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German Pages 555 [572] Year 2021
Dogmatik in der Moderne herausgegeben von
Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel
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Christian Polke
Expressiver Theismus Vom Sinn personaler Rede von Gott
Mohr Siebeck
Christian Polke, geboren 1980; 1999 – 2005 Studium der Ev. Theologie; 2005 Erstes Theologisches Examen (Evangelische Landeskirche Baden); 2005 – 2008 Wiss. Angestellter an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; 2008 Promo tion; 2008 – 2015 Wiss. Mitarbeiter am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg; 2009/10 Ernst-Cassirer-Fellow am Swedish Collegium for Advanced Study (SCAS) in Uppsala (Schweden); 2015 Habilitation; seit 2016 Professor für Ethik im Rahmen der Systematischen Theologie an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. orcid.org/0000-0002-2915-1326
ISBN 978-3-16-158254-7 / eISBN 978-3-16-158255-4 DOI 10.1628/978-3-16-158255-4 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Dem Andenken meiner Großeltern Erna Singer, geb. Hörl (1920–2003) Robert Polke (1922–1992) Hedwig Polke, geb. Zauzig (1923–2018) Hilmar Singer (1923–2008) und meinen Patensöhnen Adam Rohland Emil Jägle
„Wenige Menschen erwägen, was ihnen mit ihrem Glauben an den persönlichen Gott alles verloren geht.“ Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)
„The question ‚Is God personal?‘ becomes and will become more explicit in its modern formulation the more we become aware of what constitutes a person.“ Josiah Royce (1855–1916)
Vorwort Das vorliegende Buch geht zurück auf meine im Wintersemester 2015/16 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg angenommene Habilitationsschrift. Die Verzögerung, die sich schon daran zeigt, dass dieses Werk erst gut fünf Jahre später im Druck erscheint, hat wesentlich mit dem erfreulichen Umstand zu tun, dass fast unmittelbar nach der Habilitation ein Ruf auf eine Professur für Ethik im Rahmen der Systematischen Theologie an die Georg-August-Universität Göttingen erging, in dessen Gefolge ich zunächst mit vielen Einarbeitungen in bis dato ungewohnte Arbeitsfelder beschäftigt war. Umso mehr freut es mich, dass ich der Öffentlichkeit diese mir wichtige Arbeit auf dem Feld von Religionsphilosophie und Dogmatik nunmehr vorlegen kann. Vom Umfang ist sie – von wenigen inhaltlichen Überarbeitungen, Straffungen sowie der Einarbeitung einiger wichtiger zwischenzeitlich erschienener Literatur abgesehen – weitgehend identisch mit den Ausführungen, wie sie damals zur Begutachtung vorlagen. An dieser Stelle ist nun vielfacher Dank auszusprechen: Zunächst meinen beiden Gutachtern, die mich in der Hamburger Zeit als wissenschaftlichen Mitarbeiter betreut haben: Prof. Dr. Michael Moxter (Hamburg) und Prof. Dr. Jörg Dierken (Halle/Saale). Ihr freundschaftlicher Rat und ihre beeindruckende Kompetenz auf den einschlägigen Feldern von Philosophie und Theologie waren für mich ein Segen und sind mir bleibend Vorbild zugleich. Ihre überaus klaren, prägnanten und konstruktiven Gutachten waren mir eine große Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskriptes. Sodann danke ich allen, die am Habilitationsverfahren beteiligt waren. Mehrheitlich sind dies Menschen, mit denen ich auch sonst schöne Jahre in der Sedanstraße 19 verbringen durfte. Diese Arbeit, an der ich fast sieben Jahre geschrieben habe, wäre gewiss nicht erfolgreich zum Abschluss gekommen ohne die Möglichkeit, die ich durch ein Post-Doc-Fellowship im Rahmen des vom Berliner Wissenschaftskolleg mit verantworteten Ernst-Cassirer-Programms erhielt. Dieses von der Volkswagenstiftung wesentlich finanzierte Programm erlaubte es mir, im akademischen Jahr 2009/10 am Swedish Collegium for Advanced Study (SCAS) in Uppsala (Schweden) als Fellow sowie an der Universität in Göteborg (Schweden) als Gastdozent tätig zu sein. Erst solche Stunden ohne die üblichen akademischen Verpflichtungen lassen die Idee für eine Arbeit in der Weise reifen, dass etwas
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Vorwort
Eigenes daraus werden kann. Herrn Prof. Dr. Björn Wittrock (Uppsala/Schweden), dem langjährigen und verdienstvollen Leiter des SCAS sei an dieser Stelle, auch stellvertretend für viele andere, Dank gesagt. Zu den mehr als erfreulichen Umständen meiner Zeit in Schweden gehört, dass das seinerzeit begonnene mutuum colloquium mit Prof. Dr. Hans Joas (Berlin) über Fragen von Religion, Gesellschaft und die Rolle des Pragmatismus bis auf den heutigen Tag nicht abgebrochen ist. Er sprach mir in einer schwierigen Phase, zusammen mit zwei anderen bedeutenden Denkern unserer Tage, Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt (Berlin) und Prof. Dr. Robert C. Neville (Boston), Mut zu, das begonnene Projekt auf dem von mir einschlagenen Weg weiterzuverfolgen. Was ich von diesen drei herausragenden Gestalten ihres jeweiligen Faches, die darüber hinaus – fernab von akademischen Allüren – einfach zugewandte Mitmenschen sind, gelernt habe, kann ich nicht in ein paar Zeilen fassen. Sie werden die Inspirationen, die ich durch sie erhalten habe, hoffentlich wiedererkennen. Für das Resultat der Synthese aus Kant und Jacobi, James und Royce, Cassirer und Ricœur, Troeltsch und Niebuhr zeichne ich allerdings allein verantwortlich. Während der Anfangsjahre der Arbeit an diesem Buch konnte ich ferner durch den mir im Jahre 2010 von der John F. Templeton Foundation zugedachten John F. Templeton Prize for Theological Promise meine Gedanken auch an einigen ausgewählten Orten in den USA (Boston, Chicago), Südafrika (Stellenbosch, Pretoria), Israel (Jerusalem) sowie in Hong Kong in Form von Vorträgen erproben. Dafür sei an dieser Stelle ebenso gedankt, wie es allererst einer Einladung von Frau Prof.in Dr. Birgit Sandkaulen (Bochum) in ihr Forschungskolloquium zu verdanken ist, dass ich seitdem in Friedrich Heinrich Jacobi einen treuen, in der Aufklärungszeit verankerten Mitstreiter in Sachen ‚Personalität Gottes‘ gefunden habe. Der Band erscheint in der Reihe „Dogmatik in der Moderne“ (DoMo) im Verlag Mohr Siebeck. Auch dafür gilt es zu danken: Zunächst der Verlagsleitung, namentlich Herrn Dr. Henning Ziebritzki (Tübingen), sodann Frau Dr. Katharina Gutekunst und Frau Elena Müller von der Programmleitung Theologie und Judaistik. Den Herausgeberinnen und Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Christian Danz (Wien), Herrn Prof. Dr. Jörg Dierken (Halle/Saale), Herrn Prof. Dr. Hans-Peter Großhans (Münster) sowie Frau Prof.in Dr. Friederike Nüssel (Heidelberg) gilt mein herzlicher Dank für die Aufnahme in die Reihe. Meinen studentischen Hilfskräften Caroline Albrecht und Nora Meyer sowie meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Markus Firchow in Göttingen sei darüber hinaus für vielfältige Hilfen bei Schlusskorrektur, der Erstellung der Register und der Formatvorlagen gedankt. Namentlich zu danken wäre schließlich meiner Familie und meinen Freunden. Diesen Dank in gebührender Form auszusprechen, würde den Rahmen eines Vorwortes sprengen. Zudem gehört dies zu jenen Seiten unserer Existenz, die es mehr denn je verdient haben, im vertraulichen Kreis des Privaten ihren Ort zu finden. Aber ihr sollt alle wissen: Ohne euren Rat, eure Bereitschaft,
Vorwort
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mich hin und wieder bei euch aufzunehmen, vor allem aber ohne eure charmante Art und Weise, mit der ihr jede und jeder für sich mir auch die anderen schönen Seiten des Lebens zugänglich gemacht habt, wäre dies alles nicht möglich geworden. Dieses Buch widmen möchte ich meinen beiden Patensöhnen Adam Rohland und Emil Jägle, die ihren Patenonkel viel zu selten sehen, sowie dem Andenken meiner Großeltern. In dieser intergenerationellen Verbundenheit kommt einmal mehr zum Ausdruck, wovon wir alle leben, nicht zuletzt, wo es um so große Fragen, wie der nach Gott geht: Weil Herkunft Zukunft, weil Zukunft Herkunft braucht. Hamburg/Göttingen, im Advent 2020 Christian Polke
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................ VII § 1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott: Ein ideengeschichtlicher Auftakt mit Jacobi ............................................... 1 § 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus – Zum religionsphilosophischen Ansatz der Arbeit ..................................... 17 1. 2.
Historismus und Pragmatismus: Historische Konstellationen, systematische Implikationen ............... 18 Das Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie – Zur wissenschaftstheoretischen Aktualität von James und Troeltsch ............................ 23
§ 3 Zum Aufbau und Vorgehen der Arbeit ...................................................... 32
Erster Teil: Kulturanthropologische und ritualtheoretische Grundlegung § 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘: Ausdrucksanthropologische und kulturtheoretische Grundlegung im Anschluss an Ernst Cassirer .......................................... 45 1.
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‚Animal symbolicum‘ – Philosophische Anthropologie als Kulturtheorie ............................. 48 1.1 Cassirers Grundfigur: Der Mensch als ‚animal symbolicum‘ ...... 49 1.2 Philosophische Anthropologie und die Logik der Kulturwissenschaften ................................................................... 54 Zur Konzeption einer ¸Philosophie der symbolischen Formen‘ ......... 62 2.1 Der Funktionsbegriff und das Problem des Symbolischen .......... 62 2.2 Symbolische Formen als plurale Weisen der Wirklichkeitserfassung ........................................................... 66 2.3 ‚Sinn und Sinnlichkeit‘: Symbolische Prägnanz als Ineinander von Natur und Kultur ............................................ 69
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Inhaltsverzeichnis
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2.4 Ausdruck, Darstellung, Bedeutung: Die symbolischen Funktionen als Entwicklungsphasen menschlichen Geistes ................................. 73 Sprache, Mythos und Technik – Der ‚Mutterboden‘ menschlicher Kultur ............................................. 78 3.1 Sprache und Mythos: der Startpunkt kognitiver und kultureller Evolution .................................................................... 79 3.2 Technik und Mythos: Die Rolle des Instrumentellen................... 83 3.3 Mythos als Lebenswelt – Die überdauernde Funktion der mythischen Lebensform ............ 89 Der Primat der Ausdrucksfunktion und Religion als symbolische Form ............................................................................... 93 4.1 Sprachlicher Ausdruck und die Physiognomie der Welt: Das Paradigma des mythisch-religiösen Wirklichkeitsbewusstseins ........................................................... 94 4.2 Religion als Transformation und Transzendierung mythischer Lebensform .............................................................. 101 4.3 Religion als symbolisches Selbstbewusstsein der Kultur .......... 108 Zur Theorie der Basisphänomene: Metaphysischer Horizont der Philosophie der symbolischen Formen ....................................... 112 5.1 Das Verhältnis von Geist und Leben: Noch einmal Cassirer und die Philosophische Anthropologie ... 114 5.2 Zur Theorie der Basisphänomene .............................................. 117 5.3 Erkenntnis und Wirklichkeit: Cassirers philosophischer Realismus ......................................... 122 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘: Cassirers Kulturphilosophie im Zeichen von Historismus und Pragmatismus ............................... 125 6.1 Symbolische Formen als energeia des menschlichen Geistes: der Primat der Handlung ............................................................ 127 6.2 Zur sozialen Konstitution des Geistes: Cassirer und Mead........ 131 6.3 Die Ambivalenz der Kultur und die Entstehung von Neuem: Geschichtsphilosophische Brechungen ...................................... 135 Cassirers Kulturanthropologie symbolischer Artikulation: Ein Fazit ........................................................................................... 139
§ 5 Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals.............................. 142 1.
Religion als soziokulturelles System: Religionstheoretische Vorüberlegungen ........................................... 144 1.1 Religion als notwendiges Element der conditio humana? ......... 144 1.2 Religion als kollektive Praxis symbolischen Idealbewusstseins (Émile Durkheim)......................................... 146
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1.3 Religion als kulturelles Symbolsystem (Clifford Geertz) .......... 155 Ritus und Religion: Über die religiöse Dimension rituellen Handelns ............................. 164 2.1 Vorbemerkung: Ritualtheoretische Unübersichtlichkeiten ........ 165 2.2 ‚Social Act‘ und ‚Symbolic Action‘: Bausteine zu einer Theorie des Rituals ...................................... 168 2.3 Religion und Ritual in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung: Zu Roy Rappaports ‚Ritual and Religion in the Making of Humanity‘ ....................................................... 175 3. Ritus und Realität: Zur performativen Bewährung symbolisch codierter Wirklichkeit .. 181 3.1 Das Ritual als Modell für symbolisch codierte Wirklichkeit ..... 182 3.2 Ritual und Ritualisierung als performative Praktiken ................ 185 3.3 Symbolische Erfahrungskontrolle: Die kognitive Funktion des Rituals ............................................ 188 3.4 Moralische Idealbildung: Die evaluative Funktion des Rituals........................................... 194 3.5 Empathische Kontingenzbearbeitung: Die generelle Funktion des Rituals ............................................ 199 4. Religion, Ritus und Realität: Zum Zusammenhang von Handeln, Symbolisieren und Erfahren .............................................................. 203 4.1 Weder subjektivistischer Expressivismus noch linguistischer Kulturalismus ....................................................... 204 4.2 Das Moment der Unmittelbarkeit und das Problem der Artikulation .............................................. 209 4.3 Handeln, Symbolisieren und Erfahren: Religionstheorie zwischen Pragmatismus und Historismus....... 214 4.4 Expressiver Theismus und der Bedeutungswandel der Person ............................................. 219 2.
Zweiter Teil: Systematisch-theologische und religionsphilosophische Entfaltung § 6 Hermeneutik und Dogmatik personaler Taxonomien ............................. 227 § 7 Religionskritisches Präludium: Evolution religiöser Kulturtechniken und anthropologische Religionskritik ..................................................... 238
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Inhaltsverzeichnis
§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre: Die Realität des personalen Gottes in der religiösen Praxis (Die Ebene des rituellen Ausdrucks) ....................................................... 247 1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus ........................... 248 2. Im Fokus ‚Gott‘: Das Gebet im religionsphilosophischen Diskurs............................... 256 2.1 Noch einmal: Das Bittgebet als Symptom für die doppelte Krise des Theismus .......................................... 256 2.2 Typen religionsphilosophischen Nachdenkens über Gott und das Gebet ............................................................................. 261 2.3 Beten und das Problem einer Grammatik religiöser Rede von Gott: Überleitende Bemerkungen .............. 272 3. Der Mensch – ‚das betende Tier‘: Zur ontologischen Grammatik des Betens ........................................ 276 3.1 Beten und der Verdacht der Magie ............................................ 277 Ethnologischer Exkurs: Beten als soziale Praxis (Marcel Mauss) .......................................... 281 3.2 Das Gebet als Ausdruck religiöser Lebensform: Was heißt ontologische Grammatik? ......................................... 286 4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet: Neuzeitliche Transformationen der Gotteslehre seit Schleiermacher .................... 289 4.1 Gotteslehre als Lehre von den göttlichen Eigenschaften (Friedrich Schleiermacher) ......................................................... 290 4.2 Beten als Kern religiösen Lebens, personaler Theismus als lebendige Option (William James) ....................................... 296 4.3 Die Lehre vom Gebet als Mitte der Gotteslehre (Gerhard Ebeling) ....................................................................... 304 5. Vom Beten: Die Realität des personalen Gottes in der religiösen Praxis.............. 312 § 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis – Medium und Modus personaler Rede von Gott (Die Ebene der symbolischen Darstellung) ............................................ 320 1.
2.
Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte.............. 322 1.1 Personale Gottesmetaphorik und personalistische Taxonomie ....................................................... 324 1.2 Die Entdeckung der Geschichte – Israels Form der ‚Mythospekulation‘ ......................................... 329 Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch: Ein methodischer Zwischenschritt .................................................... 334 2.1 Der sprechend-handelnde Mensch als eine ‚in-Geschichten-verstrickte‘ Person ........................................... 335
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2.2 Die ‚Welt‘ des Textes: Handlungsraum und Sinnkonstitution ........................................ 340 Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handlung, Erzählung ................. 346 3.1 Geschichte, Geschichten und das Problem der Historik ............ 347 3.2 Zeit, Handlung, Erzählung – Bausteine zur Erfassung von Geschichte .................................................................................. 350 3.3 Die historische Zeit – ‚Ort‘ der Darstellung von Personalität ....................................... 352 3.4 Das Prinzip der Mimesis – Handlung und Erzählung ................ 358 3.5 Prekäre Geschichte: Zur Kontingenz des Sinns von historisch Geschehenem ........... 362 Der Name Gottes und die narrative Identität des Göttlichen ............ 367 4.1 Kanonische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Historiographie....................................... 368 4.2 Der Name als Kurzerzählung: Zur Figur des göttlichen Namens ............................................... 374 4.3 Die Bedeutung des personalen Modells in der Vielfalt kanonischer Gottesdiskurse ................................ 381 4.4 Narrative und personale Identität: Zur (narrativen) Konfiguration des personalen Gottes .............. 386 Die Entdeckung personaler Identität im Modus des Zeugnisses....... 392
§ 10 ‚Ein personales Universum‘ – Expressiver Theismus als Horizont der Personalität Gottes (Die Ebene der theoretischen Bedeutung)................................................ 406 1.
2.
3.
Pragmatistische Gotteslehre aus der Perspektive der Pneumatologie ............................................. 409 1.1 Drei Typen, Religionsphilosophie zu betreiben ......................... 410 1.2 Handlungstheoretische Gotteslehre in pneumatologischer Perspektive ............................................. 415 Das ‚pluralistische Universum‘ als soziales Interaktionsgeschehen .................................................... 419 2.1 ‚Universum‘ als offene Prozesskategorie .................................. 420 2.2 Die Sozialität aller Realität ........................................................ 425 2.3 Das ‚pluralistische Universum‘ als soziales Interpretationsgeschehen ............................................................ 428 Das ‚melioristische Universum‘ im Zeichen von Kontingenz und Kreativität ..................................... 433 3.1 Dimensionen der Kontingenz..................................................... 435 3.2 Das Problem der Kontingenz und der Gottesgedanke ............... 440 3.3 Qualitative Kontingenz und evaluative Kreativität: ein ‚melioristisches Universum‘ ................................................ 443
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Inhaltsverzeichnis
4.
Handeln als interpretierendes Verantworten – Ein ‚personales Universum‘ .............................................................. 449 4.1 Interpretieren als sozial-reflexives Handeln in der Zeit ............. 451 4.2 Die Rolle des Interpreten in der Interpretation .......................... 454 4.3 Interpretieren als Verantworten: Ein ‚personales Universum‘ ....................................................... 458 5. Gott als ‚verantwortliches Selbst‘: Über Gottes Personsein in einem ‚personalen Universum‘ ............... 464 5.1 Personalität Gottes unter der Bedingung von Pluralität (die strukturelle Perspektive) ..................................................... 466 5.2 Personalität Gottes unter der Bedingung von Meliorität (die religionstheoretische Perspektive) ...................................... 470 5.3 Personalität Gottes unter der Bedingung von Responsibilität (die christentumstheoretische Perspektive) ................................ 476 § 11 Schlussbetrachtung: Expressiver Theismus und personalistische Religiosität ........................ 490 1. 2.
Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus............................... 491 Expressiver Theismus: Religiöse Option und weltanschauliche Position .............................. 499
Literaturverzeichnis ......................................................................................... 509 Namensregister ................................................................................................ 541 Sachregister ..................................................................................................... 546 Bibelstellenregister .......................................................................................... 555
§ 1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott: Ein ideengeschichtlicher Auftakt mit Jacobi Dieses Buch handelt vom Problem der Personalität Gottes. Sofern sich dies überhaupt als ein wissenschaftliches Problem begreifen lässt, stellt es, das dürfte jedem einleuchten, Theologie und Religionsphilosophie vor nicht geringfügige Probleme. Von daher entscheidet sich bereits an der Art und Weise, wie auf dieses Problem zugegangen wird; mit welchen Theorien dabei gearbeitet werden soll; und welche disziplinären Perspektiven darüber hinaus Verwendung finden sollen, ob wir zur Überzeugung gelangen, es lediglich mit einem überkommenen Scheinproblem aus den alten Tagen klassischer Schulmetaphysik zu tun zu haben oder ob dabei ein tiefer gehendes Phänomen lebensweltlicher religiöser Praxis angesprochen wird, das sich jenseits aller theoretischen Schwierigkeiten in seiner Denkbarkeit immer noch behaupten lässt. Stimmt letzteres, dann ist schließlich nach den Gründen hierfür zu fragen. All dies ist gemeint, wenn es das Ziel der Untersuchung ist, dem Sinn personaler Rede von Gott nachzugehen. Nun stellen ‚Person‘ und ‚Gott‘ beide gleichermaßen vielschichtige Begriffe dar, die mit unterschiedlichen Bedeutungen kulturell und kategorial gefüllt und entsprechend als Modelle ausgearbeitet wurden.1 Ihre Wege haben sich in der alteuropäischen und westlichen Geistesgeschichte mehr als einmal gekreuzt und miteinander verbunden. Wo es darum ging, zu erkunden, was eine Person zur Person macht, zog das – unter den Bedingungen eines religiös-metaphysischen Weltbildes – zumeist unweigerlich die Frage nach der Übertragbarkeit auf das ‚Göttliche‘ nach sich und mündete bisweilen in die Warnung vor genau dieser Übertragung. Aber auch die umgekehrte These wurde in der Forschung eine Zeit lang bemüht, nämlich die Ursprünge des Personenbegriffs in den Anstrengungen um ein angemessenes Verständnis Gottes bzw. des Absoluten zu sehen
1 Eine vorzügliche Darstellung dieser Wege findet sich bei: K OBUSCH, THEO, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21997. Aus jüngster Zeit: PERLER, DOMINIK, Eine Person sein. Philosophische Debatten im Spätmittelalter (Philosophische Abhandlungen 119), Frankfurt/M.: Klostermann 2020.
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§1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott
und von dort aus ein adäquates Konzept der (humanen) Personalität zu entwickeln.2 So oder so stehen alle diese ideen- und begriffsgeschichtlichen Versuche gleichermaßen vor dem Problem, aus der Vielzahl möglicher Bedeutungen der Personenkategorie eine oder wenige von anderen deutlich abzuheben, um sie als Grundbedeutung auszuzeichnen. Der unweigerlich konstruktive Zug dieser Bemühungen geriet häufig genug zu einer mehr oder minder willkürlichen Bevorzugung, abhängig von Standortgebundenheit und Erkenntnispräferenzen. Eine Alternative, die um diese Probleme zwar ebenfalls nicht herumkommt, aber deutlich anders vorgeht, stellt der definitorische Weg dar. ‚Definitorisch‘ nenne ich diesen Zugriff, wie er z.B. in der analytischen Religionsphilosophie weit verbreitet ist, weil entweder der Gottes- oder der Personenbegriff zunächst in seinen Merkmalen und Eigenschaften bestimmt wird, um dann die andere Seite auf ihre Subsumtionsmöglichkeit hin zu prüfen.3 Oftmals werden jeweils Teilelemente der beiden Begriffe ineinander verschoben, was die Sache noch erschwert. So lautet die Definition des Theismus bei Richard Swinburne in seinem Klassiker über Die Existenz Gottes etwa: „Der Theist behauptet folgendes: Es existiert, hat existiert und wird immer existieren ein Wesen, Gott, als reiner Geist, d.h. als nicht-verleiblichte Person [!; C.P.], die allgegenwärtig ist.“4 Hierbei wird von vornherein unterstellt, dass beide Kategorien, ‚Gott‘ und ‚Person‘ gleichermaßen, in einem – wie auch immer zu qualifizierenden (‚Geist‘) – Verhältnis zueinanderstehen. Das zeigt freilich nicht viel mehr, als dass noch die meisten definitorischen Versuche mehr oder weniger auf bestimmte, wiederum ideengeschichtliche Hintergrundannahmen zurückgreifen, die eben selbst stets nur eine von mehreren möglichen Alternativen darstellen. Mehr noch aber leidet das definitorische Vorgehen daran, ganz davon abzusehen, dass sowohl der Gottesbegriff wie die Personenkategorie5 Abstraktionen der Theoriebildung sind, die nicht unabhängig von ihrer jeweiligen historischen
2 Zu diesem umgekehrten Unterfangen gehört die Debatte zwischen Wolfhart Pannenberg und Dieter Henrich im Umfeld der Gruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘. Dabei stand die Interpretation der trinitarischen Wurzeln des Personenbegriffs im Mittelpunkt. Vgl. deren Beiträge: PANNENBERG, WOLFHART, Person und Subjekt, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Poetik und Hermeneutik VIII: Identität, München: Fink 1979, 407–422, sowie: HENRICH, DIETER, Die Trinität Gottes und der Begriff der Person, in: a.a.O., 612–620. 3 Ein prominenter Versuch in der deutschsprachigen Theologie stellt das Werk von Armin Kreiner dar, dessen Position man als einen personalen Theismus analytischer Prägung kennzeichnen kann. Vgl. KREINER, ARMIN, Das wahre Antlitz Gottes, oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg i.B.: Herder 2006. 4 SWINBURNE, R ICHARD, Die Existenz Gottes. Aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Ginters, Stuttgart: Reclam 1987, 114. 5 An dieser Stelle bedarf es keiner weiteren Unterscheidung zwischen Begriff und Kategorie, wenngleich klar ist, dass ‚Gott‘ keine Kategorie darstellen kann. Wohl aber ließe sich von Gottes- und Personenkonzepten sprechen.
§1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott
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Entstehung in spezifischen Erfahrungskonstellationen verstanden werden können und deren sprachliche Artikulationsmöglichkeiten ebenfalls kulturell variabel sind. Aus diesen Gründen spricht viel für eine stärker historisch verfahrende Herangehensweise, um den Problemhorizont unseres Themas abzustecken. Im Folgenden wird daher der begriffsanalytische Ansatz nicht weiterverfolgt, wohingegen der ideengeschichtliche Zugriff erweitert und durch geistesund mentalitätsgeschichtliche Aspekte angereichert wird. Stellt man nun die Frage, wann das Problem der Personalität Gottes eigentlich zum ersten Mal in einem mehr als nur geistesgeschichtlichen Sinn virulent wurde, dann lässt sich das ziemlich gut durch die Verortung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beantworten. Denn Probleme, selbst diejenigen, die nur für besonders spekulative Geister gemacht zu sein scheinen, entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie zünden, wenn sich mentalitäts- wie geistesgeschichtlich lange Zeit prägende Faktoren abrupt zu ändern beginnen oder endgültig obsolet geworden sind. Dann spricht man – mindestens a posteriori – von Wendepunkten. Der Juli des Jahres 1781 stellt für unsere Fragestellung so einen Wendepunkt dar. Er bildet den Auftakt zu einer Reihe von Streitigkeiten um ‚Göttliche Dinge‘ wie Pantheismus, Atheismus und Theismus, die als ideengeschichtliche Konstellation für den Religionsdiskurs in der ‚Sattelzeit der Moderne‘ (Koselleck) maßgeblich wurden. In jenem Monat besuchte der Düsseldorfer Kaufmannssohn und Literat Friedrich Heinrich Jacobi den hochdekorierten Dichterfürsten Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel. Während der sommerlichen Tage entlockte Jacobi seinem Gastgeber bei einem Gespräch über ein Gedicht Goethes jenes Bekenntnis, das noch Jahre später für Furore sorgen wird und an dem sich nach dem Ableben Lessings die Geister schieden. Dieser bekannte nämlich freimütig: „Die orthodoxen Begriffe der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. En kai pan! Ich weiß nichts anderes.“6 Gewiss, in Lessings Worten machte sich zunächst einmal seine Abscheu gegenüber traditionellen kirchlichen Doktrinen kund; ebenso wird man in den Äußerungen seine Faszination für ein, Gott und Welt, harmonisch in Einheit bringendes, ‚pantheistisches‘ Gottesbild entdecken. Doch darf die berühmte Formel des ‚Hen Kai Pan‘, wie sie Spinoza zugeschrieben wird, nicht davon ablenken, dass die Attraktivität, die jener Metaphysik um die Mitte des 18. Jahrhunderts galt, sich bedeutenden interpretatorischen Fortentwicklungen der ursprünglichen Gedanken des niederländischen Philosophen, hinterlegt in seiner posthum
6 JACOBI, FRIEDRICH H EINRICH, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1786). Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke (PhB 517), Hamburg: Meiner 2000, 22. Das Gedicht Goethes (‚Prometheus‘) ist dem Text der Spinozabriefe ausdrücklich vorangestellt.
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§1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott
erschienenen Ethik, verdankte.7 Ging es Spinoza vornehmlich darum, die dualistischen Figuren in Descartes’ rationalistischem System zu überwinden, hatte sich das Interesse seiner Bewunderer hundert Jahre später verschoben: Einerseits galt es – unter Beibehaltung der antidualistischen Einstellung – beim monistischen Konzept Spinozas deutlicher das Motiv der Individualität, darin auf den Spuren von Leibniz wandelnd, zu berücksichtigen; andererseits waren es vor allem Denker und Dichter im Geist der Frühromantik, die das stark rationalistische Theorem des deus sive natura naturphilosophisch anreicherten. Goethe stellt hierbei nur die exzeptionellste Gestalt dar. Im Kern jedoch hielten alle an Spinozas Grundidee fest, wonach Welt und Selbst in einer letzten Einheit gründen, einer Wirklichkeit, aus der sie stammen, in der sie leben und deren je individuelle Erscheinungsweise sie darstellen. Insofern überrascht es nicht, dass viele Spinozisten, wie man die Anhänger Spinozas im 18. Jahrhundert zu nennen pflegte, das Hen kai pan mit dem „unbekannten Gott“ der paulinischen Areopag-Rede (vgl. Act 17,23) identifizierten. Auch Lessing zählte dazu.8 Die Faszination des Spinozismus, vornehmlich natürlich unter Intellektuellen, entsprang einem Bedürfnis nach einer letzten Gründung und Bewahrung aller Realität in einem dem Erfahrungs- und Wissensgehalt der Zeit gemäßen Gottesgedanken. Dieser wurde zum Fluchtpunkt und Garanten der Einheit aller Wirklichkeit. In alledem spielte auch die wachsende Bedeutung der klassischen Naturwissenschaften, die noch bei Newton im Zeichen einer rationalen Ordnung stand, eine Rolle. Insofern ist zumindest an einer Stelle Charles Taylors sonst durchaus triftige Beschreibung des Aufstiegs der säkularen Option im 17. und 18. Jahrhundert ergänzungsbedürftig: Das entscheidende Merkmal ist ein Wandel der Vorstellung von Gott und seinem Verhältnis zur Welt. Es besteht hier nämlich die Tendenz, von einem orthodoxen christlichen Begriff, wonach Gott als Akteur mit den Menschen interagiert und in die menschliche Geschichte eingreift, zu einer Vorstellung überzugehen, wonach Gott der Baumeister eines gemäß unveränderlichen Gesetzen wirkenden Universums ist, nach denen sich die Menschen richten oder andernfalls die Konsequenzen tragen müssen. Aus einer umfassenderen Perspektive läßt sich das als kontinuierliche Entwicklung begreifen, die bei der Auffassung ansetzt, es gebe ein höchstes Wesen mit Kräften, die unserer Vorstellung von Handlungsfähigkeit entsprechen und die im Verhältnis zu uns eingesetzt werden. Daraus entwickelt sich dann die Auffassung, Gott sei nur durch das von ihm geschaffene, von Gesetzen regierte Gebilde mit uns verbunden, um schließlich in der Vorstellung zu enden, wir seien in einer Lage, in der wir uns mit einem gleichgültigen Universum auseinandersetzen müssen, während Gott unbeteiligt ist
7 Zu dieser Theoriefigur siehe die instruktive Abhandlung von: G IOVANNI, G EORGE DI, Hen kai pan. Spinozafigurationen im Frühidealismus, in: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 29), Hamburg: Meiner 2004, 88–106. 8 Zu den Hintergründen immer noch lesenswert: TIMM, H ERMANN, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. I: Die Spinozarenaissance, Frankfurt/M.: Klostermann 1974.
§1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott
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oder gar nicht existiert. So gesehen, kann der Deismus als Zwischenstation auf dem Weg zum heutigen Atheismus gesehen werden.9
Zutreffend an Taylors Interpretation ist seine Deutung des Erfolgs deistischer Weltmodelle. Diese ließen sich widerspruchsfrei mit den wachsenden Einsichten neuzeitlicher Naturwissenschaft, der Idee des säkularen Staates und des autonomen Rechts verbinden. Doch unterschätzt Taylor dabei, dass die romantischen Anhänger des Spinozismus dem Rationalismus des Deismus als „Religionsphilosophie der Neuzeit“, wie ihn Ernst Troeltsch genannt hat10, skeptisch gegenüberstanden. Gerade mit Blick auf den Rationalismus hatte sich die geistes- und mentalitätsgeschichtliche Lage gegenüber dem 17. Jahrhundert deutlich verändert. Daher tut man gut daran, im Kontext des Aufstiegs der säkularen Option die Durchsetzung der Idee einer ‚unpersönlichen Ordnung‘, sei sie immanent oder transzendent gedacht, von der zeitweiligen Attraktivität Spinozas und des ihm zugeschriebenen ‚Pantheismus‘ zu unterscheiden. Letzterer versteht sich bewusst als Alternative zu den rationalistischen Tendenzen des Deismus, die Taylor beschreibt, ohne dabei erneut in die Aporien des kirchlichen Supranaturalismus zurückzufallen. Dabei zeigt sich allerdings, wie Ernst Troeltsch zu Recht vermerkte, dass die Verwendung des Wortes Deismus für ein bestimmtes, metaphysisches System, das der mechanistischen Transzendenz, (…) erst ein Erzeugnis der späteren Philosophie und von hier in die Dogmatik übergegangen [ist], wo der Deismus dem Pantheismus und Theismus gegenübergestellt zu werden pflegt. Der wirkliche historische Deismus wird durch eine solche Charakteristik nur sehr teilweise getroffen und nicht in seiner Haupttendenz bezeichnet.11
Vor diesem Hintergrund ist auch die Figur des Friedrich Heinrich Jacobi differenzierter zu bewerten, als dies häufig in der Rezeptionsgeschichte geschah. Darin schwankte die Einschätzung seiner Person stets zwischen eigensinnigem Querulanten und irrationalem Gefühlstheoretiker. Beim Skandal, den Jacobi mit der Veröffentlichung seiner Spinoza-Briefe und damit auch des Bekenntnisses Lessings zum Pantheismus auslöste, ging es weniger um die Bloßstellung des 9 TAYLOR, C HARLES, Ein säkulares Zeitalter, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, 460. Taylor sieht zwar richtig, dass Spinozas Metaphysik im letzten ebenfalls auf eine „unpersönliche Ordnung“ (a.a.O., 477.609.906) hinausläuft, aber er unterschätzt doch die anderen Motive und Interessen, die den „damals gängigen Spinoza-Interpretationen“ (a.a.O., 477) zugrunde lagen. – Zu den soziokulturellen Konsequenzen des Deismus als Wegscheide innerhalb des Aufstiegs der säkularen Option, siehe auch: Ders., Modern Social Imaginaries, Durham/London: Duke Univ. Press 2004. 10 Vgl. TROELTSCH, ERNST, Der Deismus, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. v. Hans Baron, Tübingen: Mohr (Siebeck) 1925, 429–487. 11 A.a.O., 436. – Troeltsch sieht eines der Hauptwesensmerkmale der deistischen Denker, so wie sie sich selbst verstehen, in der Gegnerschaft zu einem supranaturalistischen Offenbarungsverständnis, welches mit einem kirchlichen Autoritarismus einhergeht (vgl. ebd.). In diesem Sinne haben sich die Deisten als religiöse Freidenker verstanden.
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letzteren, wie ihm mancher unterstellte, als vielmehr um die Eröffnung einer grundsätzlichen Debatte über die Prämissen des spinozistischen Gottesgedankens und seiner Implikationen. Vielleicht letztmals in der Geschichte der alteuropäischen Philosophie wird hier über die praktischen Konsequenzen metaphysischer Überzeugungen gestritten. Jacobi ahnte zumindest, dass sich die weltanschaulichen Auseinandersetzungen der kommenden Jahrzehnte um sehr viel radikalere immanente Visionen drehen würden. Seine Weitsicht zeigte sich nicht zuletzt daran, dass er als durchaus naturwissenschaftlich gebildeter Literat die idealistischen Systembildungen mit ihrem Anspruch auf letztbegründender Welt- und Selbstdeutung qua Vernunft nicht nur aus metaphysischen Gründen ablehnte; für ihn wirkten derlei Bemühungen schon damals, angesichts der Fortschritte, die die noch jungen, aufstrebenden Naturwissenschaften verbuchten, als anachronistisch12; von den intellektuellen Schwierigkeiten eines christlichen Spinozismus oder Idealismus einmal ganz abgesehen. In der Auseinandersetzung mit der Metaphysik Spinozas, die auf Jacobi gleichwohl eine ungeheure Faszination ausübte, steht die Einziehung der Differenz zwischen logischem ‚Grund‘ und erfahrungsgesättigter ‚Ursache‘ im Mittelpunkt. Damit greift er eine wichtige Unterscheidung auf, die für jede Metaphysik in der Tradition von Empirismus und Rationalismus, Idealismus und Transzendentalphilosophie von entscheidender Bedeutung ist. Dabei verweisen schon die Figuren von ‚Grund‘ und ‚Ursache‘ auf entsprechende Denkmodelle des Absoluten bzw. des Göttlichen, wie man sie seit den Tagen der scholastischen Theologie und darüber hinaus gekannt hat. Bei Spinozas ‚Gott‘ handelt es sich um jene Figur des Absoluten, die, noch unter der Substanzkategorie verhandelt, als der Welt immanent-unbedingte Kausalität gelten darf, in der alles gründet und die zugleich die eine Ursache von allem ist.13 Deswegen wirft Jacobi in der entscheidenden Passage seines Spinoza-Buches diesem zunächst vor, dass er „den Begriff der Ursache mit dem Begriffe des Grundes vermischt [habe; C.P.]; jenem dadurch sein Eigentümliches entzieht, und ihn in der Spekulation zu einem bloß logischen Wesen macht.“14
Diese Einschätzung teilte er im Übrigen mit seinem Freund Jean Paul. Vgl. dazu die Arbeit von: KOCH, OLIVER, Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul, Hamburg: Meiner 2013. 13 Vgl. SPINOZA, B ARUCH DE, Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Übersetzung, Anmerkung und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg: Meiner 1976, I. Teil, Lehrsätze 11–29, 11–32. 14 JACOBI, Lehre des Spinoza (Anm. 6), 282. Siehe dazu die grundlegende Arbeit von SANDKAULEN, BIRGIT, Grund und Ursache. Zur Vernunftkritik Jacobis, München: Fink 2000. – Im Folgenden greife ich auf meine Werkrekonstruktionen Jacobis zurück, wie ich sie vorgelegt habe in: POLKE, CHRISTIAN, Jacobis persönlicher Gott. Auch eine philosophische Theologie am Beginn der Moderne, in: Ders. u.a. (Hg.), Niemand ist eine Insel. Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik, Berlin/Boston: de Gruyter 2011, 12
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Der Unterschied, der dadurch eingezogen wird, liegt darin, dass der Begriff der Ursache, in so fern er sich von dem Begriffe des Grundes unterscheidet, ein E r f a h r u n g s b e g r i f f i s t , den wir dem Bewußtsein unserer Kausalität und Passivität zu verdanken haben, und der sich eben so wenig aus dem bloß idealischen Begriffe des Grundes herleiten, als in denselben auflösten läßt.15
Spinoza nun schiebt beide Begriffe ineinander und löst sie zugunsten seines monistischen Rationalismus auf. So gesehen liegen die Ausführungen aus der Ethik noch vor den freiheitstheoretischen Herausforderungen, die hundert Jahre später Kant zu seiner Differenzierung zwischen einer Kausalität aus Natur und einer Kausalität aus Freiheit führen wird16, und die auch Jacobi abgewandelt aufgreift17. Allerdings ließe sich fragen, ob Jacobi mit seiner Kritik an Spinoza drauf und dran ist, den Satz des „zureichenden Grundes“ ganz aufgeben wollen. Doch weit gefehlt. Eine Zusammenführung beider Perspektiven, durch die Begriffe von „Grund“ und „Ursache“ markiert und im Satz vom „zureichenden Grund“ angedacht, bleibt solange gerechtfertigt, als dabei die Differenz der Perspektiven gewahrt wird: So heißt der Satz des Grundes: Alles A b h ä n g i g e ist v o n E t w a s abhängig: Der Satz der Ursache: alles was g e t a n wird, muß d u r c h E t w a s getan werden. Bei dem Grunde ist in dem Worte a b h ä n g i g , das v o n E t w a s schon gegeben; und eben so bei der Ursache in dem Worte g e t a n , das d u r c h E t w a s .18
Auf der Fluchtlinie dieser Unterscheidung liegt die Differenz zwischen einem Raum der Handlungen, wie man Jacobis Wendung von den „Ursachen“ genauer spezifizieren müsste und die nicht mehr weiter zurückgeführt werden kann, und einem gleichermaßen berechtigten Raum der Gründe, die stets auf anderes rückführbar sein müssen. Dazu zählen naturgesetzliche Ordnungen wie natürlichkausale Ursachen, wohingegen der Begriff der Handlung und mit ihm, seine Implikate der Freiheit und Zeitlichkeit, eben dem ersterem zugehören: Vergißt man n i c h t die wesentliche Verschiedenheit beider Begriffe, so sitzt man mit dem Begriffe der Ursache durch welchen der Begriff e i n e r H a n d l u n g notwendig gesetzt wird, 231–259, sowie: Ders., Personalität statt Subjektivität. Friedrich Heinrich Jacobi und Dieter Henrich. Ein (fiktives) Streitgespräch, in: PhJB 120 (2013), 305–329. 15 Ebd. 16 Vgl. K ANT, IMMANUEL, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. III, Berlin: de Gruyter 1968, 303–319/B 472–479. 17 Vgl. die berühmte einleitende Abhandlung ‚Über die Freiheit des Menschen‘: JACOBI, Lehre des Spinoza (Anm. 6), 166–181. – Zum Verhältnis von Kant und Jacobi sowohl hinsichtlich ihrer gemeinsamen Anliegen als auch ihrer differenten Ansätze, siehe jetzt die umfassende Untersuchung von: SCHICK, STEPHAN, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi (Philosophische Abhandlungen 116), Frankfurt/M.: Klostermann 2019. 18 JACOBI, Lehre des Spinoza (Anm. 6), 282.
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in der Zeit unbeweglich fest; denn eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding.19
An dieser Stelle taucht zum ersten Mal der Verdacht auf, mit der Preisgabe der Differenz von wissenschaftlicher Naturbeschreibung – von Jacobi oft als „Mechanismus“ bezeichnet – und personaler Selbstbeschreibung könnten auch andere Elemente auf dem Spiel stehen, die konstitutiv mit der Erfassung humaner Personalität verknüpft sind, also etwa Freiheit oder Individualität. Im (pantheistischen) Gottesgedanken kulminieren alle diese Probleme erneut, wie Jacobi in seinem als fiktiven Dialog zwischen ihm und Lessing angelegten Spinozabuch unweigerlich klarmacht.20 Doch wenn Freiheit in der Möglichkeit begründet liegt, Urheber sein zu können, dies aber nur als zeitlich realisierbar vorgestellt werden kann, dann gerät der Schöpfergedanke in den Verdacht einer logischen Unmöglichkeit. Genau dieses Argument wird denn auch immer wieder gegen alle theistischen Versuche eingewandt, prominent u.a. von Fichte. Jacobis Argument dagegen lautet, dass diese Position nur dadurch plausibel ist, weil sie auf der Annahme beruht, dass es letztlich nur eine abschließende, d.h. letztbegründende (metaphysische) Beschreibungsperspektive geben könne (und müsse) und jene habe mit der Figur des Grundes zu argumentieren. Beharrt man dagegen auf der Irreduzibilität jenes Perspektivendualismus, dann lässt sich auch dergestalt eine Ebene der Differenz zwischen dem, was „Natürliches“ und dem, was „Übernatürliches“ genannt werden kann, aufrechterhalten und zwar ohne damit in einem kruden Supranaturalismus zu enden: Wenn Gott erfahren wird, dann als tätig. Dass es möglich sein muss, Tätigkeitsverben auf Gott anzuwenden, gehört (…) zu den elementarsten Voraussetzungen jeder sinnvollen Rede von Gott (…) das Bewusstsein von Freiheit und das davon, tätig zu sein, gehören untrennbar zusammen, und sie müssen in dieser Einheit in das Bewusstsein von Gott eingehen. Dass Gott tätig sein kann, darf darum als Erstes angesehen werden, was überhaupt von ihm gesagt werden kann (…) Dass er Person ist, ist ebenfalls darin enthalten. Wir müssen deswegen auch das Gott zuschreiben können, was eine konstitutive Bedingung für jedes Tätigsein ist. Dazu gehören aber Zeitstrukturen.21
A.a.O., 283. Ein interessanter Versuch, den personalen Theismus im Sinne eines ‚Spinozismus der Freiheit‘ (Henrich) neu zu justieren, liegt in dem Versuch von Peter Rohs vor. Vgl. ROHS, PETER, Der Platz zum Glauben (Ethica 25), Münster: Mentis 2013. 21 A.a.O., 41. Rohs Überlegungen kommen, wenngleich von einer anderen Theorietradition aus formuliert, in vielem Jacobis Anliegen und meinen eigenen, später entfalteten Überlegungen, entgegen. – Neben Zeitlichkeit gehört für ihn zu einem personalen Gottesbegriff Absichtlichkeit, was ich in § 10 purposiveness nennen werde, und Zukunftsgerichtetheit. Dies plausibilisiert sich vor einer handlungstheoretischen Metaphysik des Göttlichen, die Kant und Jacobi mit Denkern wie William James gemeinsam haben. Bei Rohs geht dies einher mit einer harten Kritik am neuplatonischen Transzendenzbegriff, der Gott außerhalb von Raum und Zeit sieht, statt ihn als intensivste und umfassendste Transzendenz ‚in‘, ‚mit‘ und ‚unter‘ 19 20
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Allerdings impliziert das Aufrechterhalten dieser Perspektivendifferenz den Übergang zu einer anderen Form der Argumentation. Nunmehr kann es nur noch um den Aufweis und die Explikation der notwendigen axiomatischen Grundannahmen gehen. Prägnant kommt dies in Jacobis sprachlich exakt gewähltem ‚Bekenntnis‘ zum Ausdruck: „Ich glaube eine vernünftige persönliche Ursache der Welt“22. Was als philosophische Aufdeckung der eigenen Prämissen oder Axiome präsentiert wird, ist von jenem – einer religiösen Binnensicht entnommenen – Credo im Sinne eines ‚Ich glaube an…‘ grundsätzlich verschieden; und zwar auch dann, wenn sich beide Einstellungen inhaltlich decken. Jacobi beschreibt letztlich diejenigen notwendigen Voraussetzungen, die gelten müssen, wenn von einer ‚Welt von Personen‘ gesprochen werden kann. Das ließe sich anhand seiner Ausführungen im Werk David Hume weiter darlegen.23 Jedoch wollen wir uns unmittelbar auf die Folgen für seine philosophische Theologie konzentrieren. Denn trifft das Gesagte zu, dann kann von Gott jedenfalls nicht einfach nur als dem ‚Wesen aller Wesen‘ die Rede sein; auch seine Bestimmung als ‚bloß der Baumeister des Weltalls‘ wäre fehlgeleitet. Erst wenn man ihn als ‚freien Schöpfer‘ denkt, ist man auf dem Niveau eines dem Menschen als Person adäquaten Gottesbegriffs. Freiheit als Merkmal der menschlichen Person wie des Schöpfergottes verweist zurück auf den Raum ‚übernatürlicher Ursachen‘, oder genauer: auf den Raum von ‚Urhebern‘: da alles, was außer dem Zusammenhange des Bedingten, des n a t ü r l i c h v e r m i t t e l t e n liegt, auch außer der Sphäre unserer deutlichen Erkenntnis liegt, und durch Begriffe nicht verstanden werden kann: so kann das Übernatürliche auf keine andere Weise von uns angenommen werden, als es uns gegeben ist; nämlich, a l s T a t s a c h e – Es IST!24
Alle Elemente dieses Raums freier Subjekte bzw. Personen lassen sich somit auch nicht von ‚außen‘ beweisen. Ihre Existenz (Realität) kann nur indirekt vermittelt durch deren eigenes Handlungszeugnis, d.h. dem Erweis ihres ‚UrheberSeins‘ anerkannt werden. Nicht zuletzt deswegen wird Jacobi später gegenüber Schellings Annäherungen in Sachen Personalität Gottes darauf beharren, dass
der Zeit zu erblicken. In diesem Sinne bleibt auch hier die Unterscheidung zwischen ‚Natürlichem‘ und ‚Übernatürlichen‘ erhalten, wird aber entscheidend umgedeutet (vgl. a.a.O., 40.49–62). 22 JACOBI, Lehre des Spinoza (Anm. 6), 26. 23 Vgl. JACOBI, FRIEDRICH H EINRICH, David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke, Bd. 2,1: Schriften zum transzendentalen Idealismus [= JWA 2,1]. hg. v. Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske, Hamburg: Meiner 2004, 9–112. 24 JACOBI, Lehre des Spinoza (Anm. 6), 289.
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jener in dessen Freiheitsschrift noch immer von einer falschen Ausgangssituation ausgeht.25 Erneut betont Jacobi: Darum fragt meine Philosophie: w e r ist Gott; nicht w a s ist er? Alles W a s gehört der Natur an. ‚Unter dem Begriffe von Gott versteht man nicht bloß eine blindwirkende Natur als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit Urheber der Dinge sein soll und dieser Begriff eines l e b e n d i g e n G o t t e s interessiert uns auch allein:‘ – so sagt Kant. Anders konnte ich mir die Sache nicht denken. 26
Mit diesem wiederkehrenden Bemühen, ‚Gott‘ und ‚Freiheit‘ miteinander zu verschränken, trifft Jacobi nicht nur den Nerv seiner Zeit, sondern er fungiert als zentraler Stichwortgeber in den intellektuellen Debatten zum Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei unterscheidet sich seine Position von den sich alsbald durchsetzenden frühromantischen und idealistischen Theorien der Subjektivität dadurch, dass er im Begriff der Person jenen Fluchtpunkt sieht, in dem göttliche und menschliche Autonomie zueinander finden. Schon der Stil seiner Arbeiten, die weniger systematisch-konzeptionell als entweder kritisch-entlarvend oder aber literarisch-rhetorisch – man denke an seine Briefromane – sind, macht auf das Leitmotto seiner Arbeiten aufmerksam: es geht um ‚Philosophie und Leben‘ oder in heutiger Sprache ausgedrückt, um das Beieinander von philosophischer Weisheit, wissenschaftlicher Expertise und lebensweltlichen Common-Sense.27 An Jacobis Auseinandersetzungen mit seinen verschiedenen Kontrahenten in den Debatten um (Lessings) Pantheismus mit Mendelssohn (und Herder), um Fichtes Atheismus und schließlich im Theismus-Streit mit Schelling um die ‚Göttlichen Dinge‘,28 zeigt sich, dass der Streit um die Personalität Gottes nie
Jacobis Ausführungen zielen auf Passagen aus: SCHELLING, FRIEDRICH WILHELM JO503), hg. v. Thomas Buchheim, Hamburg: Meiner 22011, v.a. 66–71, z. B. a.a.O., 67: „Gott, d.h. die Person Gottes, ist das allgemeine Gesetz“. 26 JACOBI, FRIEDRICH H EINRICH, Vorbericht (1819), in: Ders., Lehre des Spinoza (Anm. 6), 307. Dazu siehe auch: SANDKAULEN, BIRGIT, Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen, in: Walter Jaeschke/dies. (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 29), Hamburg: Meiner 2004, 217–239. 27 Zu diesem Grundthema philosophischer Aufklärung und kritischer Zeitgenossenschaft um 1800: SANDKAULEN, BIRGIT, System und Leben. Das Laboratorium Aufklärung aus philosophischer Sicht, in: Olaf Breidbach/Hartmut Rosa (Hg.), Laboratorium Aufklärung (Laboratorium Aufklärung 1), München: Fink 2010, 69–85. – Zum Theismusstreit siehe auch meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Von göttlichen Dingen. Jacobi und das Problem von Theismus und Naturalismus, in: Christian Danz/Jürgen Stolzenberg/Violetta L.Waibel (Hg.), Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811–1821), Hamburg: Meiner 2018, 7–30. 28 Einen ersten Überblick gibt der Sammelband von: ESSEN, G EORG/ D ANZ, C HRISTIAN (Hg.), Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012. 25
SEPH, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (PhB
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eine Frage reiner Theorie oder metaphysischer Spekulation war, sondern grundsätzliche Aspekte kultureller und religiöser Lebenshaltung betraf. Man könnte sogar behaupten: Um nichts Geringeres als um die Wahrung der Humanität im Streit um Idealismus und Materialismus und um deren Sicherung und Vergewisserung im Absoluten ging es den Protagonisten. Aber dazu musste eben klar sein, wie Vernunft und Leben, Individualität und Freiheit, Gott und Welt zueinander ins Verhältnis zu setzen sind und wie man ihrer Realität gewiss werden konnte. So standen religiöse bzw. theologische Fragen im strengen Sinne gar nicht im Vordergrund der Debatten, obgleich sie immense Auswirkungen darauf hatten, wie nicht nur in intellektuellen Zirkeln, sondern auch in der kulturellen Avantgarde die (christliche) Religion als „Angelegenheit des Menschen“ (Spalding) wahr- und ihr Gottesbegriff rational ernstgenommen wurde. Wie abständig Jacobis Position damals für viele wirkte und wie anders sie aus heutiger Sicht gelesen werden kann, weil metaphysischen Letztbegründungen starke Zweifel entgegengebracht werden, offenbart eine Passage aus seinem Sendschreiben an Fichte im Umfeld des sog. Atheismusstreits. Jacobi spricht darin das Thema der Relevanz und Reichweite metaphysischer Spekulationen auf die religiöse Lebenspraxis an. Idealtypisch stellt er dort dem europäischen Gelehrten einen frommen Wilden gegenüber, die sinnbildlich für die Typen des metaphysischen Theoretikers und des praktizierenden Gläubigen stehen können. Der Abschnitt, der vor allem gegen Ende nicht der Ironie entbehrt, soll hier in voller Länge wiedergegeben werden: Ein andermal berichtet er von einem Europäer, »der war in Amerika und wollte den berühmten Waßerfall eines gewissen Stromes sehen. Zu dem Ende handelte er mit einem Wilden, daß er ihn hinführte. Als die beiden ihren Weg vollendet hatten, und an den Waßerfall hinkamen – machte der Europäer große Augen und untersuchte; und der Wilde legte sich, so lang er war, auf sein Angesicht nieder, und blieb so eine Zeitlang liegen. Ihn fragte sein Reisegefährte: Wozu und für wen er dies thue? Und der Wilde gab zur Antwort: Für einen großen Geist.« Meine Meynung hierbey ist: der Bote im Walde habe wirklich an Gott gedacht; und der Wilde, der vor einem Waßerfall auf sein Angesicht niederfiel, den wahren Gott vor Augen und im Herzen gehabt. So gar vor einem plumpen Heiligenbilde, behaupte ich, könne ein Andächtiger, wenn nur das Herz in seiner Brust sich recht erhebe, von den erhabensten Empfindungen und Gedanken, von wesentlicher Wahrheit ganz durchdrungen sein, und, selbst geheiligt, davon gehen. Es ist allerdings ein ekelhafter Anblick, das Knien vor einem solchen Bilde, wenn man nicht weiß was in dem Knieenden vorgeht, oder davon abstrahiert, und nur auf das Bild achtet. Ich stelle aber einen Philosophen daneben mit seinem reinen bloßen Begriff von Gott. Dieser wettet nicht mit seinem Begriff, denn er weiß, dieser Begriff ist überschwenglich, und auf einen solchen Begriff, daß ihm ein Gegenstand entspreche, läßt sich in philosophischer Weise nicht wetten. Also fällt er auch nicht vor diesem zweydeutigen Gegenstande, den er nur seyn läßt aus Ursachen, ohne ihm das Daseyn wirklich und in vollem Ernste einzuräumen – er fällt nicht vor seinen eigenen ungewissen Gedanken nieder auf sein Angesicht – Es wäre zu lächerlich! So beugt er auch nicht gefühlvoll die Knie: die Empfindung und die Stellung verletzen seine Würde! Er bleybt bei kaltem Blute, wohlwißend womit er es zu thun hat. Hoch aufgerichtet stellt er seinem Gotte sich gegenüber, um
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vor seinem Angesichte, mit vollkommener Gegenwart des Geistes – Nur sich selbst zu achten.29
Aufschlussreich für unser Thema ist diese Stelle nicht so sehr deswegen, weil sie belegt, dass auch Jacobi die Problematik naiver Religiosität kannte, weswegen er primitive Anthropomorphismen und Fetischismen brandmarkte. Interessanter ist vielmehr, wie er hermeneutisch die Frage bearbeitet, wie man zu einer sachhaltigen Gottesidee gelangt. Seine Antwort ist im Grunde banal: nur über religiöse Praxis, in der jede Glaubensvorstellung, so auch jede über ‚Gott‘, fundiert ist. Das ist kein Plädoyer für einen religiösen Fideismus oder gar Irrationalismus.30 Denn Jacobi illustriert mit diesem Beispiel ja, dass auch alle religiösen Realitätsbehauptungen, wie sie sich kultisch artikulieren, sich einer philosophischen Analyse unterziehen lassen. Entscheidend ist nur, ihren spezifischen Handlungskontext als Herkunfts- und Bewährungsort nicht zu übergehen. Überträgt man das auf die Situation der Debatte mit Fichte um die Personalität und – was in diesem Fall ja problematischerweise gleichgesetzt wurde: um die Existenz Gottes, so wird deutlich, worin Jacobi das entscheidende Problem bei seinem Kontrahenten sieht: Fichte bemüht sich um eine Begründung des Lebens in der Philosophie, der Religion in der Metaphysik31; wohingegen man den Sinn
29 JACOBI, FRIEDRICH H EINRICH, Jacobi an Fichte (1799). Beylage III, in: JWA 2,1 (Anm. 23), 238f. 30 Jacobis Figur des ‚Salto mortale‘ muss als Metapher präzise verstanden werden, um zu sehen, dass mit ihr nachgerade kein Irrationalismus anvisiert ist: „Denn wenn es auch nicht um die Alternative geht, sich entweder auf dem Boden der Philosophie zu bewegen oder kopfunter in den Abgrund zu springen, sondern vielmehr um die ganz andere Alternative, angesichts der ‚Unüberwindlichkeit des Spinozismus‘ entweder konsequent die ‚Partie‘ Spinozas zu nehmen oder im nicht weniger konsequenten Widerspruch als der ‚Antipode von Spinoza‘ (Spin 29) ‚jenseits wieder fest und gesund auf die Füße zu kommen‘, so kann doch keine Rede davon sein, daß sich dieser jenseitige Boden der ‚Unphilosophie‘, den es nur gibt, wenn man ihn unbegründet, aus freien Stücken betritt, in derselben Weise abschreiten ließe wie derjenige der ‚Allein-Philosophie‘.“ (SANDKAULEN, Grund und Ursache [Anm. 14], 33) – Damit ist nichts Anderes behauptet, als dass auch die Vernunftkritik Jacobis im vernünftigen, d.h. begründenden Aufweis der Grenzen z.B. des Systemdenkens besteht. Wie sehr Jacobi übrigens gegen irrationalistische Strömungen seiner Zeit allergisch war, belegen in seiner Biographie vor allem die tiefen Zerwürfnisse mit den vormaligen Weggefährten Johann Georg Hamann und Matthias Claudius. 31 Setzt man so an, wird das Argument Fichtes aus dem Atheismusstreit in der Tat stimmig, wonach alle Personen endlich sind und das Göttliche als das Absolute eo ipso unendlich und daher nicht personal sein kann. Vgl. FICHTE, JOHANN GOTTLIEB, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: Fichtes Werke, Bd. V: Zur Religionsphilosophie, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: de Gruyter 1971, 187. – Jacobis Vorgehen geht in die umgekehrte Richtung: Wenn wir in unserem personalen Selbsterleben unweigerlich auf die Dimension des Göttlichen – als eines absolut Unbedingten und Spontanen – stoßen, dann liegt darin der rationale Kern personaler Gottesvorstellungen, was auch immer darunter konkret verstanden wird (und wiederum philosophisch kritisiert werden kann).
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und die Wahrheit von Religion und anderen kulturellen Gestalten nur dann ergründen (und auch kritisieren) kann, wenn man auf das in ihrem Eigenleben sich bekundende Denken, ihre Philosophie, achtet. Jacobi veranschaulicht prototypisch an seinem ‚Wilden‘ die Überzeugung, die auch meinen Ausführungen zugrunde liegt, weswegen ich diese Stelle ausführlich zitiert habe: Jede theologische und religionsphilosophische Analyse der Rede von Gott muss ihren Ansatzpunkt in der religiösen Praxis wählen. Dort werden diejenigen Bilder und Ideen vom Göttlichen erzeugt, symbolisch prägnant artikuliert und nachhaltig revidiert, die noch die Deutungen über den Menschen und über dessen In-der-Welt-Sein prägen. Jacobis ‚Wilder‘ erkennt im Akt des Niederkniens frei-willentlich die Präsenz des Göttlichen in seiner Lebenswelt an und kann darüber noch, wie die Antwort auf die Nachfrage des Europäers zeigt, Rechenschaft abgeben. Er überschreitet die Wirklichkeit seines eigenen Ichs in der Anerkennung einer ihm entgegentretenden, aber mit ihm in Korrespondenz stehenden Realität, eines ‚großen Geistes‘. Genau darin ist er mehr als Subjekt oder Ich, er ist Person.32 Und wenngleich auf sehr primitive Weise, da noch nicht über die angemessenen Begrifflichkeiten verfügend, gibt er ein Beispiel personaler Religiosität, die, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, zur Personalität Gottes führt, weil dies der für in der Zeit handelnde, freie und moralisch verantwortliche, in intersubjektiven und zeichenhaft erschlossenen Kontexten situativ verortete Individuen, eben Personen, adäquate Gottesbegriff ist. Dieser Gott kann aber nicht mehr (nur) gedacht werden, er muss vielmehr als ‚real‘ in meiner Handlungsgegenwart von mir angenommen werden (können), wenn er für mich gültig sein soll. In diesem Sinne habe ich an anderer Stelle die These vertreten, dass Jacobi ein proto-pragmatistischer Denker ist.33 Der Streit um die ‚Göttlichen Dinge‘ um 1800 bildet nur den Auftakt für eine Reihe von weltanschaulich-ideologischen Auseinandersetzungen, wie sie das 19. Jahrhundert dann prägen wird. Das Ringen um ein den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der sich anbahnenden Moderne angemessenes Selbst- und Weltbild wird dabei immer mehr aus metaphysischen und religiösen Rahmungen gelöst. Und doch bleibt es weiterhin virulent, Freiheit als personales Kriterium für Auszeichnung des Menschen zu verteidigen. In den Versuchen ihrer Einklammerung durch wissenschaftliche Reduktionismen oder
32 Ich kann nur andeuten, was hier im Hintergrund steht: Jacobis Invektiven gegen Fichtes frühe Wissenschaftslehre, die für ihn im Kern ein auf den Kopf gestellter, am Ich fixierter Materialismus oder leerer Idealismus ist. Vgl. dazu: SANDKAULEN, BIRGIT, Ichheit und Person. Zur Aporie der Wissenschaftslehre in der Debatte zwischen Fichte und Jacobi, in: Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hg.), System und Systemkritik um 1800, Hamburg: Meiner 2011, 45–68. 33 Vgl. POLKE, Jacobis persönlicher Gott, in: Niemand ist eine Insel (Anm. 14), 251–258. Dort habe ich von einem „Pragmatisten avant la lettre“ (a.a.O., 256) gesprochen.
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materialistische Naturalismen sahen viele der Protagonisten einer am Personengedanken orientierten Philosophie eine langfristige Gefahr für eine Kultur der Humanität. Dabei waren es vor allem zwei Tendenzen, die bereits von Jacobi angedeutet wurden, die dann die Gemengelage der folgenden Jahrzehnte kennzeichnete: Zum einen verschärften sich die Probleme in dem Moment, als mit dem Ende der Vorherrschaft der Hegel’schen Philosophie der monistische Grundzug im Kern zwar beibehalten nun aber materialisiert wurde.34 Der Siegeszug des Naturalismus ist gewiss nicht dem Scheitern idealistischer Systeme geschuldet; wohl aber haben industrielle Revolution, technische Innovationen und Evolutionstheorie das Ihrige dazu getan, dass deren Plausibilität nach und nach schwand. Was jedoch blieb, war der reduktionistische Anspruch auf ein einheitliches Welterklärungsmodell. Zum anderen insistierte Jacobi auf eine Mehrperspektivität, um der Vielgestaltigkeit der Realität Rechnung zu tragen. Nur wenn der Raum der Handlungen vom Raum der Gründe unterschieden, wenngleich nicht getrennt bleibt, lässt sich personale Freiheit aufrechterhalten. Darin Kant nicht unähnlich ging es ihm ganz generell darum, „die Anmaßungen der Philosophie gegenüber dem gesunden Menschenverstand zurückzuweisen und ein unmittelbares Realitätsbewusstsein zu affirmieren“35. Mag es ihm auch nicht gelungen sein, die vorgängige Realität, in die Menschen schon immer verstrickt sind, mit der freien Interaktion von und Gestaltung durch Personen sinnvoll zusammenzubinden, so ist doch klar: Nur wenn der Theorieanspruch von Wissenschaft und Philosophie zugunsten dieser primären praktischen Welt- und Selbsthabe des Menschen begrenzt werden kann, lässt sich das Faktum der Freiheit und damit die Möglichkeit der personalen Freiheit Gottes in mögliche Deutungen der Wirklichkeit integrieren, ohne in Widersprüche zu geraten. Die mentalitäts- und ideengeschichtliche Konstellation, wie man sie aus den Debatten Jacobis herausarbeiten kann, dauert im Grunde – was die mögliche Explikation und Rechtfertigung des Personenbegriffs als Basiskategorie unseres Welt- und Selbstverständnisses betrifft – bis heute an. Nicht nur die liberaltheologischen Bemühungen um die „Rettung der Persönlichkeit“ (F.W. Graf36)
34 Zur Debattenlage in Deutschland, insbesondere zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft(en), immer noch grundlegend: SCHNÄDELBACH, HERBERT, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, v.a. 88–137. 35 A RNDT, A NDREAS, Ontologischer Monismus und Dualismus. Zur Vorgeschichte des Problems, in: Ders./Walter Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg: Meiner 2000, 1–21, 11. 36 Vgl. G RAF, FRIEDRICH W ILHELM, Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Rüdiger vom Bruch/ders./Gangolf Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart: Steiner 1989, 103–131.
