbeutungsregimes zu erzeugen, um diese zu überschreiten (Deleuze1991: 156ff.; Pieper 2007: 235). Diese Subjektivierungsprozesse finden vielmehr innerhalb des Produktionsregimes in beweglichen Gebilden statt, in Assemblagen menschlicher sowie nicht-menschlicher Akteure und Aktanten, als kollektive Bewegungen und Ströme, die sich rhizomatisch ausbreiten und konstitutiv auf Netzwerkbildung, kollaborative Praxen, auf Soziabilität und Affekte angewiesen sind. Ebenso wie in der paradigmatischen Figur der Migration wird bezüglich des Regimes der Prekarität erkennbar, wie »Autonomie« (Moulier-Boutang 2007: 172; Mezzadra 2004: 267; Transit Migration 2008) jenseits humanistischer Subjektformation gedacht werden kann. Hier zeigt sich, wie subversive Praktiken operieren, die allen Ausbeutungs-, Leidensprozessen und Kontrollregimen zum Trotz sich im Moment der Nichtunterwerfung behaupten und eine Form von »Bewegung« – nicht im traditionellen Sinne, aber im wortwörtlichen Sinne – als Movens politischer Transformation einer nicht repräsentierbaren Subversion bilden. Das bedeutet aber keineswegs, dass hier von einer einheitlichen Kategorie »prekärer Abeiter/-innen« oder »immaterieller Arbeiter/-innen« analog zum traditionellen homogenisierenden Konzept der »Arbeiterklasse« gesprochen werden könnte. Politikformen der Gegenwart und das Subjekt der Transformation können nicht in den Kategorien der Vergangenheit gedacht werden. Eine solche Sicht ist nicht in der Lage, die Mannigfaltigkeit der Formen, in denen Prekarität gelebt wird, zu erfassen und in der eine verkörperte Erfahrung von Prekarität über die Arbeitsbedingungen hinaus zur verkörperten Erfahrung wird, sich als Aneignung von Leben und Lebenszeit vollzieht und zugleich Praxen freisetzen kann, die die Bedingungen überschreiten. Transformation wird hier weniger von Klassenwidersprüchen als von Bewegungen des Exodus, der Deterritorialisierung und der Fluchtlinien initiiert. Die Form subalterner biopolitischer Produktivität in Regimen der Prekarität verweist auf die »unwahrnehmbaren Politiken« (Papadopoulos et al. 2008: 71) eines »unterirdischen nicht unmittelbar repräsentierbaren Widerstands« – oder vielleicht besser: der Subversion, des Exodus – und auf das Fungieren von Kräften, die sich einem Projekt der politischen Institutionalisierung entziehen (Reitter 2005: 14). Es sind die kaum als heroisch wahrzunehmenden, unspektakulären Akte alltäglicher Praxen der Gegenwart, in denen sich, ohne dass sie als solche benannt wird, Subversion als Überschreitung gegebener Bedingungen aktualisiert und zum Ausgangspunkt sozialer Transformationen werden kann. Allerdings markiert dies keinen Endpunkt, sondern ein fortgesetztes Werden, da die Bestrebungen des Exodus immer wieder vom Ausbeutungsregime eingefangen werden können. Wie allerdings das subversive Potenzial zu einer expliziten politischen Konstituierung und deren Institutionalisierung findet, bleibt in den Arbeiten von Hardt und Negri uneindeutig. In den drei gemeinsam publizierten Werken

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(2002; 2004; 2010) entwerfen die Autoren unterschiedliche Varianten der Figur der Transformation, die sich in den neuen Produktionsverhältnissen formiert. Als Counterpart des kapitalistischen Ausbeutungsregimes charakterisieren Hardt und Negri (2002; 2004; 2010) die Formierung einer konstituierenden Macht, der »Multitude«. Mit dieser bei Spinoza entlehnten Figur beschreiben sie die Assoziation einer heterogenen dissidenten Vielheit nicht hierarchisch angeordneter Akteure, die sich weder auf eine übergeordnete Instanz noch auf die vereinheitlichende Selbstvergewisserung kollektiver Identitäten beruft. In der Multitude (lat. multitudo: Menge) bündeln sich die sozialen Kräfte, die als Potential der Befreiung von Herrschaft fungieren und sich auf dem Feld der Biomacht der strategischen Zurichtung immer wieder zu entziehen suchen. Mit dem Begriff der Multitude tragen Hardt und Negri eine Kategorie in die gegenwärtigen Debatte, die die Vision einer Neukonstituierung des Politischen durch ein gesellschaftsveränderndes Potential und eine Macht »von unten« zum Ausdruck bringt, die nicht mehr in der tradierten soziologischen Terminologie von Volk, Bevölkerung, Nation, Klasse, Schicht, Geschlecht oder anderen kollektiven Identitäten aufgeht. Multitude beruht dabei nicht auf der Eliminierung von Differenzen, sondern gerade auf der Vielzahl unterschiedlicher Verbindungen von »Singularitäten«, die durch Differenzen ermöglicht werden. Singularitäten sind dabei nicht als geschlossene Identitäten zu verstehen, sondern als singuläre Momentaufnahmen. Gerade diese Besonderheit des Moments ermöglicht spezifische Konnexionen, aus denen sich die Multitude konstituiert. Singularitäten verweisen nicht auf Geschlossenheiten, sondern auf ein beständiges Anderswerden. In ihrem Werk Empire (2002) verdichten sich die immanenten kreativen und schöpferischen Potentialitäten der biopolitischen Produzent/-innen eher selbstläufig zu einer insubordinativen, konstituierenden Kraft. In ihrem zweiten Band fügen die Autoren diesem Typus der Multitude noch eine zweite »historischen Multitude« hinzu, die erst durch eine bewusste Konstitution, durch ein »politisches Projekt« (Hardt/Negri 2004: 239) ins Leben gerufen werden kann. Hier wird deutlich, dass sich dissidente Bewegungen keinesfalls in einer Art »natürlicher Evolution« (Hardt/Negri 2004: 112) entwickeln, sondern Momente des Kampfes und des Widerstandes – wie die Autoren betonen – auf unvorhergesehene Art entstehen, da die Geschichte aporetisch und aleatorisch verlaufe, so dass in ihr beständig Möglichkeiten und Zufälle virulent seien, die im richtigen Augenblick ergriffen werden müssten. Auf die Frage nach dem Rätsel des Übergangs von einer insubordinativen Kraft zu einer politischen Organisierung antworten die Autoren in ihren Werk »Common Wealth« (2010) mit dem Verweis auf das Schaffen »biopolitischer Ereignisse«, also auf jene Überschreitungen der Machtverhältnisse, die der biopolitischen Produktion, bzw. den schöpferischen Tätigkeiten der Schaffung des Gemeinsamen inhärent seien. »Tatsächlich umgibt diesen Schaffensakt etwas

Prekarität aus post-operaistischer Perspektive

Rätselhaftes, aber es ist ein Rätsel, das alltäglich aufs Neue innerhalb der Multitude entsteht« (Hardt/Negri 2010: 190). Das Erklärungspotenzial der von Spinoza inspirierten Idee der Multitude als dissidenter Vielheit und die Vorstellungen einer Verkettung von Singularitäten, die nicht über den Rekurs auf Identitäten ein politisches Projekt ins Leben ruft, ist verlockend, um sie auf die Bewegung Prekarisierter bzw. auf die MayDay-Bewegung zu übertragen – als Verkettung einer Vielheit von Singularitäten. Gleichwohl bleibt das Rätsel der »Assoziationsbedingungen« (Marchart 2003) ungelöst. Hardt und Negri verweisen hier auf die in der biopolitischen Arbeit entfalteten Fähigkeiten zur Kooperation und Netzwerkbildung, in denen der Keim für neue Formen der Institutionalisierung angelegt sei (Hardt/Negri 2010: 371). Allerdings bleibt zu bedenken, dass das in der biopolitischen Produktion entfaltete Potential nicht automatisch in der Neuerfindung eines politischen Projekts radikaler Demokratie münden muss, deren Vision Hardt/Negri (2010: 36) zeichnen. Konnexionen zwischen Singularitäten und deren Verkettung zu »deterritorialisierenden Maschinen« Deleuze/Guattari (2002: 482) finden nicht einfach über den Austausch von Wissen und die Verbindung zwischen Intellekten statt. Begehren, Imaginationen, vor allem aber Affekte und die Frage des Affiziertwerdens und andere zu affizieren und darüber weltschaffende Beziehungen zu stiften und einen »Exzess an Soziabilität« (Pieper et al. 2009) zu erzeugen, dürften hier wichtige Voraussetzungen für Assoziationsbildungen im Modus der Politiken vernetzter Affektionen sein.

S CHLUSSBE TR ACHTUNG Überlegungen zum »Gebrauchswert« des Theorieinventars für die Analyse von Prekarität müssen berücksichtigen, dass post-operaistische Perspektiven die Transformationsprozesse den nordatlantischen Raum fokussieren und damit die Verhältnisse in einem größeren Teil der Welt weitgehend ausblenden (kritisch dazu z.B. Randeria/Eckert 2009).14 Post-operaistische Theoriebildung zielt auf Neuformatierung der Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie und auf die Vision eines transformativen politischen Potentials, um eine Erneuerung politischer und theoretischer Praxis zu initiieren. Insofern lese ich diese Überlegungen nicht einfach als »Konzept«, sondern eher als Ausgangspunkt und als Anregung, Fragen zu stellen – nach den Dynamiken und Transformationspotentialen gegenwärtiger nordatlanti14 | Eine Reihe von Einwänden, die gegen Aspekte des theoretischen und politischen post-operaistischen Programms erhoben wurden, ebenso wie berechtigt reklamierte Leerstellen bleiben hier indes undiskutiert. Zu Kritiken vgl. zum Beispiel: Randeria/ Eckart 2009; Žižek 2009: insbes. 129f.; Brieler 2010, Saar 2006.

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scher Produktionsregime und -verhältnisse. Daher sehe ich in diesem Theorieinstrumentarium nicht »Kopien zur Widerspiegelung des Terrains«, sondern »Karten« zum Gebrauch (Deleuze 1977: 21). Mit ihnen gilt es, Fluchtlinien eines rhizomatischen »Werdens«, das »Involutive« (Deleuze/Guattari 2002: 325) schöpferischer Praxen zu sehen und nicht nur »Imitation« und »Identifikation« mit bestehenden Bedingungen zu reifizieren. In diesem Sinne halte ich jene Aspekte post-operaistischer Theoriebildung, die jene Dynamik biopolitischer Produktivität und die Doppelbewegung der Produktion von Subjektivität als Prozess einzufangen versuchen, für anschlussfähig an eine Analytik des Regimes von Prekarität, die sich sowohl von einer strukturalistischen Epistemologie als auch von der Idee eines autonomen humanistischen Subjekts als Movens der Geschichte verabschieden will. Hier gilt es, biopolitische Produktivität als heuristisches Instrument, als ein »Sensitizing Concept« (Glaser/Strauss 1967) zu nutzen, das darauf gerichtet ist, die Momente des Emergenten und Kontingenten aufzuspüren. Die in den Assemblagen der Prekarität entstehenden Subjektivitäten treiben über die bestehenden Verhältnisse hinaus und überschreiten diese permanent, wenn sie mit den Engpässen und Konflikten ihrer Lebensumstände und den Mikropraktiken der neuen Ordnung ihrer Ausbeutung konfrontiert werden. Daher entsteht die Produktion von Subjektivität im Exzess der »kontingenten Intensitäten und Brüche« (Tsianos/Papadopoulos 2007: 146) in den Assemblagen der Prekarität. Wir sehen uns hier verkörperten Prozessen fluider Subjektivierung gegenüber, die angesichts der aleatorischen Unbeständigkeiten und Turbulenzen des prekären Alltags in dessen chronischen Instabilitäten, Brüchen und Engpässen immer wieder neu konstituiert und erfunden werden müssen. Nicht mehr »Vertrautheit«, »Gewohnheit« und »Identitäten« sind die Chiffren dieser Entwicklung. Es ist vielmehr das »Unheimliche« (Freud 1919: 236; Bhabha 2000: 215) in seiner Ambivalenz. Daher appelliert Virno (2005: 102f.), den Verlust und die Vertreibung aus der Vertrautheit vorgegebener Formen, Normen und Identitäten auch als ermöglichend zu verstehen, als das Potential der heterogenen operativen Möglichkeiten und als produktive Zerstörung und dieses somit als wertvollste Ressource der Multitude zu bestimmen. Das Verhandeln der Komplexität sozialer Kontexte in der Prekarität eröffnet auch das Potential des Schaffens von Freiräumen für das Erfinden neuer Lebensformen. In der der empirischen Untersuchung von Prekarität ist daher nicht der feststellende Blick gefragt, der von den bestehenden Bedingungen des Produktionsregimes deduktiv schließt. Zur Erkundung des Terrain der Prekarität gilt es vielmehr – in Anlehnung an post-operaistische Theoriebildung –, als epistemisches Element eine Wahrnehmungsstrategie zu kultivieren, die sich auf die Praxen der Akteur/-innen richtet und auf ihre Subjektivierungsprozesse und sensibel ist für das Einfangen von Momenten der Dynamik, einer Potentialität der permanenten, emergierenden Aktualisierung.

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Das Private und das Öffentliche, einstiges Gegensatzpaar, verschwimmen seit geraumer Zeit zusehends: Das ehemals Private ist nicht nur immer mehr in der Öffentlichkeit präsent, zudem verschränken sich Selbst- und Arbeitsverhältnisse in einer Weise, durch die neue Öffentlichkeiten entstehen. Die Produktion wird durch Kommunikation und Dienstleistung sozial. Mit dieser Transformation zu einer auf neue Weise sozialen Produktion gehen Praktiken der dienstbar machenden Selbstregierung einher, für die die Entblößung des scheinbar privaten Selbst in den (sozialen) Medien nur ein Symptom ist. Indem tendenziell alle Erfahrungen der Einzelnen Teil des Produktionsprozesses werden können, findet Selbstverwirklichung gegenwärtig als Aufführung in der Öffentlichkeit statt. Arbeit wird damit gleichsam zu einer virtuosen Darbietung. Wenn aber die Arbeit in der Öffentlichkeit virtuos wird, was wird dann aus dem politischen Handeln, einst der Sphäre von Öffentlichkeit und Virtuosität? Paolo Virno formuliert in seiner Schrift Grammatik der Multitude folgende These: »Ich glaube, dass angesichts der heutigen Lebensformen, sowie in der zeitgenössischen Produktionsweise […], unmittelbar einsichtig wird, dass weder das Paar öffentlich/privat noch das Paar kollektiv/individuell noch zu halten ist; sie haben ihre Wirksamkeit verloren, ihre Grenzen verfließen« (Virno 2005a: 30f.). Das Phänomen, an dem Virno die Ununterscheidbarkeit von Kollektivität und Individualität ebenso wie von Öffentlichkeit und Privatheit untersucht, sind neoliberale Produktionsweisen. Darunter versteht er mehr als Arbeit im traditionellen Sinn, also als herstellende produktive Tätigkeit, nämlich »das Zusammenwirken verschiedener Lebensformen« (61). Es geht ihm um das Hegemonialwerden von Produktionsweisen, die auf kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten basieren, auf hoher Flexibilität beim Einsatz der Arbeitskraft, auf einem permanenten Umgang mit Unvorhersehbarem, mit Kontingenz (vgl. Lorey/Neundlinger 2012). Bei solchen Produktionsweisen wird die gesamte Per1 | Dieser Beitrag ist ein leicht veränderter Ausschnitt aus meinem Buch Die Regierung der Prekären. Vgl. Lorey 2012: 95-117.

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sönlichkeit gefordert, ihr Intellekt, ihr Denken, ihr Sprachvermögen, ihre Affekte. Das führt Virno zufolge zu einem Ende von Arbeitsteilungen (im Sinne der Aufteilung der Arbeit)2 und zu erheblichen persönlichen Abhängigkeiten; nunmehr allerdings weniger zu Abhängigkeiten von Regeln und Vorschriften, sondern von einzelnen Personen im Arbeitsverhältnis, aber auch von Netzwerken, um gegebenenfalls an den nächsten Job zu kommen (vgl. Virno 2005a: 52f). Die auf Kommunikation basierende Arbeit ist weniger eine, die ein Produkt herstellt, als vielmehr eine »Tätigkeit-ohne-Werk« (ebd.: 66; Virno 2010). In dieser tendenziell produktlosen Produktionsweise werden keine materiellen Dinge im klassischen Sinn fabriziert, aber es entstehen darin Sozialitäten. Ein besonderer Aspekt dieser Produktion des Sozialen ist, dass sie nicht auf die Orte und Zeiten der Erwerbsarbeit beschränkt bleibt; sie geht darüber hinaus und findet tendenziell kein Ende. In dieser Verschränkung von Produktion und Sozialität wird sowohl die Arbeit als auch das soziale Leben in hohem Maße prekär.3

P OLITISCHE F REIHEIT UND DIE B ÜHNE DER V IRTUOSITÄT Das Zusammenfallen der sozioökonomischen Sphären von privat und öffentlich durch die Verschränkung von Arbeit und Sozialem beschreibt Virno in Relation zur Aristotelischen Dreiteilung menschlicher Erfahrung in Arbeit (poiesis), Denken/Intellekt (Leben des Geistes) und politisches Handeln (praxis). Trotz gelegentlicher Überschneidungsmöglichkeiten würden die drei Bereiche bis heute meist voneinander getrennt vorgestellt: Arbeit bedeutet in diesem Schema die Produktion neuer Objekte in einem sich wiederholenden, vorhersehbaren Prozess. Dem entgegengesetzt ist der zweite Bereich, der des Intellekts, seinem Wesen nach durch Vereinzelung geprägt und unsichtbar, da sich die Meditation der DenkerIn dem Blick der Anderen entzieht. Der dritte Bereich menschlicher Erfahrung schließlich, der des politischen Handelns, prägt sozia2 | »Das bedeutet natürlich nicht, dass die Tätigkeiten nicht mehr unter-, auf-, eingeteilt usw. wären; es bedeutet vielmehr, dass die Segmentierung der einzelnen Tätigkeiten nicht mehr nach objektiven, ›technischen‹ Kriterien vorgenommen wird, sondern ausgesprochen arbiträr, reversibel und ständig in Veränderung begriffen ist« (Virno 2005b). 3 | Wenn ich hier die Tendenz des Hegemonial- und damit Normalwerdens solcher neoliberaler Lebens- und Arbeitsverhältnisse beschreibe, bedeutet dies nicht, dass die traditionelle industrielle Produktion verschwindet. Aber sie verliert ihre alleinige, strukturgebende Bedeutung für die gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsprozesse. Zudem will ich mit meinen Ausführungen zu Prekarisierung für den industriellen Zweig keineswegs eine Ausnahme behaupten. Diese Arbeitsverhältnisse sind ebenfalls von Flexibilisierung, Befristung und dem Abbau und Umbau sozialer Sicherungssysteme geprägt.

Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit

le Beziehungen und ist von der Sphäre der Arbeit, die durch Wiederholungsprozesse auf »natürliche« Materialien einwirkt, unterschieden. Bemerkenswert dabei ist, dass das politische Handeln in diesem traditionellen Verständnis mit dem Möglichen und dem Unvorhergesehenen zu tun hat: Es produziert keine Objekte, sondern verändert durch Kommunikation (Virno 2005a: 61ff.). Nur das politische Handeln gilt in dieser Einteilung als öffentlich, denn es bedeutet, um mit Hannah Arendt zu sprechen, das »den Blicken der Anderen Ausgesetztsein« (Arendt 1981: 164ff.). Trotz vielfacher Kritik an der Unangemessenheit dieses aristotelischen Modells für die Gegenwart findet diese Dreiteilung von Arbeit, Intellekt und politischem Handeln bis heute weite Verbreitung. Dies ist Virno zufolge nicht zuletzt auf den großen Einfluss Hannah Arendts zurückzuführen.4 Doch auch Arendt spricht von Überlappungen zwischen den drei Bereichen – interessanterweise ebenso wie Virno im Zusammenhang mit Virtuosität, das heißt mit Kreativität in einem bestimmten Sinn. In dem Text »Freiheit und Politik« vergleicht sie die ausführenden KünstlerInnen, die VirtuosInnen, mit denjenigen, die politisch aktiv sind, also in ihrem Verständnis politisch handeln, sich den Blicken der Anderen aussetzen. Denn bei diesen darstellenden KünstlerInnen liege, wie Arendt schreibt, »die Leistung im Vollzug selbst […] und nicht in einem die Tätigkeit überdauernden und von ihr unabhängig bestehenden Endprodukt. […] Genau so, wie das Musizieren oder das Tanzen oder das Theaterspielen für die Entfaltung ihrer Virtuosität auf ein Publikum angewiesen sind, das dem Vollzug beiwohnt, bedarf auch das Handeln der Präsenz anderer in einem […] politisch organisierten Raum« (Arendt 1994: 206Für Arendt ist Politik demnach eine Kunst der Darstellung, eine performative Kunst. Wegen des notwendigen Publikums, des »sich den Blicken anderer Aussetzens«, brauchen sowohl Politik als auch Virtuosität einen »Erscheinungsraum«. Und, so Arendt, »[w]as immer in diesem Erscheinungsraum vor sich geht, ist politisch per definitionem, auch wenn es mit Handeln direkt nichts zu tun hat« (ebd.: 207). Mit diesem Zusatz »auch wenn es mit Handeln direkt nichts zu tun hat«, so lässt sich folgern, ist »jede Virtuosität wesentlich politisch« (Virno 2005a: 67, Herv.i.O.). Direkt nachdem Arendt die Verwobenheit von Virtuosität und Politik hervorgehoben hat, spricht sie in diesem Text in emphatischem Sinn von Freiheit. Darauf bezieht sich Virno allerdings nicht. Dieser Nexus von Virtuosität und politischer Praxis zur Freiheit scheint mir jedoch ein zentraler Punkt zu sein. Der Erscheinungsraum nämlich, der politisch-öffentliche Bereich – und Arendt hat immer die griechische Polis vor Augen –, ist der Ort, »an dem Freiheit sich manifestieren […] kann« (Arendt 1994: 207). »Ohne einen solchen eigens für sie gegründeten und eingerichteten Raum kann Freiheit sich nicht verwirkli4 | … und freilich, so muss ergänzt werden, auf die weiterhin bestehende Hegemonie industriekapitalistischer Denkmuster.

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chen. Freiheit ohne Politik gibt es eigentlich nicht, weil sie gar keinen Bestand hätte« (207f.). Diesen Freiheitsbegriff unterscheidet Arendt von dem der Gedanken- und der Willensfreiheit. Vor allem letztere ist für sie eine egozentrische Last des Christentums. Ihr geht es dagegen um eine politische Freiheit, die sich vom Privaten, von der »Sorge um das Leben« (ebd.: 208) gelöst hat und abgrenzt: um eine Freiheit im Öffentlichen, eine des Handeln-Könnens, nicht des Wollens und des Denkens (vgl. ebd. und 212ff.). Arendt verbannt die Sorge um das Leben – und dem entsprechend auch die Sicherung des existenziellen Prekärseins sowie die damit einhergehende Sorgearbeit – in den privaten Haushalt. Politisches Handeln ist für sie nur als Befreiung von den Lasten des oikos denkbar. Mit dieser Unterteilung zwischen dem privaten Haus und dem politisch konnotierten Öffentlichen reproduziert Arendt die liberale und bürgerliche, geschlechtlich konnotierte Sphärentrennung. Die dem Privaten zugeordnete Willensfreiheit ist in ihren Augen eine unpolitische Freiheit, weil sie »mit sich selbst erfahrbar« und von »den Vielen unabhängig« (212) ist. Freiheit als politische Freiheit, so Arendt, bedeutete in der Antike öffentliche Auseinandersetzung. Erst durch das Miteinander-Reden, den Austausch mit anderen Perspektiven entsteht das, »was Vielen gemeinsam ist« (Arendt 2003: 52). Bedingung für diese kommunikative Konstruktion von Welt ist eine »Bewegungsfreiheit«, die dem »Privaten« entflieht: die Freiheit, sich »aus dem gesamten Bereich des Zwingens, des Haushaltens und seiner ›Familie‹ […] entfernen« (ebd.: 44), weggehen zu können. Freilich war dies nur einem freien Mann wie dem Hausherrn, dem pater familias möglich. Wenn er die Schwelle seines Hauses überschritt, verließ er nicht nur den privaten »Ort, an dem Menschen von Notwendigkeit und Zwang beherrscht wurden«, schreibt Arendt, sondern zugleich jenen Ort, »wo das Leben eines jeden gesichert war […]. Frei also konnte nur sein, wer bereit war, das Leben gerade zu riskieren« (ebd.). In diesem Verständnis ist politische Freiheit nicht zu trennen von Unsicherheit und Risiko des Lebens. »[D]as gleiche gilt für die Verbindung des Politischen mit Gefahr und Wagnis überhaupt« (45). Die Gefährdung des Lebens ist für Arendt Voraussetzung des Politischen und einer bestimmten Form von Öffentlichkeit. Diese war in der antiken Konzeption freilich in erster Linie der Handlungsraum der freien Männer, der zugleich auf dem gesicherten oikos und darin agierender schützender, patriarchaler Männlichkeit basierte. Dennoch bleibt Arendts Gedanke, politische Freiheit habe mit dem Unvorhersehbaren, mit Unsicherheit und Risiko zu tun, interessant. Demnach bedeutet es eine Gefährdung des Lebens, den Blicken der Anderen ausgesetzt zu sein: Politisches Handeln bedingt einen Umgang mit der Kontingenz des Prekärseins, ohne Reflexe nach individualistischer privater Absicherung.

Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit

W ENN SICH DIE V IRTUOSITÄT DES P OLITISCHEN MIT DER KOGNITIVEN A RBEIT VERBINDE T Wenn Arbeit immer häufiger als Wissens- und Dienstleistungsarbeit auftritt und in immer höherem Maß auf Kommunikation beruht, dann fällt der Intellekt, das Denken und Sprechen im Allgemeinen, verstärkt mit dem Bereich der Arbeit zusammen. Das gemeinsame dieser performativen, kognitiven Tätigkeiten ist, dass die gesamte Person, ihr Wissen und ihre Affekte Teil des kapitalistischen Produktionsprozesses werden, und ebenso die Beziehungen zu denjenigen, die die Akte anordnen bzw. in Auftrag geben sowie zu jenen, denen gegenüber sie aus- und aufgeführt werden (vgl. Virno 2005a: 94). Mehr noch, und das fasst der Begriff der »immateriellen« Arbeit nicht ohne weiteres, in diesem Produktionsprozess entstehen Subjektivierungen und soziale Beziehungen. Die Materialität der performativ-virtuosen Arbeit ist zwar nicht auf die traditionelle Herstellung von Produkten ausgerichtet, deshalb ist sie aber nicht ohne Materialität. Es ist eine Materialität nicht nur von performativen Körpern, sondern von Subjektivierungen und Sozialitäten. Diese kapitalisierte Materialität des Sozialen hat Auswirkungen auf den Bereich des Öffentlichen. Die neoliberale ArbeiterIn wird zu einer selbstunternehmerischen VirtuosIn auch deshalb, weil sie in den vielfachen sozialen Relationen ihr verwertbares Selbst vor den Blicken der anderen zur Darstellung bringen muss. Auf Arbeit reduziert, braucht die Verwirklichung dieses Selbst die Aufführung in der Öffentlichkeit. In neoliberalen Produktionsverhältnissen wird mithin der Intellekt öffentlich, was für Arendt undenkbar war. Das für ihren Öffentlichkeitsbegriff grundlegende »sich den Blicken der anderen Aussetzen« hat sich zu einem der entscheidenden Merkmale virtuoser Arbeits- und Lebensverhältnisse entwickelt. Die Präsenz des Anderen ist sowohl Instrument als auch Objekt der Arbeit geworden. In der performativen kognitiven Tätigkeit verschränken sich Arbeit und Soziales; Herstellen, Handeln und Sprechen fallen in eins. Vor dem Hintergrund des dreigeteilten Modells von Aristoteles und Arendt überschneiden sich nicht nur poiesis und Intellekt, sondern zudem die praxis: Die virtuos Arbeitenden ähneln heute mehr und mehr den im klassischen Sinn politischen Menschen. Zum einen basiert diese neoliberale Form der Arbeit auf sozialen Beziehungen und wirkt auf diese ein, ähnlich wie es traditionell dem politischen Handeln zugeschrieben wurde; zum anderen und darüber hinaus aber sind die performativen kognitiven Tätigkeiten selbst immer mehr als »gesellschaftliche Kooperation« (83) gestaltet. Die kognitive Arbeit eignet sich die Merkmale des VirtuosPolitischen an (64). Fallen nun Ökonomie und Politik im Neoliberalismus in einer Weise zusammen, dass die performativ-virtuos Arbeitenden automatisch die politisch Agierenden sind? Aufgrund des notwendigen öffentlichen Erscheinungsraums

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gesteht Hannah Arendt den VirtuosInnen ja auch dann etwas Politisches per definitionem zu, wenn ihre Tätigkeit mit (politischem) Handeln nicht direkt etwas zu tun hat (vgl. Arendt 1994: 207). Allerdings – und das ist das entscheidende Kriterium – ist die performativ-virtuose Produktion nicht unmittelbar und automatisch mit politischer Freiheit verbunden, sondern eher mit dem, was Arendt als Freiheit des Willens bezeichnet, mit individualistischen Formen von Freiheit.5 Auch wenn ihre Analysen für die aktuellen ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse kaum noch Relevanz zu haben scheinen, lässt sich mit Arendts Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen von Freiheit verdeutlichen, weshalb dieses öffentliche, ökonomisierte Agieren kein politisches Handeln darstellt. Wenn sich – so Arendt – »das Ideal des Freiseins […] vom Handeln-Können auf das Wollen verschoben hat«, kann es »nicht mehr die Virtuosität des Mit-einander-zusammen-Handelns sein. Das Ideal wurde vielmehr die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und gegebenenfalls das Sich-Durchsetzen gegen sie« (ebd.: 213). Auf die eigene marktförmige Selbstgestaltung bezogen, werden gegenwärtig Techniken der Selbstregierung vornehmlich in den Dienst der ökonomischen Verwertbarkeit gestellt. Ist die Gegenwart der anderen allerdings reduziert auf ein kapitalisiertes Produktionsverhältnis, wird der Zwang, die eigene Virtuosität unter Beweis zu stellen, zur selbstbezogenen und konkurrierenden Servilität. Die virtuose Tätigkeit zeigt sich so »als allgemein dienende Arbeit« (Virno 2005a: 93). Fallen Herstellen und Handeln in der Öffentlichkeit zusammen, wird dieses Handeln demnach nicht zwangsläufig zu einem politischen; gerade umgekehrt ist es nicht selten ein Handeln, durch das andere und die eigene Person ökonomisch regierbar werden. Obwohl dieses individualisierte virtuose Handeln in der alten Logik einer vermeintlich souveränen, von anderen unabhängigen Selbstgestaltung stattfindet, ist es zugleich ein Handeln der Selbstunterwerfung, das von Angst begleitet ist. Hobbes’ Furcht erregender Souverän, dem die Untertanen gehorchen sollten, ist längst – und im Neoliberalismus in extremer Weise – in eine selbstregierende Angst transformiert. Gouvernementale Prekarisierung, das (Selbst-) Regieren durch Unsicherheit verharrt auf der Ebene der handelnden Subjekte gegenwärtig vielerorts noch in einem verängstigten Sich-Arrangieren. Eine dienende, auf sich konzentrierte Virtuosität verhindert – obwohl sie sich nur in Anwesenheit anderer vollziehen kann und nicht selten in sozialer 5 | Birgit Sauer hat darauf hingewiesen, dass in neoliberalen Diskursen mit der Metapher der Freiheit Fantasien über vielfältige Chancen und Optionen, über individuelle Entscheidungsfreiheit angestoßen werden. Solche Diskurse über Freiheit sind im Neoliberalismus allerdings in »eine herrschaftsförmige Restrukturierung des Politischen« eingebunden. Es entsteht eine »neue Form des Regierens durch Freiheit«, Freiheit transformiert in Herrschaft (Sauer 2008: 18f., s.a. Segal 2006: 324).

Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit

Zusammenarbeit stattfindet, obwohl sie sich inmitten der Materialisierung des Sozialen befindet – das gemeinsame politische Agieren. Es ist ein »Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit« (Virno 2005b), ein Agieren vor den Augen der Anderen, in dem sich der virtuose Intellekt gerade nicht mit dem Politischen verbindet, nicht mit öffentlicher Kritik und Ungehorsam, nicht mit der Invention von Sozialitäten jenseits von Kapitalisierung. Allein aufgrund der Zunahme virtuoser Lebens- und Arbeitsverhältnisse ist also nicht eine gesteigerte Politisierung zu verzeichnen.

E T WAS NEUES V IRTUOS -P OLITISCHES Wenn sich strukturelle Aspekte der Virtuosität des Politischen in der produktiven Arbeit zeigen, in Tätigkeiten, die in der öffentlichen Interaktion Selbstregierungsweisen konstituieren, wird zwar gewissermaßen politisches Handeln entleert, zugleich entsteht aber in den Produktionsverhältnissen eine Potenzialität für etwas neues Virtuos-Politisches. Gerade weil aktuelle Produktions- und Lebensweisen in ihrer politischen Virtuosität auf der Kunst des Möglichen und dem Umgang mit dem Unvorhersehbaren basieren (vgl. Virno 2010: 36), das heißt permanent mit Unsicherheit und Risiko umgehen müssen, entsteht in dieser Prekarisierung eine Potenzialität des Politischen, die an das erinnert, was Arendt für die politische Freiheit festgestellt hat. Diese Form der Freiheit basiert auf der Unsicherheit und ermöglicht überhaupt erst »die Virtuosität des Mit-einander-zusammen-Handels«. Es ist keine Freiheit, die die Trennung von anderen unterstreicht, die Imaginationen von der Unverletzbarkeit mancher, von einer einheitlichen politischen Gemeinschaft, von Souveränität stützt. Diese Freiheit, so Arendt, funktioniert nur »unter der Bedingung der NichtSouveränität« (Arendt 1994: 214). Sie verbindet politische Freiheit mit Bewegungsfreiheit, mit Weggehen, mit dem Verlassen von Herrschaftsverhältnissen der Souveränität und verknüpft diese Freiheit des Weggehens mit einem Neuanfang, einem Neubeginn (vgl. Marchart 2005). Dies lässt sich freilich mit Virnos politisch-theoretischer Konzeptualisierung des Exodus zusammendenken. Auch er geht von einem politischen Zusammen-Handeln aus, das sich von Souveränität distanziert, und damit – radikaler als Arendt – vom Staat. Unter der Bewegung des Exodus versteht Virno das massenweise Abfallen vom Staat, um so eine »nichtstaatliche öffentliche Sphäre« zu instituieren und zu einer »radikal neue[n] Form der Demokratie« zu gelangen (Virno 2005a: 95). In der Konzentration auf die gesellschaftliche Kooperation geht es ihm um eine »nicht-servile Virtuosität« (Virno 2010: 56), die von den neoliberalen Produktionsbedingungen abfällt. Um zu radikal neuen Formen von Demokratie zu gelangen, braucht es keine Flucht und keinen Exodus in ein Jenseits, keinen Massenauszug, um

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an einem ganz neuen Ort ein Zusammenleben zu erfinden. Eine nicht-servile Virtuosität ist der servilen immanent, so wie das Potenzial, gegenwärtigen dienenden Virtuositäten zu entfliehen, nicht zuletzt in den prekären Subjektivierungsweisen selbst entsteht. Im Exodus der Vielen entfaltet sich eine Konstituierung, eine Organisierung der mannigfaltigen Singularitäten, um ›zurückzukehren‹ und die bestehenden Verhältnisse grundlegend zu verändern.6

L ITER ATUR Arendt, Hannah (1981): Vita Activa oder vom täglichen Leben. München: Piper. Arendt, Hannah (1994): »Freiheit und Politik«. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, hg. von Ursula Ludz. München/Zürich: Piper: 201-226. Arendt, Hannah (2003): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hg. von Ursula Ludz, Vorwort von Kurt Sontheimer. München/Zürich: Piper. Lorey, Isabell (2011): Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich: Diaphanes. Lorey, Isabell (2012): Die Regierung der Prekären, mit einem Vorwort von Judith Butler. Wien/Berlin: Turia + Kant. Lorey, Isabell; Neundlinger, Klaus (2012): »Kognitiver Kapitalismus. Von der Ökonomie zur Ökonomik des Wissens«. In: dies. (Hg.): Kognitiver Kapitalismus. Wien/Berlin: Turia + Kant: 7-55. Marchart, Oliver (2005): Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, mit einem Vorwort von Linda Zerilli. Wien/Berlin: Turia + Kant Sauer, Birgit (2008): »Von der Freiheit auszusterben. Neue Freiheiten im Neoliberalismus?«. In: Bidwell-Steiner, Marlen/Wagner, Ursula (Hg.): Freiheit und Geschlecht. Offene Beziehungen – Prekäre Verhältnisse. Innsbruck u.a.: Studienverlag: 17-31. Segal, Jacob (2006): »The Discipline of Freedom: Action and Normalization in Theory and Practice of Neo-Liberalism«. In: New Political Science 3, 323334. Virno, Paolo/Neundlinger, Klaus (2005a): Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect; eingel. von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien/Berlin: Turia + Kant.

6 | Zu dieser Figur des Exodus und der Bedeutung der ›Rückkehr‹ siehe Lorey 2011: 36-51 und 293-313.

Virtuosität und neoliberale Öffentlichkeit

Virno, Paolo; Neundlinger, Klaus (2005b): »Das Öffentlichsein des Intellekts. Nichtstaatliche Öffentlichkeit und Multitude«. In: transversal: »Publicum«, http://eipcp.net/transversal/0605/virno/de Virno, Paolo/Neundlinger, Klaus/Raunig, Gerald (2010): »Virtuositat und Revolution. Die politische Theorie des Exodus«. In: ders.: Exodus. Wien/Berlin: Turia + Kant: 33-78.

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Von Ausschluss zu Ausschluss Migration und die Transformation politischer Subjektivität Serhat Karakayali

E INLEITUNG Die Migration ist vor einigen Jahren zu einem sine qua non der Debatten um Prekarisierung geworden. Wer über prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse reden will, der findet in den MigrantInnen die Inkarnation von Prekarisierung – sie sind schließlich die »Prekärsten der Prekären«. Ganz ähnlich sprach man in einem vorangegangenen Debattenzyklus von der »Feminisierung der Arbeit« und meinte damit, dass sich die für Beschäftigungsverhältnisse von Frauen typischen Bedingungen immer mehr verallgemeinerten. Auf der empirischen Ebene mögen diese Beobachtungen zutreffend sein. Sie verweisen aber auch auf ein epistemologisches Problem. Metapherologisch gesprochen könnte man sagen: Übertragen werden mit den Bildern von der Feminisierung und Migrantisierung der Arbeit nicht nur die Eigenschaften der Arbeitsverhältnisse, sondern auch das theoretische Modell, mit dem das Verhältnis von Arbeit und Subjektivität gedacht wird. Während noch in den älteren ökonomistischen Diskursen Fragen der Geschlechterverhältnisse als irrelevant erschienen, sind sie nun in der epistemologischen Hierarchie aufgerückt, allerdings in Gestalt einer differenztheoretischen Struktur. Besonders deutlich wird dies in vielen Beiträgen, die sich in der Theorietradition des »Intersektionalismus« verorten (vgl. kritisch Degele/Winkler 2010). Daher ist so oft von »Ausschluss« die Rede. Zum anderen verweist diese subjektive »Gesicht der Prekarisierung« auf sein Negativ: den männlichen und weißen Inhaber eines so genannten Normalarbeitsverhältnisses und die darin enthaltenen Unterschichtungs- und Reproduktionsverhältnisse. Prekarisierung und Migration werden heute nicht als Effekt historischer Kämpfe untersucht, sondern oftmals nur als Verschärfung, Verarmung und Deklassierung klassifiziert. Eine solche Herangehensweise unterschlägt die komplizierte Rolle von Mobilität und Prekarität als einer Ressource in den Kämpfen

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Serhat Karakayali

um Migration. MigrantInnen können so nur als Opfer der Verhältnisse erscheinen, nicht als Subjekte sozialen und politischen Handelns. Der Begriff der Prekarisierung bezieht sich auf das Schwinden »sicherer« Arbeitsverhältnisse und damit auf ein allgemeines Problem in Gesellschaften, in denen Lohnarbeit die dominante Form der materiellen Reproduktion darstellt. Mit einigem Recht kann man fragen, unter welchen Umständen es im Rahmen des Kapitalismus überhaupt nicht-prekäre Arbeitsverhältnisse geben kann, sind die Einkommen doch unmittelbar an, mittlerweile extrem finanzialisierte, Profitabilitätsmaximen gebunden (Lipietz 1998). Konkret bezieht sich die aktuelle Debatte aber ganz offensichtlich auf ein sehr spezifisches Modell von Lohnarbeit im Fordismus. In diesem war Einkommen »sicher«, insofern es auf einer bestimmten Regulationsweise basierte, die Leben, Arbeiten, Konsumieren und Produzieren miteinander in »produktiver« Weise zu verkoppeln imstande war. Das beinhaltete neben Massenproduktion die nationale »Einzäunung« von Sozialstaat, die Förderung kleinfamiliärer Strukturen und damit auch die Verhinderung von Frauenerwerbstätigkeit. Prekäre Arbeitsverhältnisse existierten auch im Fordismus, waren aber beschränkt auf »Außenseiter« – diejenigen ArbeiterInnen, die nicht am sozialen Kompromiss des Fordismus teilhatten. Die prekären Arbeitsbedingungen dieser – oftmals weiblichen oder migrantischen ArbeiterInnen wurden von den Gewerkschaften historisch angegriffen. So wurde Frauenarbeit seit dem 19. Jahrhundert als »Schmutzkonkurrenz« bezeichnet und MigrantInnen als »Sklavenarbeiter«. Die neuesten Debatten um Prekarisierung zeigen dabei, dass es keineswegs einfach ist, einen klaren Trennstrich zu ziehen zwischen Angriffen auf die Arbeitsbedingungen und Angriffen auf Frauen und MigrantInnen.

1. TR ANSFORMATION DER M OBILITÄT Heute erscheint es selbstverständlich, dass Mobilität und Migration die erklärungsbedürftigen und problematischen Phänomene darstellen gegenüber der Normalität einer in den Grenzen eines nationalen Staates sesshaften Bevölkerung. Ein kurzer Blick in die Geschichte des »Makings« dieser Opposition und der Entstehung von Bevölkerung kann diese Perspektive zumindest verunsichern: Aus einer europäischen Perspektive reicht das Phänomen von Mobilität als einem sozialen und politischen Problem bis ins 12. Jahrhundert zurück. Schon in der sogenannten »ersten Landflucht« (Dobb 1972) fliehen die Bauern vor den Feudalherren und werden zu einem Proletariat avant la lettre. Aufgrund einer Reihe von Entwicklungen verschärfen sich die Arbeitsbedingungen im Feudalsystem. Historiker sehen allerdings die Flucht als eine maßgebliche Größe in der Transformation der mittelalterlichen Produktionsweise an: »Das Güterwirtschaftssystem wurde nicht durch die Umwandlung der Dienstleis-

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tungen in Geldzahlungen, sondern durch die Flucht der Bauern ausgehöhlt. […] Massenfluchtbewegungen von den Herrengütern beschleunigten das Ende der Leibeigenschaft in England« (Lipson nach Dobb 1972: 57). Es handelt sich um ein massenhaftes Phänomen, das überall in Europa politische Reaktionen hervorruft. Fürsten bzw. Machthaber sehen in dem, was sie Vagabundage oder Bettlerwesen nennen, ein schwerwiegendes soziales und politisches Problem. Ganz offensichtlich aber scheinen diese Begriffe das Problem nicht adäquat zu fassen. Dies wird an den neuen Gesetzen und Erlassen deutlich, mit denen der Mob1 kontrolliert und reguliert werden sollte: Sie zielen in ihrer Mehrheit darauf ab, Mobilität unter dem Gesichtspunkt von Lohnarbeit zu regulieren (vgl. z.B. Boutang 1998, Castel 2000) und beinhalten u.a. die Regulierung der Löhne, Arbeitsstunden oder die Pflicht ein Arbeitsbuch bei sich zu tragen. Diese Konflikte um die Mobilität dauern mehrere Jahrhunderte an und beschäftigen von Thomas Morus über Martin Luther bis Karl Marx die führenden Intellektuellen ihrer Zeit. Das entscheidende aber ist, dass Mobilität nicht einfach ein strukturelles Resultat ökonomischer Krisen oder sozialen Elends ist. Vielmehr geht sie mit einem subjektiven Moment einher, das Theoretiker wie Yann Moulier Boutang oder Paolo Virno als einen Kontinent der Flucht bzw. als Exodus zu konzeptualisieren versucht haben. Flucht ist darin ein politischer Akt und damit in der Terminologie von Hirschman nicht nur »exit«, sondern exit-voice. Dabei handelt es sich keineswegs nur um theoretische oder politische Spekulation. Historisch resultierte die Flucht oft in alternativen Modellen sozialer Kooperation, in Opposition zu feudalen, merkantilistischen und kapitalistischen Modi des Zwangs zur Arbeit. Dies ist die Geschichte der Piraten, Maroons und Bauernaufstände, in denen ein utopisches Moment in der Geschichte der Mobilität manifest wird (vgl. z.B. Linebaugh/Rediker 2000). Nach einigen Jahrhunderten von Reformen schließlich kommt es zu einer großen Transformation dieser Mobilität. Aus der vielfältigen mobilen Menge mit fließenden Grenzen zwischen Sesshaften und Mobilen, immer im radikalen Gegensatz zur Herrschaft, werden »Bevölkerungen« bzw. Nationen geschmiedet. Bronislaw Geremek berichtet, dass die Einsperrung und Bestrafung der »Armen und Bettler« auf Ablehnung stieß »beim einfachen Volk, das bisweilen aktiv für die Bettler Partei ergriff, die sich der Einschließung widersetzten« (Geremek 1988: 267). Mit der modernen Staatlichkeit wird die Menge in zwei unterschiedliche, und manchmal einander entgegengesetzte Formen verwandelt: in sesshafte Untertanen-Bürger bzw. Arbeiter-Bürger einerseits und »Ausländer«, Migranten andererseits. 1 | Der pejorative Ausdruck »Mob« leitet sich aus dem lateinischen Wort für Bewegung oder beweglich, mobile, ab. Die Familienähnlichkeit zwischen Ausdrücken wie »Pöbel« und »Mob« verweist auf eine interessante Genealogie, die hier nur angedeutet werden kann.

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2. »B ORDERING « UND SOZIALE K OHÄSION Das 19. wird das Jahrhundert der großen Transformation der Mobilitätskontrollen. In vielen, allen voran den sich industrialisierenden europäischen Ländern kommt es zu einer doppelten Transformation. Wo interne Mobilität erleichtert wird, wird externe zunehmend erschwert. Das preußische Staatsangehörigkeitsgesetz etwa schuf einen nationalen Raum und Arbeitsmarkt und erleichterte die interne Mobilität durch eine Reform des Sozialstaats. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die systematische Trennung in die Rechtsformen »Inländer« und »Ausländer«. Obwohl es eine Reihe von Erleichterungen der Mobilität gab, etwa das Passkarten-Abkommen von 1850, das wie eine Art »Schengen« für die deutschen Länder funktionierte, wurde diese Mobilität nur so genannten zuverlässigen Bürgern zugestanden. Die Behörden fürchteten die »gefährlichen Klassen«, die Objekt spezieller Restriktionen blieben und Reise-Erlaubnisse ihrer lokalen Behörden benötigten. Diese Unterklassen blieben zunächst die »Ausländer« jener Zeit (vgl. Lüdtke 1982). Erst 1867 kam es mit der Einführung der Sozialversicherung und der Zerschlagung der Gilden auch zu deren Inkorporation. Die wachsende Repräsentation sozialer Interessen in den Staatsapparaten und der Übergang zu einem Sozialstaat waren Prozesse, die sich mehr oder weniger überall in Europa abspielten. In Frankreich verpflichtete noch Mitte des 19. Jahrhunderts das Gesetz über »Beihilfen für Bedürftige« Krankenhäuser dazu, Kranke unabhängig von der Staatsbürgerschaft zu versorgen. Aber schon alle Sozialgesetze der 3. Republik legen ab 1870 den Ausschluss von Ausländern fest, etwa das Gesetz über Arbeitsunfälle (1898), über Alte und Bedürftige (1905) oder das Gewerkschaftsgesetz (1884), das Ausländer von leitenden Positionen ausschloss. Das Gesetz über Schöffen am Arbeitsgericht verbot migrantischen Arbeitern, an Wahlen für die Arbeiterdelegierten teilzunehmen (Noiriel 1994: 71). Mit der Formierung der Nationalstaaten geht eine »Sozialdemokratisierung der Grenze« einher. Die sozialpolitischen Maßnahmen unter Bismarck zielen nicht auf politische Repräsentation, sondern sind eine Reaktion auf den wachsenden Organisationsgrad der Arbeiterklasse in Gestalt von Parteien und Gewerkschaften. Es handelt sich vielmehr um eine passive Repräsentation der Subalternen im Staat, die dazu führt, dass sowohl die feudale Opposition von Volk vs. Fürsten, als auch die neue, ökonomische Opposition zwischen Kapitalisten und Arbeitern, desartikulierbar wird. Es handelt sich um einen Kompromiss, der aber die Fluchtlinien neu zieht, innerhalb derer der Antagonismus sich artikuliert. Schon Lohnform und Warenförmigkeit der Arbeitskraft machen den Arbeitsmarkt zu einem Kampfterrain, indem die Reduktion des Angebots an Arbeitskraft zum Einsatz im Klassenkampf wird: Verdrängt werden Frauen und Kinder als »Schmutzkonkurrenz« vom Arbeitsmarkt – die quantitative Seite, die absolute Reduktion des Angebots ist dabei gekoppelt an die qualitative, bür-

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gerlich-patriarchale Dimension des ersten unter den »New Deals«: Der Preis für die Möglichkeit des »familienernährenden Lohns« ist die Konstruktion der proletarischen Familie am Vorbild der bürgerlichen. Zur Schmutzkonkurrenz zählen auch die »Ausländer« – weshalb es kein Zufall ist, dass es historisch immer wieder Gewerkschaften waren, die sich gegen Migration gestellt haben. Mit diesem »boundary drawing« haben die Organisationen der Arbeiter sich als politisches Subjekt konstituiert. Der Kern des modernen Arbeitsverhältnisses mit einem »sicheren Einkommen« liegt in dieser doppelten Abgrenzung, in dem auch die mobilen Arbeiter »Schmutzkonkurrenten« sind. Diese doppelte negative Konstitution wird anschaulich an Texten des Gewerkschaftsfunktionärs Max Diamant, der Ende der 1960er bis in die 1970er Jahre einen Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit von Frauen und der von Migranten hergestellt hat (z.B. Diamant 1970). In einem Text zur illegalen Beschäftigung migrantischer Arbeiter dekodiert Diamant die Formen illegaler Beschäftigung nicht nach juridischen Kriterien, sondern aus einer sozialen Perspektive, deren Hauptkriterium der Prekarisierungsgrad des Arbeitsverhältnisses ist. Neben »Halblegalen«, mit denen er diejenigen MigrantInnen meint, die auf dem zweiten und dritten Weg, also außerhalb des Anwerbeabkommens eingereist sind, gibt es bei ihm »absolut Illegale« (Diamant 1973b: 14ff). In diesem Kontext taucht die Frauenarbeit auf: »Da ist die Frauenbeschäftigung in einem exorbitanten Maße; und Frauenbeschäftigung, das heißt Beschäftigung von Billiglohnarbeitern.« (ebd.: 16) Die legalen MigrantInnen sind den Frauen ähnlich, sie sind unterprivilegiert, aber die »tagtägliche gewerkschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen und sie zu befähigen, daß sie für ihre Rechte eintreten« (ebd.: 19). Die Gleichstellung ist aber nur möglich unter den Bedingungen einer Stillstellung der Migration, ihrer Bändigung. Die Anwerbestopps überall in Europa gehen auch auf den Druck der Arbeiterorganisationen zurück: Die vom Gewerkschaftsfunktionär angepeilte allmähliche Angleichung – man könnte auch von »Integration« reden, ein Begriff, der tatsächlich in den 1970er Jahren von den Sozialdemokraten ins Spiel gebracht wird – setzt voraus, dass der Prekarisierung »von unten« ein Riegel vorgeschoben wird. So sieht auch der Legalisierungskompromiss, der in den USA zustande kam, den Bau einer gigantischen Mauer vor, die illegale Migration endgültig beenden soll.

3. N ATIONAL- SOZIALER S TA AT UND DAS S UBJEK T DER M IGR ATION Diese Inkorporation des Sozialen in die nationalstaatlichen Apparate hat Étienne Balibar (2001) mit dem Begriff des national-sozialen Staates zu fassen versucht: Dieser national-soziale Staat war demnach in der Lage, jene als »mob«

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oder »gefährliche Klassen« außerhalb der Gesellschaft angesiedelten Gruppen in der Form der Nation zu binden. Durch die soziale und politische Inkorporation eines Teils der Arbeiter als Bürger konnten die Merkmale der arbeitenden Klassen auf die »Grenzen der Nationalität« verlagert werden. Damit kann die Nationform einen grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise tendenziell einer Lösung zuführen. Denn einerseits bedarf es aufgrund der permanenten Umwälzung der Produktionsverhältnisse und der sich verändernden Inhalte und Formen der (manuellen) Arbeit eines mobilen und destabilisierten Reservoirs an Arbeitskräften. Andererseits werden Arbeiterschaften über lange Zeiträume stabilisiert, indem man sie etwa an ein Unternehmen bindet, um sie »zur Arbeit zu erziehen« bzw. um tatsächlich über sie zu verfügen. Die Konstitution des national-sozialen Staates mündet darin, Staatsbürgerschaft und Nationalität aneinander zu binden. Die Zugehörigkeit zur »Nation« bildet letztlich die Grundlage des Zugangs zu sozialen Rechten wie Bildung, Wohnung und Gesundheit, aber auch zu den versicherungsförmigen Varianten des Sozialstaats wie der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Durch die Migration aber und den durch sie notwendig werdenden Migrationskompromiss kommt es zu einer beständigen Infragestellung und »Bewegung« der als nationales Kollektiv gefassten sozialen Staatsbürger. Die »MigrantInnen« sind dabei kein feststehendes Kollektiv, sondern beständig zwischen Ein- und Ausschluss aus der sozialen Staatsbürgerschaft oszillierend. Sie bewegen sich genau auf dem umkämpften Terrain und symbolisieren es zugleich. Aufgrund dieser Situierung an der »Grenze« der sozialen Staatsbürgerschaft müssen die MigrantInnen Ressourcen des Widerstands entwickeln, die über jene hinausgehen, die für das Kollektiv der als »national« gefassten Arbeiterklasse auf der Ebene des ökonomischen Kampfes um den Anteil am Mehrprodukt angesiedelt ist. Diese Quelle der Subjektivität war historisch in Europa durch Gewerkschaften und Sozialdemokratie repräsentiert. Im Kontext der Migration wird die Mobilität zu einer Ressource, die den MigrantInnen analog zum Subjektivierungsprozess im klassisch politischen Feld ermöglicht, sich auf dem Terrain des Kompromisses, auf dem sie tendenziell (als Reservearmee z.B.) desubjektiviert werden, zu behaupten.

4. N EUE PREK ÄRE S UBJEK TE Aus diesem Grund muss man das Begriffspaar »Migration und Prekarisierung« im Kontext der fordistischen (sozial)politischen Rationalität situieren. Prekarisierung ist dann nicht ausschließlich als Skandal der Unterschichtung zu bewerten, sondern auch als Element von Migrationspraktiken als Reaktion auf die nationalen Begrenzungen und Grenzen sozialer Rechte. Jobs im untersten

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Segment des Arbeitsmarkts sind einerseits als hierarchische Stratifikation interpretierbar, andererseits wird dieser Rand des Arbeitsmarkts von den MigrantInnen im Sinne einer Inklusion in den national-sozialen Staats »übersetzt«. Viele empirische Arbeiten zu Haus- und Sexarbeit beispielsweise zeigen, dass diese Arbeiten nur als Teil von langfristigen Migrationsstrategien zu verstehen sind (Reyneri 2001; Hess 2005). Das transitorische Moment und der transnationale Kontext, in dem prekäre Arbeit von MigrantInnen oftmals stattfindet, ist nicht repräsentierbar innerhalb des politischen Raums des national-sozialen Staates. Die entsprechenden Arbeitsverhältnisse werden vielmehr oft als Sklaverei gelabelt und die Migrationswege als »Trafficking« verfolgt – Razzien und das Aufdecken von »Schlepperringen« gelten vor diesem Hintergrund als humanitäre Aktionen. Die klassischen Formen des »Organizing« wiederum greifen hier nicht, da die MigrantInnen die Jobs für sich als vorübergehend denken – auch wenn diese Vorstellung vielleicht auf Dauer nicht haltbar ist. Oftmals wird sie haltbar gemacht gerade durch die Hoffnung auf einen »regulären« Job in einer imaginären Zukunft. Es geht dabei nicht darum, die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen zu verharmlosen oder die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen ausschließlich auf eine Bewegung »von unten« zu reduzieren. Der Fordismus war schließlich das Produkt eines sozialen Kompromisses, an dem nicht nur die Arbeiterklasse partizipierte. Ausgehend von dieser Überlegung muss der Fokus auf der Untersuchung der »positiven« Eigenschaften prekärer Arbeit liegen, d.h. nicht auf ihrem Charakter als Verfallsform des Normalarbeitsverhältnisses. Notwendig für ein solches Unterfangen wäre die Einbeziehung von Praxen, die die nationalstaatliche Regulierung von Arbeit überschreiten, und Formen der Subjektivierung, deren produktiven und kooperativen Effekte aus einer Kritik an Normalisierung und fordistischer Arbeit hervorgehen. Die Migration gälte es als Heterotopie zu denken, innerhalb derer neue Fluchtlinien des Politischen und Sozialen entstehen, in denen flexible, nomadische, migrantische und hybride Subjekte nicht nur Agenten einer Bedrohung der schönen Welt der Normalarbeit zerstören, sondern das Leitbild des sesshaften Arbeiter-Bürgers ablösen.