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gehören zu dieser Wirkungsgeschichte. Zu nennen wären weiterhin die Gründungsgeneration des Pragmatismus, vor allem William James37, aber auch die Protagonisten in den Anfängen nachhegelscher Sozialtheorien38. Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass die Rede von der Person bzw. von Personalität ihre gegenwärtige Relevanz nicht zuletzt ihren moralischen, rechtlichen und auch politischen Bedeutungsaspekten und Verwendungsweisen verdankt. Demgegenüber verliert sich die für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert eingängige Redeweise von der ‚Persönlichkeit Gottes‘ in der Literatur. Das hat nicht zuletzt mit den stark monistischen Grundtendenzen zu tun, die sich damit häufig genug verbanden. Sowohl in konservativen als auch in liberalen Kreisen wurde der Begriff der ‚Persönlichkeit‘ religiös aufgeladen, was zwar einem zumeist protestantisch getönten Innerlichkeitsideal entsprach, sich aber durchaus in Abstand zu entsprechenden politischen und moralischen Emanzipationsbewegungen halten konnte: „Hier wie dort werden stark harmonieorientierte Integrationskonzepte entwickelt, die an der Vision sittlicher Konkordanz von Individuum und Gemeinschaft orientiert sind“39 und deren metaphysische Letztgründung in einem entsprechenden Gottesgedanken gesucht wird. Die damit geforderte metaphysische Beweislast ist einigermaßen hoch, vor allem angesichts natur- wie kulturwissenschaftlicher Einsichten. Demgegenüber ist es der Vorzug des Begriffs der ‚Person‘ einerseits für unterschiedliche Bedeutungskontexte offener und andererseits bescheidender mit Blick auf die normativen Ansprüche zu sein. Er kann deshalb auch primär als ein Strukturbegriff fungieren. Hingegen eint die vielschichtigen Stränge dessen, was man etwas pauschal personalistisches Denken nennen kann40, ein Dreifaches: Erstens stehen sie nicht in Frontalopposition zu den Leistungen der Naturwissenschaft und Technik. Ihre Absage an naturalistische Welterklärungsmuster zielt lediglich auf deren Totalitätsanspruch; zweitens teilen sie mit ihren Opponenten darüber hinaus die Auffassung, wonach wissenschaftliche wie lebensweltliche Gewissheiten nur noch um den Preis der Akzeptanz ihrer Kontingenz zu gewinnen sind. Letzt-
Vgl. CROCE, PAUL JEROME, Science and Religion in the Era of William James: Eclipse of Certainty, 1820–1880, Bd. 1, Chapel Hill/London: The Univ. of North Carolina Press 1995. 38 Vgl. B RECKMAN, W ARREN, Marx, the Young Hegelians, and the Origins of Radical Social Theory. Dethroning the Self (Modern European Philosophy), Cambridge u.a: Cambridge Univ. Press 2001. – Den Hinweis auf diese instruktive ideengeschichtliche Studie verdanke ich Wayne Proudfoot (New York). 39 TANNER, Κ LAUS, Von der liberalprotestantischen Persönlichkeit zur postmodernen Patchwork-Identität, in: Friedrich Wilhelm. Graf/ders. (Hg.), Protestantische Identität heute (FS für Trutz Rendtorff), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1992, 96–104, 98. 40 Vgl. B ENGTSSON, JAN-O LOF, The Worldview of Personalism. Origins and Early Development, Oxford/New York: Oxford Univ. Press 2006. 37
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§1 Die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott
begründungsversuche, ganz gleich, ob sie religiöser, metaphysischer oder geschichtsphilosophischer Art sind, müssen letztlich scheitern. Drittens, und erst dies hebt sie von den naturalistischen Optionen ab, teilen sie mit Jacobi die Überzeugung, dass ein kontingenzsensibler Umgang mit Gewissheiten gerade eine Chance für die Wiedergewinnung der personalen Dimension der Realität und ihrer Lebensformen bildet, insofern jede Verständigung über Wirklichkeitseinsichten davon abhängt, dass sie sich in der Handlungspraxis, der sie bekanntlich entstammen, bewähren und kontinuieren. Damit lässt sich nun allerdings noch einmal die Frage nach der Plausibilität von religiösen Überzeugungen, wie dem personalen Gottesglauben, stellen. Gelingt es nämlich, die Perspektiven von Lebenswelt, Wissenschaft und Religion als verschiedene Modi der Wirklichkeitserkenntnis und -gestaltung zu verteidigen, dann lässt sich eine „Hermeneutik konkreter Welthabe“41 konzipieren, in dem die Realitäten von personaler Freiheit und Individualität ebenso Platz haben wie der Glaube an den (einen) personalen Gott. Ja, mehr noch, dann wäre die wechselseitige Erschließung des humanen Selbst und seines göttlichen Anderen im Zeichen von Personalität nicht nur eine historisch zwar einflussreiche aber vergangene Konstellation gewesen, sondern die Entdeckung der Person in der Frage nach Gott wäre noch gar nicht abgeschlossen. Diesem Entdeckungsund Konstitutionszusammenhang nachzugehen, ist die Aufgabe dieser Arbeit.
41 Unter diese Formel stellt Christoph Seibert seine Interpretation der Religionsphilosophie von William James. Vgl. SEIBERT, CHRISTOPH, Religion im Denken von William James. Eine Interpretation seiner Philosophie (RPT 40), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 14.
§ 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus – Zum religionsphilosophischen Ansatz der Arbeit Am Ende des vorangegangenen Paragraphen klang die Vermutung bereits an, dass für eine zeitgemäße Rekonstruktion des Sinns der Rede von der Personalität Gottes unter veränderten Lebens- und Wissensbedingungen die Tradition des amerikanischen Pragmatismus lohnend sein dürfte. Wenn ich im Folgenden meinen Ansatz unter bewusstem Rückgriff auf diese und eine weitere philosophische Strömung theoriegeschichtlich einordnen will, dann ist natürlich sofort hinzuzufügen, dass es sich hier um eine selektive, gleichwohl aber sachorientierte Auswahl von Denkmotiven beider Traditionen handelt, die, wenn auch nicht für alle, so doch für eine wesentliche Anzahl ihrer Vertreter als typisch erachtet wird. Meine Orientierung am Pragmatismus wird unter diesen Gesichtspunkten ergänzt durch die kontinentaleuropäische Tradition des hermeneutischen Historismus1. Ergänzt aber nicht im rein additiven Sinn, sondern es wird der Versuch unternommen, beide Theorietraditionen zu kombinieren. Rechtfertigen ließe sich das zunächst mit dem Verweis auf ähnliche historische Problemkonstellationen, auf die sie produktiv reagierten und sich dabei teilweise sogar beeinflussten2. Dabei wird nicht behauptet, das Verhältnis zwischen Pragmatismus und Historismus sei jemals spannungsfrei gewesen. Gleichwohl soll wenigstens angedeutet werden, worin das Produktive einer Kombination beider Theorieoptionen liegt.
1 Von ‚hermeneutischem Historismus‘ spreche ich, weil es um die prinzipielle Anerkennung des geschichtlichen Gewordenseins und Werdens aller Wirklichkeitserkenntnis geht. Damit verbunden ist die Einsicht in den Werdecharakter aller Wirklichkeit, wie sie kulturell geformt und gestaltet wird. Hermeneutisch ist dieser Ansatz deswegen zu bezeichnen, weil jedes Verstehen und Erkennen von Wirklichkeit zugleich das Involviert-Sein derjenigen impliziert, die sich um Einsichten bemühen. 2 Zumindest in eine Richtung ist dies offenkundig, nämlich mit Blick auf William James und seine Rezeption durch Ernst Troeltsch. Dazu unter § 2.2 mehr.
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§ 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus
1. Historismus und Pragmatismus: Historische Konstellationen, systematische Implikationen 1. Historismus und Pragmatismus
Zum besseren Verständnis der Gemeinsamkeiten der zwei Traditionen ist es sinnvoll, zwischen Denkmotiven, die sich aus dem Problembewusstsein für eine bestimmte historische Konstellation ergeben, und den systematischen Implikationen, die dann theorieleitend geworden sind, zu unterscheiden. Auch wenn Historismus und Pragmatismus ihren Entstehungsort auf verschiedenen Kontinenten hatten, lassen sich beide Bewegungen als Reaktionen auf den philosophischen Bewusstseins- und lebensweltlichen Mentalitätswandel in der nachhegelschen Epoche seit 1840 begreifen. Zu den sozioökonomischen Signaturen dieser Zeit gehört die fortschreitende Industrialisierung und mit ihr die verstärkte Urbanisierung von Gesellschaften. Aus politischer Sicht ist diese Epoche durch den Kolonialismus geprägt, der unmittelbare Auswirkungen auf die Prägung der Wissenschaften und auf die Verbreitung der Technik zeitigte. Jeder dieser Faktoren fließt mit ein, beschäftigt man sich näherhin mit den Umwälzungen auf dem Gebiet von Wissenschaften und Philosophie. An vorderster Stelle ist hierbei natürlich an Darwin und die Entdeckung der Evolution zu denken. Hatte die Philosophie ihre Vormachtstellung als Orientierungsmacht, die den Wissenschaften ihren Platz zuwies3, ohnehin schon durch den Siegeszug naturwissenschaftlicher Forschung und Techniken verloren, so entzog das genetisch rekonstruierende evolutionäre Denken allen epistemologischen Fundamentalismen gleich welcher Couleur endgültig die Plausibilität. Es war dieses nicht nur gefühlte Scheitern von metaphysischen und religiösen Letztgewissheiten, das wesentlich dazu beitrug, dass sich – trotz mancher Bemühung von spätidealistischen und neohegelianischen Denkern – Naturalismus und Historismus als Weltdeutungsmodelle rasch durchsetzen konnten4. So erklären sich Plausibilisierungsdruck und Rechtfertigungszwang, denen sich in diesem geistigen Klima diejenigen Wissenschaften ausgesetzt fanden, die, wie Philosophie und Theologie, an Geltungsfragen interessiert waren. 3 Im Sinne von Philosophie als eines ‚Platzanweisers‘. Damit wird auf eine Formulierung von Jürgen Habermas angespielt, die er in: HABERMAS, JÜRGEN, Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M.Suhrkamp 1983, 9–28, 11, vorgenommen hat. Habermas hat als einer der wenigen frühzeitig auf die historischen und systematischen Verbindungen von Pragmatismus und hermeneutischer Philosophie hingewiesen (vgl. a.a.O., 17f.26). – Noch deutlicher und weniger einseitig steht das Werk von Hans Joas für die Kombination von Historismus und Pragmatismus. Siehe: JOAS, HANS, Historismus und Pragmatismus. Meads Philosophie der Zeit und die Logik der Geschichtsschreibung, in: DZPh 63 (2015), 1–21. 4 Zur Parallelität dieser beiden Erscheinungen siehe auch die Überlegungen von: TROELTSCH, ERNST, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Teilband 1 (= KGA 16.1), hg. v. Friedrich W. Graf, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 281–291.
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Das neue Wissenschaftsideal, das mit sozialem Fortschrittspathos einherging, drängte sowohl in den Natur- wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften darauf, nunmehr empirisches Faktenwissen mit (kausaler) Gesetzeserklärung oder jedenfalls wirkungsgeschichtlicher Kontextualisierung zu verbinden. Wo die derart in die Defensive geratenen Geisteswissenschaften sich nicht mit der ihnen zugedachten Rolle einverstanden erklärten, gingen sie dazu über, das naturwissenschaftliche Erklärungsideal programmatisch als für ihren Bereich kurzerhand zu sistieren, oft verknüpft mit kulturpessimistischen Untertönen. Was später unter ‚Historismus‘ als Sammelbegriff fungiert, hat hierin einen seiner Ursprünge. So kommt es schließlich zu dem paradoxen Faktum, dass das 19. Jahrhundert wissenschaftshistorisch gleichzeitig das Jahrhundert des Siegeszugs der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung sein konnte als auch das ‚Jahrhundert der Geisteswissenschaften‘. Für die religiöse Lage, auf die Theologien reagieren mussten, kommt hinzu, dass sich in beiden Wissenschaftskulturen oftmals der Anspruch auf die eigene methodische Vorrangstellung mit ideologischen Tendenzen verband. Unterfüttert durch ein gestärktes Nationalbewusstsein übernahmen sie Weltbildfunktion und dienten als Weltanschauungs- bzw. Religionsersatz. Dies hat auch mit dem Rückgang religiöser Prägungen vornehmlich unter gesellschaftlichen Eliten und im Kreis der Intellektuellen zu tun. In diesem Umfeld griff auch zum ersten Mal ein Thema weit über kleine Zirkel und den Kreis von Denkern und Wissenschaftlern hinaus, das bis heute das soziokulturelle Klima auf dem Gebiet der Religion in den westlichen Gesellschaften dominiert: der Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft und mit ihr die Dauerkrise des Gottesglaubens. Von ihrer Genese entspringen Historismus und Pragmatismus somit einer ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Konstellation, die durch ein verstärktes Krisenbewusstsein geprägt ist, das zum Verlust absoluter Gewissheiten und zur Absage an Letztbegründungsstrategien geführt hat. Umgekehrt ist es die Einsicht in die Kontingenz von sowohl lebensweltlicher Gewissheiten und religiöser Überzeugungen wie von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in produktiver Weise die historistischen und pragmatistischen Neuansätze hat beflügeln können. Ohne ins Detail gehen zu können, sind es wesentlich fünf Aspekte, die als Motive die Denkbewegungen beider Strömungen geprägt haben und die auch für unser Anliegen von Bedeutung sind. Wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung sind sie von Historisten wie Pragmatisten ins Zentrum ihrer Theoriebemühungen gerückt worden. Damit gehe ich zu den systematischen Implikationen über. Als erster Aspekt (1) wäre die Kontingenz der Weltwahrnehmungen und der Weisen der Wissensgewinnung zu nennen. Ihr korrespondiert die These von der Offenheit und Unabgeschlossenheit des Wissens wie auch der Welt oder des Universums als dem, von dem gewusst werden kann. Unter der Offenheit des Universums ist nicht nur die permanente Veränderlichkeit der Sachverhalte ge-
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§ 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus
meint, die es wissenschaftlich zu erforschen gilt, sondern mehr noch fassen Historismus und Pragmatismus darunter den Prozesscharakter der Realität. Dies liegt Wilhelm Diltheys Kritik der historischen Vernunft ebenso zugrunde wie Ernst Troeltschs praktischer Geschichtsphilosophie oder John Deweys Theorie der Forschung5. Der Kontingenz der Weltwahrnehmung entspricht sodann die Kontingenz ihrer wissenschaftlichen Erklärungsmodelle und Beschreibungen. Es gehört zur Einsicht historistischen und pragmatistischen Denkens, dass zur kritischen Selbstreflexion von Wissenschaft gleichermaßen die Einsicht in ihre historische Genese als auch im Lichte gegenwärtigen Problembewusstseins verantwortungsvoll Zukunft gestalten zu müssen, gehört. Deswegen ist damit auch keine Absage an Geltungsansprüche verbunden. Im Gegenteil. Vielmehr wird darin das Gebot zur hypothetischen Formulierung von (wissenschaftlichen) Wahrheitsbehauptungen ausgesagt, was sogar noch die Möglichkeit einer hypothetischen Metaphysik erlaubt. Aus dem ersten Aspekt folgen zwei weitere, die man als doppelte Absagen lesen kann. Zum einen (2) richten sich diese gegen falsche Dichotomien, von denen die prominenteste diejenige zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ bzw. Naturund Kultur- bzw. Geisteswissenschaften darstellt. Damit ist nicht der Sinn von Leitunterscheidungen wie Natur/Kultur, Körper/Geist, Glauben/Wissen etc. bestritten. Was jedoch vor allem unter den Gründungsvätern des Pragmatismus zu erheblicher Kritik führte, ist die oftmals damit verbundene Neigung, aus bereichsspezifisch gerechtfertigten Methodendifferenzen harte epistemische oder ontologische Trennungen zu folgern. Charles Sanders Peirce’ berühmte Auseinandersetzung und triftige Widerlegung der cartesianischen Prämissen neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaftstheorien stellt vielleicht nur die aufschlussreichste Position in dieser Hinsicht dar6, der es zugleich gelingt, ein positives Alternativmodell vorzuschlagen: die Idee eines evolutionären Realitätskontinuums, in dem Natur und Kultur (Geist) bei aller Differenz, die in ihrer perspektivischen Wahrnehmung von Nöten ist, nicht voneinander getrennt erscheinen müssen. Dies ermöglicht es, aus der prinzipiellen Abwehrhaltung gegenüber naturwissenschaftlichen Ansätzen zur Interpretation der Genese und
5 Vgl. JÄGER, FRIEDRICH, Ernst Troeltsch und John Dewey: Religionsphilosophie im Umfeld von Historismus und Pragmatismus, in: Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt/M./New York: Campus 2011, 107–130. 6 Vgl. nur: PEIRCE, C HARLES S., Die Festlegung einer Überzeugung (1877), in: Ders., Schriften, Bd. I: Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, 297–325. Peirce verbindet in diesem wie in anderen Texten aus der Frühphase seine Kritik an der Möglichkeit absoluten Zweifels mit dem Aufweis, dass wir schon immer mittels Denk- als Verhaltensgewohnheiten eingebettet sind in ein den Dualismus von res cogitans und res extensae übergreifenden, integralen Handlungszusammenhang von Selbst und Welt.
1. Historismus und Pragmatismus
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Funktion von religiösen Glaubensansichten und Gottesvorstellungen herauszukommen, ohne dabei in das andere Extrem zu verfallen. Man kann hier in Aufnahme eines Terminus von Matthias Jung von einem „Differenzholismus“7 reden, der jedoch selbst stets vorläufig ist. Damit zusammen gilt es zum anderen (3) allen Versuchen zu wehren, die in reduktionistische Erklärungsmodelle münden; sei es, dass sie von eher methodischer Art sind, sei es, dass sie gar das Ziel einer umfassenden Wirklichkeitsdeutung verfolgen. Mit der prinzipiellen Absage an reduktionistische Vorgehensweisen auf dem Gebiet des lebensweltlichen Verstehens wie der wissenschaftlichen Expertise verbinden Historismus und Pragmatismus ihr Plädoyer für den „dramatischen Reichtum der konkreten Welt“8. Diesen analysieren und verstehen zu können, bedarf daher einer Vielfalt an wissenschaftlichen Methoden, die je für sich allerdings nicht ohne das zu ihrer Hypothesen- und Regelbildung gehörende Moment der Reduktion auskommen können. Reduktionismen entstehen stets dann, wenn aufgrund der Dominanz einer bestimmten Wissenschaftsmethodik ganze Bereiche von lebensweltlicher Erfahrung und an Wirklichkeitszugängen per se von gültiger Erkenntnis ausgeschlossen oder aber in ihrer Eigenart wegerklärt werden. Demgegenüber kann ein Perspektivenpluralismus als Gegenmodell skizziert werden, der mit der Überzeugung verbunden ist, dass die Erfahrungsuniversen offen und unabgeschlossen sind; wir somit in dieser Hinsicht angesichts der Pluralität von Wissenschaftspraktiken in einem ‚pluralistischen Universum‘ – mit William James gesprochen – leben. Wie die zwei vorangegangenen hängen auch der vierte und der fünfte Aspekt unmittelbar zusammen. Der vierte Aspekt (4) zielt auf den Handlungscharakter aller Welterfassung und Wissenschaftspraxis. Darin eingeschlossen ist negativ die Kritik am Ideal des Deanthropomorphismus wissenschaftlicher Erkenntnis und positiv das Beharren auf der personalen Prägung und Verantwortung allen Wissens. Mit dem unschönen Ausdruck des ‚Deanthropomorphismus‘ soll daran erinnert werden, dass sowohl Pragmatismus wie Historismus darauf beharren, dass alle Wissensproduktion und jede sie leitende Methodologie einer anthropologischen Prägung unterliegen. Weder ist damit geleugnet, dass es zur Methode etwa von Strukturwissenschaften (z.B. Mathematik) gehören kann, möglichst weit von anthropomorphen Modellen zu abstrahieren, noch soll schlicht an die lebensweltliche Verortung von Wissenschaft erinnert werden. Vielmehr geht es um methodische Selbstreflexion von Wissenschaft, das Nachdenken über ihre kulturell gewachsene und historisch bedingte Prägung angesichts von
7 Vgl. JUNG, M ATTHIAS, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 2.6.54–61.197–200. Kursiv im Haupttext durch mich. 8 Vgl. JAMES, W ILLIAM, Das Gefühl des Vernunftgemäßen (1879), in: Ders., Essays über Glaube und Ethik. Ausgewählt von Ralph B. Perry, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1948, 68–111, 74.
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Fragen und Problemen, Situationen und Herausforderungen, vor die sich humane Lebensformen gestellt sehen. Erneut mit William James: „The trail of human serpent is thus over everything.“9 Weil Wissenschaft und Kultur auf Handlungszusammenhängen beruhen, bei denen es um das Konfrontiert-Sein mit und das Lösen von Problemen geht, kann von dieser Praxisverortung menschlicher Lebensformen nicht abgesehen werden.10 Kultur als Ensemble humaner Gestaltungspraxen, zu denen Wissenschaften gehören, hat stets ein in diesem Sinne anthropomorphes Gepräge. Schließlich stellt sich mit der Einsicht in den Handlungscharakter aller Welterfassung und Wissenschaftspraxis noch einmal die Frage nach dem Zusammenhang von Wissenschaft und Lebenswelt (5). Zur Geschichtlichkeit von Wissenserkenntnis und -produktion gehört das Ernstnehmen der Endlichkeit und Vorläufigkeit ihrer Resultate. Dadurch wird jedoch die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit und Geltung nicht obsolet. Vielmehr lässt sie sich dahin rückbinden, wo sie entstanden ist. Wahrheitssuche und Fortschritte in wissenschaftlichen Einsichten und Erkenntnissen stehen daher für Historisten wie Pragmatisten nie losgelöst von der Frage ihrer praktischen Bewährung als Problemlösungsversuche gegenüber den Aufgaben, denen sie sich widmen. Solange man auf die oben genannte Perspektivenpluralität und den Verzicht auf reduktionistische Modelle achtet, liegt darin auch kein funktionalistisches Missverständnis vor. Eher wird man von einer gewachsenen Verantwortung der Forscher wie der scientific community als ganzer sprechen können, ihre Aufgaben standortbezogen kritisch zu reflektieren: mit Blick auf die Triftigkeit ihrer Resultate ebenso wie mit Blick auf moralische Konsequenzen und kulturelle Auswirkungen. Es ist dieser Zusammenhang, der den nicht vorkritischen, sondern reflektierten common-sense-Realismus auszeichnet, wie er ein Kennzeichen vor allem pragmatistischen Denkens ist.11 Die genannten fünf Aspekte von Kontingenzbewusstsein, Differenzholismus, Perspektivenpluralismus, Praxis- und Lebensweltcharakter von Wissenschaft 9 JAMES, W ILLIAM, Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. Introduction by Horace S. Thayer, The Works of William James, Vol. 1, hg. v. Frederick H. Burkhardt u.a., Cambridge (Ma.)/London: Harvard Univ. Press 1975, 37. – Damit ist nicht gemeint, der Mensch sei ‚das Maß aller Dinge‘, sondern es soll lediglich die menschliche Prägung aller Wirklichkeitserfassung klargestellt werden, die noch unter Bedingungen des Experiments als Realität stets situativ erfasst wird und somit als Handlungsproblem auftritt, das nur im Lichte symbolischer Ausdrücklichkeit beschrieben, rekonstruiert und gelöst werden kann. 10 Aus diesem Grund hat Michael Polanyi von „Personal Knowledge“ gesprochen. Vgl. sein Hauptwerk: POLANYI, MICHAEL, Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago: Univ. of Chicago Press 1958. 11 Vgl. PEIRCE, C HARLES S., Pragmaticism and Critical Common-Sensism, in: ders., Collected Papers, Bd. 5: Pragmatism and Pragmaticism, hg. v. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge (Ma.): Harvard Univ. Press 1934, 346–350, sowie: Ders., Consequences of Critical Common-Sensism, in: a.a.O., 351–375.
2. Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie
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stellen Momente jener von Historismus und Pragmatismus gekennzeichneten Ausgangssituation dar, bei der [a]n die Stelle des einsamen Subjekts, das sich auf die Gegenstände richtet und das in der Reflexion sich selbst zum Gegenstand macht (…) nicht nur die Idee einer sprachlich vermittelten und auf Handeln bezogenen Erkenntnis [tritt], sondern der Nexus der Alltagspraxis und Alltagskommunikation, in den die von Haus aus intersubjektiven und zugleich kooperativen Erkenntnisleistungen eingebettet sind.12
Im Laufe der Arbeit werden wir immer wieder auf einen oder mehrere dieser strukturellen Aspekte zurückkommen und sie auf ihre religionsphilosophische Relevanz hin beleuchten. Hier sollte es lediglich darum gehen, einige Grundzüge der beiden Theorietraditionen grob zu skizzieren, die meine Ausführungen leiten werden.
2. Das Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie – Zur wissenschaftstheoretischen Aktualität von James und Troeltsch 2. Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie
Die Fruchtbarkeit einer Kombination von Historismus und Pragmatismus auf dem Gebiet des Nachdenkens über Religion soll nun noch etwas genauer konturiert werden.13 Wissenschaftsgeschichtlich ist es bemerkenswert, dass ungefähr zeitgleich zwei Hauptprotagonisten der beiden Traditionen den Versuch wagten, eine möglichst vorurteilsfreie und dennoch auf Wahrheits- und Geltungsfragen nicht verzichtende Wissenschaft von der Religion in methodologischer Hinsicht zu skizzieren.14 Die Rede ist von William James (1842–1910) und Ernst Troeltsch (1865–1923). Ihre Versuche sind für meinen eigenen Ansatz insofern einschlägig, als sie den Hintergrund jenes Programmes bilden,
12 H ABERMAS, JÜRGEN, Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: Ders., Moralbewußtsein (Anm. 3), 17. 13 Eine Kombination beider Theorietraditionen hat schon vor einiger Zeit für die Religionsphilosophie fruchtbar gemacht: JUNG, MATTHIAS, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg i.Br./München: Alber 1999. – Bei Jung heißen die beiden Protagonisten James und Dilthey, wobei letzterer durchaus als Protagonist eines hermeneutischen Historismus gelten könnte. Vgl. dazu auch JUNG, MATTHIAS, Wilhelm Dilthey zur Einführung, Hamburg: Junius 22014, 14–16. 14 Dass sie damit auf der Höhe der Zeit lagen, zeigt die produktive Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit. Vgl. die instruktiven Überblicke von: KIPPENBERG, HANS G., Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München: Beck 2001, und: KRECH, VOLKHARD, Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933 (Religion und Aufklärung 8), Tübingen: Mohr Siebeck 2002.
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§ 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus
dem ich den Titel einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie geben möchte. William James hatte gegenüber den Ansätzen einer sich zu seiner Lebenszeit langsam etablierenden Religionswissenschaft deutliche methodische Reserven. Denn diese versuchte aus dem Blickwinkel eines bestimmten, zumeist szientistischen Wissenschaftsverständnisses mit ethnologischen, historischen und linguistischen Methoden, Religion – aus der Außenperspektive des säkularen Wissenschaftlers – als überkommenes Phänomen zu erweisen. Damit stand das erkenntnisleitende Interesse von Anfang an fest. Nicht anders verhielt es sich freilich bei dezidiert theologischen Ansätzen. Auch sie waren in ihren religionstheoretischen Überlegungen von einem dogmatischen Interesse geleitet, insofern es ihnen darum ging, den Absolutheitsanspruch der eigenen, zumeist christlichen Religion dadurch zu untermauern. Beiden Bemühungen stellte James die Notwendigkeit einer offenen, Binnen- wie Außenperspektiven mit einbeziehenden ‚science of religion‘ gegenüber.15 Ihm ging es dabei darum, „die Religion im Zusammenhang mit den anderen Wissenschaften zu betrachten.“16 Ein solcher Ansatz setzte allerdings voraus, dass Religion und Wissenschaften nicht in einem radikalen Gegensatz zueinander zu stehen kommen, sondern wenigstens vermittelt über eine dritte Größe in einem produktiven Verhältnis füreinander offen sind. Die bisweilen als ‚Versöhnungsthese‘ charakterisierte Einstellung von James, die der ‚science of religion‘ eine solche Brückenfunktion zwischen den wissenschaftlichen Einsichten über und hermeneutischen Verstehen von (persönlicher) Religiosität zuschreibt, fußt darin, in der lebensweltlichen Verortung und humanen Praxis beider – also von Wissenschaft und Religion – anzusetzen, um dem ‚Gegenstand‘, den es zu untersuchen gilt, möglichst unvoreingenommen aber auch kritisch gegenüberzutreten. Deswegen kann dieser Zugriff einerseits sich davor hüten, selbst zum Religionsersatz zu werden, insofern er die kritische Distanz zu seinem Untersuchungsobjekt beibehält. Andererseits steht er der die jeweilige Binnensicht normativ reflektierenden Theologie grundsätzlich offen gegenüber. Für James hatte die ‚science of religion‘ beides zu leisten: sowohl eine kritisch-hermeneutische Erfassung und Rekonstruktion von religiösen Sachverhalten17, wie sie sich vor allem in der persönlichen Religiosität von Individuen aber 15 Hierzu siehe auch die Überlegungen von: SEIBERT, Religion im Denken, 208–226, sowie die Beiträge in: PROUDFOOT, WAYNE (Hg.), William James and a Science of Religion. Reexperiencing The Varieties of Religious Experience, New York: Columbia Univ. Press 2004. 16 Vgl. JAMES, W ILLIAMS, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur (1902). Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk, übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut, Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1997, 490. 17 Eine Skizze dieser Aufgabenstellung für ein Modell von ‚science of religion‘, wie sie James vorschwebte, findet sich auch in: JAMES, WILLIAMS, Summer School of Theology Lecture on „Intellect and Feeling in Religion“ (1902), in: The Works of William James, Bd.
2. Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie und Theologie
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auch in institutioneller Gestalt niederschlägt18, als auch eine kritisch-evaluative, d.h. geltungstheoretische Interpretation, die James ursprünglich als zweiten Teil seiner Gifford-Lectures geplant hatte und die uns lediglich skizzenhaft in den Schlussabschnitten seiner Varieties vorliegt19. Während die erste Aufgabe einer ‚Wissenschaft von Religion‘ somit darin besteht, vorurteilsfrei und ohne reduktionistische Interessen im Stil von ‚nothing but …‘-Erklärungen die Eigenart religiöser Erfahrungen durch die Analyse von Erfahrungszeugnissen (z.B. Bekehrungserlebnissen) und entsprechender Praktiken (Gebet, Meditationstechniken etc.) genauer zu verstehen, geht es in der sich daran anschließenden religionsphilosophischen Aufgabe darum, der „normal significance of religion, what it stands for in human life“20 nachzugehen, was nichts anderes als die Prüfung ihrer Realitäts- und Geltungsbehauptungen im Gegenüber zu und Miteinander von anderen lebensweltlichen und (vor allem) wissenschaftlichen Erfahrungszusammenhängen bedeutet.21 Den Eigensinn von Religion zu ergründen, war von Anfang an das Leitmotiv von William James und diese Auffassung teilte er mit Ernst Troeltsch jenem vielleicht bedeutendsten religiösen Historisten, der ebenfalls um eine Neubegründung einer nicht-reduktionistischen und Geltungsfragen nicht ausklammernden, gleichwohl empirisch gesättigten Wissenschaft von der Religion rang. Dabei hatte Troeltsch früh um die Bemühungen von James gewusst, sie offensiv wahrgenommen und in die eigene Arbeit, wenngleich nicht ohne Kritik, integriert.22 Hier kommt es zu einer ersten produktiven Begegnung von Historismus
16: Manuscript Lectures, hg. v. Frederick H. Burkhardt/Fredson Bowers/Ignas K. Skrupskelis, Cambridge (Ma.)/London: Harvard Univ. Press, 1988, 83–100. 18 Vgl. JAMES, Vielfalt (Anm. 16), 61. 19 Dazu: a.a.O., 473–496.497–503. Zur ursprünglichen Konzeption der Varieties siehe die Überlegungen von: LAMBERTH, DAVID C., William James and the metaphysics of religion, Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 1999, 98–110, v.a. 106–110. 20 JAMES, Summer School (Anm. 17), 83. 21 Zu James’ Ringen um einen ‚nichtdiskriminativen Realitätsbegriff‘, der bemüht ist, die Ansichten aus Wissenschaft, gelebter Religion und gesundem Menschenverstand gleichermaßen zu integrieren, ohne dabei auf das Moment der Kritik zu verzichten, siehe die Arbeit von: KRÄMER, FELICITAS, Erfahrungsvielfalt und Wirklichkeit. Zu William James’ Realitätsverständnis (Neue Studien zur Philosophie 19), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, v.a. 132–142. 22 Vgl. schon die frühe Rezension: TROELTSCH, ERNST, Rez. zu: W. James: The varieties of religious experience. A study in human nature (1902), in: Ders., Rezensionen und Kritiken (1901–1914), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4 (= KGA 4), hg. v. Friedrich W. Graf, Berlin/New York: de Gruyter 2004, 364–371, sowie die beiden Texte: TROELTSCH, ERNST, Main Problems of the Philosophy of Religion: Psychology and Theory of Knowledge in the Science of Religion (1905), in: Ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Teilband 1 (= KGA 6.1), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/Bos-
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§ 2 Zwischen Historismus und Pragmatismus
und Pragmatismus, und das ausgerechnet auf dem Gebiet der kritischen Religionsforschung und Religionsphilosophie. Einschlägig für Troeltschs Programm einer Religionswissenschaft, die für ihn als systematischen Theologen auch die theologische Arbeit mitumfasste, ist sein programmatischer Aufsatz aus dem Jahr 1909: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft23. Troeltsch greift darin erneut sein Lebensthema, die ‚Selbstständigkeit der Religion‘24 und das Problem ihrer sachgemäßen wissenschaftlichen Behandlung, erneut auf. Dabei steht die „gegenwärtige Wissenschaft von der Religion“ wie letztlich „alle Kulturwissenschaften“25 vor großen Herausforderungen. Einmal hat sie sich gegenüber szientistischen oder philosophischen Wissenschaftstheorien zu behaupten, die in sich selbst weltanschaulich geladen sind (Positivismus, Idealismus etc.). Sodann sehen sich alle – nicht nur die – mit Religion und Glauben genuin verbundenen Wertüberzeugungen in der historistischen Krise dem Verdacht ausgesetzt, letztlich radikal kontingent und somit beliebig zu sein. Der Historismus – verstanden als radikaler Werterelativismus – stellt deshalb nicht umsonst ganz generell die Möglichkeit von zeit- wie kontextübergreifenden Werten und ihrer Geltung infrage. Dieses Problem wird Troeltsch lebenslang bis in seine letzten Lebensjahre beschäftigen, auch wenn er – anders als Dilthey – stets daran festgehalten hat, dass selbst unter historistischen Bedingungen ein radikaler Relativismus nicht die einzige Option darstellen muss. Und schließlich stehen Fragen der vorurteilsfreien Erfassung des Gegenstandes der Religionswissenschaft, also der gegebenen und gelebten Religiosität im Raum. Denn die Religionswissenschaft bringt (…) nicht Religion hervor und erzeugt nicht die wahre Religion, sondern analysiert und wertet die gegebene Religiosität. Um in diesem Sinne die Religion wissenschaftlich bearbeiten zu können, ist es vor allem nötig, eine von jeder wissenschaftlichen Deutung und Bearbeitung noch unabhängige Anschauung von der Religion zu gewinnen, wo möglichst ohne jede Einwirkung unserer wissenschaftlichen (…) Erklärungen und Zurückführungen der Gegenstand selbst zur Sprache kommt.26
So haben wir es mit einem ähnlichen Anliegen zu tun, wie wir es bei William James kennengelernt haben. Auch für Troeltsch gehören hermeneutisch-deskriptive Erfassung des Religiösen und seine evaluativ-geltungstheoretische Bearbeitung zusammen. Zwar gesteht er zu, dass die gelebte Religion in der ton: de Gruyter 2014, 304–318, sowie: Ders., Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie. Zur Erinnerung an William James, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen: Mohr Siebeck 1913, 364–385. 23 Vgl. TROELTSCH, ERNST, Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1909), in: Ders., Gesammelte Schriften II (Anm. 22), 452–499. 24 Vgl. TROELTSCH, ERNST, Die Selbstständigkeit der Religion (1895/6), in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1 (= KGA 1), hg. v. Christian Albrecht, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 364–535. 25 TROELTSCH, Wesen, in: Gesammelte Schriften II (Anm. 22), 452. 26 A.a.O., 463.
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Gegenwart selbst schon von wissenschaftlichen Ansichten durchzogen ist. Dennoch muss um der adäquaten Erfassung des Gegenstandes willen alles getan werden, um in methodisch kontrollierter Weise das genuin Religiöse zu erfassen. Da jede philosophische Wesensbestimmung, die an der empirischen und historischen Erfahrungswirklichkeit vorbeigeht, und einen spekulativen Begriff von Religion (oder auch Gottes) an ihre Phänomene herantrüge, nicht dem Anspruch gelebter Religiosität noch dem wissenschaftlichen Ideal entsprechen würde, ist stattdessen ein pluraler Methodenansatz von Nöten. Vor diesem Hintergrund schlägt Troeltsch nun vor, in vierfacher Weise sich dem Phänomen von Religiosität und geschichtlicher Religionen zu nähern: So löst sich die scheinbar so einheitliche Fragestellung nach dem ‚Wesen der Religion‘ auf in eine Anzahl sehr verschiedener, aber unter sich eng zusammenhängender Fragenstellungen, deren Beantwortung nur zusammen das darstellt, was wir mit einem vielleicht etwas zu stolzen Worte ‚Religionswissenschaft‘ nennen. (…) Die Aufgabe der Religionswissenschaft (…) beschränkt sich auf die Analyse des möglichst rein und sachlich aufgefaßten Phänomens, das wir Religion nennen unter den vier genannten Gesichtspunkten, die sich bei der Zerlegung der üblichen Begriffe ‚Wesen und Entstehung der Religion‘ als darin gebunden und vermischt ergeben: sie zerfällt in Psychologie, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion. Die Synthese dieser vier Untersuchungen ergibt das erreichbare wissenschaftliche Verständnis der Religion und den Beitrag, den die Wissenschaft zu dem praktischen Leben und der Fortentwicklung der Religion leisten kann.27
Religionspsychologie und Erkenntnistheorie auf der einen, die geschichtliche Betrachtung und metaphysische Bearbeitung auf der anderen Seite bilden das disziplinäre Korsett, das Troeltsch zur wissenschaftlichen Erforschung der Religion in der Vielfalt ihrer individuellen, sozialen und historischen Gestalten als notwendig erachtet. Und dabei zeigt sich, dass ein solches Verständnis von wissenschaftlicher Religionsforschung theologische Fragestellungen sehr wohl mit einbeziehen kann; gehört es doch zum genuinen Interesse der Theologie, an der Fortentwicklung und Zukunftsfähigkeit einer bestimmten Religion und Religiosität mitzuwirken. In diesem Sinne optiert Troeltsch – anders als die heutigen Religionswissenschaften – nicht für strikte Neutralität hinsichtlich von Wahrheitsfragen: Man muß hier den Mut seiner Meinung haben, darf weder vor scharfer Polemik gegen die prinzipiell entgegenstehenden Lehren, noch vor dem unvermeidlichen Vorwurf bald der Irreligiosität und bald der Unwissenschaftlichkeit sich scheuen.28
A.a.O., 492. – Zu den Konturen des Troeltsch’schen Programmentwurfs siehe: APFELKARL-ERNST, Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München/Paderborn/Wien: Schöningh 1978, 79–160, sowie: GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: Ders., Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 215–240, v.a. 230–240. 28 TROELTSCH, Wesen, in: Gesammelte Schriften II (Anm. 22), 487. 27
BACHER,
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Um Willkürlichkeit und pure Apologetik zu vermeiden, ist hingegen kritische Standortreflexivität und interdisziplinäre Sensibilität verlangt. Auch deswegen ist eine Arbeitsteilung durchaus sinnvoll. Betrachtet man die genannten vier Frageperspektiven genauer, dann fällt auf, dass es sich hier weniger um eine um Vollständigkeit bemühte Aufteilung in Disziplinen geht29, als vielmehr um die Skizze von prinzipiellen Problemen, die für das Verstehen religiöser Phänomene und Glaubensvorstellungen zentral sind. Religionspsychologie und Erkenntnistheorie (des religiösen Bewusstseins) behandeln – vornehmlich auf die Individuen bezogen – „zunächst die wesentlichen und charakteristischen Eigentümlichkeiten, an denen die religiösen Phänomene als seelische Erscheinungen psychologisch erkannt werden können“30 und inwiefern dabei von einer eigenen Weise des Erkennens die Rede sein kann. 31 Demgegenüber wird mit den anderen beiden Disziplinen der Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion nicht nur stärker auf deren soziokulturelle und historische Dimensionen gezielt, sondern mehr noch werden hier die die einzelnen Subjekte übergreifenden Geltungs- und Wahrheitsansprüche akut. Denn in der die Religionsgeschichte mit einbeziehenden Geschichtsphilosophie der Religion geht es nicht nur um die „außerordentliche historische Verschiedenheit der religiösen Bildungen“32, sondern mehr noch um eine „kritische[] Wertabstufung der historischen Religionsbildungen“33, und zwar im Angesicht gegenwärtiger Herausforderungen. Das ist die eine Stelle, an der die Neutralitätsforderung prekär wird. Die andere ist dort zu suchen, wo eine zeitgemäße Wissenschaft von der Religion für Troeltsch zum Abschluss kommt. Denn in der von ihm als ‚Metaphysik‘ gekennzeichneten Disziplin geht es um nichts weniger als um die Frage, wie religiöse Erkenntnisbehauptungen und Realitätsannahmen sich „zu unserer übrigen Welterkenntnis und Weltbetrachtung“34 verhalten. Das Leistungsfähige an Troeltschs Modell ist, dass Fragen der Genesis und Fragen der Geltung nicht einfach nebeneinanderstehen. Sie werden auch nicht 29 Dies zeigt sich etwa daran, dass der vielleicht umfassendste Versuch, den Troeltsch zur Erhebung des wissenschaftlichen Standes der Religionsforschung seiner Zeit unternommen hat, weitere Disziplinen, etwa die Ethnologie und Völkerkunde, aufnimmt. Vgl. TROELTSCH, ERNST, Religionsphilosophie (1907), in: Ders., KGA 6.1 (Anm. 22), 543–613. 30 TROELTSCH, Wesen, in: Gesammelte Schriften II (Anm. 22), 489. Man sollte ergänzen, dass die religionspsychologische Fragestellung auch die sozialpsychologischen Aspekte umfasst. 31 Dabei ist es interessant, dass für Troeltsch die methodische Aufmerksamkeit darin bestehen muss, empirische Forschung und kategoriale Analyse nicht vorschnell ineinander zu führen oder gar eine Seite zu vernachlässigen. Deswegen wird James für die Vernachlässigung der epistemologischen Fragen gerügt, wohingegen Schleiermacher und Kant vorschnell die empirische Analyse zugunsten philosophischer Kategorienbildung aufgegeben haben. Vgl. a.a.O., 492. 32 A.a.O., 489. 33 Ebd. 34 A.a.O., 490.
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ineinander überführt, wohl aber verschränkt. Auf der Fluchtlinie dieses Ansatzes fordern sich dann empirische Forschung und kategoriale Analyse wechselseitig. Deswegen lassen sich alle Einsichten über einzelne religiöse Phänomene und Probleme sowie das Bemühen, Religion als Gesamtphänomen menschlicher Existenz zu verstehen, nur über die produktive Synthese der genannten Frageperspektiven erzeugen. Dabei kommt diesem Umstand in der Verhandlung des Gottesproblems besondere Relevanz zu. Denn die jeweiligen Gottesvorstellungen sind vor diesem Hintergrund weniger ein Produkt philosophischer Spekulation als Resultat religiösen Glaubens und religiöser Praxis. Das heißt zunächst einmal, dass auch sie auf ihre religionspsychologischen, erkenntnistheoretischen und geschichtlichen Entstehungs- und Entfaltungsbedingungen hin zu untersuchen sind. Weil aber zumindest in den monotheistischen Religionen, der Glaube an Gott zugleich bezogen ist auf die Gesamtheit aller Wirklichkeit und der von ihr erzielten Erkenntnisse, gehen hier die „Probleme der Religionswissenschaft in die der prinzipiellen Philosophie oder der Metaphysik über. Sie wird zur Religionsphilosophie im engeren Sinne des Wortes“35, ohne jedoch auf die empirischen Aspekte ihres Gegenstandes – d.h. den individuellen Zeugnissen eines Gottesglaubens, seine rituellen Inszenierungen, kulturellen Symbole etc. – Verzicht leisten zu können. Ganz analog zu James, für den am Ende seiner Untersuchungen zur Vielfalt religiöser Erfahrungen die Frage nach deren Realitätsgehalt und dem darin zum Ausdruck kommenden Wirklichkeitsverständnis akut wurde36, zielte auch Troeltsch darauf ab, die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Probleme religiöser Wirklichkeitserkenntnis nicht abseits ihrer konkreten empirischen Phänomene zu thematisieren, wie sie religionspsychologisch interpretiert und religionsgeschichtlich rekonstruiert werden können. Ein solches Konzept von wissenschaftlicher Religionsforschung, das bewusst Geltungsfragen integriert und dadurch theologisch anschlussfähig bleibt37, lässt sich in einem etwas moderneren Sprachgebrauch als ‚empirisch gesättigte‘ Religionsphilosophie bezeichnen. ‚Empirisch gesättigt‘ meint in diesem Zusammenhang nicht, dass die philosophische und theologische Argumentation ihre primäre Aufgabe in der Analyse und Aufbereitung empirischer Daten hätte. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass jedes kritische Nachdenken über Religion auf empirische Ausgangspunkte angewiesen ist, die es deskriptiv beschreiben und sodann hermeneutisch
A.a.O., 496. Am Ende seiner Vorlesungen stellt James deswegen drei Hypothesen über das Medium religiöser Erfahrung, die Bedeutung des Wortes ‚Gott‘ und seiner Realität im Lebensvollzug auf. Vgl. JAMES, Vielfalt (Anm. 16), 489–496. 37 Das heißt natürlich nicht, dass die theologische Anschlussmöglichkeit zwingend so zu denken sei, wie von Troeltsch angedacht, wonach die Religionsphilosophie – analog zur allgemeinen Ethik – die theoretische Grundlage für die Glaubenslehre (bzw. christliche Sittenlehre) bilden müsste. Vgl. TROELTSCH, Vorwort, Gesammelte Schriften II (Anm. 22), VII. 35 36
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zu verstehen gilt. Damit zusammen hängt der andere Aspekt, der – gut pragmatistisch – besagt: Das Kriterium für die Leistungsfähigkeit religionsphilosophischer und theologischer Positionen liegt darin, ob und wie es ihnen gelingt, diejenigen empirischen Sachverhalte, an denen sie ansetzen, so zu rekonstruieren, dass sie als stimmige, d.h. kohärente und sinnhafte Ansichten und Praktiken im Umgang mit einsehbaren Herausforderungen erscheinen. Empirisch gesättigte Religionsphilosophie erweitert das Gebiet, auf dem man Gott suchen kann (…) [sie] ist zu allem bereit (…) folgt der Logik oder den Sinnen und läßt auch die bescheidenste und persönlichste Erfahrung gelten (…) würde auch mystische Erfahrungen gelten lassen, wenn sie praktische Folgen hätte. Als annehmbare Wahrheit gilt (…) einzig und allein das, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen lässt. Wenn theologische Ideen das können, wenn speziell der Gottesbegriff sich hierin bewährt, wie könnte da (…) die Existenz Gottes [geleugnet werden]38.
So sehr jedoch Religionsphilosophie und Theologie eines solchen Rückbezug auf die empirische Vielfalt religiösen Lebens bedürfen, ohne selbst zu religiösen Positionen zu werden, so sehr ist zu bedenken, dass jede deskriptive Disziplin empirischer Religionsforschung sich stets schon Kategorien bedient, die eine begriffliche Vorklärung und damit implizit eine normierende Zuspitzung des empirischen Materials beinhalten. Die von Troeltsch und James gleichermaßen geforderte Standpunktreflexivität betrifft also wesentlich den wechselseitigen Zusammenhang aus empirischer und kategorialer Arbeit. Gerade deswegen sind die Übergänge zwischen Religionsphilosophie und Theologie, aber auch zwischen Religionswissenschaft und Theologie, mitunter fließend.39 Die Grenzen von religionstheoretischen Außenperspektiven und theologischer Binnenreflexion bleiben offen und dynamisch, verhindern damit aber auch die Gefahr von Reduktionismen und ermöglichen neue Formen von Anschlussrationalität. Auch mit Blick auf die Frage nach dem Sinn personaler Rede von Gott, ihrer inhaltlichen Bestimmtheit und argumentativen Triftigkeit erscheint es daher angemessen, die aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen gewonnenen Einsichten über ihre individuellen und historischen Entstehungskontexte und kulturellen Ausgestaltungen in die religionsphilosophische und dogmatische Bearbeitung des Problems zu integrieren. Damit wird zugleich klar, dass sich
38 JAMES, W ILLIAM, Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkmethoden (1907). Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung (PhB 297), hg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 21994, 51. – James‘ Pragmatismus und Empirismus steht im Übrigen auch Pate für jenes nicht klassisch empiristische Verständnis von ‚Empirie‘, wie es für das Programm einer ‚empirisch gesättigten‘ Religionsphilosophie einschlägig ist. 39 Darauf hat, auch unter Rekurs auf Troeltsch, bereits früh hingewiesen: PANNENBERG, WOLFHART, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, 303–329.
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eine in den Traditionen von Pragmatismus und Historismus verortete Religionsphilosophie und systematische Theologie, die sich dem Problem der Personalität Gottes widmet, jedenfalls nicht allein im Rahmen eines bestimmten Theorieansatzes halten oder auch nur einem spezifischen Wissenschaftszugang verschreiben kann. Vielmehr muss sie ihr argumentatives Gerüst durch die Pluralität disziplinärer Zugänge und im Konflikt diverser Interpretationsansätze hindurch freizulegen bemühen. In welchen Schritten das in diesem Band erfolgen soll, darüber gibt der nächste Paragraph Aufschluss.
§ 3 Zum Aufbau und Vorgehen der Arbeit In den beiden vorangegangenen Paragraphen ging es darum, die Fragestellung ideengeschichtlich (§ 1) zu verorten und den Theoriehorizont (§ 2) zu beschreiben, vor dem sie ausgearbeitet werden soll. Als spezifisches Problem stellt sich die Personalität Gottes der (christlichen) Theologie erst im Kontext der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Vor allem im Historismus und Pragmatismus wurde sie dann produktiv aufgegriffen, insofern beide Denktraditionen sich auch religionsphilosophischen Fragestellungen konzeptionell widmeten. Dabei lag ein gewichtiges Argument für die Aufnahme dieser Theorieansätze darin, dass sie einen offenen Austausch mit den empirischen Wissenschaften, auch und gerade in Bezug auf Religion, pflegten. Vor diesem Hintergrund haben wir den Ansatz einer Religionsphilosophie in den Traditionen von Historismus und Pragmatismus skizziert. Im Folgenden (§ 3) soll nun ein kurzer Überblick über den Aufbau der Arbeit und das Vorgehen gegeben werden. Dabei gehe ich abschließend auch auf die Frage des erkenntnisleitenden Interesses dieses Unterfangens ein. Die danach folgenden acht Paragraphen (Kapitel) verfolgen letztlich eine Rehabilitierung des Begriffs und der Kategorie des Theismus. In den Schlussüberlegungen wird dieser nochmals analytisch differenziert, insofern der Status des expressiven Theismus ein doppelter ist: Er kann und muss primär als religiöse Option begriffen werden, die allerdings eine weltanschauliche Position in sich enthalten und aus der eine eigenständige philosophische Position entwickelt werden kann. Der Gang der Untersuchung lässt sich grob gesprochen in zwei große Teile gliedern. In den beiden folgenden Paragraphen wird die kulturanthropologische und ritualtheoretische Grundlegung vorgenommen. Hierbei geht es in struktureller Hinsicht um den Kontext des Problems der Personalität Gottes. Ihr folgt dann die systematisch-theologische und religionsphilosophische Entfaltung, die ab dem sechsten Paragraphen zur Darstellung kommt. Grundlegung meint zunächst den Ort, von dem aus sich begreifen lässt, worin die ‚Gründe‘ liegen könnten, dass Menschen religiöse Ansichten über personale Götter und folglich auch über den personalen Gott entwickeln konnten. Solche Analysen bringen unweigerlich mit sich, dadurch auch Aussagen über den Menschen im Generellen und im Besonderen treffen zu müssen. Denn es sind nun einmal Menschen, die von Gott und den Göttern reden, mit ihnen kommunizieren, an sie glauben oder eben dies alles als Illusion betrachten.
§ 3 Zum Aufbau und Vorgehen der Arbeit
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Das vierte Kapitel (§ 4) stellt sich diesen Fragen in starker Anlehnung an die Kultur- und Symboltheorie Ernst Cassirers. Cassirer ist in meinen Augen darin wegweisend, dass er seine philosophische Anthropologie als eine Theorie der Kultur entwickelt hat, in welcher der Mensch als ‚animal symbolicum‘ in der Vielfalt seiner symbolischen Welt- und Selbstbezüge im Mittelpunkt steht. Als symbolische Form lässt sich von hier aus auch Religion als Medium der Erkenntnis von Wirklichkeit begreifen; dies gilt noch dann, wenn Cassirers eigene Haltung gegenüber Religion und Glauben stets umstritten blieb. Als Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen ist sie allemal zu berücksichtigen. Cassirers Symboltheorie hat zudem den Vorzug, sich nicht simplifizierend auf einzelne Symbolgestalten zu kaprizieren, sondern sie als Teil umfassender symbolischer Formungsprozesse zu begreifen. Die zentralen Begriffe lauten an dieser Stelle: symbolische Prägnanz, symbolische Reihe und vor allem symbolische Funktion. Das zuletzt genannte Moment, das die Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung umfasst, wird in meiner Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Zum einen deswegen, weil es mir ermöglicht, Cassirer als Vorläufer einer Theorie der Ko-Evolution von menschlicher Kultur und menschlichem Geist (Bewusstsein) zu verstehen. Das versetzt uns – nur nebenbei gesagt – auch in die Lage, reduktionistischen Modellen einer gegenwärtig wieder an Fahrt gewinnenden anthropologischen Religionskritik wirksamer entgegentreten zu können (§ 7). Zum anderen strukturiert dieser an den drei symbolischen Funktionen angelehnte Aufbau auch die Gliederung meiner systematisch-theologischen Entfaltung (vgl. §§ 8–10). Das hat seinen Grund auch darin, dass Cassirers Theorie der symbolischen Funktionen nicht als Beschreibung eines sich überbietenden Ablösungsprozesses zu lesen ist, wohl aber im Sinne einer Evolution menschlicher Symboltechniken, bei der die ursprünglicheren Funktionen in transformierter Gestalt erhalten bleiben. Dass sich dies den Einsichten der evolutionären Anthropologie von Merlin Donald und der Religionstheorie des späten Robert Bellah verdankt, wird an gegebener Stelle aufgewiesen werden. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass ich Cassirers ‚animal symbolicum‘ zu einem ‚homo articulans‘ ausziehe. Das ist wiederum keine Verfremdung, sondern Resultat einer auf das Praxismoment ausgerichteten Cassirer-Lektüre. Cassirers Theorie der Kultur ist in diesem Sinne genuin ethisch-praktisch, nicht, weil sie moralische Normen aufstellt, sondern weil sie Kultur als Praxis, damit aber symbolische Formung als Handlung, begreift. Die basale Ausdrucksfunktion wird als Ausdruckshandeln begriffen, der ‚homo articulans‘ zum Ausgangspunkt für das Verstehen des expressiven Theismus.1 Meine Cassirer-Rekonstruktion wird schließlich von einer partiellen, doppelten Revision seines
1 Dabei ziehe ich im Gegensatz zum Trend in der gegenwärtigen Evolutionsanthropologie keine scharfe Grenze zwischen affektiv unmittelbarer Expression und symbolisch geformter vermittelter Artikulation. Siehe dazu: JUNG, MATTHIAS, Der bewusste Ausdruck. Anthropo-
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§ 3 Zum Aufbau und Vorgehen der Arbeit
Theorieansatzes beschlossen. Sie belegt den historistisch-pragmatistischen Zugriff auf diesen Denker. Denn zum einen vernachlässigt Cassirer die Frage nach der sozialen Genese nicht nur der symbolischen Formen als solcher, sondern auch der Befähigung ihrer Träger, der Symbolsubjekte. Hier greife ich vor allem auf die Theorien von Durkheim und Mead zurück, um zu zeigen, wie sich mit ihrer Hilfe die Lücken in Cassirers Ansatz schließen lassen können, ohne ihn in seiner Ausrichtung zu verändern. Zum anderen bedarf der Kontingenzaspekt der kulturellen, und d.h. stets zugleich der geschichtlichen Entwicklung der symbolischen Formen eine stärkere Gewichtung. Wird Kultur als Praxis verstanden, dann bleibt ein Modell unterkomplex, das in ihr lediglich einen oder gar den Prozess stetig verfeinerter Objektivierungsleistungen innerer Bedeutungswelten sieht. Kultur ist demgegenüber mindestens genauso als Vorgang permanenter (Re-) Symbolisierungen von Wirklichkeit zur Erkenntnis dieser im Angesicht neuer Problemlagen zu begreifen. Damit kommt das Prekäre dieses vielschichtigen Prozesses noch deutlicher zum Vorschein. Das führt uns zum religionstheoretischen Kapitel (§ 5), das in Anlehnung an einen berühmten Nietzsche-Titel etwas plakativ von der Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals spricht. Eine solche Kennzeichnung ist für eine protestantisch-theologische Untersuchung gefährlich, weil sofort der Verdacht im Raum steht, man würde Autonomie und Vernunft der Religion, für die Reformation und Aufklärung stehen, zugunsten katholisierender Tendenzen unter emphatischer Betonung von Ritus und Gemeinschaft zurückfahren. Das mag plausibel klingen, ist es m.E. aber nicht. Denn zum einen wussten die großen liberaltheologischen, protestantischen Geister – Ernst Troeltsch allen voran2 – stets darum, dass die Lebendigkeit der Religion sich am Ort von Kultus und Gemeinschaft erweisen muss, und dies auch in der sog. Moderne. Vor allem aber gilt es zum anderen, auf die Gründe einer solchen Zuspitzung genau zu achten. Für mich liegen diese einmal in der generellen Funktion von Religion als symbolische Bearbeitungsform prinzipieller Kontingenz; dann aber auch aufgrund der Überzeugung, dass alle Erfahrungen sich stets in Handlungssituationen durch die symbolische Artikulation von Bedeutung für diejenigen, die logie der Artikulation, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 309–337. – Auch die Unterscheidung zwischen expressivem und instrumentellem Handeln, wie sie etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners begegnet (vgl. PLESSNER, HELMUTH, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: Ders., Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 201–387, 248–253), birgt Risiken, nämlich dann, wenn sie als sektorale gedacht ist. Mein Verständnis des Ritus steht dem hierin entgegen, weil rituelles Handeln stets beides ist, instrumentell und expressiv. 2 Vgl. TROELTSCH, ERNST, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben (1911), in: Ders. Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Teilband 1 (= KGA 6.1), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 820–851, bes. 836.
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sie machen, einstellen. Darin steckt eine pragmatistische Erfahrungstheorie, die ich zumindest in nuce versuchen werde, zu skizzieren. Damit hoffe ich einsichtig zu machen, worin die zentrale Relevanz von Ritus und Gemeinschaft liegt: der Ritus ist der Ort praktischer Bewährung des symbolischen Vokabulars, das verwendet wird, und die Gemeinschaft ist der Sozialisations- und Regenerationsort für die Entfaltung und Stabilisierung symbolischer Vokabulare. Beides hängt zusammen, vor allem jedoch ist beides abhängig von der Aktion und Interaktion der Individuen als den eigentlichen Handlungssubjekten. Spätestens hiermit sollte der gerade gehegte Verdacht restaurativer Tendenzen im Grundsatz ausgeräumt worden sein. Zugleich belegt der Versuch einer als Ritualtheorie gefassten Religionstheorie, die theologisch anschlussfähig ist, ein Forschungsdesiderat der letzten Jahrzehnte, nämlich das weitgehend vernachlässigte Gespräch zwischen systematischer Theologie und Religionsanthropologie (Ethnologie). Dies kann natürlich nicht allein durch Rekurs auf gegenwärtig prominente Kategorien, wie diejenige der Performanz kompensiert werden. Doch können Erkenntnisse ethnologischer Forschung – auf Clifford Geertz und Roy Rappaport wird stellvertretend rekurriert werden – helfen, einen realistischeren Blick für die Eigenart religiöser Wirklichkeitsformung zu erhalten. Im Übrigen hat auch Ernst Cassirer dies schon früh gesehen. Mit dem darauffolgenden Paragraphen (§ 6) wird die religionsphilosophische und systematisch-theologische Entfaltung des Gehalts der Personalität Gottes eingeleitet. Er bildet eine Zwischenüberlegung, die im Rekurs auf das zuvor Explizierte, die Personalität Gottes in den Zusammenhang einer Religionsform stellt, deren innere Regelhaftigkeit sich einer personalen Taxonomie verdankt. Dieser aus Soziologie und Kulturanthropologie übernommene Begriff soll kenntlich machen, dass das, was mit dem Begriff der Personalität anvisiert ist, sich einer umfassenden und nicht allein auf das Göttliche bezogenen Perspektive auf die Wirklichkeit verdankt, die – im Sinne der im Ritual prägnant zum Ausdruck kommenden symbolischen Erfahrungskontrolle3 – jene in entscheidenden Aspekten klassifiziert. Zugleich wird noch einmal auf den Fortgang und die Gliederung des systematischen Teils rekurriert. Die sich anschließenden knappen Überlegungen zur anthropologischen Religionskritik (§ 7) hätten gewiss umfassender ausfallen müssen. Hier konzediere ich als Autor eine größere Lücke in der eigenen Arbeit. Zwar wird die Brisanz der Thematik angerissen, aber sie hätte in der ihr gebührenden Dringlichkeit und angesichts der Schärfe der Debatten doch weit umfänglicher ausfallen müssen. Allein, dazu hätte es eines eigenen Buches bedurft. Umgekehrt hätte man sich durch ein striktes Übergehen dieses ganzen Problemkomplexes ausgerechnet bei einer Fragestellung, wie der nach der Personalität Gottes, endgültig dem Vorwurf der Immunisierung ausgesetzt. Deswegen wollte ich wenigstens aufzeigen, worin ich in den Konzeptionen anthropologischer Religionskritik problematische 3
Zu diesem Aspekt des Rituals, siehe meine Überlegungen in § 5.3.3.
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§ 3 Zum Aufbau und Vorgehen der Arbeit
Züge erkenne; Ansätze, die gegenwärtig Konjunktur vor allem in den Bereichen der Evolutionsanthropologie und Kognitionswissenschaften haben.4 Grob gesagt verfahren die meisten Modelle dergestalt reduktionistisch, dass sie der KoEvolution von Kultur und Geist zu wenig Rechnung tragen und stattdessen mit einer szientistischen Metaphysik operieren, die freilich nicht als solche ausgewiesen wird. Überraschend genug schlägt dies mitunter sogar in simplifizierende Fortschrittsmodelle um, die man eigentlich meinte, endgültig der Theoriegeschichte zur Archivierung übergeben zu haben. Aber ich gestehe nochmals zu, dass es zu einer dem Argumentationsniveau auf beiden Seiten gerecht werdenden Analyse und Kritik einer umfassenderen Untersuchung bedurft hätte. Strenggenommen beginnt die Explikation des Gehalts und somit des Sinns der Rede vom personalen Gott erst mit dem achten Kapitel (§ 8). Die vielleicht für die Leserin, den Leser wichtigste Veränderung zu dem bis dahin Unterbreiteten liegt im Umstand, dass von nun an die theologische und dogmatische Tradition verstärkt ins Spiel kommt. Denn die Rede von der Personalität Gottes ist vor allem für die christliche, aber auch jüdische (und mit Abstrichen muslimische) Religionstradition einschlägig. Mit Blick auf Cassirers Unterscheidung der drei symbolischen Funktionen geht es somit in der zeitlich wie sachlich gewichtigen Abfolge von rituellem Ausdruck, symbolischer Darstellung und theoretischer Bedeutung um die Hermeneutik der Rede vom personalen Gott. Im Anschluss an das religionstheoretisch und kulturanthropologisch Gesagte steht sodann zunächst das Gebet im Mittelpunkt; kommt doch darin die Bedeutung, die wir den rituellen Handlungskontexten für das Verstehen religiöser Erfahrungen zumessen, nochmals eindrücklich zum Vorschein. Erneut ist zu betonen, dass dabei kein Exklusivitätsanspruch für den Akt oder die Praxis des Betens behauptet wird. Ohnehin müsste man genauer zwischen individuellen und kollektiven, d.h. gottesdienstlichen Gebetshandlungen und anderen, personal gehaltenen religiösen Praktiken unterscheiden. Was es dennoch gerechtfertigt erscheinen lässt, das Beten derart in den Mittelpunkt zu rücken, ist, dass mit ihm in denkbar prägnanter Art und Weise handelnd direkt auf die Realität, oder sagen wir bescheidener: Präsenz Gottes bzw. des Göttlichen5 ausgegriffen wird. Darin stimmen so unterschiedliche Denker, wie Gerhard Ebeling und Dewi Z. Phillips, überein. Wie von Gott gesprochen wird, wenn zu ihm gesprochen wird; welches Modell zum Verständnis seiner in der religiösen Praxis in Anspruch
4 In § 7 werden diese beiden Tendenzen in Auseinandersetzung mit Günter Dux und Pascal Boyer exemplarisch aufgezeigt. Nicht nur, weil diese ihre Religionskritik stark auf die Kritik personaler Gottesvorstellungen ausrichten, sondern weil sie in meinen Augen paradigmatische Beispiele für gegenwärtige Tendenzen anthropologischer Religionskritik darstellen. 5 Mitunter gebrauche ich die Begriffe von ‚Gott‘ und das ‚Göttliche‘ abwechselnd oder additiv, und zwar immer dann, wenn das Behauptete nicht nur oder nicht ausschließlich personale Vorstellungen von Gott betrifft bzw. von ihnen gilt.
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genommenen Realität dienlich ist, das lässt sich an den symbolischen Sprachpraktiken des Betens gut aufzeigen. Das bedeutet wiederum nicht, dass diejenigen, die beten, sich darüber immer zugleich im Klaren sein müssten oder gar die aufgewiesenen Implikationen zu teilen hätten. Gleichwohl ist es so, dass das Spezifikum des Betens als nicht notwendiger und keineswegs in allen Religionstraditionen derart prominent, wie in Judentum, Christentum und Islam, verbreiteter religiösen Handlungsform auf einen Grundaspekt der personalen Rede von Gott aufmerksam macht. Es liegt weniger in der nach dem Modell der IchDu-Kommunikation konzipierten Vorstellung eines göttlichen ‚Du‘s, als vielmehr in der performativ inszenierten und dabei als ‚real‘ befundenen Erfassung welthafter Situationen als wechselseitige Verantwortungslagen bzw. -zusammenhänge. Beten setzt dabei nicht nur den Gebrauch symbolischer Vokabulare voraus, ohne die schon individuelle Gebete in sich stumm und unverständlich blieben; es ist darüber hinaus Teil eines weit umfassenderen religiösen Interpretationsund Handlungskontextes. Auch deswegen bliebe ein ausschließlicher Fokus auf das Beten (als Ritualpraxis) unterbestimmt, da es dessen durch symbolische Vorstellungen geformte Bedeutungen völlig unberücksichtigt ließe. Im Kontext jüdisch-christlicher6 Religionstraditionen kommt für das adäquate Verstehen des Betens der Geschichte als Rahmen für die religiöse Deutung von Realität eine wichtige Funktion zu. Das ist Thema des neunten Kapitels (§ 9). In ihm soll nicht einer (potentiell gewaltsamen) Vereindeutigung der ‚Polyphonie‘ (Ricœur) der biblischen Gottesrede auf ihre personalen Aspekte das Wort geredet werden. Vielmehr geht es um Geschichte als dem symbolischen Medium zur Darstellung von (konkreter) Personalität. Darauf basiert der systematische Zusammenhang von Geschichtstheologie und theologischem Personalismus, wie er sich in der Fluchtlinie einer Schrifthermeneutik ergibt, die kanontheoretisch zugespitzt wird. Das wenngleich nur ausschnitthafte Gespräch mit den exegetischen Wissenschaften war hier zwingend erforderlich. Auch wenn es dem systematischen Theologen schwerfällt, sich auf diesem vielstimmigen Gebiet auch nur annähernd zu orientieren und wenngleich viele Zuspitzungen sicher nicht die Zustimmung der Fachexperten erhalten werden, so war es mir doch wichtig, daran zu erinnern, dass trotz der diversen (impliziten) Theologien, die sich im alt- und neutestamentlichen Schrifttum finden lassen, eine aus der Perspektive des Kanons in seiner Endgestalt unternommene Perspektivierung möglich ist: Diese liegt in der fortdauernden geschichtlichen Wirksamkeit Gottes, von der 6 Dass ich hier den problematischen Ausdruck ‚jüdisch-christlich‘ verwende, liegt u.a. daran, dass die Argumentationen in § 9 sich auf die kanonischen Schriften beider Religionen beziehen und ich mit Blick auf die grundlegenden Aspekte des darin konturierten Gottesverständnisses keine maßgeblichen Differenzen erkennen kann. Dies gilt ungeachtet der Notwendigkeit der christologischen (und trinitarischen) Fassung des Gottesgedankens vor dem Hintergrund der neutestamentlichen Einsichten.
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aus jedes biblisch informierte Gottesverständnis zu rekonstruieren ist. Daran selbst noch unter modernen Bedingungen festzuhalten und zwar mit allen Schwierigkeiten, ist die bis heute gültige Einsicht des theologischen Historismus. Wenn dies zutrifft, sind es nicht erst die einzelnen Symbole theologischer Geschichtsdeutung, die für die Theologie maßgeblich werden. Es ist vielmehr der kategoriale Rahmen von Geschichte selbst, der in gewichtigem Maße für das Verstehen der göttlichen Realität, wie sie sich dem (christlich-)religiösen Menschen zeigt, einschlägig wird. Auf diesen Punkt werden sich die Ausführungen konzentrieren. Sie erfolgen im permanenten Gespräch mit dem Werk Paul Ricœurs. In dessen reichhaltigem Oeuvre wird die personale Identität als eine in der Zeit sich handelnd entwickelnde und narrativ rekonstruierbare Größe gefasst. Der Primat der Handlung, die Gestalt der Zeit und die Form der Erzählung bilden die Basiselemente dessen, was Geschichte als symbolischer Rahmen aber unter Wahrung ihrer historischen Form genannt werden kann. Ricœurs Denken ist allerdings nicht nur deswegen relevant, weil er dieses Set auch explizit für eine (biblische) Schrifthermeneutik des Göttlichen verwenden kann, sondern weil mit der Wahrung der Differenz von narrativer und personaler Identität das Spezifikum der letzteren als in ihrem unabschließbaren Handlungscharakter liegend sichtbar gemacht wird. Personen lassen sich zwar nur über ihre Geschichte verstehen, gehen jedoch nicht in ihr auf. Das heißt, sie müssen sich bezeugend zu ihr verhalten können. Die Figur des Zeugnisses ist so nicht nur für eine Hermeneutik der Offenbarung hilfreich, sondern verweist generell auf den Modus personaler Vollzüge, der in der Fähigkeit besteht, sich von seinen eigenen Handlungen und seinem Geschick wiederum handelnd distanzieren oder explizit damit identifizieren zu können. Wenn die biblischen Schriften von der lebendigen Offenbarung der göttlichen Identität in der Geschichte reden, dann beschreiben sie das auf diese Weise. Gegenüber den der Hermeneutik des Gebets und der Geschichte gewidmeten Kapiteln unterscheidet sich der letzte Paragraph (§ 10) der systematischen Entfaltung. Er betrifft die Ebene der theoretischen Explikation des Gehalts der Personalität Gottes. Hier wird der schwierige und gewiss vorläufige Versuch unternommen, in Form einer hypothetischen Metaphysik des ‚personalen Universums‘, die in den zuvor beschriebenen symbolischen Handlungen und Darstellungsformen zur Sprache gebrachten Wirklichkeitsvermutungen in einen kohärenten und über den engeren Kontext der Religion hinausführenden Zusammenhang zu bringen. Dies geschieht mit der Absicht der prinzipiellen Rechtfertigung der Rede von der Personalität Gottes. Nirgendwo deutlicher als hier kommt dabei die pragmatistische Prägung meiner Überlegungen zum Ausdruck. Dabei orientiere ich mich noch einmal an Cassirers Vorgehen in der Analyse der symbolischen Formen. In Ablehnung und Abwandlung seiner Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität wird hier in drei Schritten der Weg von einem pluralistischen über ein melioristisches zum personalen Universum be-
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schritten. Mit letzterem ist diejenige Konstellation gemeint, die die Realität zumindest auch und unter bestimmten Bedingungen mit Blick auf Gott und Menschen folgerichtig als personale begreifen lässt. Diese These wird entlang von drei grundsätzlichen Zügen von Wirklichkeit7, die ich als Sozialität, Temporalität und Responsibilität kennzeichne, entfaltet. Dazu verhilft mir der Rückgriff auf die Christentumstheorie des (späten) Josiah Royce, in deren Mittelpunkt die Begriffe der Interpretation und Loyalität stehen. Nur scheinbar ist Royces Theorie der Interpretation von den Überlegungen Cassirers, mit denen die Ausführungen einsetzten, weit entfernt. Was bei Cassirer Kultur als Praxis heißt, das ist bei Royce die Welt als Interpretation. Beide Denker dürfen nicht als Konstruktivisten verstanden werden, sondern als Theoretiker einer nur auf vermittelte Weise fassbaren und darin stets auch störenden Realität, die sich eben wirk-sam manchen ihrer Interpretationen (Deutungen8) widersetzt. Insofern darf noch von einem personalen Gott gesagt werden, er ist zwar ein Konstrukt der Interpretation, aber eben keine bloße Konstruktion.9 Denn mit ihm wird ein wesentlicher Aspekt von Realität interpretierend zum Ausdruck gebracht, der das, was beim Menschen die Möglichkeit des Zu-sich-Selbst-in-seinem-Interpretieren-Verhalten-Könnens auch für Gott im Kontext der Welt gelten lässt. Dieses zu sich selbst Verhalten-Können kann aber nie abseits der sozialen Kontexte geschehen, in denen andere dergleichen tun können. Aus diesem Grund wäre eine Person keine Person und aus dem gleichen Grund ist der volle Umfang des Verstehens von Personalität erst darin erreicht, dass das Gewahrwerden dieser Reflexivität wie Responsibilität auch das Handeln prägt. Deswegen spreche ich vom interpretierenden Verantworten bzw. kurz: von Verantwortung. Vor dem Hintergrund des hier nur Angedeuteten zeigt sich, warum sich von der Personalität Gottes nicht abseits der Personalität des Menschen reden lässt und beides nur im Kontext einer Welt plausibel erscheint. Dogmatisch gesehen findet die Rede vom personalen Gott deswegen ihren Ort in der Pneumatologie, genauer: sie vollzieht sich in einem pneumatologischen Rahmen. Royce 7 In der Arbeit verwende ich die Termini ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘ oftmals synonym. Das hat seinen Grund darin, dass mit beiden auf den Kontext verwiesen wird, in dem und mit dem handelnd umgegangen und der dabei symbolisch interpretiert wird. 8 Wenn mitunter von Deutung die Rede ist, dann immer im Sinne dessen, was in § 10.4 als Interpretation verstanden wird. 9 Vgl. die treffende Bemerkung von Hilary Putnam: “We construct our image of God in response to demands that we do not create, and that it is up to us whether our responses are adequate or inadequate“ (PUTNAM, HILARY, Jewish Philosophy as a Guide for Life: Rosenzweig, Buber, Levinas, Wittgenstein, Bloomington: Indiana Univ. Press 2008, 6). – Weil zur religiösen Lebensform eine im Unterschied zu anderen Sprachspielen und Wertkontexten personale Bindung und Beziehung zwischen Mensch und seinem als „Gott“ interpretierten „Ideal“ gehört, gilt für Putnam: „But God is not a ideal of the same kind as Equality or Justice“ (a.a.O., 102). Hierin unterscheidet sich ein religiös-personales Gottesverständnis von einem metaphysischen Ideal eines unpersönlichen Gottes.
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hat dem dadurch entsprochen, dass er Gott und Menschen im Kontext einer umfassenden, sich als geschichtlicher Prozess vollziehenden ‚community of interpretation‘ begreift, und zwar als deren loyale Interpretationsinstanzen. Das Kapitel mündet in die Entfaltung der Rede vom personalen als ‚verantwortlichen Gott‘. Sie bildet den symbolischen Nukleus der Rede von der Personalität Gottes. Mit ihr soll daran erinnert werden, dass auch dieser hypothetische Versuch von Metaphysik an konkrete religiöse Symbolsprachen und Praktiken rückgebunden bleibt. Mehr noch findet er nur an ihnen den Ort, an welchem er sich in seiner Funktion als Interpretationshilfe bewähren kann. So gesehen bleibt noch die abstrakteste Gestalt des expressiven Theismus auf ihre Re-Artikulation durch den Rekurs auf die vielfältigen Symbole im Zusammenhang religiöser Interpretationen von Wirklichkeit angewiesen. Und genau deswegen kommt dem expressiven Theismus, wie in den Schlussbemerkungen (§ 11) nochmals unterstrichen, ein doppelter Status zu: Er ist religiöse Option und weltanschauliche Position. *** Noch ein paar Bemerkungen zur Vorgehensweise seien an dieser Stelle erlaubt: Die Überlegungen erfolgen in stetiger Auseinandersetzung mit Denkern, die für den jeweiligen sachlichen Gesichtspunkt ausschlaggebend sind. Dabei wird man beobachten, dass es nicht nur Theoretiker aus den beiden Traditionen des Historismus und des Pragmatismus sind. Eine gewisse Ausführlichkeit kommt sogar denjenigen zu, die sich selbst und auch ihrer Wirkung nach nicht in diese Traditionen gestellt sehen. Dies gilt vor allem für Ernst Cassirer, aber auch für Émile Durkheim und Paul Ricœur. Zugleich soll jedoch ihre mehr oder minder ausführliche Behandlung aufzeigen, dass wichtige Aspekte ihrer Theorien anschlussfähig für pragmatistisches und historistisches Denken sind. Darüber hinaus scheinen mir zentrale Momente ihrer Argumentationen durch eine Rekonstruktion in der Fluchtlinie von Historismus und Pragmatismus noch gestärkt, manche Schwächen dadurch sogar ausgeglichen werden zu können. Im Unterschied dazu werden Überlegungen von Denkern, deren Verankerung in den genannten beiden Traditionen außer Frage steht, eher durchgängig in meine Argumentation mit aufgenommen. Das hängt mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Arbeit zusammen. Troeltsch und James, Dewey, Peirce und Mead, Royce und H.Richard Niebuhr stellen diejenigen Referenzautoren dar, die für den spezifisch handlungs- und kontingenztheoretischen Zugriff auf die Frage nach der Personalität Gottes einschlägig sind. Aber sie können nicht allein dafür einstehen, weswegen ihre Überlegungen mit denen anderer Autoren kombiniert werden müssen. Dieser Wechsel im Stil des Denkens mit (und partiell auch einmal gegen) Autoren ist somit gewollt. Dafür ließ es sich nicht ver-
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meiden, dass mitunter auch solche Theorievokabulare miteinander in Verbindung gebracht wurden, die von Haus aus scheinbar als unvereinbar gelten. Mit dem Verdacht eines schlichten Eklektizismus muss ich wohl leben. Aber ich habe mich aus diesem Grund stets bemüht, die Überschneidungen und Punkte, an denen sich zwischen den unterschiedlichen Denkern Kohärenzen bilden, sehr weitgehend freizulegen. Daraus erklärt sich wenigstens teilweise der viel zu lang geratene Anhang an wissenschaftlicher Literatur. Ein weiterer Grund hierfür liegt allerdings in der Tatsache, dass ich Cassirers Überzeugung teile, wonach eine als Kulturtheorie entworfene Anthropologie nicht auf Einsichten anderer Wissenschaften, vor allem der evolutionären Anthropologie und der Geschichte, der Ethnologie und Soziologie verzichten kann. Das gilt selbst dann, wenn zu Recht eingeworfen wird, der Schwerpunkt der Rezeption dieser Einzelwissenschaften liege vornehmlich auf deren kategorialen Gehalten bzw. konzeptionellen Aspekten. Insofern ließe sich auch sagen: Unter dem Titel ‚Anthropologie‘ rangiert in dieser Untersuchung derjenige integrale Theorierahmen, innerhalb dessen Kultur (im Allgemeinen) und die christliche Religionskultur (im Besonderen) handlungstheoretisch rekonstruiert, ihre Gestaltformen hermeneutisch erschlossen und ihre Erkenntnisleistungen (bzw. -behauptungen) kritisch geprüft werden. Die einzelnen Kapitel bzw. Paragraphen bauen aufeinander auf, sind aber nicht im strengen Sinn als Entfaltung eines in sich geschlossenen Arguments zu lesen. Deswegen hätte ein anderer Untertitel dieses Buches auch „Studien zum Problem der Rede vom personalen Gott“ heißen können. Vielmehr, so hoffe ich, ergibt sich aus der Abfolge der einzelnen Überlegungen ein Geflecht von Argumentationen, das einigermaßen kohärent ist, und durch das die These des expressiven Theismus verständlich und somit nachvollziehbar wird. Man mag daraus einen Einwand prinzipieller Natur gegen mein Vorhaben formulieren. Allerdings gehört es zu den basalen Einsichten von Historismus und Pragmatismus, dass genealogische Rekonstruktion und geltungstheoretische Explikation zu verschränken sind. Das meint nicht ihre Ineinssetzung, wohl aber ihre permanente wechselseitige Korrektur und Durchdringung. Nur auf diese Weise lassen sich mögliche Schwierigkeiten, wie etwa die vorschnelle Generalisierung von Hypothesen über ihren partikularen Kontext hinaus, einhegen. Schon deshalb kann es auch kein Ziel dieser Arbeit sein, zu beweisen, dass Gott unter allen Umständen oder jedenfalls vor dem Hintergrund eines sog. christlichen Wirklichkeitsverständnisses – was auch immer das sein mag – als personal (und nur so) zu denken sei. Demgegenüber verfolgt mein Ansatz ein sehr viel bescheideneres, aber doppeltes Anliegen: Zum einen möchte er diejenigen religiösen Kontexte zu erhellen versuchen, aus denen sich der Glaube an einen personalen Gott (im christlichen Kontext) speist. Das ist sein hermeneutisches Anliegen. Zum anderen möchte er dabei die Gründe aufzeigen, die dazu führen,
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personal von Gott zu reden, und sie auf ihre Vereinbarkeit mit wissenschaftlichen Einsichten und unter Wahrung von gegenwärtigen Rationalitätsstandards hin zu befragen. Das ist sein kritisches Anliegen. Aufzuzeigen, dass es immer noch Sinn macht, von der Personalität Gottes zu reden, ist das theologische Anliegen dieser Arbeit. Dies kann nicht abseits der Kritiker (und vor allem Kritikerinnen!10) dieser Position geschehen. Doch es scheint mir, als ob die (systematische) Theologie allzu lange dabei zugesehen hat, wie eine bislang fast selbstverständliche Frömmigkeitsmetaphorik ihren Anhalt an der gegenwärtigen Lebenslage der Menschen verloren hat und wie die Theologie selbst sich dabei in die Haltung begeben hat, längst schon darüber hinweg gegangen zu sein. Diese Kritik ist auch als Selbstkritik zu verstehen. Ob es Sinn macht, personal von Gott zu reden, ist wohl nie ein für alle Mal klar gewesen. Es obliegt ohnehin nicht schlicht der Kompetenz theologischer Urteilsfindung, sondern zeigt sich am Ort gelebter Religion bzw. mit einem alten Ausdruck: am Sitz der Frömmigkeit. Welchen Sinn und welche rational auch plausibilisierbaren Gründe es gleichwohl haben kann oder könnte, personal von Gott zu reden, das aufzuzeigen ist jedoch Aufgabe gelehrter Theologie. Und dazu wollen die folgenden Ausführungen einen Beitrag leisten.
10 Vor allem feministisch-theologische Stimmen in der Debatte bleiben in meiner Untersuchung vordergründig weitgehend ausgespart. Allerdings stand ihr Anliegen mir stetig vor Augen. Insbesondere die Frage nach den patriarchalen Elementen der Personalitätsvorstellungen ist zu gewichtig, als dass sie nebenbei mit verhandelt werden könnte. Immerhin darf ich darauf verweisen, dass ein weiterer Grund für die Präferenz der Figur eines ‚verantwortlichen Gottes‘ als Modell der Interpretation der Personalität Gottes darin liegen könnte, dass hier gerade geschlechterindifferent und somit gendersensibel und diversitätsfreundlich formuliert wird. Auch das andere schwerwiegende Problem, nämlich der Machtimprägnierung aller Theismen, könnte, so meine Vermutung, durch die hier prinzipiell sozial konstellierte Gotteslehre mit ihrem Insistieren auf dem die Macht präzisierende und humanisierende Moment der Verantwortung weitgehend eingefangen werden.
Erster Teil: Kulturanthropologische und ritualtheoretische Grundlegung
§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘: Ausdrucksanthropologische und kulturtheoretische Grundlegung im Anschluss an Ernst Cassirer Menschen sind die einzigen uns bekannten Lebewesen, deren Lebensform es erforderlich macht, sich über sich selbst verständigen zu können. Nach allem, was wir bislang über den Menschen im Reich der Lebewesen wissen, liegt darin ein, wenn nicht sogar das Spezifikum der conditio humana. Damit ist nichts über die höchst wahrscheinliche Bewusstseinstätigkeit anderer Lebewesen behauptet. Worum es ausschließlich geht, ist Folgendes: Nur dem Menschen ist es möglich, zu sich selbst und seinem Leben mittels der Weise der reflexiven ‚Selbstgewahrsamkeit‘1 in ein distanzierendes Verhältnis einzutreten. Das darf noch vor jeder Spezifizierung der anthropologischen Differenz – sei es durch Sprache oder allgemeinen Zeichengebrauch, sei es durch sozialkooperative Institutionalisierungsfähigkeiten oder das Herstellen und Verwenden von Werkzeugen – als gesichert gelten. Die Bescheidenheit in den Vorannahmen ist insbesondere auf dem Feld der philosophischen Anthropologie, die sich gegenwärtig wieder neu zu einer Grundlagendisziplin oder vielleicht besser: zu einem Fluchtpunkt der Theoriebildung aufzuschwingen scheint2, von Nöten, um nicht vorschnell einer Engführung der eigenen Argumentation zu erliegen. Wenn dies zutrifft, dann kann es sich als lohnend erweisen, auch das Phänomen der Religion, welches ebenfalls als ein – möglicherweise jedoch nicht zwangsläufiges – Anthropologicum gelten darf, in diesen Theorierahmen zu stellen. Einfacher gesagt: Es sind eben nur Menschen, von denen wir wissen, dass sie an personale Götter bzw. einen personalen Gott glauben oder nicht und noch jede dieser Überzeugungen mit einem Geltungsanspruch versehen können.
1 Unter ‚Selbstgewahrsamkeit‘ fasse ich in der Tradition der hermeneutischen Philosophie (im Anschluss an Herders Rede vom ‚besonnenen Geschöpf‘) und des amerikanischen Pragmatismus (im Anschluss an Peirces Begriff der ‚Versonnenheit‘) jene Bedingung, zu der der Mensch stets schon vor-reflexiv in der Lage sein muss, um dann selbst-reflexiv zu sich und anderen in ein Verhältnis treten zu können. 2 Das bedeutet aber nicht, deswegen gleich die Anthropologie zur Erbin der Metaphysik zu deklarieren, wie Ernst Tugendhat dies getan hat: vgl. TUGENDHAT, ERNST, Anthropologie als «erste Philosophie» (2007), in: ders., Anthropologie statt Metaphysik, München: Beck 22010, 34–54.
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
Noch jede Form von kritischem Nachdenken ist somit ebenfalls in den skizzierten anthropologischen Zusammenhang eingebettet; stellen doch sowohl gelebte Religion als auch kritisches Denken – wie vieles andere auch – paradigmatische Prozesse von Selbstverständigung und Weltorientierung dar, wie sie kennzeichnend für die humane Lebensführung sind. Die Tatsache, dass mit dem Menschen in einem umfassenderen biologischen Kontinuum ein Lebewesen auftritt, das auf Selbst-Verstehen angelegt ist, macht es nun erforderlich, (philosophische) Anthropologie mit der Frage nach den Orten, Gestalten und Praktiken jener Selbstverständigung zu verbinden, d.h. sie kulturtheoretisch aufzustellen. Erst dadurch lässt sich das Wissen um das biologisch-natürliche Kontinuum mit der Anerkennung jener basalen Strukturdifferenz zusammenbringen. Das gilt zumal dann, wenn man unter ‚Kultur‘ jene Form von Selbstverständigungspraktiken versteht, die zur Erhaltung und Entwicklung derjenigen Lebensform von Nöten ist, die wir als das ‚Humane‘ der Gattung homo sapiens sapiens begreifen. In der allgemein gültigen Verschränkung von natürlichem Lebensvollzug und kultureller (Ausdrucks-)Gestaltung macht sich bemerkbar, was man mit Helmuth Plessner die Ausdrücklichkeit der humanen Lebensform nennen kann: Die Existenz des Menschen ist expressiv. Der leibliche Ausdruck verbindet ihn ebenso mit seinem natürlichen Organismus wie mit seiner kulturellen Lebensform. Der leibliche Ausdruck ist zudem die Quelle seiner moralischen Existenz.3
Dabei bleiben noch die komplexeren Stufen von Reflexivität und Reflexion an die Struktur der Ausdrücklichkeit rückgebunden. Um die Explikation dieser ausdrucksanthropologischen Grundthese, ihrer kulturtheoretischen Implikationen sowie ihrer Konsequenzen für das Verstehen religiöser Glaubensüberzeugungen, insbesondere der personalen Rede von Gott im Sinne eines expressiven Theismus, soll es im Folgenden gehen. Ideengeschichtlich knüpfe ich mit der Rede von der Ausdrucksanthropologie an die von Isaiah Berlin und Charles Taylor so genannte expressive Wende der Anthropologie seit der Aufklärung an.4 Sie ist vor allem mit den Namen von Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und Wilhelm von Humboldt verbunden. Ihr Grundgedanke lautet: In allem Handeln und kulturellen Gestalten kommt der Mensch selbst zum Vorschein bzw. drückt er sich selbst aus. Dies zu berücksichtigen, gilt noch für das Verstehen von Gesellschaften und – eo ipso – natürlich auch von Religionen. Alles Leben lässt sich somit als Ausdrucksverhalten bzw. (selbst)bewusstes Ausdruckshandeln verstehen. Der Vor-
3 M EUTER, N ORBERT, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München: Fink 2006, 28. 4 Vgl. B ERLIN, ISAIAH, Herder and the Enlightenment, in: Ders., Three Critics of the Enlightenment. Vico, Hamann, Herder, London: Random House 2000, 176, sowie: TAYLOR, CHARLES, Hegel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, v.a. 27–49.
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teil einer an der „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“ ansetzenden Anthropologie liegt darin, den menschlichen „Zwang zum Ausdruck, ein Sich-aussprechen-müssen“5, den jeder aus der eigenen unmittelbaren Erfahrung kennt und der auch die Grundlage des „geselligen Lebens“ bildet, ohne Abstriche auf die Kultur als ganzes übertragen zu können. Demnach ist Kultur selbst Ausdruck und zwar Artikulation und Manifestation von Sinn in einer gestalteten und damit greif- und fassbaren Form: „Mitteilungsbedürfnis und Gestaltungsbedürfnis deuten selbst auf existentielle Mächte zurück, die in ihnen sich nur auswirken.“6 Wenngleich die Artikulation von Sinn nicht in ihren expressiven Vollzügen aufgeht, so gilt doch umgekehrt, dass alle Artikulation in ihren symbolischen und kommunikativen Dimensionen an die Möglichkeit der Expressivität gebunden bleibt. Das betrifft gleichermaßen die Leistungen der theoretischen und praktischen, der instrumentellen wie poietischen, der ästhetischen wie performativen Vernunft. Unter diesem Gesichtspunkt scheint mir das Verständnis des Menschen als eines expressiven Wesens, als homo expressivus bzw. articulans, und eine darin sich anschließende Anthropologie der Artikulation in besonderer Weise geeignet, die strukturellen Bedingungen und Kontexte humaner Lebensformen (conditio humana) samt ihrer eingelagerten bzw. von ihnen erzwungenen Deutungsmuster des humanen Welt- und Selbstumgangs zu erhellen. Anders als noch Kant, der klar zwischen zwei Formen von Anthropologie unterschied – nämlich einer in „physiologischer“ und einer in „pragmatischer“ Hinsicht7, gilt es dabei nach Theoriefiguren Ausschau zu halten, die philosophische Anthropologie als Kulturtheorie so konzipieren, dass die naturalen Seiten des Lebensvollzugs und das Eingebettet-Sein der kulturellen Formen in diese nicht zu kurz kommen.
5 PLESSNER, H ELMUTH, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (Sammlung Göschen 2200), Berlin/New York: de Gruyter (1928) 31975, 323. 6 Ebd. 7 „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf Erforschung dessen, was die N a t u r aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was e r als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (KANT, IMMANUEL, Vorrede zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VII: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Berlin/New York: de Gruyter 1968, 117–332, 120).
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
1. ‚Animal symbolicum‘ – Philosophische Anthropologie als Kulturtheorie 1. ‚Animal symbolicum‘ – Philosophische Anthropologie als Kulturtheorie
In der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts ist es insbesondere die Leistung Ernst Cassirers (1874–1945) gewesen, die geforderten Theorieansprüche in einen umfassenden Entwurf einer Theorie der Kultur münden zu lassen, deren anthropologische Grundzüge nach und nach und immer stärker hervortraten. Schon seine Philosophie der symbolischen Formen geht von der These aus, wonach die Selbsterkenntnis und Weltgestaltung des Menschen stets des Umwegs über die kulturelle Formung seiner natürlichen Umgebung bedarf.8 Dabei ist zuzugestehen, dass – stärker noch als dies bei Cassirer selbst geschieht – auf das Moment der aktiven Formung von Kultur als Reaktion des Menschen auf Herausforderungen geachtet werden muss, die sich aus seiner kulturell immer schon vorgeprägten, aber natürlichen Umgebung ergeben. So gesehen ist auch der Kontingenz unserer kulturellen Lebenswelten, verstanden als Reaktionsmuster und Reaktionsweisen, mehr Gewicht einzuräumen. Und schließlich bedarf es einer verstärkten Beachtung der sozialen Konstitutionsbedingungen symbolischer Formen und ihrer Wirklichkeitserkenntnisse.9 Diese partiellen Revisionen an Cassirers Ansatz werden im Laufe des Kapitels vorgenommen und am Ende unter Rekurs auf Einsichten des Historismus und Pragmatismus explizit gemacht. Vor diesem Hintergrund ist Cassirers Ansatz so zu rekonstruieren, dass die Stärken seiner Position noch deutlicher hervortreten und einige Schwächen korrigiert werden können. Zudem lässt sich vorweg schon andeuten, dass Cassirers ideengeschichtliche Rekonstruktionen sehr wohl eine Nähe zu historistischen Ansätzen aufweisen, die den Boden für Cassirers Wiederaufnahme der hegelschen Figur des ‚objektiven Geistes‘ – jedoch ohne dessen starke normative Prämissen – bereiten, was wiederum einen stärker sozialtheoretischen Zugriff erlaubt. Insofern gilt: „Cassirer’s philosophy is a theory of historical life, but it 8 Einschlägig ist hier der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen. Eine differenzholistische Sicht auf den Zusammenhang von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, ‚Geist‘ und ‚Leben‘ prägt aber schon seine Kant-Studie, in der er die Rolle der Kritik der Urteilskraft für eine Gesamtdeutung der Philosophie Kants betont. Nach Cassirer gelingt es Kant erst in dieser Kritik, seinen Erkenntnisbegriff auf „das G a n z e des natürlichen und geistigen Lebens zu überblicken und von innen her als einem einzigen Organismus der ‚Vernunft‘ zu begreifen“ (CASSIRER, ERNST, Kants Leben und Lehre [1918], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, 384). 9 Dazu siehe jetzt als einen Versuch, Wissenssoziologie und Symboltheorie zu kombinieren: SCHRAMM, MICHAEL W., Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2014. – Man muss freilich beachten, dass Cassirer in seiner letzten Arbeit, dem Myth of State durch die verstärkte Berücksichtigung sozialanthropologischer Einsichten einer Analyse der sozialen Konstitutionsbedingungen nähergekommen ist. Dazu mehr unter § 4.6.2.
1. ‚Animal symbolicum‘ – Philosophische Anthropologie als Kulturtheorie
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is not a form of historicism; it conceives history in a normative sense.“10 Schließlich hat John Michael Krois in seiner bahnbrechenden Cassirer-Studie gezeigt, wie eng benachbart die symboltheoretischen Überlegungen Cassirers zu den analogen, zeichentheoretischen Ansätzen von Charles Sanders Peirce sind.11 Krois ist es darüber hinaus zu verdanken, durch die Edition und Berücksichtigung der Fragmente zur Metaphysik der symbolischen Formen, jenem ursprünglich geplanten, aber nicht vollendeten vierten Band des Opus Magnum, den Weg für eine Interpretation Cassirers bereitet zu haben, die dem ‚realistischen‘ Moment im Verhältnis von ‚Geist‘ und ‚Leben‘, ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ stärkeres Gewicht beimisst.12 Mit diesen knappen Hinweisen sollte lediglich angedeutet werden, inwiefern eine stärker historistisch-pragmatistische Cassirer-Rekonstruktion, wie sie hier versucht werden soll, weder willkürlich einsetzt, noch gar Anspruch auf Neuartigkeit erhebt. In jedem Fall ging es Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen nicht zuletzt darum, einen realistischeren Blick auf den Menschen und das Verstehen seiner Lebensform dadurch zu ermöglichen, dass sowohl die symbolisch geformten Lebenswelten als auch die symbolisch geformten Wissenschaften einer hermeneutischen Rekonstruktion ihrer Leistungen unterzogen wurden. Mit Blick auf diese Fragestellung gibt es streng gefasst keinen Hiat zwischen Wissenschaft und Lebenswelt: „Cassirer sought to provide a systematic understanding of both, lived experience and scientific knowledge.“13 Unter diesem Anspruch wird sich Cassirer auch explizit und ausführlich der Religion als einer symbolischen Form, als einer kulturellen Gestalt humaner Selbstdeutung und Weltgestaltung widmen. 1.1 Cassirers Grundfigur: Der Mensch als ‚animal symbolicum‘ In seinem Essay on Man, der ursprünglich als (einführende) Zusammenfassung seiner Position gedacht war, hat Cassirer 1944 seinen Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen anthropologisch auf die These zugespitzt: Der 10 K ROIS, JOHN M., Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London: Yale Univ. Press 1987, 32. Die ethischen Implikationen dieser Theorie teilt er aber gerade mit den klassischen Vertretern des Historismus, vor allem mit Ernst Troeltsch. 11 Vgl. a.a.O., 7–10. 12 Cassirer plante, die Metaphysik der symbolischen Formen als Theorie der Basisphänomene zu konzipieren. Auch wenn er dabei nicht mehr auf ontologische Beschreibungen ausgreifen wollte, so restituierte er doch damit die Frage, worauf Sinn, wie er sich symbolisch geformt artikuliert, eigentlich gründet. Unter Rekurs auf lebensphilosophische Aspekte – u.a. von Simmel – wird somit das Problem von Sinn und Sein erneut akut. Dass Cassirers Antwortversuche nur sehr partiell überzeugen, ist – mit Krois – seinem zu strikten Festhalten an transzendentaltheoretischen Denkfiguren geschuldet. Eine stärker an pragmatistische Denkfiguren angelehnte Rekonstruktion hätte hier u.U. eine verheißungsvolle Alternative dargestellt. Vgl. KROIS, Cassirer (Anm. 10), 62–71; 63.68. 13 A.a.O., 215.
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Mensch ist das ‚animal symbolicum‘. Mit dieser Formel wird schon deutlich, worin die Verbindung von philosophischer Anthropologie und Kulturphilosophie besteht: nämlich in der durch die differentia specifica der humanen Lebensform ermöglichten Fähigkeit zur Symboltätigkeit. Damit ist mehr und weniger behauptet als in den traditionell üblichen Auszeichnungen des Menschen. Weniger, weil der Mensch nicht mehr radikal von seiner animalischen Konstitution getrennt wird; mehr, weil das Spezifikum humaner Lebensführung nicht ausschließlich in seiner Vernunft- oder Geistestätigkeit liegt. Der Grund hierfür liegt in der kulturellen Konstitution des Menschseins. Weil der „Begriff der Vernunft höchst ungeeignet [ist], die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen“, und alle diese Formen symbolischer Natur sind, deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren. Auf diese Weise können wir seine spezifische Differenz bezeichnen und lernen, welcher neue Weg sich ihm öffnet – der Weg der Zivilisation.14
Cassirers Vorschlag zielt dabei nicht auf eine weitere essentialistische Definition des Menschen, sondern versteht sich programmatisch als funktionaler Zugriff. Die Philosophie der symbolischen Formen geht von der Voraussetzung aus, daß, wenn es überhaupt eine Definition des ‚Wesens‘ oder der ‚Natur‘ des Menschen gibt, diese Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann.15
Kultur als Symbolpraxis wird dadurch zwar zum Humanspezifikum im Unterschied zu tierischen Lebensformen erklärt, aber die naturale Seite des menschlichen Lebens fungiert dabei nicht als ein rein Äußerliches. Sie ist vielmehr – wie die gesamte biologische Umwelt – der Ort, an dem kulturelle Tätigkeit greift. Nur so lässt sich Cassirers Rede von der Transformation einer biologischen Umwelt zu einer symbolischen, d.h. kulturellen Welt richtig fassen. Der auf Eindrücke festgelegten Reaktion des Tieres entspricht funktional und unterscheidet sich doch zugleich fundamental das als geistigen Ausdruck verstandene Antworthandeln des Menschen: Das Eigentümliche des Menschen, das, was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken. Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des ‚Menschseins‘.16
Setzt man nun beim späten Essay on Man ein, dann eröffnet das für eine systematische Rekonstruktion seines Ansatzes die Möglichkeit, die anthropologischen und die kulturphilosophischen Fragestellungen stärker miteinander zu CASSIRER, ERNST, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944) (PhB 488), Hamburg: Meiner 1996, 51. 15 A.a.O., 110. 16 Ebd. 14
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verbinden. Damit steht Cassirers Philosophie gewiss in einer Kontinuität zu anderen zeitgenössischen Denkbemühungen17, worunter auch die implizit ethische Ausrichtung seiner Theorie zählt. Denn seine Philosophie liefert zwar eine funktionale Analyse der Struktur symbolischer Formen der Wirklichkeitserkenntnis, aber sie ist dabei doch auf das dadurch allererst prägnant zum Vorschein kommende Ideal der ‚Humanität‘ ausgerichtet. Dieses orientiert seinen Kulturbegriff: Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene ‚ideale‘ Welt zu errichten (…) Alle diese Funktionen vervollständigen und ergänzen einander. Jeder von ihnen öffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität.18
Durch diese Ausrichtung der Philosophie, die ihn scharf von Heidegger trennt19 und die von seiner Verankerung im Aufklärungsdenken herrührt20, wird nunmehr klar, dass die zur Philosophie der menschlichen Kultur transformierte philosophische Anthropologie als theoretisches Bemühen und als Interpretationsarbeit selbst ethisch bedeutsam wird. Damit zeigt Cassirer den Ausweg aus der aporetischen Lage einer philosophischen Anthropologie, die nach wie vor das Wesen und Ziel des Menschseins erhellen will. Die regulative Idee der Humanität gibt der Sinndeutung kultureller Existenz ein Maß, das weder in biologischer noch in ontologischer Hinsicht begründungspflichtig ist. Mit dieser Idee, die keine Verwechslung mit dem biologisch bestimmbaren Begriff der ‚Menschheit‘ erlaubt, gibt Cassirers Kulturphilosophie zwar keine Bestimmung des Menschen, hält sich aber die Möglichkeit seiner Bestimmbarkeit offen. Ob sich die einzelnen Aspekte der Humanität in den Feldern kultureller Existenz –
Zur Rolle Cassirers innerhalb der Richtung der Philosophischen Anthropologie siehe auch: FISCHER, JOACHIM, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/Br.: Alber 2009, 101–107. 18 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 345f. Indem Cassirer so den Begriff der ‚Humanität‘ an zentraler Stelle aufnimmt, stellt er sich selbst in die Tradition der an Herder und anderen anknüpfenden Ausdrucksanthropologie. 19 Im berühmten Davoser Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger geht es in der Gestalt divergierender Kant-Interpretationen letztlich um die Rolle der Freiheit und des daran anknüpfenden Primats des Praktischen. Vgl. CASSIRER, ERNST, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation (1931), in: ECW, Bd. 17, Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben, Hamburg: Meiner 2004, 221–250, v.a. 235–241. – Dazu auch: FRIEDMAN, MICHAEL, Carnap Cassirer Heidegger. Geteilte Wege, Frankfurt/M.: Fischer 2004, 146–149. 20 Cassirer hat der Aufklärungsphilosophie ein bis heute beeindruckendes Denkmal gesetzt. Vgl. CASSIRER, ERNST, Die Philosophie der Aufklärung (1932) (PhB 593), Hamburg: Meiner 2007. Dort wird Alexander Popes berühmter Ausspruch einleitend bereits zustimmend zitiert: „The proper study of mankind is man“ (a.a.O., 3). 17
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Sprache, Kunst, Wissenschaft – zu einem Ganzen verdichten, das hängt nicht an den Tatsachen selbst, sondern an der Prägnanz ihrer Deutung.21
Cassirers Grundmotiv, den Menschen als symbolisches Wesen zu begreifen, hat – sieht man genauer hin – eine handlungstheoretische Grundierung. Aus diesem Grund würde man seinen anthropologischen Zugriff fehldeuten, sähe man in ihm vor allem den Versuch, in biologischer und/oder ontologischer Perspektive das Wesen des Menschseins bestimmen zu wollen. Zwar setzt er lapidar ein mit der Feststellung, wonach „symbolisches Denken und symbolisches Verhalten zu den charakteristischen Merkmalen menschlichen Lebens gehören und daß der gesamte Fortschritt der Kultur auf diesen Voraussetzungen beruht, (…) unbestreitbar“ 22 sei, aber damit ist noch nichts über die Eigenart des Symbolischen gesagt, das das Humanspezifikum bildet. Will das philosophische Nachdenken bei der Beantwortung der Frage nach der Herkunft des Symbolischen nicht einem metaphysischen Irrationalismus verfallen, dann ist auf die Kontinuitäten und die Differenzen zwischen den nicht-menschlichen Lebensformen auf der einen und der humanen Kultur auf der anderen Seite zu achten. Und diese Differenzbestimmung erfolgt nun in handlungstheoretischer Perspektive. Dass Menschen die einzigen Lebewesen sind, denen eine symbolische Intelligenz und Phantasie zukommt, mag als gesetzt gelten, aber ihre Pointe ist, dass sie diese aktiv und reflexiv einsetzen können. In Anschluss an zeitgenössische Einsichten der Verhaltensforschung (v.a. Walter Köhlers) lässt sich zwar nicht verhindern, Tieren, vor allem Primaten eine praktische Intelligenz und Phantasie zuzuerkennen, die sie u.U. sogar dazu führen kann, vernunftanaloge Unterscheidungen zu treffen23; aber das verbleibt alles noch im Vorfeld der „symbolische[n] Einstellung“24, die sich ontogenetisch in jedem einzelnen menschlichen Individuum von neuem ausbildet.25 Insofern stellt die bloße Existenz von Zeichen- und Signalsystemen, wie sie schon unter Tieren verbreitet sind, noch keinen Durchbruch von der Welt der bloßen Reaktion zur Welt der menschlichen Antwort dar. Doch genau dieser Bruch markiert die Bedingung symbolischer Tätigkeit und ist von daher handlungstheoretisch interessant.
21 H ARTUNG, G ERALD, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswirst: Velbrück 2006, 362. 22 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 52. 23 „Kurzum, wir können sagen, daß das Tier über eine praktische Phantasie und Intelligenz verfügt, während allein der Mensch eine neue Form ausgebildet hat: eine symbolische Phantasie und eine symbolische Intelligenz“ (a.a.O., 60; aber auch: a.a.O., 56.68). 24 A.a.O., 60. 25 Wie sehr sich der Prozess der humanen Ontogenese noch an Einschränkungen anpassen kann, belegt auch Cassirer durch Verweis auf die eindrückliche Lebensgeschichte von Helen Keller: vgl. a.a.O., 60–62.
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Damit verbunden sind zwei Aspekte: zum einen die Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbolen und zum anderen die Transformation der natürlichen Umwelt zur kulturellen Welt. Was den ersten Aspekt anbelangt, gilt: Zeichen fungieren als partielle und episodische Hinweisindikatoren und haben daher vornehmlich eine Signalwirkung. Als solche sind sie Teil der natürlichen Welt, der „physikalischen Seinswelt“, wie Cassirer sagt. Symbole hingegen sind Teil einer relationalen Ordnung, eines Systems und lassen sich nur durch dieses verstehen bzw. in ihrer Funktion erfassen. Von daher bilden sie die wichtigsten Elemente der „menschlichen Bedeutungswelt. Signale sind Operatoren, Symbole sind Designatoren. Signale haben, selbst wenn man sie als solche versteht und gebraucht, gleichwohl einen physikalischen oder substantiellen Gehalt; Symbole haben bloß einen Funktionswert.“26 Der Umstand, dass Symbolen ein Funktionswert zukommt, verweist auf den konstitutiven Zusammenhang von symbolischem und relationalem Denken. Zwar ist schon jeder Wahrnehmungsprozess nicht einfach als Rezeption von puren Sinnesdaten zu beschreiben, sondern in sich strukturiert; insofern kann man in ihm bereits Relationen erfassen, aber erst durch deren Isolierung und Abstrahierung vom unmittelbaren Prozess des Wahrnehmens ist die Stufe zur Symbolisierung geleistet. Das bewußte Wahrnehmen von Beziehungen kann man (…) nicht als spezifisches Merkmal des menschlichen Bewußtseins behaupten. Wir finden jedoch beim Menschen eine bestimmte Art von Beziehungsdenken, für die es in der Tierwelt kein Äquivalent gibt. Der Mensch hat eine Fähigkeit ausgebildet, Beziehungen zu isolieren – sie in ihrer abstrakten Bedeutung zu verstehen. Um diese Bedeutung zu erfassen, ist er nicht mehr auf konkrete Sinneseindrücke (…) angewiesen.27
In der Fähigkeit, Bedeutungen abstrakt wahrzunehmen, zu begreifen und zu bewerten, tritt ein Distanzverhältnis zur natürlichen Umwelt ein, das aus dem Druck zum unmittelbaren Reagieren befreit und die Möglichkeit verschafft, in nicht festgestellter, offener, d.h. letztlich in freier und kreativer Weise auf die jeweiligen Situationen antworten zu können. Deswegen kann man an dieser Stelle von einer handlungstheoretischen Pointe des Ansatzes sprechen. Dabei ist offenkundig, dass unter Handlungen hier nie ausschließlich intentional, d.h. zielorientiert besetzte Aktionen gemeint sein können. Die symbolische, d.h. nicht mehr allein zeichen- bzw. signalgesteuerte Erfassung von Situationen verändert die Art ihrer Erfassung und bereitet so den
26 A.a.O., 58. – Die Differenz von Symbol und Zeichen durch diejenige von Designatoren und Operatoren zu beschreiben, greift später auch Susanne K. Langer auf. Vgl. LANGER, SUSANNE K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M.: Fischer 1965, z.B. 71. 27 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 67.
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Weg zu einem anderen, spezifisch humanen Umgang mit ihr.28 Der Bereich der Kultur erscheint als Raum der kreativen und evaluativen Gestaltung durch den Menschen. Er wird zur natürlichen Freiheitssphäre. Die relativ symbiotische Einheit von Organismus und Umwelt, wie sie die tierischen Lebensformen kennzeichnet, wird aufgebrochen. Wir befinden uns an der Scheide zwischen „Merkwelt“ und „Wirkwelt“. Zwischen beide schaltet sich ein Netz aus Symbolen und Bildern29, welches dem Menschen erlaubt, sich mittels symbolischer Verdichtung Distanz zum Druck der natürlichen Umwelt zu verschaffen. Seine Freiheit bedeutet daher auch keinen Austritt aus der Natur, wohl aber deren potentielle Transformation zur Kultur. Denn diese verfährt in einer Art „Umkehrung der natürlichen Ordnung“. Im Netz der symbolischen Formen als Weisen der Wirklichkeitserfassung tritt die physische Realität in dem Maße zurück „wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun.“30 Daraus resultiert die Verschränkung von Selbst- und Welterkenntnis, wie sie jede kulturelle Praxis nach Cassirer auszeichnet. Mit der im symbolisch codierten, kreativen Handeln als Antworten auf Situationen und Umgebungen erreichten qualitativen Differenz verändert sich der Blick auf alles, inklusive der Wirklichkeit, in der wir leben und die für uns Bedeutung hat. Auch dafür steht das Symbol. Es bringt die kulturphilosophische Bestimmung des Menschen als animal symbolicum, wie sie Cassirer später als Zusammenfassung und Resümee seiner Philosophie der symbolischen Formen entworfen hat, im anthropologischen Horizont prägnant zum Ausdruck. 1.2 Philosophische Anthropologie und die Logik der Kulturwissenschaften Cassirers Kulturtheorie ist Philosophie, keine Kulturwissenschaft. Allerdings impliziert sie ein spezifisches Verständnis der Kulturwissenschaften und ihrer hermeneutischen Aufgabe. Schon wenige Jahre vor Abschluss des Essay on Man hat Cassirer sich mit der Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften da-
Dabei verweist Cassirer – ganz im Einklang etwa mit analogen Überlegungen von George Herbert Mead und der neueren evolutionären Anthropologie (z.B. bei Michael Tomasello) – auf die grundsätzliche Bedeutung der Sprache, die als Lautsprache gegenüber der taktilen den Vorteil mit sich bringt, die Welt der materiellen Dinge in ihrem Bedeutungsreichtum überhaupt erst ‚zum Sprechen zu bringen‘, vgl. a.a.O., 63f. 29 C ASSIRER, ERNST, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 61994, 27. – Hier ist der Ort, an dem sich für Cassirer die kultur-, genauerhin: sprach- und erkenntnistheoretische Leistung von „Metaphern“ zeigt. Ihr Innovationspotential macht sich an ihrer kreativen Formungskraft zur Wirklichkeitserschließung und -interpretation bemerkbar. 30 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 50. Er knüpft dabei an die Überlegungen von Jakob von Uexkülls zum Funktionskreis von Lebewesen an. 28
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rum bemüht, die kulturphilosophische Weitung seiner Philosophie (der symbolischen Formen) in einen wissenschaftstheoretischen Rahmen zu stellen.31 Drei Aspekte sind hier von besonderem Gewicht, die es kurz zu umreißen gilt: Erstens geht es um das Verhältnis von philosophischer Kulturtheorie und empirischen Kulturwissenschaften – im Übrigen ganz analog zum Ansatz einer die empirische und historische Religionsforschung einbeziehenden Religionsphilosophie, wie sie in dieser Arbeit vertreten wird; zweitens bemüht sich Cassirer hier, die Natur/Kultur-Differenz auch begrifflich besser fassen zu können; und drittens soll auf die an keiner anderen Stelle seines Werkes klarer zum Ausdruck gebrachte Position eines kritischen, symbolischen Anthropomorphismus eingegangen werden.32 Erstens: Cassirers kulturphilosophische Betrachtung des Menschen kennt eine Vielzahl an symbolischen Formen. Sie umfasst u.a. Sprache, Mythos und Religion, Wissenschaft, aber auch Kunst, Geschichte und das Recht. Selbst die Philosophie wird man als einen solch elementaren Bestandteil der Kultur werten dürfen, freilich liegt sie im Grunde quer zu den anderen. Inwiefern dies gilt, ist nicht zuletzt Thema der Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942). Die entscheidende Frage lautet nämlich, wie sich Philosophie als kritische Reflexionsinstanz zu den empirischen Kulturwissenschaften verhält. Einerseits ist Cassirers Antwort die, dass sie sich auf die Formanalyse der einzelnen kulturellen Symbolsysteme beschränkt und darin zugleich ihre kritische Rolle wahrnimmt, das ethische Ziel der Kultur nicht aus den Augen zu verlieren. Andererseits bedarf sie dazu der hermeneutischen Detailarbeit am konkreten, empirisch aufweisbaren (bzw. gegebenen) Material. Ohne das Wechselspiel aus hermeneutischer Analyse und begrifflicher Konstruktion kann die Selbsterfassung des Menschen über seine kulturellen Gestalten nicht gelingen. Gegenüber den Einzelwissenschaften konzentriert sich die Philosophie dabei auf den Primat der ‚Funktion‘ der jeweiligen symbolischen Form, wie sie sich in den Wissenschaften und der durch sie konturierten Wirklichkeitsperspektiven bemerkbar macht. Cassirer kommt auch hier von einem praktischen Weltzugang von Wissenschaften und Künsten her. Der Kantische Weltbegriff der Philosophie wird durch den Dabei ist Birgit Recki in ihrem Urteil zuzustimmen, die fünf Studien haben „zwar nicht den Grad an Präzision und Differenziertheit wie Substanzbegriff und Funktionsbegriff“, lassen aber gleichwohl erkennen, wie sehr „Cassirers Beschäftigung mit der Methodologie der Geisteswissenschaften anhaltend war“ (RECKI, BIRGIT, Cassirer [Grundwissen Philosophie], Stuttgart: Reclam 2013, 66). 32 Mit der Umkehrung der Rekonstruktion von Cassirers Philosophie von der Spätphase zur Zeit der Entstehung seines Hauptwerkes und der Fokussierung auf die oben genannten, drei wissenschaftstheoretischen Implikationen wird auch deutlich, worin ich mich von Cassirer-Interpreten unterscheide, die – wie z.B. Thomas Vogl – keinen Bruch oder Abschied von „kantianisierender Letztbegründung“ (VOGL, THOMAS, Die Geburt der Humanität. Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer (Cassirer-Forschungen 4), Hamburg: Meiner 1999, 3) bei Cassirer feststellen können. 31
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Begriff der Kultur bei Cassirer präzisiert, weil die philosophische Analyse sich „von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht lösen“33 kann. In den symbolischen Formen als kulturelle Gestaltungsweisen von Welt vollzieht sich somit der Aufbau (und Umbau) zu einem „objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen“34. Was die Philosophie also im Gegenüber zu den einzelnen symbolischen Formen und den ihnen korrespondierenden empirischen Einzelwissenschaften leistet, ist eine kritische Analyse des ihnen inhärenten Objektivitätsproblems bzw. den Wegen und ‚Zielen der Wirklichkeitserkenntnis‘ 35: Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus, jedem Versuch des Welt-Verständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuerkennen und ihre Eigentümlichkeit begreifen. Erst auf diese Weise wird das Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite sichtbar und, so gefaßt, umspannt es nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur.36
Cassirer beharrt also auf der Unterscheidung von Einzelwissenschaften und Philosophie, ohne dabei letztere als eine Art Meta-Theorie zu verstehen.37 Denn die Philosophie kann ihre Arbeit nie abseits, sondern nur ‚in, mit und unter‘ der Beachtung der Erkenntnisse der einzelnen Wissenschaften erfüllen. Ein Verständnis jener ist notwendig, insofern stellt sie noch in ihrer kritischen Rolle eine hermeneutische Disziplin dar. Von daher kann Philosophie stets nur als Sprach-, Kunst-, Natur- oder Religionsphilosophie tätig werden und darüber hinaus, die diversen Gestalten von Kultur in einer Kulturtheorie bemühen, in ein möglichst egalitäres Gleichgewicht zu bringen. In der vierten Studie der Logik skizziert Cassirer, wie die hermeneutischkritische Vorgehensweise sowohl der Philosophie als auch der einzelnen Kulturwissenschaften genauer auszusehen hat: „In aller Betrachtung von Kulturgebilden steht die Werdens-Analyse, die sich im wesentlichen auf die Kategorie
33 C ASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), ECW, Bd. 11. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2010, 9 [im Folgenden abgek.: PhsF I]. An dieser Stelle spricht Cassirer auch die berühmte Formel aus: „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur“ (ebd.). 34 Ebd. 35 Vgl. C ASSIRER, ERNST, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis (ECN 2), hg. v. John M. Krois/Klaus-Christian Köhnke, Hamburg: Meiner 1999. – Diese in der CassirerForschung noch zu wenig beachtete Studie war als abschließender, systematischer Teil seiner Geschichte des Erkenntnisproblems konzipiert. 36 Vgl. C ASSIRER, Logik (Anm. 29), 20. 37 Deswegen steht Cassirer sowohl Ansätzen, die im Gefolge Hegels der Philosophie die Aufgabe absoluter Vermittlung zuweisen, als auch Theorien, die unter Rekurs auf kausale oder funktionale Strategien, den Eigenwert der unterschiedlichen Kulturfunktionen negieren, kritisch gegenüber. Vgl., a.a.O., 98.
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von Ursache und Wirkung stützt, der Werk-Analyse und der Form-Analyse gegenüber.“38 Während die erste Analyseform auf die historische Konstitution aller Kulturformen und Wissenschaftseinsichten abstellt39, kommt die für die Philosophie zentrale Formanalyse nicht ohne vorige Analyse der kulturellen Gestaltformationen, d.h. Werke aus. So gleichwertig die drei analytischen Schritte erscheinen, ihre Reihenfolge ist nicht beliebig. Streng genommen aber belässt es Cassirer auch nicht bei diesen Schritten, sondern er fügt einen weiteren hinzu, den er Akt-Analyse nennt. Er verdeutlicht, dass in den wissenschaftstheoretischen Analysen die Perspektive der philosophischen Anthropologie nicht außen vor bleiben darf. Geht es doch in der Akt-Analyse um die Suche nach den seelischen Prozessen, den Richtungen der Phantasie, des Glaubens, des Gefühls, des Vorstellens, die das jeweilige Symbolbewusstsein als Symbolbewusstsein ausmachen. Im Zusammenspiel von Werdens-, Werk-, Form- und Akt-Analyse wird klar, warum mit der symbolischen Expressivität des Menschen nicht der Vorgang der Veräußerlichung von etwas ursprünglich Innerlichem oder Intendiertem gemeint sein kann. Denn nur über den Weg der Expression bzw. Artikulation nimmt das, was erlebt und erfahren wird, überhaupt Konturen und Gestalt an. Anders gesagt: Das Selbstverstehen kann nur über den Umweg über seine kulturelle Formung erreicht werden.40 In dieser Distanzierung liegen noch die vielfältigen Formen von Negation letztlich begründet. Zweitens: Cassirers Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen zielt von Anfang an darauf, Weltbegreifen und Wirklichkeitserkenntnis nicht allein den Naturwissenschaften zu überlassen. Das bedeutet nicht, die Leistungsfähigkeit gerade naturwissenschaftlicher Theoriebildung in Abrede zu stellen. Deren Begriffssprache erlaubt es, intersubjektiv für alle einsehbar universale Geltungsansprüche zu erheben. Denn „jeder Satz lässt sich in sie übersetzen; und was als unübersetzbarer Rest stehenzubleiben scheint, ist überhaupt kein Sachverhalt.“41 Wie aber verhält sich zu diesem Anspruch das Eigenrecht Vgl. a.a.O., 97. Prägnant formuliert: „Wir können keine Sprachwissenschaft, keine Kunstwissenschaft, keine Religionswissenschaft treiben, ohne daß wir uns auf das stützen, was die Sprachgeschichte, die Kunstgeschichte, die Religionsgeschichte uns lehrt“ (a.a.O., 96). 40 Die vorangegangenen Überlegungen stimmen mit Cornelia Richters Interpretation des Verhältnisses von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften weitgehend überein. Nur in einem, für das Verstehen der Expressivität allerdings entscheidenden Punkt, weiche ich von ihr ab. Richter klammert die Akt-Analyse, d.h. die Rekonstruktion des „Vorgang[s] des Symbolisierens oder die symbolische Prägnanz“ (RICHTER, CORNELIA, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Differenzen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 132), wie sie auf differente Weise den einzelnen symbolischen Formen inhäriert, aus der Aufgabenbestimmung einer Philosophie der symbolischen Formen aus. Das kann man m.E. nur behaupten, wenn man den systematischen Link von Symboltheorie und Ausdrucksanthropologie – wie er für den späten Cassirer einschlägig ist – unterbestimmt lässt. 41 C ASSIRER, Logik (Anm. 29), 41. 38 39
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der Kulturwissenschaften bzw. das Eigenrecht der Kultur in ihren symbolischen Ausprägungen? Ungeachtet der Tatsache, dass Cassirer mit dieser Fragestellung an seine eigene neukantianische Herkunft anknüpft, schlägt er in der Logik der Kulturwissenschaften einen eigenständigen Weg zur Erfassung der Differenz von Natur- und Kulturwissenschaften vor. Er verhandelt sie nämlich in begrifflicher Weise, insofern er den Status von Natur- und Kulturbegriffen wissenschaftstheoretisch klären will. Dazu dient ihm deren Rückbindung an zwei Modi der Wahrnehmung von symbolisch strukturierter Wirklichkeit: der Dingund der Ausdruckswahrnehmung. Das meint nicht, dass die kulturellen Objekte und Phänomene „aus dem Kreise der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, die es mit Dingen und Dingverhältnisses zu tun hat, (…) prinzipiell heraus[fallen].“42 Eine solche Immunisierungsstrategie ist schon deswegen verfehlt, weil noch die „Werke der Kultur (…) physisch-materialer Art [sind]; die Individuen, die diese Werke schaffen, (…) ihr psychisches Dasein und Eigenleben [haben].“43 Und weil dies alles „unter physikalischen, psychischen und soziologischen Kategorien untersucht und studiert werden“44 kann (und muss). Doch würde man es bei einer derartigen Behandlung kultureller Phänomene belassen, würde man deren Eigensinn nicht erfassen. Hier nun setzt die Differenz zwischen Ding- und Ausdruckswahrnehmung an. So sprachlich verunglückt sie mit Blick auf die Sachverhalte gewählt ist, die an naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen anknüpfen – insofern weder moderne Mathematik noch Physik, wie Cassirer selbst eindrücklich gezeigt hat, es mit „Dingen“ oder „Dingverhältnissen“ zu tun haben –, so glücklich scheint sie mir für die kulturellen Tatbestände zu sein. Denn in der Ausdruckswahrnehmung liegt begründet, dass kulturelle Formen und ihre kulturwissenschaftliche Erfassung nicht als abstrakte Strukturen, Regeln und Gesetzmäßigkeiten quantifiziert werden können. Vielmehr lassen sie sich als individuelle und kollektive Ausdrucksformen menschlicher Sinn- und Handlungszusammenhänge verstehen. Kultur stellt als Erinnerungs- und Gestaltungssphäre intersubjektiven Agierens und Symbolisierens ein in den natürlichen Zusammenhang eingefassten Prozess dar, der eine bestimmte Art der Partizipation voraussetzt, die nicht die des unbeteiligten Beobachtens sein kann. Kultur ist gleichfalls eine ‚intersubjektive Welt‘; eine Welt, die nicht in ‚mir‘ besteht, sondern die allen Subjekten zugänglich sein und an der sie alle teilhaben sollen. Aber die Form dieser Teilhabe ist eine völlig andere als in der physischen Welt. Statt sich auf denselben raumzeitlichen Kosmos von Dingen zu beziehen, finden und vereinigen sich Subjekte in einem gemeinsamen Tun.45
A.a.O., 49. A.a.O., 50. 44 Ebd. 45 A.a.O., 75. 42 43
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Was als ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ begrifflich gefasst wird, setzt einerseits an unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi an und resultiert andererseits aus daran anknüpfende, divergente Wissenschaftsmethoden. So bilden Ding- und Ausdruckswahrnehmung zusammen die Grundlage für das Beieinander, Ineinander und die Unterschiedenheit von Natur- und Kulturperspektiven und der darauf aufbauenden Natur- und Kulturbegriffe. Ihr Ineinander-Führen ist für Cassirer ebenso ausgeschlossen, wie eine endgültige Scheidung in zwei voneinander abgeschiedene Wirklichkeitsbereiche. Die ‚Wirklichkeit‘, die wir in der Wahrnehmung und in der unmittelbaren Anschauung erfassen, gibt sich uns als ein Ganzes, in dem es nirgends schroffe Trennungen gibt. Und doch ist sie ‚eins und doppelt‘; denn wir erfassen sie auf der einen Seite als dingliche, auf der anderen Seite als ‚personale‘ Wirklichkeit.46
Aus der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Wahrnehmung physischer Dinge (Sachverhalte) ergibt sich eine Auffassung von ‚Natur‘, bei der es wesentlich um strukturelle Gleichförmigkeit und Kohärenz geht, weswegen Eigenschaftskonstanz und Gesetzeskonstanz „die wesentlichen Züge der physischen Welt“47 darstellen. Auch die Dominanz kausaler Denkmuster rührt daher. Demgegenüber lassen sich die kulturellen Ausdrucksphänomene zwar auch kausal erklären, aber ihr Spezifikum liegt darin, dass sie sich durch eine ihnen jeweils inhärente Form- bzw. Strukturgesetzgebung auszeichnen.48 Diese kohärent zu erfassen, ist Aufgabe der Kulturwissenschaften, die demnach ebenfalls auf Kohärenz abzielen (müssen). Es wäre somit völlig verfehlt, würde man Cassirer unterstellen, entlang der Linie von Ding- und Ausdruckswahrnehmung, von Kausal- und Formbegriff eine strikte Trennung von Natur- und Kulturwissenschaften zu fordern. Wenn er mit Blick auf Formbegriff und Kausalbegriff schreibt, dass „das Bündnis zwischen beiden für die empirische Forschung nur fruchtbar werden [kann], wenn jeder von ihnen sein Eigenrecht und seine Selbstständigkeit“49 behält, dann geht es ihm darum, nicht vorschnell die Divergenz der Perspektiven zu unterschlagen. Dieser Perspektivendualismus, wie er sich begrifflich auch in die Termini von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ fassen lässt, beharrt im Grunde nur auf zweierlei: Zum einen auf der Einsicht, dass „die Frage nach der Entstehung der
A.a.O., 73f. A.a.O., 74. 48 Cassirer gebraucht neben dem Formbegriff als Gegenüber zum Kausalbegriff auch die Rede vom „Strukturbegriff“, vgl. a.a.O., 62.96 u.ö. 49 A.a.O., 100. 46 47
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Symbolfunktion wissenschaftlich nicht lösbar ist“50, was selbst noch für die Naturwissenschaften gilt51; und zum anderen, „daß nicht alles Wissen in der Erkenntnis vom Entstehen aufgeht, sondern daß es daneben eine andere Erkenntnisform gibt, die es statt mit dem Entstehen, mit dem reinen Bestand zu tun hat.“52 Drittens wird vor diesem Hintergrund auch Cassirers Plädoyer für das, was er einen kritischen, symbolischen Anthropomorphismus nennt, deutlich. Dieser beruht auf seiner differenzholistischen Sicht der Natur- und Kultursphäre und auf deren begrifflicher Erfassung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Für ein vorurteilsarmes Verstehen religiöser Wirklichkeitserkenntnis wird das von zentralem Belang sein. Was ist darunter zu verstehen? Wenn das kulturelle Begreifen an der Ausdruckswahrnehmung ansetzt und diese wiederum sich dadurch auszeichnet, dass sie die intersubjektiv verfasste Wirklichkeit als mit ‚personalen‘ Zügen versehen erfasst, dann ist es nur folgerichtig, dass deren Beschreibungsformen ebenfalls davon geprägt sind. Cassirers Theorie der Kulturwissenschaften impliziert somit eine bestimmte Haltung im Umgang mit dem Anthropomorphismus-Problem.53 Cassirer formuliert seinen kritisch-symbolischen Anthropomorphismus zwar erstmals in Logik der Kulturwissenschaften deutlich aus, so wie er auf ihn dann im Essay on Man bei der Behandlung der symbolischen Formen im Einzelnen zu sprechen kommt, doch werkgeschichtlich reichen die Konturen seiner Position bis in die Frühphase zurück. Bereits in seiner Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie nimmt er eine interessante Unterscheidung vor, für deren Vorbild er nicht zuletzt auf Kant54 rekurriert. Cassirer unterscheidet von Ebd. Denn die Naturwissenschaften nehmen in diesem Theoriegefüge eine Art Zwitterstellung ein. Stellen sie doch als Naturwissenschaften kulturelle bzw. symbolische Formen dar und sind somit Teil von Kultur, obwohl ihr Gegenstand als das ‚Andere‘ der Kultur in seiner Eigenart als ‚Natur‘ durch sie erfasst werden soll. Entsprechend inhäriert ihnen als Wissenschaften ein bestimmtes symbolisches Formprinzip, zu dem aber gehört, dass der von ihnen untersuchte Gegenstandsbereich wesentlich durch Kausalbegrifflichkeiten rekonstruiert und erklärt wird. 52 A.a.O., 100f. 53 Ralf Becker, dessen Studie ich zu dieser Fragestellung Wichtiges verdanke, geht sogar so weit, seine Cassirer-Darstellung unter den Titel „Kultur als Anthropomorphismus“ zu stellen. Vgl. BECKER, RALF, Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt/M.: Klostermann 2011, 260–286. 54 Gemeint ist Kants Zurückweisung der anthropologischen Religionskritik Humes durch die Unterscheidung eines dogmatischen von einem symbolischen Anthropomorphismus, in: KANT, IMMANUEL, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. IV: Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781). Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Berlin/New York: de Gruyter 1968, 253–383, §§ 57–58, 350–357. 50 51
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einem „psychologischem Anthropomorphismus“, der in naiver Weise aller Wirklichkeit menschenähnliche Züge unterstellt, einen Anthropomorphismus, der „in einem allgemeinen kritisch-transzendentalen Sinne zu verstehen sei.“55 Dem transzendentalen Anthropomorphismus geht es darum, festzuhalten, dass alle humanen Erkenntnisfunktionen und -leistungen durch die Bedingung geprägt sind, von einem erkennenden Subjekt vollzogen zu werden. Nicht also die Wirklichkeit ‚an sich‘ oder die Erfahrungsgegenstände ‚als solche‘ dürfen mit anthropomorphen Zügen versehen werden, darin bleibt diese Position kritisch; wohl aber gilt noch für das Verstehen der Leistung von Begriffen wie ‚Ursache‘, ‚Grund‘, ‚Kraft‘ etc., dass sie ihre Fundierung in anderen vorwissenschaftlichen Erfahrungszusammenhängen haben. Zwar kommen wir aus jener anthropomorphen Prägung aller Wissenschaft als symbolische Formen und kulturelle Praktiken nicht heraus, aber wir sind sehr wohl dazu fähig, sie standpunktreflexiv einzuholen und zu operationalisieren. Dies hat in den Natur- und Kulturwissenschaften und der sie reflektierenden Philosophie in unterschiedlichem Maße – je dem Gegenstand angemessen – zu geschehen. Allgemein formuliert: „Die Form der Allgemeinheit [der Gesetzesaussagen der Naturwissenschaft; C.P.] ist der Kulturwissenschaft nicht erreichbar. Dem Anthropomorphismus und Anthropozentrismus kann sie nicht entsagen.“56 Das Entscheidende an dieser Auffassung ist, dass sie keine Einschränkung des Objektivitätsanspruches der Kulturwissenschaften und damit der Geltung von kulturellen Beständen meint. Weder wird damit methodischer Willkür Tür und Tor geöffnet, noch einem hermeneutischen Subjektivismus das Wort geredet. Am Beispiel der Geschichte illustriert: So wie die Sprache oder die Kunst ist auch die Geschichte ihrer Grundlage nach anthropomorph. (…) Der Anthropomorphismus des historischen Denkens bedeutet jedoch keine Einschränkung oder Behinderung der objektiven Wahrheit. Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist Form der Selbsterkenntnis. (…) Das historische Selbst ist allerdings nicht individuell. Es ist zwar anthropomorph, aber nicht egozentrisch. Mit einer paradoxen Formulierung könnten wir sagen, daß die Geschichtsschreibung auf einen ‚objektiven Anthropomorphismus‘ zielt.57
Anders gesagt, stellt die anthropomorphe Gestalt kultureller Phänomene eine wesentliche Voraussetzung dafür bereit, dass jene überhaupt in einer ihnen angemessenen Form verstanden werden können. Insofern ließe sich auch von einem „hermeneutischen Anthropomorphismus“58 sprechen. Dazu gehört jener 55 C ASSIRER, ERNST, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, ECW, Bd. 10, Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker, Hamburg: Meiner 2001, 111. 56 C ASSIRER, Logik (Anm. 29), 76. 57 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 291f. 58 B ECKER, R ALF, Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus, in: Birgit Recki (Hg.), Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens.