L ITER ATUR Balibar, Étienne (2001): Kommunismus und Staatsbürgerschaft. Überlegungen zur emanzipatorischen Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Diskus, 2/01: 11-15. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

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Prekäres Regieren Methodologische Probleme von Protestanalysen und eine Fallstudie zu Superhelden in Aktion 1 Ulrich Bröckling

Die folgenden Überlegungen setzen ein mit einigen Bemerkungen zum Begriff des Regierens sowie zum Verhältnis von Regierung und Widerstand. Daran schließen sich methodologische Überlegungen zu den Schwierigkeiten an, die sich daraus für die Analyse von widerständigen Praktiken ergeben. Der zweite Teil versucht in einer Fallstudie zu einer Aktion aus der Anti-Prekariats-Bewegung so etwas wie die Gouvernementalität oder Gegengouvernementalität dieser Form politischen Protests kenntlich zu machen.

1. W IE W IDERSTÄNDE ANALYSIEREN ? Wenn ich im Weiteren von »Regieren« spreche, dann in dem weiten Sinne, an den Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität erinnert hat und in dem, daran anschließend, die Studies of Governmentality ihn aufgenommen haben. Regieren, wie ich es hier verstehe, fällt also nicht zusammen mit dem Tun und Lassen staatlicher Akteure, sondern bezieht sich auf »sämtliche Prozeduren, mit denen Menschen einander führen« (Foucault 2005a: 116f.), es schließt alle Formen des planvollen Einwirkens auf das Handeln anderer sowie auf das eigene Handeln ein und ist in diesem Sinne ein »auf Handeln gerichtetes Handeln« (ebd. 2005b: 286). Regieren ist, anders gesagt, eine intentionale Aktivität, die Einsetzung eines Kraftfelds, das erstens einem spezifischen Telos folgt und seine eigenen Rationalitäten generiert, das zweitens spezifische Technologien einsetzt, drittens spezifische Subjektivitäten produziert und viertens stets in Relation zu anderen Kraftfeldern steht.

1 | Der vorliegende Beitrag ist in Teilen identisch mit Bröckling (2010).

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Regieren, so verstanden, schließt damit auch das Sich-selbst-Regieren ein, d.h. Prozesse der Selbstverständigung, der Selbstreflexion, des Sich-selbst-Begreifens wie auch Prozesse der Selbstmobilisierung, Selbstermächtigung und Selbststeuerung. Es umfasst sowohl repressive wie produktive, Freiheitsräume beschneidende wie Freiheitsräume eröffnende, direkte wie indirekte Interventionen, die Zuteilung, Aneignung oder Verweigerung von Ressourcen ebenso wie die Konstruktion oder Dekonstruktion von Identitäten oder die Etablierung von Raumordnungen und Zeitregimen. Aktivitäten des Regierens bedienen sich Strategien der hierarchischen Differenzierung, der Spaltung und Exklusion (bzw. der negativen Inklusion) ebenso wie solcher der Integration, der Nivellierung von Differenzen und der Solidarisierung, sie produzieren Transparenzen ebenso wie sie Personen und Objekte der Sichtbarkeit entziehen. Regieren kann auf Konflikt und/oder auf Kooperation, auf Gewalt und/oder auf Konsens setzen. Regieren ist schließlich konfrontiert mit Widerständen. Der Begriff des Widerstands bezeichnet in diesem Kontext höchst Disparates: Er bezieht sich zum einen auf das, was den Anstrengungen des Regierens gegenübersteht oder -tritt – passivisch als Trägheit, Beharrungsvermögen oder Nichterreichbarkeit, aktivisch als Gegenkraft, Unterbrechung oder Neutralisierung. Er bezieht sich zum anderen auf die Spannung zwischen oppositionellen Regierungsordnungen einerseits und einer Subversion des Regierens andererseits, zwischen Strategien und Taktiken, die gegenstrebige Regime des Regierens herausbilden, und Praktiken, in denen sich der Wille artikuliert, nicht regiert zu werden. Das Verhältnis von Regierungsanstrengungen (bzw. generell von Macht) und Widerstand ist folglich widersprüchlich: Widerstand markiert zugleich eine Grenze und ein konstitutives Moment des Regierens. Er »ist nicht einfach nur die Gegenkraft der Macht, er ist ebenso dasjenige, das der Macht Richtung und Gestalt gibt« (Malpass/Wickham 1995: 43). Umgekehrt gilt jedoch auch, dass widerständiges Handeln immer gegen spezifische Machtarrangements opponiert und insofern mit diesen – ex negativo – verbunden bleibt. Auf die gegenstrebige Bedeutung des Wortes »Widerstand« macht auch Jacques Rancière aufmerksam: Im Zusammenhang der Frage nach der Widerständigkeit der Kunst weist er darauf hin, dass von Widerstand sowohl »im Sinne eines Dings, das in seinem Sein verharrt« als auch »im Sinne der Menschen, die sich weigern, in ihrer Situation zu verbleiben« (Rancière 2007: 9) gesprochen wird. Widerstand bezeichnet zum einen das Gegebene, die Persistenz dessen, was ist, gegenüber allen Anstrengungen, es umzuformen. Zum anderen bezeichnet Widerstand etwas Aufgegebenes, den Anspruch auf Veränderung wie auch die Praxis der Negation. Diese Bedeutung ist stets normativ aufgeladen – als Rechtfertigung oder als Perhorreszierung des Impulses, den Status quo nicht länger hinzunehmen. Eine dritte – von Rancière nicht thematisierte – Bedeutung bringt schließlich die Psychoanalyse ins Spiel: Widerstand als das Entzogene, als Kraft, die der Kontrolle des Bewusstseins – der Regierung des

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Selbst – unverfügbar bleibt, aber gleichwohl als Fehlleistung, Blockade, Wiederholungszwang oder einer anderen Form der Reaktionsbildung indirekt in Erscheinung tritt (vgl. Derrida 1998). Nicht zuletzt weil es fortwährend mit Widerständen in der dreifachen Bedeutung des Gegebenen, des Aufgegebenen und des Entzogenen konfrontiert ist, ist Regieren im Sinne planvoller Selbst- und Fremdsteuerung stets auch eine Selbsttäuschung, eine Kontrollillusion. Vor allem aber ist es eine prekäre Angelegenheit: Regieren muss immer mit Unvorhergesehenem, mit Krisen der Regierbarkeit rechnen. Es realisiert sich daher als Krisenprävention und -management und bleibt dabei unvermeidlich hinter den eigenen Ansprüchen zurück, erweist sich diesen gegenüber als eine failing operation. Die Kluft zwischen den Programmen und ihrer Realisierung bzw. Nicht-Realisierung kann die Regime des Regierens zusammenbrechen oder ins Leere laufen lassen oder als Movens für verstärkte, modifizierte oder gänzlich neu ansetzende Regierungsanstrengungen fungieren. Regieren heißt folglich keineswegs, eine Blaupause zu entwerfen und sie dann umzusetzen, sondern verlangt ein beständiges Experimentieren, Erfinden, Korrigieren, Kritisieren und Anpassen (vgl. Miller/Rose 1990: 14). Die Adjustierungen des Regierens folgen dabei den Verwerfungen des Regiertwerdens. Das gilt selbstverständlich auch für widerständige Praktiken, sofern sie über das bloße Ereignis eines Nein, das spontaneistische Moment der Empörung hinausgehen und strategische oder taktische Interventionen einschließen. Auch der Versuch, Krisen zu forcieren und sie für eine Umkehrung von Machtkonstellationen zu nutzen, ist ein prekäres Unterfangen; auch Gegenregime bleiben hinter ihren Zielen zurück und zeitigen nichtintendierte Effekte. Um diesen prekären Status allen Regierens soll es im Weiteren nicht gehen. Vielmehr soll ein methodologisches Problem diskutiert werden, das sich den Studies of Governmentality immer dann stellt, wenn es um Gegenrationalitäten und widerständige Praktiken geht – und das vielleicht ihre Zurückhaltung erklären kann, diese zu untersuchen. Regime des Regierens und Sich-selbst-Regierens folgen einer mehr oder minder ausgefeilten, in der Regel schriftlich niedergelegten Programmatik und bedienen sich planvoller, häufig wissenschaftlich gestützter Verfahren, um ihre Ziele zu erreichen. Vor allem auf diese Programme und Verfahren richtet sich das Forschungsinteresse der Studies of Governmentality. Die Widerstände dagegen sind kontingent. Man muss mit ihnen rechnen, und die gouvernementalen Programme rechnen mit ihnen, doch sie sind nicht berechenbar. Es gibt eine theoriegeleitete und empirisch gestützte Wissenschaft des Regierens, aber keine des Nicht-regiert-werden-Wollens. Zum Glück. Denn ließe sich exakt bestimmen, wo und warum die Regierbarmachung der Menschen nicht funktionierte, so würde dieses Wissen längst jene Regierungstechniken verfeinern helfen, deren Grenzen es aufzeigte. Die Wissenschaft, so ließe sich eine elementare Unterscheidung Rancières aufnehmend sagen, gehört wie die gouver-

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nementalen Regime zur Ordnung der Polizei, sie vollzieht eine Aufteilung des Sinnlichen, weist Dingen wie Menschen einen festen Platz zu. Die Widerstände dagegen sind politisch, sie markieren eine Unterbrechung, eine Störung auch der Ordnung wissenschaftlicher Klassifizierungen und Erklärungsmodelle. Jede Untersuchung von Phänomenen des Ungehorsams, der Rebellion oder der Verweigerung steht somit in einer dreifachen Gefahr: Entweder spürt sie Regeln und Regelmäßigkeiten gerade dort auf, wo es um ihre Verletzung geht – die kriminologische Perspektive; oder sie reiht heterogene Geschichten aneinander, ohne viel mehr über sie aussagen zu können, als dass es sie eben gab – das Forschungsprogramm einer phänomenologischen Kulturwissenschaft und in weiten Teilen auch der Cultural Studies; oder sie argumentiert selbst von der Position des Feldherrnhügels aus und verspricht oppositionelles Regierungswissen, um die Kräfte des Widerstands geeint in die Schlacht zu führen – die leninistische Position. Bleibt also nur die aporetische Alternative, entweder von den Widerständen zu schweigen, weil über sie zu sprechen hieße, sie dem Zugriff der Regierungsmächte auszuliefern; oder aber über sie zu sprechen, weil zu schweigen hieße, jenen in die Hände zu arbeiten, die das Widerständige unsichtbar halten wollen? Selbstverständlich nicht. Wie aber ließe sich den Fallstricken des kriminologischen Blicks, des anekdotischen Erzählens oder revolutionstheoretischer – schon das Wort ist ein hölzernes Eisen! – Sandkastenspiele entkommen? Sicher nicht mit einer Kritik als Kriegswissenschaft, die sich einerseits darin erschöpft, den Feind zu identifizieren, seine Listen aufzudecken und seine verkappten Agenten zu entlarven, die andererseits die eigenen Bataillone in Position zu bringen und ihnen Marschroute wie Einsatzplan vorzugeben versucht. Ebenso wenig mit einer Kritik als pathetischer Feier des Eigensinns oder der Revolte, als Hohes Lied der »großen Verweigerung« Marcuses oder des kleinen »I prefer not to« von Melvilles Bartleby. Solche Kritiken wissen immer schon, was sie herausfinden werden und suchen dafür lediglich weitere Belege. Anders gesagt, sie sind konstitutionell dumm. Weil sie nur Antagonismen (oder nur den einen großen Antagonismus) kennen, bleiben sie blind für Ambivalenzen. Ihre Protagonisten sind sich sicher, dass Subjekt und Objekt der Kritik fein säuberlich zu trennen, dass sie selbst jedenfalls in keiner Weise von dem kontaminiert sind, was sie perhorreszieren. Solche Kritik operiert im Modus der Externalisierung: Die Hölle, welche Teufel dort auch regieren mögen, das sind immer die anderen. Demgegenüber wäre ein Verständnis von Kritik als Problematisierung stark zu machen. Statt eine Geschichte der Regierbarmachung zu konstruieren oder viele Geschichten ihres Scheiterns zu dokumentieren, wären die Konstellationen sichtbar zu machen, in denen jeweils bestimmte Strategien des Zugriffs, bestimmte Muster von Resistenz und bestimmte Formen, über beides zu sprechen, aufeinandertreffen. Nicht nur die gouvernementalen Programme, sondern

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auch die widerständigen Praktiken wären daraufhin zu befragen, wie sie die Probleme bestimmen, auf die sie antworten, welche Subjektpositionen sie aufrufen und welche Subjektivierungsweisen sie in Anschlag bringen, welcher Interventionen sie sich bedienen und welche Plausibilisierungsstrategien sie einsetzen, um diese zu begründen, schließlich welche Verheißungen sie daran knüpfen und welche Ziele sie damit zu erreichen hoffen.

2. P REK ÄRE S UPERHELDEN IN A K TION Eine solche Problematisierung unternimmt die folgende »dichte Beschreibung« einer spektakulären Aktion, in der sich die Protestkultur der Prekariatsbewegung exemplarisch verdichtet. Es handelt sich um die Aneignungsaktion einer Gruppe von »prekären Superhelden«, die am 28. April 2006 in Comicfiguren nachempfundenen Kostümen verkleidet in einen Hamburger Feinkost-Supermarkt eindrangen, Luxus-Lebensmittel im Wert von 1500 Euro einpackten und ohne zu zahlen wieder verschwanden, nicht ohne zuvor den Verkäuferinnen einen Blumenstrauß mit einer schriftlichen Erklärung zu hinterlassen. Bevor sie abtauchten und ihre Beute an ErzieherInnen, PraktikantInnen, Putzfrauen und Ein-Euro-JobberInnen verteilten, posierten sie noch für einige Fotos, die sofort ins Netz gestellt und dann auch in zahlreichen Presseberichten – von der Bild-Zeitung bis zur Washington Post – abgedruckt wurden. In ihrem Bekennerschreiben stellen die Superhelden sich vor und begründen ihre Aktion: »Falls ihr uns noch nicht kennt: Wir sind Santa Guevara, Spider Mum, Operaistorix und Multiflex. Wir sind prekäre Superhelden. Superflex ist mit jeder Art von Arbeitsvertrag vertraut: Teilzeit, Vollzeit, Praktikum. Der ganze Stress führte zu einer erfreulichen Mutation seiner Moleküle. Operaistorix überlebte die letzten Jahre mit Hilfe des Arbeitslosigkeitsmoduls. Dank seiner unerhörten Beweglichkeit gelang es ihm bis jetzt Hausbesuchen der ARGE und Ein-Euro-Jobs auszuweichen. Spider Mums Mutantenkörper entstand irgendwo zwischen Kita, unbezahltem und bezahltem Putzen. In ihren Händen verwandeln sich Ajax und Wischmop in gnadenlose Waffen. Santa Guevara entzieht sich den Kontrollen und verschwindet ohne eine Spur zu hinterlassen. Mit dieser Fähigkeit gelingt es ihm immer wieder der Langeweile von Callcentern und Uni-Seminaren zu entkommen. Spider Mum, Operaistorix, Superflex und Santa Guevara sind nicht allein. Ob als vollvernetzte Dauerpraktikantin, Callcenterangel, aufenthaltlose Putzfrau oder ausbildungsplatzloser Ein-Euro-Jobber: Ohne die Fähigkeiten von Superhelden ist ein Überleben in der Stadt der Millionäre nicht möglich. Obwohl wir den Reichtum von Hamburg City produzieren, haben wir kaum etwas davon. Das muss nicht so bleiben. […] Die Orte des Reichtums sind so zahlreich wie die Möglichkeiten sich diesen Reichtum zu nehmen. Bleibt nur noch eine Frage offen: Wo setzt du deine Superheldenkräfte ein? Komm doch

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einfach zur Euromaydayparade am 1. Mai um 13 Uhr an der Wiese am Michel« (SpiderMum 2006; vgl. Panagiotidis 2007).

Trotz sofort eingeleiteter Großfahndung, bei der sogar ein Hubschrauber zum Einsatz kam, konnten die Superhelden nicht gefasst werden. Bei der Euromayday-Demonstration, einer Veranstaltung der international vernetzten Prekariatsbewegung, tauchte eine große Zahl ähnlich kostümierter Superhelden auf, und Buttons mit den Konterfeis von Santa Guevara und Co. fanden reißenden Absatz. Nach umfangreichen Ermittlungen der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts wurde ein Jahr später eine 30jährige Studentin und Euromayday-Aktivistin aufgrund vermeintlicher Ähnlichkeit mit der auf den Fotos abgelichteten Spider Mum angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Aufgrund der fragwürdigen Beweisführung verwarf die Berufungsinstanz jedoch dieses Urteil und sprach die Angeklagte frei. Das Medienecho auf die Aktion war enorm, die AktivistInnen gaben ausführliche Interviews u.a. für den Stern und die Frankfurter Rundschau, und auch in Webforen und Online-Journalen wurde ausführlich über die Superhelden diskutiert. Die folgenden Überlegungen versuchen aus den schriftlichen Äußerungen und visuellen Strategien der AktivistInnen wie auch aus den veröffentlichten Diskussionen über ihren Coup seine explizite wie implizite Programmatik herauszupräparieren, d.h. sie »lesen« diese Aktion nicht so sehr als singuläres Ereignis, sondern als exemplarische Szenario für widerständiges Handeln gegen prekäre Lebensbedingungen. Problematisch an diesem Zugang ist, das sei zumindest angemerkt, dass Selbstbeschreibungen der AktivistInnen und mediale Darstellungen ihrer Aktion sich nicht immer auseinander halten lassen, dass also Intention und Interpretation verschwimmen. Die AktivistInnen suchen und bedienen die mediale Öffentlichkeit, sie spielen virtuos mit den Symbolen der Massenkultur, aber die Medienöffentlichkeit bedient sich ebenso ihrer. Gerade dadurch laufen sie aber auch ständig Gefahr, die Deutungsmacht über ihren Protest zu verlieren. Welche Seite in dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit mehr an der anderen parasitiert, das ist eine offene Frage.

2.1 Genealogie Singulär war die Aktion der »prekären Superhelden« schon deshalb nicht, weil sie sich einreihte in eine Geschichte ähnlicher Aktionen, angefangen von der kollektiven Selbstbedienung im Supermarkt, die italienische Frauen im Rahmen der autonomen ArbeiterInnenkämpfe der 1970er Jahre praktizierten und die ihren literarischen Niederschlag in Dario Fos fulminanter Komödie »Bezahlt wird nicht« gefunden hat (vgl. Fo 1977). Zu nennen sind ferner die zwischen künstlerischem und politischem Aktivismus schillernden Aneignungsaktionen der spanischen Gruppe Yomango (yo mango, span. = ich klaue), die den

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Ladendiebstahl als Label und Lebensstil zu etablieren versuchten: »Yomango«, heißt es in einem Artikel in der Berliner Zeitschrift »arranca!«, setzt der Welt der Marken, in der unsere Wünsche, unsere Kreativität und unsere Rebellion enteignet werden, eine eigene Marke entgegen, die vor allem eine Botschaft hat: Klauen ist chic. Yomango greift die Strategie der Marken auf und wendet sie gegen die Langeweile des Konsums. In einer Fußgängerzone werden während einer Performance Kleidungsstücke aus einem Geschäft geklaut. In einem Supermarkt entwenden Tango tanzende Paare anlässlich des ersten Jahrestages des Aufstands in Argentinien Sektflaschen und lassen in einer für die Krise verantwortlichen Bank die Sektkorken knallen« (Hamburg umsonst).2 Die Ladendiebstahls-Performances von Yomango dienten auch als Vorbild für die sogenannten Umsonst-Kampagnen, die zwischen 2003 und 2006 in einigen deutschen Großstädten u.a. mit gemeinschaftlichem Schwarzfahren, kostenlosen Schwimmbad-, Ausstellungs- und Kinobesuchen mit gefälschten Eintrittskarten für Aufsehen sorgten. Bereits ein Jahr vor der Aktion im Delikatessen-Supermarkt hatte in Hamburg eine andere Gruppe in einem Nobelrestaurant ein Transparent mit der Parole »Die fetten Jahre sind vorbei« entrollt, vor den Augen der perplexen Gäste das Bufett abgeräumt, in Tragetüten mit der Aufschrift »Fünf Sterne to go« verstaut und war vor Eintreffen der Polizei verschwunden. Die prekären Superhelden selbst stellten ihre Aktion in unmittelbaren Zusammenhang dazu, indem sie ihr Bekennerschreiben mit der Überschrift »Fünf Sterne to go II« versahen. Zur Genealogie der prekären Superhelden gehören indes nicht nur diese Vorbilder kollektiver Aneignungsaktionen, mit ihrer geradezu überbordenden Symbolik bedienen sie sich auch im Inventar popkultureller Mythen. Vergleiche mit Robin Hood oder dem Hamburger local hero Klaus Störtebeker, die in kaum einem Medienbericht über ihre Aktion fehlen (vgl. Gärtner 2006), wiesen sie zwar zurück: »Uns ging es überhaupt nicht darum, uns als die Rächer der Armen darzustellen«, erklärte Spider Mum in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, »eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Wir wollten sagen. Auch du bist ein Superheld und hast das Recht, dir ein schönes Leben zu machen. Guck, wenn man sich zusammenschließt, ist alles möglich« (Petersen 2006). In einem Interview mit dem Stern stilisierten sie sich jedoch exakt als die zeitgenössischen Wiedergänger des Outlaws aus dem Sherwood Forest: »Das sind symbolische Aktionen. Was wir erbeutet haben, haben wir in den armen Vierteln der Stadt verteilt. Die Leute haben sich irre gefreut! Wir haben nichts für uns genommen« (Luik 2006: 74). Ein popkulturelles Zitat war auch die Verkleidung, mit der sie die Rolle der Comic-Heroen von Super- bis Spiderman appropriierten, die mit ihren über-

2 | Von der Aktion in Buenos Aires existiert ein Video (Leodecerca 2006)

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Abbildung 1: Prekäre Superhelden-Sammelkarte: Uomo Invisible

Abbildung 2: Prekäre Superhelden-Sammelkarte: Spider Mom

menschlichen Kräften unentwegt die Menschheit vor allen möglichen Finsterlingen retten (vgl. Abbildung 1 und 2). Die Figur der Superhelden war in der Bilderpolitik der Prekariatsbewegung bereits fest etabliert, als die Hamburger Gruppe in ihre Ganzkörperkostüme schlüpfte. Auch hierzu eine Erklärung von Spider Mum: »Die Idee der Superhelden ist im Zusammenhang mit dem Euromayday in Mailand entstanden. Dort wurden unterschiedliche Superhelden mit unterschiedlichen Charakteren entwickelt, die alle eins gemeinsam haben: Sie wehren sich gegen die Prekarisierung ihrer eigenen Arbeits- und Lebensverhältnisse. Aus den Figuren ist dort ein Sammelalbum entstanden und am 1. Mai konnten alle auf unterschiedlichen Paradewegen die Bilder bekommen. Außerdem gab es ein Videoprojekt, in dem Leute auf der Straße interviewt wurden. Die Eingangsfrage lautete: Bis Du ein Superheld?« (Willms, o.J.).

Die gleiche Frage beantworteten Hamburger TeilnehmerInnen der Euromayday-Demonstration bei einem Foto-Shooting und bekannten sich zu Schwarzfahren, Büromaterialklau und ähnlichen Helden- bzw. Antiheldentaten. Der Demonstrationsaufruf enthielt einen Superhelden-»Psychotest«, mit dem die TeilnehmerInnen sich einem der vier Heldentypen zuordnen konnten (vgl. Abbildung 3). Andere Gruppen der Prekariatsbewegung verfremdeten Werbeanzeigen, und präsentierten statt Olli Dittrich in immer neuen Verkleidungen ein Album imaginärer Alltagsheroen und -heroinen. Das ironisierende Détournement der massenkulturellen Ikonen wurde in der Folge rekursiv: Die prekären Super-

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Abbildung 3: Prekäre Superhelden-Psychotest

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helden sind inzwischen selbst zu Titelfiguren eines Comics geworden, und sie zierten eine Zeit lang als Murals ein Haus in der Hamburger Hafenstraße (Schwieger 2007). Nicht minder zirkulär sind die Bezugnahmen auf Hans Weingartners Film »Die fetten Jahre sind vorbei« aus dem Jahre 2004, den schon die Hamburger Vorläuferaktion mit ihrem Transparent zitiert hatte: »Was war zuerst da, der Film oder ihr?«, fragt ein Interviewer, und Superflex antwortet: »Der Film hat uns auf jeden Fall inspiriert und uns in unserer Meinung bestärkt, dass es mehr an Rebellion braucht, um den Alltag zu ändern. Meine Lieblingsszene im Film ist die, in der die Frau, nachdem sie von ihrem Chef entlassen worden ist, in der Tiefgarage den Schlüssel zückt und mit Genugtuung an der Seite der Nobelkarosse entlangschrammt. Wir haben uns sehr gefreut, dass sich der Regisseur Hans Weingartner begeistert zu unserer Aktion geäußert hat. Er freue sich, dass die Figuren seines Films in die Realität schlüpfen, so oder so ähnlich« (Willms, o.J.). Stellenweise verschwimmen die mediale Vorlage und die Deutung des eigenen Tuns in den Medien so weit, dass einzelne Interview-Passagen direkt aus dem Film herausgeschnitten sein könnten: Interviewer des Stern: »Ihr Problem ist doch: Alles, was Sie tun, gab es schon mal. Ihre Aktionen sind Kopien, sind Zitat. Es gab schon einmal die Spaßguerilla, jede Provokation war schon mal da – immer mit großen Hoffnungen auf eine bessere, eine gerechtere Welt verbunden. Aber was ist dabei herausgekommen? Peter: Wenn Sie es negativ sehen wollen: Agenda 2010 und weitere Sauereien. Aber nur weil die Grünen oder die Sozialdemokraten Verräter geworden sind, hört die Geschichte doch nicht auf. Interviewer: Es ist doch viel schlimmer: Jede Utopie scheint diskreditiert. Peter: Nein. Menschen kämpfen immer gegen Ungerechtigkeit. Sie haben das in der Vergangenheit getan und werden es in Zukunft tun. Es passiert in Madrid, in Mailand. Es passiert in Frankreich, dort kippten sie das Gesetz, das den Kündigungsschutz abschaffen sollte. Das macht doch Mut und schafft Freude.« (Luik 2006: 76)

Und im Film: Jan: Ja, das Rebellieren ist halt schwieriger geworden. Früher brauchtest Du nur zu kiffen und lange Haare zu haben, und das Establishment war automatisch gegen Dich. Und was früher subversiv war, kannst Du heute im Laden kaufen. Che Guevara-T-Shirts oder Anarcho-Sticker. Jule: Ja, ja genau. Und deswegen gibt’s auch überhaupt gar keine Jugendbewegung mehr. Weil alle haben das Gefühl, das war doch schon mal da. Das haben vor uns andere versucht, das hat nicht funktioniert, und warum soll es jetzt plötzlich bei uns klappen? Jan: Ja, aber. Weißt Du bei den ganzen Revolutionen, die es gegeben hat. Klar, im Einzelnen hats da im einzelnen, vielleicht hats da nicht funktioniert, aber das wichtigste

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ist doch, dass die besten Ideen überlebt haben. Genauso ist es bei privaten Revolten auch. Das, was davon gut ist, das, was davon in Dir überlebt, das macht Dich stärker (Weingartner 2004).

Fast beschwörend und sich zugleich dem Originalitätshunger der Medien andienend klingt es, wenn eine Superheldin mit dem Pseudonym Nina im SternInterview insistiert: »Wir sind nicht nur Zitat. Wir sind etwas Neues« (Luik 2006: 76). Der mediale Kreis schließt sich mit dem Dokumentarfilm »Die Superhelden«, der im Sommer letzten Jahres in Hamburg Premiere hatte und Superflex und ihre Kollegen nun selbst in den Rang von Leinwandhelden erhebt (Romero 2008).