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hermeneutische Zirkel aus kulturellem Ausdruck und der Möglichkeit seiner Interpretation im Modus des Selbstverstehens, auf dem noch Cassirers funktionaler Kulturbegriff beruht und den er mit Ansätzen aus dem Umfeld des Historismus teilt. Anders ließe sich eine Formulierung wie die folgende kaum verstehen: Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den „Monumenten“, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit. Sie sind ‚dauernder als Erz‘; denn in ihnen besteht nicht nur ein stoffliches weiter, sondern sie sind der Ausdruck eines Geistigen, das, wenn es auf verwandte und empfängliche Subjekte trifft, jederzeit wieder aus seiner stofflichen Hülle befreit und zu neuer Wirkung erweckt werden kann.59
Sowohl die Ausdrucksphänomene als auch die als Objektivationen gefassten kulturellen Werkgestalten verunmöglichen nicht nur eine psychologistische Hermeneutik der Einfühlung, sondern sie sind es eigentlich, die – systematisch betrachtet – eine Philosophie der symbolischen Formen erforderlich machen.
2. Zur Konzeption einer ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ 2. Zur Konzeption einer ‚Philosophie der symbolischen Formen‘
Die Grundbausteine seiner philosophischen Anthropologie und Kulturtheorie hat Cassirer nirgendwo deutlicher expliziert als in seiner Philosophie der symbolischen Formen. Dieses dreibändige Werk legt im Kern sowohl eine Wissenschafts- und Erkenntnistheorie als auch eine Symbol- und Kulturtheorie frei. Wir konzentrieren uns in der hier gegebenen Übersicht auf die vier Gesichtspunkte der Verbindung von Wissenschafts- und Symboltheorie, der irreduziblen Pluralität symbolischer Formen, dem differenzholistischen Moment unter dem Aspekt der symbolischen Prägnanz sowie der evolutionären Strukturlogik der symbolischen Formen. Dieser selektive Zugriff wird sich hoffentlich in den darauffolgenden Abschnitten rechtfertigen, wenn die Betrachtung der Entwicklung von Kulturtechniken und Symbolansichten mit der Analyse des Basisphänomens des Ausdrucks verbunden wird. Beide Punkte zusammen lassen auch ein spezifisches Licht auf Religion als symbolischer Form fallen, so wie sie Cassirer versteht. 2.1 Der Funktionsbegriff und das Problem des Symbolischen Cassirers wissenschaftstheoretisch einflussreichste Schrift betrifft gar nicht den konzeptionellen Rahmen seiner späteren Kulturtheorie. In Substanzbegriff und Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert (Cassirer Forschungen 15), Hamburg: Meiner 2012, 421–436, 429. 59 C ASSIRER, Logik (Anm. 29), 126.
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Funktionsbegriff (im Folgenden abgekürzt: SF) wird vielmehr um eine adäquate Wissenschafts- und Erkenntnistheorie von Mathematik, Logik und moderner Naturwissenschaften gerungen.60 Rückblickend betrachtet ließe sich diese Schrift jedoch als eine erste Analyse der (Natur-)Wissenschaft als einer symbolischen Form begreifen. Von Belang ist für uns aber ein anderer Punkt, nämlich die von Cassirer in SF unterbreitete Theorie der Begriffsbildung mit seiner Diagnose des Wandels vom Substanz- zum Funktionsbegriff. Damit hängt die These von der ‚Entzweiung‘61 der natürlichen Welt von der Welt der begrifflich verfassten Naturwissenschaften zusammen, ohne welche die modernen Wissenschaften gar nicht denkbar sind. Die Leistung der modernen (Natur-)Wissenschaften, vor allem der ihnen zugrundeliegenden modernen Logik, liegt kurz gesagt in ihrem abstrahierenden und quantifizierenden Verfahren. Beides lässt eine funktionale Egalisierung zu, die der klassischen Logik (aristotelischer Provenienz) fehlt. Dadurch aber ändern sich die Möglichkeiten zur begrifflichen Erfassung von Ordnungen, von Strukturen und regelhaften Prozessen. Begriffe sind für Cassirer das Resultat der Einsicht in Reihenbildungsprozesse. In der dadurch gegebenen Verbindung wird die Subsumtion oder Einsammlung des Mannigfaltigen unter einen einheitlichen Begriff möglich, ohne dass die Reihenglieder mit Funktionsstelle einfach verschwinden. Deswegen ist „alle Begriffsbildung an eine bestimmte Form der Reihenbildung gebunden“62. Folglich nennen wir „ein Mannigfaltiges der Anschauung begrifflich gefaßt und geordnet, wenn seine Glieder nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern gemäß einer erzeugenden Grundrelation von einem bestimmten Anfangsglied aus in notwendiger Folge hervorgehen.“63 Durch diese Konstellation verändert sich grundlegend das Verständnis von Identitätsbestimmung als wesentliche Leistung von Begriffen. Die Identität eines erkannten Sachverhaltes lässt sich nicht mehr länger als eine dinglich-substantielle verstehen, sondern funktioniert nur über die Angabe seiner Stelle innerhalb einer funktional-relationalen Ordnung, einer Reihe. Der Übergang vom Substanz- zum Funktionsbegriff bringt es mit sich, dass die begrifflichen Ordnungen mit samt ihren elementaren Gliedern als Zahl, Raum, Subjekt, Objekt etc. als relationale, genauer gesagt als strikt korrelative Größen zu betrachten sind. Insofern man im begrifflichen Erfassen immer noch von einer Vorordnung des ‚Ganzen‘ vor seinen ‚Teilen‘ sprechen kann, ist diese keine metaphysische
60 Vgl. C ASSIRER, ERNST, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, ECW 6. Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker, Hamburg: Meiner 2000. 61 Vgl. a.a.O., 293. 62 A.a.O., 14. 63 Ebd.
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mehr, sondern mit der Setzung eines Reihenprinzips, d.h. in der (hypothetischen) Formulierung eines Gesetzes als Reihenbildungsregel gegeben. Auch die Allgemeinheit, auf die solche Reihenbildungsprozesse zielen, lässt sich dann nicht mehr qualitativ fixieren, sondern besteht in der universalen Anwendung des Reihenprinzips auf alle seine Glieder: Der I n h a l t des Begriffs läßt sich in die Elemente des U m f a n g s nicht auflösen, weil beide nicht auf einer Linie liegen, sondern prinzipiell verschiedenen Dimensionen angehören. Die Bedeutung des G e s e t z e s , das die Einzelglieder verknüpft, ist durch die Aufzählung noch so vieler Fälle des Gesetzes nicht zu erschöpfen; denn bei dieser Aufzählung fiele gerade das erzeugende P r i n z i p fort, das die einzelnen Glieder zu einem funktionalen Inbegriff verknüpfbar macht.64
Damit ist ein prinzipiell anderes Modell von wissenschaftlicher Erkenntnis und der Funktion von Begriffen gezeichnet. Deren inhaltliche Bestimmtheit lässt sich nicht mehr abseits der Einsicht in das jeweilige Prinzip der Reihenbildung generieren. Konstituiert sich durch eine Reihe zugleich die Richtung auf dasjenige, was durch sie erkannt werden soll, so bedarf es dazu der Bestimmung der sie konstituierenden Reihenglieder sowie der Fixierung der die Reihe gleichermaßen konstituierenden Reihenregel. Die Einheit stiftende Funktion der Reihe im Aufbau von Wirklichkeitserkenntnis erfolgt über die Dynamik von Konstanz und Kontinuität qua Varianz. Dies wird durch das Prinzip der Reihe gewährleistet, wohingegen die einzelnen Reihenglieder zu Repräsentanten der Reihe werden können. Cassirer illustriert das schön am Beispiel der Tafel der chemischen Elemente: Das einzelne Glied wird zum Repräsentanten der Gesamtgruppen, denen es angehört und die aus ihm durch die gesetzliche Variation bestimmter Grundbestandteile hervorgehen können. Indem die Konstitutionsformel diese Verbindung herstellt, ist sie freilich eben dadurch zugleich der echte wissenschaftliche Ausdruck der empirischen Realität des Körpers: Denn diese besagt nichts anderes als die durchgängige objektive Verknüpfung, in welcher ein individuelles Ding oder ein besonderes Ereignis mit dem Inbegriff der wirklichen und möglichen Erfahrungen überhaupt steht.65
Der so rekonstruierte Prozess der Wissens- und Erkenntnisgewinnung ist von sich aus offen für seine symboltheoretische Weitung. Denn unter ‚Symbol‘ verstehen wir ganz allgemein ein Zeichen, das uns über sich hinausführend auf das Gesamt des Erfahrungsgehaltes verweist, indem es als ein Teil dessen diesen repräsentiert. Sein Repräsentationscharakter als Einzelglied verweist auf die Gesamtheit wirklicher und möglicher Erfahrungen, wie sie durch den Reihenprozess anvisiert ist und verhilft durch das Moment der Kontinuität in allen Va-
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A.a.O., 25. A.a.O., 234.
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riationen zu einer umfänglichen Wirklichkeitserkenntnis. Allein es bleibt entscheidend, diese Leistung des Symbols nicht substantiell, sondern funktionell zu verstehen.66 In der Repräsentationsfunktion von Symbolen geht es somit nicht mehr um Abbildung. Vielmehr vollzieht diese sich innerhalb eines offenen, darin auf immanente Transzendenz abstellenden Verweisungszusammenhangs von Reihen, für die Symbole stehen und auf deren Prinzip sie jeweils verweisen. Damit stehen sie aber – wie die gesamte dadurch konstituierte Erkenntnis – unter der Form des Zeitbewusstseins. Denn die Form der Reihe impliziert selbst das Moment der Zeit, wie Michael Moxter zu Recht festgestellt hat: „Die funktionale Bestimmung der Zeit wird am Phänomen der Repräsentation entwickelt. Als Zeitphänomen tritt also die Repräsentation nicht äußerlich zum Sein der Sache hinzu.“67 Dies gilt freilich nicht nur für empirische Sachverhalte, sondern generell für den begrifflichen Aufbau von Wirklichkeit, sofern er sich als „logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten“68 beschreiben lässt. Die Modifikationen, die Cassirer bei der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen an dem Ansatz von SF vornimmt, haben vornehmlich mit der kulturtheoretischen Weitung der Perspektiven zu tun. Die nicht strikt auf ein naturwissenschaftlich verstandenes Objektivitätsideal ausgerichteten Weisen kultureller Welterschließung und wissenschaftlicher Weltbetrachtung machen es erforderlich, nach der möglichen ‚Objektivität‘ und ‚Wahrheit‘ nicht-naturwissenschaftlicher Wirklichkeitserkenntnis zu fragen.69 An dieser Stelle führt Cassirer dann die Stichworte von ‚Sinn‘ und ‚Form‘ ein.70 Denn
66 „Denn der einzelne gegebene Eindruck bleibt nicht schlechthin was er ist, sondern wird zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren er steht und an welcher er in bestimmten Maße teilhat“ (a.a.O., 303). 67 M OXTER, M ICHAEL, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem der Kulturtheologie (HUTh 38), Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 135. 68 A.a.O., 302. 69 Dabei müssen natürlich funktionale Äquivalente erhalten bleiben. So besteht auf naturwie kulturwissenschaftlicher Seite das philosophische Problem einer Dichotomie von Subjekt und Objekt bzw. Denken und Sein. Objektivität, wie Cassirer sie in SF skizziert, wird durch Einsicht in die Position eines Elementes innerhalb einer aufgrund ihres Reihenprinzips prinzipiell beschreibbaren Funktionsreihe gewährleistet. Vgl. die Ausführungen zum „Begriff der Wirklichkeit“ und zu „Subjektivität und Objektivität der Relationsbegriffe“ in: CASSIRER, Substanzbegriff (Anm. 60), 292–333.334–352. Es lässt sich m.E. zeigen, dass Cassirer einen ähnlichen Weg für die am Formproblem orientierten Kulturwissenschaften vorschlägt. 70 Den Wandel kann man schön in der Abfolge zweier Aufsätze verfolgen, von denen der eine kurz nach Vollendung von SF geschrieben wurde und der andere kurz vor Abschluss von Band III der Philosophie der symbolischen Formen: vgl. CASSIRER, ERNST, Die Erkenntnistheorie nebst Grundfragen der Logik (1913), in: Ders., Erkenntnis, Begriff, Kultur, hg., eingeleitet und mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A. Bast, Hamburg: Meiner
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Kulturphilosophie – jedenfalls im Sinne einer Philosophie der symbolischen Formen – bemüht sich, die „allgemeinen Grundrichtungen der Kultur [zu] erkennen; sie will zu einem Verständnis der universellen Prinzipien der ‚Formgebung‘ überhaupt vordringen.“71 Insofern darf man von einer funktionalen Äquivalenz des Sinn- und Formproblems mit dem Wahrheits- und Objektivitätsideals auf dem Gebiet der Naturwissenschaften sprechen. Grundsätzlich aber bleibt es bei der Absage an korrespondenztheoretisch naive Realismen. Im Grunde gilt für alle Wege und Ziele der Wirklichkeitserkenntnis, wie sie anhand von Sprache, mythischem Denken und wissenschaftlicher Erkenntnis in der Philosophie der symbolischen Formen vorgeführt werden: Ihre Tragfähigkeit hängt an einem funktionalen Symbolverständnis, das davon ausgeht, dass Wirklichkeitserkenntnis sich in zeitlicher Repräsentation durch Zeichen in einer regelgeleiteten Reihenordnung aufbaut. In diesem Sinne kann Cassirer auch sagen: „Der Zusammenhang und die Konvergenz der Reihe tritt an die Stelle der Realität.“72 2.2 Symbolische Formen als plurale Weisen der Wirklichkeitserfassung Mit der Philosophie der symbolischen Formen wird nicht einfach das Problem der Erkenntnistheorie ausgeweitet auf das gesamte Gebiet der Kultur. Mehr noch geht es um die kritische Analyse der Vernunftleistungen, wie sie sich in den kulturellen, d.h. symbolischen Erscheinungsweisen ausdrücken. Zentral ist dabei das, was Cassirer unter einer symbolischen Form fasst. Eine prägnante Definition gibt er bereits in einem Aufsatz vor Erscheinen des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen (im Folgenden abgekürzt: PhsF): „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeignet wird.“73 In Aufnahme einer Überzeugung Wilhelm von Humboldts, wonach die Sprache weniger als ein abgeschlossenes Werk (ergon) betrachtet, sondern eher als ein aktiver gestalteter und gestaltender Prozess (energeia) aufgefasst werden 1993, 3–76; sowie Ders., Erkenntnistheorie nebst Grundfragen von Logik und Denkpsychologie (1927), in: a.a.O., 77–153. Zur Umstellung des Fokus von „Wahrheit und Objektivität“ auf „Sinn und Form“ siehe die Einleitung von Rainer A. Bast: a.a.O., v.a. XVIII–L. 71 C ASSIRER, ERNST, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939), in: Ders., Erkenntnis, Begriff, Kultur (Anm. 70), 231–261, 260. Ganz analog siehe auch: Ders., Ziele und Wege (Anm. 35), 160: „Die Kulturwissenschaft ist eine Lehre von den F o r m e n , in denen das geistige Leben der Menschheit sich vollzieht.“ 72 C ASSIRER, Substanzbegriff (Anm. 60), 347. – Das gilt insofern auch für nicht wissenschaftliche Symbolformen: Denn auch in ihnen schält sich „Realität“, d.h. umfassende Wirklichkeitserkenntnis durch (symbolische) Formungsprozesse heraus. 73 C ASSIRER, ERNST, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921/2), in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 41969, 169–230, 175.
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sollte, versteht auch Cassirer symbolische Formen als Resultate eines fortwährenden Formungs- und Gestaltungsprozesses. Darauf verweist die metaphorische Redeweise von der ‚Energie des Geistes‘. Für eine pragmatistisch gefärbte Interpretation von Cassirers Kulturtheorie ist dies kaum zu überschätzen, da hier in emphatischer Weise Kultur als Praxis, kulturelle Fakten als Resultate fortwährender symbolischer Gestaltungstätigkeit begriffen werden. Grundlegend für die Möglichkeit zu diesem praktischen Zugriff auf Kultur ist zunächst deren Einbettung in den natürlichen Kontext. Das wird schon durch die Eigenart des Symbolischen klar, weil wir es dabei mit einem als unauflösbar zu charakterisierenden In- und Miteinander von sinnlicher Zeichengestalt und geistigem Bedeutungsgehalt zu tun haben. Anders gewendet: Es kann keinen geistigen Sinn ohne materielles Zeichen geben. Ganz auf der Linie des im vorigen Abschnitt skizzierten funktionalen Symbolverständnisses können Zeichen nur insofern Bedeutung konturieren, insofern sie als Teil eines fortwährenden Zeichenprozesses begriffen werden, der es auch ermöglicht, dass sie ihre konkrete Bedeutung durchhalten, verändern oder ganz verlieren können. Das aber macht sie nicht beliebig, weil Zeichen stets nur in einem regelhaften Formungsprozess funktionieren, was es zugleich ermöglicht, dass Bedeutung ihnen ‚innerlich zugeeignet‘ werden kann. An Cassirers Zuordnung der Aspekte von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ wird zudem ein genereller Zug der Struktur unserer Welt- und Wirklichkeitserfassung und -verarbeitung offenkundig. Denn in den symbolischen Formen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewusstsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbsterschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbstständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.74
Alle Erkenntnis ist demnach zeichenvermittelt und beruht auf einer kreativen, gleichwohl regelbildenden und regelgeleiteten Tätigkeit. Kantisch gesprochen erfolgt der Aufbau von Selbst- wie Objektbewusstsein niemals unmittelbar. Und doch lässt sich von einem ‚internen Realismus‘ sprechen75, weil noch im Bewusstsein freier Ausdruckstätigkeit die ‚objektive Wirklichkeit der Dinge‘, wie es im Zitat heißt, niemals unmittelbar fassbar wird, sondern ihrer symbolischen Erfassung ‚gegenübertritt‘. Die zeichenvermittelte Erfassung von Wirklichkeit durch symbolische Formen stellt keine Repräsentation eines ‚bloßen‘ A.a.O., 175f. Prominent vertreten wurde die Position eines ‚internen Realismus‘ in Rekurs auf Kant, aber ohne zeichentheoretische Basis, eine Zeit lang von Hilary Putnam. Vgl. PUTNAM, HILARY, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. Man könnte auch von einem schwachen oder eben reflektierten Realismus bei Cassirer sprechen. In ähnliche Richtung interpretiert Guido Kreis Cassirer: vgl. KREIS, GUIDO, Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin: Suhrkamp 2010, 369f. 74 75
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Objekts dar, verliert sich aber auch nicht in einem reinen ‚Innen‘, wie dies für radikal konstruktivistische Ansätze kennzeichnend ist.76 Noch jeder freie, tätige Ausdruck als Symbolisierung bedarf daher eines äußeren Eindrucks. Kulturelle Bedeutungsoperationen gehen nicht in der Tätigkeit des menschlichen Vernunftvermögens auf. Auf zwei Gesichtspunkte ist in diesem Zusammenhang noch etwas genauer einzugehen. Zum einen betrifft dies die Pluralität der symbolischen Formen. Cassirer hat stets die nicht reduzierbare Pluralität von kulturellen Erscheinungsformen betont, wie sie das Resultat unterschiedlicher symbolischer Formungsprozesse sind. Von hier aus erklärt sich nicht nur seine häufiger gebrauchte Wendung vom „vinculum functionale“77, die letztlich die Einheit von Kultur in der Vielfalt ihrer symbolischen Formen anzeigen soll. Mehr noch stellt die Pluralität der verschiedenen Weisen der Wirklichkeitserfassung und -bearbeitung selbst das Ergebnis eines kulturellen Ausdifferenzierungsprozesses dar, in dem es um die fortlaufende Anreicherung von Sinnperspektiven und Sinnerfassungen geht. An keiner Stelle seines Werkes hat Cassirer sich im Übrigen auf eine genaue Anzahl möglicher symbolischer Formen festgelegt. Das erscheint mir programmatisch. Zwar stehen in PhsF in paradigmatischer Weise Sprache, mythisches Denken und wissenschaftliche Erkenntnis im Vordergrund, doch wird diese Triade im Essay ohne Angabe von systematischen Korrekturen durch weitere Formen, z.B. der Geschichte und Kunst, ergänzt.78 Überhaupt wird man eher annehmen dürfen, dass mit dem Fortschreiten soziokultureller Ausdifferenzierung die Möglichkeit neuer symbolischer Formen nicht prinzipiell auszuschließen ist. Zum anderen darf die Pluralität der symbolischen Formen nun aber nicht als segmenthafte bzw. sektorale Aufteilung der Wirklichkeit verstanden werden. Vielmehr lässt sich ein und derselbe Wirklichkeitsaspekt je nach symbolischer Form mit einem anderen Bedeutungsgehalt versehen, ohne dass das in unauflösliche Widersprüche führen müsste. Cassirers berühmtes Beispiel dafür ist der Linienzug, der – je nach symbolischer Form – als mathematische Figur, als rituelles Zeichen, als künstlerische Form gedeutet werden kann.79 Wenngleich die äußere Wahrnehmung noch keine Differenzen in der Erfassung der Konturen seiner Bedeutsamkeit anzeigenden Gestalt aufweist, ergibt sich je nach geistiger Grundrichtung eine andere Bedeutung. Dennoch bleibt die Pluralität der symbolischen Formen etwas anderes als die arbiträre Hinzufügung 76 Darin scheint mir der prinzipielle Unterschied zum Ansatz von Nelson Goodman (GOODMAN, NELSON, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990) zu liegen. 77 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 110. 78 Andere, wie etwa das Recht oder die Technik, werden auch dort nicht breiter ausgeführt, obwohl sich Cassirer in der Phase zwischen der PhsF und dem Essay mit beiden näher beschäftigt hat. 79 Siehe dazu: C ASSIRER, ERNST, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927– 1932, hg. v. Ernst-Wolfgang Orth u.a., Hamburg: Meiner 21995, 1–21, 6–8.
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eines geistigen Gehalts an einen äußeren Stoff. Vielmehr wird mit der perspektivischen Verdichtung eines wahrgenommenen und zum Ausdruck gebrachten Sinns in einer symbolischen Form zugleich Raum dafür eröffnet, unter anderen symbolischen Formen seine Bedeutung in davon abgesetzter Weise zu erkennen. Je nach Zugriff erfolgt eine ‚Uroffenbarung‘, die den einzelnen Linienzug als Teil eines Ganzen versteht, von dem her ihm seine spezifische Bedeutsamkeit zukommt. Geht es der mathematischen Erfassung der Linie darum, in ihr repräsentativ den Fall eines Gesetzes zu erblicken, so steht sie in der ästhetischen Form für den Ausdruck eines bestimmten Stils, wohingegen im mythischen Denken sie als Anzeichen für die Gegenwart einer sakralen Macht gedeutet wird. Dennoch lässt sich auf alle symbolischen Formungsprozesse übertragen, was Cassirer exemplarisch so formuliert hat: Man erfasst in einer „unmittelbar gegebenen Gestalt ein Etwas, was sich der Anschauung als solcher schlechthin entzieht – er [sc. der mathematische Geist; C.P.] sieht in ihm das Bild eines Gesetzes, einer Form der ideellen Zuordnung“80. Zu einer Einheit kommen die diversen symbolischen Formen ohnehin nur im Rückgriff auf ihre Leistung im Gesamt der Kultur und der menschlichen Lebensführung. 2.3 ‚Sinn und Sinnlichkeit‘: Symbolische Prägnanz als Ineinander von Natur und Kultur Bislang noch wenig beachtet blieb die Frage, wie Cassirer sich eigentlich konkret das Zusammenspiel von ‚Sinnlichem‘ und ‚Sinnhaftem‘ im Vorgang der symbolischen Formung von Wirklichkeit denkt. Auch dafür gibt er eine eingängige Formel als Antwort vor: nämlich durch ‚symbolische Prägnanz‘. Mit ihr ist nicht nur die Basis symbolischer Formungsprozesse benannt, sondern durch sie wird auch klar, warum die ‚natürliche‘ Weltsicht des Menschen selbst schon als eine symbolisch geformte auftritt. Was symbolische Prägnanz meint, zeigt bereits der elementare Wahrnehmungsvorgang beim Menschen an. Im Gegensatz zur sachlichen Bedeutung dieses Terminus kommt Cassirer nur an wenigen Stellen in seinem Werk in längeren Passagen auf das Phänomen der ‚symbolischen Prägnanz‘ zu sprechen. Die wichtigsten Ausführungen finden sich dazu im Band III der PhsF. Wir stellen zunächst die Definition vor, um dann einzelne thematische Facetten etwas genauer zu beleuchten: Unter »symbolischer Prägnanz« soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als »sinnliches« Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen »Sinn« in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß »perzeptive« Gegebenheiten, denen später irgendwelche »apperzeptive« Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von 80 A.a.O., 7. Man braucht nur hinzufügen, dass in anderen symbolischen Formen nicht so sehr der Gesetzesgedanke, sondern der Formbegriff die zentrale Rolle spielt. Stets geht es aber um regelhafte Reihenbildungsprozesse.
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geistiger »Artikulation« gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich Leben »im« Sinn.81
Demnach stellt symbolische Prägnanzbildung die elementare Bedingung für die Möglichkeit sinnvoller Erfassung von Wirklichkeit dar und ist insofern dem menschlichen Wahrnehmungsprozess eingeschrieben. Dabei zeichnet sich das Leben ‚im Sinn‘ dadurch aus, dass der basale Zugang zur Wirklichkeit in Gestalt qualitativ erlebter und verdichteter Wahrnehmung besteht. Damit sind mindestens zwei weitere Implikationen verbunden: Zum einen sind Wahrnehmungsprozesse in sich bereits zeitlich strukturiert. Sie lassen sich also nicht auf letzte Sinnesdaten zurückführen. Zum anderen lässt sich Wahrnehmung nur über die Doppelstruktur von Noesis und Noema phänomenologisch fassen. Das erkennende Subjekt wird im selben Prozess sowohl seiner Eigenaktivität als auch seiner Objektintention gewahr.82 Schon von daher bauen sich (auch) Wahrnehmungs- und Gegenstandsbewusstsein wechselseitig auf. Im Anschluss an die zeitgenössische Gestaltpsychologie expliziert Cassirer die Relevanz der symbolischen Prägnanz beim Aufbau der symbolischen Formen. Anschauungen stellen nämlich, worauf der Wahrnehmungsprozess verweist, in sich strukturierte Gestalten dar, die ein sinnlich-geistiges, eben bedeutungsvolles Ganzes bilden.83 Sie sind demnach keine rein psychischen Operationen, sondern stets schon zeichenhaft, d.h. symbolisch geformt und damit kulturell geprägt und intersubjektiv vermittelt. So wie die natürlichen Bedingungen ihrer kulturellen Formung dem Menschen offenstehen, so wird erst über sie als Medien, d.h. natürliche Gestaltformen, der geistige Sinn, die Bedeutung der Wirklichkeit für das erkennende Subjekt erleb- und beschreibbar, d.h. artikulierbar. Der Sinnbegriff, der in Cassirers Formel vom ‚Leben im Sinn‘ in Anschlag gebracht wird, liegt auf der Schwelle von Sinnlichem zum Sinnhaften, von physiologisch Rezeptiertem und organisch Rekonstruiertem auf der einen und geistiger Bedeutungsoperation auf der anderen Seite.84 Heute würde man
CASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), ECW, Bd. 13 (=PhsF III), Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2010, 231. 82 Vgl. die Ausführungen zu Husserl und die Zurückweisung des Sensualismus an dieser Stelle in: a.a.O., 224–228. 83 Vgl. „Denn jedes echte Bild schließt eine Spontaneität der Verknüpfung, schließt eine R e g e l in sich, nach der die Gestaltung erfolgt“ (a.a.O., 221). 84 Diese Schwellenfunktion lässt sich schon in Hegels Ästhetik finden: „Sinn nämlich ist dieses wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. (…) Eine sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seiten nicht etwa, sondern (…) faßt im sinnlichen 81
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von der Notwendigkeit zur Verkörperung von Sinn sprechen. Und in der Tat kennt Cassirer selbst diesen Terminus und behauptet ihn umstandslos für alle symbolischen Formen: für die Sprache ebenso wie für Kunst und Religion. Die Sprache – das ist nichts anderes als ein Ganzes das uns in Wort und Schrift gegeben ist – die Worte sind bestimmte Lautkomplexe, die Schrift bestimmte Veränderungen, Eindrücke, die an irgendeinem Material haften – entweder in Stein geritzt oder auf Pergamente geschrieben sind – und all dies macht erst den Körper der Sprache aus – Aber auch die Kunst ist ja nur in solcher Verkörperung wirklich.85
Wie grundlegend die Verkörperungsdimension von Bedeutung und Sinn ist, zeigen in negativer Weise die Pathologien des Symbolbewusstseins, wie Cassirer sie in Anschluss an seine Ausführungen zur symbolischen Prägnanz beschreibt. Sie dienen in heuristischer Weise zu Untermauerung dessen, was als symbolische Prägnanz gekennzeichnet wird: Denn die geistigen Grundpotenzen auf denen die Struktur der Wahrnehmungswelt beruht, treten für uns deutlicher dort hervor, wo ihre Leistung in irgendeiner Weise verändert oder hintangehalten ist, als dort, wo sie sich unmittelbar ohne innere Hemmungen und Reibungen vollzieht.86
So führen Aphasien und andere Störungen im Hirnbereich zu weitreichenden Veränderungen in der Wirklichkeitswahrnehmung der Betroffenen.87 Zugleich aber gelingt es dem menschlichen Organismus in vielen Fällen, in denen die für die Wirklichkeitswahrnehmung entscheidenden Organ- und Körperfunktionen
unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff auf“ (HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Vorlesungen über die Ästhetik I, Theorie-Werkausgabe, Bd. 13, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, 173). 85 C ASSIRER, ERNST, Probleme der Kulturphilosophie, in: Ders., Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941. Nachgelassene Manuskripte und Texte (ECN 5), hg. v. Rüdiger Kramme, Hamburg: Meiner 2004, 29-104, 85. Das Zitat geht wie folgt weiter: „ – die bildende Kunst ist nur in jeweiligem ,Material‘ der Malerei, der Plastik, der Architektur, und Malerei, Plastik und Architektur, haben je ihr eigenes Material – Am ehesten könnte man noch geneigt sein, der Religion ein eigenes, nicht-materielles ,übersinnliches‘ Dasein zuzuschreiben – Aber auch die Religion hat ihre historische ,Wirklichkeit‘ nur an bestimmten Urkunden, denen sie den Wert der ,Heiligkeit‘ zuspricht und die sie als Träger einer höheren ,Offenbarung‘ ansieht – sie ist in irgendeiner Weise an ihre heiligen Bücher geknüpft – Und wenn wir uns vom Kreis der Kulturreligionen zu dem der primitiven Religionen wenden, so finden wir hier die gleichen Bindungen – Diese primitiven Religionen stützen sich zwar im allgemeinen nicht auf das Zeugnis einer ‚heiligen Schrift‘, aber sie leben weiter auf dem Grund der mündlichen Tradition, des gesprochenen Wortes – und vor allem auf Grund des Ritus – bestimmter Handlungen, die immer wieder als solche vollzogen werden und die ein bestimmtes regelmäßig wiederkehrendes materielles Geschehen in sich schliessen – ein Opfer wird dargebracht, ein Trank wird genossen“ (ebd.). 86 A.a.O., 255. 87 Vgl. C ASSIRER, PhsF III (Anm. 81), 237–322.
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in Mitleidenschaft gezogen sind, einen kompensatorischen Ausgleich zu schaffen, der mitunter sogar zu einer partiellen Restitution oder Substitution der eingeschränkten Wirklichkeitswahrnehmung führt.88 Zur symbolischen Prägnanz gehört nun nicht nur das holistische Moment der Verschränkung von Sinn und Sinnlichem. Nicht minder bedeutsam erscheint ihre vektorielle Funktion. Denn symbolisch prägnante Phänomene stehen nie für sich allein, sondern sie verweisen auf einen weiteren Sinnzusammenhang, in dem sie stehen. Das erfordert schon ihre Zeichenstruktur, die ja nur in einer relationalen Ordnung – einer Reihe – denkbar ist und so auch die Möglichkeit zur Repräsentation von Bedeutung zulässt. Sowohl Wahrnehmungsprozesse als auch ihre Artikulation beruhen auf einer internen Strukturierung, durch die es möglich ist, dass das, was in ihnen an Sinn und Bedeutung prägnant wird, entweder im Anschluss an sie fortbestimmt werden kann oder aber korrigiert wird. Beides vermag es nur zu geben, wenn das, was konkret prägnant wird, über sich hinausweist. Deswegen kann Cassirer behaupten: „Jede besondere Wahrnehmung ist gerichtete Wahrnehmung: Sie besitzt, außer ihrem bloßen Inhalt, einen ‚Vektor‘, der sie in einer bestimmten Hinsicht, in einem bestimmten ‚Sinne‘ bedeutsam macht.“89 Im Aufbau der symbolischen Formen führt uns das Moment der symbolischen Prägnanz deshalb auf der einen Seite zurück zum elementaren Vorgang der Wahrnehmung. Auf der anderen Seite jedoch konkretisiert sich darin nur der generelle Repräsentationscharakter, der allen sinnlichen Zeichen für geistige Bedeutungsgehalte immer dann zukommt, wenn sie im Medium symbolischer Formen gefasst werden. Wirklichkeit wird weder einfach abgebildet noch konstruiert, sondern baut sich, indem sie als so und so prägnant erfasste symbolisch erschlossen wird, im Medium symbolischer Formen auf. In einem Vortrag einige Jahre nach Abfassung der PhsF hat Cassirer dies noch einmal anhand des Raumbewusstseins verdeutlicht.90 Den Raum als solchen gibt es nicht. Wir können nämlich den Raum sowohl als etwas Ästhetisches oder auch als physikalische Größe betrachten. Dabei sind unsere verschiedenen emotional gefärbten und symbolisch vorstrukturierten Raumwahrnehmungen grundierend. Am Anfang steht somit gleichsam die Physiognomie, die konkrete ‚Gestalt‘ des Raumes, was auch eine mathematische Variable darstellen kann. Die Strukturierung eines Raumbewusstseins und eines Raumverständnisses kommt aber erst darin zum Abschluss, dass wir die symbolisch prägnante Wahrnehmung in 88 Das berühmteste und immer wieder zur Illustration der These herangezogene Beispiel ist Helen Keller. Auch in den gegenwärtigen Debatten um embodiment, um Körperschema und Körperbild, spielt das Phänomen möglicher Kompensationen eine Rolle. Vgl. dazu: JUNG, MATTHIAS, Der bewusste Ausdruck, Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York: de Gruyter 1990, 293–304 (v.a. der „Fall Waterman“, a.a.O., 296f). 89 C ASSIRER, PhsF III (Ann. 81), 255. 90 Vgl. C ASSIRER, ERNST, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), in: Ders., Symbol, Technik (Anm. 79), 93–111.
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ihrer Funktion als Repräsentation eines umfassenderen Sinnkontextes verstehen. Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für alle Mal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.91
Hieraus entsteht das, was wir ein Verstehen von Wirklichkeit (in diesem Fall: des Raums) in theoretischer, ästhetischer oder mythischer Hinsicht nennen. Die verschiedenen Auffassungen des Raumes folgen dabei nicht einfach einer Stufenlogik. Sie differenzieren sich eher intern aus und verfeinern auf diese Weise das Bild des Raumes innerhalb der jeweiligen symbolischen Form. Das macht dann auch möglich, dass man in formaler Hinsicht das gemeinsame Element benennen kann, dessen Bedeutsamkeit sie in unterschiedlicher Weise artikulieren. Insofern gilt: Was alle diese Räume [d.h. den mythischen, ästhetischen und theoretischen; C.P.] von verschiedenem Sinn-Charakter und von verschiedener Sinn-Provenienz (…) miteinander verknüpft, ist lediglich eine rein formelle Bestimmung, die (…) Definition des Raumes als der ‚Möglichkeit des Beisammen‘ und als der Ordnung im möglichen Beisammen.92
2.4 Ausdruck, Darstellung, Bedeutung: Die symbolischen Funktionen als Entwicklungsphasen menschlichen Geistes Mit der Rede von der internen Ausdifferenzierung, die symbolischen Formen durchlaufen, ist schon ein weiterer Aspekt von Cassirers Symboltheorie angeklungen. Dieser meint sowohl eine strukturelle Entwicklung als auch einen in sich vielschichtigen kulturgeschichtlichen Prozess. Auf den zweiten Gesichtspunkt werde ich in den nächsten Abschnitten (3.1–3.3) genauer eingehen, weil mit ihm schon Wesentliches über Cassirers Religionsverständnis angedeutet wird. An dieser Stelle interessiert uns allein der strukturelle Gesichtspunkt. Eine Grundeinsicht der Philosophie der symbolischen Formen besteht ja darin, die Gemeinsamkeit der kulturellen Weisen des humanen Symbolgebrauchs nicht in einem substantiellen Gehalt zu suchen, sondern in ihrer funktionalen Leistung, d.h. in einem sich stetig verfeinernden Bewusstsein von Differenz und Distanz, und dadurch zugleich im Gewinn von Orientierung und Handlungsspielräumen. Der Evolution der humanen Kulturformen mit ihren Freiheitsräumen entspricht dabei auf der Ebene der Struktur der symbolischen Formen ebenfalls ein Differenzierungsprozess. Cassirer führt dazu den Begriff der symbolischen Funktionen ein, der es ihm erlaubt, eine Strukturlogik der Evolution der symbolischen Formungsprozesse zu entwickeln; ein Ansatz, der sich auf überraschende Weise
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mit Einsichten gegenwärtiger evolutionärer Anthropologie und Kognitionsforschung deckt. Cassirer arbeitet in den Darstellungen seiner PhsF mit drei symbolischen Funktionen und ordnet sie im Sinne einer Struktur- und Differenzierungslogik an: Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion, Bedeutungsfunktion. Dabei ist es nicht überraschend, dass er in der Ausdrucksfunktion die „einfachste“, „ursprünglichste“ und „urtümlichste Art der Beziehung“ erblickt, die „uns dort entgegen[tritt], wo irgendein sinnliches Erlebnis sich für uns dadurch mit einem bestimmten Sinngehalt erfüllt, daß an ihm ein charakteristischer Ausdruckswert haftet, mit dem es gleichsam gesättigt erscheint.“93 Das erinnert nicht von ungefähr an die Situationen, die er im Auge hatte, als er auf das Phänomen der symbolischen Prägnanz im Wahrnehmungsvorgang zu sprechen kam (Bsp.: Linienzug). Im Unterschied zur Ebene der Darstellungsfunktion bleibt im Ausdrucksprozess allerdings noch weitgehend schillernd, was an bestimmter Bedeutung im sinnlichen Zeichen eigentlich artikuliert wird. Zwar ist im Ausdruck als Ausdruck immer schon die elementare Distanz gegeben, die für die Welt des Symbolischen zentral ist, aber erst die Darstellungsfunktion hat jenen Vorteil, vornehmlich sprachlich, „eine Beziehung im Sein“ auszusagen, die „»an sich« bestehen soll und die in diesem ihrem Bestand für jedes empfindende, anschauende oder denkende Subjekt in gleicher Weise als auffindbar oder feststellbar gedacht wird.“94 Damit ist eine neue Form der Objektivierung möglich, wofür nicht zuletzt die sprachliche Form des Satzes steht, dessen grammatische Struktur es ermöglicht, Aussagen und Bedeutung auf eine Weise darzustellen und zu vermitteln, die über episodische und situative Erfassung und Expression von Sinn hinausreicht. Dabei bleibt trotz des gegenüber lautlicher Expression komplexeren Zeichengebrauchs auch die Darstellung weitgehend rückgebunden an die alltägliche Anschauungs- und Lebenswelt. Erst durch jene „dritte Sphäre, die wir als die der reinen Bedeutung bezeichnen wollen“, wird auch dieser Zusammenhang gelöst: „Das Zeichen im Sinne des reinen Bedeutungszeichens drückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung.“95 Versucht man die drei Funktionen des „allgemeinen Plan[s] der ideellen Orientierung“96 innerhalb des Spektrums von symbolischen Formen jenen schwerpunktmäßig zuzuordnen, so kann die Ausdrucksfunktion als mit dem mythischen
93 C ASSIRER, ERNST, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Ders., Symbol, Technik (Anm. 79), 1–21, 9. Im Folgenden beziehe ich mich zunächst auf diesem Aufsatz zur Darlegung der drei symbolischen Funktionen. 94 A.a.O., 10. 95 Ebd. – Bis in einzelne Wortformulierungen („rein“, „abheben“) hinein nährt sich allerdings dabei der Verdacht, dass Cassirer die Logik von der Ausdrucks-, über die Darstellungshin zur reinen Bedeutungsfunktion doch auch als eine Fortschrittslogik versteht. 96 A.a.O., 11.
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Denken, die Darstellungsfunktion als mit der Sprache und die Bedeutungsfunktion als mit der wissenschaftlichen Erkenntnis besonders verbunden gelten. Und doch gilt zugleich, dass es „für jede Form bezeichnend [ist], daß sie in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, in den verschiedenen Stadien ihres geistigen Aufbaues, sich zu den drei Grundpolen, die wir hier auszuzeichnen versuchten, verschieden verhält.“97 Für alle symbolischen Formen gilt dabei: Die Ausbildung aller drei Funktionsebenen ist möglich, aber jeweils nur um den Preis eines Gestaltwandels. Denn nichts ist an dieser Stelle „ein für alle Mal fixiert“98. Es ist in der Cassirer-Forschung häufig gegen diese Stufenlogik der Vorwurf erhoben worden, ihr wohne ein szientistisches Fortschrittsdenken inne. Diese kann, nimmt man die gerade eben skizzierte, schwerpunkthafte Zuordnung hinzu, zu dem Problem führen, dass die Pluralität der symbolischen Formen in eine Teleologie auf eine bestimmte symbolische Form und deren Wirklichkeitserkenntnis hin überführt wird.99 In der Tat finden sich in Cassirers Werk genügend Hinweise, dass er zumindest zeitweilig die Abfolge der symbolischen Funktionen auch als Fortschrittsprozess der symbolischen Formen gesehen hat.100 Doch darf man nicht übersehen, dass auch Cassirers Aussagen zur Funktion (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis nicht so eindeutig sind. Lässt sich die Mathematik noch am ehesten als auf dem Weg zu einer rein in der Bedeutungsfunktion operierenden symbolischen Form kennzeichnen, so gilt dies für die Physik schon nicht mehr. Generell wird man sagen können, dass aufgrund der Zeichenstruktur aller symbolischen Erkenntnis noch das Ziel reiner Bedeutung ein Grenzgedanke bleibt101, ein mehr oder weniger zu erreichender terminus ad quem. Ihm würde dann als terminus a quo die Ausdrucksfunktion entsprechen, mit der jener Weg der Entwicklung der symbolischen Formen, d.h.
Ebd. Ebd. 99 So lese ich die Zuspitzung von Michael Moxter: „Cassirer entwirft sowohl eine Typologie, nach der jede symbolische Form mit Bezug auf ihr Konstitutionsprinzip ein in sich geschlossenes System darstellt, als auch eine in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes entworfene Progression in Richtung auf Totalität. Während die Typologie auf Offenheit zielt, suggeriert die Progressionsthese eine letzte Form um den Preis einer Revision der Mehrdimensionalitätsthese“ (vgl. MOXTER, Kultur [Anm. 67], 110f). 100 Dabei scheut er auch nicht, über die einzelnen Formen hinauszugehen. So gibt es Passagen, die in der (modernen) Kunst und ihrer reinen Bedeutungsfunktion den Endpunkt eines Prozesses erblickt, der vom Mythos ausgehend über die Religion führte. Vgl. CASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken (1924), ECW, Bd. 12. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg. Meiner 2010, 305f [im Folgenden abgek.: PhsF II]. 101 So gesteht Cassirer ein: „Aber der Begriffs- und Zeichenfunktion a l s s o l c h e r kann sie [sc. Physik/physikalische Erkenntnis; C.P.] sich niemals entschlagen: Denn dies hieße eine gedankliche Repräsentation der Welt verlangen, die nichtsdestoweniger auf die Grundm i t t e l der Repräsentation verzichtet“ (CASSIRER, PhsF III [Anm. 81], 557f). 97 98
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der Kulturentwicklung als ganze ansetzt, der von einer zunehmenden „Distanz vom unmittelbaren Dasein und vom unmittelbaren Erleben“102 geprägt ist. Aus diesem nicht eindeutigen Befund103 lässt sich gleichwohl eine vielversprechende Konsequenz ziehen, und zwar vor dem Hintergrund neuerer Einsichten der evolutionären Anthropologie und Kognitionsforschung. Es bietet sich nämlich an, in jener Abfolge der symbolischen Funktion eine Strukturlogik der Entwicklungsphasen des menschlichen Geistes zu sehen. Dafür sprechen auch Cassirers mit Bezug auf die Evolution des Sprachverhaltens geäußerten Überlegungen, die im Fortgang vom mimischen über den analogischen zum symbolischen Ausdruck eine Zunahme sprachlicher Komplexität erkennen wollen, zu der nicht zuletzt die Fähigkeit zu abstrakten und allgemeinen Aussagen gehört.104 Damit wächst sowohl der intersubjektive, öffentliche Raum von Verständigung als auch die Reichweite symbolischer Wirklichkeitserkenntnis, ohne sich je gänzlich ihrer Situationsverbundenheit entledigen zu können. So deutet sich bei Cassirer ein Gedanke an, der heute auf breiter Forschungsgrundlage von evolutionären Anthropologen vertreten wird: eine Evolution kultureller Symbolkapazitäten, die mit der kognitiven Evolution einhergeht. Man spricht von einer Ko-Evolution von Gehirn und Kultur, weil die Plastizität des humanen Gehirns und die Plastizität seiner externalisierten Kulturtechniken in einem engen Wechselverhältnis stehen.105 Dabei wird kein solipsistisches Modell des menschlichen Geistes vertreten; eine These, die von Cassirer stets mit Rekurs auf den ‚objektiven Geist‘ abgelehnt wurde106. Vielmehr wird das menschliche Bewusstsein als nie rein subjektiv, sondern primär sozial und sachbezogen verstanden.107 Vor diesem Hintergrund zeichnet der kanadische Evolutionspsychologe Merlin Donald ein geschichtliches Schema der Entwicklung menschlicher Kapazitäten, das in erstaunlichem Maße demjenigen ähnelt, welches durch die symbolischen Funktionen vorgegeben wird. Die Stufen der kognitiven und kulturellen Evolution verlaufen von der episodischen zur mimetischen Phase, von dieser zur mythologischen Phase, und münden schließlich in eine theoretische:
102 C ASSIRER, PhsF I (Anm. 33), 136. – Analog lässt sich auf der epistemischen Ebene von einem Fortgang von Modellen der Analogie und Kontiguität über naive zu elaborierten Repräsentationsmodellen sprechen. 103 Schließlich klingen noch im Essay Töne an, die eher für die erstere Lesart sprechen, etwa wenn die Wissenschaft als „der letzte Schritt in der geistigen Entwicklung des Menschen“ und als die „höchste und charakteristischste Errungenschaft der menschlichen Kultur“ bezeichnet wird. Vgl. CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 315. 104 Vgl. C ASSIRER, PhsF I (Anm. 33), bes. 133–146. 105 Vgl. D ONALD, M ERLIN, Der Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, v.a. 264–290. 106 Es ist dies der systematische Punkt, an dem Cassirer stets an Hegel festhält. Siehe dazu auch: KREIS, Cassirer (Anm. 75), v.a. 307–328. 107 Vgl. D ONALD, Triumph (Anm. 106), 275–280.288–290.
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Die drei genannten Übergänge führten im Verlauf unserer Evolution zu drei Verschiebungen im Wesen des Bewusstseins: 1. durch Mimesis zu einer Steuerung des eigenen Handelns, die präziser und mit einem umfassenderen Bewusstsein von der eigenen Person verbunden ist, 2. durch das Sprechen zu einer differenzierteren und rascheren Anhäufung von Wissen in der Kultur, und 3. durch Symboltechniken zu Kulturen, die wesentlich einflussreicher, abstrakter 108 und reflexionsfähiger waren.
Für Cassirer und Donald hängen das Aufkommen neuer Symboltechniken und die Intensivierung symbolischen Selbstbewusstseins eng zusammen.109 Unter letzterer ist jene Vertiefung des Bewusstseins von Sinnfunktionen gemeint, die wesentlich zur verfeinerten Erkenntnis von Wirklichkeit gehört. Noch deutlicher als bei Cassirer steht für Donald allerdings fest, dass der kulturelle Prozess nicht im Sinne eines die jeweils vorangegangenen Stufen ablösenden Fortschritts zu lesen ist. Zwar verändert jede neue Kulturtechnik und jede neue Funktion im selbstbewussten Symbolgebrauch den Blick auf die Vorläufer und deren Stellenwert. Von einer Logik der Ablösung und Überbietung wird man dennoch nicht sprechen dürfen. Vielmehr geht es um die Transformation des Bestehenden und die Anreicherung durch das jeweils Neue. So ließe sich im Anschluss an Donald an den beiden Impulsen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen festhalten, der es einerseits darum geht, die Vielfalt symbolischer Formen zu bewahren, und andererseits, deren innere Entwicklung im Sinne einer Ausdifferenzierung zu untersuchen. Gelingt es durch kulturelle Techniken, die Leistungen humaner Vernunft über sich hinaus zu führen und die Wirklichkeit tiefer zu erschließen und zu gestalten110, so steht die Vielfalt der symbolischen Formen für die Vielgestaltigkeit humaner Selbsterkenntnis. Es schließen sich die Momente von perspektivischer Pluralität und struktureller Ausdifferenzierung nicht aus, sondern bilden Aspekte eines offenen Prozesses kultureller Entwicklung und ihrer symbolischen Gestaltwerdung (Formung).111 Die notwendige Gegenlesung betrifft dann eher den Aspekt, der für Cassirer wohl erst im Spätwerk über den Mythus des Staates in seiner ganzen Schärfe sichtbar wurde: Auch die negativen, destruktiven und disruptiven Potentiale und Tendenzen von Kultur als Praxis wachsen in ihren Reichweiten mit der strukturellen Ausdifferenzierung. Was ex post als rationale Selbstverständigung (der Menschheit) dank kultureller Leistungen gelesen werden kann, bringt 108 A.a.O., 275. Die Hervorhebungen im Zitat stammen von mir. Man beachte den stets bewusst im Komparativ gehaltenen Sprachstil. 109 Dies gilt, da Donalds Beschreibung der mimetischen Wirklichkeitsbearbeitung, der narrativ-mythologischen Bezugssysteme und der Institutionalisierung von paradigmatischen, methodisch angelegten Wissenschaftssystemen den kulturellen Gestalten der symbolischen Funktionen bei Cassirer sehr nahekommt. 110 Cassirer kann dies als immanente Transzendierung des Lebens ‚im‘ und ‚als‘ Geist nennen. 111 Im Anschluss an Moxter (vgl. Anm. 99) ließe sich so die Progressions- und die Pluralitätsthese zusammenführen.
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in gleichem Maße ein ebenfalls gesteigertes Repertoire an kulturellen Ambivalenzen und somit Dis- bzw. Irrationalitäten mit sich.
3. Sprache, Mythos und Technik – Der ‚Mutterboden‘ menschlicher Kultur 3. Sprache, Mythos und Technik
Die strukturelle Ausdifferenzierung, wie sie Cassirer durch seine Theorie der symbolischen Funktionen entwickelt, kennt auch eine kulturgeschichtliche Seite. Diese steht nun im Vordergrund. Die Geschichte der Entwicklung der symbolischen Formen lässt sich nicht nur als Ausdifferenzierung von der Ausdrucks- über die Darstellungs- zur Bedeutungsfunktion hin lesen, sondern auch als eine Herausbildung neuer symbolischer Formen aus den ursprünglicheren Formen von Sprache, Mythos und Technik. Dabei ist Cassirer – anders als z.B. Merlin Donald – nicht an der Frage nach den Ursprüngen von Kultur im Prozess der Menschwerdung interessiert. Hier scheidet er klar zwischen einem „Wechsel des Seins“ im Sinne eines „organischen Wandels“, der die Naturgeschichte kennzeichnet, von einer nur im kulturellen Rahmen möglichen Geschichte des „Bedeutungswandels“ im Bereich des „Sinns“, der stets schon den Sprung zur Menschheit voraussetzt: „»Ursprungsprobleme« bilden daher keine empirischmögliche und empirisch-sinnvolle Frage – sie müssen durch Sinnprobleme (Strukturprobleme/ Formprobleme) ersetzt werden“.112 Dennoch hat es den Anschein als hielte Cassirer sich selbst nicht ganz an seine Vorgaben; jedenfalls dann, wenn man die anthropologischen Subtexte seiner Argumentation in Betracht zieht, die von Einsichten in die Ethnologie und Entwicklungs- und Tierpsychologie durchzogen sind. Für unsere religionstheoretische Fokussierung von Ausdrucksanthropologie und Kulturtheorie ist es nun entscheidend, dass drei symbolische Formen den ‚Mutterboden‘ – eine Metapher, die Cassirer häufiger verwendet – von Kultur auch im kulturgeschichtlichen Sinn bilden. Die Rede ist von Sprache, Mythos und Technik.113 Sie bilden das Fundament der inter-subjektiv verfassten und
112 C ASSIRER, ERNST, Nachgelassene Manuskripte und Texte: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit (ECN 3), hg. v. Klaus-Christian Köhnke/Herbert Kopp-Oberstebrink/Rüdiger Kramme, Hamburg: Meiner 2002, 202–236 (Beilage »Form«), 234, ferner: a.a.O., 208. 113 Jürgen Habermas hat daran erinnert, dass bereits der frühe Hegel eine analoge Triade elementarer Formen „symbolischer vorgebahnte[r] Wege[] zur Realität“ (HABERMAS, JÜRGEN, Bohrungen an der Quelle des objektiven Geistes. Hegel-Preis für Michael Tomasello, in: Ders., Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII, Berlin: Suhrkamp 2013, 166–173, 171) kannte, dabei allerdings an die Stelle des Mythos die Sozialform der Familie setzte. Vgl. auch seine weiteren Ausführungen in der Festrede: „Unser Geist bewegt sich
3. Sprache, Mythos und Technik
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kulturell geformten Wirklichkeit des Geistes, wie sie das Charakteristikum der Lebensform des ‚animal symbolicum‘ ausmacht.114 Wirklichkeits- wie Selbsterkenntnisse bilden das Resultat eines wechselseitigen Prozesses, in dem sachliche Zusammenhänge auf symbolische Weise in sozialen Kontexten erschlossen werden. Dies gilt – auch das verbindet Cassirer mit Einsichten der erwähnten Entwicklungspsychologie und Kognitionsforschung – sowohl in die onto- als auch in phyologenetischer Hinsicht. Zudem lässt sich an der Entwicklung von Sprache, mythischem Denken und technischem Verhalten besonders eindrücklich aufzeigen, dass der Aufbau von Symbolbewusstsein nur über Aufbau von Distanzbewusstsein zur Umwelt funktioniert und darin sich in gleichem Maße allererst Selbst- und Objektbewusstsein konstituieren können: Alle Arbeit der Kultur, mag sie technisch oder rein geistig sein, vollzieht sich derart, daß an die Stelle des unmittelbaren Verhältnisses, in dem der Mensch zu den Dingen steht, allmählich ein mittelbares Verhältnis tritt. Wenn anfangs der sinnliche Trieb und seine Befriedigung unmittelbar und unverzüglich aufeinanderfolgen, so schieben sich im weiteren Fortgang zwischen den Willen und seinen Gegenstand immer mehr Mittelglieder ein. Der Wille muß, um sein Ziel zu erreichen, sich scheinbar von diesem Ziel entfernen115.
Darüber hinaus bilden in der Frühphase der kulturellen Entwicklung Sprache, Mythos und Technik Facetten einer relativ einheitlichen und geschlossenen Anschauungs-, Denk- und Lebensform. Von daher ist es sinnvoll, sie stets in Bezug aufeinander zu verhandeln. Dies geschieht dadurch, dass ich zuerst das Verhältnis von Sprache und Mythos genauer beleuchte, dann auf die Rolle der Technik eingehe, bevor noch einmal vom Mythos als einer übergreifenden und deswegen auch überdauernden Lebensform zu sprechen ist. 3.1 Sprache und Mythos: der Startpunkt kognitiver und kultureller Evolution Sprache und Mythos als Startpunkte kultureller Evolution anzusehen, zielt auf die Frage, wie die zwei elementaren Bedingungen von Kultur, nämlich die Fähigkeit zum Zeichengebrauch und die qualitative Bestimmung von Aspekten der Wirklichkeit, zusammenhängen. Generell steht dann die Sprache für die immer schon in Funktionszusammenhängen, die in Werkzeugen objektive Gestalt angenommen haben, immer schon im Horizont eines sprachlich artikulierten Hintergrundwissens und im eingewöhnten sozialen Netzwerk gemeinsamer Praktiken“ (ebd.). 114 Hilfreich dazu sind die beiden sich dezidiert Cassirer widmenden Studien von Jürgen Habermas. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistische Erbe und die Bibliothek Warburg, in: Ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 9–40, sowie: Ders., Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in: Ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 63–82. 115 C ASSIRER, ERNST, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (1925), in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 71–167, 124.
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Fähigkeit zum Zeichengebrauch und der Mythos bzw. das mythische Denken für die Fähigkeit zur Schematisierung qualitativer Wirklichkeitsaspekte. Man könnte fortfahren: Sprache bringt in ihren rudimentären Formen Wirklichkeit zeichenhaft zur Darstellung, was sich in der mythischen Anschauung vornehmlich als physiognomische Bedeutsamkeiten (vorstellungshaft) zeigt. Cassirers Interesse für den Zusammenhang von Sprache und Mythos geht u.a. auf eine Auseinandersetzung mit Hermann Useners Theorie der Götternamen zurück. In dessen gleichnamiger Schrift wird versucht, der Sprachgeschichte anhand einer Rekonstruktion der Genese und dem Wandel von Götternamen auf die Spur zu kommen. In der Sprache gespeichert lassen sich Rudimente der geistigen Entwicklung von Kulturen finden, wie sie sich in Begriffen und Namen niedergeschlagen haben: Wie die entstehung aller anderen begriffe auch, so vermögen wir auch den geistigen vorgang, mittels dessen sich die ursprünglichen vorstellungen von gottheit und göttern bildeten, nur in dem sprachlichen produkt dieses vorgangs zu erkennen.116
Durch sinnliche Eindrücke angeregt, kommt ein geistiger Prozess in Gang, der zur Artikulation und – bei kontinuierlichen Anlässen – zur Benennung von Dingen und Tatsachen führt, wobei in die Namengebung die Kontexte ihrer Entstehung eingegangen sind und man auf diese Weise zu den darin eingelagerten Vorstellungen gelangen kann. Nach Usener gilt generell, was er in besonderer Weise für religiöse Begriffe festhält: „Von den götternamen suchen wir also den urkundlichen aufschluss darüber, in welcher weise vorstellungen von dem unendlichen sich bildeten.“117 Von daher gilt: Sprachgeschichte ist immer auch Religionsgeschichte. Cassirer wertet Useners Ansatz als wichtigen Beitrag zu einer komplementär verlaufenden Sprach- und Religionsgeschichte. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil Useners Ausführungen sich mit Grundeinsichten der Philosophie der symbolischen Formen decken. Auch das gemeinsame Humboldt’sche Erbe ist unverkennbar. Die Sprache ist das wirksame Werkzeug der Wahrnehmung und Generierung von symbolischen Vorstellungsgehalten, allen voran mit Blick auf die Entstehung mythischer Weltbilder. Betrachtet man die Entwicklung von Sprache als symbolischer Form genauer, dann lässt sich folgende Tendenz festmachen: Gelten bloße Interjektio-
116 U SENER, H ERMANN, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung (1896), Frankfurt/M.: Klostermann 42000, 3. 117 A.a.O., 5. – Die Theorie der religiösen Begriffsbildung stellt jedoch nur einen Aspekt von Useners Gesamtprogramm einer wissenschaftlichen Mythologie dar. Daneben hätte diese eine Theorie der elementaren religiösen Vorstellungen (v.a. der Prozess der Personifikation und die Figur der Metapher) umfasst sowie weitere Untersuchungen zu den Formen der Symbolik, des Mythos (im engeren Sinne) und des Kultus. Vgl. a.a.O., VI–VII.