2.2 Adressierungen Das zirkuläre Spiel mit den Medien – aber wer spielt hier eigentlich mit wem? – weist auf die mehrfache Adressierung von Protestartikulationen. Als kommunikativer Akt richtet sich eine Protestaktion erstens an »die Öffentlichkeit«, die auf ein Skandalon aufmerksam und der gegenüber ein Dissens sichtbar gemacht werden soll. Diese Öffentlichkeit wird aber in der Regel nur vermittelt über die Berichterstattung der Massenmedien erreicht, weshalb sich die Aktion zweitens an »die Medien« richtet und deren Regeln wenn nicht zu folgen, so doch zumindest im Blick zu behalten hat. (Das schließt selbstverständlich ein, auch eigene Medien zu entwickeln und zu nutzen.) Drittens richtet sie sich an diejenigen Instanzen, gegen die protestiert wird, also ein bestimmtes Unternehmen, eine bestimmte staatliche Institution (Bundeswehr, Arbeitsagentur), ein bestimmtes Vorhaben (Gesetzesänderung, Bau eines Kernkraftwerks) oder Ereignis (G8-Gipfel in Heiligendamm, Weltwirtschaftsforum Davos, Nazi-Aufmärsche). Angesprochen werden schließlich viertens als spezifische Teilmenge aus der allgemeinen Öffentlichkeit potentielle Mitakteure, die dafür gewonnen werden sollen, selbst ihren Protest zu artikulieren und/oder in anderer Weise ihr Verhalten zu ändern. Bei so vielen Adressen, die gleichzeitig zu berücksichtigen sind, ist es kaum vermeidbar, dass die Adressierungen sich überschneiden, wechselseitig neutralisieren oder widersprechen, dass sie unscharf werden oder ganz andere Adressen erreicht werden als die intendierten. Adressierungen sind stets mehrdeutig, und vorab ist nicht präzise zu bestimmen, wen sie erreichen, welche Botschaft die Adressierten empfangen und welche Effekte das zeitigt. Kurzum: Diejenigen, die Protest artikulieren, sind niemals Souveräne ihrer Aktionen, weder im Hinblick auf die Adressaten noch auf die Botschaften. Gleichzeitig ist jede Protestartikulation ein Akt der Selbstermächtigung, und die Akteure sind bemüht, ihre Interventionen so zu adressieren und so zu codieren, dass Missverständnisse und nicht-intendierte Deutungen unwahrscheinlich werden. Die Artikulation

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von Protest mobilisiert und steuert Aufmerksamkeit und lässt sich in diesem Sinne als »Regieren« bzw. »Gegen-Regieren« verstehen. Weil die Strategien kommunikativer Vereindeutigung aber in der Regel nur höchst unvollkommen und unvollständig gelingen – kaum eine Aktion spricht einfach für sich, kaum eine Erklärung vermag für sich genommen nennenswerte Aufmerksamkeit zu binden –, werden Protestaktionen häufig überadressiert und übercodiert: Die Akteure entfesseln einen wahren Zeichensturm. Mit ihren Proklamationen kommentieren sie ihre Taten, mit ihren Taten kommentieren sie ihre Proklamationen. Die entfesselten Zeichen verselbständigen sich jedoch, und je mehr der Protestdiskurs wuchert, desto weniger lässt er sich kontrollieren. Das gilt insbesondere, wenn Protestaktionen Grenzen überschreiten – etwa die Grenze zwischen legalem und illegalem Handeln. »Wir wollen ja ins Gespräch kommen«, erläuterten Spider Mum und Co. ihre Bereitschaft, trotz der polizeilichen Fahndungsaktivitäten, die eine Kontaktaufnahme nur unter konspirativen Bedingungen erlaubten, diversen Zeitungen und Fernsehstationen Interviews zu geben (vgl. Petersen 2006). Adressiert sind also zweifellos die Massenmedien. In ihren Interviews lassen die Superhelden allerdings erkennen, dass sie diese nur als Medien im Wortsinn, als Vehikel begreifen, um die eigentlichen Adressaten zu erreichen. Immer wieder betonen sie den Zusammenhang zwischen ihrer Aktion und dem Alltagshandeln von Prekarisierten: »Die Idee war, dass eigentlich jeder von uns im Alltag ein Superheld ist und jede Menge Heldenkräfte entwickelt, um sich durchzuschlagen, indem er zum Beispiel auf der Arbeit Büromaterial, Müllbeutel und Klopapier mitnimmt, um den miesen Lohn aufzustocken, oder im Hallenbad über die Absperrung springt, weil die Ticketpreise ständig steigen – das hat uns fasziniert« (Willms, o.J.). In ihrem Bekennerschreiben wird diese Veralltäglichung zur konkreten Handlungsaufforderung: »Wo setzt du deine Superheldenkräfte ein? Komm doch einfach zur Euromaydayparade am 1. Mai um 13 Uhr an der Wiese am Michel.« Das Superhelden-Comic zieht das gleiche Register und offenbart – ob ironisch gebrochen oder nicht, darüber ließe sich streiten – den paternalistischen Subtext des Appells. In der bekannten We-want-you-Pose des Uncle Sam aus den Rekrutierungsplakaten der US-Army verkündet hier Superflex: »Und ob ihr öfter mal schwarz fahrt, auf der Arbeit was mitgehen lasst oder dem Arbeitsamt falsche Angaben macht, auch in Euch schlummert ein Superheld.« (vgl. Abbildung 4). Der Drang, die Aneignungsaktion im Supermarkt an Alltagspraktiken rückzubinden, hat ganz offensichtlich damit zu tun, dass die Aktion selbst alles andere als alltäglich war. Sie verlangte von den Akteuren ein hohes Maß an Risikobereitschaft und klandestiner Organisation und hob sie damit von den Allerweltsschwarzfahrern und Arbeitsamtschummlern deutlich ab. Sie agierten als Avantgarde, ohne doch Avantgarde sein zu wollen. Entsprechende Kritik blieb nicht aus. So heißt es in einem Artikel, der im übrigen den Superhelden-

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Abbildung 4: »Showdown auf Sylt«, Prekäre Superhelden-Comic

Coup feiert als »versuchte Anstiftung einer potenziellen gemeinsamen Freiheit, einer aufsässigen Position, durch die für kurze Zeit anstelle des Gesetzes eine andere Ethik errichtet wird«: »während die Aktion konventionelle aktivistische Ebenen überschritt, um eher am Alltag orientierte Taktiken des kollektiven Widerstands zu demonstrieren, tendierte der Rekurs auf popularisierte Bilder paradoxerweise dazu, Widerstand als etwas zu re-kodieren, das abseits einer alltäglichen, nicht-aktivistischen Identität oder Lebensform erscheint, und verminderte so die Pluralität von Identität und perpetuierte die Unterscheidung der Rolle einer AktivistIn von einer Nicht-AktivistIn« (Kanngieser, o.J.). Intendiert war die kollektive Klau-Aktion als Empowermentmaßnahme zur Beförderung von Alltagsresistenz, und sie schleppte denn auch die fundamentale Aporie aller Bemächtigungsprogramme mit sich: Der aktivierenden Ermutigung ist stets eine Demütigung eingeschrieben. Wer Ohnmachtsgefühle abbauen will, muss sie zunächst als gegeben unterstellen; Empowerment lässt man nur denjenigen zukommen, von denen man glaubt, dass sie es nötig haben. Die appellative Aussage »Auch Du bist ein Superheld!« macht nur dann Sinn, wenn man unterstellt, derjenige, an den sie sich richtet, sei erst einmal vom Gegenteil überzeugt. Jener Akt, der die Distanz zwischen den Superhelden im Edel-Supermarkt und den prekarisierten Helden des Alltags überbrücken sollte, bestätigte sie noch einmal.

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2.3 Ratio, Rechtfertigungen – und die Politik der Dinge Von der Aktion in Hamburg geht eine unmittelbare Faszination aus. Es ist schwierig, die prekären Superhelden nicht sympathisch zu finden, auf ihren Coup nicht mit beifälligem Schmunzeln, wenn nicht mit begeisterter Zustimmung zu reagieren. Selbst die Bild-Zeitung eröffnete ihren Bericht mit dem Satz: »Einfach mal in den teuersten Laden im Viertel gehen und sich nach Herzenslust bedienen! Davon träumt jeder, aber eine kleine Gruppe von Menschen tut’s auch tatsächlich.« – Darüber stand freilich in großen Lettern: »Klau-Chaoten stürmen Hamburger Geschäfte« (Kbr 2006) (vgl. Abbildung 5). Abbildung 5: Bild-Zeitung Hamburg vom 8.5.2006

Psychoanalytisch gesehen agieren Helden stellvertretend aus, was man sich selbst gern traute, sich unter dem Druck des Realitätsprinzips aber versagt. Wenn sie die Regeln brechen, fällt es den übrigen leichter, sie einzuhalten. Das Einverständnis, das Bild suggeriert, um es mit der Headline zugleich zurückzuweisen, ist das ihrer Leser. Wenn die prekären Superhelden aus dem Bild-Artikel »klammheimliche Freude« herauslesen und auf die Frage, ob es Spaß mache, »in einem Schickimicki-Supermarkt die Waren einfach mitzunehmen«, stolz antworten: »Ja, sicher. Es ist irre. Sogar die ›Bild‹-Zeitung hat das erkannt«, dann vergessen sie, dass die Bild-Leser ihren Traum, sich einmal »nach Herzenslust zu bedienen«, bei anderer Gelegenheit ebenso gut an irgendwelche Pogromisten delegieren. Weder die Regelverletzung als solche noch der bloße Akt der Aneignung machen die Aktion a priori zu einer Protestartikulation oder zu einer emanzipatorischen Geste. Worin liegt ihr politisches Moment? Die Praxis kollektiver Aneignung sei »von der Subversion einer kapitalorientierten Tauschlogik zugunsten eines Konzepts der Besitznahme gekennzeichnet«, schreibt die Bewegungsforscherin und künstlerische Aktivistin Anja Kanngieser in einem Artikel über »Gesten des Widerstands im Alltag« und fährt, eine Erklärung der Gruppe »Hamburg umsonst« zitierend, fort: Die »Anwendung von Techniken, die das

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Spiel, Irritation, Performance und Karneval einschließen, ›ermöglichen es für einen kurzen Moment, die Normalität des Konsums zu durchbrechen und das Undenkbare denkbar zu machen: Alles ist möglich‹« Die »Hervorrufung von Begehren«, nicht zuletzt eines »Begehrens nach Teilnahme«, könne helfen, »eine spontane, wenn auch vielleicht vorübergehende Gemeinschaft zu kreieren«, und das Gefühl fördern, »dass jeder Handlung des Alltags das Potenzial für den revolutionären Aufstand zugrunde liegen kann« (Kanngieser, o.J.). Die Superhelden selbst lassen die Wunschmaschinen im Schrank und geben sich bescheidener: »Wir wollen das Denken anregen, Fragen aufwerfen: Warum haben die einen so viel, die anderen so wenig? Wieso leben manche im Luxus, während so viele darben? Muss das sein? […] Wir wollen zeigen, dass man sich wehren kann. Sich gemeinsam wehren gegen diese Zumutungen. Wir wollen Mut schaffen« (Luik 2006: 74). Es ist nicht schwer, solchen Äußerungen politische Naivität vorzuhalten: Das deleuzianische Räsonnieren sympathisierender Bewegungsforscherinnen über die alltägliche Potentialität des revolutionären Aufstands, der pathetische Kitsch der Superhelden selbst, die ihre Parolen aus Schlager- oder Punktexten abschreiben – Spider Mum begeistert sich für Gitte Haennings »Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort, eh’ der letzte Traum zu Sand verdorrt«, Superflex zitiert die Gruppe Superpunk: »Ich habe keinen Hass auf die Reichen, ich will ihnen nur ein bisschen gleichen« –, die Kurzschlüsse eines Antikapitalismus, der sich darin erschöpft, den Gegensatz zwischen Arm und Reich zu skandalisieren, die Inkonsistenz, einerseits nach mehr Regelverletzungen, nach kollektiven Verweigerungen, Massenstreiks und Straßenblockaden zu rufen, andererseits ein bedingungsloses Grundeinkommen von eben jenem Staat einzufordern, dessen Regeln man nicht länger gehorchen will – all das hat den prekären Superhelden Kritik eingebracht, auch aus den Reihen der Prekariatsbewegung. Traditionelle Linke ereifern sich gar über den »unpolitischen Karneval« der Eventmanager von morgen (vgl. Petersen 2006). Vielleicht ist aber die Aktion klüger als ihre Rechtfertigung durch die Aktivisten – und erst recht als deren Kritiker. Vielleicht liegt das politische Moment der Superhelden-Aktion gerade in ihrer Uneindeutigkeit – trotz aller Vereindeutigungsbemühungen der Superhelden, die sich dabei ohnehin in Widersprüchen verheddern. Sie schillert zwischen gemeinschaftlicher Gesetzesübertretung (Ladendiebstahl), künstlerischer Performance (Guerilla Theater), karnevaleskem Mummenschanz (parodistische Umkehrung der Ordnung), sozialer Hilfsaktion (Armenspeisung), Lehrstück (Botschaft: »Auch Du bist ein Superheld! Fahr öfter mal schwarz!«) und Propaganda der Tat (Mobilisierung zur Euromayday-Demonstration) und unterläuft so die Grenzziehungen zwischen Politischem und Außerpolitischem. Und sie unterläuft sie nicht, indem sie den Bereich des Politischen in den Alltag hinein ausdehnt, sondern indem sie einen Konflikt inszeniert, der sich den etablierten Mechanismen der Kon-

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fliktbearbeitung – Kriminalisierung, Pathologisierung, Marginalisierung, Musealisierung, Parlamentarisierung, ökonomische Befriedung usw. – entzieht. Von der Militanz Schwarzer Blocks hebt sie sich durch ihre ganz und gar unmartialische Buntheit ab, von harmloser Politclownerie durch ihre souveräne Missachtung des Privateigentums. Polizei und Justiz blamieren sich und setzen sich ins Unrecht, wenn sie das Spektakel als gewöhnliche Straftat verfolgen. Weil die Aktion offensichtlich gesetzeswidrig ist, müssen sie reagieren. Weil sie offensichtlich nicht in die vertrauten polizeilichen Kategorien passt, erscheinen die Reaktionen der Ordnungshüter unangemessen. Regieren sei die Anordnung von Dingen, schrieb Foucault in seiner Gouvernementalitäts-Vorlesung, einen frühneuzeitlichen Autor zitierend. Die Kunst, nicht bzw. nicht dermaßen regiert werden zu wollen, so seine Bestimmung des Ethos der Kritik, bestünde demnach darin, die fraglose Ordnung der Dinge zu irritieren, die Dinge in Unordnung zu bringen oder sie anders anzuordnen. Das tun Spider Mum und Co. in einem ganz wörtlichen Sinn: Sie verrücken Dinge, nehmen mit, was ihnen nicht gehört, und geben es denen, die es nie bekommen würden. Und vermutlich steckt auch die politische Utopie ihrer Aktion weniger in den blumigen Erklärungen als in den Objekten selbst – Bruno Latours »Politik der Dinge« lässt grüßen: Zu den Delikatessen, die sie entwendeten, gehörten auch einige Filetstücke vom Koberind. Über dieses Edelfleisch, für das »pro Kilogramm Preise erzielt [werden], die dem Regelsatz eines Hartz-IVEmpfängers entsprechen können«, heißt es in einem Spiegel-Artikel zur Superhelden-Aktion: »Die japanischen Rindviecher sind etwas ganz Besonderes für Kenner. […] Zur besonderen Kraftnahrung gibt es reichlich Bier, außerdem werden die Rinder täglich bis zu zwei Stunden per Hand massiert – angeblich wird das Fleisch so besonders zart und erhält seine feine Maserung« (Ulrich 2006: 60). – Vom Ende im Schlachthof einmal abgesehen, wenn das keine politische Utopie ist: Bier satt und jeden Tag zwei Stunden Streicheleinheiten.

L ITER ATUR Bröckling, Ulrich (2010): »Jenseits des kapitalistischen Realismus: Anders anders sein«. In: Sighard Neckel (Hg.): Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus: 281-301. Derrida, Jacques (1998): »Widerstände«. In: ders.: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 128-178. Fo, Dario (1977): Bezahlt wird nicht! Eine Farce. Berlin: Rotbuch. Foucault, Michel (2005a): »Gespräch mit Ducio Trombadori«. In: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005b): »Subjekt und Macht«. In: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Prekäres Regieren

Gärtner, Birgit (2006): »Störtebekers Erben«. In: Telepolis, 12.5.2006. Online: www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22653/1.html Hamburg umsonst. In: Arranca!, Nr. 29. Online: http://arranca.nadir.org/arranca/ article.do?id=267 www.nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/de/2008/10/794.shtml Kanngieser, Anja (o.J.): Gesten des Widerstands im Alltag. Online: http://trans late.eipcp.net/transversal/0307/kanngieser/de Kbr (2006): »Klau-Chaoten stürmen Hamburger Geschäfte«. In: Bild-Zeitung, Ausgabe Hamburg, 8.5.2006. Leodecerca (2006): Yomango-Tango. Online: http://de.youtube.com/watch?v= rXBSAubWc1A Luik, Arno (2006): »Wir suchen Orte des Reichtums heim. Aber es geht uns nicht ums Klauen« [Interview]. In: Stern, 25/2006. Malpass, Jeff/Wickham, Gary (1995): »Governance and failure: on the limits of sociology«. In: Australian and New Zealand Journal of Sociology 31. Nr. 3. Miller, Peter/Rose, Nikolas (1990): »Governing economic life«. In: Economy and Society H.19. Panagiotidis, Efthimia (2007): »Die ›gute Botschaft‹ der Prekarisierung. Zur Symbolik von SuperheldInnen in Zeiten der postfordistischen Zeichenflut«. In: transversal 2/2007. Online: http://eipcp.net/transversal/0307/panagio tidis/de Petersen, Tina (2006): »Die Medien rätseln: Wer sind die Männer und Frauen, die als Comic-Figuren kostümiert in einem Delikatessen-Supermarkt auf Raubzug gingen? Ein konspiratives Treffen in Hamburg«. In: Frankfurter Rundschau, 8.6.2006. Rancière, Jacques (2007): Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve. Romero, Janek (Regie) (Deutschland, 2008): Die Superhelden. Schwieger, Dirk (2007): »Die prekären 4«. In: Mamba, 6. 2007. Online: www. nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/media/2007/06/724.pdf SpiderMum (2006): Euromayday HH: Superhelden im FrischeParadies. Online: http://de.indymedia.org/2006/04/145010.shtml Ulrich, Andreas (2006): »Spaß mit Hintergrund«. In: Der Spiegel, 19/2006. Weingartner, Hans (Regie) (Deutschland, 2004): Die fetten Jahre sind vorbei. Willms, Olli (o.J.): »Prekäre Superhelden. Wenn Armut Breitensport wird«. In: OX-Fanzine, Ausgabe 68. Online: www.nadir.org/nadir/kampagnen/euromayday-hh/media/2007/05/704.pdf Yomango (o.J.a): YOMANGO – Try this at home (explicit lyrics). Online: http:// kommunikationsguerilla.twoday.net/stories/161723/ Yomango (o.J.b): YoMango- Ladendiebstahl als Lebensstil. Online: http://kommu nikationsguerilla.twoday.net/stories/215046/ Yomango (o.J.c): What happened to Yomango? Online: http://translate.eipcp.net/ transversal/0307/yomango/en

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Prekäre Verknüpfungen Das Protestjahr 2011 aus diskursanalytischer Perspektive Mario Vötsch

1. E INLEITUNG : D AS P ROTESTJAHR 2011 UND SEINE PREK ÄREN V ERKNÜPFUNGEN Das Jahr 2011 hat weltweit eine nahezu unheimliche Dynamik sozialer Umbrüche entwickelt, angefangen vom arabischen Frühling bis hin zu den OccupyCamps, deren langfristigen Folgen noch immer schwer zu ermessen sind. Inzwischen mag zwar die Einschätzung zulässig sein, dass viele der sozialen und politischen Eruptionen weniger episodischer Natur waren denn Ausdruck aufkeimender struktureller Veränderungen. Dennoch kann eine Bewertung dieser Ereignisse nur vorläufig bleiben, sind doch deren Effekte noch weitgehend unklar, ja, meist überhaupt noch ausstehend. Wenn es etwa um die Zuschreibung des Revolutionären geht, sind zweifellos die arabischen Revolutionen (kurz: Arabellion) an erster Stelle zu nennen, die im Frühjahr 2011 gegen die Regime in Nordafrika und im mittleren Osten aufbegehrt haben. Doch selbst diese Prozesse sind mitnichten abgeschlossen – und werden es in Anbetracht der relativ lang währenden Dauer historischer Umbruchsphasen auch nicht so schnell sein. Nicht unabhängig von den Ereignissen der Arabellion, dennoch auf einer anderen Ebene gelagert, sind die sozialen Protestbewegungen in Europa und den USA, die von Spanien und Portugal über Griechenland und Italien bis hin zu den weltweiten Erhebungen der Occupy-Bewegung reichten. Dass sich die Bewegungen der westlichen mit jenen der arabischen Welt in ihrem Forderungsspektrum zwischen Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit überkreuzten oder ergänzten, stand von Anfang an außer Frage und zeigte sich am wachsenden Radius vernetzter Aktionen, Aufrufe und Proteste: die Bewegungen der Empörten in Spanien und Griechenland zeigten sich durch den Slogan Real Democracy Now (spanisch: ¡Democracia Real YA!) den Revolutionen in Tunesien und Ägypten verbunden; auf die europäischen Empörten wiederum bezogen sich Proteste in Israel, Chile und den USA; schließlich die Occupy-

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Bewegung, die, ausgehend von New York, mittlerweile zum transnationalen Synonym für System- und Kapitalismuskritik geworden ist, egal ob ihr Adressat die Wall Street oder die Bank Italia ist. Indessen sind, bei aller Verknüpfung, auch wesentliche Differenzen auszumachen, die sich aus der soziohistorischen Kontextgebundenheit der Proteste erklären und folglich in abweichende Kampflinien münden. Beispielsweise fokussierten die radikaldemokratischen Bewegungen in Europa den Protest gegen prekäre Lebensverhältnisse – ein Thema, das im arabischen Raum zwar ebenso präsent, teilweise gar auslösender Anlass der Revolutionen war, jedoch nicht denselben Rang eingenommen hat wie etwa die demokratiepolitischen Forderungen nach Partizipation und Repräsentation. Die Offenheit all dieser Entwicklungen, ihre Verkettungen, Differenzen und Allianzen, ihre Parallelen und Rückkoppelungseffekte, machen es mitunter schwierig, zwischen sozialen Bewegungen, Revolutionen und Aufständen zu differenzieren. So mag die Arabellion mehrheitlich als soziale Revolution gelten, doch wird sie in ihrer Unabgeschlossenheit immer wieder – wie zuletzt anlässlich der Parlamentswahlen in Ägypten im November 2011 – durch neue Aufstände revitalisiert oder konterkariert und nimmt laufend neue Konfigurationen an. Oder man nehme die sozialen Proteste der Empörten, die vielerorts von der Diktion des Aufstandes begleitet wurden: sind sie nun revolutionär, progressiv, oder aber reaktionär? Bedenkt man, dass dem Aufstand der Empörten in Europa bereits ein längerer demokratiepolitischer Diskurs vorausgegangen ist (der in Deutschland seinen Höhepunkt mit Stuttgart 21 und dem Begriff des Wutbürgers hatte), dann kann man in der Gegenüberstellung beider Entwicklungen eine eigenwillige »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) vermuten, in der das Empörungspotential der einen durch die revolutionäre Praxis der anderen ein raum- und zeitübergreifendes Ventil erhält. Durchkreuzt werden diese Dynamiken zusätzlich von akuten Eruptionen des Widerstands wie den Krawallen in Großbritannien im August 2011, die zwar der Form nach ohne Zusammenhang auftreten, also weder durch Protestformen oder Akteursstrukturen vergleichbar wären, dennoch anlassbezogen verknüpft bleiben und in jenem diffusen Artikulationsraum zwischen Aufbegehren, Anspruch, Widerstand, Empörung und Wut zu verorten sind, der sich im Jahr 2011 auf globaler Ebene ausgedehnt hat. Vor diesem Hintergrund ergeben sich eine Reihe von Fragestellungen, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Das leitende Forschungsinteresse liegt in der Erkundung der Parallelen und Differenzen, die sich aus den Bewegungen des Revolutions- und Protestjahres 2011 ziehen lassen. Aus dieser Analyse sollte sodann auch eine Einschätzung mit Bezug auf andere, bereits etablierte soziale Bewegungen möglich sein. Hierfür bietet sich die Euromayday-Bewegung an, eine transnationale Protestformation, deren Forderungen gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse auffallende Übereinstimmun-

Prekäre Verknüpfungen

gen mit jenen der neueren Protestbewegungen aufweisen. Zusätzliche Relevanz bezieht ein solcher »nachgelagerter« Vergleich aus dem Befund, dass sich die Prekarisierungsbewegung, folgt man der Meinung kritischer Aktivisten, nach nunmehr zehn Jahren mehr und mehr »verflüchtigt« hat (kmii 2011). Dies betrifft nicht nur die Prekarisierungsbewegung, sondern einen ganzen Zyklus von sozialen Bewegungen, der mit den WTO-Protesten 1999 in Seattle einen ersten Höhepunkt erreicht und das folgende Jahrzehnt globalisierungskritischer sozialer Kämpfe geprägt hat, nun aber in neue Formen des Protests übergeht (Griesser/Hackauf 2011). Wenn dieser Befund zutrifft – und er besitzt durchaus Plausibilität –, dann wäre zu fragen, wohin sich die Bewegung verflüchtigt hat und welche neuen Protestformen damit verbunden sind. Eine Antwort darauf könnte im Schlagwort der precarious connections, der prekären Verknüpfungen, liegen, das zurzeit in Bewegungsdiskursen die Rede macht. Es verweist auf die vielfältigen Verbindungslinien zwischen den sozialen Kämpfen des Jahres 2011 und deren Anknüpfungsmöglichkeiten an bereits etablierte soziale Bewegungen. Im Folgenden werde ich einige Dimensionen dieser prekären Verknüpfungen erörtern. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über die hegemonietheoretische Diskursanalyse (Teil 2), die als theoretisch-methodischer Rahmen der Untersuchung dient. In Teil 3 gilt es, die sozioökonomischen Verhältnisse herauszuarbeiten, unter denen prekäre Verknüpfungen auf globaler Ebene sichtbar werden. Teil 4 zeigt anhand der unterschiedlichen Adressierungen des Systems die Ähnlichkeiten ebenso wie die Unterschiede zwischen den Protesten des Jahres 2011 in den arabischen und westlichen Ländern auf. Anschließend werden universelle Momente analysiert, in denen die jeweiligen Kämpfe über sich hinausweisen (Teil 5). Schließlich endet der Beitrag mit einigen zusammenführenden Schlussfolgerungen.

2. D IE HEGEMONIE THEORE TISCHE D ISKURSANALYSE Für die Analyse der prekären Verknüpfungen dienen Kategorien und Begriffe aus dem diskurstheoretischen Repertoire der Essex School um Laclau und Mouffe (1995), die an dieser Stelle – wenn auch sehr verkürzt – dargelegt werden (vgl. ausführlich Nonhoff 2007). Die hegemonietheoretische Diskursanalyse lässt sich grob in drei Ebenen einteilen. Auf einer ersten Ebene finden wir die politische Theorie mit den Schlüsselkonzepten des sozialen Antagonismus und der Hegemonie, auf einer zweiten Ebene das diskurstheoretische Konzept im engeren Sinne, auf der dritten Ebene schließlich die Demokratietheorie, die auf ein Plädoyer für radikale Demokratie hinausläuft. Ich beschränke mich hier auf die Ebenen eins und zwei.

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Ausgangspunkt der politischen Theorie ist eine grundsätzlich oppositionell verfasste, von Differenzen bestimmte Gesellschaft, die sich nur in Abgrenzung nach außen selbst begründen kann. Dem Außen kommt, qua negativer Identität, eine konstitutive Bedeutung bei, stets geht es aus den umkämpften Institutionalisierungsversuchen der sozialen Kräfte neu hervor. Man kann auch vom umkämpften Terrain des Sozialen sprechen, seiner unumgänglichen Offenheit und Unabschließbarkeit, die in eine postfundamentalistische und antiessentialistische Gesellschaftstheorie münden, welche weder ein homogenes Gründungsfundament noch eine substantielle Wesenhaftigkeit bereithält (Laclau/ Mouffe 1995: 95f.). Die Kategorie des Antagonismus bezieht sich auf das Feld der sozialen Differenzen, dessen Relationen durch artikulatorische Praxis konstituiert werden. Artikulation bezeichnet »jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird« (ebd.: 159). Die Beziehung zwischen Elementen entfaltet sich entlang der unterschiedlichen Logiken von Äquivalenz und Differenz. Während die Logik der Differenz zur Gegnerschaft, womöglich bis zur Feindschaft führen kann, tendieren Äquivalenzen dazu, Differenzen zugunsten einer übergreifenden Identitätsform zu nivellieren. Wenn eine Kette von Äquivalenzen – wie etwa im Fall eines übergreifenden Konsenses – soziale Dominanz errungen hat, sprechen Laclau/Mouffe von Hegemonie: Hegemonie kann somit definiert werden als eine Theorie der strategischen Züge – und der quasi-transzendentalen Bedingungen, unter denen solche Züge möglich sind –, die auf einem grundlosen Terrain geführt werden, das vom Spiel der Differenz eröffnet wurde. (Marchart 2007: 119)

Umgekehrt wäre die Logik der Differenz dann gegeben, wenn die Elemente einer dominanten Äquivalenzkette auseinanderbrechen und in einer neuen diskursiven Ordnung artikuliert werden. Hier zeigt sich gleichsam die konstitutive Bedeutung von Konflikt und Widerstreit, die der Annahme einer determinierten und geschlossenen Gesellschaftsformation konträr gegenüberstehen und stattdessen den offenen Prozesscharakter des Sozialen bekräftigen. Die Diskurstheorie im engeren Sinne definiert den Diskurs als »[d]ie aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität« (Laclau/ Mouffe 1995: 159), durch die alle sozialen Phänomene und Objekte erst ihre Bedeutung erhalten. Das Diskursive stellt einen Bedeutungshorizont dar, innerhalb dessen sich Identifikationsprozesse durch Subjektpositionen konstituieren. Es bezeichnet, allgemeiner gesagt, die Gesamtheit aller symbolischen Ordnungen einer Gesellschaft (Keller 2004: 139). Auch hier sind die Logiken der Äquivalenz und Differenz entscheidend, insofern sie das Artikulationsfeld mit entsprechenden Positionierungsangeboten begründen und strukturieren, welche wiederum von Akteuren durch soziale Praktiken ausgedrückt, ausge-

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führt und ausgefüllt werden. Demnach können diskursive Praktiken sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Natur sein, je nach dem, in welcher Form sie das Feld des Diskursiven hervorbringen. So führen beispielsweise auch Rituale außerhalb des Mediums der Sprache zu diskursiven Sinnfestlegungen. Zentrales Charakteristikum von Diskursen ist ihre Kontingenz, sie sind weder stabil noch fixiert, niemals sicher vor äußeren, fremden Elementen. Diese strukturelle Offenheit mündet ins Konzept des leeren Signifikanten, der entlang der Logik der Äquivalenz operiert. Innerhalb der von ihm aufgestellten Identitätsangebote können durchaus verschiedene Subjektpositionen – verknüpft über Äquivalenzketten – auftreten. Leere Signifikanten enthalten aufgrund ihrer Vereinfachungstendenz eine »chronische« Unterbestimmtheit (Reckwitz 2006: 344). Jene Punkte hingegen, an denen der Diskurs (teilweise und vorübergehend) fixiert wird, werden Knotenpunkte (Laclau/Mouffe 1995: 112) genannt. Knotenpunkte sind privilegierte Signifikanten, welche die Bedeutung einer ganzen Kette von Signifikanten fixieren. Sie werden konstruiert durch Artikulation, also durch die Verbindung diskursiver Elemente. Letztlich aber weisen alle Verkettungen, parallel zur Unabschließbarkeit des Sozialen, eine grundlegende Ambivalenz auf. Weder linear noch kausal, offenbaren sie ein Prinzip der Antikausalität, die irreduzible Vieldeutigkeit und Mehrdimensionalität sozialer Verknüpfungen, aus denen sich wiederum die Eigendynamik und Kontingenz sozialer Prozesse ableitet. Wenn wir diesen hegemonietheoretischen Analyserahmen auf unseren Gegenstand der prekären Verknüpfungen anwenden, so gilt es, nach den Subjektpositionen, Allianzbildungen, Forderungsstrukturen, Proteststrategien und Bewegungsidentitäten zu fragen, die aus der artikulatorischen Praxis der Akteure hervorgehen. Insbesondere interessiert uns, welche Verknüpfungsmodi im Sinne der Differenz oder Äquivalenz hervortreten, welche Äquivalenzketten geschlossen werden und inwiefern dabei leere Signifikanten auszumachen sind, die den Diskurs in einen bestimmt-unbestimmten Referenzrahmen einbetten. Die im Anschluss ausgeführte Analyse legt als Materialbasis einen offenen Korpus unterschiedlicher Quellen über die arabischen Revolutionen und die europäischen Protestbewegungen des Jahres 2011 zugrunde. Offen ist der Korpus insofern, als die Materialauswahl nicht systematisch nach einem Medium, Zeitraum oder Thema erfolgte, vielmehr generativ eine Reihe unterschiedlicher Textsorten herangezogen wurden, die eine möglichst multidimensionale Perspektive auf die untersuchten Ereignisse zulassen. Dies sind im Wesentlichen Medienberichte und Beiträge aus Fachzeitschriften, auf der anderen Seite aber auch Primärdokumente aus dem Umfeld der untersuchten Protestbewegungen (Aufrufe zu Protesten, Konzept- und Diskussionspapiere einzelner Akteure, Homepage-Auftritte, Flugblätter und dergleichen).

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3. P REK ÄRE V ERKNÜPFUNGEN Der junge Prekäre aus Tunesien Als »junger Prekärer« wird er in einer Dokumentationsbroschüre bezeichnet (Schmid 2011a: 8), der Tunesier, der durch seine Selbstverbrennung Mitte Dezember 2010 die tunesische und folglich die arabischen Revolutionen am Maghreb auslöste. Neben den weitreichenden politischen Auswirkungen, die dieses Ereignis auf regionaler wie internationaler Ebene hervorgebracht hat, setzte sich damit auch eine Neuverortung vieler sozialer Bewegungen in Gang: ein erweitertes Spektrum an Akteuren und Allianzen, Möglichkeiten und Perspektiven tat sich auf, viele »alte« Forderungen und Themen wurden »neu« geschrieben. So etwa im Falle der europäischen Prekarisierungsbewegung: Lange Zeit angetrieben vom Zugpferd der Euromayday-Paraden, scheint diese Bewegung seit einigen Jahren sukzessive an Aufmerksamkeit zu verlieren.1 Nun jedoch, mit dem jungen Prekären, betritt ein neuer Anti-Held eine ebenso neue Bühne und aktualisiert das Themenfeld unter geänderten Vorzeichen. Die Bewegung der Prekären mag sich ihrer Form nach tendenziell verflüchtigt haben, nicht so aber ihre Inhalte.2 Andererseits werden Inhalte nie einfach nur übernommen, vielmehr werden sie mit jeder Re-Artikulation neu konstruiert, rekonstruiert oder dekonstruiert. Jeder neue Kontext gibt ihnen eine andere Bedeutung. Wo, so könnte man fragen, liegen demnach die Parallelen zwischen den arabischen und den europäischen Kämpfen, wo die Unterschiede? Wie wird das Thema der Prekarisierung darin verhandelt? Sind die jeweiligen Kontexte überhaupt vergleichbar? Was sind die Hintergründe und Relationen, Bedingungen und Möglichkeiten, welche die einen Kämpfe mit den anderen verbinden? Gibt es Kontinuitäten, Brüche? Diese Fragen sind im Grunde nicht neu, da sie bereits seit mehreren Jahren parallel zur Prekarisierung unter dem Schlagwort der Informalisierung diskutiert werden. Was im globalen Norden die prekäre Arbeit ist, hat in der südlichen Hemisphäre seine Entsprechung in der informellen Arbeit, worunter all jene Arbeitsformen fallen, die nicht in »normalen« Sicherungssystemen verankert sind, also weder rechtlich noch regulatorisch anerkannt oder geschützt werden 1 | Vgl. die Statistik über die Entwicklung der Euromayday-Bewegung auf www.protestmedia.net. 2 | Diese These lässt sich unabhängig von der Arabellion auch unter Referenz auf einzelne Vertreter der Bewegungsforschung aufstellen, denen zufolge das Thema Prekarität inzwischen – besonders vor dem Hintergrund einer Dauerkrise – zu einer derart systemimmanenten Dimension herangereift ist, dass es allzu selbstverständlich und normal erscheint, um noch explizit artikuliert oder bewusst wahrgenommen zu werden. Wo alles prekär ist, verliert der Begriff der Prekarität seine Bedeutung.

Prekäre Verknüpfungen

(vgl. Yun 2011). Informelle Arbeit ist besonders in Beschäftigungsbereichen wie Landwirtschaft, Straßenhandel, Heimarbeit, Haushalts- und Pflegearbeit sowie Sexarbeit ein verbreiteter Regulationsmodus der Produktion, betroffen sind vor allem Frauen und Migranten (vgl. aus feministischer Sicht Wichterich 2008). Demnach kann es nicht verwundern, wenn die »Mehrheit der Weltbevölkerung […] nie aus dem Prekariat herausgekommen«3 ist. Der Informalisierung der Arbeitsbeziehungen im Süden entspricht also die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse im Norden. Beide Mechanismen bezeichnen »graduell abgestufte Ausdrucksformen der Globalisierung von Unsicherheit«4 . Diese thematische Überkreuzung von Prekarisierung und Informalisierung verweist auf eine bereits bestehende Form von prekären Verknüpfungen, die allerdings bislang nur selten in den entsprechenden Kämpfen artikuliert wurde. Vielleicht, so ließe sich vermuten, bringen die jüngsten Proteste des Jahres 2011 auch solche historisch angelegten Verbindungslinien deutlicher zum Ausdruck.

Prekäre Verhältnisse im Maghreb Ein erster Themenblock, an dem die prekären Verknüpfungen zwischen den weltweiten Protestformationen sichtbar werden, behandelt ökonomische Problemfelder. Dazu bedarf es einer kurzen soziohistorischen Kontextualisierung der wirtschaftlichen Lage des Maghreb, die zeigen sollte, dass trotz Wirtschaftswachstums in den meisten arabischen Ländern und einer im Vergleich zu asiatischen wie südamerikanischen Ländern niedrigen Armutsquote die sozialen Aufstände wesentlich ökonomisch zu erklären sind. Steigende soziale Ungleichheiten, abnehmende Ernährungssicherheit und sinkender Lebensstandard sind hierfür zentrale Parameter (Breisinger et al. 2011). Obwohl Länder wie Tunesien und Ägypten bis zuletzt erstaunliche Wachstumsraten aufzeigten, hat sich die sozioökonomische Position vieler Menschen keineswegs verbessert. Die Arbeitslosenraten sind relativ hoch zwischen 8 und 14 %, besonders stagnieren die Arbeitsmarktchancen in der Gruppe der Unter-30-Jährigen, die in vielen Staaten (aufgrund ähnlicher demographischer Entwicklung) mehr als 50  % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dazu kommt die fast durchgehend niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen, ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle, das zur Landflucht führt, weitgehend rückständige Bildungssysteme, sowie hohe Bevölkerungsanteile, die unter der Armutsgrenze leben (zwischen 15 und 50 %). Kurz: die Lebensbedingungen der Menschen haben sich in den letzten 30 Jahren unmerklich verbessert. Schaut man sich die deutlichen Asymmetrien zwischen gesamtwirtschaftlicher, wachstumszentrierter Entwicklung einerseits und mikroökonomischer, 3 | So die Soziologin Christa Wichterich, zit. in Yun 2011. 4 | So die Politologin Birgit Mahnkopf, zit. in Yun 2011.

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menschlicher Entwicklung andererseits genauer an, so war es lediglich eine Frage der Zeit, wann sich die in den meisten arabischen und nordafrikanischen Gesellschaften seit Jahren spürbare Verzweiflung über staatliche Ausgrenzungsund Erniedrigungspraktiken sowie die Verteilungsungleichheit und steigende Lebensmittelpreise entlädt. (Schumacher 2011: 35) Folgt man diesem Befund, dann waren die Massenmobilisierungen der Arabellion weder zufällig noch waren sie wirklich überraschend.5 Zudem hat es bereits in den Jahren zuvor mehrere Erhebungen in Libyen (2005), Pakistan (2007/2008) und Iran (2009) gegeben, die nicht ohne Auswirkungen auf die nachfolgenden Entwicklungen waren. Unterdessen hat sich auf dem Rücken dieser sozioökonomischen Lage die Entfaltung neoliberaler Maximen vollzogen, welche die wirtschaftspolitische Entwicklung der arabischen Staaten zunehmend dominierten und zu einem System des »neoliberalen Autoritarismus« (Schumacher 2011: 30) führten. Dies betrifft insbesondere die asymmetrischen Einkommens- und Ressourcenverteilungen sowie die ungleichen Möglichkeiten ökonomischer Teilhabe, die sich vor dem Hintergrund forcierter marktkapitalistischer Strukturen einerseits und der Zentralisierung politischer Macht andererseits darstellen. Von den in den letzten Jahren einsetzenden Strukturanpassungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, nicht selten aufgedrängt von externen Akteuren (»Gebern«) wie Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, haben in erster Linie die Herrschenden selbst profitiert. Politische und ökonomische Eliten waren weitgehend ident. Gleichzeitig haben Korruption, Inkompetenz und das meist völlige Ausbleiben aktiver Wirtschaftspolitik zu den verheerenden Ungleichheiten beigetragen. Besonders eklatant zeigt sich dies etwa in Ägypten, einem »armen reichen« Land, das seinen Reichtum an Rohstoffen wie Öl, Erdgas und Ackerland nicht in eine der breiten Mehrheit zuträgliche Wirtschaftsstrategie umsetzen konnte (Springborg 2011).

Globale Austeritätspolitik und Prekarisierungsgesellschaft Aus dem Kontext dieser Entwicklung tritt mit dem Thema der globalen Austeritätspolitik eine erste Problemkonstruktion hervor, die wir als prekäre Verknüpfung ausweisen können. Sie wird, wie aus der folgenden Stellungnahme einer deutschen Aktivistengruppe abzulesen, verantwortlich gemacht für die hohe Arbeitslosigkeit der Jugendlichen im Maghreb sowie deren mangelhafte sozioökonomische Integration und Perspektivlosigkeit.

5 | Was hingegen sehr wohl erstaunen ließ, waren Synchronisierung, Tempo und Intensität dieser Erhebungen.

Prekäre Verknüpfungen

Eine Folge der Austeritätspolitik, die als Ursache für die arabischen Aufstände eine besondere Rolle spielte, ist der völlige Ausschluss der Jugendlichen vom Arbeitsmarkt und damit von gesellschaftlicher Partizipation. Die neoliberale Konzentration auf die Exploration von Bodenschätzen und die Auslagerung der Billiglohnproduktion in andere Länder bedeutete für die nordafrikanischen Ökonomien, dass ihr Bildungssektor nicht mehr als sozialer Puffer fungieren konnte: Das System produzierte eine ganze Generation von arbeitslosen oder prekär beschäftigten HochschulabgängerInnen. Gerade aus dieser Schicht kommen viele AktivistInnen der arabischen Revolutionen. (SRG 2011: 54)

Neben der globalen Austeritätspolitik wird die Arabellion insbesondere mit dem Thema der Prekarisierung verknüpft, insofern diese das Symptom einer »globalen Konfiguration der Ungerechtigkeit« darstellt (Die Redaktion 2011: 59). Obgleich die sozialen Kämpfe stets in eigenen Kontexten und Logiken zu betrachten sind, schaffen sie doch ein Bewusstsein für eine vom »System« systematisch generierte Ungerechtigkeit und artikulieren damit ein Moment der »globalen Verbundenheit« (ebd.). Der Aufruf zu einer ersten transnationalen Konferenz in Tunis im Herbst 2011 beginnt mit folgenden Worten: »Wir, Student_innen, prekarisierte Arbeiter_innen, Arbeitslose und Aktivist_innen aus Europa und Nordafrika haben uns in Tunis getroffen um unser Wissen auszutauschen und einen Prozess gemeinsamer Kämpfe anzustoßen.« (Aufruf Tunis) Der Wortlaut ist im Grunde fast austauschbar mit diversen Aufrufen zu Euromayday-Paraden der vergangenen Jahre. Gerade die Adressierung einer kollektiven Wir-Subjektposition und die übergreifende Mobilisierung heterogener sozialer Gruppen oder Klassen sind – entlang einer Matrix postidentitärer und postnationaler Subjektivität – zentrale Merkmale des Euromayday-Diskurses (vgl. Hamm/Adolphs 2009). Das zitierte Beispiel kann auch symptomatisch für die Konstitution eines übergreifenden, neu erwachenden politischen Bewusstseins gelesen werden, das so disparate Phänomene wie die Proteste in Spanien oder Chile, die Revolutionen in Tunesien oder Ägypten sowie die Krawalle in London verbindet. Dieses Bewusstsein ist im Sinne einer prekären Allianzbildung zunächst noch unabhängig von konkreten Inhalten und Subjektpositionen, auch Wut und Empörung können zum hinreichenden Anlass der Solidarisierung werden. Der Soziologe Klaus Hurrelmann dazu: »Der gemeinsame Nenner ist, dass Angehörige der jungen Generation ihre eigene Lebensperspektive antizipieren und sehen: So können wir nicht weiterleben« (DIE ZEIT Nr. 36/2011: 73-74). Die diskursive Verknüpfung von neoliberaler Sparpolitik, Zukunftsgeneration und Perspektivlosigkeit schafft eine Allianz zwischen den Revolutionen des Maghreb und den Empörungswellen in Europa, die in der übergeordneten Identität einer globalen Prekarisierungsgesellschaft aufgeht. Im Lichte dieses

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leeren Signifikanten erweist sich auch jede allfällige Trennung zwischen erster und dritter Welt als obsolet, denn egal ob in Tunesien, Spanien oder den USA: hier wie da ist es die ökonomische Desintegration einer jungen, gut ausgebildeten Generation, die über Grenzen hinweg verbindet. In Spanien wie auch in Griechenland war es diese Generation, die die Puerta del Sol und den Syntagma-Platz besetzt haben. Wie die tunesische Jugend sehen sie ihre einzige Chance entweder in der Migration oder im Aufstand. (Die Redaktion 2011: 59)

Der Kampf gegen Prekarisierung ist demnach eine zentrale Forderung innerhalb der vielfältigen Vernetzungs- und Austauschaktivitäten zwischen den Akteuren. Neben mehreren transnationalen Großkonferenzen in Tunis und Barcelona6 finden im Herbst 2011 weitere Aktionen wie die Schiffe der Solidarität oder der Aktionstag des 15. Oktober United for #global change statt, aus dem schließlich die Occupy-Bewegung hervorgehen sollte. Hier ist es eine breit angelegte Demokratisierungsbewegung, die im Stile der Internationale (Proletarier aller Länder, vereinigt euch!) ausruft: »Menschen der Welt, mobilisiert euch am 15. Oktober!« Die Protestformation wendet sich gegen globale Austeritätspolitik, betrachtet die aktuelle ökonomische Krise zugleich als politische Krise, fordert soziale Rechte und bedingungsloses Grundeinkommen, tadelt das erschöpfte System repräsentativer Demokratie und solidarisiert sich mit den Migranten (»We are all migrants. No one is illegal!«), deren prekären Lebensbedingungen tendenziell alle sozialen Kreise betreffen. Während Problembefunde wie globale Austeritätspolitik und globale Prekarisierungsgesellschaft große Parallelen zwischen den arabischen Revolutionen und westlichen Protestbewegungen aufweisen, zeigen sich Unterschiede dann, wenn es um die konkrete Adressierung des Systems als Feindbild geht. Wer oder was ist das System? Impliziert Systemkritik auch notwendig Kapitalismuskritik? Sind die Forderungen vorwiegend ökonomischer oder politischer Natur? Und wollen die Akteure ein neues oder anderes System oder dasselbe unter anderen Bedingungen? Im Folgenden sollten diese Fragen anhand mehrerer Schauplätze untersucht werden. Zunächst wenden wir uns den Revolutionen in Tunesien und Ägypten zu, dann den westlichen Protestbewegungen in Spanien und Israel.

6 | Im Mittelpunkt dieser ersten beiden Vernetzungskonferenzen stehen »die Kämpfe gegen die Prekarisierung, für Bewegungsfreiheit, für die Freiheit des Wissens sowie die Frage neuer Organisierungsformen« (Die Redaktion 2011: 57f.).

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4. S YSTEMKRITIK : Ä QUIVALENZEN UND D IFFERENZEN Systemkritik I: »Freiheit« und »Würde« – Die arabischen Revolutionen Wenn wir uns die politische Entwicklung in den arabischen Ländern bis zum Revolutionsjahr 2011 vergegenwärtigen, dann zeichneten sich deren Staatsapparate über Jahrzehnte hinweg durch das »Fehlen von freien und fairen Wahlen, massive Beschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit, die Missachtung der Menschenrechte und die Instrumentalisierung der Justiz durch die Regierung« (Hippler 2011: 70) aus. In einem Bericht der Vereinten Nationen wurden sie mit einem »schwarzen Loch« verglichen, das alle Kräfte und Energien magnetisch an sich zieht und dergestalt vereinnahmt, dass darin weder Bewegung noch ein Entkommen möglich ist (UNDP 2005: 126). Man bedenke zudem, dass der arabische Raum, folgt man anerkannten Demokratieindizes wie Freedom House, im globalen Vergleich hinsichtlich des Status von politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten insgesamt am schlechtesten abschneidet (Freedom House 2012). Umgekehrt stand das diktatorische »schwarze Loch« der demographischen Entwicklung vieler Länder entgegen, in denen sowohl die Mittelschichten stärker geworden sind als auch das Bildungsniveau deutlich gestiegen ist, was eine wichtige Voraussetzung, wenngleich noch nicht ausreichende Erklärung für die Proteste ist. Ein Indiz der umfassenden demographischen Entwicklung ist die hohe Akademikerquote der Maghreb-Staaten. Nicht nur das steigende Bevölkerungswachstum7, auch der Ausbau der Bildungsinstitutionen und die Politisierung der Studierenden in den 1970ern8 machten diese hohe Quote überhaupt erst möglich (vgl. Hegasy 2011). Solche Faktoren und Hintergründe zeigen, dass die Proteste im arabischen Raum auch als Symptom einer ursächlichen »Krise des autoritären Sozialvertrags« zu verstehen sind (Haders 2011). Der Sozialvertrag, »der das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Region regelt«, ist in die Krise gekommen »aufgrund der ›Transformation ohne Transition‹: eines rapiden, sozialen Wandels bei gleichzeitiger politischer Erstarrung und Repression« (ebd.: 9). Weder die politischen noch wirtschaftlichen Entwicklungen konnten mit der demographischen mithalten. Der autoritäre Sozialvertrag bot lange Zeit »wohlfahrtsstaatliche Leistungen im Tausch für politische Demobilisierung« (ebd.: 10), machte also Zugeständnisse zum Preis von Depolitisierung. Er wurde spätestens ab den 1990ern brüchig durch den Abbau des Staates infolge neoliberaler 7 | Zwischen 1970 und 2010 verdreifachte sich die Bevölkerung der Länder Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten von 128 auf 359 Millionen Einwohner. 8 | Die Studentenbewegungen fanden Ende der 1970er statt, also 10 Jahre später als in Europa.

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Wirtschaftsreformen. Seitdem erfuhren die Staaten zunehmend eine Legitimitätskrise. Speziell in Tunesien ist das Missverhältnis zwischen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklung offenkundig. Die Arbeitslosigkeit beträgt knapp 15 %, es gibt hohe Jugendarbeitslosigkeit, allgemein geringe Löhne und befristete Arbeitsverträge. Dazu kommt eine Wohnungsnot, über 100 000 Sozialwohnungen fehlen (Schmid 2011b: 35). Während 75  % der Schulabgänger Abitur haben, üben viele qualifizierte Junge und Akademiker unterqualifizierte Jobs aus (auch Mohamed Bouazizi, der sich selbst anzündete, hatte ein Universitätsdiplom). 4 von 10 Millionen Einwohner haben Internet, die Hälfte davon ist bei Facebook. Dieser sozioökonomischen Lage stand bis 2011 ein Polizeistaat entgegen, den Ben Ali während seiner Amtszeit sukzessiv aufgebaut hat (ebd.). Presse- und Meinungsfreiheit waren massiv eingeschränkt, politische Opposition nicht existent, dementsprechend geringe Erfahrung und Tradition gibt es in der Gewerkschaftsarbeit, Parteien weisen wenig gewachsene Strukturen und Organisationsgrade auf. Es existiert also weder eine organisierte Zivilgesellschaft noch eine breite zivilgesellschaftliche Basis (wie etwa in Ägypten, Jordanien, Marokko und Algerien), stattdessen ein loses Netz an »kleinräumigen lokalen und informellen Strukturen« (Haders 2011: 11). Im Kontext dieser Entwicklung mag es nicht verwundern, wenn die Triebfedern der tunesischen Revolutionäre grundlegende Forderungen nach Rechtsstaat, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, vor allem aber nach menschlicher Würde waren: »Die tunesische Jugend, wenn man es verallgemeinern will, sehnt sich nach einem normalen Leben, nach einem Job, der es erlaubt, eine Familie zu gründen, nach einem Leben ohne Angst, in dem die Würde des Individuums respektiert wird. Sie war notgedrungen revolutionär, weil in Tunesien all dies ohne Revolution nicht zu haben war« (Schmid 2011b: 35). Im Anspruch auf ein Leben in Würde drücken sich gesellschaftliche Grundbedürfnisse nach Partizipation, Repräsentation, Gerechtigkeit und Freiheit aus, also politische, wirtschaftliche und soziale Basisforderungen. Konkret artikulierten sie sich äußerst vielfältig: »Das Spektrum der Forderungen reicht von der Abschaffung ethno-konfessioneller Diskriminierung über die Erweiterung parlamentarischer Mitspracherechte und der konstitutionellen Beschränkungen von Monarchien bis hin zur vollständigen Beseitigung der Regime« (Asseburg 2011: 3). Wie sieht die Situation in Ägypten aus? Auch hier ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch9, was umso folgenschwerer ist, als die Hälfte der 83 Millionen Einwohner unter 25 Jahre ist. Viele der Jungen haben Uni-Abschlüsse, aber keine Arbeit. Die Alphabetisierungsrate liegt bei 66 %, die Akademikerquote bei 15 %. 17 Millionen Ägypter bewegen sich im Internet, 5 Millionen sind bei 9 | Teilweise (etwa bei 20-24-Jährigen) beträgt sie fast 50 % (Asseburg 2011: 4).

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Facebook registriert. Ein Großteil der Bevölkerung lebt am Existenzminimum, 20 % unter der Armutsgrenze. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware.10 Das Land ist bei Nahrungsmitteln sehr importabhängig (z.B. größter Weizenimporteur der Welt), daher auch unmittelbar betroffen von den Preissteigerungen der letzten Jahre. Ägyptische Haushalte geben rund 40 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Gleichzeitig ist der Anstieg der Lebenshaltungskosten mit dem Abbau staatlicher Subventionen einhergegangen. Bereits Anfang der 1990er wurde dem Land vom IWF eine strenge Haushaltspflicht verordnet: Subventionsabbau, Kürzung von Sozialleistungen, Privatisierung von Staatsbetrieben, Austeritätspolitik. Allerdings kam diese neoliberale Politik der Liberalisierung und Privatisierung nur einem kleinen, dem Regime eng verbundenen Teil zugute, die soziale Ungleichheit im Land nahm weiter zu. Auch die Forderungen der ägyptischen Revolutionsbewegung waren wesentlich auf die Triangulation von politischen, ökonomischen und sozialen Grundrechten fokussiert, ausgedrückt in Losungen wie »Brot, Würde, Freiheit« oder »Würde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit«. Die Proteste begannen im Februar 2011, angeführt von jungen Ägyptern – der Koalition der Jugend11 –, deren primäres Feindbild »ein überaltertes System [war], das seit 30 Jahren mit dem Kriegsrecht regiert und Folter als legitimes Mittel zur Bekämpfung von Oppositionellen ansieht« (Nordhausen 2011: 39). Waren die Proteste anfangs noch überwiegend politischer Natur, haben sie sich bis zum Sommer auf wirtschaftliche Forderungen (Mindest- und Maximallohn, bezahlbare Grundnahrungsmittel) sowie Themen der sozialen Gerechtigkeit ausgeweitet. Die Beispiele Tunesien und Ägypten zeigen, dass es hier jeweils um die definitive Absage an ein System ging, das dem Großteil der Menschen elementare politische, soziale und wirtschaftliche Rechte vorenthielt. Deshalb konnten Würde und Freiheit zu übergreifenden Forderungen werden, leeren Signifikanten gleich, die sich als Knotenpunkte von Diskursen herauskristallisiert haben und eine Fülle von Aneignungs-, Artikulations- und Interpretationsmöglichkeiten offenhalten (Laclau 1996). So unterschiedlich die nationalen Kontexte der arabischen Revolutionen sein mochten, ein Leben in Würde und Freiheit konnte als einigender Anspruch etabliert werden. Wenn es die Funktion eines leeren Signifikanten ist, ein variables Verweisungsfeld zu eröffnen anstatt es zu schließen, sodass sich seine Bedeutung weder festschreiben noch begrenzen lässt, dann zeigt sich diese Logik bei Würde und Freiheit par excellence: einerseits verweisen sie auf die Demütigungen durch die angeprangerten Unrechtsregime, andererseits auf das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Brot und 10 | Die teuren Wohnpreise sind besonders für Männer fatal, da sie ohne Wohnung keine Ehefrau finden. 11 | Ein Bündnis von sechs Gruppierungen mit einem gemeinsamen Führungsgremium (Asseburg 2011: 6).

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Folter, Wahlen und Wohnraum, Bildung und Lohn – kein Thema, das hier nicht Anwendung finden würde. Das Prinzip der Transzendenz, das den Kategorien Würde und Freiheit innewohnt, verleiht ihnen eine Sinngebung jenseits aller Differenzen.