3. Sprache, Mythos und Technik
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nen und reflexartige Äußerungen im Grunde genommen noch als vor-sprachlich118, so steht am Anfang der Sprache ein Zeichengebrauch, der sich nicht im einfachen Wort oder Begriff erschöpft, sondern die Form des Satzes annimmt. Denn erst mit diesem werden Zustände nicht einfach angezeigt, sondern bedeutungsvoll geformt. Mit dem Satz als elementaren sprachlichen Gliederungsinstrument gelingt es dem Menschen, Wirklichkeit, wie sie sich in unmittelbaren Eindrücken und Wahrnehmungen präsentiert, so zu repräsentieren – zum Ausdruck und zur Darstellung zu bringen, dass diese auch von der Situation losgelöst mit Sinn (Bestimmtheit) unterlegt ist. Durch die Entkoppelung vom Druck des jeweiligen Anlasses schafft man sich sprachlich Distanzierungsmöglichkeiten, die Freiräume zur sinnvollen Erschließung und Bearbeitung von Wirklichkeit ermöglichen. Die Parallele, die sich mit Blick auf die Interdependenz von Mythos und Sprache ergibt, ist die folgende: Der Vorgang der symbolischen Gliederung und Formung von Wirklichkeit durch das sprachliche Mittel des Satzes, das sich allmählich über die bloße Benennung von Dingen etc. hinaus entwickelt hat, hat sein Analogon in der Religionsgeschichte. Dort lässt sich die Tendenz ausmachen, dass sich aus der Benennung von sog. ‚Augenblicksgöttern‘, wie sie situativen Anlässen entstammt, allmählich eine umfassendere Fixierung von Gottesvorstellungen ergibt, in die mit Bedeutung versehene Ursprungskontexte eingehen und auf eine relativ kontextenthobene Wirklichkeitsformung drängen. Sie werden zu Sondergöttern und späterhin zu persönlichen Göttern.119 Damit entspricht der Unmittelbarkeit der wahrgenommenen, verarbeiteten und schließlich durch Benennung zum Ausdruck gebrachten ‚Götter‘ die Verwendung von Wörtern und Namen als relativ lose, noch nicht fixierte Ordnungsbegriffe. In „dieser intuitiven Gestaltungsweise des Mythos, nicht in der Bildung unserer diskursiven, unserer theoretischen Begriffe müssen wir, wenn überhaupt, den Schlüssel suchen, der uns das Verständnis der ursprünglichen Sprachbegriffe erschließt.“120 Mit der Differenz zur diskursiven Verfasstheit theoretischer Erkenntnis ist die Eigenart sprachlicher und mythischer Begriffsform, so wie sie sich in ihren Anfängen präsentiert, angesprochen: Beide symbolische Formen operieren in ihrer Ordnungsstiftung nicht logisch-allgemein, sondern bündeln einzelne Aspekte (Dinge, Gegenstände, Qualitäten etc.) und überführen sie in umfassendere Bedeutungseinheiten. Im Satz wird das anschaulich darstellbar, da einerseits jedes seiner Glieder für sich steht und doch andererseits nur in der Einheit des Satzes seine Bedeutung erhält, es somit „immer zu gleicher Zeit als gesondert 118 Vgl. dazu Cassirers Überlegungen zur Sprache als Ausdruckbewegung, Gebärdensprache und Wortsprache, in: CASSIRER, PhSF I (Anm. 33), 122–132. 119 Siehe dazu die Bemerkungen bei: U SENER, Götternamen (Anm. 116), 279–317, sowie: CASSIRER, Sprache und Mythos, in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 87.103f. 120 C ASSIRER, Sprache und Mythos, in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 104.
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und verknüpft erscheint.“121 Dabei ist zugestanden, dass in der Struktur des Satzes durch die Anordnung seiner Bestandteile eine Ordnung fixiert wird, die eine Bedeutung intendiert und zugleich durch diese Fixierung eine Loslösung des in ihm Gespeicherten von dem unmittelbaren Anlass seiner Formulierung erlaubt. Für das dergestalt Artikulierte lässt sich sagen, dass der symbolische Ausdruck erst die Möglichkeit der Rückschau und der Voraussicht [schafft] – denn durch ihn werden nicht nur bestimmte Scheidungen innerhalb des Bewußtseinsganzen vollzogen, sondern auch erst fixiert. Das einmal Geschaffene, das aus dem Gesamtkreis der Vorstellungen Herausgehobene vergeht nicht wieder, sobald der Sprachlaut sein Siegel aufgedrückt und ihm ein bestimmtes Gepräge gegeben hat. 122
Aus der Fixierung von wiederkehrenden Eindrücken und der Loslösung von der mit ihnen gegebenen unmittelbaren Affektion folgt die auch Sprache und Mythos innewohnende Tendenz zum Allgemeinen, mit der ihre Wirklichkeit erschließende, formende und gestaltende Funktion endgültig zum Durchbruch kommt. Als symbolische Formen fungieren sie als spezifische „Richtungen und Richtlinien des Bestimmens“123 von Wirklichkeitsperspektiven und gehen nicht in konkreter Benennung oder Beschwörung auf. Dazu dient ihre interne Struktur, die man als ‚soziomorph‘ beschreiben kann. Wiederum kann man sich dies vornehmlich an der Sprache verdeutlichen. In ihr wird Anschauung durch Orts-, Zeit-, Zahlangaben strukturiert, ein gemeinsamer Raum von teilbaren Bedeutungen eröffnet, mit Angaben von Subjekt- und Objektstellen besetzt und deren Verhältnisse mit aktiver Bedeutung versehen. Dazu stehen, zumindest bei fortgeschrittener Sprachentwicklung, unterschiedliche Wortklassifikationen wie Personalpronomina und Verben bereit. Auch das mythische Denken partizipiert an dieser strukturellen Formung, insofern es im Grunde genommen nicht vorsprachlicher Natur sein kann.124 Die kategoriale Formung wird zur Bedingung für die inhaltliche Formung einer spezifischen Wirklichkeitserkenntnis, oder einfacher gesagt: für symbolische Prägnanzbildung. Sprache wie Mythos fällt im Fortgang vom Momentanen zum Dauernden, vom sinnlichen Eindruck zur „Gestalt“ (…) die gleiche allgemeine Aufgabe zu[], in deren Lösung sie einander wechselseitig bedingen. Beide vereint bereiten erst den Boden für die großen Synthesen, in denen uns ein gedankliches, ein theoretisches Gesamtbild des Kosmos erwächst.125
Zu den Gemeinsamkeiten von Sprache und Mythos gehört nun nach Cassirer ebenfalls, dass sie diese gedankliche Vereinheitlichung durch metaphorische Symbolisierung herstellen können. Dafür stehen an ihren Anfängen vor allem
A.a.O., 98. A.a.O., 107. 123 C ASSIRER, PhsF I (Anm. 33), 260. 124 Die Frage, ob in seinen Ursprüngen jeder sprachliche Ausdruck mythische Qualitäten gehabt hat, lasse ich hier beiseite. Usener scheint dieser Vorstellung anzuhängen. 125 C ASSIRER, Sprache und Mythos, in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 111. 121 122
3. Sprache, Mythos und Technik
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Phänomene, wie z.B. der magische Wortzauber, durch den sakrale Mächte unmittelbar präsent gemacht werden können. Bis in Gegenwart trifft dies zu, etwa in der anders ‚verzaubernden‘ Form der Poesie. Zur These des Mythos als ‚Mutterboden der Kultur‘ gehört daher im Hinblick auf die Beziehung von Sprache und Begriff das metaphorische Denken, dessen Grundelement die ‚radikale Metapher‘ ist. Sie stellt den Ausgangspunkt und das Movens der sprachlichen und mythischen Begriffsbildung dar, steht sie doch für das Neue, das in der symbolischen Formung durch „Umsetzung in ein fremdes Medium“126 zum Ausdruck kommt. Das macht ihre Radikalität aus. Schon die „primitivste sprachliche Äußerung, die Setzung eines bestimmten Anschauungs- oder Gefühlsgehaltes in den Laut“ erfordert ein diesem Inhalt selbst fremdes, ja disparates Medium wie auch die einfachste mythische Gestalt erst kraft einer Umformung entsteht, durch die ein bestimmter Eindruck der Sphäre des Gewöhnlichen, des Alltäglichen und Profanen enthoben und in den Kreis des „Heiligen“, des mythisch-religiös „Bedeutsamen“ gerückt wird. Hier findet nicht nur eine Übertragung, sondern eine echte μετάβασις εἰς ἄλλο γένος statt; ja es wird hierbei (…) die Gattung, in die der Übergang erfolgt (…) selbst erst erschaffen.127
Sprache und Mythos schaffen somit allererst eine sinnhafte Ordnung der Wirklichkeit, deren Bedeutung sie fortzubestimmen erlauben. Dabei gründet ihre anfängliche Nähe wie ihr ursprüngliches Ineinander-Verwoben-Sein in ihrer lebensweltlichen Situativität, d.h. in relativ dichten Handlungskontexten. Sie knüpfen an Probleme der kooperativen Orientierung an und dienen dabei relativ unmittelbar der „Erweiterung des Tuns“128. Das haben sie mit einer anderen symbolischen Form gemeinsam, der Technik. Alle drei dienen nicht nur zur Weltorientierung und Daseinsbewältigung. Sie erweitern vielmehr den Radius der Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit. 3.2 Technik und Mythos: Die Rolle des Instrumentellen Cassirer hat erst spät die Technik als symbolische Form für sich entdeckt, dies dann aber mit zunehmender Betonung.129 Allerdings hat er schon bei seinen Ausführungen zu Sprache und Mythos als symbolische Formen häufiger Anspielungen und Vergleiche zwischen diesen und der technischen Dimension von Kultur unternommen. Insofern kommt der Technik in der Kulturentwicklung
126 Vgl. R ECKI, Cassirer (Anm. 31), 39. Deshalb kann man mit Recki zu Recht sagen: „Die radikale Metapher ist das in der Frage nach der Einheit der symbolischen Formen gesuchte funktionelle Prinzip der Kultur“ (a.a.O., 41). 127 C ASSIRER, Sprache und Mythos, in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 148. 128 C ASSIRER, PhsF I (Anm. 33), 260. 129 Dazu im Folgenden vor allem: C ASSIRER, ERNST, Form und Technik (1930), in: Ders., Symbol, Technik, Sprache (Anm. 79), 39–91. – Eine dramatische Wendung nimmt im Verhältnis zur Technik das Spätwerk Der Mythus des Staates (1945/6) ein.
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eine entscheidende Rolle zu.130 Allgemein lässt sich für Cassirer sagen, dass mit der Technik die instrumentelle Seite der Vernunft in ihrer Bedeutung für die Kultur und damit zur Erweiterung von Freiheits- und Gestaltungsräumen angesprochen ist. Sie stellt einen genuin humanen, eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit dar, was sich nicht erst im wissenschaftlich-technologischen Zeitalter bemerkbar macht. Zudem steht für Cassirer ebenso fest, dass auch die Technik von Anfang an mit der Entwicklung der Sprache verbunden und mit der Lebensform des mythischen Denkens verknüpft war.131 Deswegen kann man im Verständnis der Technik einen Schlüssel zum Werk Cassirers und zu seiner Theorie der Menschwerdung erblicken.132 Im Verhältnis von Sprache und Technik spiegelt sich zunächst die Beziehung von Denken und Handeln wieder. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass Techniken in sich selbst schon intelligibel und umgekehrt Sprechen und Denken nie anders als ein geistiges Tun zu begreifen sind. Cassirer beschreibt das so: Aus der „Kraft der Determination, die das Tun in sich selbst erfährt, entstehen die Determinanten und die Dominanten des sprachlichen Ausdrucks.“133 Die sprachliche Begriffsbildung erfolgt auf dem Gebiet der Technik somit weniger durch Abstraktion, sondern vornehmlich über die in den Handlungssituationen wahrgenommenen und erkannten Interessen. Sie dienen zur Selektion des technischen Tuns und seiner Symbolisierung. Darin kommt die instrumentelle Seite von Vernunft und Kultur zum Vorschein, die sich in dem auf Freiheit zielenden praktischen Willen realisiert: Die Zuordnungen im Sein vollziehen sich nach Maßgabe des Tuns, also nicht nach der „objektiven“ Ähnlichkeit der Dinge, sondern nach der Art, wie die Inhalte durch das Medium des Tuns erfaßt und miteinander in einem bestimmten Zweckzusammenhang eingeordnet werden.134
Die elementare Verbindung von sprachlichem Ausdruck und instrumenteller Welthabe, wie sie von Cassirer an frühen Kulturen illustriert wird135, macht den
130 Vgl. C ASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 250f., sowie noch früher: Ders., Sprache und Mythos in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 124–127. 131 Das teilt er mit Zeitgenossen wie Paul Tillich. Siehe nur dessen Ausführungen in: TILLICH, PAUL, Logos und Mythos der Technik, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur (= GW IX), hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1967, 297–306. 132 Vgl. dazu: G ERHARDT, V OLKER, Menschwerdung durch Technik. Ernst Cassirers Theorie des Geistes, in: Birgit Recki (Hg.), Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert (Cassirer Forschungen 15), Hamburg: Meiner 2012, 601–621. 133 C ASSIRER, PhsF I (Anm. 33), 261. 134 C ASSIRER, Sprache und Mythos in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 107f. 135 Vgl. a.a.O., 108f. Er bezieht sich an dieser Stelle auf kultische Praktiken und dem Ackerbau bei Bantu-Stämmen. – Analog hierzu vgl. seine Ausführungen zu Tanz und Arbeit
3. Sprache, Mythos und Technik
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gleichermaßen funktionalen wie teleologischen Charakter von Zeichen- und Werkzeuggebrauch deutlich. Allerdings bleibt es nicht bei diesen historischen Hinweisen. Viel wichtiger ist, dass der Rolle der Technik für die Entwicklung von Kulturen eine zentrale Bedeutung zugesprochen wird. Das betrifft sowohl den dadurch provozierten Weltbildwandel als auch den damit stattfindenden sprachlichen Bedeutungswandel: Wenn durch Umgestaltung der Lebensbedingungen, durch den Wandel und Fortschritt der Kultur ein verändertes praktisches Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung sich einstellt, bewahren auch die Sprachbegriffe nicht mehr ihren ursprünglichen „Sinn“. Sie beginnen sich jetzt zu verschieben, (…) in dem Maße, als die Grenzlinien, die das Tun setzt, sich selbst verändern.136
Dies prägt einmal mehr alle Facetten einer wissenschaftlich-technologischen Zivilisation, wie wir sie gegenwärtig allenthalben vorfinden. Weltorientierung gibt es damit nie ohne Selbstorientierung und beides vollzieht sich praktisch in den Formen der Weltgestaltung und Selbsterhaltung. Das auf Sprache und Denken angelegte Lebewesen Mensch ist ein ‚tool-making animal‘, wie Benjamin Franklin das genannt hat. Zur Wirklichkeitserkenntnis gehört stets die Möglichkeit ihrer (partiellen) Bemächtigung und beides wiederum hängt von der Möglichkeit ab, durch symbolische Formung Distanz gegenüber einem selbst wie gegenüber seiner Umwelt aufbauen zu können. Darüber hinaus kann nicht nur die Sprache – wie im Übrigen auch die Kunst – als Kulturtechnik verstanden werden, sondern in der Technik im engeren Sinne wird die Notwendigkeit der Verkörperung von Sinn und Bedeutung eindrücklich prägnant. In diesen beiden Seiten seines Wesens ist die Kraft beschlossen, mit der er sich gegen die äußere Wirklichkeit behauptet und kraft deren er sich ein geistiges »Bild« dieser Wirklichkeit erst erringt. Alle geistige Bewältigung der Wirklichkeit ist an diesen doppelten Akt des »Fassens« gebunden: an das »Begreifen« der Wirklichkeit im sprachlich-theoretischen Denken und an ihr »Erfassen« durch das Medium des Wirkens; an die gedankliche wie technische Formgebung.137
Den ursprünglichen Kontext, in dem Technik und Sprache als symbolische Praktiken unmittelbar zusammenkommen, bildet nun ein genuin mythischer, nämlich die Magie138. Zwar könnte man auch versuchen, die Technik als spezi-
bei indianischen Völkern, in: CASSIRER, Form und Technik, in: Ders., Symbol, Technik (Anm. 79), 75. 136 A.a.O., 108. – Es ist bemerkenswert, wie sehr Cassirer die praktische, d.h. doch wohl technische Umgestaltung der Welt als den Ort auszeichnet, an dem sich so etwas wie ein ‚Fortschritt‘ der Kultur am ehesten bemerkbar macht. 137 C ASSIRER, Form und Technik, in: Ders., Symbol, Technik (Anm. 79), 51f. Schon die Verwendung der metaphorisch verstandenen Verben („begreifen“, „erfassen“) ist prägnant. 138 An anderer Stelle weist Cassirer darauf hin, dass die drei Grundelemente menschlicher Kultur die Sprache, die Technik und die bildende Kunst sind, die am Beginn in magischen
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
fisch moderne Symbolform von der von analogischen Denkmustern durchzogenen Magie aufgrund fehlenden abstrakten Gesetzesdenkens und allgemein zugänglicher Routinierung abzuheben. Doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass schon das magische Denken und Handeln eine rudimentäre Form von „technischen Wollen und Vollbringen“ darstellt. Denn die Magie „ist zweifellos nicht lediglich eine Weise der Weltauffassung, sondern in ihr liegen schon echte Keime der Weltgestaltung. Aber das Medium, in dem sie sich bewegt, läßt die Keime nicht zur Entfaltung kommen.“139 Und umgekehrt könnte Magie gar nicht funktionieren, wenn in ihr nicht jene ‚Techniken‘ der aktiven Umformung von Wirklichkeit mitgegeben wären, wie sie Technik und Sprache darstellen. Dennoch wird von Cassirer die fundamentale Differenz von Magie und Technik nicht unterschlagen.140 Sie besteht in einer differenten Qualifizierung der praktischen Tätigkeit und symbolischen Formung. Nicht mehr der emotional getönte Wunsch ist dann der Vater des Gedankens und des Tuns, sondern die praktische Ausrichtung des Willens auf technische Gestaltung, mit der die Distanzierung vom Objekt der Gestaltung einhergeht und somit die Einsicht in den Objektcharakter des Gegenstandes wächst. Denn die Macht des Willens (…) offenbart sich nicht nur in der Kraft des vorwärtsstürmenden Impulses, (…) nicht nur in der Fähigkeit der Ergreifung des Zieles, sondern in einer eigentümlichen Fähigkeit, das Ziel in die Ferne zu rücken und es in dieser Ferne zu belassen, es in ihr ‚stehen zu lassen‘.141
In der technischen Formung kommt die Wirklichkeit gestaltende Freiheit zum Ausdruck. Damit einher geht die Schärfung des Sinns für die Objektivität der Dinge und das Bewusstsein für die Subjektivität des formenden Willens. Bei aller scharfen Trennung von Magie und Technik, die bekanntlich auch dem Entzauberungstheorem als neuzeitlicher Fortschrittskategorie zugrunde liegt, darf aber nicht vergessen werden, dass Technik und Sprache auch weiterhin mit den Sphären von Mythos, Religion und Kultur eng verbunden bleiben.142 Bei Cassirer wächst die Einsicht für die Persistenz der mythischen Dimension in der Technik in dem Maße143, indem er sich der Auseinandersetzung mit Kontexten unmittelbar miteinander verwoben sind. Vgl. CASSIRER, ERNST, Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN 1), hg. v. John M. Krois, Hamburg: Meiner 1995, 257. 139 A.a.O., 58. 140 Vgl. z.B. a.a.O., 53. 141 A.a.O., 59. 142 Die Ausführungen von Christian Bermes lesen Cassirer m.E. zu stark in Richtung einer scharfen Trennung. Vgl. BERMES, CHRISTIAN, Technik als Provokation zur Freiheit. Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik, in: Birgit Recki, Philosophie der Kultur [Anm. 58], 583–599, 586f. – Zum Verhältnis von Wissenschaft und Technik siehe darüber hinaus: FALKENBURG, BRIGITTE, Wissenschaft und Technik als symbolische Formen, in: a.a.O., 567–582. 143 Zum Verhältnis von Technik und mythischer Lebens- und Denkform siehe bereits: CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 253–257.
3. Sprache, Mythos und Technik
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den politischen Totalitarismen annähert. Zur Funktion politischer Mythen und ihrer Institutionalisierung in staatlichen Formen gehört wesentlich, dass sie an Veränderungen der Lebenswelt und Weltbild prägenden (Alltags-)Sprache arbeiten und dass sie für ihren gesellschaftlichen Erfolg sich medialer und ritueller Techniken bedienen. Aus diesem Grund kommt Cassirer in seinem Spätwerk zu der Behauptung: „Die Beschreibung der Rolle von Magie und Mythologie in der primitiven Gesellschaft gilt ebenso für weit fortgeschrittene Stadien des politischen Lebens der Menschen.“144 An kaum einer anderen Stelle seines Werkes wird zudem so deutlich, wie für ihn die soziale Konstitution von Weisen der Wirklichkeitserkenntnis zu denken ist. Der sozialisierenden Funktion der Sprache entspricht die technische Inszenierung von Gemeinschaft. Der aktiv vorgenommene „Wandel der Funktion der Sprache“ gehört zu jener „geistigen Wiederaufrüstung“145, der es um das bewusste Hervorbringen emotionaler Einstellungen und affektiver Gefühlslagen geht.146 Doch dies vollzieht sich stets – und mehr noch als in früheren Zeiten in technisch hochgerüsteten Gesellschaften – in Form von rituellen Techniken, die der Lebenswelt und dem Alltag Form und Gestalt verleihen. Denn der geschickte Gebrauch des magischen Wortes ist nicht alles. Wenn das Wort seine volle Wirkung tun soll, muss es durch die Einführung neuer Riten begleitet werden (…) Jede politische Aktion hat ihr spezielles Ritual. (…) Jede Klasse, jedes Geschlecht und jedes Alter hat seinen eigenen Ritus.147
Wenngleich an negativen Beispielen demonstriert, erzeugt Cassirer nicht den Eindruck, die Überwindung inszenierter und bewusst hergestellter Mythen ließe sich durch eine bloße Verabschiedung mythischer Elemente aus dem Technischen oder Sprachlichen bewerkstelligen. Allenfalls eine Transformation ist denkbar, deren Ziel es sein muss, Sprache zu (be)reinigen, Gemeinschaftsformen anderweitig rituell zu inszenieren und das Element des Mythischen kritisch zu bedenken.148 Als systematische Pointe von Cassirers Ausführungen ergibt sich aber eine Theorie der Funktion des Ritus. Riten sind demnach nichts ande-
144 C ASSIRER, ERNST, Vom Mythus des Staates (1946) (PhB 541), Hamburg: Meiner 2002, 363. – Siehe ferner: Ders., The Technique of our Modern Political Myths, in: Ders., Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, hg. v. Donald Ph. Verene, New Haven/London: Yale Univ. Press 1979, 233–267. 145 C ASSIRER, Mythus (Anm. 144), 368. 146 A.a.O., 369. 147 A.a.O., 371 148 Sowohl traditionelle als auch moderne Formen des Mythos entspringen der freien Einbildungskraft des Menschen, sind Produkt der menschlichen Imagination (Phantasie) könnte man sagen. Was den modernen Mythos aber von seinem Vorgänger unterscheidet, ist seine geplante und technisch versierte Herstellung. Die zivilisationsgeschichtliche Verbindung aus Magier und Handwerker kehrt mit vertauschten Rollen wieder. Politische Mythen sind „künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt“ (a.a.O., 367).
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
res als Techniken sprachlicher Darstellung und affektiver Inszenierung mythisch aufgeladenen Denkens. Daher hängen, worauf in eindrücklicher Weise die Schlusspassagen von Der Mythus des Staates aufmerksam machen, sowohl humane als auch inhumane Gesellschaftsformen von jenen Wirkmechanismen ab, die als Techniken die Vorstellungsgehalte der jeweiligen (politischen) Mythen mehr oder minder erfolgreich inszenieren.149 Gerade deswegen spricht sich Cassirer abschließend für eine permanente Arbeit am Mythos aus. Cassirers Technikverständnis weist zwei Aspekte auf, die für das Verständnis symbolischer Wirklichkeitsformung wichtig sind: Erstens vergisst es nicht, auf die künstlerische Seite der Formgestaltung hinzuweisen. Kunst beruht stets auf technischen Fertigkeiten, doch lässt sie den Produkten technischen Weltumgangs zugleich – wie schon die frühe Plastik und Keramikkunst belegt – eine neue, eben ästhetische Formung zukommen. Diese kann im Gefolge den Aspekt des Instrumentellen als den im engeren Sinne technischen weit zurückdrängen. Zweitens wohnt seinem Verständnis von Technik als der instrumentellen Form der Freiheit ein ethischer Zug inne. Anders als in der klassischen Gegenüberstellung von poiesis und praxis stellt Technik (als poiesis) selbst ein Instrument der Willensbildung, Willensformung und Willensgestaltung dar.150 Damit wird sie für die Entfaltung der Personalität des Menschen zentral, liegt diese doch wesentlich in der kontinuierlichen Ausbildung eines eigenen Willens: „Technik is essential in the development of the will and hence, of personality, but it cannot provide the goals to which the will aspires. Technology is confined to the sphere of the strictly instrumental.“151 Damit Technik nicht einfach zur Technologie – in den Worten von Krois – wird, bedarf sie einer Rückbindung in eine symbolische Lebensform, zu der es wesentlich gehört, Ziele, Zwecke und elementare Bedeutsamkeiten zu formulieren und mehr noch, sie affektiv mit dem Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaften zu verbinden. Erneut stoßen wir auf die Rolle des Mythos.
149 A.a.O., 388. – Das gilt dann selbstredend auch für die moderne, auf Rechtsstaatlichkeit gegründete Demokratie. Um ihrer Stabilität willen benötigt sie neben rechtlichen Institutionen Formen der rituellen Inszenierung ihrer Sinngehalte, um so die Stimmungen, Einstellungen und Haltungen ihrer Bürger nachhaltig zu prägen. 150 Cassirer kommt hier John Deweys Verständnis von ‚instrumentell‘ in dessen Ansatz eines naturalistischen Humanismus sehr nahe. Zu Deweys Verständnis des Instrumentellen siehe: DEWEY, JOHN, Erfahrung und Natur (1925). Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, v.a.128–150. 151 K ROIS, Cassirer. Symbolic Forms (Anm. 10), 104. – Zur Bedeutung der Technik im Miteinander von Kunst und Wissenschaft: vgl. RECKI, Cassirer (Anm. 31), 69–72.
3. Sprache, Mythos und Technik
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3.3 Mythos als Lebenswelt – die überdauernde Funktion der mythischen Lebensform Die Bedeutung des Mythos als symbolischer Anschauungs-, Denk- und Lebensform, wie er von Cassirer gekennzeichnet wird, ist in mehrfacher Hinsicht klärungsbedürftig. Erst durch eine komplementäre Betrachtung seiner diversen Facetten lässt sich die Reichweite der These von der überdauernden, obgleich gewandelten Form des Mythos als Dimension noch heutiger Lebenswelten plausibilisieren. In seinem Vorgehen knüpft Cassirer an Schellings Entwurf einer Philosophie der Mythologie an. Schon für Schelling ist klar, der Mythos stellt nicht einfach eine vor-rationale oder kindlich-naive Form des Weltverstehens dar. Mythen sind von daher weniger als Produkte überschießender Phantasie denn als Formen, wie Wirklichkeit in ihrer Bedeutung prägnant werden kann, zu begreifen. Schelling plädiert dafür den Mythos tautegorisch zu verstehen: Demnach sind „Götter (…) wirklich existierende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.“152 Zum Verständnis des Tautegorischen gehört, dass es noch keine Scheidung von Subjekt und Objekt in dem Sinne kennt, dass zwischen Sein- und Sinn- bzw. Bedeutungsdimensionen unterschieden werden könnte. Selbst- und Objektbewusstein bauen sich erst allmählich vermittels der symbolischen Formung des Mythos auf. Auf inhaltlicher Ebene entsprechen so theogonische und anthropogonische Elemente einander.153 Anders als Schelling grundiert Cassirer seine Philosophie des Mythos nicht mehr mit einer idealistischen Theorie des Absoluten. Aber er sieht in ihm auch nicht – wie die zeitgenössische Völkerpsychologie im Gefolge von Wilhelm Wundt – ein bloßes „Spiel der empirisch-psychologischen Kräfte“154. Vielmehr gilt es den Mythos als Gestalt des sich formierenden und gestaltenden Kulturbewusstseins zu betrachten. Seine Verankerung im menschlichen Bewusstsein darf – Sprache und Technik analog – weder subjektivistisch verengt noch als objektive Wirklichkeitsbetrachtung begriffen werden; setzt doch sowohl das Bewusstsein von Subjektivität als auch das von Objektivität einen geistigen
152 SCHELLING, FRIEDRICH W ILHELM JOSEPH, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1842), in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 5 (1842–1852). Erster Teilband, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, 211–262, 205. 153 Die weitere Entwicklung der Bemühungen um eine wissenschaftliche Mythologie sind Cassirer zufolge entscheidend von Feuerbachs Versuch beeinflusst worden, die Philosophie der Mythologie von ihren idealistischen Zügen zu befreien und so religionskritisch zu wenden. Zu Cassirers Feuerbach-Verständnis vgl.: CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 16. 154 A.a.O., 12.
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
Formungsprozess voraus. Auch der Mythos als eine „bestimmte[] ‚Strukturform‘ des Geistes“155 formt demnach eine spezifische Grundsicht der Wirklichkeit. Insofern kommt dem Mythos eine gleichermaßen Realität erschließende wie bestimmende Funktion zu: Stattdessen wird eine kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins weder von der Gottheit als einer metaphysischen noch von der Menschheit als einer empirischen Urtatsache ausgehen können, sondern sie wird das Subjekt des Kulturprozesses, sie wird den »Geist« lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen.156
Als historisch frühe symbolische Form führt die Entwicklung des mythischen Bewusstseins in emphatischer Weise den Weg kultureller Ausdifferenzierung samt Bedeutungswandel und Sinnanreicherung vor Augen. Denn der Mythos ist so wenig wie alle anderen symbolischen Formen als statisches Gebilde zu begreifen, sondern unterliegt einer Dynamik, einem Wandel und einer internen Differenzierung, die ihn erst allmählich als eine vereinheitlichende Sicht auf die Wirklichkeit begreifen lässt. Hierunter fällt, dass der Mythos sowohl eine Anschauungsform ist, die Raum und Zeit symbolisch prägnant werden lässt, als auch eine Denkform, die bestimmte Kategorien zur Bestimmung von Ordnung der Wirklichkeit bereithält, als auch eine Lebensform, in der der Mensch als ein aktiv in die Welt begriffener um Orientierung in seinem Handeln bemüht ist. Die kategoriale Binnendifferenzierung, wie sie auf die eine oder andere Weise jede symbolische Form kennt, erlaubt es erst, ein strukturiertes Ganzes als spezifische Form der Wirklichkeitserkenntnis zu begreifen: Im Ganzen dieser Tätigkeiten erst konstituiert sich die ‚Menschheit‘ ihrem ideellen Begriff und ihrem geschichtlichen Dasein nach; in ihm ergibt sich erst die fortschreitende Scheidung von »Subjekt« und »Objekt«, von »Ich« und »Welt«, durch die das Bewußtsein aus seiner Dumpfheit, aus der Befangenheit im bloßen Dasein und im sinnlichen Eindruck und Affekt, heraustritt und sich zum Kulturbewußtsein formt.157
Wirklichkeitserkenntnis baut sich somit stets innerhalb symbolischer Formen auf. Diese stellen mit Sinn versehene Kategorien von ‚Raum‘, ‚Zeit‘, ‚Zahl‘, ‚Ich‘, ‚Welt‘, ‚Kausalität‘ etc. bereit, die eine einheitliche Perspektive stiften, durch die fortschreitend Bedeutung erfasst wird. Aus diesem Grund lässt sich nun aber die Frage nach dem möglichen Wahrheitsgehalt symbolischer Formungen nur innerhalb ihres jeweiligen Rahmens beantworten. Von daher ist eine Kritik an der Objektivität mythischer Welt- und Selbsterkenntnis nicht einfach aus externen Perspektiven möglich. Es gibt nicht nur keinen übergeordneten Standpunkt jenseits symbolischer Strukturierung, sondern dem Mythos muss zumindest prinzipiell die Möglichkeit objektiver Wirklichkeitserkenntnis A.a.O., 13. A.a.O., 16. 157 Ebd. 155 156
3. Sprache, Mythos und Technik
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eingeräumt werden. Das macht nicht die kritische Prüfung seiner Betrachtungsweisen obsolet, sondern verschiebt sie lediglich von substantiellen Annahmen zu funktionalen Leistungen: Seine »Objektivität« ist – wie dies vom kritischen Standpunkt für jegliche Art geistiger Objektivität gilt – nicht dinglich, sondern funktionell zu bestimmen: Sie liegt weder in einem metaphysischen noch in einem empirisch-psychologischen Sein, das h i n t e r ihm steht, sondern in dem, was er selbst ist und leitet, in der Art und Form der O b j e k t i v i e r u n g , die er vollzieht.158
Die Gestalt dieser Objektivierungsleistung zeigt sich in der Verarbeitung von passiven Umwelteindrücken durch ihre aktive, symbolische Formung, gemäß dem Richtungsprinzip, das dem Mythos eigen ist und ihn zu einer besonderen Weise des humanen Kulturbewusstseins werden lässt. Cassirer optiert daher nicht für ein simples Geschichtsbild, in welchem das mythische Weltbild sukzessive durch das wissenschaftliche abgelöst wird.159 Zwar bleibt der Mythos als symbolische Form dank seines hohen Grades an Homogenität und seiner dadurch nur rudimentären Ausdifferenzierung in Gänze eine relativ vormoderne Kulturform. Doch versteht man Kultur als symbolisch verkörperte und institutionell ausgeprägte ‚Stätte‘ des Geistes, als manifesten Artikulationsort menschlichen Kulturbewusstseins, dann lässt sich auch nach funktionalen Parallelen und Querverbindungen zwischen früheren und späteren, homogeneren und spezialisierteren symbolischen Formen fragen. Schon aus historischen Gründen wird ersichtlich, dass der Mythos die ersten Anfänge und Versuche einer E r k e n n t n i s der Welt in sich faßt, da er sich weiterhin als das vielleicht früheste und allgemeinste Erzeugnis der ä s t h e t i s c h e n P h a n t a s i e darstellt – so hätten wir in ihm wieder jene unmittelbare Einheit des Geistes vor uns, von der alle Sonderformen nur Bruchstück, nur einzelne Manifestationen wären.160
Cassirers historische Phänomenologie menschlichen Kulturbewusstseins ist von daher offen für die Suche nach funktionalen Äquivalenten. Schon der Mythos ist jedenfalls kein bloßes Ausdrucksphänomen mehr, sondern formt eigenständig Sinn und Bedeutung der von ihm erfassten Wirklichkeit. Seiner spezifischen Leistung für die Wirklichkeitserkenntnis kommt man daher – jenseits seiner konkreten Inhalte – nur auf die Spur,
Ebd. Vgl. a.a.O., 17: „Mit der ersten Dämmerung der wissenschaftlichen Einsicht scheint die Traum- und Zauberwelt des Mythos ein für allemal dahin, scheint sie wie ins Nichts hinabgesunken zu sein. Und doch erscheint selbst dieses Verhältnis in einem anderen Licht, wenn man, statt den Inhalt des Mythos mit dem Inhalt des endgültigen Weltbildes der Erkenntnis zu vergleichen, vielmehr den P r o z e ß des Aufbaus der mythischen Welt der logischen G e n e s e des wissenschaftlichen Naturbegriffs gegenüberstellt“. 160 A.a.O., 28f. 158 159
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wenn man auf die Art reflektiert, in der sich in den verschiedenen geistigen Äußerungsformen der »Gegenstand« mit dem »Bild«, der »Gehalt« mit dem »Zeichen« verknüpft und in der sich zugleich beide voneinander ablösen und sich gegeneinander selbstständig erhalten.161
Neben der relativen Homogenität des Mythos als symbolischer Anschauungs-, Denk- und Lebensform macht eine weitere Besonderheit seine Nähe zur alltäglichen Lebens- und Daseinsgestaltung aus. Die von Cassirer mitunter als natürliche Wirklichkeitseinstellung gekennzeichnete Haltung des praktischen Alltags lebt davon, dass in ihr regelhafte, aber stets auf konkrete Situationen bezogene Orientierungsmuster in Gebrauch sind. Allzu sehr auf Abstraktion und Formalisierung abzielende Symbolsysteme, die sich von der qualitativen Erfassung lebensweltlicher Kontexte gezielt entfernen, sind hier weniger von Belang als Formen, die jene qualitativen Aspekte in ihrer Bedeutung unmittelbar prägnant machen. Hinzu kommt, dass die Verbindung von Ich-Bewusstsein und konkreter Welt-Habe noch eng geknüpft ist. Wie im Mythos scheint der Alltag unserer lebensweltlichen Zusammenhänge zu verlangen, dass die verschiedenen Objektivierungsstufen und Objektivationskreise noch keineswegs durch einen scharfen Schnitt getrennt sind. Ja, auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung – jene Welt, in der wir alle, sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritisch-wissenschaftlicher Reflexion stehen, beständig leben und sind, – enthält eine Fülle von Zügen, die sich vom Standpunkt ebendieser Reflexion, nur als mythisch bezeichnen lassen. 162
Die Nähe zwischen Mythos und Lebenswelt liegt offenkundig darin, dass beide einen vertrauteren Umgang mit Erfahrungen anbieten, die wir alltäglich machen und in denen wir unser mit Sinn behaftetes In-der-Welt-Sein erfassen. Das untergräbt nicht die Tatsache, dass es Bereiche unseres lebensweltlichen Umganges gibt, in denen mythische Sinnformen kaum mehr von Belang sind. Nicht zuletzt die moderne Technik hat dazu beigetragen. Auch mit Blick auf umfassende Fragen nach der Entstehung des Kosmos oder der Evolution des Lebens wird man allenfalls von mythischen Residuen sprechen können. So gesehen haben die mythischen Bestände unserer Kultur eine Transformation durchschritten, die jedenfalls eine relativ homogene und geschlossene Sicht auf die Wirklichkeit nicht mehr zulässt. Dennoch: So wenig sich auf dem Gebiet theoretischer Erkenntnis, wie sie in den Naturwissenschaften zum Ausdruck kommt, noch von einer starken Persistenz mythischen Denkens geredet werden kann163, A.a.O., 29. A.a.O., 17. 163 Spurenelemente lassen sich freilich auch dort noch aufspüren, weil Wissenschaft stets auf Zeichengebrauch angewiesen ist, der insbesondere bei der Aufstellung neuer Hypothesen auf den metaphorischen Gehalt von Begriffen nicht verzichten kann. Zudem beruht noch jede Naturwissenschaft trotz ihres differenten Zeichengebrauchs auf Prämissen, die sie selbst nur bedingt einholen kann. Insofern gilt auch für sie immer noch: „Auch innerhalb des Wissens geht der G e b r a u c h der Hypothesen und »Grundlegungen« der Erkenntnis ihrer eigentlichen Funktion a l s Grundlegungen voraus – und solange diese Erkenntnis nicht erreicht ist, vermag 161 162
4. Der Primat der Ausdrucksfunktion und Religion
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so gilt dies nicht in gleichem Maße für die sozialen, ästhetischen, praktischen Bereiche des Lebens. In ihnen erschließt sich uns Bedeutung stets emotional dichter, was sie eben auch offener für die Eigenart mythischen Denkens macht.164 Dies soll eine eindrückliche Passage aus dem Essay abschließend verdeutlichen: Im Lichte der Wissenschaft soll die mythische Wahrnehmung verblassen. Aber das bedeutet nicht, daß die Eindrücke unserer physiognomischen Wahrnehmung als solche getilgt oder vernichtet würden. Sie haben zwar ihren objektiven Wert, ihren Wert für eine Kosmologie einbüßt. Aber ihr anthropologischer Wert bleibt erhalten. In unserer Welt können wir sie nicht leugnen, und wir können nicht auf sie verzichten; sie behalten ihren Platz und ihre Bedeutung. Im gesellschaftlichen Leben, im täglichen Umgang mit den Menschen können wir diese Eindrücke nicht auslöschen.165
4. Der Primat der Ausdrucksfunktion und Religion als symbolische Form 4. Der Primat der Ausdrucksfunktion und Religion
Es könnte bislang der Eindruck entstanden sein, als führten die Ausführungen immer weiter weg vom eigentlichen Anliegen der Arbeit, nämlich nach einem Ansatz zu suchen, der durch die Kombination von Ausdrucksanthropologie und Kulturtheorie dazu dient, eine Grundlage für das Verstehen des Sinns personaler Rede von Gott unter der Formel eines expressiven Theismus zu bilden. Diesem Eindruck wird hoffentlich nunmehr gewehrt, da wir an dem Punkt angelangt sind, an dem wir Religion als symbolische Form vor dem Hintergrund ihrer Entstehung aus dem und als dialektische Wendung des mythischen Denkens verstehen und den Blick dabei auf den beide symbolischen Formen prägenden Aspekt der Ausdrucksfunktion lenken können. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Motive konturiert sich der Horizont dessen, was ich in dieser Arbeit expressiven Theismus nenne. Im Folgenden soll das Ganze in drei Schritten entfaltet werden: Der erste widmet sich dem Primat der Ausdrucksfunktion, wie er sich sprachlich bekundet und in einer ‚physiognomischen Weltsicht‘ ansichtig wird. Zugleich wird hier die Religion noch eng vom Mythos her betrachtet. Das ändert sich mit dem zweiten Schritt, der auf die Dialektik des religiösen Bewusstseins abhebt, mit der der entscheidende Schritt zur Ausdifferenzierung und Transzendierung mythischer Denk- und Lebensformen vollzogen wird. Schließlich soll im dritten
auch das Wissen seine eigenen Prinzipien nicht anders als in dinglicher, d.h. aber in halb mythischer Form auszudrücken und anzuschauen“ (CASSIRER, PhsF II [Anm. 100], 33). 164 Dafür einschlägig ist auch das Kapitel: Mythus und die Psychologie der Affekte, in: CASSIRER, Mythus des Staates (Anm. 144), 34–52. 165 C ASSIRER, Versuch (Anm. 14), 124.
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
Schritt die Religion innerhalb des symbolisch ausdifferenzierten Kulturbewusstseins verhandelt werden. Sie macht als Selbstbewusstsein der Kultur (als Ensemble symbolischer Formen) zugleich auf das metaphysische Problem von Sinn und Sein, Geist und Leben aufmerksam und versucht es zugleich kulturell, in symbolischer Gestalt zu bearbeiten. 4.1 Sprachlicher Ausdruck und die Physiognomie der Welt: das Paradigma des mythisch-religiösen Wirklichkeitsbewusstseins Mythos und Religion tragen als symbolische Formen jeweils ein „doppeltes Antlitz“166, da beide nicht nur Weisen der Wirklichkeitswahrnehmung, sondern zugleich der Wirklichkeitsgestaltung, und dies nicht erst in genuin praktischer Hinsicht, darstellen. Cassirer spricht hier von einer „perzeptiven“ und einer „konzeptionellen Seite“167, deren Zusammenspiel die Leistung des Mythos erklärt, die Welt „auf besondere Weise [zu] beurteilen oder [zu] deuten.“168 Schon hier, in der Verbindung aus Perzeptionellem und Konzeptionellem, deutet sich der spezifische Primat der Ausdrucksfunktion an, der strukturell die physiognomische Gestalt der Wirklichkeitsformung entspricht. In ihr artikuliert sich nicht nur die relative Nähe zu situativen Kontexten, aus denen sie stammt, sondern auch eine tiefe emotionale Verbundenheit, ja Vertrautheit mit der Welt in ihren Teilen wie in ihrem Ganzen: „Für das mythische wie religiöse Empfinden wird die Natur zu einer einzigen, großen Gesellschaft des Lebens. Der Mensch hat in dieser Gesellschaft keine Vorrangstellung.“169 Die kommunitäre oder sozietäre Struktur mythischer Weltsichten, die sie stets als Ausdruck von Lebensformen kennzeichnet, wird im Übergang zur Religion für Cassirer ethisch verschärft. Damit verliert jene nicht ihre theoretische Dimension als Weltdeutung, aber das emotionale Gefühl von Solidarität wird zugleich moralisch aufgeladen. Von Anfang an mußte die Religion eine theoretische und eine praktische erfüllen. Sie umfaßt eine Kosmologie und eine Anthropologie; sie beantwortet Fragen nach dem Ursprung der Welt und nach dem Ursprung der menschlichen Gesellschaft. Und aus diesem Ursprung leitet sie die Pflichten der Menschen ab. Diese beiden Aspekte sind nicht völlig getrennt voneinander; sie verbinden und vermischen sich in jenem elementaren Gefühl, das wir als Gefühl der Solidarität des Lebens zu beschreiben versucht haben.170
Auf diese ethische Dimensionierung von Religion, die bei Cassirer sich der Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie seines Lehrers Cohen verdankt, werden wir im zweiten Schritt noch zurückkommen.171 Hier ist zunächst A.a.O., 122. Ebd. 168 Ebd. 169 A.a.O., 132. 170 A.a.O., 148. 171 Siehe dazu: C ASSIRER, ERNST, Hermann Cohens Philosophie der Religion und ihr Verhältnis zum Judentum (1933), in: Ders., Aufsätze und kleine Schriften 1932–1935, ECW, Bd. 166 167
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interessant, dass noch sie auf der Ebene einer physiognomischen Betrachtung der Welt verbleibt, insofern ihre Pflichten aus dem ‚Gefühl der Solidarität des Lebens‘ abgeleitet werden, wie es im Zitat heißt. Darüber hinaus beschränken sich Cassirers Analysen der mythisch-religiösen Denk- und Lebensform nicht auf das Gebiet der sog. Hochreligionen. Sie setzen im Gegenteil viel früher an. Das teilen sie mit dem Ansatz von Émile Durkheim.172 Vor allem dank der systematischen Integration ethnologischer Einsichten gelingt es Cassirer, zu einem kulturanthropologischen Verständnis von Religion zu gelangen. Dabei „verwandeln sich die ethnographischen Kenntnisse von bloßen Daten in den Speicherbänken eines Bewußtseins, das im Rahmen wohl etablierter Wahrnehmungsmuster sich selbst genügt, zu Symbolen, die es uns ermöglichen, nach neuen Perspektiven zu suchen.“173 So erhält die kulturtheoretische Analyse der Leistungen des mythisch-religiösen Bewusstseins in seinen anfänglichen Gestalten ihre Gegenwartsrelevanz. Vor diesem Hintergrund soll die Verbindung von sprachlichem Ausdruck und physiognomischer Weltwahrnehmung als das Paradigma mythisch-religiösen Wirklichkeitsbewusstseins untersucht werden. Cassirer versteht den Mythos nicht vor-rational. Andernfalls könnte man ihn in seinem ‚logischen‘ Aufbau, seiner Begriffsform, die er zweifelsohne hat, gar nicht verstehen.174 Was ihn kennzeichnet, bis hinein in seine sprachliche Form, ist die ‚physiognomische Perspektive‘. Damit ist gemeint, dass die Wirklichkeit in der mythischen Denkform als ein großer, mit Bedeutungen und Bedeutsamkeiten erfüllter Resonanzraum verstanden wird, dessen einzelne Teile als handelnde Wesen und im Widerstreit liegende Kräfte begriffen werden. Am Unterschied zur theoretischen Welt der Wissenschaft mag man sich das klarmachen: Die mythische Welt befindet sich in einem gleichsam flüssigeren, wandlungsfähigeren Zustand als unsere theoretische Welt der Dinge (…) Um diesen Unterschied zu begreifen und darzustellen, könnte man sagen, der Mythos nehme in erster Linie nicht objektive, sondern physiognomische Merkmale wahr. Die Natur im empirischen oder wissenschaftlichen Verstande (…), eine derartige »Natur« gibt es für die Mythen nicht. Die Welt des Mythos ist
18, Text und Anmerkungen bearbeitet von Ralf Becker, Hamburg: Meiner 2004, 255–264. – Zum Verhältnis von Cassirer und Cohen: MEYER, THOMAS, Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit. Zum Werk Ernst Cassirers (Philosophie im Kontext 3), Hamburg: Lit 2007, 19–58; sowie POLKE, CHRISTIAN, The Cultural Function of Monotheism. On Cassirer’s Late Philosophy, in: STK 87 (2011), 14–23. 172 Zu Durkheim siehe § 5.1.2. 173 D UPRÉ, W ILHELM, Überlegungen zur religionsphilosophischen Bedeutung der Ethnophilosophie, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Religion als Problem der Aufklärung. Eine Bilanz aus der religionstheoretischen Forschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, 52–65, 58. 174 Vgl. C ASSIRER, ERNST, Die Begriffsform des mythischen Denkens (1922), in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 2–70.
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dramatisch – eine Welt des Handelns, der Kräfte, der widerstrebenden Mächte. In jeder Naturerscheinung sieht der Mythos den Zusammenprall dieser Mächte. Die mythische Wahrnehmung ist stets in dieser Weise emotional gefärbt.175
Mit der Physiognomie der Welt hängt die Eigenart des mythischen Wahrnehmungs- und Begriffsvermögens zusammen. Dieses strukturiert die Wirklichkeit vornehmlich gemäß dem „Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder“176. Während wissenschaftliche Erkenntnis auf synthetische Weise verschiedene Glieder in eine einheitliche Ordnung bringt, hängt in der mythischen Vorstellung alles miteinander zusammen, da sie dem Prinzip der Ähnlichkeit aller Dinge folgt, demzufolge Einheit im Grunde „dingliche Einerleiheit, die Koinzidenz“177 meint. Diese substantielle Bindung der Dinge untereinander lässt eine scharfe Trennung zwischen quantitativen, qualitativen und kausalen Aspekten und Faktoren nicht zu, wenngleich das mythische Denken durchaus Differenzierungen vornimmt. Worin aber gründet sich die sympathetische Struktur des mythischen Denkens? Ihr liegt jedenfalls – wie schon bei Usener und seiner Theorie der Götternamen – das Phänomen der Urprädikation zugrunde, wobei die dem Mythos eigene – und später von der Religion übernommene – Urprädikation diejenige der Unterscheidung zwischen ‚sakral‘ und ‚profan‘ ist. Damit knüpft Cassirer an zeitgenössische Vertreter der Sozialanthropologie an, vor allem in Gestalt von Robert Ranulph Marett.178 Die Scheidung einer sakralen von einer profanen Sphäre dient dabei weniger der Trennung von verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, geschweige denn der Erfassung von Objektivität im wissenschaftlichen Sinn. Vielmehr kann diese überall, an jedem Objekt und in jedem Ereignis auftreten. Sie bildet von daher die Bedingung, prinzipiell in allem Sein dessen konkrete Bedeutsamkeit qualitativ gewahr zu machen und so auszudrücken: Der Sinn und die Macht des »Heiligen« ist für das ursprüngliche mythische Gefühl auf keinen Sonderbezirk, auf keine einzelne Seinssphäre und auf keine einzelne Wertsphäre beschränkt. Vielmehr ist es die ganze Fülle, die unmittelbare Konkretion und die unmittelbare Totalität des Daseins und Geschehens, woran dieser Sinn sich ausprägt.179
Anders gewendet: Es ist der Kontrast von Heiligem und Profanen, durch den die derart wahrgenommene, erkannte und gestaltete Welt vom Menschen mit Sinn begriffen werden kann, weil nämlich anders die Wirklichkeit diesen „nicht
CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 123. CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 78. 177 Ebd. 178 Einschlägig ist hierfür der Aufsatz: M ARETT, R OBERT R., The Tabu-Mana Formular as a Minimum Definition of Religion, in: ARW 12 (1909), 186–194. Auf Maretts Überlegungen kommt Cassirer immer wieder affirmativ zu sprechen. Vgl. nur die Bezugnahme auf Werke Maretts in: CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 147f.150f.156–164. – Zu Marett siehe: § 8.3.1. 179 C ASSIRER, PhSF II (Anm. 100), 89. 175 176
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von Anfang an einfach »hat«, sondern ihm in dieser Form der Betrachtung, gewissermaßen in dieser mythischen ‚Beleuchtung‘, erst erwächst.“180 Indem die mythische Betrachtungsweise die Wirklichkeit als mit der Qualität des Heiligen als einer geheimnisvollen, außermenschlichen, aber inweltlich präsenten Macht ausgestattet sieht, formt sie diese auch dadurch, dass sie weitere Unterscheidungen einführt, die damit zusammenhängen: ‚rein‘ und ‚unrein‘, ‚erlaubt‘ und ‚unerlaubt‘. Die perzeptiven und konzeptionellen Seiten des Mythos führen zu einer theoretischen und praktischen, in beiden Fällen aber emotional getönten, Wirklichkeitserkenntnis: Man begreift von hier aus, daß der Inhalt der Mana- wie der Tabuvorstellung von Seiten der rein gegenständlichen Betrachtung aus niemals voll zu erfassen ist. Beide dienen nicht der Bezeichnung bestimmter Klassen von Gegenständen, sondern in ihnen stellt sich gewissermaßen nur der eigentümliche Akzent dar, den das magisch-mythische Bewußtsein auf die Gegenstände liegt. Durch diesen Akzent wird die Gesamtheit des Seins und Geschehens in eine mythisch bedeutsame und mythisch irrelevante Sphäre (…) zerlegt (…) Sie haben noch keine selbständige Bedeutungs- und Darstellungsfunktion, sondern sie gleichen einfachen Erregungslauten des mythischen Affekts.181
Die mythische Urprädikation mit der Leitdifferenz von ‚sakral‘ und ‚profan‘ steht der affektiven Formung und sprachlichen Artikulation der Intensität des Lebens noch ganz nahe. Deswegen deutet Cassirer zwar an, dass es sehr wohl zu einer Evolution der symbolischen Formen hin zu selbstständiger Darstellung und Bedeutung kommen kann. Doch an der Wurzel des Mythos ist dies gerade nicht gegeben, da hier noch relativ unmittelbar die situative Wirklichkeit intensiv wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich die kategorialen Elemente der mythischen Anschauungs- und Lebensform genauer beschreiben. Cassirer geht dafür den Kategorien von ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Zahl‘ einerseits, dem Seelen- bzw. Ichoder Persönlichkeitsbegriff sowie der Rolle des Kultus andererseits, nach.182 Die Eigentümlichkeit des Mythos macht sich schon bei den Raum-, Zeit- und Zahlvorstellungen deutlich bemerkbar. Denn an keiner der drei Größen lässt sich so etwas wie ein funktionales Verständnis feststellen. Ausschlaggebend sind eher qualitative, emotionale Momente. Auf diese Weise nimmt die so wahrgenommene und erfasste Wirklichkeit physiognomische Züge an. Der A.a.O., 89f. A.a.O., 92f. – Auch in diesem Zitat wird dann wieder die Analogie zur Sprachgeschichte gezogen: „Als der Grund des Mythos und der Religion lässt sich daher die TabuMana-Formel mit demselben Recht und Unrecht bezeichnen, als man etwa die Interjektion als den Grund der Sprache betrachten kann. In beiden Begriffen handelt es sich in der Tat sozusagen um primäre Interjektionen des mythischen Bewußtseins“ (ebd.). 182 Eine umfassende Rekonstruktion dieser kategorialen Analyse des mythischen Denkens findet sich bei: STARK, THOMAS, Symbol, Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers (Religion in der Moderne 2), Würzburg: Echter 1997, v.a. 281–422, sowie in geraffter Form in: VOGL, Geburt der Humanität (Anm. 32), 92–149. 180 181
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Raum wird als konkreter Erscheinungsort der Götter verstanden, Zahlen mit mystischer Kraft und Energie versehen und wie „für das mythische Gefühl der Ort im Raume und die Richtung im Raume nicht der Ausdruck einer bloßen Beziehung, sondern ein eigenes Wesen, ein Gott oder Dämon, ist, so gilt das Gleiche auch für die Zeit und ihre einzelnen Unterteile.“183 Der Jahres- und Festzyklus erhält eine unmittelbar die Lebenswelt betreffende Bedeutsamkeit. Für unseren Zusammenhang weit aus entscheidender ist es allerdings, den Mythos in seiner Lebensform prägenden Weise zu verstehen. Denn weil der Mythos eine besondere Nähe zur alltäglichen ‚natürlichen‘ Welt hat, sie intensiviert, ist es nur folgerichtig, auf seine symbolische Formung der basalen sozialen Kategorien, also von ‚Ich‘, ‚Seele‘ und ‚Gemeinschaft‘, genauer zu achten. Schon aufgrund seiner Nähe zu den praktischen Angelegenheiten des Daseins – auch in Verbindung mit magischen Elementen – gilt der Welt des Handelns die besondere Aufmerksamkeit des mythischen Denkens. Die nichtwissenschaftliche Erfassung kausaler Zusammenhänge, wie sie sich in den elementaren Tätigkeiten des mythischen Menschen einstellt, bildet für Cassirer den Ausgangspunkt für die Herausbildung eines Bewusstseins vom ‚Ich‘, der ‚Seele‘ und der ‚Person‘: Auch die mythische Vorstellungswelt erscheint (…) gerade in ihren ersten und unmittelbarsten Formen, auf engste mit der Welt des W i r k e n s verknüpft (…) Die erste Kraft, mit der der Mensch sich als ein Eigenes und Selbstständiges den Dingen gegenüberstellt, ist die Kraft des W u n s c h e s . In ihm nimmt er die Welt, nimmt er die Wirklichkeit nicht einfach hin, sondern baut er sie für sich auf.184
Der entscheidende Schritt weg von diesem noch stark mit magischen Zügen behafteten Bewusstsein hin zu einer Vorstellung des eigenen Ich oder Selbst besteht dann in der symbolischen Distanzierung von unmittelbaren Wünschen und der damit freigesetzten Möglichkeit ihrer partiellen Kontrolle. Auch dies erfolgt nicht unmittelbar, sondern in Auseinandersetzung mit eingreifenden, außermenschlichen, göttlichen Mächten und Kräften, denen gegenübergestellt sich die Menschen allmählich (ihrer selbst) bewusst werden: „Nicht unmittelbar, sondern nur allmählich und auf mancherlei Umwegen wächst aus der mythischen Kategorie der »Seele« die neue Kategorie des Ich, der Gedanke der »Person« und der Persönlichkeit heraus“185. Mit der Entstehung der Vorstellung von mir als einem Subjekt im Gegenüber zu Göttern und anderen Wesen bzw. Objekten der Umwelt verbindet sich die Vorstellung, dass ich mich als Subjekt im Gegenüber und Miteinander zu meinesgleichen als andere Subjekte gestellt sehe. Ein Selbstgefühl ohne unmittelbaren Gemeinschaftsbezug ist für die mythische Lebensform nicht denkbar. Das mag sich etwa in der Relevanz von Abstammungslinien und anderen Formen CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 127. A.a.O., 183. 185 Ebd. 183 184
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von Totemklassen ausdrücken. Dominiert anfangs ein dichtes, wenig ausdifferenziertes System von Gemeinschaftsverhältnissen, so verfeinern sich im Laufe der Zeit sowohl der Differenzierungsgrad als auch die Medien, die solidarische Bindungen stiften und erneuern können. Neben dem Totem werden künstlerische Artefakte und mythische Erzählzyklen zum Medium der Identitätsfindung innerhalb einer Gemeinschaft. Interessanterweise aber ist es weniger allein dem Zusammenspiel von Selbstund Gemeinschaftsgefühl geschuldet, dass mythische Lebensformen zu einem Verständnis von Personalität gelangen können. Mehr noch sind die Gründe für das Auftauchen eines Gefühls für die eigene Persönlichkeit im Prozess der aktiven Wirklichkeitsgestaltung mit ihrem sachhaltigen Bezug dank kultureller Artefakte zu suchen. In den Werken und Praktiken der Kultur können sich ‚Ich‘ und ‚Anderer‘, ‚Selbst‘ und ‚Gemeinschaft‘ so aufeinander beziehen, dass sich die Individuen in wechselseitiger Identifikation und in Abgrenzung zu der durch sie gestalteten Welt in ihrer Eigenständigkeit gewahr werden: Mit der allmählichen Loslösung von der Besonderheit des W e r k e s (…), mit ihr erhöht und steigert sich das Gefühl der Bestimmtheit der P e r s ö n l i c h k e i t . Das Ich weiß und erfaßt sich jetzt – nicht als bloßes Abstraktum, als ein Unpersönlich-Allgemeines, das über und hinter all den besonderen Tätigkeiten stünde, sondern als konkrete, mit sich identische Einheit, die alle verschiedenen Richtungen des Tuns miteinander verknüpft und zusammenhält.186
Die basale Vorstellung von ‚Person‘ bzw. ‚Persönlichkeit‘ bildet sich damit von vornherein in einem gleichermaßen kulturellen wie sozialen Rahmen aus. Mit ihr wird ausgedrückt, was als das in den Formen der Selbst- und Weltgestaltung erfahrbare Identische, das dem Handeln zugrunde liegt und sich in ihm bewährt und realisiert, begriffen wird. Dem entspricht schließlich die sachliche und zeitliche Vorordnung des Kultus vor dem Mythos, wie sie Cassirer mit vielen Religionstheoretikern teilt. Denn mittels kultischer Praktiken vergewissern sich die mythische Gemeinschaft und ihre Mitglieder ihres sozialen Zusammenhalts, in dem sie diesen als einen bedeutungsvollen symbolisch artikulieren und inszenieren. Zugleich wird das physiognomische Bild der Wirklichkeit komplettiert, die als ein umfassender Raum von sich wechselseitig beeinflussenden, selbstständigen Gliedern vorgestellt wird: Die eigentliche Objektivierung der mythisch-religiösen Grundempfindung finden wir daher nicht in dem bloßen Bild der Götter, sondern in dem K u l t , der ihnen zuteil wird. Denn der Kult ist das a k t i v e Verhältnis, das der Mensch sich zu seinen Göttern gibt. In ihm wird das
186 A.a.O., 242. Deswegen bilden Werkzeuge ein wichtiges symbolisches Medium, durch die nicht nur erste Rollenmuster – gleichsam verkörpert – vorstellig werden, sondern dank derer auch erste Muster dessen, was eine Person ist, entstehen konnten. Vgl. a.a.O., 250. – Im Ganzen lehnt sich Cassirer hier deutlich an Hegel und dessen Argumentationsweise in der Phänomenologie des Geistes an.