Systemkritik II: »Echte Demokratie Jetzt« – Das Beispiel Spanien Entschieden anders gelagert als in den arabischen Revolutionen ist die SystemKritik bei westlichen Protestbewegungen. Wir beginnen mit einer Analyse der spanischen Proteste. Spanien ist Europas viertgrößte Wirtschaftsmacht, hat aber zugleich eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Europa. Besonders betroffen ist die Jugendarbeitslosigkeit (40  %), ebenso hoch der Anteil der Akademiker zwischen 25 und 29 Jahren, die unter ihrer Qualifikation arbeiten. In spanischen Medien ging der umstrittene Begriff der generación ni-ni um, der Weder-Noch-Generation, womit Jugendliche gemeint waren, die, großgeworden als Kinder des spanischen Wirtschaftswunders in den 1990ern, angeblich weder arbeiten noch lernen wollten, eine Generation ohne Interessen, Ideale, Ziele und Energie (TAZ 2010). Spaniens Wirtschaft wurde von der Krise so stark getroffen wie kaum ein anderes Land. Zwischen 2007 und 2009 verloren 2,4 Millionen Spanier den Job, die Arbeitslosigkeit stieg um 11 % auf knapp 22 % – beides Höchstwerte in Europa. Die Mittelschicht bröckelt, wo Eltern ihren Job verlieren, können sie auch ihre Kinder nicht mehr unterstützen. Das Arbeitslosengeld beträgt 400 Euro für sechs Monate, danach gibt es nichts mehr. Schätzungen zufolge sind knapp eine Million Menschen bereits gänzlich aus dem sozialen Netz gefallen (Weipert 2011). Die Politik ist geprägt von einem herrschenden Zweiparteiensystem aus Konservativen und Sozialisten. Die Protestbewegung M15-M (Movimiento 15-M, dt. Bewegung 15. Mai) war ab Mitte Mai im Zentrum Madrids am Platz Puerta del Sol aufgetreten, um gegen das System zu demonstrieren. Mitte Juni beschloss M15-M, die Besetzung aufzuheben, ohne damit das Ende der Bewegung zu signalisieren. In vielen anderen europäischen Städten wie Berlin, Paris oder Lissabon fanden wiederholt Solidaritätskundgebungen statt. Von dieser Grundströmung der Proteste ist die politische Bewegung DRY (¡Democracia Real YA!, dt. Echte Demokratie Jetzt) zu unterscheiden. Beide Formationen sind eng miteinander verknüpft, allerdings nicht synonym. Hier wie da sind wesentliche Protestadressaten die hermetische Zweiparteienherrschaft auf allen institutionellen Ebenen sowie die zunehmende Korruption. Der zentrale Slogan von DRY lautet: »Wir sind kein Material in den Händen von Politikern und Bankern.« Die Bewegung versteht sich laut Homepage als überparteilich und friedlich, unideologisch, jedoch nicht apolitisch. Obwohl soziostrukturell heterogen und politisch nicht eindeutig verortet, lassen sich grob drei Aktivistengruppen ausmachen: Arbeitslose, Wohnungslo-

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se (Opfer der Hypothekenkrise) und prekäre Jugendliche. Das allgemeine Ziel von DRY ist eine umfassende Demokratiereform, ein »Wandel des politischen und ökonomischen Systems«, so Jon Aguirre Such, einer der Initiatoren (DIE ZEIT Nr. 22/2011: 7). Olga Mikhaylova, 27jährige Studentin und Mitorganisatorin, sagt zur Ausrichtung von DRY: »Wir wollen eine echte Demokratie, in der die Menschen, nicht die Märkte das Sagen haben. Wir sind empört, weil wir nicht schuld sind an der Krise, aber für sie bezahlen müssen« (DIE ZEIT Nr. 34/2011, S. 3). Bereits im März 2011 hatte DRY ein Manifest verfasst und gehörte zu jenen, die aktiv zu den Protesten am 15. Mai aufgerufen und die Camps unterstützt haben. Die wesentlichen Forderungen dieses Manifests (siehe Homepage) fokussieren die Achtung von Grundrechten im Sinne von »Recht auf Behausung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und Verbraucherrechte im Sinne einer gesunden und glücklichen Existenz«. Damit einher geht zum einen die Ablehnung eines abstrakten, Ungleichheit generierenden, »veralteten und unnatürlichen Wirtschaftsmodells«, zum anderen die Weigerung zur Partizipation an einem System der repräsentativen Demokratie, das de facto von einem »unerschütterlichen« Zweiparteiensystem regiert würde, von Politikern, die großteils die Stimmen der Menschen nicht mehr hörten und sich »nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte kümmern«. Kurzgefasst beziehen sich diese Forderungen also auf drei Dimensionen: neoliberale Wirtschaft, demokratische Krise und politische Korruption (Handelsblatt 2011). Ihnen folgt das Gebot: »Wir brauchen eine ethische Revolution.« Darunter fallen direkte Mitbestimmung, Chancengleichheit, Verteilungsgerechtigkeit und ein von der Gesellschaft kontrolliertes Finanzsystem (und nicht umgekehrt). Schließlich endet das Manifest mit dem Schlüsselwort der Empörung: »Im Sinne all dieser Punkte, empöre ich mich.« Nicht zufällig gilt neben Rosa María Artals’ Buch Reacciona (Reagiere) die Streitschrift von Stéphane Hessel – Empört Euch! – als theoretisches Fundament dieser und späterhin auch anderer Bewegungen. Die spanischen indignados (Empörten) sollten eine Vorbildwirkung für weltweite Protestformationen erhalten, nicht zuletzt für Occupy. Mit ihrem allgemein gehaltenen Anspruch auf politischen und sozialen Wandel hat die Bewegung ein universelles Moment artikuliert, das über konkrete Forderungen hinausgeht und anschlussfähig ist für zahllose andere Kämpfe. »Die Empörten, eine globale Kraft«, titelte die spanische Tageszeitung El País einen Tag nach dem globalen Aktionstag des 15. Oktober. Was nun ist der Systembegriff, der dieser Protestbewegung zugrunde liegt? Es ist ein sehr vager und ambivalenter: einerseits prangert er ein politisches und ökonomisches System an, das strukturell Entfremdung und Unsicherheit produziert. In dieser Negativkonstruktion wird der Systembegriff ähnlich tendenziös und generalisierend artikuliert wie jener breite Begriff von Prekarisierung im Rahmen der Prekarisierungsgesellschaft (Marchart 2010). »Ich will kein neues

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iPhone. Ich will ein neues Leben«, lautet ein Plakatspruch der Protestierenden auf der Puerta del Sol, eine Devise, die sich nicht auf materialistische oder hedonistische Kompromisse des Systems und seiner Konsumgesellschaft einzulassen vorgibt. Andererseits bedeutet diese Ablehnung des Systems noch keine definitive Absage, lediglich die Beseitigung seiner verheerenden Auswüchse, also Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die daraus hervorgehen. »Ich bin nicht gegen das System. Das System ist gegen mich«, so ein anderer Slogan der Empörten. Auch einige exemplarische Interviewauszüge von Protestierenden (vgl. im Folgenden Nolte 2011: 75-76) illustrieren die Ambivalenz des Systembegriffs, der immer wieder Konnotationen von Prekarität mit sich führt: Elena Sánchez, 26, arbeitslose Krankenpflegerin, musste, nachdem sie den Job verloren hat, wieder zu ihren Eltern ziehen. »Dieses System produziert Bettler«, sagt sie (ebd.: 75). Und Jana Martin, ausgebildete Sozialarbeiterin, derzeit Verkäuferin in einem Film- und Musikladen: »Es betrifft doch nicht nur unser Viertel oder unser Land, sondern die ganze Welt. Sie sagen uns immer, ihr müsst durchhalten, die Krise geht vorbei. Wir müssen aber nicht durchhalten, wir müssen etwas ändern« (ebd.: 76). Die Ablehnung von Bevormundung und Systemopportunismus verbindet sich hier mit der strategischen Maxime des Handle lokal, denke global. Konkrete Probleme am Arbeits- und Bildungsmarkt sind nur durch universelle Weichenstellungen zu lösen. Eine Aktivistin, Irene Zofío, sagt: »Eine Minderheit lebt sehr gut, während der Rest von uns gewissermaßen für sie aufkommt. Das ist ungerecht« (ebd.: 76). Die im System verankerte Ungleichheit führt zum übergreifenden Bewusstsein der Ungerechtigkeit. Die Situation von Irene Sánchez, Ende 20, veranschaulicht dies: »Ich habe zwei Abschlüsse, einen in Politik und einen in Journalismus, spreche zwei Fremdsprachen und muss es ertragen, dass mich ein Unternehmen ausbeutet, indem es mir nur 230 Euro im Monat bezahlt, weil ich keine andere Möglichkeit habe. Dagegen kann ein Typ der auf einer Privat-Uni war und einflussreiche Eltern hat, rund 3000 Euro im Monat verdienen« (ebd.: 76). In all diesen Fällen geht es nicht um System- oder Kapitalismuskritik per se, sondern um deren gegenwärtigen Ausprägungen im Sinne irrationaler und intransparenter Formen der Ungerechtigkeit. Auf der einen Seite artikulieren die Proteststimmen eine klare Front gegen Prekarisierung, auf der anderen schließt dies nicht notwendig kapitalistische und postfordistische Produktionsund Lebensformen aus. Der spanische Soziologe Antonio Alaminos von der Universität Alicante meint dazu: »Die jungen Spanier und viele Europäer zeichnen sich dadurch aus, dass sie wie ihre Eltern leben wollen, in einer kapitalistischen Konsumwelt. Nicht sie wollen dies beenden, es ist der Kapitalismus, der mit ihnen bricht« (Zit. in Kirsche 2011). Vergleichbare Verhältnisse wie in Spanien finden sich bei den Protestbewegungen in Portugal und Griechenland. Auf sie wollen wir hier nicht in derselben

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Ausführlichkeit eingehen, lediglich einige auffallende Eckdaten und Parallelen aufzeigen. In Portugal war es die Bewegung M12-M (Movimento 12 de Marco, dt. Bewegung 15. März), die im März 2011 gegen die steigende Arbeitslosigkeit und die Sparprogramme der Regierung protestierte. Eine zentrale Forderung war eine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Portugal galt lange Zeit als iberischer Tigerstaat, dessen Wachstumsraten allerdings weitgehend, ähnlich wie in Spanien, auf Kredit finanziert wurden. Das Land hat kaum wettbewerbsstarke Industrien, das Durchschnittseinkommen der Menschen ist gering (600-700 Euro). In den letzten Jahren setzte die Regierung ein Sparprogramm nach dem anderen, bis im Frühjahr 2011 Hilferufe beim EU-Rettungsfonds einlangten. Die Protestbewegung nahm ihren Ausgang in Lissabon und trat unter wechselnden Identitäten auf, einmal als Geração à rasca (dt. Verlorene Generation), ein andermal als Geração Esperança (dt. Generation Hoffnung). In Griechenland hat die Protestbewegung eine längere Vorgeschichte, die auf Aufstände von Jugendlichen im Dezember 2008 zurückgeht. Zwar gab es damals einen gesonderten Anlass, ein von Polizeikräften getöteter Student, doch schon diese Aufstände wurden als symptomatischer Ausdruck einer frustrierten Jugend ohne Perspektiven (hohe Jugendarbeitslosigkeit mit rund 40 %) sowie als Kritik an der Ineffizienz und Korruption des griechischen Staatsapparates gelesen. Eine erste übergreifende Protestwelle mit landesweitem Generalstreik folgte im Mai 2010. Aktivisten stürmten die Akropolis und verhängten Banner mit der Botschaft »People of Europe Rise Up«. Die zweite Welle im Mai und Juni 2011 folgte dem spanischen Beispiel der indignados und war inspiriert von der Arabellion. Sie war in ihrer Grundausrichtung nicht mehr partei- oder lagerpolitisch getrieben wie noch die 2010er Proteste, bei denen es drei Tote gegeben hatte. Die Menschen protestieren am Syntagma-Platz in Athen gegen Sparmaßnahmen der Regierung und gegen die Auflagen von internationalen Institutionen wie IWF, EU oder EZB. In einer ersten Veröffentlichung Ende Mai mit dem Titel »Vote of the people’s assembly of Syntagma Square« heißt es: »We are workers, unemployed, retirees, youth, who have come to Syntagma Square to fight and give a struggle for our lives and our future«. Nahezu ident wie in Spanien tritt die griechische Protestbewegung gleichzeitig unter dem Motto Real Democracy und als Bewegung der Empörten auf. Die Initiatoren nennen als Anlass eine »Krise der traditionellen Form politischer Organisation« (malmoe 2011). In Griechenland herrscht seit langem, auch dies eine unmittelbare Parallele zu Spanien, ein hermetisches Zweiparteiensystem aus Sozialisten und Konservativen, weshalb die Proteste in erster Linie an die eigene politische Klasse adressiert waren. Gleichzeitig enthielten die Forderungen ein Eingeständnis zur eigenen Mitverantwortung an der Schuldenmisere sowie ein starkes Bekenntnis zu Formen der direkten Partizipation. Kurz gefasst lauteten die Themen also Vertrauensverlust, soziale Gerechtigkeit und

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Demokratie – oder anders und spanisch (siehe oben) ausgedrückt: politische Korruption, neoliberale Wirtschaft und demokratische Krise.

Systemkritik III: Soziale Gerechtigkeit – Das Beispiel Israel Wieder eine andere Aneignung des Systembegriffs zeigt sich bei den Protestbewegungen in Israel. Das Land steht wirtschaftlich vergleichsweise gut da: 3,5 % Wirtschaftswachstum (trotz hohem Verteidigungsetat von 17 % des Haushalts), die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp 6 % (so niedrig wie selten zuvor), die Akademikerquote ist hoch (rund 44 %). Indes haben sich gerade für junge Menschen die ökonomischen Rahmenbedingungen verschärft: teure Mieten, teils hohe Privatverschuldung, hohe Jugendarbeitslosigkeit (rund 15 %). Ein Viertel der israelischen Gesamtbevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Wohnkosten sind zwischen Januar 2009 und Januar 2011 um 40 % gestiegen; auch die Lebensmittelpreise stiegen teils deutlich stärker als die Löhne, was zu mehreren Protesten geführt hat (symptomatisch dafür ein Boykott von Hüttenkäse, einem Grundnahrungsmittel in Israel, im Juni 2011). Ökonomische Ungleichheiten gibt es nicht zuletzt aufgrund zweier sozialer Gruppen, die aus allgemeinen Steuergeldern unterstützt werden (vgl. Illouz 2011): zum einen die privilegierte Gruppe der Ultraorthodoxen, zum anderen die von religiösen Nationalisten vorangetriebene Gruppe der Siedler. Siedler erhalten bis zu doppelt so hohe staatliche Zuwendungen wie Bewohner des israelischen Kernlandes. Diese soziale Segmentierung ist auch vor dem Hintergrund des sozialstaatlichen Abbaus zu sehen, der vor rund 30 Jahren unter der Regierung des Likud-Blocks einsetzte und als Effekt die öffentliche Versorgung erodieren ließ, zugleich aber die politische Machtkonzentration und wirtschaftliche Monopolbildungen verstärkte. Dass die Finanzkrise 2008 nicht so stark auf Israels Wirtschaftsleistung niedergeschlagen hat, lag nicht zuletzt an einzelnen Monopolen, zudem einem der Krise trotzenden Bankensektor, schließlich an einer stabilen Währung und hohen Importsteuern. Jedoch werden dabei – und dies nicht erst seit 2008 – gerade die produktiven Arbeiter- und Mittelschichten belastet. Die Systemfrage ist in Israel daher mit einer sehr komplexen und spezifischen Form von (Un)Gerechtigkeit verbunden, die aus der besonderen Geschichte und Struktur des Landes hervorgegangen ist und zu enormen Verteilungsproblemen geführt hat. Der israelische Politologe Dan Schüftan sieht darin vorrangig ein Versagen der Arbeits(ver)teilung: »Das Problem ist die Arbeitsteilung in Israel. […] Ein Drittel forscht und treibt die Wirtschaft voran, ein Drittel dient in der Armee und in der Reserve, und ein Drittel zahlt die Steuern. Das Problem dabei ist nur: es ist dasselbe Drittel« (Zit. in Yaron 2011: 39-40). Aus diesen Verteilungsverhältnissen lassen sich einerseits die objektiv relativ guten Wirtschaftsdaten Israels erklären, andererseits aber auch die breiter

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werdenden Bevölkerungsanteile unter zunehmend prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dass die Mittelschicht schrumpft, ist auch daran ablesbar, dass die Arm-Reich-Schere nach den USA die größte der westlichen Welt ist. Die israelische Protestbewegung nimmt ihren Anfang Mitte Juli 2011 in Tel Aviv, als die 25jährige Regisseurin Daphne Leev aus ihrer Wohnung gekündigt wird und folglich zum Protest aufruft. Erste Zelte werden am Rothschild Boulevard aufgestellt, der teuersten und reichsten Straße der Stadt mit breiten Fußwegen und Rasenanlagen. Der Protest weitet sich rasch aus, geht über alle Lager, schnell sind 90 Zeltstädte im ganzen Land entstanden. Landesweit protestieren bis zu 300 000 Menschen, so viel wie noch nie. Einige Aktivisten tragen den Protest sogar in die Wüste, nach Beer Sheva, mit 200 000 Einwohnern die größte Wüstenstadt, allerdings mit einer ungleich höheren Arbeitslosigkeit als etwa in Tel Aviv. Dort plakatieren die Demonstranten: »Keine Rechte, keine Linke, nicht bloß Tel Aviv. Wir sind alle soziale Peripherie.« (DIE ZEIT Nr. 34/2011: S. 4) Der Spruch spielt auf das Missverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie im Rahmen einer Politik an, die geographisch auf Tel Aviv, Jerusalem oder diverse Siedlungen fokussiert ist. Außerdem drückt sich darin Unmut über das in Israel dominante Lagerdenken aus, das dazu führt, dass viele politischen Ressourcen blockiert werden durch den Palästina-Konflikt, generell durch die beständige Sicherheitsthematik sowie durch eine Reihe anderer, innenpolitischer Konflikte zwischen Rechts und Links, jüdischen und arabischen Israelis, Religiösen und Säkularen sowie zwischen diversen Gemeinschaften wie Drusen oder Beduinen. Es ist daher schon als großer Erfolg zu werten, wenn die Protestbewegung es nun erstmals schaffen sollte, über diese Konfliktlinien, die bislang übergreifende Allianzen unmöglich machten, hinweg zu agieren und zu verbinden. Umgekehrt haben sich mit dem Anwachsen der Protestbewegung auch die Forderungsstrukturen vervielfältigt. Waren es zu Beginn die Mietpreise, also die Forderung nach bezahlbaren Wohnungen, so weitete sich der Forderungskatalog schnell aus: »Die Taxifahrer wollen billigeres Benzin, die Milchbauern höhere Milchpreise, die Ärzte bessere Bezahlung, die Holocaust-Überlebenden höhere Renten, die Eltern mehr Bildungschancen für ihre Kinder. 87  % aller Israelis unterstützen mittlerweile die Proteste« (DIE ZEIT Nr. 34/2011: 4). Im Allgemeinen verwundert die heterogene Forderungsstruktur nicht wirklich, vielmehr entspricht sie der ebenso heterogenen Akteursstruktur: so spezifisch einzelne Ziele, so unterschiedlich die Protestgruppen. Als Konsequenz waren die Forderungen insgesamt weniger fokussiert denn kumulativ: »Gesellt sich eine weitere gesellschaftliche Gruppierung zu den Protesten hinzu, dann werden deren Forderungen einfach an die anderen angehängt«, so der israelische Journalist Ari Shavit. Angesichts der steigenden Themenvielfalt waren viele Aktivisten anfangs noch bemüht, die Forderungen auf eine wirtschaftliche Ebene zu konzentrieren: bezahlbare Wohnungen, reduzierte Steuern, besseres Schulsystem, bessere Krankenhäuser und allgemein eine bessere Gesundheits-

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versorgung. Doch das Forderungsspektrum vergrößerte sich rasch hin zu anderen Dimensionen wie soziale Gerechtigkeit (hier speziell zum Thema der ArmReich-Schere) oder allgemeinen Forderungen nach Systemwandel, die oftmals so abstrakt waren, dass sie alles beinhalten konnten: »Uns geht es um das System als Ganzes: Wohnungen, Bildung, Wohlfahrt, Gesundheit«, so Stav Shaffir, eine 26jährige Journalistin, Studentin und Mitorganisatorin der Proteste (DIE ZEIT Nr. 34/2011: 3): »Wir wollen die Art ändern, wie das System arbeitet, nicht das System an sich. Wir sind nicht gegen freie Märkte, aber wir sind gegen habgierigen Kapitalismus« (ebd.). Diese Form der Systemkritik oszilliert in ähnlicher Ambivalenz zwischen Anerkennung und Ablehnung, wie wir sie bereits im spanischen Beispiel analysiert haben. Es handelt sich weniger um eine Radikalposition, vielmehr um die Artikulation einer aus Unrechtsempfinden generierten Empörungshaltung. Bei alledem ist im israelischen Kontext zu bedenken, dass es aufgrund der latenten innerpolitischen Konfliktlinien stets Protestthemen gibt, die sehr heikel sind und eine Fundamentalopposition nahezu ausschließen. So galt die Erwähnung des Palästinenserproblems auch in den 2011er-Protesten lange Zeit als zu brisant. Zwar war die Siedlungsproblematik zumindest indirekt sehr wohl ein Thema, etwa wenn die Protestierenden gerade nicht den Bau privater Häuser forderten, sondern öffentlichen Wohnungsbau. Dennoch erschien die ausgleichende Strategie des Protests, ausgleichend sowohl im Auftreten wie in den Forderungen, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Polarisierungen oftmals als unpolitisch. Nach Einschätzung der israelischen Soziologin Eva Illouz kamen die Forderungen der Protestierenden »in der Gestalt einer Revolte der Verbraucher daher« (Illouz 2011: 48). Sie zieht gar eine historische Parallele zu den französischen und amerikanischen Revolutionen, die beide ebenfalls aufgrund fiskalischer Protestbewegungen begonnen hatten, zunehmend aber politisch wurden, indem sie über Steuerfragen hinaus die generelle Struktur der politischen Macht betrafen, bald also in politisches Handeln mündeten.12 Wir können als vorläufiges Fazit festhalten, dass die Bezüge der israelischen Protestbewegung zu anderen europäischen Ländern sowie zum arabischen Frühling nicht immer unmittelbar gegeben sind. Zu spezifisch sind die soziohistorischen Hintergründe sowie die damit verbundenen Probleme und Forderungen. Dies konnte am Beispiel der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aufgezeigt werden, die in Israel einen sehr voraussetzungsvollen Problembefund adressiert. Dennoch lässt sich auf der Ebene abstrakter Forderungen und Bekenntnisse – wie jenem zu mehr direkter Partizipation – durchaus eine übergreifende Äquivalenzkette rekonstruieren. Sie zeigt sich weniger in den konkreten Inhalten als vielmehr im Ausdruck einer allgemeinen Bewusstseinsver12 | Eine solche Entwicklung, so Illouz (ebd.), stehe in Israel noch aus, was schließlich auch ein Versagen der Linken markiere.

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fassung, einer kollektiven Haltung, die wesentlich aus den geteilten Momenten des Unrechtsempfindens und der Empörung hervorgeht. Wie hieß es nicht auf einem Plakat in der Zeltstadt von Tel Aviv? »Rothschild ist unser Tahrir-Platz!«.

5. U NIVERSALITÄT UND P ARTIKUL ARITÄT DER K ÄMPFE Universelle Momente I: Der Tahrir-Platz als leerer Signifikant Die Beispiele aus Tunesien, Ägypten, Spanien und Israel haben gezeigt, dass der System-Begriff nicht nur sehr offen und vage bleibt, sondern auch nur bedingt vergleichbar. Deshalb liegt hier kein leerer Signifikant vor, zu sehr weichen die Bedeutungsgehalte voneinander ab. Zwar gibt es durchaus Forderungen und Subjektpositionen, die einander äquivalent sind, von der klaffenden Arm-Reich-Schere bis zur mangelhaften Wohnsituation. Doch wo Systemkritik im einen Fall zur Etablierung der repräsentativen Demokratie führen soll, steht diese im anderen Fall gerade im Zentrum der Feindbildkonstruktion. Das System, das die Tunesier wollen, ist zum Teil jenes, das die Spanier ablehnen. Wo einander ausschließende Aneignungen des Signifikanten stattfinden, schließen sich auch dessen Verweisungsfelder. Das System ist daher weniger ein flottierender denn ein variierender Signifikant, er bezeichnet variierende Bedeutungen in variierenden Kontexten.13 Ähnliches gilt für die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit: Jene der israelischen Protestbewegung ist eine andere wie die der arabischen Revolutionen. Wo hingegen die Logik des leeren Signifikanten zum Zug kommt, ist bei den Kategorien Würde und Freiheit. Während Würde allerdings noch auf Dimensionen der materiellen Existenz- und Grundrechtssicherung zielt, die in vielen westlichen Demokratien – zumindest der Form nach – realisiert sind, so ist Freiheit noch losgelöster und unabhängiger von jeglichem Kontext. Freiheit als »universales Heilmittel« übersteigt alle konkreten Unterschiede und läuft auf eine Sinngebung jenseits von Differenzierungs- und Identifikationsprozessen hinaus. Die hegemoniale Prägung eines leeren Signifikanten ist demnach dann gelungen, wenn er in einem System in der Rolle eines universalen Heilmittels des konstitutiven Mangels dieses Systems wahrgenommen wird. (Nonhoff 2001: 203)

Gleichzeitig kann sich die Universalität, auf die der leere Signifikant verweist, nur über Partikularitäten, kann sich die abstrakte Idee nur über konkrete Diskurse, kann sich die reine Identität (Freiheit als Freiheit) nur über Differenzen 13 | Laclau (1996) spricht hier auch vom »äquivoken« Signifikanten.

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(die Freiheit der Tunesier) artikulieren. Für diesen quasi-dialektischen Entfaltungsmodus gibt es ein schönes Beispiel: die symbolische Bedeutung des Tahrir-Platzes in Kairo. Nichts verkörperte im Revolutionsjahr 2011 die universelle Idee von Freiheit so eindringlich wie die Eroberung des öffentlichen Raumes. Dabei waren es vor allem symbolische Orte der politischen Macht, die eingenommen wurden, zentrale Stadtplätze etwa oder Boulevards. In der ägyptischen Revolution war es der Tahrir-Platz, der zum Symbol der Freiheit wurde, »das die jungen Demonstranten mit ihrem Leben verteidigen. Sie wissen: Verlieren sie den Platz, dann sind sie verloren« (Nordhausen 2011: 54). Aus dieser Bedeutung hat sich im Laufe der Arabellion und der folgenden weltweiten Proteste der leere Signifikant des (»allgegenwärtigen«) Tahrir-Platzes etabliert (vgl. Hartmann 2011). Er steht für Freiheit, Solidarität, Würde, Freude, Kampf und vieles mehr, und ist daher nicht bloß ein Synonym für Freiheit, sondern verweist auf ganze Lebens- und Erfahrungswelten, vor deren Hintergrund Freiheit erst Form und Bedeutung annimmt. Der ägyptische Tahrir-Platz erhält sein spanisches Pendant im Puerta del Sol in Madrid, und auch die griechischen Empörten haben ihren Freiheitsplatz und besetzten den zentralen Platia Syntagma in Athen. Die universelle Idee der Freiheit wanderte folglich von einer Stätte zur nächsten, von einer Stadt zur anderen, wanderte quer durch Länder, Regionen und Systeme.

Universelle Momente II: Postheroische Kampfformen Eine weitere Dimension, in der sich Universalität und Partikularität verknüpfen, zeigt sich im sogenannten Postheroismus vieler Bewegungen. Hier liegt zwar keine Allianz im Namen eines leeren Signifikanten vor, sehr wohl aber eine Reihe von äquivalenten Codes und Praktiken, die übergreifende Bewegungsidentitäten etablieren. Das Abrücken von Heldengestalten ist zudem ein verbindendes Moment zwischen den Protesten 2011 und sozialen Bewegungen wie Euromayday. Dabei sind zwei Charakteristika hervorzuheben: Zum einen ist es der Verzicht auf eine Gewalt- und Opferlogik (vgl. Seesslen 2011). Die Bewegungen in Israel, Spanien und Ägypten zeichnen sich durch explizite Gewaltlosigkeit aus. Der Einsatz von Regierungsgewalt konnte diese Haltung allenfalls bestärken statt einschüchtern. Das Schicksal eines ägyptischen Bloggers steht exemplarisch für diese Entwicklung (vgl. dazu Nordhausen 2011: 54-55): Anfang Februar 2011, die ägyptische Revolution ist voll im Gange, wird der Blogger Wael Ghonim von der Staatsicherheit entlassen und daraufhin in einem Fernsehinterview gefragt, »ob er sich nicht schuldig fühle am Tod so vieler junger Menschen, weil er sie über Facebook aufgehetzt habe.« Ghonim bricht in Tränen aus und sagt: »Nicht wir sind schuld am Tod der Märtyrer, sondern die, die sie ermordet haben.« Gleichzeitig will er aber nicht zum Helden erhoben werden: »Ich bin kein Held, ich habe nur meine Tastatur benutzt.« Tasten statt Waffen,

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oder vielmehr: Tasten als Waffen – darin liegt das universalistische Moment einer postheroischen Kampfform, die sich in partikularen Protesten artikuliert und gleichzeitig über deren konkreten ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexte hinausweist. Neben der Entsagung einer Gewalt- und Opferlogik äußert sich im Postheroismus auch ein universelles Symptom für die Krise der Repräsentation, die sich als Kritik an traditionellen Formen politischer Repräsentation artikuliert. In Israel, Spanien und Griechenland wenden sich die Proteste gegen die vorherrschende repräsentative Parteipolitik und fordern einen Wandel jenseits der institutionalisierten Politik. Hier wie da durchziehen innere Konfliktlinien die einzelnen Staaten, die lange Zeit das Vertrauen sowohl in die eigene Gesellschaft als auch in die politische Klasse, welche sich zunehmend von der Bevölkerung entkoppelte, geschwächt haben. Bedenkt man, dass die Demonstrationen in Griechenland und Israel die größten seit Jahrzehnten waren, zeigt dies umso mehr die Dimension der Repräsentationskrise. Umso mehr betonen die Bewegungen die Möglichkeiten der direkten Demokratie: Die Straße wird zum unmittelbaren Raum des Politischen, zugleich zum Forum der Politik. Zeltstädte werden errichtet, Kommissionen und Arbeitsgruppen eingeführt, allabendliche Vollversammlungen des Volkes abgehalten, es gibt Medikamentenlager, Informationszentren und Theorieproduktion »von unten« wie etwa durch das book of ideas am Athener Syntagma. Man schreibt Forderungslisten, vernetzt sich im realen wie im virtuellen Raum, auf Stadtplätzen ebenso wie auf Facebook. In der Regel gibt es keinen »Kopf« der Bewegung, keine Wortführer oder Entscheidungsfiguren, keine Hierarchien. Die Mehrheit der Aktivisten bleibt bewusst namenlos, sollte doch keiner zum Helden werden. Die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen bleiben horizontal und dezentral, meist lehnt man auch jede institutionelle Einbindung des Protests ab, ob bei den Linken, den Gewerkschaften oder Anarchisten. Die Straße und der Platz werden also – bekanntlich nicht zum ersten Mal in der Geschichte politischer Kämpfe – zum Symbol für »neue« Kommunikationsmethoden, Organisationsstrukturen und Vergemeinschaftungsmodelle. Nicht selten drängt sich dabei der Eindruck auf, eine neue Gesellschaft sei im Entstehen, zumindest wird die Utopie einer Gesellschaft von unten vorübergehend greifbar: die Konstitution des Sozialen, durch die sich, deleuzianisch gesprochen, reines Begehren artikuliert.

Universelle Momente III: Vernetzung und Anti-Elitarismus Der Postheroismus verweist auf ein anderes universelles Moment der partikularen Kämpfe, das in der Ablehnung von Elitarismus und Zentralismus liegt und stattdessen offene Vernetzungsformen und kommunitäre Strukturen betont. Nicht selten unterliegen die Facebook-Revolutionen, wie die arabischen Re-

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volutionen häufig genannt werden, dem Verdacht, Ausdruck einer gebildeten Elite zu sein. Beispielsweise wurde die Revolution in Libyen vor allem von Bildungsschichten wie Anwälten, Ärzten, Beamten oder Geschäftsleuten getragen (Reuter 2011). In Tunesien wiederum ging die Jasmin-Revolution von arbeitslosen, oft gut ausgebildeten Jugendlichen aus und erreichte schnell die arbeitende Mittelschicht und Freiberufler. Ähnliches in Europa: Die spanische Protestbewegung DRY entstand als Vernetzung von etwa 200 kleineren Gruppierungen, hervorgegangen durch soziale Netzwerke im Internet, über die das Bündnis zugleich seine Mobilisierungskraft bezog. Auch hier sprechen viele von der ersten Facebook-Protestbewegung der Geschichte. Bei genauer Betrachtung zeigt sich indes, dass die Akteure, insbesondere die Initiatoren der Arabellion, zwar modern agieren und kommunizieren, dabei aber nicht notwendig einen intellektuellen Habitus entwickeln. Moderne Kommunikations- und Vernetzungspraktiken machen noch keine Elite, wie sich am Beispiel Tunesiens zeigt: Sie [die Protestierenden] agieren nicht als autonome Individuen oder als Lifestyle-Szenen wie die linken Gruppierungen in den westlichen Industriestaaten, sondern sind auf widersprüchliche aber enge Art mit Familie, Nachbarschaft und Stadtteil verbunden. Sie sind von den Armutsstrukturen geprägt und wirken auf diese zurück. Am ehesten könnte man von »organischen Intellektuellen« sprechen, die Antonio Gramsci vor 80 Jahren im italienischen Mezzogiorno ausmachte und charakterisierte. Im Unterschied zu damals sind die heutigen AktivistInnen mobil und sehen sich in einem tendenziell transnationalen Verbund, der durch keine Partei, keinen Verein und keinen einheitlichen ideologischen Diskurs strukturiert ist. (Dietrich 2011: 13)

Dieser Befund zeigt, dass es nicht allein der fehlende Habitus ist, weshalb die Protestbewegungen nicht auf ein Milieu einer gebildeten Avantgarde im Sinne eines urbanen, gebildeten Proletariats reduziert werden können. Ein weiterer Grund liegt in der Bedeutung der kommunitären Strukturen. Fast immer verläuft die Organisierung des Protests synchron über die Ebenen des Globalen und des Lokalen, die weltweite virtuelle Vernetzung geht einher mit dem Aufbau und der Förderung von kommunitären Strukturen vor Ort. So wurden die Proteste in Spanien zwar maßgeblich von sozialen Netzwerken im Internet vorangetrieben, gleichzeitig materialisierten sie sich ab Ende Mai 2011 auch zunehmend in Strukturen außerhalb des Netzes, etwa in dezentralen Stadtteilversammlungen). Während die M15-M in spanischen Städten und Gemeinden lokale Netzwerke aufbaute, verfolgte DRY die globale Mobilisierung durch universelle Demokratieforderungen. Es mochte lange Zeit kein einheitliches Manifest geben, sehr wohl aber viele »kleine« Manifeste in den einzelnen Städten. Wenngleich also die Bewegungen nicht ohne Internet zu denken sind, so können sie nicht darauf reduziert werden. Mehr noch, dem spanischen Soziologen

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César Rendueles zufolge entstand die spanische Bewegung gerade nicht in virtuellen, sondern in kommunitären Strukturen (Rendueles 2011). Der ständige Verweis auf soziale Netzwerke schwäche gar die politischen Inhalte, so Rendueles. Eine ähnliche Deutung sei auf die arabischen Revolutionen anzuwenden, wo nur relativ wenige Menschen Zugang zum Internet haben. Die Argumentation, wonach erst die westlichen Technologien den rückständigen islamischen Gesellschaften zur Demokratie verholfen hätten, enthält daher nicht nur hegemoniale Konnotationen, sondern übersieht auch, dass ohne kommunitäre Strukturen die virtuelle Vernetzung nicht möglich gewesen wäre. Dieser Punkt wird allzu deutlich am Beispiel Ägyptens, wo das Regime Mubarak in den ersten Tagen der Revolution soweit ging, das Internet einfach abzuschalten – ein einmaliges Unterfangen, das seinesgleichen sucht. Umgekehrt zeigte sich spätestens hier, dass die Protestbewegung nicht auf soziale Netzwerke im Internet reduzierbar war. Mindestens ebenso bedeutend waren, in medialer Hinsicht, die arabischen Satellitenfernsehsender al-Dschasira und al-Arabiya, die bereits in den Vorjahren »eine bislang ungekannte panarabische Öffentlichkeit hervorgebracht« hatten (Nordhausen 2011: 41) und im arabischen Raum eine größere Reichweite und Verbreitung haben als das Internet. Abgesehen davon jedoch unterstreicht dieser Vorfall die zentrale Bedeutung der kommunitären Strukturen im Rahmen der ägyptischen Revolution. Insbesondere drei soziale Gruppen sind dabei zu nennen, die entscheidend waren für die Mobilisierung: Bündnisse am Arbeitsplatz, Nichtregierungsorganisationen und Nachbarschaftsgruppen (Ghobashy 2011). Diese Gruppen haben die gleichen Erfahrungen gemacht: Sie haben einen brutalen Polizei- und Obrigkeitsstaat kennengelernt, sie litten unter den sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel und rasant steigenden Lebenshaltungskosten und sie mussten dem Aufstieg einer rücksichtslosen Wirtschaftselite um den jungen Gamal Mubarak zusehen. (Hegasy 2011: 41)

Für den Erfolg der Proteste war im Falle Ägypten schließlich die besondere Allianz der Revolutionäre mit dem Militär entscheidend, aber auch, dass sie »an bereits formierte soziale Bewegungen und frühere Protestbewegungen anknüpfen« (Asseburg 2011: 6) konnten. Zudem zeugte die »Unterstützung durch breitflächige Streiks seitens der unabhängigen Gewerkschaften in den Industriestädten der Peripherie sowie der Suezkanalarbeiter« (ebd.) von einer starken zivilgesellschaftlichen Basis. Diese Beispiele zeigen: Die Rede von Facebook-Bewegungen ist nicht ohne Relevanz, vor allem wenn es darum geht zu fragen, welche kollektiven Identitäten aus den neuen Artikulations-, Kommunikations- und Vernetzungsformen

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entstehen.14 Gleichzeitig sollte sie aber nicht dazu verleiten, die Seite der Initiierung, Mobilisierung und Kommunikation ohne die andere Seite der kommunitären Strukturen und zivilgesellschaftlichen Organisation zu betrachten. Gerade die dezentralen Organisationsstrukturen der Protestbewegungen in Ägypten und Tunesien erschwerten es den Regimen, die Akteure zu lokalisieren und gegen sie vorzugehen. Dieselben Strukturen allerdings, auch dies soll gesagt sein, erschweren es nun, diese ereignisbezogenen Allianzen in die Prozesse formaler Politik zu übersetzen und zu verankern.

6. C ONCLUSIO Ziel dieses Beitrages war es, einzelne Momente und Schauplätze des Protestjahres 2011 diskursanalytisch zu ergründen, um deren Parallelen, Differenzen und Anknüpfungspunkte auszuloten. Zwar sind, wie schon eingangs erwähnt, die arabischen Revolutionen und viele der europäischen Protestbewegungen noch zu jung, um nach ihren Bedeutungen und Effekten beurteilt zu werden, dennoch lassen sich inhaltliche und strukturelle Merkmale beobachten, die im Sinne einer Allianzbildung auf prekäre Verknüpfungen schließen lassen. Diese zeigten sich zuallererst an der Kritik der neoliberalen Austeritätspolitik sowie am Befund einer globalen Prekarisierungsgesellschaft. Im Kontext einer weltweiten Wirtschaftskrise haben die Gründe, derentwegen Menschen im Maghreb revoltieren, auch immer etwas mit jenen zu tun, die europäische Empörte auf die Straße treiben. Zusammengenommen erreichen ihre Forderungen einen offenen Fluchtpunkt, der einer allgemeinen Systemkritik gleichkommt. Der Aufruf zu einer transnationalen Vernetzungskonferenz in Tunis kann dies abschließend nochmals veranschaulichen. Allein die darin zur Disposition gestellten Themen enthalten eine Fülle von fundamentalen Fragen und Forderungen, die den Systembegriff äußerst breit fassen: Migration und die Bewegungsfreiheit von Menschen und Wissen, Prekarisierung, Schulden und Sozialversorgung, freie und zugängliche Bildung für alle, Schaffung autonomer Medien und Netzwerke, Wiederaneignung städtischer Räume, Mechanismen und Formen sozialer Mobilisierung und das Experimentieren mit neuen Formen der Organisierung und der kollektiven Intelligenz. (Aufruf Tunis)

Gleichzeitig hat unsere Analyse gezeigt, dass trotz ähnlicher Dynamiken zwischen den einzelnen Protestbewegungen sehr wohl Differenzen in der Aneig14 | Genereller könnte man fragen, welcher Natur kollektive Identitäten (»FacebookRevolutionäre«) sind, wenn sie sich ausschließlich aus Kommunikation im Unterschied zu Sprache, Religion oder Herkunft generieren.

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nung des Systembegriffes bestehen. Zum einen war die politische Ausrichtung der arabischen Revolutionen eine andere als in den westlichen Bewegungen: Dort kämpfte man für freie Wahlen, hier – etwa bei den spanischen Regionalund Kommunalwahlen im Mai 2011 – boykottierte man sie. In Ägypten wurde Demokratie gefordert, in Israel dagegen deren Qualität vermisst. In den arabischen Protesten artikulierte sich eine Krise der Staatsapparate, in den europäischen dagegen eine Krise der Demokratie, dort eine Krise des autoritären Sozialvertrags, hier eine Krise der Repräsentation. Dort waren es elementare Ansprüche nach Würde und Freiheit, hier nach System- und Verteilungsgerechtigkeit. Unter diesen Prämissen wurden sowohl hier als auch dort Agenden wie neoliberale Wirtschaft, politische Korruption, staatliche Bürokratie, sozialer Zusammenhalt und Vertrauen zu zentralen Protestthemen. Damit verbunden ist ein angestrebter Kurswechsel vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die zur hohen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung geführt hat. Indes muss die ökonomische Ausrichtung der Systemkritik noch keine Fundamentalopposition sein, wie sich an den westlichen Bewegungen zeigte. Der Kapitalismus ist hier nicht per se ein Feindbild, vielmehr sind es konkrete ökonomische Ungleichheiten, die angeprangert werden. Deshalb bleibt die Haltung vieler Demonstranten zum System ambivalent: sie fordern kein neues, sondern ein anderes System, keinen kompletten Umbau der Gesellschaft, sondern bessere Lebensbedingungen. Trotz dieser Differenzierungen gibt es eine Reihe universalistischer Momente, in denen die Protestbewegungen über ihre unmittelbare sozioökonomische Einbettung hinausweisen und übergreifende Bedeutungshorizonte etablieren. Der allgegenwärtige Tahrir-Platz als Symbol der Freiheit ist ein solches Zeichen, das sich wie ein Lauffeuer von Stadt zu Stadt fortschreibt. Der Postheroismus als neue Vision einer enthierarchisierten Gesellschaftskonstitution ein anderes. Schließlich auch die virtuelle Vernetzung, die für die Utopie einer egalitären, klassen- und schrankenlosen Öffentlichkeit steht. Bezeichnend für diese universellen Momente sind neue Organisations- und Kommunikationsformen, ein postidentitäres Akteursverständnis sowie ein veränderter Begriff der politischen Praxis. Was hingegen nicht zutrifft, ist eine vermeintlich apolitische oder postpolitische Natur der Bewegungen. Sowohl die arabischen als auch die westlichen Proteste mochten sich als unideologisch oder überparteilich ausgeben, sie waren aber nicht unpolitisch. Nichts anderes stand nämlich auf dem Spiel als gerade »die Rückeroberung des Politischen als Raum der kollektiven friedlichen Aushandlung um die wünschenswerte gesellschaftliche Ordnung« (Harders 2011: 10). Dabei geht es nicht bloß um die Rückeroberung eines politischen Raums, vielmehr um dessen (Re-)Konstitution, die sich als ergebnisoffener Prozess gestaltet. Hier lässt sich auch an die Occupy-Bewegung anknüpfen, die bekanntlich nicht ohne die vorangegangenen Erhebungen des Protestjahres 2011 zu verstehen ist. Ungeachtet der spezifischen Hintergründe

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des US-Kontextes15 war es auch hier ein allgemeiner Ausdruck der Empörung sowie der Kampf um die Wiedererlangung einer politischen Stimme, die im Zentrum der Proteste standen. Hardt/Negri (2011) sehen in der Occupy-Bewegung nicht nur den Kampf gegen ökonomische Ungleichheit und für soziale Gerechtigkeit, sondern vor allem – auch das nicht neu im Protestjahr 2011 – ein Krisensymptom der politischen Repräsentation. In der Hoffnung auf einen demokratischen Konstitutionsprozess wäre es gleichsam kontraproduktiv, Occupy oder den europäischen Bewegungen programmatische Leerstellen vorzuwerfen. Vielmehr lebten diese Menschen ein neues Demokratieverständnis vor, das sich aus der Multitude entfaltet (vgl. auch Vogel 2011). Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Kritik vieler Protestbewegungen vorwiegend negativ ausgerichtet ist, dennoch liegt allein schon ihrer physischen Präsenz, ihrer Verkörperung von sozialer Differenz, ein Begriff des Politischen zugrunde, der positiv ist. Das bringt uns schließlich zur Frage der konstatierten »Verflüchtigung« einzelner sozialer Bewegungen, etwa der Prekarisierungsbewegung. Die dargestellten prekären Verknüpfungen können beschreibend erklären, warum diese Verflüchtigung in vielen Fällen als Verlagerung zu deuten ist: eine Verlagerung hin zu neuen Allianzen auf transnationaler Ebene, deren rhizomatische Vernetzungsmodi sich mit Rekurs auf Georg Simmel auch als »Koalitionen der Koalitionen« (Simmel 1992: 495) bezeichnen lassen; hin zu Forderungsstrukturen, die analog zu den Problemkonstruktionen ein weitreichendes, fast schon global zu nennendes Themenspektrum aufweisen; hin zu Protestformen, die sowohl virtuelle als auch physische Räume auf neue Art und Weise de- und reterritorialisieren; hin zu Bewegungsidentitäten, die postheroisch, postidentitär und antielitär auftreten. All das bedeutet mitnichten, dass das Thema der Prekarisierung abhandengekommen wäre, vielmehr hat sich die Form verändert, durch die es artikuliert, mobilisiert und repräsentiert wird. Die prekären Verhältnisse sind sowohl in den arabischen wie in den europäischen Protesten allgegenwärtig, bloß treten sie unter unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen auf: einmal eher im Rahmen der elementaren Ansprüche nach Würde und Freiheit, ein andermal verstärkt unter den Prämissen von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie; einmal als Symptom globaler Ungleichheit und Ungerechtigkeit, ein andermal als Auslöser von Wut und Empörung.

15 | In den USA waren es weniger Forderungen nach basisdemokratischen Rechten als vielmehr die Auswirkungen des Finanzkapitalismus, welche die Occupy-Proteste im September 2011 verursachten. Bereits zuvor kämpften öffentliche Bedienstete in mehreren Staaten, etwa in Wisconsin, für ihre Rechte bei Tarifverhandlungen. Im Internet machte das Foto eines ägyptischen Demonstranten die Runde, der ein Plakat hochhält mit der Aufschrift: »Ägypten unterstützt die Arbeiter in Wisconsin: Eine Welt, ein Leid«.

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Demokratische Politik im Zeitalter des Postfordismus Chantal Mouffe

In den vergangenen Jahren sind wir Zeugen einer unglaublichen Beschleunigung der Kommodifizierung im kulturellen Feld geworden. Mit der Entwicklung der Kulturindustrien scheinen sich die schlimmsten Albträume Horkheimers und Adornos verwirklicht zu haben. Tatsächlich behaupten manche Theoretiker, aufgrund unserer Abhängigkeit von Unterhaltungsunternehmen wären wir vollkommen der Kontrolle durch das Kapitel unterworfen und könnten uns die Möglichkeit von Widerstand noch nicht einmal vorstellen. Die Ästhetik, sagen sie, wäre so vollständig der Entwicklung einer hedonistischen Kultur vorgespannt worden, dass selbst in der Kunst für subversive Erfahrung kein Raum bliebe. Träfe dies zu, dann müssten wir schlussfolgern, dass es keine Alternative zur heutigen post-politischen Welt gäbe. Die gegenwärtige hegemoniale Form neoliberaler Globalisierung wäre unser einziger Horizont, und wir müssten die Hoffnung aufgeben, jene agonale Demokratie zu stärken, für die ich in meinem Werk eingetreten bin. Natürlich würden manche diese Aussicht freudig begrüßen, da sie in der gegenwärtigen Situation einen Grund zum Feiern sehen. In ihren Augen weist der post-politische Konsens darauf hin, dass die Demokratie mit dem Verschwinden des Gegnerschaftsmodells von Politik reifer geworden ist und Antagonismen überwunden sind. Ich stimme mit dieser Sicht nicht überein und behaupte, dass eine gut funktionierende Demokratie die Konfrontation demokratischer politischer Positionen erfordert. Können Leidenschaften nicht länger durch traditionelle politische Parteien mobilisiert werden, weil diese einen »Konsens der Mitte« bevorzugen, dann werden diese Leidenschaften eher andere Entäußerungsmöglichkeiten finden, z.B. in Form verschiedener fundamentalistischer Bewegungen und entlang partikularistischer Forderungen oder nicht-verhandelbarer moralischer Themen. Ermangelt es einer Gesellschaft eines dynamischen demokratischen Lebens mit einer wirklichen Konfrontation zwischen unterschiedlichen wirklichen Alternativen, dann ist das Terrain bereitet für andere Identifikations-

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formen ethnischer, religiöser oder nationalistischer Natur, und dies führt zur Entstehung von Antagonismen, die in den demokratischen Prozess nicht integriert werden können. In meinen jüngeren Arbeiten habe ich beispielsweise zu zeigen versucht, wie der post-politische Konsens, der die fortschrittlichsten liberal-demokratischen Gesellschaften charakterisiert, die Quelle des wachsenden Erfolges rechtspopulistischer Parteien darstellt. Sie sind oftmals die einzigen, die das »Es gibt keine Alternative«-Dogma, das von den traditionellen Parteien verkündet wird, herausfordern und Leidenschaften gegen das zu mobilisieren versuchen, was sie als das ignorante »Establishment« bezeichnen, das sich aus elitären Bürokraten zusammensetzt, die der Stimme des Volkes kein Gehör schenken und dessen realen Wünsche ignorieren. Solch eine Entwicklung stellt für die Demokratie ganz klar eine Bedrohung dar, und ein zentrales Anliegen meiner Überlegungen war, die Gefahren der Post-Politik und die Dringlichkeit der Revitalisierung von Demokratie durch eine Vervielfachung agonistischer Öffentlichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Um sich vorzustellen, wie eine agonistische Demokratie befördert werden kann, müssen wir die Herausforderung verstehen, vor der demokratische Politik steht. Und dies erfordert ein angemessenes Verständnis des Terrains, auf dem wir agieren müssen. Wir müssen beispielsweise die Natur des Übergangs verstehen, in der sich die fortgeschrittenen Industriegesellschaften seit der letzten Dekade des 20. Jahrhundert befinden. Eine große Zahl von Theoretikern mit unterschiedlichsten theoretischen Perspektiven stimmen darin überein, dass die fortgeschrittenen Industriegesellschaften im Ausgang des letzten Jahrhunderts einen Übergang vollzogen haben, sei es von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, vom Fordismus zum Postfordismus oder von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft. Ich habe mich entschieden, mich auf den Ansatz, der von einem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus ausgeht, zu konzentrieren, da er der einflussreichste ist. Dennoch möchte ich anmerken, dass diese Zugänge nicht notwendigerweise inkompatibel sind und sogar miteinander kombiniert werden können. Jeder kommt aus einer spezifischen intellektuellen Tradition und betont einen bestimmten Aspekt dieses Übergangs.

V OM F ORDISMUS ZUM P OSTFORDISMUS Um zu verstehen, was mit der Passage vom Fordismus zum Postfordismus auf dem Spiel steht, ist es nützlich, die Unterschiede zwischen den Zugängen, die von der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers beeinflusst sind, und jenen, die von der italienischen autonomistischen Tradition beeinflusst sind, zu untersuchen. Ihre größte Meinungsverschiedenheit betrifft die Rolle, die die Kulturindustrie im Transformationsprozess des Kapitalismus spielt. Es ist

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bekannt, dass Adorno und Horkheimer die Entwicklung der Kulturindustrie mit dem Moment in Zusammenhang bringen, in dem es der fordistischen Produktionsweise letztlich gelingt, in das kulturelle Feld vorzudringen. Sie verstehen diese Evolution als eine weitere Stufe im Prozess der Kommodifizierung und Unterwerfung der Gesellschaft unter die Erfordernisse kapitalistischer Produktion. Für Paolo Virno (2005) und einige andere postoperaistische Theoretiker spielte umgekehrt die Kulturindustrie deswegen eine bedeutende Rolle im Transformationsprozess vom Fordismus zum Postfordismus, weil dort neue Praktiken der Produktion entstanden, die zur Überwindung des Fordismus führten. Das Informelle, Unerwartete und Ungeplante – für Adorno und Horkheimer einflusslose Überreste der Vergangenheit – ist für Virno ein antizipatorisches Omen. Mit der Entwicklung immaterieller Arbeit wurde es immer bedeutsamer und öffnete Wege für neue Formen sozialer Relationen. Im fortgeschrittenen Kapitalismus, sagt Virno, wurde der Arbeitsprozess performativ und mobilisiert die universellsten Fähigkeiten der Gattung: Wahrnehmung, Sprache, Erinnerung und Gefühle. Die gegenwärtige Produktion ist virtuos, und produktive Arbeit in ihrer Gesamtheit eignet sich die speziellen Merkmale performativer Künstler an. Ihm zufolge ist die Kulturindustrie in der Tat die Matrix des Postfordismus. Obwohl Paolo Virno eine potentielle Öffnung für neue Lebensformen erkennen kann, ist er nicht so optimistisch, was die Zukunft betrifft. Er sieht das Wachsen der Multitude als ein ambivalentes Phänomen, und er anerkennt auch die neuen Formen der Unterwerfung und Prekarisierung, die typisch für das postfordistische Stadium sind. Es trifft zu, dass die Leute nicht so passiv sind wie früher, aber nur deshalb, weil sie nun zu aktiven Betreibern ihrer eigenen Prekarisierung geworden sind. Statt also wie Hardt und Negri in der Generalisierung immaterieller Arbeit eine Art spontanen Kommunismus zu sehen, tendiert Virno dazu, den Postfordismus als Manifestation des »Kommunismus des Kapitals« zu verstehen. Trotz dieser Differenzen gibt es etwas, das all diese Denker gemeinsam haben: Es ist ihre Überzeugung, dass es notwendig ist, die Idee einer radikalen Politik, die auf die Übernahme der Macht mit dem Ziel der Kontrolle staatlicher Institutionen zielt, aufzugeben. Sie behaupten, man solle die existierenden Machtstrukturen ignorieren, um sich der Konstruktion alternativer sozialer Formen außerhalb des Netzwerks der Staatsmacht wie auch außerhalb der existierenden Institutionen zu verschreiben. Virno behauptet, dass jede Möglichkeit von Emanzipation aus der Zurückweisung der Arbeit und aus verschiedenen Formen von Exodus und Ungehorsam hervorgeht. Jedes majoritäre Gesellschaftsmodell, das um einen Staat herum organsiert wäre, müsse zurückgewiesen und durch das andere Organisationsmodell der Multitude ersetzt werden, das als universeller betrachtet wird. Es besitzt die Form einer Einheit, die von gemeinsamen Orten des Bewusstseins, von linguistischen Gewohnheiten und vom General Intellect hervorgebracht wird.