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Göttliche nicht nur mittelbar vorgestellt und dargestellt, sondern es wird unmittelbar auf dasselbe eingewirkt.187
Weil das kultische Handeln zwar Ausdruckshandeln ist, aber nicht in der bloßen Bekundung physischer oder psychischer Bedürfnisse aufgeht188, sondern vielmehr auf eine immer schon gegebene symbolische Formung durch den Menschen verweist, stößt man hier auf die elementarste Sichtbarkeit, d.h. Objektivität der mythischen Lebensform. Von daher ist es auch der Kult, an dem man sich die Bedeutung des Ausdrucks als der dem physiognomischen Charakter des Mythos am ehesten entsprechenden sprachlichen Funktion klarmachen kann. Denn dem noch relativ unverstellten Ausdruck gelingt am ehesten, in sprachlicher Form die qualitative Intensität, mit der das mythische Bewusstsein die Wirklichkeit wahrnimmt, zu artikulieren. Dafür spricht die Dichte und Bildhaftigkeit sowohl des mythisch-metaphorischen Denkens wie Sprechens. Die These von der Nähe des mythischen Denkens zur sprachlichen Ausdrucksfunktion ist somit bei Cassirer keine rein historische. Vielmehr verweist sie auf den ihnen gemeinsamen Entstehungskontext, der Situation relativ unmittelbarer Wirklichkeitserfassung, die noch wenig von symbolisch vermitteltem Distanzgewinn geprägt ist. So eng auch Cassirer historisch und systematisch die symbolische Formung durch sprachlichen Ausdruck und mythisches Denken zusammenführt, so wenig verkennt er, dass beiden ein unterschiedliches Schicksal im Laufe der symbolischen Evolution zukommt. Was die Inhalte des mythischen Denkens anbelangt, ist mit deren weit fortgeschrittenem Absterben zu rechnen. Doch bedeutet das auch hier nicht, dass die vormals im Mythos eingeholte intensive Dichte der Wirklichkeitserfassung damit ebenfalls als illusorisch und obsolet erwiesen wäre. Denn der „Untergang der Inhalte des mythischen Bewußtseins meint (…) keineswegs notwendig zugleich den Untergang der geistigen Funktion, der sie entstammen.“189 Liegt jene aber in der elementaren Formung der erlebten Wirklichkeit in der sprachlichen Artikulation, dann bildet jene eine Bedingung menschlicher Symbolpraxis überhaupt und wohnt damit noch den elaboriertesten – wissenschaftlichen oder ästhetischen – Formen von Wirklichkeitserkenntnis inne. Der Versuch, die p r i m ä r e Funktion des Ausdrucks durch andere, »höhere« Funktionen zu ersetzen – mag es sich dabei nun um intellektuelle oder um ästhetische Funktionen handeln –: Dieser Versuch führt überall nur zu unvollkommenen Surrogaten, die das, was von ihnen
CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 258. Vgl. auch die folgende Bemerkung: „[I]m Mythus beginnt der Mensch eine neue und seltsame Kunst zu lernen, die Kunst auszudrücken, und das bedeutet, seine am tiefsten verwurzelten Instinkte, seine Hoffnungen und seine Furcht zu organisieren“ (CASSIRER, Mythus [Anm. 144], 66). 189 A.a.O., 88. 187 188
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verlangt wird, nie und nimmer leisten können. Solche höheren Funktionen können nur wirksam werden, sofern sie die Urschicht des Ausdruckserlebnisses in seiner schlechthin originären und originalen Form bereits voraussetzen.190
Damit ist nicht geleugnet, dass es gerade die Leistung von symbolischen Formen sein kann, von der Intensität situativer Zugänge bewusst abzusehen, um über Abstraktionen ein verfeinertes Bild der Wirklichkeit zu erhalten. Umgekehrt ist es Kennzeichen derjenigen Wirklichkeitseinstellung, die für den ‚natürlichen Weltbegriff‘ verantwortlich zeichnet, dass sie von solchen Intensitäten durchzogen ist191. Der Prozess der Kultur ist in dieser Hinsicht somit ein permanenter Prozess symbolischer Transformationen und Verfeinerungen. Gleichwohl bleibt der Primat der Ausdrucksfunktion insofern bestehen, als es sich bei ihr um ein „Grundphänomen des ‚Lebendigen überhaupt‘“192 handelt, welches von Beginn an sich mit jenem „Grundmotiv des Bewußtseins, das wir als das eigentliche Organon der mythischen Welt (…) im Aufbau der Erfahrungswirklichkeit [erkannt haben]“, zu einem umfassenden Wirklichkeitsparadigma verband.193 4.2 Religion als Transformation und Transzendierung mythischer Lebensform Nach Cassirer ist das Verhältnis von Mythos und Religion als ‚dialektisch‘ zu beschreiben.194 Dies erklärt sich daraus, dass das mythische Bewusstsein im Laufe seiner kulturellen Entwicklung an einen Punkt gelangt, von dem aus eine bloß additive Integration weiterer Wirklichkeitsaspekte nicht mehr greift. Dann wird die mythische Matrix, jene Grundauffassung einer symbiotischen Verflechtung alles Lebens, aufgebrochen. Das mythische Denken wandelt sich und geht gleichsam über sich hinaus. Mit den Stichworten der Transformation und Transzendierung werden die beiden einschneidenden Momente in der Geschichte des Mythos benannt, die ihn zur symbolischen Form der Religion werden lässt. Damit verbindet sich die Annahme eines Freiheitsgewinns, der durch neue Formen der Distanzierung und Bearbeitung in einem veränderten Symbolbewusstsein bedingt ist. Dieser Freiheitsgewinn mittels Distanzgewinn durch symbolische Formung, der die Schwelle vom Mythos zur Religion darstellt, bedingt einen Wandel der Bedeutung dessen, was sich kategorial als Wirklichkeit nunmehr in der Form
190 C ASSIRER, PhsF III (Anm. 81), 98. – Für den Zusammenhang von sprachlichem Ausdruck und physiognomischer Weltwahrnehmung, von Mythos und Lebenswelt, ist das Kapitel Ausdrucksphänomen und Wahrnehmungsbewusstsein (a.a.O., 64–103) von entscheidender Bedeutung. 191 Vgl. dazu auch seine Ausführungen in: a.a.O., 323–328. 192 A.a.O., 98. 193 Ebd. 194 C ASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 275–306.
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der Religion erkennen lässt. Am eindrücklichsten kann man diesen Bedeutungswandel anhand der Vorstellung des und Einstellung zum Göttlichen aufzeigen. Damit verbunden sind für Cassirer drei Aspekte: erstens die These von den durchschauten Götterbildern, zweitens eine neue Konstellation von Gottesbild und Selbstbewusstsein, und drittens der Durchbruch zum ethischen Monotheismus.195 Jedes der drei Momente kann einzeln auftreten. Auch ist an keine bestimmte (zeitliche) Abfolge oder (systematische) Stufung gedacht. Es geht hier eher um Indikatoren, die für einen zumindest partiellen Durchbruch zur Religion als symbolischer Form einstehen. Was mit ihr allerdings einsetzt, ist in jedem Fall eine stärkere Ausdifferenzierung der Bereiche des Göttlichen und des Weltlichen, des Sakralen und des Profanen. Zu der dadurch veranlassten Vertiefung des Transzendenzbewusstseins kommt die kritische Einsicht in die Grenzen symbolischer Wirklichkeitsformung hinzu. Und darüber hinaus lässt sich damit – grosso modo – eine religionsgeschichtliche Entwicklung strukturell (!) nachzeichnen, in der sich allmählich die Idee von Personalität herausgebildet hat, die noch in säkularer Weise bei Cassirer das humane Kulturbewusstsein kennzeichnet. Zunächst zur These von den durchschauten Götterbildern: Sie setzt voraus, dass es auf dem Boden der mythischen Lebensform zu einem Fortschritt der ästhetischen Formung und Ausdrucksgestaltung gekommen ist. Als Beispiel führt Cassirer die griechische Plastik als einen entscheidenden Motor dafür an, wie sich im gestalteten Werk die Bilder von den Göttern wie vom Menschen individualisieren. Die griechische Plastik (…) vollzieht hier den scharfen Schnitt: sie dringt in der Formung der reinen Menschengestalt zu einer neuen Form des Göttlichen selbst und seines Verhältnisses zum Menschen durch. Und kaum minder stark als die bildende Kunst hat die Dichtung an diesem Prozess der Vermenschlichung und Individualisierung Anteil.196
Was im mythischen Kontext ursprünglich präsentisch erlebt und episodisch erfasst und benannt wurde, erhält jetzt dauerhafte Repräsentation in Form bildhafter Darstellung. In der Gestalt der Götter und der mythischen Helden kommen die Ideale des Menschen paradigmatisch zum Ausdruck.197 Dabei bezeugt nicht nur der Umstand, dass die ersten Plastiken Statuen der Götter waren, dass es sich hierbei nicht um reine Projektionskunst handeln kann. In der bildenden Kunst – an ihren Anfängen – wird vielmehr ein grundsätzlicher Zug der Anschauungs- wie der Darstellungsfunktion symbolischer Formen deutlich: 195 Vgl. B ONGARDT, M ICHAEL, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg: Pustet 2000, 77–83.138– 140.224–227. 196 C ASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 230. 197 Noch deutlicher kurz vor der zitierten Stelle: „Erst die Kunst ist es gewesen, die, indem sie dem Menschen zu seinem eigenen B i l d e verhalf, gewissermaßen auch die spezifische I d e e des Menschen als solche entdeckt“ (ebd.).
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Alles echte Wirken ist vielmehr so beschaffen, daß es sich im doppelten Sinne als bildend erweist: Das Ich drückt nicht nur seine eigene, ihm von Anfang an gegebene Form den Gegenständen auf, sondern es findet, es gewinnt diese Form erst in der Gesamtheit der Wirkungen, die es auf die Gegenstände übt und die es von ihnen zurückempfängt.198
Dieser Wechselwirkungsprozess der Entdeckung des eigenen ‚Ich‘, der auf dem ersten Blick befremdlich wirkt, erscheint dann plausibel, wenn man bedenkt, dass er in Handlungszusammenhänge eingebettet ist. Dienten die Götterbilder zunächst stets als Kultbilder, so lässt sich der Kult schließlich als „Vehikel und Durchgangspunkt aller Kulturentwicklung“199 begreifen. Das aber besagt, dass es sich hierbei nie um einen isolierten, sozial abgeschlossenen Raum handeln konnte. Der Mensch agiert durch kulturelles Handeln stets in Kontexten, auf die er zugleich reagiert. War in dieser Konstellation die Anwesenheit der Götter im Kultbild gesichert, provozierte die Bild- und Kultkritik in der altisraelitischen Prophetie jene religionsgeschichtliche Krise, an deren Ende sich die Bildhaftigkeit des Bildes als Einsicht durchsetzte. Eben dies steht hinter der These von den ‚durchschauten Götterbildern‘. Entscheidend ist nun, was diese Transformation symbolischen Selbstbewusstseins leitete: Das ganze sittlich-religiöse Pathos faßt sich in e i n e n Punkt zusammen. Es beruht auf der Kraft und (…) Gewißheit des religiösen W i l l e n s , der in den Propheten lebendig ist (…) Die prophetische Welt, die rein in der religiösen I d e e sichtbar ist, ist durch kein bloßes B i l d , das immer nur auf die sinnliche Gegenwart geht und in ihr verhaftet bleibt, zu fassen. 200
Der Impuls ist demnach eine Idee, eine Vorstellung über die praktische Welt und ihre Bedeutung, die die bisherigen sinnlichen Darstellungsformen als demgegenüber nicht mehr oder nur in Abstrichen adäquat erscheinen lassen. Einerseits setzt sich damit nur fort, was schon für den Mythos galt, dass dieser nämlich in der Erfüllung, die zugleich Überwindung ist (…) je weiter er fortschreitet, um so mehr beginnt für ihn diese [d.h. seine; C.P.] Äußerung selbst zu etwas »Äußerlichem« zu werden, das seinem eigentlichen Ausdruckswillen nicht völlig adäquat ist. Hier liegt der Grund eines Konflikts, der allmählich immer schärfer hervortritt.201
A.a.O., 235. A.a.O., 241. 200 A.a.O., 280f. 201 A.a.O., 276. – Aus solchen Formulierungen wird klar, dass Cassirer hier keine Religionsgeschichte schreibt, mit der er zeigen will, wie es gewesen ist oder noch stärker: wie es sich zugetragen hat, dass es so gekommen ist. Vielmehr sind für ihn lediglich die gleichwohl historisch verortbaren, strukturellen Indikatoren für einen religiösen Bedeutungswandel von Interesse. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn ich am Ende dieses Abschnittes in Cassirers Theorie der religiösen Entwicklung (wenigstens teilweise) die Theorie vom expressiven Theismus vorgebildet sehe. 198 199
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Die Transformation wird im Bilderverbot nun aber radikalisiert. Denn hier wird aus einem prinzipiellen Vorbehalt ein negatives symbolisches Gebot. Denn die Transzendenz des Göttlichen sprengt alle Modi seiner piktoralen oder plastischen Darstellbarkeit. Damit offenbart sich zugleich eine Grenze, die der menschlichen Symbolisierungsfähigkeit innewohnen kann, und zwar nicht nur am Ort bildlicher Darstellung. Im Bilderverbot erwacht zugleich das Bewusstsein um die Grenzen des Symbolbewusstseins. Dies muss im Übrigen nicht, wie im konkreten Fall des Alten Israels, zu einer (historisch allerdings nur bedingt durchgesetzten) programmatischen Verabschiedung der Bilder führen; es provoziert aber jedenfalls einen reflexiveren Umgang mit den symbolischen Mitteln. Nun gehört es zu den Grundeinsichten Cassirers, dass im Objekt symbolischer Formung und Gestaltung sowohl derjenige sich selbst ansichtig und vorstellig wird, der gestaltet, als auch das erfasst wird, was im Werk zum Ausdruck kommt. Schon das Kultbild kann daher als Resultat wechselseitiger, religiöser Formung von Gottesbild und Selbstbewusstsein verstanden werden. Die Vorstellungen des Göttlichen, wie sie bildlich dargestellt ansichtig werden, sind Teil jener Entwicklung, die von episodischen Augenblicksgöttern über für besondere Bereiche zuständige Sondergötter bis hin zu allumfassenden Weltgöttern führt. Dieser Fortgang vom Besonderen zum Allgemeinen resultiert in der Weitung des Handlungsbewusstseins, das einerseits immer größere Reichweiten für sein Tun kennt (Universalisierung), andererseits aber zu einer immer intensiveren Wahrnehmung der je eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten führt (Individualisierung). Man kann von einer gegenläufigen Dynamik sprechen, bei der man fairerweise allerdings ergänzen müsste, dass sich mit ihr auch die Erfahrungen des Negativen und der Disharmonie gleichermaßen intensivieren wie prinzipialisieren (Stichwort: Theodizee). In religionsgeschichtlicher Brechung lässt sich diese Dynamik jedenfalls auch so beschreiben: Je mehr ein bestimmter Kreis des Tuns, wie er mythisch in der Gestalt eines Sondergottes befaßt und bezeichnet wird, sich erweitert, je größer also die Mannigfaltigkeit der Gegenstände wird, auf die sich das Tun bezieht, um so reiner und kräftiger hebt sich auch die reine Energie des Tuns als solche, hebt sich das Bewußtsein des tätigen Subjekts heraus.202
Dieser Zusammenhang aus Handlungs-, Selbst- und Weltverständnis lässt sich nicht nur an Plastik und Bildern nachweisen. Nicht minder von Bedeutung für die Herausbildung einer Idee von Personalität sind Epik und ihre Inszenierung auf dem Theater. In der (griechischen) Tragödie, die ursprünglich ebenfalls kultisch verortet war, kommt das Schicksal ihrer Helden so zur Darstellung, dass
202 A.a.O., 242. – Auch die Sprache unterliegt dieser gegenläufigen Tendenz, insofern sie nicht nur zur immer genaueren Ordnung und Erfassung der äußeren (abstrakten) Relationen dient, sondern auch die Wahrnehmung und Kommunikation der inneren Erfahrung verfeinert.
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man zugleich ihrer individuellen Charaktere ansichtig werden kann. Die Individualität eines Menschen und die Einmaligkeit seiner Biographie werden auf drastische Weise zum Ausdruck gebracht. Und weil Epos und Drama stets von Menschen und Göttern und ihrem Los (Geschick) handelten, bewährt sich hier Cassirers Grundüberzeugung, wonach „der Mensch sein eigenes Sein nur soweit erfaßt und erkennt, als er es sich im Bilde seiner Götter sichtbar zu machen vermag“203. Dies ist die kulturtheoretisch entfaltete Grundlage für die systematische These, wonach ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ als Begriffe korrelative Größen darstellen.204 Die Götter und Helden erhalten im Epos eine Kontur, ihre Identität wird in den Geschichten geformt und ihre Namen daraus verständlich. Zum vielleicht wichtigsten kulturellen Produkt dieses Wechselspiels von Gottesvorstellung und Selbsterfassung gehört deswegen die Figur des Eigennamens, mit dem in rein sprachlicher Form über alle Einzelmomente hinweg, die Identität und Individualität eines Charakters, einer Person – sei sie Gott oder Mensch – fixiert wird.205 Dem Eigennamen entspricht die Vorstellung von der Einheit der Person, deren Identität sich in ihren Äußerungen und Taten durchhält und dadurch identifizierbar wird. Doch kann auch sie, die Person, „nicht anders als an ihrem Gegensatz (…) an der Art, wie sie sich in einer konkreten Vielheit und Verschiedenheit von Wirkensformen äußert und durchsetzt, zur Anschauung kommen“206. In der Verbindung der beiden Motive von der Identität der Person und ihres im Handeln ‚Zur-Darstellung-Kommens‘ liegt dann auch begründet, warum Cassirer im Gedanken eines Schöpfergottes, der aus dem Nichts die Welt erschafft, die endgültige Steigerung und Transzendierung des mythischen Weltbildes207 erblicken kann. Hier vereinheitlicht sich nicht nur der Blick auf die Wirklichkeit, sondern wird der Aspekt der Freiheit – verstanden als die paradigmatische Äußerungsgestalt personaler Tätigkeit – zugleich radikalisiert. Der
203 A.a.O., 257. Damit ist auch eine Pointe gegen Feuerbach ausgesprochen, wenn Cassirer an der Stelle fortfährt: „Wie er nur dadurch, daß er werkzeugbildend und werkbildend wird, das Gefüge seines Leibes und seiner Gliedmaßen verstehen lernt, so entnimmt er seinen geistigen Bildungen, der Sprache, dem Mythos und der Kunst die objektiven Maße, an denen er sich mißt und durch die er sich als einen selbstständigen Kosmos mit eigentümlichen Strukturgesetzen begreift.“ (ebd.) – Zu Epik und Tragödie vgl. a.a.O., 231–233. 204 Cassirer schließt sich an dieser Stelle Hermann Cohen an, für dessen Religionstheorie die Figur der Korrelation grundlegend ist. Vgl. COHEN, HERMANN, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen: Töpelmann 1915, 47. 205 Zur Bedeutung des Namens siehe schon: C ASSIRER, Sprache und Mythos, in: Ders., Wesen und Wirkung (Anm. 73), 115–121. 206 C ASSIRER, PhsF II, (Anm. 100), 243. 207 Von Transzendierung des Mythos muss hier gesprochen werden, weil „das Sein als G a n z e s unter die Kategorie der Schöpfung zu stellen (…) eine für den Mythos zunächst unvollziehbare Forderung“ (a.a.O., 247f.) darstellt.
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Monotheismus mit seiner Vorstellung von dem einen Schöpfergott verdankt sich einer „gewaltige[n] Abstraktionskraft des religiösen Geistes, der das Sein der Dinge aufheben und vernichten muß, um zum Sein des reinen Willens und des reinen Tuns zu gelangen“.208 Auf der Fluchtlinie des so artikulierten Bedeutungswandel des Göttlichen liegt eine „neue Auffassung des Menschen und seiner geistig-sittlichen Persönlichkeit“209, die zu einem gleichermaßen transformierten Bewusstsein von Kultur als Praxis führt. Damit ist der Aspekt des ethischen Monotheismus benannt, den Cassirer – in zunehmendem Maße – als entscheidenden Motor in der dialektischen Entwicklung des mythisch-religiösen Bewusstseins erachtet.210 Von zunehmendem Maße ist deshalb die Rede, weil er später im Essay die ethische Ausrichtung seiner Kulturtheorie in der „fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“ zur Humanität erblicken wird.211 Ethischer Monotheismus meint demnach eine zunehmende Schärfung des Freiheitsbewusstseins innerhalb der symbolischen Formung durch die Religion. In PhsF II kommt dies nicht ganz überraschend vor allem an der Transformation des Ritualverständnisses zur Geltung. Nicht nur die Umstellung vom Bild zum Wort als Leitmedium, mehr noch die personale Intensivierung und Entökonomisierung der im kultischen Handeln zur Darstellung gebrachten Gott-Mensch-Beziehung tragen zu der stärker ethischen Verhältnisbestimmung bei. So verändert sich nicht einfach nur das Verständnis von Gebet und Opfer, sondern ‚in, mit und unter‘ diesen Praktiken artikuliert sich ein gewandeltes Verständnis von Gott und Mensch: aus einer der Tauschlogik (do ut des) folgenden Opferhandlung wird ein auf Versöhnung angelegtes Ritual; das vormals magisch begriffene Gebet wird zu einem verinnerlichten und subjektiv gefärbten, persönlichen Austausch des betenden ‚Ich‘ mit dem ‚göttlichen Du‘.
A.a.O., 249. A.a.O., 257. 210 So sehr dieser Aspekt, wie im Grunde schon die Ausführungen zum Monotheismus auf eine einseitige Betrachtung der Religionsgeschichte – nicht untypisch für die damalige Zeit – schließen lässt, so ist Cassirer doch um eine die religiöse Pluralität integrierende Darstellung bemüht, wie seine Ausführungen zum Buddhismus zweifellos erkennen lassen. Vgl. dazu: CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 287–289, sowie: STARK, Symbol, Bedeutung, Transzendenz (Anm. 182), 550–553. 211 Ob man deswegen von einer ethischen Wende in Cassirers Werk sprechen muss, hängt von der Perspektive der Interpretation ab. Zieht man etwa Freiheit und Form von 1916 hinzu und wertet diese Schrift nicht nur ideengeschichtlich, impliziert die Rede von der Wende eine m.E. zu scharfe Absatzbewegung. Anders: PAETZOLD, HEINZ, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, 157–190. 208 209
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Die Entwicklung der Religion weist (…) höhere Ziele. Die Bindung hört nicht auf; aber sie wendet sich nicht nach außen, sondern nach innen. Das Gebet wird aus magischen Wortzwang zur Anrufung der Gottheit; das Opfer und die Kulthandlung werden zur Versöhnung mit Gott. Und damit wächst und erstarkt die Macht des Subjektiven und des Individuellen.212
Der Bedeutungswandel in der Vorstellung vom Göttlichen und der Beziehung des Menschen zu ihm vollzieht sich somit wesentlich auf der rituellen Ebene. In kulturellen Praktiken wird dem Menschen ein neues Bild seiner Stellung zu und gegenüber Gott einsichtig, das um die wechselseitigen Motive von Verpflichtung und Verantwortung kreist. Das meint die Rede vom ethischen Monotheismus, der in Gestalt der altisraelitischen Prophetie, aber auch im Zoroastrismus ein „neue(s) Freiheitsideal“ formt: „Denn nur durch die Freiheit, durch eigenständige Entscheidung kann der Mensch mit dem Göttlichen in Berührung kommen. Durch eine solche Entscheidung wird der Mensch zum Verbündeten der Gottheit“213. Damit ist der Boden für die Idee des Menschen als einer Person bereitet, dem ein universales Solidaritätsethos auferlegt ist, für das er selbst im Verbund mit allen Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen hat, weil ihm jene Freiheit zukommt, diesem willentlich durch sein Handeln zu entsprechen.214 Damit wird eine (magische) Weltsicht, die gemäß Wunsch-Wirk-Mechanismen auf der Basis der Manipulation funktioniert, endgültig obsolet, da sie die nunmehr bewussten Freiheitspotentiale überhaupt nicht integrieren kann. Zugleich schwindet damit die Plausibilität jener mythischen Weltbilder, die den Kosmos als auf sympathetische Verwandtschaftsligaturen basierend betrachten. Entscheidend wird vielmehr, die Welt als Ort der freien Gestaltung von Gott, Göttern und Menschen zu begreifen. Darin liegt der personalisierende Zug, der zugleich eine Verantwortungsdimension meint.215 Alle drei Aspekte – durchschaute Götterbilder, Korrelation von Gottesbild und Selbstbewusstsein, ethischer Monotheismus – stehen in gleichem Maße für CASSIRER, Logik (Anm. 29), 124. CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 158f. – Cassirers Lehrer Hermann Cohen geht an dieser Stelle noch weiter, wenn er im Aufzug der Idee der Sünde die Scheide ansetzt, die den Mythos von der Religion trennt, weil erst im Sündenbewusstsein das Bewusstsein des Urheber- und Verantwortlichseins für eine Tat prägnant wird. Vgl. COHEN, HERMANN, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden: Fourier 21988, 23. 214 Siehe auch: C ASSIRER, Judaism and the Modern Political Myth (1944), in: Ders., Aufsätze und kleinere Schriften (1941–1946), ECW, Bd. 24. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2007, 197–208. In dieser Studie zeichnet Cassirer vor allem die politische Dimension des humanen Ethos jüdischer Religion nach. 215 In der Studie zu Axel Hägerström wird diesem Punkt anhand der Entwicklung des Rechts aus dem Mythos nachgegangen. Vgl. CASSIRER, ERNST, Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart. Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, ECW, Bd. 21. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2005, v.a. 81–105. 212 213
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die Transformation und Transzendierung der mythischen Lebens-, Anschauungs- und Begriffsform durch das religiöse Bewusstsein. Dies gilt insbesondere für die Entdeckung der Idee und des Ideals der Person. Doch kann von einer Dialektik des mythisch-religiösen Bewusstseins nur deshalb gesprochen werden, weil der religiöse Bedeutungswandel zugleich in steter Rückbindung an die Lebenswelt des Mythos erfolgt, weswegen ihm eine kritische Funktion und darin kulturförderliche Spannung zukommt. Inhaltlich gesprochen gilt: Die Physiognomie der Welt wird zur Freiheitssphäre für und von Gott und Mensch; die Formen sprachlicher und symbolischer Artikulation in Kultus und Mythos werden vielfältiger und differenzieren sich aus, ohne ihr basales Ausdruckselement zu verlieren. In diesem Sinne ist in Cassirers Theorie der religiösen Entwicklung bereits etwas angedeutet und vorgebildet, was in dieser Arbeit zur These vom expressiven Theismus führen wird. Jedenfalls wird das mythische Paradigma in der symbolischen Form der Religion von innen aufgebrochen, transformiert und lebt unter neuen reflexiven Bedingungen in jener fort. So zeigt sich am Ort der Religion etwas ganz Prinzipielles, das die Entwicklung des Kulturbewusstseins kennzeichnet: die Selbstreflexivität der symbolischen Formen. Anders gesagt: In der Religion vollzieht sich auf emphatische Weise das symbolische Selbstbewusstsein der Kultur. 4.3 Religion als symbolisches Selbstbewusstsein der Kultur Mit der Formel von der Religion als dem symbolischen Selbstbewusstsein der Kultur soll auf das Moment jenes Reflexivwerdens einer symbolischen Form abgestellt werden, dass jene dialektische Bewegung vom Mythos zur Religion antreibt. Der Vorteil, den die Religion gegenüber dem Mythos hat, resultiert daraus, dass sie das Ungenügen einer vornehmlich auf die Ausdrucksfunktion konzentrierten symbolischen Form offensiv angeht und dadurch produktiv bearbeitet, dass sie mit einer neuen Grunddifferenz operiert, nämlich der zwischen ‚Zeichen‘ und ‚Bezeichnetem‘. Während der Mythos, gerade in seinen Anfangsstadien kaum über den symbolischen Ausdruck eines Augenblicks hinausgelangt216, setzt allmählich ein Prozess ein, der zu einer stärker auf Kontinuität, dann aber auch auf Trennung setzenden symbolischen Darstellung des Erfassten führt. Das macht den „eigentlichen Anfang des spezifisch religiösen Bewußtseins aus[].“217 Das scheint sich zunächst kaum auf den Inhalt des mythisch-religiösen Bewusstseins auszuwirken. Denn die Gehalte des mythischen Denkens finden sich oftmals in kaum veränderter Weise auch am Ort der Religion wieder. Doch ist damit überhaupt nicht das Entscheidende im Fortschritt
216 Mustergültig ist Cassirers Beispiel des Tänzers für den Zusammenhang von Mimus und mythischen Tun. Vgl. CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 279. 217 Ebd.
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des symbolischen Formungsprozesses benannt. Denn dieser liegt in der Differenz der ‚Form‘, wie sie aus der Einsicht in die Differenz zwischen den symbolischen Zeichen als Medien des Ausdrucks und der Darstellung und dem Sinn des dadurch Bezeichneten folgt. Trotz der „unlöslichen Verwobenheit der Inhalte von Mythos und Religion, ist die Form beider nicht die gleiche. Und die Eigenart der religiösen ‚Form‘ bekundet sich in der veränderten Stellungnahme, die hier das Bewußtsein gegenüber der mythischen Bildwelt einnimmt.“218 Die Stellungnahme darf dabei als eine eminent kritische begriffen werden. Denn ihr kommt wesentlich das Wissen darüber zu, dass die Bedeutung des durch das Zeichen Bezeichneten stets über den durch die Darstellungsmedien erfassten konkreten Sinn hinausreicht. Das Symbol kann seine Bedeutung nicht erschöpfend fassen. Es ist gerade dieser Umstand, der dem Mythos als solchem fremd ist: Indem sie [sc. die Religion; C.P.] sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisen‘, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.219
Diese Einsicht in die prinzipiellen Grenzen der Tätigkeit des symbolischen Bewusstseins wird in der Religion aber gerade dadurch produktiv bearbeitet, dass sie selbst symbolisch zur Darstellung gebracht wird. Denn zum Wissen um diese Grenzen gehört zugleich das Wissen um die ‚immanente Transzendenz‘, die als Moment symbolischer Formungsprozesse gelten darf und die sich in der Dynamik von Formaufbau und Formzerstörung vollzieht. Dabei fordern beide sich wechselseitig, da ohne Kritik am Vorangegangen, d.h. ohne die produktive Kräfte freisetzende Formzerstörung keine Möglichkeit zu Bedeutungswandel und neuen symbolischen Erkenntnissen besteht.220 In der Religionsgeschichte macht dies die Bedeutung nachhaltiger Bilder- und Götterkritik aus. Doch gilt eben auch umgekehrt: jede Formzerstörung zielt auf neue Formung, da ohne Formensprache überhaupt keine Bedeutung in ihrem Gehalt erfasst werden kann: Alle Schau des Göttlichen, und sei es die persönlichste und individuellste, ist in dem Augenblick, in dem sie sich äußert und mitteilt, an einen Bereich bestehender religiöser Ausdrucksform verwiesen und an denselben gebunden. Aber den höchsten religiösen Konzeptionen ist es gegeben, daß sie, in ein und demselben Akt, diese Bindung eingehen und sie zugleich überwinden. Sie sind formzerstörend und formaufbauend in einem – sie begeben sich in die Bedingtheit der religiösen Formensprache, indem sie sich innerlich von ihr lösen, indem sie sie als Bedingtheit kenntlich machen. Alle eigentlich-religiösen, alle wahrhaft prophetischen
A.a.O., 279f. A.a.O., 280. 220 Vgl. hierzu: M OXTER, M ICHAEL, Formzerstörung und Formaufbau: Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei Cassirer, in: Ders./Matthias Jung/Thomas M. Schmidt (Hg.), Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg: Echter 2000, 165–181. 218 219
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Geister zeigen der Welt der Formen gegenüber dieses Janus-Gesicht. Sie zerschlagen die forma formata – aber eben in diesem Vernichtungswillen und in diesem Vernichtungsakt machen sie den Weg zur ‚forma formans‘ wieder frei.221
So knüpft die Dialektik des mythischen Bewusstseins an seinen in die Krise geratenen Formen an, um sie auf eine neue Ebene zu führen. Und dabei stellt sich ein so grundlegender Wandel ein, dass es sich am Ende in ganz neuer Gestalt und Form wiederfindet. Als religiöses Bewusstsein steht es deshalb immer auch in Negation zum Mythos. Nimmt man hinzu, dass es dem Mythos eigentümlich ist, auf relativ homogene Weise eine möglichst umfassende Gefühlsund Vorstellungswelt aufzubauen, die auch die sozialen Ordnungen prägt, zeigt sich die Radikalität, die mit der Kritik des mythischen Denkens durch das religiöse verbunden ist. Denn diese fordert nicht weniger als eine Neuausrichtung aller Weisen der Wirklichkeitserkenntnis: Die Idealität des Religiösen setzt daher nicht nur das Ganze der mythischen Gestaltungen und Kräfte zu einem Sein niederer Ordnung herab, sondern sie richtet diese Form der Negation auch gegen die Elemente des sinnlich-natürlichen Daseins selbst.222
Diese umfassende kritische Leistung der Religion bedeutet jedoch nicht, dass die Religion sich nunmehr gänzlich vom sinnlich-natürlichen Dasein lösen könnte. Denn obwohl sie die mythischen Gehalte anders formt und dadurch in divergenter Weise begreift, entkommt sie doch nicht dem Medium sinnlichsymbolischer Darstellung. So sehr sich die Religion, etwa in der Gestalt von Mystik und negativer Theologie, um die reflexive und selbstkritische Einholung des Wissens um die Symbolhaftigkeit ihrer Wirklichkeitserkenntnis bemüht, bleibt auch die höchste »Wahrheit« des Religiösen dem sinnlichen Dasein – dem Dasein der Bilder wie dem der Dinge – verhaftet. Sie muß in dieses Dasein, das sie ihrem letzten »intelligiblen« Ziele nach von sich abzustoßen und auszustoßen strebt, ständig von neuem ein- und untertauchen, weil sie nur an ihm ihre Äußerungsform und somit ihre konkrete Wirklichkeit und Wirksamkeit besitzt.223
Darin liegt ihrerseits nicht nur eine gewisse Tragik, sondern auch die Grenze von Religion als symbolischer Form. Ihr gelingt es nicht, die Ebene der sinnlichen Darstellungsbedürftigkeit zu transzendieren und in der Form reiner Bedeutung zu operieren. Allenfalls die Kunst sei, wie Cassirer phasenweise vermutet, dazu fähig.224 Ohnehin scheint mit ihr das Feld der Wirklichkeitserkenntnis, wie sie sich über die Spannung von Sinn und Symbol aufbaut, verlassen zu CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 19. CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 280. 223 A.a.O., 305. 224 Darauf lassen die Schlussseiten von PhsF II schließen, wenn es dort bspw. heißt: „Erst wenn wir die von der mythischen Bildwelt und von der Welt des religiösen Sinnes auf die Sphäre der Kunst und des künstlerischen Ausdrucks herüberblicken, zeigt sich der Gegensatz, der die Entwicklung des religiösen Bewußtseins beherrscht, wenn nicht aufgehoben, so doch 221 222
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sein. So herrscht in ihr reine Bedeutung im Spiel des Sinnlichen: „Einheit von Mythos, Sprache, Wissenschaft als Momente der Erkenntnis – sie bauen eine Welt von ‚Gegenständen‘ auf – sie gehen auf die Wirklichkeit – die Kunst gehört dieser Linie nicht an – sie steht für sich.“225 Neben der Kunst böte auch die (Religions-)Philosophie eine Möglichkeit, das Grunddilemma der Religion, das prinzipielle Verhältnis von Sinn und Sein als Verhältnis von Göttlichem und Humanem, so zu thematisieren, dass es von seiner symbolischen Darstellungsebene hin zur Ebene der reinen Bedeutung gelangt, und zwar ohne restlose Identifizierung als „synthetische Einheit: als Einheit des Verschiedenen“226. Doch wie dies konkret vorzustellen sei, bleibt im Unklaren. Denn soll es sich bei dieser Philosophie um eine handeln, die auf andere Weise sich des Spezifikums religiöser Formung der Wirklichkeit annimmt, lässt sich dies kaum ohne Rekurs auf religiöse Vorstellungsgehalte denken. Tut sie dies aber, ist sie als Religionsphilosophie auch prinzipiell auf dem Boden von Religion möglich, etwa auch als Theologie.227 So scheint es zwar, dass Kunst und Philosophie von Cassirer eine Zeitlang als Möglichkeiten betrachtet wurden, auch die Religion als symbolische Form zu überwinden und deren Leistungen auf ihre Weise zu erfüllen.228 Doch zeigt eine stärker die systematischen Implikationen seiner Symboltheorie betonende Analyse, dass für die Kunst gilt, dass sie sich weder in der Kompensation für Religion erschöpft noch eigentlich um deren Thema kreist, und dass für die Philosophie zu bedenken gilt, dass sie als Religionsphilosophie aus gutem Grund auch auf der Basis einer religiösen Tradition, u.U. in der Form von Theologie gedeihen und durchaus zur Ebene reiner Bedeutung vorstoßen kann.229 So wird Cassirers Theorie nicht nur von überzogenen geschichtsphilosophischen Ansichten frei gehalten, sondern an der von ihm ansonsten hartnäckig gewissermaßen beruhigt und beschwichtigt. Denn ebendies bezeichnet die Grundrichtung des Ästhetischen, daß hier das Bild rein a l s s o l c h e s anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht“ (a.a.O., 305). 225 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 246, sowie: C ASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 305f. – Man muss fairerweise hinzufügen, dass Cassirers Einschätzung der Kunst als symbolischer Form und speziell ihr Verhältnis zu Religion und Wissenschaft nicht eindeutig ist. 226 C ASSIRER, PhsF II (Anm. 100), 294. 227 So lässt sich folgende Notiz verstehen: „[Der] Gang der Religion ist ganz analog! [Er führt] über »Bild« u. »Namen« hinaus[.] Reiner S i n n gehalt der Welt – der nicht mehr Darstellungs-Gehalt ist“ (CASSIRER, Metaphysik [Anm. 138], 237; aber auch a.a.O., 248). In ähnlicher Weise verhandelt Cassirer die mittelalterliche Theologie und Mystik in: CASSIRER, PhsF II (Anm. 100), v.a. 291–299. 228 Und liest man die entsprechenden Textpassagen, die dies vermuten lassen, kann man dies zu Recht mit Michael Moxter als „Kummer“ bezeichnen: vgl. MOXTER, Kultur als Lebenswelt (Anm. 67), 153. 229 In den Fragmenten zur Metaphysik der symbolischen Formen wird Fichtes moralische Weltordnung als ein Beispiel angegeben, gleichsam den ethischen Monotheismus in seiner reinen Bedeutungsfunktion zu begreifen. CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 94.
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verteidigten Mehrdimensionalitätsthese auch für die Religion festgehalten.230 Ein Punkt bleibt jedoch bestehen: Weil es der Religion in ihrer Leistung und Funktion immer auch um Wirklichkeitserkenntnis geht, und zwar im gleichem Maße wie dies für die Wissenschaft oder Sprache gilt, kann sie der dabei sich einstellenden Frage nicht ausweichen, wie es eigentlich zur symbolischen Formung kommen kann; inwiefern die Sphäre des Seins als Sphäre des Sinns erschlossen und bestimmt werden kann. Dieses metaphysische Grundproblem der Philosophie der symbolischen Formen stellt sich der Religion als einer ihrer Formationen deswegen in besonderer Weise, weil sie auf symbolische Weise die Transzendenzdimension von Symbolisierung mit der Einsicht in die Grenzen konkreter Symbolsysteme thematisiert und gegenwärtig hält. Als symbolisches Selbstbewusstsein der Kultur hätte Religion demnach nicht nur darauf zu achten, dass das Bewusstsein für die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen sinnlichem Ausdruck und sinnhaftem Gehalt wachgehalten wird. Ihr müsste es ebenso darum gehen, den in diese Differenz eingezeichneten Zusammenhang von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ symbolisch zu formen. So reflektiert sie die (transzendentalen) Bedingungen von Kultur als Quelle für den Aufbau, die Weisen und die Ziele von Wirklichkeitserkenntnis. Deswegen ist sie auf symbolische Weise das Selbst-Bewusstsein von Kultur am Ort humaner Selbsterkenntnis und Weltgestaltung.
5. Zur Theorie der Basisphänomene: Metaphysischer Horizont der Philosophie der symbolischen Formen 5. Zur Theorie der Basisphänomene
Unter dem Stichwort ‚Geist‘ und ‚Leben‘ wird seit Mitte der 1920er Jahre das Grundproblem der Philosophischen Anthropologie gefasst. Auch wenn Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen in Auseinandersetzung mit den einschlägigen Protagonisten dieser Richtung entwickelt hat, ist dieses Problem doch von vornherein in sein Programm eingeschrieben. Denn von ‚symbolischer Prägnanz‘ kann nur unter der Bedingung der Möglichkeit der Verschränkung von Sinnlichem (Leben) und Sinnhaftem (Geist) gesprochen werden.231 230 Dem entspricht folgerichtig, dass im Essay Mythos und Religion gleichberechtigt neben Kunst und Wissenschaft als symbolische Formen verhandelt werden. Insofern die Differenz zwischen Mythos und Religion auch dort über das Moment der kritischen Symbolizität und dem darin gegebenen Freiheitsraum verläuft, sehe ich die stärkere Annäherung von Mythos und Religion im Spätwerk als weniger gravierend an. Anders hingegen: MOXTER, Kultur als Lebenswelt (Anm. 67), 153. 231 Aus diesem Grund kündigt Cassirer im Vorwort von Band III der PhsF eine Studie zu diesem Problem an, vgl. CASSIRER, PhsF III (Anm. 81), XI. Der Text, der dort Erwähnung findet, ist: CASSIRER, ERNST, ‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart (1930),
5. Zur Theorie der Basisphänomene
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Diese lässt sich weder psychologisch ableiten232, noch kann man sich mit ihr als erkenntnistheoretischem Grundaxiom begnügen, jedenfalls dann nicht, wenn man die Kulturtheorie auch anthropologisch fassen möchte. So kommt es, dass Cassirer immer deutlicher bewusst wird, dass er um eine metaphysische Reflexion seiner Philosophie der symbolischen Formen nicht herumkommt, selbst wenn die Gefahr einer metabasis allos genos dabei stets vor Augen gehalten werden muss. Wir wissen spätestens seit den Arbeiten von John Michael Krois, dass Cassirer in der Tat an einer Arbeit saß, die so etwas wie eine Metaphysik der symbolischen Formen darstellen und das Projekt zum Abschluss bringen sollte.233 Die in Frage kommenden Manuskripte sind in bündiger Weise gesammelt, weisen aber einen sehr unterschiedlichen Grad an Ausarbeitung auf. Von Toni Cassirer wissen wir, dass der Kern der Arbeit auf Skizzen beruhen sollte, an denen ihr Mann kurz vor ihrer Emigration in die USA begonnen hatte zu arbeiten.234 In diesen Zusammenhang fügt sich, dass Cassirer zeitgleich mit der systematischen Komplettierung seiner Geschichte des Erkenntnisproblems und mit der Fertigstellung des Manuskripts der Logik der Kulturwissenschaften beschäftigt war. Beide Bücher stehen mit dem Unternehmen einer Metaphysik der symbolischen Formen in einem engen sachlichen Zusammenhang. Cassirers Metaphysik der symbolischen Formen, die man vielleicht besser als den metaphysischen Horizont seiner Symbol- und Kulturtheorie beschreiben sollte, wird als Theorie der Basisphänomene entwickelt. Damit sind jene irreduziblen Bedingungen benannt, auf die eine durch symbolische Prägnanz geformte Welt der Kultur – als humane Praxis – fußt. So gelingt es Cassirer, an der phänomenologisch-kritizistischen Fassung seiner Kulturphilosophie festzuhalten, ohne in vormoderne substantielle Ontologien zurückzufallen. Er nennt seinen so verstandenen Ansatz einen „symbolischen Idealismus“235, der gleichwohl realistische Momente im kritischen Sinne enthält. leicht greifbar in: Ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Sprache und Geschichte, hg. v. Ernst Wolfgang Orth, Stuttgart: Reclam 1993, 32–60. 232 Zu Recht stellt John Michael Krois daher fest: „Meaning itself is never merely a sensory psychologist content. The Urphänomen of symbolic pregnance cannot be explained by any psychological process because it is presupposed in every psychological phenomenon“ (KROIS, Cassirer: Symbolic Form [Anm. 10], 70f). 233 Vgl. zur Einleitung und Kontextualisierung: K ROIS, JOHN M./V ERENE D ONALD PH., Introduction, in: The Philosophy of Symbolic Forms, Bd. 4: The Metaphysics of Symbolic Forms, hg. v. John M. Krois and Donald Ph. Verene, Yale Univ. Press: New Haven/London 1996, ix–xxvi. 234 Vgl. C ASSIRER, TONI, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 2003, 273f. 235 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 263f. – Zum Folgenden siehe die Studie von: U LLRICH, SEBASTIAN, Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen (Cassirer Forschungen 14), Hamburg: Meiner 2010. Daneben gut zusammenfassend: SCHWEMMER, OSWALD, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin: Akademie 1997, 197–219.
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5.1 Das Verhältnis von Geist und Leben Noch einmal Cassirer und die Philosophische Anthropologie Schon mit der thematischen Benennung des metaphysischen Grundthemas seiner Philosophie der symbolischen Formen als Problem des Verhältnisses von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ verortet sich Cassirer in einer Debattenlage seiner Zeit, deren Hauptvertreter die Protagonisten der Philosophischen Anthropologie sowie Georg Simmel waren. Im Fokus stehen dabei Eigenart und Reichweite menschlicher Wirklichkeitserkenntnis, und zwar unter dem Aspekt ihrer symbolischen Gestalt: „Menschliche Erkenntnis ist wesentlich symbolische Erkenntnis. Und für das symbolische Denken ist es unerläßlich, einen deutlichen Unterschied zwischen wirklich und möglich, zwischen aktuellen und idealen Dingen zu machen.“236 Für die metaphysische Analyse ist dabei wichtig, dass durch die symbolische Strukturierung eine Leitdifferenz eingeführt wird, die darin besteht, dass es einen Unterschied zwischen „aktualen“ und „idealen“ Dingen gibt oder eben zwischen Sinnlichkeit und Sinn, und dies auf dem Boden des vollzogenen und gestalteten Lebens (als Kultur). Denn: „Ein Symbol besitzt keine aktuale Existenz als Teil der physikalischen Welt; es hat eine Bedeutung.“237 Damit ist nicht gemeint, dass es eine „rohe“ – unabhängig von symbolischer Formung und Bedeutungsstiftung vorzeigbare – Wirklichkeit geben könnte, der man gleichsam auf nicht epistemische Weise einsichtig werden könnte. Denn: „Wie die ‚Welt‘ aussieht, wenn wir von allem geistigen Tun abstrahieren – wenn wir gleichsam den Nullpunkt des Geistigen voraussetzen, dafür fehlt es uns an jedem Begriff.“238 So geht es zunächst lediglich um die wiederum nur symbolisch artikulierbare, aber eben darin gefasste Differenz von „Tatsachen“ und „Ideen“, wie es im Essay heißt.239 Damit wird im Grunde das Problem von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ auf eine Weise gestellt, die stärker an den epistemologischen Implikationen des Verhältnisses von Anthropologie und Kulturtheorie interessiert ist. Für Georg Simmel wie auch für Max Scheler ist vor allem die Frage entscheidend, wie es zum Wechselspiel von Geist und Leben kommen konnte, wenn doch der Geist als das ‚Andere‘ des Lebens gedacht wird240 bzw. wenn die kulturell geformte Idee sich CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 93. Ebd. 238 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 262. 239 Vgl. die Schlussbemerkungen des Kapitels Tatsachen und Ideen (a.a.O., 92–100), das im Essay nicht umsonst an der Nahtstelle zwischen fundamentalanthropologischer Grundlegung und kulturphilosophischer Entfaltung loziert ist: a.a.O., 100. 240 Vgl. SCHELER, M AX, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften. Mit einem Anhang, hg. v. Matthias S. Frings, Bern/München: Francke 1976, 7–71; v.a. 62–71. – Dies gilt selbst dann noch, wenn Scheler festhält, dass Geist und Leben „aufeinander hingeordnet“ (a.a.O., 67) sind. 236 237
5. Zur Theorie der Basisphänomene
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stets gegen das Leben stellen muss, um mehr als Leben sein zu können241. Steht bei diesen Ansätzen – abgesehen von den tragischen Untertönen ob des endgültigen Verlusts der Möglichkeit von Unmittelbarkeit242 – die Frage nach dem Grund dieser Spannung im Vordergrund, so nimmt Cassirer eine andere Zuspitzung vor. Ohne abzustreiten, dass die Spannung zwischen Geist und Leben sich vornehmlich darin bemerkbar macht, dass die Bedeutungsstiftung immer wieder durch neue Fakten – im Sinne von ‚Tatsachen‘ – gestört und Sinn somit zerstört werden kann, gilt doch umgekehrt: [W]enn Leben und Geist völlig verschiedenen Welten angehören, wenn sie einander ihrem Wesen wie ihrem Ursprung nach gänzlich fremd sind – wie ist es möglich, daß sie nichtsdestoweniger eine durchaus einheitliche Leistung vollziehen, daß sie im Aufbau der spezifischmenschlichen Welt, der Welt des »Sinnes«, zusammenwirken und ineinandergreifen? 243
Das ist kein simpler Wechsel von einer eher kulturpessimistischen zu einer eher kulturoptimistischen Herangehensweise. Vielmehr betont Cassirer zum einen, dass die menschliche Vernunft den Ursprung des Zusammenhangs von Geist und Leben wohl nie wird erkennen können, und zwar aus prinzipiellen Gründen. Zum anderen aber deutet sich damit jene Position an, nach der noch im Faktum der Negation oder Zerstörung von Sinn dieser wiederum in Anspruch genommen werden muss, sei es als Medium für diese Negation, sei es durch den Impuls zu neuem Sinnaufbau.244 Kann man demnach dem Sinnrahmen von Kultur also nicht entrinnen, so stellt sich doch die Frage, wie die unterschiedlichen Impulse des menschlichen Lebens, die zunächst gar nicht auf Sinnkonstitution ausgerichtet sind, sondern bestenfalls auf gesteigerte Selbsterhaltung, zu einer völlig neuen Form gestaltet werden können, die sie nicht nur transformieren, sondern etwas neues, nämlich Geist erzeugen – hier verbindet sich die anthropologische Dimension des Problems mit dem erkenntnistheoretischen Aspekt:
241 Vgl. SIMMEL, G EORG, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1908) in: Ders., Philosophische Kultur, Gesamtausgabe, Bd. 14, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, 385–416, als auch: Ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, 209–425. 242 Das Unmittelbarkeitsmotiv wird von Cassirer schon in den Eingangspassagen von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ schön anhand von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater illustriert: vgl. CASSIRER, Geist und Leben (Anm. 231), 32f. – Von diesem Bedürfnis nach Unmittelbarkeit bzw. ‚Eigentlichkeit‘ ist auch Heideggers Sein und Zeit geprägt, das – nicht zufällig – von Cassirer in den Notizen zur Metaphysik der symbolischen Formen kritisiert wird: vgl. CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 219–222. 243 C ASSIRER, ‚Geist‘ und ‚Leben‘, in: Ders., Geist und Leben (Anm. 231), 40. 244 Im Grunde operiert Simmel mit einem ähnlichen Problem, gleichwohl geht er stärker vom anderen Moment aus: Denn vom ‚Mehr-als-Leben‘ der Kultur kann nur die Rede sein, weil es dabei zugleich Leben bleibt. Cassirer wie Simmel rühren aber mit diesen Fragen an die Transzendenzdimension menschlichen Daseins bzw. humaner Kultur.
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§ 4 Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
Wie läßt es sich verstehen, daß die Kräfte des Lebens, die rein vitalen Triebkräfte im Schelerschen Sinne, sich von der eigenen Bahn abdrängen lassen und daß sie jene andere, ja jene völlig entgegengesetzte Richtung einschlagen, die das Gebot des Geistes ihnen weist?245
Es geht um die Eigenbedeutung der Sphäre des Geistes als Sphäre des Sinns, wie er in und durch menschliche Kultur verkörpert ist. Wie verhalten sich die beiden Dimensionen von Leben und dessen symbolischer Formung zueinander, wenn diese „sich gegenseitig den Gesamtraum des Seins streitig machen – und deren jede doch andererseits jenen Gesamtraum vollständig und lückenlos erfüllen soll.“246 Anders als Simmel möchte Cassirer diese Beschreibung nicht antagonistisch oder gar aporetisch verstanden wissen. Für ersteren bestand die ‚Tragödie der Kultur‘ bekanntlich darin, dass alle kulturellen Formationen es nicht vermögen, die Unmittelbarkeit und Vielfalt des Lebens einzuholen und gestalten zu können. Der tragische Aspekt liegt für Simmel dann vor allem darin, dass das lebendige, schöpferische Subjekt immer in Gefahr steht, sich an die kulturellen Objektivationen zu verlieren. Cassirer hingegen nimmt schon von der Problemfassung Abstand: Es geht nicht um die Tragik, die kulturellen Formen des Sinns reichten nie an die metaphysische Realität heran und könnten die Wirklichkeit als solche daher eigentlich nicht erfassen und gestalten247, sondern darum, wie die Kluft „zwischen dem ‚Sinn‘ in seiner idealen Reinheit und seinem bildlichen und bildhaften Ausdruck“248 bearbeitet werden kann. Die Differenz zwischen sinnlicher Gestalt und geistigem Gehalt wird also von Cassirer gar nicht geleugnet, sondern vielmehr zum basalen Ausgangspunkt (fundamentum inconcussum) erhoben, der nicht weiter historisch rückgeführt werden kann und bei dem auch nicht die Aussicht besteht, ihn künftig hintergehen zu können. Die Spannung von Sinn und Sinnlichkeit ist somit anzuerkennen und selbst produktiv zu bearbeiten. Von daher gibt es weder ‚reines Leben‘ noch den ‚reinen Geist‘. Am Holismus von Natur und Kultur wird festgehalten, ohne dass die notwendige Differenz zwischen Natur- und Kultursphäre eingezogen wird: Geist ist Produkt des Lebens, doch wird Leben nur im Geist verstanden, In diesem strikten Wechselverhältnis steckt das eigentliche metaphysische Geheimnis, jenes Werden der Kultur, das „weder blosses Leben, noch blosse Form, sondern (…) Werden zur Form ist.“249 Dieser Formungsprozess umgreift alle Gestalten des Lebens. Er gilt für Cassirer schon für natürliche Zusammenhänge, zeigt sich aber einmal mehr in den symbolischen Formen und ihrer geschichtlichen Evolution. Auf allen Stufen der symbolischen Funktionen begegnet man so von neuem der Differenz von Sinn und seinem Ausdruck, das Problem von
Ebd. A.a.O., 14. 247 Zum Kritik Cassirers an Simmels Formel, vgl. C ASSIRER, Logik (Anm. 29), 103–111. 248 Ebd. 249 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 15. 245 246
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Geist und Leben wird so stets neu variiert und transformiert. Die damit angesprochene Transzendenzdimension symbolischer Formungsprozesse mag kulturell gestaltet werden können, bildet aber einen generellen Zug von Kultur, der sich in einem dynamischen Prozess durchhält: „Geschichte, Kultur ist nur aus dieser ständigen Selbstverwandlung des ‚Lebens‘ in ‚Geist‘ möglich.“250 Wie erklären sich angesichts dieses Befunds Cassirers Bemühungen um eine Metaphysik der symbolischen Formen? Wenn es nicht um eine letzte Rückführung oder Deduktion der Verschränkung von Geist und Leben gehen kann, dann bleibt dennoch die Frage, als was sich genau jene Bedingungen zeigen, von denen aus man überhaupt zum Verstehen von Kultur und ihren symbolischen Formen gelangen kann. An welchen Phänomenen zeigt sich das Werden des Lebens zur Form, der Aufweis von Sinn im sinnlichen Ausdruck und zwar dergestalt, dass an diesen Elementen nicht nur nicht vorbeigegangen werden kann, sondern sie überhaupt die Basis für Kultur bilden. Hier setzt die Theorie von Basis- bzw. Urphänomenen an. 5.2 Zur Theorie der Basisphänomene Die Figur der Basisphänomene entnimmt der Goethe-Verehrer Cassirer251 den Maximen und Reflexionen des Dichterfürsten. In einer Kombination aus naturphilosophischer Betrachtung und metaphysischer Spekulation erblickt Goethe im eigenen Leben, in der erlebten Außenwelt und in der wirksamen Tat oder Handlung jene geheimnisvollen Momente, ohne die sich die Eigenart des Menschen nicht verstehen lässt.252 Cassirer greift in den Fragmenten zur Metaphysik der symbolischen Formen auf diese Notizen Goethes zurück und spricht neben Urphänomenen gerne auch von Basisphänomenen. Zwar ist schon in den drei Bänden der PhsF hin und wieder von ihnen die Rede. Aber Cassirer scheint sich über die systematische Bedeutung dieser Elemente noch nicht im Klaren zu sein. Nur in seiner Verhandlung des Leib-Seele-Problems als dem anthropologisch-metaphysischen Nukleus des Verhältnisses von Geist und Leben kommt es zu wenigen prinzipiellen Überlegungen. Cassirer formuliert deswegen das Problem gleich in seine Richtung um, wenn er fragt, wie wir „im »Ausdruck« eine besondere Art und Richtung des »Symbolischen« sehen [können], ohne damit seine Besonderheit, seine unvertauschbare Eigenart zu verkennen“253? Die Frage nach ‚Leib‘ und ‚Seele‘ in ihrer Beziehung wird in die Frage nach A.a.O., 217. Eindrücklich hierzu die Schilderung Toni Cassirers über Cassirers geradewegs kultischen Gebrauch der Goetheschen Gesamtausgabe in: CASSIRER, Mein Leben (Anm. 234), 85f. 252 Vgl. G OETHE, JOHANN W OLFGANG VON, Maximen und Reflexionen (Kleine Bibliothek der Weltweisheit 14), hg. und mit einem Nachwort von Helmut Koopmann, München: Beck 2006, 47: Nr. 227–229. 253 C ASSIRER, PhsF III, (Anm. 81), 104. 250 251
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der Einheit des Symbolischen in der Differenz von sinnlichem Ausdruck und sinnhafter Bedeutung transformiert. Damit wird zugleich einem substanzhaften Verständnis von ‚Leib‘ und ‚Seele‘ widersprochen und das Leib/Seele-Problem an seinen anthropologischen Ursprungsort verlagert: dem Phänomen der symbolischen Prägnanz als wie auch immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen (…) – in de[r] ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.254
Auf der Fluchtlinie dieser Überlegungen gilt es nicht nur darauf zu achten, weder den Leib auf den physischen Körper zu reduzieren noch lediglich, an der Einsicht festzuhalten, dass stets „Seelisches auf Leibliches, Leibliches auf Seelisches bezogen“255 bleibt; sondern mehr noch das Leib/Seele-Problem selbst als Symbolisierungsleistung zu begreifen, die um das Verstehen der im Phänomen der symbolischen Prägnanz implizierten metaphysischen Probleme ringt. Cassirer verweigert sich somit nicht prinzipiell metaphysischen Fragen, wohl aber müssen sie den Schritt vom Substanz- zum Funktionsbegriff vollziehen. Das heißt: Metaphysik ist die Analyse derjenigen Elemente und Phänomene, die sich weder durch etwas erklären noch von etwas anderem herleiten lassen, sondern die unhintergehbaren Ausgangspunkte des Verstehens sind. – Nur als Nebenbemerkung: Ein solches Metaphysikverständnis ließe auch werkgeschichtlich bei Cassirer sowohl eine transzendentaltheoretische als auch eine phänomenologische Lesart zu. Aber allein schon der Kontext, in dem von ‚Basisphänomenen‘ die Rede ist, dürfte eher für die letzte Variante sprechen. Wie dem auch sei: Von daher stellt das „Verhältnis von Seele und Leib (…) das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.“256 Zu diesem Vorbild gehört ganz wesentlich, dass es Abschied nimmt von der Orientierung an den Kategorien von Substanz und Kausalität. Denn zu diesen gehörte von jeher das Einsetzen bei Differentem, das es dann auf irgendeine Weise zu überbrücken gilt. Demgegenüber ist die Umstellung auf die Relation geeignet, die Differenz des mit ‚Leib‘ und ‚Seele‘ Bezeichneten als Resultat einer Analyse ihres Verschränkt-Seins im Modus des Ausdrucks zu erfassen: Nicht der F o r t g a n g in die Welt der Metaphysik – in eine Welt, die im wesentlichen mittels des Begriffs der Substantialität und der Kausalität aufgebaut und von ihnen beherrscht wird –, sondern der Rückgang in das »Urphänomen« des Ausdrucks kann uns daher hier allein der Lösung entgegenführen. Für jede Metaphysik, die nicht von Anfang an »Ontologie« sein will,
A.a.O., 105. A.a.O., 116. 256 A.a.O., 113. 254 255
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sondern die vielmehr das Ausdrucksphänomen in seiner eigentümlichen Struktur beläßt und es in dieser Struktur anerkennt, nimmt in der Tat das Problem eine völlig andere Gestalt an.257
Durch die zentrale Bedeutung, die dem Ausdrucksphänomen an dieser Stelle zugedacht ist, wird zugleich die Brücke zwischen expressiver Anthropologie und kritischer Symbol- und Kulturtheorie geschlagen, und zwar am Ort einer metaphysischen Analyse. Hier nun setzt systematisch Cassirers Theorie der Urbzw. Basisphänomene ein.258 Cassirer nennt drei Phänomene, die er zu ihnen zählt: „1) das Ich-Phaenomen 2) das Wirken-Phaenomen 3) Das Werk-Phaenomen“, die als „die Schlüssel zur Wirklichkeit“259 gelten dürfen. Damit ist schon die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Figuren benannt. Von Basisbzw. Urphänomenen kann nicht so gesprochen werden, als handele es sich hierbei um elementare Rohmaterialen der Realität. Denn auch sie kann es nur geben, weil dem Leben selbst die Tendenz zur Reflexion auf seine Formen innewohnt. Für Cassirer gilt, dass „wir (…) in ihnen“260 leben: B i l d l i c h gesprochen: sie [sc. Basisphänomene, C.P.] sind nicht etwas an sich V o r h a n d e n e s , was irgendwie durch die Fenster unseres Bewusstseins (sei es durch die Fenster unserer »Sinnesorgane«, sei es durch »geistige«, spirituelle »Medien« gesehen wird) zu uns hereinkommt, sondern sie sind selbst die Fenster der Wirkl[ichkeits]-Erk[enntnis] – das[,] wodurch wir uns der Wirkl[ichkeit] aufschließen[.] 261
Noch vor jeder genaueren Betrachtung der einzelnen Basisphänomene wird deutlich, sie lassen sich von verschiedenen Perspektiven aus thematisieren – d.h. sie können erkenntnistheoretisch oder psychologisch, doch niemals gleichzeitig verhandelt werden. Denn die einzelnen Basisphänomene stehen selbst nicht nur für nicht aufeinander reduzierbare Standpunkte, sondern auch für Erkenntnisperspektiven. Darin macht sich ihre Eigenständigkeit als Phänomene kund. Denn jedes „Hinsehen auf (…) ist immer auch ein Absehen von: das Hinsehen auf das Ich ist das Absehen vom Du und vom Es.“262
A.a.O., 112. Cassirer schwankt in seiner Terminologie. Eine sachlich gewichtige Differenz zwischen Ur- und Basisphänomen lässt sich nicht feststellen. 259 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 137. Der Satz geht weiter: „– oder auch das Phaenomen von Ich, Du, Es – das Phaenomen des Selbst, des »Anderen« (das sogen[annte] ‘Fremdpsychische‘)[,] das Phaenomen der Welt (»Gegenstand«, objektive Wirklichkeit)“ (ebd.). 260 A.a.O., 127. An dieser Stelle wird die Trias als diejenige der „Urphänomene des L e b e n s , des H a n d e l n s und des T u n s “ (ebd.) ausgezeichnet, wobei letztere mit Praxis und Poiesis korreliert werden. Davon wird noch zu sprechen sein. 261 A.a.O., 132. Dadurch wird deutlich, warum Cassirer weder der subjektphilosophischen Schule, noch der transzendentalen Phänomenologie Husserls zugeordnet werden kann, geschweige denn empirischen oder traditionell-metaphysischen Positionen anhängt. 262 SCHWEMMER, Ernst Cassirer (Anm. 235), 208. Vgl. auch: C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 174. 257 258
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Am deutlichsten hat Cassirer sich zum Verhältnis von Basisphänomenen und Erkenntnistheorie geäußert. An ihnen lässt sich auch das aufweisen, was man Cassirers Realismus nennen kann.263 Prinzipiell sind die drei Perspektiven von ‚Ich‘, ‚Du‘, ‚Werk‘ als gleichwertig anzusehen. So wenig es ein Bewusstsein des ‚Ich‘ ohne Außenwelt und im Gegenüber zu einem oder mehreren ‚Du‘ gibt; so wenig kann eine Verständigung zwischen beiden erfolgen, ohne dass die gesamte Welt der Objektivierung, der kulturellen Gestalten, Objekte und Werke dazwischen tritt. Die Bedeutung der Basisphänomene als eine nicht weiter reduzierbare Konstellation, innerhalb derer Wirklichkeit erkannt wird, lässt sich nur in ihrer Gesamtheit erfassen. Sie stellen die „Grunderfahrung, ohne welche es für den Menschen das Phaenomen des Lebens und der Wirklichkeit nicht geben könnte“264, dar. So steht das Ich-Phänomen für die Subjektperspektive, ohne die alle Erkenntnis nicht möglich ist, wohingegen das Wirken-Phänomen auf unser aktiv-reaktives Involviert-Sein in die Welt verweist, während das Werk-Phänomen schließlich die Perspektive der inter-individuellen und transgenerationellen Darstellung von Sinn in kultureller Objektivierung meint. Diese kulturtheoretisch-epistemologische Betrachtung lässt sich dann mit Sebastian Ullrich bewusstseinstheoretisch und anthropologisch einholen: Natürlich leben wir als (individuelles) Bewusstsein in unserem Leib bzw. Körper (vgl. PhsF III, ECW, Bd. 13, 104ff.), als Person in Zweckgemeinschaften bzw. Handlungszusammenhängen (vgl. ECN, Bd. 3, 196ff.) und als Symbolwesen in unseren Werkwelten bzw. in unserem symbolischen Universum (vgl. EM, ECW, Bd. 23, 30f.). Abgetrennt von diesen drei Dimensionen existiert der Mensch als animal symbolicum gar nicht.265
Es ist nicht zu bestreiten, dass Cassirer vornehmlich an der Analyse der der kulturellen Objektivation geltenden dritten Perspektive interessiert war. Doch hat dies auch systematische Gründe. Denn die besondere Stärke dieses über die Werksphäre laufenden ‚dritten Weges‘ besteht einerseits darin, dass „das »Sein« uns zunächst nicht als völlig abgelöstes So-Sein (»Ausser uns«-Sein) gegeben ist, sondern daß es uns gegeben ist, in dem Medium des Werks“266, was noch einmal auf die Notwendigkeit des Umwegs über die Kultur für jede 263 Hierzu fügt sich, dass zudem der fünfte Band der Geschichte des Erkenntnisproblems mit Überlegungen zu den Basisphänomenen einsetzt. Vgl. CASSIRER, Ziele und Wege (Anm. 35), 3–31. 264 A.a.O., 9f. – An anderer Stelle spitzt Cassirer dies anthropologisch zu, indem er den Basisphänomenen die drei traditionellen Vermögen von Fühlen, Wollen, Denken zuordnet: vgl. Cassirer, Metaphysik (Anm. 138), 143. 265 U LLRICH, Symbolischer Idealismus (Anm. 235), 79. – Die Verweise im Zitat dienen als wichtige Belegstellen, vor allem auch für die wenigen der Sozialtheorie gewidmeten Bemerkungen Cassirers. 266 C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 136f. An dieser Stelle wird auch deutlich, inwiefern für Cassirer das menschliche Zusammenleben nur in und mittels kultureller Sachzusammenhänge gedacht werden kann, warum also die Wirkenssphäre immer in eine Werksphäre übergehen muss.
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Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis verweist. Nur im Medium der vielfältigen Objektivierungsleistungen können wir uns selbst und andere (an)erkennen. Andererseits bildet das Werk auch „das Ziel des Wirkens; aber in ihm ist das Wirken auch zu seinem Ende gelangt.“267 Mit dem ‚Zu-Ende- Kommen‘ des Wirkens im Werk löst letzteres sich zugleich vom Wirken wie von den Intentionen seines Schöpfers. Es erhält eine raum-zeitlich fassbare und inter-subjektiv übergreifende Eigen-Relevanz, die zugleich den Ort der Freiheit der Stellungnahme zu ihm charakterisiert. Dadurch erhält die Poiesis als Modus von Kultur als Praxis ihre herausragende Stellung. Erst hierüber lässt sich Verständigung diachron wie synchron denken.268 Der Weg über die Kultur und ihre Werke ist mithin der Weg zur Erkenntnis seiner selbst mit seinesgleichen in einer gemeinsamen Welt: „Das »Fenster«, das zur Wirklichkeit führt[,] ist erst jetzt ganz geöffnet – der »Blick« für die Wirklichkeit, für die Objektivität ist uns geöffnet, indem wir sie im Werk und in der objektiv-darstellenden Sprache vor uns ausbreiten.“269 Schon der sprachliche Gebrauch der ersten Person Plural verdeutlicht, dass auch die anderen beiden Perspektiven nie ausgeblendet werden können. An anderer Stelle kann Cassirer sogar daraus auf eine Verpflichtung zur Wahrnehmung und Pflege kultureller Objektivation schließen.270 Mit der Konzentration auf die Werksphäre ist der Primat des Ausdrucksphänomens nicht in Frage gestellt. Vielmehr zeigt sich an beiden, dass es Cassirer mit seiner Metaphysik der symbolischen Formen auch darum ging, zum Realismusproblem Stellung zu nehmen. Jenseits von positivistischen und konstruktivistischen Positionen ging es ihm mit seinem ‚symbolischen Idealismus‘ darum, einen Realismus zu konturieren, der sich dem Problem der Formgebung und Repräsentation stellt. Denn jede sachhaltige Erkenntnis von Wirklichkeit hängt davon ab, wie in der Differenz von Darstellung und Dargestelltem mit der Unhintergehbarkeit symbolischer Formung und Repräsentation sowie mit der (Un)Überbietbarkeit des darin zum Ausdruck Gebrachten umgegangen wird.
Ebd. Vgl. hierzu auch: a.a.O., 154–156.156: „[D]enn jedes Werk ist als solches nicht das eines Einzelnen – sondern es geht aus einer W e c h s e l wirkung hervor – es bekundet sich in ihm ein »s o z i a l e s « Wirken – ‚Geschichte‘ und ‚Kultur‘ sind nur als soziale Phaenomene v e r s t ä n d l i c h “. 269 A.a.O., 137. 270 Dem sokratischen Imperativ des Gnothi Seauton im Spiegel der eigenen Werke wird der weitergehende ethisch-kulturelle Imperativ hinzugefügt: „Frage, in dem, was Du tust und leistest, nicht nach der blossen Wirkung, sondern nach dem Werk – stelle Dich unter den Imperativ des Werkes.“ (a.a.O., 190) Dies ist nichts Anderes als eine kulturphilosophische Reformulierung eines kategorischen Imperativs einer Ethik der Humanität. – Zur Debatte um Cassirers Verständnis von Moral und Kultur, vgl. SCHWEMMER, Ernst Cassirer (Anm. 235), 127–195. 267 268
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5.3 Erkenntnis und Wirklichkeit: Cassirers philosophischer Realismus Cassirer verwendet zur Charakterisierung seiner eigenen Position die Formel vom „symbolischen Idealismus“: Die Weltanschauung des »symbolischen Idealismus« wendet sich sowohl gegen die Metaphysik des d o g m a t i s c h e n R e a l i s m u s wie gegen die Metaphysik des sogen(annten) P o s i t i v i s m u s . In beiden bekämpft sie das, was trotz aller scheinbaren Differenzen den g e m e i n s a m e n G r u n d z u g in ihnen ausmacht: daß sie den Kern des geistigen Lebens und der geistigen Funktionen irgendwie in einer »Wiedergabe« und »Abbildung« eines unabhängig von ihnen gegebenen »Wirklichen‘ sehen.271
Die Rede vom symbolischen Idealismus konturiert somit nicht nur die eigene Position, sondern wendet sich damit zugleich gegen naive Realismen wie Positivismen. Um verständlich zu machen, warum ich Cassirers symbolischen Idealismus dennoch als seine Art eines philosophischen Realismus begreife, ist daran zu erinnern, dass seine Philosophie der symbolischen Formen zugleich eine Theorie pluraler Wirklichkeitserkenntnis darstellt, die sich nicht in einem bloßen Konstruktivismus erschöpft. Dogmatischer Realismus und Positivismus kommen trotz gegensätzlicher, metaphysischer Grundeinstellung darin überein, dass es möglich ist, der Wirklichkeit so habhaft zu werden, dass das Problem der (symbolischen) Repräsentation als ein lediglich sekundärer, da defizitärer und prinzipiell zu überwindender Erkenntnismodus erscheint. Vor diesem Hintergrund zeigt sich erneut: Repräsentation kann für den symbolischen Idealisten, der auch ein Realist sein will, jedenfalls nicht Abbildung des unmittelbar Erfassbaren oder Gegebenen heißen. Stattdessen liegt die Bedeutung des Symbols bzw. der symbolischen Medien gerade darin, dass sie es sind, die uns Wirklichkeit überhaupt erst auf- und erschließen und so auch gestalten lassen. So gesehen ist Repräsentation ebensosehr Grundbegriff des Bewußstseins, wie Fundamentalbestimmung der symbolischen Formen: Als „Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen“ definiert der Repräsentationsbegriff das Wesen des Symbols, wie er auch „eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst“ artikuliert. 272
Dabei ist nun das Entscheidende, wie sich das Repräsentationsverständnis, das die symbolischen Formen prägt, sich auf prinzipielle Weise zum metaphysischen Grundproblem von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ verhält. Auf der einen Seite gibt es nämlich unterschiedliche Totalperspektiven auf die Realität, weil jeder symbolischen Form ein totalisierendes Ganzheitsmoment innewohnt, da in einem einzelnen Glied einer Reihe bereits der Ausgriff auf das ‚Ganze‘ dessen, was es zu repräsentieren gilt, angelegt ist.273 Auf der anderen Seite aber ist die Fortbe-
CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 261. MOXTER, Kultur (Anm. 67), 130. 273 So etwa in: C ASSIRER, PhsF III (Anm. 81), 218. 271 272
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stimmung der einzelnen Glieder einer durch Reihenbildung konstituierten symbolischen Form prinzipiell unabschließbar, auch unter der Kenntnis des jeweiligen Reihenprinzips. Als Zeichenprozesse lassen sich symbolische Formen von daher nicht ein für alle Mal stillstellen. In dieser Dynamik – so könnte man sagen – kommt im Symbolisierungsprozess das Unabgegoltene der ‚Realität‘ zum Ausdruck, ohne deswegen die Möglichkeit seiner unmittelbaren Erfassung zu bieten. Genau dies macht die Kultur zu einem nicht endenden Prozess der symbolischen Weiterbestimmung. Für Cassirer liegt die Eigenart neuen Handelns als Symbolisieren, oder idealistisch ausgedrückt: der Geist, nicht in der radikalen Negation und schon gar nicht in der bloßen Iteration, sondern in der bei aller Diskontinuität Kontinuität wahrenden Variation, Kreation und Alteration. Das bedeutet jedoch nicht, das Eigenrecht und die Eigenmacht des nicht darin Ausgeschöpften, metaphorisch gesprochen: der Widerständigkeit des Lebens, entkommen zu können. Alle K u l t u r bewegt und erweist sich in der Schöpfung, in der A k t i v i t ä t symbolischer Formen: u. durch diese Formen erst wird das Leben zum wachen, seiner selbst b e w u s s t e n Leben, wird es zu G e i s t – die Negation, die Tötung der symbolischen F o r m e n [,] um der Rückkehr zum blossen L e b e n hin [,] wäre daher zugleich Aufhebung, Tötung, des G e i s t e s selbst – denn der Geist ist, ungleich dem Leben, nur in der Totalität eben dieser symbolischen Formen. – Doch ist diese T e n d e n z der Rückkehr zum blossen Leben (e n t g e g e n dem Streben zur symbol[ischen] Form, als dem Streben zum Geist) selbst freilich eine durchgehende Erscheinung der sich entwickelnden Kultur – gleichsam ihr negatives Vorzeichen274.
Fragt man nun, wie angesichts dieser Konstellation ‚Geist‘ und ‚Leben‘ nicht doch wieder in ein rein externes Verhältnis gesetzt werden275, rücken erneut die Basisphänomene in den Vordergrund. In ihnen kommt der realistische Zug des symbolischen Idealismus zum Tragen, der eben keinen Rückfall in die Zeiten vorkritischer Metaphysik meint. Denn noch die Perspektive der Kultur, die sich stark am Werkphänomen orientiert, kann nicht davon absehen, dass dieses Werkphänomen selbst nur als solches verstanden werden kann, wenn die beiden anderen Basisphänomene von ‚Ich‘ und ‚Wirken‘ (oder: ‚Du‘) immer schon mit im Spiel sind. Die Metaphysik der symbolischen Formen steht daher zur Philosophie der einzelnen symbolischen Formen im Verhältnis einer kritischen Selbstreflexion von deren Bedingungen: Die Metaphysik des Symbolischen analysiert gegenüber der kritischen Phänomenologie – bildlich gesprochen – weiter zurück bzw. weiter in die Tiefe. Denn sie reflektiert den Reflexionsvollzug selber, in dem sich die Evidenzerlebnisse ereignen sollen, die der kritischen Phänomenologie als spezifischer Gedankenbewegung ihren Sachgehalt bewähren. Sie analysieren dabei den Lebensvollzug, der sich selbst als eigentlich philosophisch versteht. 276
CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 269. Dem korrespondiert im Essay, dass Cassirer hier eine sehr viel weitreichendere Einbettung der Kulturphilosophie in die Anthropologie vornimmt. 276 U LLRICH, Symbolischer Idealismus (Anm. 235), 229. 274 275
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Damit ist zugleich die spezifische Aufgabe von Philosophie benannt, sofern sie genau jene prinzipielle und kategoriale Reflexion dessen vorzunehmen hat, was in den einzelnen symbolischen Formen immer schon in Anspruch genommen wird. Nicht um die Substitution einzelner symbolischer Formen geht es, wohl aber um deren Kritik dort, wo sie sich anheischig machen, ihren Symbolcharakter zu unterschlagen oder diesen einfach zu vergessen. Das Kerngeschäft der Philosophie liegt somit im D u r c h s c h a u e n d e s s y m b o l [ i s c h e n ] G r u n d c h a r a k t e r s d e r E r k [ e n n t n i s ] selbst. Lösen können wir uns von diesen Formen nicht, obwohl uns der Drang dazu an- und eingeboren ist (…) aber wir können und müssen ihn in seiner relativen Notwendigkeit begreifen und einsehen. Das ist die einzig mögliche i d e e l l e Befreiung vom Z w a n g der Symbolik. Ein solcher Z w a n g ist mit jeder Anwendung einer positiven Form (…) verbunden. Wir können ihn nicht überwinden, indem wir die Hülle der Symbolfunktion von uns werfen und nun das Absolute von Angesicht zu Angesicht schauen, sondern nur indem wir jedes Symbol an seiner S t e l l e begreifen u. es durch andere begrenzt u. bedingt erkennen.277
In diesem Durchschauen aber liegt der Realismus, der darum weiß, dass im Vorgang der symbolischen Repräsentation Repräsentiertes und Repräsentant nie restlos ineinander übergehen. Dies schon deswegen, weil die Aktivität des Symbolisierens an irreduzible Subjektstellen (‚Ich‘) gebunden ist, die in wechselseitigen (Inter-)Aktionsverhältnissen zueinanderstehen (‚Wirken‘) und dabei Wirklichkeit so gestalten (‚Werk‘), dass deren Formationen beide Perspektiven überschreiten. Darin erst kommen Funktion und Leistung der humanen Symboltätigkeit zu ihrem Abschluss. Denn jetzt lassen sich ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ als die Medien denken, in denen sich Menschen ihrer selbst und der Welt bewusstwerden und dies auch miteinander kommunizieren können. Das Bewusstsein oder auch: der Geist, der im Symbolisieren wirksam wird, ist als eine stets symbolisch strukturierte und sozial konstituierte Größe zu begreifen, dessen Resultate Kultur konstituieren. Mit Volker Gerhardt, der hier eine ganz ähnliche Position wie Cassirer einnimmt, heißt das: Das wesentlich auf Mitteilung ausgerichtete Bewusstsein hat vielmehr drei basale Momente zu vermitteln: Das Ich des Selbstbewusstseins, das Du eines jeden anderen möglichen anderen Bewusstseins und den zugehörigen Sachverhalt, der den Inhalt der Mitteilung ausmacht. Nur wenn diese drei Strukturmomente des Bewusstseins funktional besetzt sind, kann man davon sprechen, das etwas bei vollen Bewusstsein geschieht.278
CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 265. GERHARDT, VOLKER, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München: Beck 2012, 407. Gerhardt bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Cassirer. – Es darf an dieser Stelle erwähnt werden, dass Cassirers Triade von Basisphänomenen fast wortgleich, jedenfalls aber der Sache nach, schon in der Position des Jacobi’schen Realismus auftaucht. Vgl. JACOBI, FRIEDRICH HEINRICH, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke, Bd. 2,1: Schriften zum transzendentalen Idealismus, hg. v. Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske, Hamburg: 277 278
6. Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
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Ein solch volles Bewusstsein aber, das sich selbst und andere immer nur auf dem Weg über Objektivierung, d.h. durch Veräußerung und Verkörperung in den Werken des Geistes und der Kultur, verstehen kann, ist ein symbolisches Bewusstsein. So gesehen ringt der Mensch immer schon um ein realistisches Bild der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung. Zugleich gehört es zu seinen Spezifika, dass sein Leben ‚im‘ Geist es selbst noch vermag, die nicht mehr einholbaren Bedingungen dieser seiner Welt- und Selbstorientierungstätigkeit symbolisch, genauer: philosophisch, darzustellen. Deswegen ist dieser, der kritischen Reflexion verpflichtete philosophische Realismus als symbolischer zugleich eine Form von Idealismus. Umgekehrt verweist die Tatsache, dass alle Wirklichkeit wahrgenommen werden muss, um sie symbolisch ‚erschließen‘ zu können, darauf, dass sie im Kern eine ist.279 Die Einholung aller symbolischen Wirklichkeitserkenntnisse in ein mögliches und umfassendes Beschreibungssystem, bleibt sowohl der Wissenschaft280 als auch der Philosophie verwehrt. Aber gerade darin erweist sich noch der symbolische Idealismus als nichts anderes als ein philosophischer Realismus.
6. Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘: Cassirers Kulturphilosophie im Zeichen von Pragmatismus und Historismus 6. Das ‚animal symbolicum‘ als ‚homo articulans‘
Im letzten Teil meiner Cassirer-Interpretation sollen nun diejenigen Aspekte noch deutlicher als bisher herausgestellt werden, die einerseits diesen Ansatz als leistungsfähig für die Rekonstruktion des Expressiven Theismus erkennen lassen, die jedoch andererseits aufgrund bestimmter Engführungen einer Korrektur bzw. Weitung durch ein stärker historistisch und pragmatistisch ausgerichtetes Denken bedürfen. Dazu setze ich noch einmal beim Verständnis der symbolischen Formen nicht einfach als Bewusstseinsformen menschlicher Ver-
Meiner 2004, v.a. 35–38.53–60.83–87. Cassirers kritische Haltung zu Jacobis Erkenntnistheorie übersieht diese Nähen, weil sie sich ganz der Ablehnung von dessen, als „religiösen Intuitionismus“ verstandenen, Glaubensbegriff verschrieben hat. Vgl. CASSIRER, ERNST, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme, ECW, Bd. 4. Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon, Hamburg: Meiner 2000, 16–32 (Jacobi), v.a. 30–32. 279 Vgl. Cassirers Bemerkung zur realistischen Prämisse des Physikalismus, die nur hinsichtlich ihrer reduktionistischen Fassung als einseitig gelten darf: CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 118: „Wahrnehm[ung] ist das Einzige, was uns Wirklichkeit e r schliesst – wir ‚schliessen‘ nicht (logisch-formal) v o n ihr a u f Wirklichkeit – sondern sie ist das, was Wirkl[ichkeit] a u f schliesst“. 280 Für die Ablehnung eines solchen Wissenschaftsverständnisses, vgl. a.a.O., 118.122. 206.
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nunfttätigkeit, sondern als Resultate kultureller Praxis ein. In diesem Zusammenhang verweist Cassirer gerne auf Humboldts Rede von der Sprache als energeia, was in der konsequenten Weiterführung zur These vom Primat der Handlung führt. Kultur als Praxis begriffen meint zuvorderst, ihre Gestalten und Formationen als Produkte und Resultate menschlicher Interaktion zu sehen. Das ist nicht gleichzusetzen mit der These, deren Verständnis würde sich in der Analyse des mit ihnen Intendierten erschöpfen. Vielmehr sieht Cassirer zu Recht, dass in Hegels Theorie des objektiven Geistes ein Modell für die Rekonstruktion symbolischer Formungsprozesse bereitsteht, in dem Kultur als das historisch gewachsene Resultat intersubjektiver Tätigkeiten begriffen wird und zwar in Form von verobjektivierten Bedeutungsgehalten. Das führt zur Frage, wie anders als sozial man sich die Konstitution symbolischer Fertigkeiten und Tätigkeiten unter Menschen vorzustellen hat. Leider widmet sich Cassirer diesem Gedanken und somit der sozialen Konstitution des Geistes als symbolischer Tätigkeit kaum. Deshalb wird an dieser Stelle unter Rekurs auf George Hebert Mead versucht werden, Cassirers Argumentation zu stärken und zwar durch die Überlegung, dass alles Selbstbewusstsein als symbolisch strukturiertes und sich artikulierendes Bewusstsein auf Handlungsbewusstsein beruht, das sich sozial aufbaut.281 Zielen die Aspekte vom Primat der Handlung und der sozialen Konstitution des symbolisch strukturierten Geistes auf pragmatistische Modifikationen von Cassirers Kulturtheorie, setzt die historistische Modifikation an der Logik der Kulturentwicklung an. Damit ist vornehmlich die Analyse des geschichtlichen Prozesscharakters symbolischer Formen gemeint. Kritikwürdig an Cassirer ist hier generell seine allzu harmonisierende Vorstellung, nach der sich auf fast organische Weise etwas ursprünglich Angelegtes allmählich entfaltet. Zwar spielt die Dialektik von Formaufbau und Formzerstörung eine entscheidende Rolle für ihn, doch bleiben Fragen hinsichtlich der Radikalität des Abbruchs oder auch der Entstehung von Neuem weitgehend ausgespart. Andersherum betont: Die jedem symbolisch tätigen Handlungsbewusstsein innewohnende Präsenz der jeweiligen Situation führt das Bewusstsein der prekären Lage mit sich, die es mittels symbolischer Aktivität zu überwinden gilt. Kultur ist somit ein hochgradig offener und ambivalenter, d.h. kontingenter Prozess. Grundsätzlich lassen sich alle drei genannten Aspekte – Primat der Handlung, soziale Konstitution und geschichtliche Kontingenz – bereits bei Cassirer zur Sprache gebracht finden. Insofern scheint es sinnvoll, hier lediglich von 281 In eine ähnliche Richtung zielen die Überlegungen Susanne Langers, die ebenfalls darauf setzt, dass das Selbstbewusstsein in einem „act-consciousness“ gründet, von dem aus sich dieses dann in symbolischen Formen entwickeln kann. Vgl. LANGER, SUSANNE K., Mind. An Essay in Human Feeling, Bd. III, Baltimore: The Johns Hopkins Univ. Press 1984, 114.
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Theoriemodifikationen zu sprechen. Doch sind die sachlichen Momente, die mit ihnen verbunden sind, so gewichtig, dass diese Modifikationen als notwendige zu kennzeichnen sind. Sie umgreifen Individual- und Kulturbewusstsein282 des sich als ‚homo articulans‘ begreifenden ‚animal symbolicum‘. 6.1 Symbolische Formen als energeia des menschlichen Geistes: der Primat der Handlung Cassirers Hochachtung für Wilhelm von Humboldt verdankt sich nicht nur dessen sprachphilosophischer Pionierarbeit. Mit diesem teilt er darüber hinaus die Ansicht, dass sich im Verstehen der Funktion von Sprache paradigmatisch das Verstehen von Kultur überhaupt aufzeigen lässt.283 Dies gilt es im Auge zu behalten, will man sich den Sinn der Rede von den symbolischen Formen als energeia des menschlichen Geistes erschließen. Anhand der folgenden einschlägigen Passage aus dem Kawi-Werk lässt sich dies verdeutlichen. Dort stellt Humboldt fest: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nemlich die ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.284
Drei Punkte sind noch einmal hervorzuheben: Erstens laufen für Humboldt wie für Cassirer Sprach- und Kulturentwicklung parallel. Dabei sind Denken und Sprechen so miteinander verknüpft, dass die Sprache einen Gedanken nicht nur formen kann, sondern ihn auch prägnant werden lässt. Umgekehrt formuliert sich das gedankliche Bild der Wirklichkeit sprachlich, so dass Sprache auch durch das Denken geprägt ist. Zweitens zeigt sich an der Sprache, dass alle symbolische Tätigkeit sozial konstituiert und intersubjektiv vollzogen wird. Mit der Betonung der genetischen Analyse von Sprache kommt Humboldt dabei nicht nur dem Gedanken des Reihenprinzips bei Cassirer nahe, sondern er weckt mehr noch Verständnis für die historische Dimension des Prozesses. Drittens und vor allem: Schon Humboldt sieht im Handeln die elementare Bedingung Zu dieser prinzipiellen Verschränkung siehe die einleitenden Überlegungen in: CASSIPhsF I (Anm. 33), 1–39. 283 Zu Cassirers Humboldt-Verständnis insgesamt, vgl.: C ASSIRER, ERNST, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie (1923), in: Ders., Geist und Leben (Anm. 231), 236–273. 284 H UMBOLDT, W ILHELM VON, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835), in: Ders., Werke, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, Stuttgart: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, 368–756, 418. 282
RER,
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für Sprache wie für Kultur. Ohne Artikulation keine Erfassung von Bedeutung und ohne expressives Handeln keine Artikulation. Nicht zuletzt davon hängt jede kulturelle Dynamik ab, d.h. die Verflüssigung von wie die Variation und Stabilisierung der kulturellen Formationen und ihrer Bedeutungsgehalte. Nimmt man diese drei Momente zusammen, so wird uns letztlich erneut der metaphysische Horizont der Philosophie der symbolischen Formen vor Augen geführt: der wechselseitige Aufbau von Individual- und Kulturbewusstsein, dessen Mitteilung und symbolische Formung sowie die Einbettung in soziale Handlungszusammenhänge. All dies lässt sich leicht am Beispiel der Sprache illustrieren. So sehr Cassirer der geschichtlichen Ausformung der symbolischen Formen als Wirklichkeitsperspektiven nachgeht und dabei sogar den anthropologisch wichtigen Zusammenhang von Onto- und Phylogenese berücksichtigt, so sehr verweigert er sich stets der Frage, wie eigentlich die einzelnen Subjekte dazu befähigt werden, dass sie symbolisch aktiv werden und dies auch bleiben können. Worin gründet nicht metaphysisch, nicht prähistorisch, wohl aber subjektgenetisch die Fähigkeit und Fertigkeit des Menschen als animal symbolicum? Insbesondere bei der Verhandlung der sprachgeschichtlichen Entfaltung der verschiedenen Personen-Perspektiven und -Grammatiken hätte man Überlegungen dazu erwarten können, doch sie bleiben weitgehend aus. Dazu passt, dass auch in der Theorie der Basisphänomene die Gewichtungen ganz eindeutig auf dem Ich- und dem Werkaspekt liegen. Humane Subjektivität und kulturelle Form bilden die beiden Pole, deren Brücke- und Bindeglied zwar in der Tat die Tätigkeit, das Wirken ist, aber das doch in seiner Mittelstellung deutlich unterbelichtet bleibt.285 Hierin fügt sich, dass Cassirer die Typen, die er dem zweiten Element der Trias, also dem Wirkens- bzw. Handlungsaspekt zuordnet, stets entweder willensmetaphysisch oder aber ethisch zeichnet.286 Nimmt man hinzu, dass er trotz Einsicht in die Wahrheitsmomente des Pragmatismus diesen stets als zu utilitaristisch ansieht, erkennt man, worin der Korrekturbedarf besteht, den es hier anzumelden gilt. Cassirer gelingt es nicht, die Herausbildung der humanen Kulturtätigkeit genauer zu konturieren, weil ihm gerade diejenigen Motive des Wirkensaspekts unter der Hand verloren zu gehen scheinen, die der Pragmatismus noch vormoralisch und nicht dezidiert metaphysisch in den Mittelpunkt stellt: soziale Kontextualität und individuelle und kollektive Kreativität. Sie erst stellen jedoch diejenigen Elemente bereit, derer man bedarf, um
285 Insofern stimme ich der Diagnose von SCHWEMMER, Ernst Cassirer (Anm. 235), 208, zu, würde aber unter pragmatistischem Blickwinkel die Schwächen und Folgen, die in der eher beiläufigen Behandlung der Vollzugs- bzw. Handlungsdimension liegen, als gravierender einschätzen als Schwemmer dies tut. 286 Vgl. C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 179–186. – Selbst, wenn man das Fragmentarische der Ausführungen in Rechnung stellt, kommt man an der klaren Präferenz für den Werkaspekt gegenüber dem Wirkensaspekt nicht herum.
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Cassirers Modell von Kultur als Praxis hinreichend anthropologisch zu verorten.287 Der implizite Primat der Handlung, der alle Ausführungen von Cassirer leitet, der aber zugunsten der Aspekte des Ich- und vor allem des Werkpols zumeist unterbelichtet bleibt, leitet noch sein Verständnis von Geist. Es ist ja auffällig, dass Cassirer zwar häufig und unumwunden von Geist spricht, aber kaum klarmacht, was er darunter versteht. Zwar lebt der Geist in den symbolischen Formen der Kultur und ist demnach als Vollzugsmoment der menschlichen Vernunfttätigkeit zu verstehen; doch diese Symbiose aus Kantischer Vernunft und Hegelschem objektiven Geist wird nirgends so ersichtlich, dass man genauer begreift, was die Größen von ‚Vernunft‘ und ‚Geist‘ im Vollzug von ‚Leben‘ eigentlich bedeuten. Abgewehrt werden lediglich substantielle Verständnisse und dies erneut mit Rekurs auf das Paradigma der Sprache: Sprechen ist Bedeutung – ein immaterielles Ding – ausgedrückt in Lauten, die materielle Dinge sind. Der Begriff »Geist« ist korrekt; aber wir dürfen ihn nicht als Name für eine Substanz gebrauchen – für ein Ding »quod in se est et per se concipitur«. Wir sollten ihn in einem funktionellen Sinne gebrauchen als einen umfassenden Namen für alle jene Funktionen, die die Welt der menschlichen Kultur konstituieren und aufbauen.288
Hier wird zu Recht festgehalten: Sprechen (!), nicht Sprache, ist Bedeutung, Geist somit funktional zu verstehen. Doch werden die wichtigen Konsequenzen daraus nur unzureichend vollzogen. Schon für Humboldt war klar, Geist – gerade im funktionalen Sinne verstanden – ist Tätigkeit, die sich in umfassendem Sinne in allem menschlichen Verhalten und Handeln289 äußert. Und bei Hegel wird dies dadurch deutlich, dass sein objektiver Geist selbst nur in intersubjektiv gestalteten Zusammenhängen zutage tritt. Jedoch bleibt Cassirer trotz aller Zustimmung zu beiden Denkern eine genauere Analyse des Handlungsaspekts schuldig; und das obwohl darin ‚Geist‘ und ‚Leben‘ zueinander finden, weil auch Leben als Vollzug, d.h. als Verhalten oder Handeln im weitesten Sinne begriffen werden muss. So gern Cassirer von Kant dessen Formulierung übernimmt, wonach „Geist in ästhetischer Bedeutung das ‚belebende Prinzip im Gemüte‘ sei“290, so wenig klar zieht er daraus wie aus der anderen Überlegung, Zu den hier angedeuteten Verbindungslinien von Philosophischer Anthropologie, Kulturtheorie und Pragmatismus siehe die Studien von: KRÜGER, HANS-PETER, Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik. Deutsch-jüdische und pragmatistische Moderne-Kritik (DZPh. Sonderband 23), Berlin: Akademie 2009. 288 C ASSIRER, ERNST, Strukturalismus in der modernen Linguistik (1945), in: Ders., Geist und Leben (Anm. 231), 317–348, 337. 289 Um des grundlegenden Aspekts willen wird hier ein weiter Handlungsbegriff vertreten, zu dem es gehört, nicht scharf zwischen intentionalem Handeln und bloß reflexivem Verhalten zu unterscheiden. 290 C ASSIRER, ERNST, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), ECW, Bd. 5. Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben und Dagmar Vogel, Hamburg: Meiner 287
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wonach wir die Wirklichkeit eben nicht „in ein von uns unabhängiges und in ein von uns beigesteuertes Stück“291 aufteilen können, Konsequenzen. Diese aber wären erforderlich, wollten wir im symbolischen Ausdruck gleichermaßen eine wirklichkeitserschließende und wirklichkeitsgestaltende Handlung von Menschen erkennen. Und ohne diesen Schritt würde der realistische Zug der Philosophie der symbolischen Formen entweder doch noch vor-kritisch zu verstehen sein oder unter der Hand zu einem Konstruktivismus werden. Umgekehrt belegt die Rede vom Geist als ‚energeia‘, die sich in symbolischen Formen verkörpert und zum Ausdruck kommt, die Bedeutung der Triadizität der Basisphänomene. Man kann sich das ganz analog zu Cassirers Vorgehen an der Sprache verdeutlichen: Mit ihr erschließt sich der sprechende Mensch oder genauer: die sprechenden Menschen die Wirklichkeit. Der sprechende Mensch als ‚Ich‘ kommt in der Mitteilung mit seinesgleichen zur Vorstellung seiner selbst und der Wirklichkeit, in der er lebt. Im gleichen Maße wird das an der symbolischen Form der Technik deutlich. Hier wird Geist in seiner die Wirklichkeit umgestaltenden Form greifbar, aber dieser bleibt ebenfalls in seiner Zugehörigkeit zum menschlichen Dasein [an] seine ihm bereits vom Bewusstsein mitgegebene gesellschaftliche Verfassung [gebunden]: Er ist auf Mitteilung angelegt und bleibt der technisch ausgeführten Zweck-Mittel-Relation des sozialen Handelns verpflichtet.292
Sprache, Technik, aber auch der Mythos und mit ihm die Religion sind deswegen als sozial konstituiert zu verstehen, weil sie andernfalls gar nicht kulturell wirksam werden könnten. Das alles vollzieht sich in den diversen symbolischen Weisen des Handelns des Menschen, d.h. im Sprechen, in rituellen Vollzügen oder im Werkzeuggebrauch. So erweist sich der implizite Primat der Handlung als aufschlussreich, um Cassirers Theorie des Geistes, dessen Verhältnis zum Leben wie sein Verständnis von Kultur argumentativ zu untermauern. Dabei wohnt, um nochmals daran zu erinnern, jedem Handeln mindestens ein rudimentäres Reflexionsmoment inne, sobald es sich als ‚Antwort‘ von (bloß tierischer) ‚Reaktion‘ unterscheidet. Vor diesem Hintergrund ist nun danach zu fragen, wie es um das Erlernen von symbolischen Fähigkeiten und Fertigkeiten individuell wie kooperativ steht. Derjenige Ansatz, der es erlaubt, im Rahmen von Cassirers Grundeinsichten die notwendigen Ergänzungen vornehmen zu 2000, 165. – Zur Rezeption Kants durch Cassirer in diesem Kontext, vgl.: RECKI, BIRGIT, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (DZPh. Sonderband 6), Berlin: Akademie 2004, 57–59. 291 PUTNAM, H ILARY, Für eine Erneuerung der Philosophie. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Stuttgart: Reclam 1997, 81. Bereits weiter oben (vgl. Anm. 75) habe ich auf die Nähen zwischen Cassirers und Putnams internen Realismus verwiesen. 292 G ERHARDT, Öffentlichkeit (Anm. 277), 493. – Auch SCHWEMMER, Cassirer (Anm. 235), 209, Anm. 25, hat gesehen, dass von Cassirers Technikverständnis ein deutlich stärkeres Gewicht auf den Handlungsaspekt fallen könnte.
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können, stellt George Herbert Mead dar. Ihm gelten die folgenden Bemerkungen. 6.2 Zur sozialen Konstitution des Geistes: Cassirer und Mead Unter den klassischen Pragmatisten zeichnet sich Mead (1863–1931) durch sein besonders starkes Interesse an anthropologischen Fragen aus. Er ist es auch, der sich der Frage nach der Genese des gesellschaftlich konstituierten Geistes im Kontext der natürlichen Evolution gestellt hat. Als Philosoph und Psychologe galt seine Aufmerksamkeit dabei dem Zusammenhang von menschlicher Ontound Phylogenese.293 Für uns ist dabei der Punkt entscheidend, mit dem wir Cassirers Ansatz ergänzen wollen. Für Mead konstituiert sich Geist in dem, was er „social act“294 nennt. Das heißt in der prinzipiellen Fähigkeit und der sich von der frühen Kindheit an entwickelnden Fertigkeit zu sozialer Handlungskooperation und -koordination. Darin begründet liegt zugleich die Möglichkeit zum Erlernen und Gebrauch von ‚signifikanten Symbolen‘, ohne die auch keine weitere, dann vornehmlich sprachliche Kommunikationsform angeeignet werden könnte. Wie weitreichend allerdings der Handlungscharakter des Symbol- und später dann Sprachgebrauchs ist, belegt das folgende Zitat: „Jedes erfolgreiche Sozialverhalten (…) führt auf ein Gebiet, in dem das Bewußtsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer verhilft.“295 Erst mit wechselseitiger Verhaltens- und Handlungskoppelung ist das gegeben, was sinnvolle und
Die immer noch beste Rekonstruktion des Meadschen Ansatzes stammt von: JOAS, HANS, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G.H. Mead, Neuauflage Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. Eine prägnante Kurzdarstellung hat er gegeben in: Ders., George Herbert Mead (1861–1931), in: Dirk Kaessler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 1, München: Beck 1999, 171–189. – Bekannt geworden ist Mead in Deutschland zunächst durch seine Rezeption im Werk von Jürgen Habermas, vgl. Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (1981), Frankfurt/M.: Suhrkamp 41987, 11–68.141–151.163–169. Bei Habermas dominieren zunächst sprachphilosophische Aspekte, die später intersubjektivitätstheoretisch geweitet aber nie so umfassend anthropologisch interpretiert werden, wie dies für Mead selbst gilt: Vgl. auch: HABERMAS, JÜRGEN, Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G.H. Meads Theorie der Subjektivität, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, 187–241. 294 So lautet die Formulierung stets in: M EAD, G EORGE H., Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist (1934), hg. v. Charles W. Morris, Chicago: Chicago Univ. Press 1967, 76–80 u.ö. Unglücklich und nachhaltig verzerrend ist daher die deutsche Wiedergabe mit „gesellschaftlicher Handlung“. Vgl.: MEAD, GEORGE H., Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (1934). Mit einer Einleitung hg. v. Charles W. Morris, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, 115–122 u.ö. 295 M EAD, G EORGE H., Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen (1910), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hg. v. Hans Joas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, 210–221, 219. 293
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d.h. mit Bedeutung versehene Kommunikation oder wirksamer Symbolgebrauch zulässt. Jeder Zeichengebrauch und Bedeutungstransfer verdankt sich somit einer elementaren Handlungsleistung, die selbst sozial situiert ist und für die eine elementare, reflexive Einstellung (Haltung) von Nöten ist. Auch bei Mead findet sich im Übrigen das, was bei Cassirer als der praktischpoietische Charakter von Kultur gilt. Zwar sind nach Mead zunächst alle physischen wie sozialen Objekte physiologisch, d.h. genauer viszeral und kinästhetisch als Widerstand erfahrbar und müssen demnach reaktiv erfasst und bearbeitet werden. Doch schon diese Wahrnehmung erfolgt zumeist aus und auf Distanz, und darin liegt bereits der Ansatz zur Hereinnahme dieser Objekte mittels einer sozialen Konstellation. Gleich wie auf der Ebene der sozialen Interaktion bedarf es zur Erfassung der ‚Objekte‘, ihrer Bedeutung und Relevanz der Hereinnahme möglicher Reaktionsweisen auf den von ihnen ausgelösten Widerstand, um eine symbolisch prägnante Einstellung zu ihnen zu erhalten.296 Verzögerte Reizreaktion und damit die freigesetzte Option zur Antizipation qua Repräsentation ermöglichen den Menschen einen anderen, verfeinerten Zu- und Umgang zur Wirklichkeit. Hier liegt die Analogie zur symbolischen Formung. Was aber deutlicher als bei Cassirer zum Vorschein kommt, ist, dass mittels Repräsentation nicht nur der Spielraum von möglichen Verhaltens- und Manipulationsoptionen vorstellig gemacht wird, sondern, dass zu deren Erfolg eine Perspektivenübernahme notwendig ist. Das meint, dass das verzögert handelnde, eben repräsentierende Subjekt sich in die Rolle seines Objektes begibt.297 Und genau dazu bedarf es symbolischer Medien, Gesten, mimischer, sprachlicher und anderer Bedeutungsträger. Sie zeigen an oder speichern Reaktionen auf situativ erfasste Sachverhalte. Damit wird nunmehr deutlich, warum Geist (mind) nur in einem Selbst (‚Subjekt‘) bestehen kann, das wiederum einen sozialen, intersubjektiven Kontext, d.h. andere Selbste (‚Subjekte‘, ‚Objekte‘) voraussetzt298: 296 Vgl.: M EAD, G EORGE H., Das physische Ding (Nachlaß), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hg. v. Hans Joas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 225–243, 235: „Die Umwelt ist für den Organismus in der Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt gegeben. Die verzögerten Reaktionen, die in die auf das entfernte Objekt bezogene Handlung integriert sind, konstituierten das Objekt, wie es für den Organismus sein wird oder zumindest sein kann. Um aber ein Objekt sein zu können, muß es einen inneren Gehalt haben, den wir als die Ergebnisse jetzt verzögerter Reaktionen ansehen.“ – Mead verknüpft hier, ganz analog zu Cassirer in seinen Überlegungen zur Metaphysik der symbolischen Formen, einen prinzipiellen Perspektivismus auf wahrgenommene Objekte und Sachverhalte mit einem realistischen Zug. 297 Zu Meads Handlungsverständnis siehe die detaillierten Überlegungen in: M EAD, GEORGE H., Die einzelnen Phasen der Handlung (1938), in: Ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Mit einem Vorwort von Hansfried Kellner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, 102–129. 298 Vgl. M EAD, G EORGE H., Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle (1925), in: Ders., Philosophie der Sozialität (Anm. 297), 69–101, v.a. 88–101. Dort finden
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Ich kann mir nicht vorstellen, wie Intelligenz oder Geist anders als durch die Hereinnahme gesellschaftlicher Erfahrungs- und Verhaltensprozesse in den Einzelnen hätte erfolgen sollen, das heißt durch diese Hereinnahme der Übermittlung signifikanter Gesten, die dadurch möglich werden, daß der Einzelne die Haltungen anderer gegenüber sich selbst und gegenüber jenen Dingen einnimmt, über die man nachdenkt.299
Auch für Mead bildet die Wahrnehmung der physischen Welt den zentralen Faktor, doch betont er gleichzeitig, dass sie, gerade weil sie zunächst die Wahrnehmungswelt einzelner Individuen darstellt, zugleich bereits mit Perspektiven anderer Individuen rückgekoppelt ist.300 Insofern ist die Wahrnehmung stets schon sozial konstituiert und wird als solche genau dann begriffen, wenn es gelingt, sowohl die eigene Perspektive und diejenige der anderen übernehmen zu können und strukturell zu koppeln. Hierin liegt die Leistung eines zum Symbolgebrauch fähigen Lebewesens, das gelernt hat, die Handlungen seinesgleichen und Reaktionen auf Objekte als signifikant, d.h. symbolisch mit Bedeutung gefüllt, zu sehen. Dies reicht von der Ebene der mimetischen Handlungen bis hinauf zu hoch artifiziellen Zeichensprachen. Alle Artikulationsformen basieren auf einer reflexiven Haltung301, die das Gemeinsame der Lebenswelt durch das Medium von gemeinsam geteilten Bedeutungen, seien sie noch so rudimentär, zur Darstellung bringen. In dieser Fähigkeit, wie sie sich nicht nur in dialogischen Kontexten, etwa zwischen Mutter und Kind, spielerisch, d.h. kreativ erlernen lässt, wurzelt noch der Grund für gesellschaftliche und kulturelle Evolution. Weil nur in der reflexiven Verwendung von Symbolen und Zeichen ein gemeinsamer Raum von Bedeutung möglich ist, gilt auch umgekehrt: Nur durch ihn lässt sich der soziale Raum, in dem sich Menschen bewegen, kontrollieren und zwar in eigenständiger wie in kooperativer Weise. Diese Übernahme der Rolle anderer (…) ist nicht nur das zufällige Ergebnis der Geste, sondern für die Entwicklung der kooperativen Gesellschaft wichtig. Die unmittelbare Wirkung dieser Übernahme einer Rolle liegt in der Kontrolle, die der Einzelne über seine eigenen Reaktionen ausüben kann. Die Kontrolle der Handlungen des Einzelnen im kooperativen Prozess kann im Verhalten des Einzelnen selbst stattfinden, wenn er die Rolle des anderen zu übernehmen vermag.302
sich auch Überlegungen zur evolutionsgeschichtlichen Verortung des Geistes als Leistung des Menschen im Umgang mit Dingen. 299 M EAD, Geist, Identität, Gesellschaft (Anm. 294), 235. 300 Vgl. M EAD, G EORGE H., Der soziale Faktor in der Wahrnehmung (1938), in: Ders., Philosophie der Sozialität (Anm. 297), 130–146. 301 Deswegen kritisiert Mead sowohl Charles Darwin als auch Wilhelm Wundt, die diesen reflexiven Charakter schon von gestischer Artikulation nicht erkannt und daher das Erlernen expressiver Fähigkeiten vor allem als Nachahmung verstanden haben. Vgl. MEAD, Geist, Identität, Gesellschaft (Anm. 294), 53–56.81–90. 302 A.a.O., 300. – Dem entsprechen neueste Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der evolutionären Kognitionsforschung, vgl. nur: TOMASELLO, MICHAEL, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin: Suhrkamp 2014, v.a. 79–122.
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Auf der Grundlage dieser kooperativen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich kulturell in der Geschichte immer weiter verfeinern können, gelingt es Mead verständlich zu machen, warum jedes symbolische System als solches sozial bedingt ist und zugleich im Dreieck von ‚Ich‘, ‚Anderen‘ und ‚gemeinsamer Lebenswelt‘ verortet ist. Als Tätigkeiten sind symbolische Formungsprozesse Resultat von kooperativem und dann habitualisiertem Handeln von Individuen in Gemeinschaften.303 Sie können dies nur sein im Modus einer gemeinsam wahrgenommenen und gleichwohl auf unterschiedliche Weise symbolisch codierten Lebenswelt. Beruht doch insbesondere das Selbst-Bewusstsein auf der Ausbildung und Übernahme reflexiver Einstellungen gegenüber sich selbst, Anderen und Anderem. Dies anzeigen und sich darüber verständigen zu können, bedarf signifikanter Symbole, wie sie verfeinert und ausdifferenziert in Sprache und Denken vorliegen: Der Mechanismus der Introspektion ist mithin in der sozialen Haltung gegeben, die der Mensch notwendig sich selbst gegenüber einnimmt, und der Mechanismus des Denkens ist, insofern das Denken Symbole verwendet, die im gesellschaftlichen Verkehr Verwendung finden, nichts anderes als ein nach innen verlagertes Gespräch.304
Durch diesen Prozess der Introspektion gelangt nach Mead auch das Subjekt zur gehaltvollen Vorstellung eines Selbst. So wie nach Cassirer Individual- und Kulturbewusstsein sich wechselseitig ausbilden und ausprägen, so ist für Mead das Self wesentlich Resultat eines bzw. vieler ‚social acts‘. Umgekehrt stellt sich dann auch für die Ebene der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung die Frage nach den „Implikationen der Tatsache (…), daß die Vernunft im Prozeß der sozialen Evolution entstanden ist.“305 Klar ist, dass unter Vernunft kein fixes, stabiles Vermögen oder eine ein für alle Mal gesicherte Fähigkeit, die dem Menschen zukommt, gemeint sein kann. Vielmehr ist an einen hoch dynamischen, kontingenten und deswegen auch bleibend prekären Prozess zu denken, der Offenheit für Neues bietet. Analog zur Überlegung, dass die Identität des ‚Self‘ sich nur als eine von der Spontaneität und Kreativität jenes ‚I‘306 getragene Kontinuität zeigt, welches sich in Situationen, bei denen Widerstände und Probleme einen reibungslosen, fließenden Handlungsverlauf verhindern, auf experimentelle Weise neu verhalten muss, ist auch der Prozess der Evolution der Vernunft als ein in sozialen Zusammenhängen eingelagertes Voranschreiten im Modus des Experimentierens zu verstehen. ‚Experimentell‘ meint dabei kein
303 M EAD, Die Genesis des sozialen Selbst, in: Ders., Philosophie der Sozialität (Anm. 298), v.a. 90–100. 304 M EAD, G EORGE H., Die soziale Identität (1913), in: Ders., Gesammelte Aufsätze 1 (Anm. 295), 241–252, 245. 305 M EAD, G EORGE H., Der Experimentalismus als eine Geschichtsphilosophie (Nachlaß), in: Mead, Gesammelte Aufsätze 2 (Anm. 296), 247–274, 274. 306 Vgl. a.a.O., 243f.
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rein am naturwissenschaftlichen Paradigma ausgerichtetes Fortschrittsverständnis. Vielmehr soll damit der Kontingenzaspekt aller Formung von Wirklichkeit betont werden, die stets prekär und unsicher bleiben muss. Wie die menschliche Identität individueller und gesellschaftlicher Art, so ist auch die menschliche Kultur nicht anders als in immer weitergehenden, kreativen und dabei zugleich Kontingenz bearbeitenden Prozessen zu denken. Das heißt, beide stellen im wahrsten Sinne des Wortes ‚geschichtliche Experimente‘ dar. 6.3 Die Ambivalenz der Kultur und die Entstehung von Neuem: Geschichtsphilosophische Brechungen Den experimentellen Zug teilen pragmatistische Ansätze mit dem Denken des kontinentaleuropäischen Historismus; mindestens dort, wo jener nicht einfach in Kulturrelativismus oder gar -pessimismus mündet. Damit sind wir bei der zweiten Modifikation. Sie betrifft die notwendig schärfere Wahrnehmung und konzeptionelle Einbeziehung der Ambivalenz von Kultur, des Prekären der symbolischen Formungsprozesse sowie der fragilen Offenheit hinsichtlich von Fortschrittsüberlegungen. Diese im Zeichen des Historismus vorgenommene geschichtsphilosophische Brechung liegt im Grunde schon im Gefolge der Auseinandersetzung Cassirers mit Simmels Formel von der ‚Tragödie der Kultur‘ nahe. So treffend Cassirers Kritik an der metaphysischen Verwendung der Formel bei Simmel auch ist, so wenig überzeugend ist sie hinsichtlich des darin gefassten Antagonismus sozialer und kultureller Prozesse, Techniken und Ideale.307 In jenem ist nämlich nicht nur die Möglichkeit zur produktiven Weiterentwicklung, sondern ebenso sehr zum Abbruch, zur Verarmung und vor allem zur Instrumentalisierung und Dehumanisierung von Kultur, begründet. Diese Form der Negation, des Negativen ist nun aber für Cassirer – mit Ausnahme der letzten Lebensjahre – kaum von so gewichtiger Bedeutung, dass er daraus konzeptionelle Schlüsse zieht. Vielmehr liest er Kants Formel vom Antagonismus308, der aller Kulturentwicklung innewohnt, tendenziell nur in eine, nämlich positive Richtung, was nicht zuletzt – und im Unterschied zu seinem Lehrer
307 Gegenüber Simmels These von der Emanzipation der Kultur- und Sachwerte gegenüber ihren ursprünglichen Zwecksetzungen und damit der Selbstgefährdung der Kultur und mit ihr der menschlichen Entwicklung zieht Cassirer noch in Logik der Kulturwissenschaften Goethe als Referenz für ein Verständnis von Kultur als eines spannungsgeladenen, insgesamt aber doch durch Transformationen harmonisierbaren, Prozesses heran. Vgl. CASSIRER, Logik (Anm. 29), 115. 308 Nach Kant stellt der „gesellschaftliche Antagonism“ eine Bedingung für den natürlichen Hervorgang aller kulturellen Fertigkeiten (‚Anlagen‘) dar. Vgl. KANT, IMMANUEL, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781 Berlin: Akademie 1968, 15–31, 20– 22.
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Cohen – auf ein religionstheoretisches Defizit schließen lässt309. Zwar erwähnt Cassirer durchaus an bestimmten Stellen, dass sich die verschiedenen Stufen des symbolischen Formungsprozesses der Sprache, des Mythos, der Kunst, der Wissenschaft etc. gegenläufig zueinander verhalten können310; auch ist ihm bewusst, dass sich symbolische Formen in ihrer Wirklichkeitserkenntnis nicht nur einander ergänzen und somit miteinander sympathisieren können, sondern dass es durchaus ein konfliktreiches Verhältnis zwischen einzelnen gibt311: Diese wesentlich negative Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu heben und somit statt bloß einer relativen eine absolute Geltung für sich in Anspruch nimmt. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres besonderen Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzudrücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs.312
Dennoch bleiben konzeptionelle Konsequenzen weitgehend aus. Eine mögliche wäre gewesen, das Experimentelle innerhalb wie zwischen den symbolischen Formungsprozessen deutlicher zu betonen. Damit ließe sich auch an Cassirers Vorliebe für die produktiven, schöpferischen Seiten der Kulturentwicklung festhalten, wenngleich deren kontingenter und eben ambivalenter Charakter stärker hervorgehoben werden müsste. Experimentell hieße dann aber auch, sich von der Vorstellung frei zu machen, im Zuge des geschichtlichen Prozesses ginge nichts Wesentliches oder Wertvolles verloren. Und genauso hieße es, sich davon zu lösen, dass nur das im Menschen bereits Angelegte sich allmählich und in fortschreitenden Kreisen zum Ausdruck brächte. Die Vorstellung, die 309 Bei Kant drängen sowohl sein Rechtsgedanke als auch sein Religionskonzept mit der Idee des ‚radikal Bösen‘ auf ein Gleichgewicht von Realismus (Antagonismus) und Hoffnung (moralischer Glaube). Und bei Cohen stehen Individualität, Korrelation von Gott und Mensch sowie die Entdeckung der Sünde in einem engen Zusammenhang. Anders gesagt: Die ganze Abgründigkeit und Perversion der menschlichen, d.h. individuell verantworteten Freiheit, die mehr darstellt als schuldhaftes Versagen moralischer und rechtlicher Ordnungen, wird allererst am Ort der Religion fassbar. Auch deswegen schaltet Cohen dem Kapitel über Die Versöhnung jenes über Das Individuum als Ich voraus. Vgl. COHEN, Religion der Vernunft (Anm. 213), 192–251. 310 Vor allem im Technik-Aufsatz wird dies eindrücklich geschildert: vgl. CASSIRER, Form und Technik (1930), in: Ders., Symbol, Technik (Anm. 79), 39–91, 74–78.86–90. 311 Als Beleg statt vieler nochmals der Verweis auf: C ASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 248f. Dort wird deutlich, wie Cassirer die Dialektik des Kulturprozesses aus dem ständigen Überschreiten der Wahrnehmung des Lebens von der Dingsphäre in die Sinnsphäre begreift, wobei letztere dazu in der Lage ist, auch noch die Sphäre des Personalen zu transzendieren und in das Überpersönliche, Rein-Bedeutungshafte zu schreiten. Vgl. a.a.O., 240–252. 312 C ASSIRER, PhsF I, (Anm. 33), 10f. Das Problem liegt somit am Übergang von einer holistischen Sicht auf die Wirklichkeit zu einer totalitären Haltung, die jeder symbolischen Form der Tendenz nach innewohnt.
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Geschichte als (reine) Entfaltung der im Menschen angelegten Potentiale begreifen zu können, wird zu Recht verunmöglicht. Einfacher gesagt: Das Verhältnis von Traditionsabbruch und Neuaufbrüchen ist bei Cassirer zu eindeutig von einem Optimismus der Bedeutungsrettung und der stetigen Kontinuität gedacht. Die Alternative, die darin läge, qualitative Kontingenz so ernst zu nehmen, dass noch in jedem Anschluss an Vergangenes eine bisweilen nicht weiter zu bestimmbare Diskontinuität gegenüber dem Neuen verbleibt und dass darüber hinaus, Manches unwiederbringlich verloren geht, wird von ihm kulturtheoretisch kaum weiter betrachtet. Zwar konzediert Cassirer dem Historismus dieses Wahrheitsmoment bisweilen, als Geistesrichtung allerdings wird er von ihm – durchaus tendenziös — als mit radikaleren, jede Kontinuität des Kulturprozesses zurückweisenden Varianten identifiziert und abgelehnt.313 Zu diesem Kontingenzdefizit in historischer Hinsicht gesellt sich ein weiteres, anthropologisches. Matthias Jung hat unter besonderer Berücksichtigung des Ausdruckscharakters des Religiösen darauf verwiesen, dass in jedem einzelnen Artikulationsakt und damit in jedem symbolischen Verwendungsgebrauch als individueller Formungsakt ein Moment zur Fortführung des symbolischen Formungsprozesses liegt, das ausschließlich durch das Handeln des einzelnen Subjekts getätigt werden kann. Damit bindet sich dieses existentiell und ist unweigerlich mit Konsequenzen auf Erfolg oder Irrtum verpflichtet. Was also zur Debatte steht, ist das Verhältnis von Freiheit und Kultur am Ort des einzelnen Subjekts beider Größen: Jene Freiheit, die darin besteht, daß ein Individuum in höchst eigener, erster Person unter vollem Risiko die kulturellen Ausdrucksformen gebraucht, um sich in seinen Weltbezügen zu artikulieren, kommt bei Cassirer zu kurz. Was fehlt, könnte man vielleicht etwas hochtrabend als eine ‚existentielle Pragmatik der symbolischen Formen‘ bezeichnen.314
Die Pragmatik symbolischer Formen verweist auf deren durch die einzelnen Handlungsakteure vorzunehmende Bewährung und Erprobung im Sinne eines den kontingenten Situationen entsprechenden Experimentalismus. Darin liegt ein Risiko, das Scheitern wie die Möglichkeit zur kreativen Fortbestimmung in sich birgt. Zur Dynamik der symbolischen Formen gehört demnach, dass sie wesentlich von ihrer stilbildenden und intersubjektiv einsichtigen Kraft leben und dabei zugleich offenbleiben für die am Ort der Erfahrungssubjekte entste-
313 Zu Darstellung und Kritik Cassirers am Historismus, vgl. C ASSIRER, Erkenntnisproblem, Bd. 4 (Anm. 278), 159f. 314 JUNG, M ATTHIAS, Der Ausdruckscharakter des Religiösen. Zur Pragmatik der symbolischen Formen bei Ernst Cassirer, in: Hermann Deuser/Michael Moxter (Hg.), Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer (Religion in der Moderne 9), Würzburg: Echter 2002, 119–124, 121.
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henden Varianz- und Neubildungen. Die Kreativität des symbolischen Handelns und die Kontingenz der Wirklichkeit, die darin rezipiert, prägnant gemacht und so neu konfiguriert wird, bedingen einander.315 Das Riskante symbolischer Formungsprozesse, welches auf die von Grund auf riskante Wirklichkeit verweist, die jene Formen prägt, wird in ethisch-politischer Hinsicht bei Cassirer zumindest im Spätwerk genauer erfasst. Erneut rückt der Mythos, dieses Mal ‚des Staates‘, in den Vordergrund. Dabei geht es um die Ambivalenzen, die seine Persistenz in der politischen und sozialen Gegenwart auslöst. Sieht man die Ausführungen Cassirers im Mythus des Staates nicht allein darauf beschränkt, so lassen sich diese als Anknüpfungspunkte für eine deutlich stärkere Kontingenzsensibilität auf der Theorieebene lesen. Am Beispiel der totalitären Regime, deren Ideologien von einer manipulativen Inszenierung und Instrumentalisierung mythischen Gedankenguts lebt, wird offenkundig: Der Antagonismus zwischen symbolischen Formen beherrscht noch die Moderne. Die Ambivalenz besteht bekanntlich darin, dass diese politischen Mythen als künstliche Mythen ohne moderne Technik gar nicht vorstellbar und insofern genuin modern sind; doch würden sie nicht funktionieren, wenn sie nicht ein ihnen entgegenkommendes Element hätten, das sie zwar verstärken können, es aber nicht erst hervorbringen, und das ist die mythische Substruktur, die die alltägliche Lebenswelt der Menschen nach wie vor prägt. Damit dringt Cassirer im Ansatz zu einem kontingenzsensibleren Verständnis von Kultur durch: Es scheint jedoch, daß wir die großen Meisterwerke der menschlichen Kultur auf viel demütigere Weise betrachten müssen. Sie sind weder ewig, noch unangreifbar. Unsere Wissenschaft, unsere Dichtung, unsere Kunst und unsere Religion sind nur die obere Decke einer viel älteren Schicht, die große Tiefe hinabreicht. Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Schicht und soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können.316
Sieht man einmal vom negativen Kontext, auf den Cassirer anspielt und vor dem dieses Zitat seine Plausibilität erhält, ab, dann könnte man sagen: Es liegt in der Eigenart des mythischen Denkens und Handelns, in seiner Weise die Wirklichkeit unmittelbar qualitativ wahrzunehmen und zu formen, dass dieses zum Motor für Kulturumwälzungen werden kann.317 Das bedeutet weder Anpassung an mythische Nativismen noch seine unhinterfragte Übernahme. Vielmehr ist die von Cassirer eingeforderte Arbeit am und Kritik des Mythos auf Dauer zu stellen und in ihren ethisch-politischen Dimensionen sichtbar zu ma-
Vgl. a.a.O., 120. CASSIRER, Mythus (Anm. 144), 389. 317 Nicht zufällig findet sich im Abschnitt über den Mythos im Essay an entscheidender Stelle mit dem Verweis auf Dewey der Hinweis auf die „Gefühls-Qualitäten“ jedes unmittelbaren Wirklichkeitszugangs: CASSIRER, Versuch (Anm. 14), 125f. 315 316
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chen. Insofern lässt sich der Gedanke des experimentellen, jedenfalls aber kontingenzsensiblen symbolischen Formens in seine Theorie einarbeiten. Und diese ‚Arbeit am Mythos‘ (Blumenberg) betrifft dann alle symbolischen Formen, die auf seinem Boden entstanden sind.318 So erhält man am Ende des Mythus ein deutlich antagonistischeres Bild von Geschichte und Kulturentwicklung: eines, das im Zeichen von Kontingenz steht und die Ohnmacht gegenüber den Wirklichkeiten zum Ausdruck bringt, denen man symbolisch Ordnung und Struktur abringen muss, um der Kultur und ihrer inneren Ausrichtung auf Humanität und Freiheit nicht verlustig zu gehen; und eines, das um die destruktive Seite humanen Freiheitsgebrauchs weiß und sie ggf. vorsorgend einzudämmen bemüht ist. Kulturarbeit wird zur Arbeit an qualitativen Kontingenzwahrnehmungen, -eindrücken und -erlebnissen. Dem entspricht das Bild, das Cassirer zur Beschreibung der grundsätzlichen Lage von Kultur verwendet und sowohl dem babylonischen Schöpfungsmythos als auch dem platonischen Mythos der Ideenformung entlehnt. Darin ringen Logos und Mythos, die Ordnung und das Chaos miteinander. Und es ist es wohl kaum ein Zufall, dass zur Erfassung dieser grundsätzlichen Spannung der Wirklichkeit, in der wir leben, selbst wiederum ein mythisches Bild bemüht wird: Die Welt der menschlichen Kultur kann mit den Worten [der] babylonischen Legende beschrieben werden. Sie konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythus besiegt und überwunden war. Aber die mythischen Ungeheuer waren nicht endgültig vernichtet. Sie wurden für die Schöpfung eines neuen Universums verwendet, und sie leben noch fort in diesem neuen Universum. Die Mächte des Mythus wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle und moralische, ethische wie künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythos gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren beginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben zu durchdringen.319
7. Cassirers Kulturanthropologie symbolischer Artikulation: Ein Fazit 7. Cassirers Kulturanthropologie symbolischer Artikulation
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist im vorliegenden Kapitel gleichermaßen als Kulturtheorie wie als philosophische Anthropologie rekonstruiert worden. Diese Doppelperspektive führt mich dazu, von einer Kulturanthropologie symbolischer Artikulation zu sprechen. Deren Pointe ist es, in der Ausdrucksfunktion die basale Funktion, gleichsam den Sockel für alle weiteren
Besonders hinsichtlich der ethisch-ideologiekritischen Haltung hat sich Cassirer dann seines jüdischen Erbes erinnert. Vgl. CASSIRER, Judaism (Anm. 214). 319 C ASSIRER, Mythus (Anm. 144), 390. – Zur Problematik siehe auch: R ECKI, Kultur als Praxis (Anm. 290), 99–108. 318
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symbolischen Formungsprozesse zu sehen. Hierin liegt die Basis all dessen, was ich unter den Begriff ‚Artikulation‘ fasse. Dabei genügt weder der „bloße passive Eindruck (…) um das Phänomen des Ausdrucks zu erklären“, noch wird ein Subjekt (…) dem anderen dadurch kenntlich, daß es in dasselbe übergeht, sondern daß es sich zu ihm in eine aktive Beziehung setzt. Daß dies der Sinn aller geistigen Mitteilung ist, hat sich uns früher gezeigt: das S i c h =Mitteilen verlangt eine Gemeinschaft in bestimmten P r o z e s s e n , nicht in der bloßen Gleichheit der Produkte.320
Nur als ‚homo articulans‘ ist der Mensch das ‚animal symbolicum‘ und somit die notwendige Bedingung nicht nur für den (Fort-)Bestand von Kultur, sondern für alle Wirklichkeitserkenntnis und -gestaltung. Ohne Artikulation keine Erfassung von Bedeutung, und ohne Bedeutung keine Erkenntnis von Wahrheit oder Schönheit, geschweige denn eine einsichtige und zielbestimmte (Um-)Gestaltung der (sogenannten) Realität. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Modifikationen, die wir an Cassirers Theorie durch Rekurs auf pragmatistische und historistische Motive vorgenommen haben, lässt sich nun mit Blick auf den Gegenstand unserer Untersuchung festhalten: Die religiöse Vorstellung eines personalen Gottes, wie sie sich geschichtlich eingestellt und kulturell geformt hat, ist selbst Teil eines spezifischen symbolischen Formungsprozesses. Von daher ist dieser nun genauer zu analysieren, und zwar von Grund auf. Das aber bedeutet, dass wir zurückgehen müssen auf seine elementare Ausdrucksfunktion, die expressive Äußerung im rituellen Handeln. Die ausdrucksanthropologische Orientierung will damit nicht von der Darstellungs- und Bedeutungsfunktion absehen, da doch alle symbolischen Funktionen – auch in der Religion – ineinandergreifen. Narration und Reflexion werden zu ihrem Recht kommen. Zugleich bedingt der Umweg über die Kultur, mit dem der Aufschluss über den Menschen als animal symbolicum gewonnen wird, auch die anthropomorphe Verfassung jeder Wirklichkeitserkenntnis.321 Das entlastet die Religion zwar nicht davon, ihre Vorstellungsgehalte stets kritisch zu hinterfragen; es entbindet aber die Religionskritiker ebenso wenig, ihre Einwände gegen den personalen Gott genauer als nur durch den schlichten Vorwurf des Anthropomorphismus zu explizieren. Wenn gilt, dass der Mythos als Mutterboden aller Kultur zugleich die basale, qualitativ bestimmte Wirklichkeitswahrnehmung darstellt, und wenn ferner gilt: alle anderen symbolischen Formen lassen sich trotz aller Transformationen stets auch wieder auf jenen zurückbeziehen, dann gilt für die Arbeit in und an aller Kultur – auch der Religion – eine Dialektik aus Notwendigkeit zur Umformung symbolischer Formungen (Symbole) und Bereitschaft zu deren permanenter Revision. In der Religion vollzieht sich dies dann exemplarisch vor allem an den
CASSIRER, Logik (Anm. 29), 108f. Vgl. CASSIRER, Metaphysik (Anm. 138), 118.122.206; sowie die Ausführungen hierzu bei: BECKER, Der menschliche Standpunkt (Anm. 53), 271–286. 320 321
7. Cassirers Kulturanthropologie symbolischer Artikulation
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existentiellen Lebensthemen von ‚Leben und Tod‘322. Darüber hinaus zeigt sich für den expressiven Theismus relativ zügig, dass am Anfang seiner kulturellen Artikulationen das Ritual als expressiv-symbolisches Handlungssystem bzw. als expressiv-symbolische Handlungsform steht. In ihm liegen auch die Wurzeln der Religion, so dass man von einer Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals sprechen kann. Nach der ausdrucksanthropologischen hat nunmehr die ritualtheoretische Grundlegung des Expressiven Theismus zu erfolgen.
322
Vgl. CASSIRER, Mythus (Anm. 144), 67.