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E IN HEGEMONIE THEORE TISCHER Z UGANG Obwohl ich ebenfalls die Notwendigkeit sehe, die fundamentalen Transformationen der kapitalistischen Regulationsweise, wie sie der Übergang zum Postfordismus darstellt, anzuerkennen, denke ich, dass wir diesen Übergang aus Sicht der Hegemonietheorie betrachten sollten. Es ist wichtig, und dem stimme ich zu, die Transformationen, denen unsere Gesellschaften ausgesetzt sind, nicht als bloße Konsequenz technologischer Fortschritte zu verstehen. Man muss stattdessen ihre politische Dimension sichtbar machen. Wie André Gorz und andere festgestellt haben, sollte man sie als eine Bewegung des Kapitals verstehen, mit dem es eine fundamental politische Antwort auf die Krise der Regierungsfähigkeit der 1970er Jahre gegeben hat. Viele Faktoren haben zu dieser Transition beigetragen, und es ist wichtig, die Komplexität ihrer Dynamik zu verstehen. Mein Problem mit operaistischen und postoperaistischen Ansätzen ist, dass sie, indem sie die Arbeiterkämpfe betonen, diese Transition so verstehen, als wäre sie von einer einzigen Logik angetrieben: Die Widerstände der Arbeiter gegen den Prozess der Ausbeutung zwingen die Kapitalisten, den Produktionsprozess zu reorganisieren und zur postfordistischen Ära immaterieller Arbeit überzugehen. Der Kapitalismus kann dieser Ansicht zufolge nur reaktiv sein, und im Unterschied zu Deleuze und Guattari weigert man sich, die kreative Rolle, die sowohl vom Kapital als auch von der Arbeiterklasse gespielt wird, anzuerkennen. Was verneint wird, ist tatsächlich die Rolle des hegemonialen Kampfes in diesem Übergang. Um zu verdeutlichen, was ich unter einem hegemonialen Kampf verstehe, möchte ich einige Eckpunkte meines theoretischen Ansatzes einführen. Diesem Ansatz zufolge, den ich gemeinsam mit Ernesto Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie entwickelt habe, sind zwei Schlüsselbegriffe erforderlich, um die Natur des Politischen zu verstehen: »Antagonismus« und »Hegemonie«. Einerseits ist es notwendig, die Dimension des Politischen zu akzeptieren als immer präsente Möglichkeit des Antagonismus; und dies erfordert andererseits, dass man mit der Ermangelung eines letzten Grundes und der Unentscheidbarkeit, die jede Ordnung durchdringt, zu Rande kommen muss. Das bedeutet, dass man die hegemoniale Natur jeder Art von sozialer Ordnung anerkennen und Gesellschaft als Produkt einer Reihe von Praktiken verstehen muss, deren Ziel es ist, Ordnung in einem Kontext der Kontingenz hervorzubringen. Die Praktiken der Artikulation, durch die eine gegebene Ordnung erzeugt und die Bedeutung sozialer Institutionen fixiert wird, nennen wir »hegemoniale Praktiken«. Jede Ordnung ist die temporäre und prekäre Artikulation kontingenter Praktiken. Die Dinge könnten auch immer anders gewesen sein, und jede Ordnung basiert auf dem Ausschluss anderer Möglichkeiten. Sie ist immer Ausdruck einer bestimmten Struktur von Machtverhältnissen. Was in einem bestimmten Moment als »natürliche Ordnung« akzeptiert wird, mit

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dem Alltagsverstand, der damit einhergeht, ist das Ergebnis sedimentierter hegemonialer Praktiken; es ist niemals die Manifestation einer tieferen Objektivität außerhalb der Praktiken, die diese hervorbringen würde. Jede hegemoniale Ordnung kann jederzeit von gegen-hegemonialen Praktiken herausgefordert werden, die sie zu disartikulieren versuchen, um eine anderer Form von Hegemonie zu installieren. Ich möchte vorschlagen, dass wir, wollen wir die hegemoniale Dimension im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus berücksichtigen, interessante Einsichten in Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Interpretation dieses Übergangs finden können. In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski/ Chiapello 2003) werfen sie Licht auf die Funktion, die die von ihnen so genannte »Künstlerkritik« für die Transformation spielt, die der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfahren hat. Sie zeigen, wie die Forderungen nach Autonomie der neuen Bewegungen der 1960er Jahre in die Entwicklung der postfordistischen Netzwerkökonomie gezwungen wurden und sich zu neuen Formen der Kontrolle transformiert haben. Die ästhetischen Strategien der Gegenkultur, die Suche nach Authentizität, das Ideal des Selbstmanagement, die anti-hierarchische Herausforderung, all das wird nun verwendet, um die Bedingungen zu befördern, die die gegenwärtige kapitalistische Regulationsweise erfordert. Dabei ersetzen sie den disziplinargesellschaftlichen Rahmen, der die fordistische Periode auszeichnete. Heutzutage spielen künstlerische und kulturelle Produktion eine zentrale Rolle im Prozess der Inwertsetzung des Kapitals, und durch »Neo-Management« wurde künstlerische Kritik zu einem wichtigen Element kapitalistischer Produktivität. Aus meiner Perspektive ist an diesem Zugang interessant, dass er enthüllt, dass eine zentrale Dimension des Übergangs ein Prozess der diskursiven Reartikulation bereits existierender Elemente war. Das erlaubt es, ihn in Begriffen eines hegemonialen Kampfes zu verstehen. Natürlich benutzen Boltanski und Chiapello dieses Vokabular nicht, aber sie liefern ein klares Beispiel für das, was Gramsci »Hegemonie durch Neutralisierung« oder »passive Revolution« genannt hat, um Situationen zu bezeichnen, in denen Forderungen, die eine etablierte hegemoniale Ordnung herausfordern, dem existierenden System wieder eingemeindet werden, indem sie auf eine Weise erfüllt werden, die ihr subversives Potential neutralisiert. Den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus in solcher Weise vorzustellen, hilft uns, ihn als eine hegemoniale Bewegung des Kapitals zu verstehen, die dessen führende Rolle wiederherstellen und seine Legitimität erneut unterstreichen soll. Wenn wir zu der Analyse, die in Der neue Geist des Kapitalismus geboten wird, die unbestreitbare Rolle, die Arbeiterwiderstände in dieser Tradition spielten, hinzufügen, dann können wir zu einem komplexeren Verständnis der Kräfte kommen, die im Entstehen der gegenwärtigen neoliberalen Hegemonie am Werk waren. Diese Hegemonie ist das Ergebnis einer Reihe politischer Interventionen

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in ein komplexes Feld ökonomischer, rechtlicher und ideologischer Kräfte. Es handelt sich um eine diskursive Konstruktion, die auf eine sehr spezifische Weise eine Vielzahl von Praktiken, Diskursen und Sprachspielen sehr unterschiedlicher Natur miteinander artikuliert. Durch einen Sedimentierungsprozess wurde der politische Ursprung dieser kontingenten Praktiken ausgelöscht, und sie wurden naturalisiert. Neoliberale Praktiken und Institutionen erwecken den Anschein, sie wären das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, und die Identifikationsformen, die sie hervorgebracht haben, kristallisieren sich in Identitäten, die man für selbstverständlich nimmt. Auf diese Weise wurde der »Alltagsverstand«, der den Rahmen dessen abgibt, was als möglich und wünschbar verstanden wird, etabliert. Um den Neoliberalismus herauszufordern, ist es daher unabdingbar, diesen Rahmen zu transformieren, und das erfordert die Produktion neuer Subjektivitäten, die in der Lage sind, die existierende Hegemonie zu unterlaufen. Der heutige Kapitalismus vertraut zunehmend auf semiotische Techniken, um die Subjektivierungsweisen zu erschaffen, die zu seiner Reproduktion notwendig sind. In der modernen Produktion spielt die Kontrolle der Seelen (Foucault) eine strategische Rolle in der Regierung von Affekten und Leidenschaften. Die Formen der Ausbeutung, die charakteristisch für jene Zeiten waren, in denen manuelle Arbeit noch dominant war, wurden durch neue ersetzt, die die konstante Erfindung neuer Bedürfnisse und ein unaufhörliches Begehren nach dem Erwerb von Waren erfordern. Von daher die zentrale Rolle der Werbung in unseren Konsumgesellschaften. Tatsächlich ist es die Konstruktion der eigentlichen Identität des Konsumenten, um die sich Werbetechniken drehen. Diese Techniken sind nicht darauf begrenzt, spezifische Produkte zu bewerben, sondern sie zielen auf die Produktion von Phantasiewelten, mit denen sich die Konsumenten von Waren identifizieren sollen. Tatsächlich begibt man sich, wenn man heute etwas kauft, in eine eigene Welt – man wird Teil einer imaginären Gemeinschaft. Um seine Hegemonie aufrecht zu erhalten, muss das neoliberale System die Begehren der Leute permanent mobilisieren und ihre Identitäten formen. Aus diesem Grund besetzt das kulturelle Terrain heute einen solch strategischen Platz. Natürlich hat der Bereich der Kultur immer schon eine wichtige Rolle in hegemonialen Politiken gespielt, aber in Zeiten postfordistischer Produktion wurde diese Rolle absolut zentral. Eine gegen-hegemoniale Politik sollte sich daher mit diesem Terrain beschäftigen, um andere Identifikationsformen zu stärken.

G EGEN - HEGEMONIALER K AMPF UND AGONISTISCHE P R AK TIKEN Nachdem ich die wesentlichen Linien des hegemonietheoretischen Zugangs zur Passage vom Fordismus zum Postfordismus nachgezeichnet habe, möchte ich einige Überlegungen anschließen, die die Konstruktion gegenhegemonialer

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Praktiken betreffen. Wird die soziale Wirklichkeit in Begriffen hegemonialer Praktiken erfasst, dann ist klar, dass der Prozess sozialer Kritik, der für radikale Politik charakteristisch ist, nicht länger darin bestehen kann – wie er es für die postoperaistischen Theoretiker, die ich zuvor angesprochen habe, tut –, dass man sich von den existierenden Institutionen zurückzieht. Es wird im Gegenteil darum gehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um die existierenden Diskurse und Praktiken zu disartikulieren, durch welche die gegenwärtige Hegemonie etabliert und reproduziert wird. Solch gegen-hegemonialer Kampf kann nicht allein darin bestehen, dass man die unterschiedlichen Elemente, deren diskursive Artikulation am Ursprung dieser Praktiken und Institutionen liegt, voneinander trennt. Das zweite Moment, das Moment der Re-artikulation ist entscheidend. Ansonsten würden wir einer chaotischen Situation reiner Dissemination begegnen, was Versuchen der Re-artikulation durch nicht-progressive Kämpfe Tür und Tor öffnet. Tatsächlich besitzen wir viele historische Beispiele von Situationen, in denen die Krise der herrschenden Ordnung zu rechten Lösungen geführt hat. Auch ist es wichtig, dass wir uns diesen Kampf nicht so vorstellen, als ginge es darum, einem vermeintlich falschen Bewusstsein die wahre Realität zu enthüllen. Solch eine Perspektive steht gänzlich über Kreuz mit den anti-essentialistischen Prämissen der Hegemonietheorie, die die eigentliche Vorstellung von einem »richtigen Bewusstsein« zurückweist und davon ausgeht, dass Identitäten immer das Ergebnis von Identifikationsprozessen sind. Durch die Einfügung in eine Vielzahl von Praktiken, Diskursen und Sprachspielen werden spezifische Individualitätsformen konstruiert. Dem hegemonietheoretischen Ansatz gemäß wird soziale Realität diskursiv konstruiert, und das Politische besitzt eine primäre strukturierende Rolle, da soziale Verhältnisse letztlich kontingent sind; jede vorherrschende Artikulation resultiert aus einer antagonistischen Konfrontation, deren Ergebnis nicht von vornherein entschieden ist. Deshalb benötigt man eine Strategie, deren Ziel darin besteht, durch eine Reihe gegenhegemonialer Interventionen die existierende Hegemonie zu disartikulieren und eine demokratischere zu etablieren, und zwar durch einen Prozess der Reartikulation neuer und alter Elemente zu unterschiedlichen Machtkonfigurationen. Aus diesem Grund kann die Transformation politischer Identitäten nicht in einem rationalistischen Appell an die wahren Interessen des Subjekts bestehen, sondern in seiner Einfügung in Praktiken, die seine Affekte in Richtung Disartikulation jenes Rahmens mobilisieren werden, in dem der Identifikationsprozess stattfindet, womit der Weg für andere Identifikationsformen geöffnet wird. Wenn wir diesem Ansatz folgen, können wir verstehen, weshalb soziale Bewegungen sich die Konstruktion oppositioneller Identitäten zum Ziel setzen sollten. Aber ich möchte unterstreichen, dass die nicht einfach in der Stärkung eines Prozesses der »Desidentifizierung« oder »Deindividualisierung« bestehen kann. Die zweite Bewegung, das Moment der »Reidentifizierung« oder »Rein-

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dividualisierung« ist entscheidend. Nur auf der ersten Bewegung zu bestehen, das heißt in einer Problematik gefangen zu bleiben, die postuliert, das negative Moment sei ausreichend, um von sich aus etwas Positives hervorzubringen, so als wären neue Subjektivitäten bereits da und bereit, hervorzubrechen, sobald sie vom Gewicht der dominanten Ideologie befreit sind. Solch einer Sicht gelingt es nicht, die Natur hegemonialen Kampfes und den komplexen Prozess der Konstruktion von Identitäten zu verstehen. Dass die Kritik und Disartikulation der existierenden Hegemonie von einem Reartikulationsprozess begleitet werden muss, übersehen alle Theorien der Verdinglichung oder des falschen Bewusstseins, die denken, Ideologiekritik sei ausreichend, um eine neue Ordnung hervorzubringen, frei von Unterdrückung und Macht. Es wird, wiewohl auf andere Weise, auch von den Theoretikern der Multitude übersehen, die glauben, oppositionelles Bewusstsein benötige keine politische Artikulation. Das bringt sie dazu, jene Frage zu entleeren, die ich als zentrale Frage einer radikal-demokratischen Politik erachte: Wie »Äquivalenzketten« zwischen den verschiedenen demokratischen Kämpfen etablieren? Solche Kämpfe konvergieren nicht automatisch, und oft können sie miteinander in Konflikt liegen. Das Ziel einer radikal-demokratischen Politik sollte es sein, Einschreibungsflächen zu offerieren, auf denen ihre diversen Forderungen um einen »kollektiven Willen« (Gramsci) herum artikuliert werden könnten. Ich bin überzeugt, dass kulturelle und künstlerische Praktiken eine wichtige Rolle im agonistischen Kampf spielen können, weil sie ein privilegiertes Terrain für die Konstruktion neuer Subjektivitäten darstellen. Man denke beispielsweise an die erfolgreiche Unterminierung der hegemonialen Ordnung durch feministische künstlerische Praktiken, die offengelegt haben, wie die Konstruktion von Bildern zur Konstruktion und Reproduktion oppressiver sozialer Nomen beiträgt, und die alternative Sichtweisen angeboten haben. Um Demokratie in unseren post-politischen Gesellschaften zu revitalisieren, benötigen wir dringend eine Vervielfachung agonistischer Öffentlichkeiten, in denen alles, was der dominante Konsens zu verdunkeln und auszulöschen tendiert, ans Licht gebracht und herausgefordert werden kann. Es gibt hier einen Punkt, den ich, wie ich denke, klarstellen sollte, um Missverständnisse bezüglich meiner Konzeption des »Agonismus« zu vermeiden. In der Tat unterscheidet sich mein agonistischer Ansatz, trotz ähnlicher Terminologie, von vielen anderen Konzeptionen des Agonismus, die in letzter Zeit vorgeschlagen wurden. Zum Beispiel unterscheidet er sich deutlich von der Hannah Arendts. Aus meiner Sicht besteht das Hauptproblem an einem arendtianischen Verständnis von »Agonismus« darin, um es kurz zu fassen, dass es sich um einen »Agonismus ohne Antagonismus« handelt. Ich meine damit, dass Arendt zwar der menschlichen Pluralität große Bedeutung zumisst und darauf besteht, dass Politik mit der Gemeinschaft und Reziprozität menschlicher Wesen zu tun hat, die sich voneinander unterscheiden, aber dass

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sie nie anerkennt, dass diese Pluralität an der Wurzel antagonistischer Konflikte liegt. Arendt zufolge bedeutet politisch denken, die Fähigkeit zu entwickeln, Dinge aus einer Vielzahl von Perspektiven zu betrachten. Wie ihr Bezug auf Kant und dessen Idee einer »erweiterten Denkungsart« bezeugt, unterscheidet sich ihr Pluralismus nicht wesentlich vom liberalen Pluralismus, denn er ist dem Horizont einer intersubjektiven Verständigung eingeschrieben. Wonach sie tatsächlich in Kants Doktrin ästhetischer Urteilskraft sucht, ist eine Prozedur, um intersubjektive Verständigung im öffentlichen Raum sicherzustellen. Deshalb konzipiert Arendt letztlich, trotz signifikanter Unterschiede in ihren Ansätzen, Öffentlichkeit konsensualistisch. Gewiss, in ihrem Fall entsteht Konsens aus dem Austausch von Stimmen und Meinungen (im griechischen Sinn von doxa), nicht aus einem rationalen »Diskurs« wie bei Habermas. Wie Linda Zerilli (2005) bemerkt hat, entsteht Konsens für Habermas aus dem, was Kant »Disputieren«1 genannt hat, aus dem Austausch von durch logische Regeln beschränkten Argumenten, während er für Arendt eine Frage des »Streitens«2 ist, wobei Übereinkunft durch Überreden produziert wird, nicht durch unwiderlegbare Beweise. Und doch ist keiner von beiden in der Lage, die hegemoniale Natur einer jeden Form von Konsens und die Unauslöschlichkeit des Antagonismus anzuerkennen, den Moment des »Widerstreits«3, auf den Lyotard sich bezieht. Meine Konzeption des Agonismus unterscheidet sich auch von jener, die, deutlich von Arendt inspiriert, Bonnie Honig in ihrem Buch Political Theory and the Displacement of Politics (Honig 1993) vorgeschlagen hat. Honig zufolge existieren zwei Sichtweisen auf Politik: die »virtue«-Perspektive und die »virtu«Perspektive. Für sie steht im Zentrum der »virtu«-Perspektive der agonistische Wettstreit, in dem Bürger verhindern, dass politische Maßnahmen und Ideen aus der Debatte herausgehalten werden, um sie stattdessen anfechten zu können. Während ich die Bedeutung dieser Dimension nicht abstreiten möchte, denke ich nicht, dass man die Natur agonistischen Kampfes bloß in Begriffen einer kontinuierlichen Anfechtung von Themen oder Identitäten konzipieren kann. Man muss ebenso die zentrale Rolle hegemonialer Artikulationen verstehen und die Notwendigkeit, nicht nur anzufechten, was existiert, sondern auch neue Artikulationen und neue Institutionen zu konstruieren. Eine ähnlich eingeschränkte Konzeption finde ich bei einem weiteren Agonismustheoretiker: William Connolly. Connolly ist von Nietzsche beeinflusst und hat versucht, die nietzscheanische Konzeption des Agon kompatibel mit demokratischer Politik zu machen. Er fordert die Radikalisierung der Demokratie durch Kultivierung eines neuen demokratischen Ethos der Bürger ein, eines Ethos des Engagements, das sie dazu bringt, in einen agonistischen Wettstreit 1 | Im Original dt., d.Ü. 2 | Im Original dt., d.Ü. 3 | Im Original dt., d.Ü.

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einzutreten, um alle Schließungsversuche zu stören. Zentral für diese Sicht ist der Begriff des »agonistischen Respekts«, den er aus der geteilten existentiellen Bedingung das Kampfes um Identität hervorgehen sieht und der von der Anerkennung unserer Endlichkeit bestimmt ist. Agonistischer Respekt stellt für ihn die Kardinaltugend eines tiefgreifenden Pluralismus dar, und es ist die wichtigste politische Tugend in der pluralistischen Welt der Gegenwart. Das sind schöne Gedanken, in der Tat, aber ich glaube nicht, dass sie den Rahmen für eine effektive demokratische Politik abgeben können. Wo sollten die Grenzen agonistischen Respekts liegen? Wie kann solch eine Sichtweise die dominante Hegemonie herausfordern und die existierenden Machtverhältnisse transformieren? Connollys Ansatz erlaubt uns nicht, diese Fragen zu beantworten, die in der Politik zentral sind. Während er nahelegt, er würde uns eine neue Konzeption demokratischer Politik bieten, gehört seine Konzeption agonistischen Respekts tatsächlich in den Bereich des Ethischen. Es ist nicht meine Intention, die Bedeutung eines demokratischen Ethos abzustreiten, aber das reicht keineswegs hin, um den hegemonialen Kampf ins Auge zu fassen, und ein wirklich politischer Ansatz würde erfordern, dass man sich mit dem Bereich der Institutionen auseinandersetzt. Aus meiner Sicht besteht das Hauptdefizit agonistischer Ansätze, die von Arendt und Nietzsche inspiriert sind, darin, dass ihr hauptsächlicher Fokus auf dem Kampf gegen Schließung liegt, dass sie nicht in der Lage sind, die Natur des hegemonialen Kampfes zu erfassen. Ihre Feier einer Politik der Störung ignoriert die andere Seite des hegemonialen Kampfes: die Etablierung einer Äquivalenzkette zwischen demokratischen Kämpfen und die Konstruktion einer alternativen Hegemonie. Das kann auf einer Vielzahl von Wegen erreicht werden, doch kann radikale Politik nur erfolgreich sein, wenn sie im Modus eines »Stellungskriegs« (Gramsci) entwickelt wird, mit dem Ziel der Transformation existierender Institutionen und der Kreation einer neuen Hegemonie. Um Demokratie zu radikalisieren, reicht es nicht aus, die herrschenden Prozeduren durcheinander zu bringen und die existierenden Arrangements zu unterbrechen. Wenn wir akzeptieren, wie ich zu Beginn argumentiert habe, dass der Antagonismus unauslöschlich und jede Ordnung eine hegemoniale Ordnung ist, können wir nicht umhin, uns den zentralen Fragen von Politik zu stellen: Was sind die Grenzen des Agonismus, und was sind die Institutionen und die Formen der Macht, die einer radikalen Demokratie angemessener wären? Das erfordert, dass wir dem Moment der Entscheidung nicht ausweichen, und es wird notwendigerweise irgendeine Art von Schließung beinhalten. Vielleicht lässt sich irgendein Weg vorstellen, auf dem ein ethischer Diskurs dieses Moment vermeiden könnte. Ein politischer kann es mit Sicherheit nicht. (Übers. Oliver Marchart)

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L ITER ATUR Arendt, Hannah (1998): Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hgg. von Ronald Beiner. München und Zürich: Piper. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Connolly, William E. (2005): Pluralism. Durham: Duke University Press. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Honig, Bonnie (1993): Political Theory and the Displacement of Politics. Ithaca, NY: Cornell University Press. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1995 [1985]): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen. Virno, Paolo (2005): Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect; eingel. von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien, Berlin: Turia + Kant. Zerilli, Linda (2005): Feminism and the Abyss of Freedom. Chicago: University of Chicago Press.

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Autorinnen und Autoren

Cornelia Bohn ist Professorin für Allgemeine Soziologie an der Universität Luzern und Mitglied des NCCR eikones, Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, historische und zeitgenössische Semantik, Geld-, Bild-, Medientheorie, Gesellschaftstheorie, Inklusions- und Exklusionsforschung. Neuere Publikationen: Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz: UVK 2006; »Geld und Eigentum«, Workingpapers des Soziologischen Seminars der Universität Luzern 2009; »Die Universität als Ort der Lektüre«, in Soziale Systeme 16(2) 2011; »Bildlichkeit und Sozialität. Welterzeugung mit visuellen Formen 2013, in: Welterzeugung durch Bilder, Themenheft der Zeitschrift Soziale Systeme (als Mitherausgeberin), im Erscheinen. Ulrich Bröckling ist seit 2011 Professor für Kultursoziologie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Veröffentlichungen: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld: transcript 2010 (Hg. zus. mit Robert Feustel); Governmentality. Current Issues and Future Challenges, London/New York: Routledge 2011 (Hg. zus. mit Susanne Krasmann und Thomas Lemke). Patrick Cingolani ist Professor für Soziologie an der Universität Paris X, Nanterre. Zu seinen Veröffentlichungen zum Thema Prekarität zählen: La précarité, Paris: Presses Universitaires des France 2005; Le temps fractionné. Multiactivité et création de soi, Paris: Armand Colin 2012; Un travail sans limites? Subordination, tensions, résistances, als Hsg., Paris: Editions Érès 2012. Serhat Karakayali hat in Frankfurt a.M. zur Genealogie illegaler Migration promoviert, war u.a. Mitbegründer des Forschungsprojekts Transit Migration (transitmigration.org) und des Forschungsnetzwerks Kritische Migrationsforschung (kritnet.org) und war zuletzt Mitarbeiter am Lehrstuhl für soziologische Theorie am Institut für Soziologie der Universität Halle-Wittenberg. Zur Zeit ist er Gastwissenschaftler der Universität Hamburg und arbeitet an einem Projekt zur »Transversalen Solidarität«.

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Facetten der Prekarisierungsgesellschaft

Jürgen Link ist emeritierter Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Dortmund und Mitherausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution. Zu seinen wichtigsten jüngeren Veröffentlichungen zählen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck 2006; Bangemachen gilt nicht. Auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, Oberhausen: Asso Verlag 2008; Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz: Konstanz University Press 2013. Isabell Lorey, Politologin, lehrt als Gastprofessorin Politische Theorie, Sozialund Kulturwissenschaften sowie Gender Studies an verschiedenen Universitäten. Ihre letzten Veröffentlichungen sind: als Mitherausgeberin Inventionen 1 + 2 (Mitherausgeberin), Zürich: Diaphanes 2011 und 2012; Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich: Diaphanes 2011; Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen (Co-Autorin), Wien, Berlin: Turia + Kant 2012; Die Regierung der Prekären, mit einem Vorwort von Judith Butler, Wien, Berlin: Turia + Kant 2012. Oliver Marchart ist Professor für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen zählen: Die politische Differenz. Politik und das Politische bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010; Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung, Bielefeld: transcript 2013; Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2013. Chantal Mouffe ist Professorin für politische Theorie an der Westminster University, London. Zu ihren Veröffentlichungen zählen: Hegemonie und radikale Demokratie (gemeinsam mit Ernesto Laclau), Wien: Passagen 1991; Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft (als Hsg.), Wien: Passagen 1999; Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik, Wien: Turia+Kant 2005; Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Das demokratische Paradox, Wien: Turia+Kant 2008. Marianne Pieper ist Professorin am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg, Lehrstuhl für Kulturen, Geschlechter, Differenzen. Letzte Publikationen: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos (Hg.): Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS 2011; Marianne Pieper, Vassilis Tsianos: »Postliberale Assemblagen. Rassismus in Zeiten der Gleichheit«, in Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft, Berlin: edition assemblage 2011, S.  114-131; Marianne Pieper, Brigitta Kuster, Vassilis Tsianos: »Making Connections, Skizzen einer (n)ethnografischen Grenzregimeanalyse«, in Oliver Leister, Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: transcript 2011, S. 221-248.

Autorinnen und Autoren

Bernd Röttger ist freiberuflicher Sozialwissenschaftler. Er arbeitet als  Redakteur der Zeitschrift Das Argument und des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Zudem ist er Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, am Institit für Soziologie der Universität Jena und Referent in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung. Er ist u.a. Herausgeber (mit Klaus Dörre) von: Das neue Marktregie. Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, Wiesbaden: VSA 2002, sowie (mit Susanne Heeg und Markus Wissen) von: Politics of Scale: Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Politik, Münster: Westfälisches Dampfboot 2007 sowie Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zur Politischen Ökonomie. Franz Schultheis ist Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen und Präsident der Fondation Pierre Bourdieu. Letzte Publikationen: »Im Dienste öffentlicher Güter: Eine feldtheoretische Annäherung«, in Mittelweg 36 21, Oktober/November 2012, S. 9-21; »Socioanalysis beyond borders: fieldwork in European sociology«, in Social Sciences. Annual Trilingual Review of Social Research 2013, Nr. 2-3, S. 105-109; »Engagement et distanciation: Pierre Bourdieu et Annie Ernaux«, in Annie Ernaux – Se metre en gage pour dire le monde, Genf: Métis Presses 2012, S. 119-130. Mario Vötsch unterrichtet Soziologie an der Universität Innsbruck. Von 2011 bis 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im SNF-Projekt »Protest als Medium – Medien des Protests« am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Zu seinen Veröffentlichungen zählt: Organisieren von Freiheit: Nomadische Praktiken im Kulturfeld, Wiesbaden: VS Verlag 2010.

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Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie März 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2386-4

Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen Dezember 2013, ca. 600 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2242-3

Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2277-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gesellschaft der Unterschiede Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft August 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2233-1

Johanna Klatt, Franz Walter Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement 2011, 254 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1789-4

Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung Oktober 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1

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Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel Wenn Jugendämter scheitern Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1892-1

Christian Brütt Workfare als Mindestsicherung Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005 2011, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1509-8

Alexandra Krause, Christoph Köhler (Hg.) Arbeit als Ware Zur Theorie flexibler Arbeitsmärkte 2012, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1984-3

Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft Zur widersprüchlichen unternehmerischen Praxis von Kreativen

Kathrin Schrader Drogenprostitution Eine intersektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen Mai 2013, 452 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2352-9

Anne von Streit Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen? Das Internet und die raumzeitlichen Organisationsstrategien von Wissensarbeitern 2011, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1424-4

Peggy Szymenderski Gefühlsarbeit im Polizeidienst Wie Polizeibedienstete die emotionalen Anforderungen ihres Berufs bewältigen 2012, 454 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1978-2

Februar 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2088-7

Dorit Meyer Gewerkschaften und Leiharbeit Über den aktiven Umgang mit Leiharbeit bei der IG Metall April 2013, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2334-5

Nancy Richter Organisation, Macht, Subjekt Zur Genealogie des modernen Managements Dezember 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2363-5

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Abonnement Jahresabo /4 Hefte (€ 39,00 Ausland zuzüglich Versandkosten) StudentInnenabo (€ 32,00 Ausland zuzüglich Versandkosten) Folio Verlag Wien-Bozen Schönbrunnerstraße 31, A-1050 Wien T +43 1 581 37 08 F +43 1 581 37 08 - 20 E [email protected] Einzelhefte aus den Jahrgängen 1995 bis 1998 können, sofern sie nicht vergriffen sind, über die Redaktion bestellt werden, ab Jahrgang 1999 direkt über den Verlag. Redaktion springerin Museumsplatz 1, A-1070 Wien T +43 1 522 91 24 F +43 1 522 91 25 E [email protected] www.springerin.at

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