§ 5 Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals Die Beschäftigung mit Cassirers symboltheoretischer Anthropologie hat mit Blick auf den Kulturbegriff als allgemeinen und das Religionsverständnis im Besonderen zwei aufschlussreiche Dinge erbracht: Zum einen ist Kultur als Praxis zu verstehen, die ihren Sinn in der Welt- und Selbstverständigung hat und durch Entwicklung und Ausdifferenzierung von Symbolsystemen immer komplexer wird. Zum anderen wird Cassirers Religionsverständnis geleitet von der weniger zeitlich denn sachlich gemeinten Vorrangstellung ritueller Praxis vor der mythischen Darstellung: Die Vorstellungen und Meinungen, die der Mensch sich von der Gottheit bildet, und die Bilder, die er sich von ihr entwirft, sind immer nur die vielfältige und bunte Hülle, hinter der sich ein anderer, festerer Gehalt verbirgt. Was der Mensch glaubt, das tritt deutlicher und bestimmter als Vorstellen in der Art des T u n s zutage. Hier muß daher die Frage des Historikers [– und man darf ergänzen: des Religions- als Kulturphilosophen –] einsetzen, wenn er die eigentliche Urschicht des Religiösen aufdecken will. Der R i t u s , nicht der M y t h o s muß ihm als Führer dienen.1
Dies fügt sich nahtlos in unsere pragmatistische Weitung seines Ansatzes. In diesem Kapitel wird daher versucht, Bausteine einer ritualtheoretischen Religionstheorie zu skizzieren, in deren Zentrum die Kategorie der symbolischen Handlung stehen soll. Das Ritual bildet zugleich den sozialen Rahmen (Kontext) wie auch die spezifische Vollzugsgestalt für die Ausbildung von symbolischen Weltbildern, für die Bearbeitung qualitativer Kontingenzerlebnisse sowie für die Prägung von Idealen, die für die menschliche Lebensführung in motivierender und orientierender Hinsicht ausschlaggebend sind. Die anthropologische Perspektive, in der unsere Untersuchung steht, wird jetzt auf die Rolle des Rituals im Kontext von Religion als symbolischer Form konzentriert. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Ritualität und Religiosität 1 C ASSIRER, ERNST, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), ECW, Bd. 5. Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben und Dagmar Vogel, Hamburg: Meiner 2000, 363. Die Bemerkungen stehen im Zusammenhang seiner Behandlung der Wissenschaften von der Religion, also vornehmlich Religionsgeschichte und Religionsethnologie bzw. -soziologie. – Ähnlich schon in: Ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, Das mythische Denken (1924), ECW, Bd. 12. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg: Meiner 2002, 258f.
§ 5 Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals
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prinzipiell zur conditio humana gehören.2 Dementsprechend stehen auch nicht Phänomene der Routinisierung und Ritualisierung im Vordergrund, die im alltäglichen Leben soziale Verhältnisse strukturieren.3 Stattdessen soll mit dem Fokus auf das Ritual mit der Einsicht ernstgemacht werden, dass sich alle religiösen Formungen als soziale Praktiken und als symbolische Handlungen rekonstruieren lassen. In ihnen wird der hermeneutische Hintergrund lesbar, der Erfahrungen eine religiöse Prägnanz geben kann. Ob man beim Versuch, ‚Religion‘ und ‚Ritual‘ als Theoriefiguren in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, eher beim ersten oder zweiten Begriff ansetzt, ist dabei zweitrangig. Jedoch ist an der Ausrichtung an einem kulturanthropologisch gefassten Religionsbegriff festzuhalten, der im Folgenden noch soziologisch untermauert werden soll. Dies hat zudem den Vorteil, in den Bahnen Cassirers zu bleiben, aber die angemahnten Weiterungen im Auge zu behalten. Entscheidend wird sein, ob sich der Zusammenhang von Religion und Ritual darin erhärtet, dass er als die Konstellation verstanden werden kann, die religiöse Erfahrung und ihre Artikulationen ermöglicht. Träfe dies zu, so würden Prägnanz und Plausibilität religiöser Vorstellungen, wie zum Beispiel derjenigen eines personalen Gottes, wesentlich von den rituellen Formen und ihren spezifischen symbolischen Texturen und Klassifikationsschemata abhängen. Zweifelsohne wird mit dem Band zwischen religiöser Vorstellung und ritueller Praxis auf ein wichtiges Erprobungsfeld einer historistisch-pragmatistischen Religionsphilosophie und systematischen Theologie rekurriert. Religion wird dann als soziokulturelles System verstanden, das sich durch Praktiken erhält, stabilisiert und variiert, aber auch kritisieren und destruieren lässt. Nur als Praxis wird religiöse Erfahrung so symbolisch prägnant, dass die dabei verwendeten Deutungsmuster und -modelle sich entweder bewähren lassen oder radikal in Frage gestellt werden können. Dieser elementare Zusammenhang von Handeln, Erfahren und Symbolisieren bildet das Grundgerüst einer ritualtheoretisch grundierten und kulturtheoretisch geweiteten Theorie der Religion.
2 Wie im Laufe der Argumentation noch deutlich wird, soll auch mit den Begriffen von ‚Ritualität‘ und ‚Religiosität‘ vornehmlich auf den Vollzugsmodus von Ritual und Religion abgestellt werden. 3 Vgl. dazu: POLKE, C HRISTIAN, Technik als Ritual, Ritual als Technik. Über einen elementaren Zusammenhang von Transzendenz und Gemeinwohl, in: Anne-Maren Richter/Christian Schwarke (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2014, 187– 201.
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1. Religion als soziokulturelles System: Religionstheoretische Vorüberlegungen 1. Religion als soziokulturelles System
Die systematische Hermeneutik der Personalität Gottes steht unter dem Titel des expressiven Theismus. Diese entspringt einem Verständnis von Religion als eines soziokulturellen Systems, das sich sowohl aus Teilnehmer- als auch aus Beobachterperspektive analysieren lässt. Die soziokulturelle Dimension von Religion umgreift dabei mythische Vorstellungen, kultische Formationen und Ethosgestalten gleichermaßen. Zur Explikation dieses Konzepts möchte ich im Folgenden auf die Ansätze von Émile Durkheim und Clifford Geertz zurückgreifen. Diese ethnologisch-soziologische Schwerpunktsetzung bringt es allerdings mit sich, auf die in gegenwärtigen Religionsdiskursen gängige Vorstellung von der Religion als unverzichtbarem Bestandteil der conditio humana kurz einzugehen. Es gilt, den Verdacht zu entkräften, durch den vermeintlichen Aufweis der Unverzichtbarkeit von Religion die Frage nach dem Sinn und der Berechtigung von Vorstellungen über das Göttliche von vornherein positiv zu beantworten. 1.1 Religion als notwendiges Element der conditio humana? Nur Menschen haben Religion. So jedenfalls lässt sich der gegenwärtige Stand des Wissens knapp zusammenfassen. Montaigne hätte demnach geirrt, als er in Elefanten ‚betende Tiere‘ zu erkennen vermeinte.4 So gesehen lässt sich nur der Mensch als ein animal religiosus bezeichnen. Doch bedeutet diese anthropologische Einsicht auch, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise religiös ist, selbst wenn ihm diese religiöse Seite seiner Existenz gar nicht bewusst ist? Hier gilt es deutlich zu unterscheiden. Die meisten Positionen, die diese Frage positiv beantworten, beruhen zumeist auf metaphysischen Annahmen, etwa der allgemeinen Struktur von Subjektivität, Geist oder Vernunft, die das Spezifikum des Menschseins bilden. Problematisch an dieser Sichtweise ist nun aber, und zwar noch vor jeder Kritik an den in Anschlag gebrachten metaphysischen Basisannahmen, dass sie einer bestimmten Beobachterperspektive den Primat darüber zusprechen, ob und ggf. wie Religion jeweils vorliegt. Dies gilt sogar noch für den Bereich der Erfahrungen. Will aber insbesondere die Theologie weiterhin für sich in Anspruch nehmen, dass die jeweilige Binnenperspektive der Praktikanten ein Eigenrecht in der Analyse von Religion beanspruchen darf, dann gilt dies auch für ihren Kontrahenten, die säkulare Religionskritik. Zwar mag die Behauptung, wonach „Religion als konstitutiv für das Menschsein des Menschen ist“ und es von daher „nie ein allseitig ausgebildetes, unbeschädigtes 4 Die entsprechenden Bemerkungen finden sich in der ‚Apologie für Raymond Sebond‘, vgl.: MONTAIGNE, MICHEL DE, Essais. Zweites Buch. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M.: Eichborn 21998, 165–416, hier: 210.
1. Religion als soziokulturelles System
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menschliches Leben ohne Religion [wird] geben können“5, als theologisches Urteil gerechtfertigt sein, in religionstheoretischer Hinsicht ist es dennoch maßlos überzogen. Wollte man den Gegenbeweis antreten, steht man zudem in Gefahr, den Religionsbegriff so zu überspannen, dass er seine Trennschärfe endgültig verliert. Nun könnte man die These von der Religion als Teil der conditio humana dadurch abschwächen, dass man sie nicht auf jedes Subjekt, sondern auf die soziokulturellen Zusammenhänge anwendet. Dann spräche man davon, dass wir von keiner Kultur und Zivilisation in Geschichte und Gegenwart wissen, die nicht in irgendeiner Form Institutionen und Traditionen kennen, die religiöse Funktionen bedienen. Das ist zwar weitgehend wissenschaftlicher Konsens, doch unumstritten ist auch dieser nicht.6 Und selbst wenn man dereinst einmal zu einem abschließend positiven Resultat käme, bliebe die Frage im Raum, was man damit erreichen wollte. Argumentationsstrategisch wäre der Verdacht eines in Gestalt eines soziohistorischen Arguments auftretenden Gottesbeweises ex consensu gentium kaum von der Hand zu weisen. So sehr damit nämlich Religion als konstitutiver Teil sozialer und kultureller Wirklichkeit ausgezeichnet wäre, religiöse Weltbilder somit als offenkundig kultur- und mentalitätsprägend zu verstehen wären, so wenig folgt daraus etwas für die Natürlichkeit oder gar Rationalität von Religion oder gar des in ihr Symbolisierten (z.B. des Gottesgedankens). Fest stünde lediglich die soziale Konstruktion von beidem, Religion und Religiosität7. Wurden im vorigen Paragraphen steile geschichtsphilosophische Fortschrittslogiken symbolischer Formen als überzogen kritisiert, so gilt auch umgekehrt: keine symbolische Form ist in ihrem Fortbestand ein für alle Mal garantiert.8 Muss man beide anthropologischen Thesen – diejenigen einer notwendig religiösen Seite jedes Menschen und diejenige einer unweigerlich religiösen Dimension jeder Kultur – als überzogen ansehen, so lassen sich gleichwohl die
5 PANNENBERG, W OLFHART, Systematische Theologie, Bd. I, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, 171. 6 Vieles hängt natürlich davon ab, was man unter ‚religiös‘ versteht und woran man religiöse Funktionen – gerade mit Blick auf primäre Gesellschaften – festmachen will. Kritisch zur Notwendigkeit religiöser Funktionen steht: DOUGLAS, MARY, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur (1970), Frankfurt/M.: Suhrkamp 42004, 33–35. 7 Unter ‚Religion‘ verstehe ich in diesem Kontext die auf historische Traditionen aufbauende Lebenswelt der religiösen Praktiken und Institutionen, während mit ‚Religiosität‘ auf das individuelle Bewusstsein der Praktikanten angespielt wird. Beides aber beinhaltet den Vollzugscharakter. Siehe auch Anm. 2. 8 Auf analoge Weise wäre mit der systemtheoretischen Auffassung von der Notwendigkeit von Religion als gesellschaftliches Funktionssystem umzugehen, also z.B. mit dem Ansatz von: LUHMANN, NIKLAS, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000.
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§ 5 Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals
darin zum Ausdruck kommenden, partikularen Wahrheitsmomente aufgreifen. Im ersten Fall würde dies bedeuten, dass Religion als ein elementares wie exemplarisches symbolisches Medium der Selbst- und Weltverständigung betrachtet wird. In diesem Sinne kann sogar an dem unmittelbaren Zusammenhang von Religion und Humanität festgehalten werden. Im zweiten Fall wäre auf die Bedeutung abgestellt, die Religion für die Ausbildung eines mit Sinn bestimmten und von Sinn erfüllten Realitätsbewusstseins hat, das den weiten sozialen und kosmischen Erfahrungsraum prägt. Zwar bieten auch diese Annahmen, so sehr sie kulturwissenschaftlich gerechtfertigt sein mögen, keinen allein wirksamen Schutz gegenüber dem Illusionsverdacht oder -vorwurf radikaler Religionskritiken; doch bewirken sie immerhin, dass im Streit zwischen Gläubigen und ihren Kritikern die Beweislast nicht einseitig auf einer Seite liegt. Im Grunde wird damit erst die Wahrheits- bzw. Geltungsfrage spannend, da weder alle Religionskritiken noch sämtliche Glaubensansichten im gleichen Maße Anspruch auf Konsistenz, Kohärenz und Plausibilität erheben können. Das ‚principle of charity‘ (Davidson) befördert somit allererst den Diskurs um die rechtmäßig verstandene und dann auch beurteilte Religion. 1.2 Religion als kollektive Praxis symbolischen Idealbewusstseins (Émile Durkheim) Der Weg, den Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen hin zu einem Verständnis von Religion und religiösen Vorstellungen als symbolische Artikulationsformen beschritten hat, ist maßgeblich durch Émile Durkheim (1858–1917) geprägt worden. Schon seine These vom Mythos als ‚Mutterboden der Kultur‘ kann sich mit Fug und Recht auf den Franzosen berufen. Wenn Durkheim bemerkt, man wisse seit langem, dass „die Regeln für die Moral und für das Recht bis zu einem relativ späten Zeitpunkt von den Vorschriften für rituelles Handeln nicht unterschieden waren“9, so ließen sich bei Cassirer unzählige Belege für diese Vermutung finden. Zwar sieht er durchaus kritisch, dass Durkheims Ausführungen einem funktionalistischen Religionsverständnis das Wort reden könnten.10 Doch verwahrt sich Durkheim selbst explizit gegen jeden Monopolanspruch funktionalistischer Erklärungsmodelle auf dem Gebiet
9 D URKHEIM ÉMILE, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912). Übersetzt von Ludwig Schmids, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, 560f. Aber auch: a.a.O., 306. 10 Zur Auseinandersetzung Cassirers mit Durkheim vgl.: C ASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken (1924), ECW, Bd. 12. Text und Anmerkungen bearbeitet von, Hamburg: Meiner 2010, 226–229. – Eine eingehendere Untersuchung zum Verhältnis von Cassirer und Durkheim fehlt bis heute leider.
1. Religion als soziokulturelles System
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der Sozialwissenschaft, und zwar schon aus methodischen Gründen.11 Umgekehrt kann eine kulturtheoretische Religionstheorie nicht gänzlich auf funktionale Erklärungsstränge verzichten. Durkheims klassischer Entwurf seiner Religionstheorie liegt in Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912) vor. Darin geht Durkheim bewusst auf die historischen Ursprungsgestalten der Religion zurück, um von dort aus dem Eigensinn der Religion nahe zu kommen. Damit ist aber weder die Ansicht vertreten, nur über die elementaren Religionsformen würde Religion in ihrer reinsten Gestalt erkannt, noch werden die Einsichten in die historische Fortentwicklung religiöser Kulturen und Vorstellungssysteme in Abrede gestellt. Durkheims Religionstheorie ist durch und durch historisch angelegt. Für ihn kann es keine sozialwissenschaftliche Untersuchung geben, die neben der klassifizierenden und kausalen Erklärung von Gegenwartsprozessen nicht auch deren historische Gewordenheit und Präfiguration untersucht.12 Im Gegenteil, die Geschichte wird zum Objekt der Untersuchung, weil in ihr sich die wesentlichen Aspekte der sozialen Konstitution von Mensch und Kultur formen: Die Geschichte ist in der Tat die einzige Methode einer erklärenden Analyse, die man auf sie (sc. die neuesten Religionen; C.P.) anwenden kann. Nur sie erlaubt uns eine Institution in ihre Bauelemente zu zerlegen, weil sie uns diese hintereinander bei ihrer Entstehung in der Zeit zeigt.13
Wenn Durkheim von daher im Unterschied zu anderen Soziologen, etwa dem an gegenwartsnahen Interdependenzen zwischen religiösen und anderen sozialen Faktoren interessierten Max Weber, sich verstärkt den ethnologischen Befunden der frühen Religionsformen, wie sie in der Geschichte überlebt haben, widmet, dann aus dem heuristischen Gesichtspunkt, dadurch schneller und präziser an die „beständigen Elemente (…), was in der Religion ewig und menschlich ist“, an die „objektiven Inhalte der Idee, die man meint, wenn man von der Religion im allgemeinen spricht“14, heranzukommen. Mit dieser Überlegung verbunden ist die ebenfalls häufig missverstandene These, wonach keine Religion von Grund auf falsch sein kann. Damit will
11 Vgl. D URKHEIM, ÉMILE, Regeln der soziologischen Methode (1908). Hg. und eingeleitet von René König, Berlin: Suhrkamp 31970, v.a. Kap. 5, 176–204. 12 Vgl. dazu nach wie vor klassisch: B ELLAH, R OBERT N., Durkheim and History, in: ASR 24 (1959), 447–461. – Damit ist nicht übersehen, dass Durkheim insbesondere mit seinem klassifikatorischen Vorgehen den Rahmen religionsgeschichtlicher Rekonstruktion bewusst sprengen und diese in kategorische Überlegungen einmünden lassen will. 13 D URKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 20. – Eine umfassende Darstellung der Religionstheorie Durkheims, die vom Spätwerk ausgeht, liegt vor bei: PICKERING, WILLIAM S.F., Durkheim’s Sociology of Religion: Themes and Theories, London u.a. Routledge & Kegan Paul: 1984. 14 A.a.O., 22.
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Durkheim nicht die Unterschiede auf dem Gebiet der Religionsgeschichte leugnen. Es gibt sehr wohl deutliche Differenzen zwischen Religionen sowohl hinsichtlich der Werte, die sie verkörpern, als auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Anpassungsfreudigkeit. Was er mit seiner These vielmehr unterstreichen will, ist die anti-reduktionistische Überzeugung, nach der Religionen etwas Reales bearbeiten. Darum betont er, alle sind „auf ihre Art wahr: alle entsprechen, wenn auch auf verschiedene Weisen bestimmten Bedingungen der menschlichen Existenz.“15 Das gilt im Grunde sogar für die sog. ‚primitiven‘ Religionen. Von diesem Ansatz her bleibt die Unterscheidung zwischen ‚primären‘ und ‚sekundären Religionen‘16 berechtigt, aber ihr prinzipieller Rang wird relativiert. In Die elementaren Formen will Durkheim nun der Frage nachgehen, was es eigentlich mit dem auf sich hat, worauf Religionen rekurrieren; welche Seiten der menschlichen Lebensform sie berühren und wie sie zustande kommen. Durkheim greift dabei auf seine Überlegungen zur Soziologie der Erkenntnis und der Moral zurück. Deswegen darf Durkheims Religionsbuch auch nicht aus diesem Zusammenhang herausgerissen werden. Vielmehr bündelt es mit Blick auf die Religion die Grundeinsichten seiner Sozialtheorie. Die Relevanz der Religion erwächst für Durkheim aus einer doppelten Funktion. Zum einen verhilft sie den Menschen dazu, mit Hilfe elementarer Klassifikationen und mittels kollektiver Vorstellungen sich in der Welt zu orientieren und letztere dadurch auch gestalten zu können.17 Darin ist Religion noch Motor für die Entwicklung der Wissenschaften.18 Zum anderen stellt sie diejenigen Regeln bereit, die das gesellschaftliche Zusammenleben benötigt, um nicht in Anomie zu verfallen. Dies erfolgt über die Internalisierung derjenigen Ideale und Werte, welche die Mitglieder einer Gesellschaft innerlich aneinanderbindet.19 Darin ist sie eine,
A.a.O., 19. Diese Unterscheidung hat Theo Sundermeier in die Debatte eingeführt. Vgl. SUNDERMEIER, THEO, Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch (ThB96), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1999, 34–42. 17 Hierzu auch: D URKHEIM, ÉMILE (mit M AUSS, M ARCEL), Über einige primitive Formen der Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen (1901/02), in: Émile Durkheim. Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 169–256. 18 Zwar büßt die Religion ihre Welterklärungsfunktion im Laufe der Geschichte Zug um Zug ein. Doch wirkt sie selbst dort noch nach, wenn es in den Wissenschaften gilt, den Überschuss der Praxis und der (noch) nicht eingeholten Phänomene modellartig fassen zu können. Hier bleibt ein spekulativer Zug erhalten. Vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen, (Anm. 9), 574–577. 19 Die Betonung auf Internalisierung trägt dem Umstand Rechnung, dass im Vergleich zum Frühwerk die späte Religionstheorie Durkheims das Gewicht stärker auf die Attraktivität der in der Religion verkörperten Werte legt. Steven Lukes sieht in der stärkeren Einbeziehung ethnologischer Forschungsergebnisse einen Grund dafür: Vgl. LUKES, STEVEN, Émile Durkheim. His Life and Work: A Historical and Critical Study, London/New York: Penguin Books 15 16
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wenn nicht die Ressource zur Moralentwicklung.20 Beide Momente sind für ein adäquates Verständnis von Durkheims Religionstheorie wichtig. Durkheims Religionstheorie lässt sich somit als Bestandteil einer generellen Anthropologie lesen. Dem hat er selbst in einem Debattenbeitrag über die wesentlichen Einsichten seines Religionsbuches zugestimmt. Es sind für ihn vor allem zwei Gesichtspunkte, die den Rang von Die elementaren Formen ausmachen: erstens das, was er „le caractère dynamogenique de la religion“21 nennt, d.h. die Einsicht in die kollektive Dynamik von Religion als gesellschaftsstiftender Macht; zweitens, der Hinweis auf die „dualité de la conditione humaine“22, also auf den Doppelaspekt der menschlichen Natur. Mit dem ersten Punkt ist auf den Zustand angespielt, dem alle religiösen Vorstellungen und moralischen Ideale entspringen: der kollektiven Ekstase. Durch den zweiten wird auf die anthropologischen Bedingungen rekurriert, ohne die sich Ideale und Werte gar nicht ausbilden lassen: die ‚moralische Seite‘ der humanen Lebensform, die, von der physischen Seite unterschieden, Gesellschaftsbildung und Kulturentwicklung notwendigerweise nach sich zieht.23 Durkheim geht es um den Stellenwert der Religion im menschlichen Handeln und in der darauf aufbauenden sozialen Ordnung.24 Vor diesem Hintergrund gibt Durkheims seine berühmte Religionsdefinition: Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die
1975, 240–244. – Grundsätzlich zum Thema von Religion und Werte bei Durkheim: JOAS, HANS, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, 87–109. 20 Durkheims Zusammenhang von Normativität und Ritus ist von Sozialtheoretikern wie Jürgen Habermas und Hans Joas in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und verarbeitet worden. Vgl. meine Darstellung in: POLKE, CHRISTIAN, Die Idee der Menschenwürde. Zwischen Sakralität der Person und Versprachlichung des Sakralen, in: BThZ 30 (2013), 254–279. 21 Vgl. D URKHEIM, ÉMILE, Le problème religieux et la dualité de la nature humaine (1913), in: Ders., Religion, Morale, Anomie. Textes II, hg. v. Victor Karady, Paris: Les Éditions de Minuit 1975, 23–64, 37. 22 Ebd. 23 Entgegen einem häufigen Missverständnis diffundieren bei Durkheim die gesellschaftliche und die kulturelle Seite der Conditio Humana nicht. Vielmehr kennt auch er eine kulturelle Eigenlogik, die sich auf dem Boden sozialer Zusammenhänge vollzieht. Vgl. DURKHEIM, ÉMILE, Individuelle und kollektive Vorstellungen (1898), in: Ders., Soziologie und Philosophie. Mit einer Einleitung von Theodor W. Adorno, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 45–83, 63f.71–83. 24 Diese Kontextualisierung von Durkheims Religionstheorie hat prominent vertreten: PARSONS, TALCOTT, Durkheim on Religion Revisited: Another Look on The Elementary Forms of Religious Life (1973), in: Ders., Action Theory and the Human Condition, New York/London: The Free Press/Macmillan 1978, 212–232, 213. – Im Übrigen passt auch für Durkheims Buch der Untertitel von James’ Varieties: A Study in Human Nature.
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in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.25
Religion bildet somit ein Set von kollektiven Vorstellungen und Riten, die zusammen so etwas wie eine Weltsicht und ein Ethos bilden. Demnach weist sie mehrere Dimensionen auf: eine metaphysische und eine klassifikatorische, eine kommunitäre und eine ethische, sowie eine diese alle umfassende rituelle. Dabei stellt Religion nicht das Produkt individueller Vorgänge dar, sondern konstituiert sich sozial. Das macht für Durkheim zugleich ihre Objektivität aus, ohne die nicht zu verstehen wäre, inwiefern sie als eine Macht von ‚außen‘ erlebt, gefühlt und begriffen wird. Nur auf diese Weise kann man darüber hinaus den Realitätsanspruch der Religion unvoreingenommen und d.h. wissenschaftlich untersuchen. Dabei hebt sich Religion von anderen Aspekten des Zusammenlebens dadurch ab, dass sie eine basale Leitdifferenz impliziert: die Unterscheidung zwischen ‚sakral‘ und ‚profan‘. Auf deren Basis gründet die spezifisch solidarische und moralische Natur des Gemeinschaftscharakters von Religion. Durkheims Unterscheidung von ‚sakral‘ und ‚profan‘ als Grundkategorie der Religionstheorie hebt sich deutlich ab von den zeitgenössischen Debatten um Ur-Monotheismus und Animismus. Gegenüber den enggeführten Diskursen, die das Vorliegen einer Gottes- oder Transzendenzvorstellung als Bedingung für Religion ansehen, entgrenzt und präzisiert Durkheim die Debatte. Ganz analog zu Rudolf Otto26 setzt bei Durkheim Religion mit der emphatischen Unterscheidung, mitunter gar Scheidung zweier Wirklichkeitsaspekte oder -bereiche ein. Sakrale und profane Realität stehen in Spannung und gerade dadurch wird das Besondere des Religiösen fassbar. Das ‚Heilige‘ ist anziehend, attraktiv, und erschütternd, abstoßend, zugleich. Auf letzterem beruht seine tabuisierende Kraft. Zusammen entsprechen diesem Zug negative und positive Riten
25 D URKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 75. – Günther Thomas hat zu Recht auf die Problematik dieser Übersetzung hingewiesen und als Alternative vorgeschlagen: „‚Eine Religion ist ein gemeinschaftliches System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, bezogen auf heilige Dinge, d.h. abgegrenzte und verbotene Dinge – Glaubensvorstellungen und Praktiken, die in der gleichen moralischen Gemeinschaft, genannt Kirche, alle vereinigen, die ihnen anhängen‘“ (THOMAS, GÜNTHER, Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation, Würzburg: Ergon 2001, 135). – Auch wenn ich mich im Folgenden weiter an die gängige Übersetzung halte, stimme ich den Einwänden von Thomas ausdrücklich zu (vgl. ebd., Fn. 169). 26 Vgl. O TTO, R UDOLF, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München: Beck 221932, 5–7.13–27.42–52, einerseits und DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 548–555, andererseits. – Einen kurzen Vergleich zwischen Otto und Durkheim zieht: HATZFELD, HENRI, Les Racines de la Religion. Tradition, Rituel, Valeurs, Paris: Èditions du Seuil 1993, 27–29.
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einerseits, obligatorische Gebote und attraktive Ideale andererseits.27 Schon aus diesem Grund können und müssen Sakrales und Profanes ständig in Kontakt sein und in Kommunikation treten können. Andernfalls verlöre die Differenz ihre Wirkung.28 In gewisser Weise zeigt sich hier die Dualität der menschlichen Natur, repräsentiert durch die Sphären der natürlichen Bedürfnisse und der moralischen Ideale. Dabei bleibt wichtig, dass das Subjekt beider Sphären nicht der einzelne Mensch, sondern die Gesellschaft ist; auch wenn Durkheim nicht müde wird zu betonen, dass diese stets aus Individuen zusammengesetzt wird: Das allgemeine Ergebnis (…) ist, daß die Religion eine eminent soziale Angelegenheit ist. Die religiösen Vorstellungen sind Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken; die Riten sind Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geisteszustände dieser Gruppen aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen.29
Durkheims Insistieren auf der Sozialität von Religion30, d.h. ihrer sozialen Genese und Formation, geht Hand in Hand mit der emphatischen Betonung ihrer Ritualität. Zwar behandelt er im Religionsbuch religiöse Vorstellungen und Riten parallel, doch besteht kein Zweifel daran, dass für ihn alle religiösen Vorstellungen sozialen Handlungssituationen entspringen, d.h. rituell formiert und gebildet werden. Durkheim geht wie Cassirer vom sachlichen und historischen Primat des Ritus vor dem Mythos aus. In seiner Analyse des Totemismus31 widmet er sich deswegen nicht nur den einzelnen Klassifikationen und Kategorien dieses primären Religionssystems, sondern will darüber hinaus zeigen, dass sich die Realität und Wirksamkeit religiöser Vorstellungen einer Gemeinschaft im rituellen Handlungskontext kollektiver Erfahrungen einstellen und sich darüber auch effektiv erneuern bzw. stabilisieren. Insofern ist das Ritual für Durkheim der entscheidende Ort, an dem sich die Genese von Religion aufzeigen
27 Vgl.: D URKHEIM, Bestimmung der moralischen Tatsache (1906), in: Ders., Soziologie und Philosophie (Anm. 23), 84–136. 28 Vgl. D URKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 65f. 29 A.a.O., 28. 30 Vgl. auch die folgende Bemerkung: „Es ist keinesfalls zutreffend, daß das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt, durch irgendeine innewohnende Kraft des Individuums entsteht, vielmehr lernt das Individuum eher in der Schule des kollektiven Lebens zu idealisieren. Indem der Mensch Ideale aufnimmt, die durch die Gesellschaft erarbeitet worden sind, wird er fähig, das Ideale zu erfassen“ (a.a.O., 566). 31 Auch wenn diese Kategorie religionshistorisch höchst fragwürdig geworden ist, kann sie in analytischer Hinsicht weiterhin für eine Heuristik religionstheoretischer Diskurse hilfreich sein. Dazu siehe die meisterhafte Darstellung von: JONES, ROBERT A., The Secret of the Totem: Religion and Society from McLennan to Freud, New York: Columbia Univ. Press 2005.
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lässt.32 Garantiert dessen Regelmäßigkeit relative Stabilität und Routine, stellt seine soziale Atmosphäre zugleich den Rahmen für das bereit, was Durkheim unter dem Stichwort der „Efferveszenz“33 als kollektiv-ekstatische Erfahrungen begreift. Auf dynamische und deswegen stets kontingente Weise entsteht dank ritueller Praktiken das Gefühl einer solidarischen Verbundenheit im Modus kollektiver Selbsttranszendierung. So stiften Rituale Gemeinschaft. Dabei schildert Durkheim die Erfahrungen von Sakralität, die den Einzelnen einerseits in eine Gemeinschaft hineinbettet und andererseits ihn als spezifisches Glied einer Gemeinschaft auszeichnet, als einen hoch emotionalen und energetischen Vorgang: Es gibt sozusagen keinen Augenblick in unserem Leben, in dem uns nicht ein Energiefluß von außen erreicht. Der Mensch, der seine Pflicht erfüllt, findet in allen möglichen Bezeugungen an Wertschätzung, Sympathie und Zuneigung, die seine Mitbürger für ihn empfinden, jenes Gefühl der Stärkung, das er zumeist nicht wahrnimmt, das ihn aber aufrichtet. Das Gefühl, das die Gesellschaft für ihn hat, erhöht das Gefühl, das er von sich selber hat.34
Dienen Rituale auf der einen Seite der Selbstvergewisserung symbolischer Bedeutungsdimensionen alltäglichen Lebens, so sind sie auf der anderen Seite auch Bildungsstätte religiöser Heilsvorstellungen und moralischer Ideale. Das erfolgt nicht ein für alle Mal, sondern dank der stetigen Wiederholung. Dazu dienen u.a. kalendarische Ordnungen, welche die zyklische Abfolge der Rituale festlegen und so im Rhythmus von Alltag und Fest die Differenz von sakral und profan zeitlich symbolisieren und institutionalisieren.35 Sowohl Stabilisierung als auch Erneuerung gesellschaftlicher Zusammenhänge lassen sich nicht ohne solche Handlungskontexte verstehen, die den Kern religiöser Lebensformen bilden. Rituale erzeugen eine dichte Atmosphäre, die hoch emotional aufgeladen ist und deswegen einen Raum intensiver Begegnung bildet, der Erfahrungen evoziert. Generell ist Durkheim an der Körperlichkeit ritueller Vollzüge interessiert, die zugleich Verkörperungen und Prägekräfte symbolischer Ideale sind.36 Das macht aber Rituale und mit ihnen Religionen weder mystisch noch irrational.
32 Vgl. B ELLAH, R OBERT N., Durkheim and Ritual, in: Jeffrey C. Alexander/Philip Smith (Hg.), The Cambridge Companion to Durkheim, Cambridge (UK) u.a.: Cambridge Univ. Press 2005, 183–210. 33 Hier zeigt sich am deutlichsten die Schwäche der deutschen Übersetzung, die von „Gärung“ redet. Vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 295–301.565. 34 A.a.O., 291. 35 Vgl. a.a.O., 441–472 (Beschreibung des intichiuma-Rituals). 36 Auf die körperliche Seite symbolischer Artikulation und deren Einfluss auf die Prägung von Erfahrungen ist Durkheim besonders bei der Darstellung von Trauerriten eingegangen. Vgl. a.a.O., 523–540.
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Die Bildung eines Ideals ist also keine irreduzible Tatsache, die der Wissenschaft nicht zugänglich ist (…) Es ist ein natürliches Produkt des gesellschaftlichen Lebens. Damit die Gesellschaft sich ihrer bewußt werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muß sie versammelt und konzentriert sein. Dann bewirkt diese Konzentration eine Überschwänglichkeit des moralischen Lebens, die sich in einer Summe von idealen Vorstellungen äußert, in denen sich das neue Leben abzeichnet, das damit erwacht ist. Sie entsprechen jenem Zustrom von psychischen Kräften, die zu jenen hinzutreten, derer wir uns für die täglichen Aufgaben der Existenz bedienen. Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert.37
Streng genommen kann Religion demnach kein Substitut für etwas sein, das die gleiche Leistung auch anders vollbringen könnte als durch den rituellen Vollzug, wie er im Zitat beschrieben wurde. Auch fallen weder Gesellschaft noch Ideale, geschweige denn ‚Gott‘ und ‚Gesellschaft‘ zusammen. Denn die in den symbolischen Handlungen (Riten) erzeugten Ideale lassen sich zwar auf Vorstellungen bringen, die durchaus ihren Kontext widerspiegeln und dies auch sollen, um als Klassifikations-, Ordnungs- und Orientierungsmuster zu fungieren; doch macht es gerade ihre Eigenart als Ideale oder Werte aus, dass sie von jener elementaren Spannung zwischen Idealem und Realem leben, die bereits ihren rituellen Entstehungskontext prägt.38 In dieser Spannung stehen noch moderne Gesellschaften und zeugen von daher für die Fortdauer der Unterscheidung zwischen Sakralem und Profanem.39 Zudem werden Ideale bzw. Vorstellungen vom Idealen, wozu auch Gottesvorstellungen zählen, nicht bewusst erzeugt. Was Durkheim in der Figur des kraft- und machtvollen Mana40, das persönlich oder unpersönlich Individuen und Kollektive formt, zum Ausdruck A.a.O., 565. Anne Warfield Rawls hat zu Recht betont, wie entscheidend das Ritual für das Verstehen von Durkheims Religionstheorie ist. Jedoch gewinnt bei ihr die emotionale Seite des Rituals so sehr die Oberhand, dass sie sie gegen die Eigenbedeutung der Repräsentationen ausspielt. Doch Durkheim ist eben kein Vertreter einer emotiv-expressionistischen Religionstheorie, für die Religion lediglich den Ausdruck und die expressive Bearbeitung von ansonsten unzugänglich bleibenden emotional-affektiven ‚Innen‘schichten bildet. Vgl. WARFIELD RAWLS, ANNE, Durkheim’s Treatment of Practice: Concrete Practice vs. Representation as the Fundation of Reason, in: JCS 1 (2003), 33–68. 39 So zu Recht Robert Bellah in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe der Schriften Émile Durkheims: „When we read in The Elementary Forms of the Religious Life that society is the ‚real‘ object to which the word ‚God‘ points, it is well to remember that Durkheim uses the word ‚society‘ in ways closer to theology than to empirical science. It is not that Durkheim makes an empirical society into an idol. It is that he so elevates, purifies, and deepens the word ‚society‘ that it can, not unworthily, take the place of the great word it supersedes“ (BELLAH, ROBERT N., Introduction, in: DURKHEIM, ÉMILE, On Morality and Society, hg. und eingeleitet von Robert N. Bellah, Chicago (Il): Univ. of Chicago Press 1973, ix–x). 40 Zum Begriff des Mana als Grundbegriff religiöser und allgemeiner Kraftvorstellung, vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 260–282. 37 38
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bringt, lässt sich funktional auf nicht-primäre bzw. -primordiale Gesellschaften dahingehend übertragen, dass es zum Spezifikum religiöser Erfahrungen gehört, dass das, was erfahren wird, diejenigen, die es erfahren, zugleich übersteigt und prägt.41 Zwar bedarf das, was als Ideal erfasst wird, stets eines materiellen Substrats, weil es ohne symbolische Verkörperung keinerlei Prägekraft entfalten könnte. Hierfür steht bei Durkheim vornehmlich das Totem, das „vor allem ein Symbol, ein materieller Ausdruck von etwas anderem“42 ist. Doch ist es genau darin Symbol, dass die durch es repräsentierte sakrale Macht oder Qualität weit darüber hinausreicht. Nun mag man zu Recht kritisieren, dass bei Durkheim das Kollektiv einseitig betont wird.43 So sind gewiss Korrekturen angebracht, wenn es um das Gewicht religiöser Erfahrungen geht, die Individuen für sich machen, oder auch mit Blick auf durch einzelne Personen ausgelöste religiöse Reformationen und Revolutionen. Aber es wäre ein Missverständnis, würde man nicht auch an den stark personalistischen Zug von Durkheims Theorie erinnern, der das einzelne Subjekt stets im Kontext symbolisch-praktischer Sozialität verortet und umgekehrt. 44 Für unseren kulturtheoretischen Ansatz ist ohnehin ein anderer Aspekt von entscheidender Relevanz: Durkheims Sicht auf den Ritus als sozialer und symbolischer Handlung, innerhalb derer religiöse Vorstellungen ihre Bedeutung erhalten. Mit Durkheim erhält die These von der Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals ihre erste Kontur, und zwar dergestalt, dass noch für moderne Gestalten von Religion und Weltanschauung die beschriebene Dynamik aus Zuständen kollektiver Erregung (Efferveszenz) und faktischer Idealbildung (Symbolisierung) gilt.45 Deswegen beruht Religion demnach wesentlich auf rituellem Handeln. Die darin symbolisch zum Ausdruck kommenden Glaubensüberzeugungen integrieren Menschen in einen umfassenderen Kontext und behaupten für ihn Realität und Triftigkeit. Der damit implizierte Wirklichkeitsanspruch 41 Vgl. a.a.O., 288–295, wo Durkheim mit Verweis auf die Französische Revolution (vgl. a.a.O., 294) und andere historische Ereignisse die Kontinuität dieses Prozesses über archaische Kulturen hinaus darlegt. 42 A.a.O., 284. 43 So urteilt zu Recht Hans Joas, dessen Korrekturvorschlag auf eine Kombination der Einsichten von James und Durkheim hinausläuft: JOAS, Entstehung (Anm. 19), 107f. 44 Vgl. D URKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 468f. – Zu Durkheims Personalismus siehe: KARSENTI, BRUNO, La société en personnes. Études durkheimiennes, Paris: Economia 2006. 45 Durkheim kommt deswegen in seinen Ausführungen in Die elementaren Formen immer wieder auf die eigene Lebensgegenwart zu sprechen. Vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 294f.571f. – Die deutlichste Anwendung seiner Religionstheorie auf die Moderne ist gewiss seine Rede von der ‚Sakralität des Individuums‘ als modernes Konzept von Zivilreligion. Siehe: DURKHEIM, ÉMILE, Der Individualismus und die Intellektuellen (1898), in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, 54–70.
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wird – wie bereits betont – von Durkheim nachgerade nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Zu bewähren hat er sich allerdings in praxi. Das teilt Religion mit den modernen Wissenschaften.46 Übertragen auf das Wort ‚Gott‘ oder gar ‚personaler Gott‘ bedeutet dies, dass es weniger ein axiomatischer Begriff oder Terminus ist, sondern ein symbolisches Wort, in dem ein gemeinsamer Erfahrungsprozess gefasst und artikuliert wird, dessen Realitätsgehalt wie lebensprägende Wirksamkeit davon abhängt, ob sich dieser Prozess im rituellen Handeln stets erneut einstellt und darüber hinaus im Alltag sich bewährt. Hier zeigt sich Durkheim als wachsamer, wenngleich kritischer Beobachter des Pragmatismus. Was er mit diesem teilt, zeigt das abschließende Zitat, das ihn in eine überraschende Nähe zu einem protestantisch gestimmten, wenngleich ritualtheoretisch geerdeten Glaubensbegriff bringt:47 Wer eine Religion wirklich praktiziert hat, weiß genau, daß es der Kult ist, der die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt, die für die Gläubigen der Erfahrungsbeweis für seinen Glauben ist. Der Kult ist nicht einfach ein System von Zeichen, durch die sich der Glaube äußert, sondern die Summe der Mittel, mit denen er sich erschafft und periodisch wiedererschafft. Ob der Kult aus materiellen Handlungen oder aus geistigen Operationen besteht, ist gleichgültig; immer ist es der Glaube, der wirkt.48
1.3 Religion als kulturelles Symbolsystem (Clifford Geertz) Nach Durkheim ist es im 20. Jahrhundert vor allem Clifford Geertz (1926– 2006) gewesen, der ein Religionskonzept entwickelt hat, das sich stark aus Einsichten der Ethnologie, Soziologie und Geschichte speist.49 Auch für Geertz
So argumentiert Durkheim etwa in der Auseinandersetzung mit Max Müller: vgl. DURKDie elementaren Formen (Anm. 9), 116–122. – Durkheim hat sein Verständnis von Realität, Wahrheit und Wissenschaft mit Blick auf die Religion bereits zuvor skizziert in: DURKHEIM, ÉMILE, Science et Religion, in: Ders., Religion, morale, anomie (Anm. 21), 141– 148. Zum Ganzen siehe auch den Überblick bei: PICKERING, Durkheim’s Sociology (Anm. 13), 205–224. 47 Vgl. seine späte Abhandlung: D URKHEIM, ÉMILE, Pragmatismus und Soziologie, in: Ders., Soziologie der Erkenntnis (Anm. 17), 9–168. – Durkheims Missverständnis des Pragmatismus ist typisch für die Zeit, kritisiert er doch dessen Wahrheitstheorie als utilitaristisch. Doch die pragmatistischen Züge, v.a. seiner Religionssoziologie, sind schon früh bemerkt worden, etwa von: PARSONS, TALCOTT, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers (1937). With a new Introduction, Bd. I: Marshall, Pareto, Durkheim, London/New York: The Free Press Macmillan 1968, 440, Fn. 1. 48 D URKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9) 559. 49 Eine knappe, gute Skizze von Geertz’ Religionstheorie bietet: G RÄB, W ILHELM, Clifford Geertz. Religion dicht beschreiben, in: Volker Drehsen/ders./Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 204–215. – Darüber hinaus aus kulturwissenschaftlicher Sicht: KUMOLL, KARSTEN, Clifford Geertz (*1926). Von 46
HEIM,
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kommt dem Ritual eine wichtige Bedeutung beim Verstehen von Religion zu. Darüber hinaus aber gilt sein Augenmerk vor allem den religiösen Grundfunktionen, wie sie sich kulturell gestalten lassen. In großer Nähe zu Cassirer begreift Geertz Religion als kulturelles Symbolsystem. Seine vielzitierte Religionsdefinition findet sich in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel Religion as Cultural System (1965): Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. 50
Um genauer zu erfassen, was Geertz mit der Behauptung meint, Religion sei eine symbolische und kulturelle Größe, ist kurz auf sein Kulturverständnis einzugehen. Es speist sich aus seinem Selbstverständnis als Ethnologe und deskriptiver Kulturwissenschaftler, der die Wissenschaftsmethodik seiner Disziplin(en) auf die Formel von der ‚dichten Beschreibung‘ gebracht hat. Mit ihr erst konstituiert der Kulturwissenschaftler sein Untersuchungsobjekt. Das ist nicht kulturalistisch zu verstehen, da der dabei in Anschlag gebrachte Kulturbegriff sich stark an Weber orientiert und Kultur generell als Netz oder Set von als sinnhaft gedeuteten, symbolisch strukturierten Handlungen bzw. Handlungsmustern begreift: Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich (…) zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“ 51
Geertz‘ Methode der dichten Beschreibung lebt von der Prämisse, dass ohne rekonstruierende Interpretationsleistung Kultur nicht als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand greifbar, geschweige denn verstehbar wird.52 Beides aber ist elementare Aufgabe von Wissenschaften, wie die der Ethnologie. So der dichten Beschreibung zur Heterogenität der kulturellen Systeme, in: Martin L. Hofmann/Tobias F. Korta/ Sibylle Nikisch (Hg.), Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 271–292. 50 G EERTZ, C LIFFORD, Religion als kulturelles System (1966), in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21991, 44–95, 48. 51 G EERTZ, C LIFFORD, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur (1973), in: a.a.O., 7–43, 9. – Der englische Originaltitel der Aufsatzsammlung lautet dementsprechend auch The Interpretation of Culture. 52 Daher könnte man bei der interpretatorischen Anthropologie von Geertz von einer Theorie zweiter Ordnung sprechen Vgl. BURKARD, FRANZ-PETER, Anthropologie der Religion. E.B. Tylor, B. Malinoswki, C. Lévi-Strauss, C. Geertz, Dettelbach: Röll 22011, 153–185.
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schärft er seinen Kulturbegriff ganz wesentlich an dieser Disziplin. Dabei wird Kultur als „ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen (wie ich unter Nichtbeachtung landläufiger Verwendungen Symbole bezeichne)“53 von gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Prozessen abgehoben, stellt sie doch „keine Instanz [dar; C.P.], der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse zugeordnet werden können. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sein können.“54 Auf die Problematik dieser scharfen Abgrenzung ist gleich noch einzugehen. Zunächst sind jedoch die Vorzüge seines Kultur- und mit ihm seines Religionskonzepts zu würdigen. Kultur und Religion sind deswegen sowohl beobachtbar wie beschreibbar, und zwar von ‚innen‘ wie von ‚außen‘, weil sie öffentliche Größen sind. Man würde somit grundsätzlich das Objekt der Beschreibung verfehlen, wenn man ihm einen rein privaten oder vornehmlich subjektiven Status zuschreiben würde. Der Angelpunkt des semiotischen Ansatzes liegt (…) darin, daß er uns einen Zugang zu der Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so daß wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können.55
Dies können wir, weil es zu unserer humanen Lebensform gehört, uns im Handeln sinnhaft zu äußern und Bedeutung symbolisch in Dokumenten, kulturellen Artefakten, Texten etc. zu verkörpern und zu objektivieren. Auch nach Geertz ist der Mensch somit ein ‚animal symbolicum‘, ein natürliches Lebewesen, dessen Lebensform durch Bedeutungsträger und Sinnmedien geprägt ist, die es selbst kreativ erschaffen hat.56 Auf diesen Handlungsaspekt von Kultur muss es den Kulturwissenschaften ankommen, wenn sie versucht, „die Symbolsysteme anderer (…) aus der Sicht der Handelnden darzustellen“57. Ein hermeneutisches Verständnis der Sozialwissenschaften begreift Handlungen als symbolische Texte, die sie methodisch auf ihren Sinn hin zu lesen bemüht sind. Dabei wird dieser hermeneutische Zugriff nicht als der einzig mögliche verstanden. Für Geertz geht soziales Handeln nicht in seinen symbolischen Dimensionen auf. Vielmehr ist es das relative Proprium der Kulturwissenschaften, diese symbolische
GEERTZ, Dichte Beschreibung, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 21. Ebd. 55 A.a.O., 35. 56 Durch alle Werkhasen hindurch vertritt Geertz eine Ko-Evolution von Kulturtechniken und symbolischen Selbstbewusstsein. Vgl. GEERTZ, CLIFFORD, The Impact of the Concept of Culture on the Concept of Man (1966), in: Ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York: Basic Books 1973, 33–54; Ders., The Growth of Culture and the Evolution of Mind (1962), in: a.a.O., 55–83, sowie Ders., Culture, Mind, Brain/Brain, Mind, Culture (2000), in: Ders., Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics, Princeton/Oxford: Princeton Univ. Press 2000, 203–217. 57 G EERTZ, Dichte Beschreibung, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 21f. 53 54
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Dimension zu rekonstruieren. Mit ihr kann zudem eine Lebensweltnähe bewahrt werden, wie sie anderen Disziplinen schon aus methodischen Gründen nicht möglich ist. Alle Auseinandersetzung mit den symbolischen Dimensionen sozialen Handelns – Kunst, Religion, Ideologie, Wissenschaft, Gesetz, Ethik, Common Sense – bedeutet keine Abwendung von den existentiellen Lebensproblemen zugunsten eines empyreischen Bereichs entemotionalisierter Formen, sondern im Gegenteil den Sprung mitten hinein in diese Probleme.58
In der Fluchtlinie dieser Ausführungen kann man Religion ebensowenig von den Sphären politischer und ökonomischer Macht trennen, wie man sie in ihnen aufgehen lassen kann. Obschon Geertz an den Verschränkungen der Bereiche weniger interessiert ist als an ihrem symbolischen Eigenwert, so ändert das nichts daran, dass seine Theorie sehr wohl für diese sensibel ist.59 Zudem stehen alle kulturellen Symbolsysteme als Weisen des Welterschließens und der Lebensbewältigung unter dem Druck ihrer lebensweltlichen Bewährung; und schon das nötigt zum Umgang mit dem Phänomen der Macht. Mit dieser Bewährungsprobe hängt der hervorgehobene Status des Common Sense als kulturellem System zusammen, der für die Theorie von Geertz ebenfalls spezifisch ist. Denn trotz ihres holistischen Ausgriffs prägt die Religion – ebenso wie andere hochstufige Symbolsysteme – das Leben und Handeln der Menschen keineswegs am nachhaltigsten. Diese Rolle kommt vielmehr dem Common Sense zu. Dessen Wahrnehmungsmuster und eingespielte Handlungspraxen bilden den Bodensatz der menschlichen Lebenswelt, den zu prägen, andere kulturelle Symbolsysteme sich bemühen. Nur wenn es ihnen gelingt, ihre Überzeugungen, Wertmuster und Praktiken partiell in den Common Sense einzuspeisen, können auch sie auf Dauer überleben.60 Der Common Sense stellt A.a.O., 43. Den Vorwurf, Religion als diskursive Macht völlig vernachlässigt zu haben und stattdessen durch einen protestantisch gefärbten Religionsbegriff ihrer kolonialistischen Essentialisierung Vorschub geleistet zu haben, hat Talal Asad gegen Geertz erhoben. Abgesehen von der vor allem für den späten Geertz unzutreffenden Unterstellung operiert Asad mit einem an Foucault angelehnten Machtbegriff, der programmatisch inhaltsentleert, seine eigenen, viel schwerer wiegenden Probleme mit sich führt. Vgl. ASAD, TALAL, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore/London: The Johns Hopkins Univ. Press 1993, 27–54; zu Foucault a.a.O., 88–90.106–115. – Maßvoller und konstruktiver in seiner Kritik an der Unterbelichtung der diskursiven Machtförmigkeit von Religion ist hingegen Stephen Bush. Vgl. BUSH, STEPHEN, Visions of Religion. Experience, Meaning, and Power, New York: Oxford Univ. Press 2014, 34–40.91–103. 60 Am Beispiel der Säkularisierung zeigt Geertz diesen Vorgang für die Religion auf. Zwei Parameter dienen ihm dabei als Indikatoren: die ‚Intensität‘ eines kulturellen Systems und die ‚Reichweite‘ seiner Ordnungsfunktion für soziale Kontexte. Vgl. GEERTZ, CLIFFORD, Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, 148–168, bes. 160–162. 58 59
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aber nicht nur den Bewährungsort kultureller Symbolsysteme dar. Vielmehr verkörpert er jenes Alltagswissen, in welchem notwendiges Faktenwissen und die Fähigkeit zur praktischen Bewertung von Situationen und Dingen so zusammenkommen, dass sie sich nicht mehr voneinander trennen lassen. In diesem Sinne meint Common Sense „das, was jeder mit gesundem Menschenverstand weiß.“61 Doch kehren wir zur Religionsdefinition zurück. Religion gestaltet sich nach Geertz in die Dimensionen von Ethos, Weltanschauung und Ritus aus. Wie schon bei Durkheim machen sich dabei symbolische Unterscheidungen von ‚sakral‘ und ‚profan‘ bemerkbar, die die Qualität des Religiösen als kulturellem Gegenstand kennzeichnen. Dabei verbinden die Vorstellungen vom Sakralen das profane Weltbild und Ethos so miteinander, dass sie einen umfassenden Sinn erhalten: [H]eilige Symbole haben die Funktion, das Ethos eines Volkes – Stil, Charakter und Beschaffenheit seines Lebens, seine Ethik, ästhetische Ausrichtung und Stimmung – mit seiner Weltauffassung – dem Bild, das es über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit hat, seine Ordnungsvorstellungen im weitesten Sinne – zu verknüpfen. Religiöse Vorstellungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas intellektuell Glaubwürdigen, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen, die vollkommen jenen tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, wie sie die Weltauffassung beschreibt. Die Weltauffassung hingegen machen sie zu etwas emotional Überzeugendem, indem sie sie als Bild der tatsächlichen Gegebenheiten darstellen, das einer solchen Lebensform ganz besonders nahekommt.62
Anders formuliert: Orientierung- und Motivationsfunktion gehen mit Blick auf die religiöse Lebenseinstellung und Lebensweise Hand in Hand. Kognitive, moralische und ästhetische Aspekte, die die alltägliche Lebensweise prägen, werden mit der Aura des Heiligen zusätzlich plausibilisiert und stabilisiert, u.U. aber auch kritisiert. Denn Religion steht für die ultimative Dimension sinnhaften Handelns in sozialen Zusammenhängen. In diesem Sinne geht es um die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ im Miteinander und Gegenüber zur Wirklichkeit des Alltags, zur Wirklichkeit von Recht, Herrschaft und anderen Wissens- und Handlungsbereichen. Dabei hat Religion ein inhaltliches Spezifikum, das zugleich verhindert, in der Emphase für die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ einen Überbietungsgestus zu erkennen, den sie bei Geertz gerade aufgrund seiner Würdigung des Common 61 Vgl. G EERTZ, C LIFFORD, Common Sense als kulturelles System (1975), in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 261–288, 266. – Hinter der Auszeichnung des lebensweltlichen Alltags stehen Einsichten seines Lehrers Alfred Schütz, der den Alltag als ‚paramount reality‘ bezeichnet und ihn unter Betonung seines Handlungscharakters gegenüber allen anderen partiellen Sinnprovinzen herausgehoben hat. Vgl. SCHÜTZ, ALFRED, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten (1945), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Mit einer Einführung von Aron Gurwitsch und einem Vorwort von H.L. van Breda, Den Haag: Nijhoff 1971, 237–298. 62 G EERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 47.
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Sense gar nicht haben kann. Ihr Thema liegt in der Sensibilisierung für die Kontingenzhaftigkeit der Wirklichkeit und mit ihr allen Handelns. Zu deren Bearbeitung stellt sie ein umfassendes Modell von Wirklichkeit (‚concept of reality‘) bereit, das sich an drei Problemkreisen besonders abarbeitet: erstens, den Fragen, die positiv oder negativ mit den Grenzen unseres Wissens zu tun haben; zweitens, den Situationen, die uns die Abgründigkeit und Destruktivität unseres Handelns aufzeigen; und drittens, den Momenten, in denen wir an die Grenzen unserer physischen und psychischen Belastbarkeit geraten (z.B. im Leiden). Allen diesen Problemkontexten ist gemeinsam, dass hier prinzipiell das semiotische Gewebe der Kultur und somit jede Form von Handlungssinn in Frage steht bzw. gestellt wird: Es gibt mindestens drei Punkte, an denen das Chaos – ein Aufruhr von Ereignissen, für die es nicht nur keine Interpretation, sondern auch keine Interpretationsmöglichkeit gibt – über den Menschen hereinzubrechen droht: an den Grenzen seiner analytischen Fähigkeiten, an den Grenzen seiner Leidensfähigkeit und an den Grenzen seiner ethischen Sicherheit.63
Der Vorteil dieser formal-inhaltlichen Bestimmung von Religion liegt darin, nicht zwischen primären und sekundären Religionstraditionen unterscheiden zu müssen. Zwar eignet ihr ein funktionales Moment, doch wird dieses davon überlagert, dass man jede konkrete Religionsgestalt nur interpretativ über ihr eigenes Selbstverständnis vollends begreifen kann. Zudem erkennt der Ansatz in den Religionen einen realistischen wie zugleich konstruktiven Umgang mit Kontingenzmomenten. Als Grenzsituationen und -erfahrungen werden diese symbolisch anerkannt, aber so, dass sie damit nicht einfach letztgültig bejaht werden. Vielmehr bieten Religionen Spielräume für den Umgang mit ihnen. Insofern handelt es sich hierbei weniger um eine Verarbeitung als um eine gesteigerte Wahrnehmung und Interpretation von (radikaler) Kontingenz: Beim Sinnproblem in allen seinen ineinandergreifenden Aspekten (…) geht es darum, die Unvermeidlichkeit von Unverständnis, Schmerz und Ungerechtigkeit im menschlichen Leben zu bejahen oder zumindest anzuerkennen, während gleichzeitig verneint wird, daß diese irrationalen Züge der Welt insgesamt eigen sind. Und es sind die religiösen Symbole – Symbole, die einen Zusammenhang schaffen zwischen dem Bereich des menschlichen Seins und einer weiteren Sphäre, die die menschliche umgreifen soll, – durch die sowohl diese Bejahung als auch diese Verneinung ausgedrückt werden.64
Damit wird nunmehr die eigentliche Leistung von Religion als kulturelles Symbolsystem deutlich. Es liegt nämlich in der Bereitstellung eines Modells, das Wirklichkeit nicht nur umfassend beschreibt, sondern auch zur Gestaltung von Wirklichkeit aufruft. Es wird zu einem ‚concept for reality‘. Wie bei allen Kul-
63 A.a.O., 61. – Religion als Kontingenzbearbeitungskultur zu beschreiben, lässt auf den Einfluss Webers schließen. 64 A.a.O., 72.
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turmustern weist der Modellcharakter religiöser Symbole sowohl einen theoretischen, d.h. die Wirklichkeit wahrnehmenden und zu einem Weltbild formenden, als auch einen praktischen, d.h. die Wirklichkeit gestaltenden Aspekt, auf. Erst darin kommt die Eigenart von Kultur (und Religion) für Geertz zum Abschluss. Denn: Im Unterschied zu den Genen und anderen nichtsymbolischen Informationsquellen, die nur Modelle für etwas sind und keine Modelle von etwas sind, enthalten Kulturmodelle einen doppelten Aspekt: Sie verleihen der sozialen und psychologischen Wirklichkeit Bedeutung, d.h. in Vorstellungen objektivierte Form, indem sie sich auf diese Wirklichkeit ausrichten und zugleich die Wirklichkeit auf sich ausrichten.65
Nicht erst am Ort der Religion wird deutlich: Kulturelle Symbolsysteme lassen sich nur dann als handlungsorientierend wie -motivierend verstehen, wenn sie Seins- und Sollensaussagen nicht radikal voneinander trennen. Schließlich funktioniert der Alltag ohnehin nur deswegen, weil – wie Geertz einmal schön bemerkte – die normalen Menschen ständig in die Hume’sche Falle tappen.66 Aus faktischen Prämissen normative Schlussfolgerungen zu ziehen, entbindet zwar nicht davon, beide Aspekte analytisch zu unterscheiden und sie auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Doch funktionieren symbolische Kulturmuster nur dadurch, dass ihre Sinnstiftung durch fließende Übergänge, mitunter sogar Einziehung jener (sonst mitunter) trennscharfen Differenz aus Faktizität, Möglichkeit und Geltung erfolgt. Wenn Wirklichkeitserschließung und Wirklichkeitsgestaltung bzw. eine das Ethos motivierende Weltsicht und ein die Weltsicht orientierendes Ethos so ineinander übergehen, stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass sie nur mitund aneinander funktionieren. Hier nun kommt bei Geertz der Ritus bzw. der Kultus ins Spiel. Nach ihm schlägt darin, wie er es etwa in seiner berühmten Analyse des balinesischen Hahnenkampfs67 aufgezeigt hat, das Herz der Religion. Im Ritual, verstanden als „Komplex heiliger Handlungen“68, vollzieht sich auf effektivste Weise sowohl die Plausibilisierung als auch die Internalisierung und Anerkennung69 einer religiösen Perspektive:
A.a.O., 52f. Vgl. GEERTZ, CLIFFORD, Ethos, World View, and the Analysis of Sacred Symbols (1957), in: Geertz, Interpretation (Anm. 56), 126–141, 141. 67 Vgl. G EERTZ, C LIFFORD, »Deep Play«: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf (1972), in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 202–260. 68 Ebd. 69 Siehe auch: G EERTZ, Religiöse Entwicklung (Anm. 60), 145: „Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen ist (…) in jeder Gemeinschaft irgendeine Form des ritualisierten Umgangs mit heiligen Symbolen der wichtigste Mechanismus, um nicht nur mit einer Weltanschauung in Kontakt zu kommen, sondern sie auch tatsächlich anzunehmen, sie als Teil ihrer Persönlichkeit zu internalisieren“. 65 66
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Die Anerkennung der Autorität hinter der religiösen Perspektive, die das Ritual ausdrückt, rührt eigentlich also aus dem Vollzug des Rituals selbst. Indem die Aufführung eine Reihe von Stimmungen und Motivationen – ein Ethos – hervorruft und mit Hilfe einer einzigen Symbolreihe ein Bild von kosmischer Ordnung – einer Weltsicht – umreißt, macht sie die beiden Aspekte des religiösen Glaubens – den des Modells für und den des Modells von etwas – einander konvertibel.70
Von der Bedeutung des Rituals zu sprechen, heißt seine integrationsstiftende Funktion anzuerkennen. Weltsicht, Ethos und Kultus stehen dann nicht einfach mehr als theoretische, praktische und ästhetische Dimensionen nebeneinander. Dabei bedeutet die emphatische Hervorhebung des Rituals nicht, dass dieses vornehmlich im Bewusstsein seiner Bedeutung vollzogen werden muss, um seine Wirkung zu entfalten. Insofern geht für Geertz Religion weder in einer sakralen Weltsicht noch in religiösen Tabus oder Moralvorstellungen auf. Beide stellen hochstufige Symbolisierungen und Institutionalisierungen dar, die eine Wahrnehmungsprägung durch symbolische Muster voraussetzen, die niederschwelliger ist und sich im rituellen Handeln vollzieht. Das Ritual bietet „symbolische Raster, mit deren Hilfe Erfahrung interpretiert wird, und (…) Handlungsanleitungen, Grundrisse für das Verhalten“71 aufgezeigt werden. Die Verschmelzung von Weltsicht und Ethos realisiert sich deswegen oftmals in hoch routinierten ‚kulturellen Veranstaltungen‘, die fast automatisch und jedenfalls konventionell vollzogen werden.72 Doch trägt genau das in der öffentlichen Konstitution und Inszenierung von Stimmungen, Motivationen und Orientierungsmuster dazu bei, sie common sense-tauglich zu machen und so ihren prägenden Einfluss auf andere Lebensbereiche zu erhöhen. Aus der Spannung von außeralltäglichem Ritual und alltäglicher Lebenswelt resultiert dann auch eine grundsätzliche Spannung in der Wirklichkeit von Religionen. Sie lässt sich ebenso wenig lösen, als sich zugleich die Intensität von Glaubensgefühlen und Alltagsansichten ständig, vor allem situationsbedingt, wandelt. Denn der religiöse Glaube, wie er sich im Ritual zeigt, wo er den ganzen Menschen erfaßt und ihn subjektiv gesehen in eine andere Seinsweise versetzt, einerseits, und der religiöse Glaube im Alltagsleben, als der schwach erinnerte Widerschein jener Erfahrung andererseits, sind nicht dasselbe.73
GEERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 85. GEERTZ, Religiöse Entwicklung (Anm. 60), 142. 72 G EERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 85. 73 A.a.O., 87. – Und ironisch spitz wie charmant fügt er hinzu: „Die Nichtbeachtung dieses Sachverhalts hat zu einiger Verwirrung geführt“ (ebd.). 70 71
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Die Stärke von Geertz’ Ansatz, der sich mit Überlegungen von Durkheim kombinieren lässt74, besteht in einem Dreifachen: Erstens ist Kultur als das „historisch überlieferte System von Bedeutungen (…) die sich in symbolischen Formen ausdrücken (…) mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“75 etwas genuin Öffentliches. Darum zehrt noch jede am individuellen Subjekt und seinen (religiösen) Erfahrungen orientierte Religionstheorie von einer basalen kulturellen, nämlich symbolischen Situiertheit, die ihr vorausgeht.76 Dadurch wird die wissenschaftliche Integration von kontextsensiblen Binnen- und Außenperspektiven erforderlich, wohingegen die Frage nach der Religion als einer anthropologischen Universalie nebensächlich wird.77 Zweitens: Die ‚religiöse Perspektive‘ als „eine bestimmte Weise, das Leben zu sehen, eine bestimmte Art, die Welt zu deuten“78, ist stets auf ihre Rückbindung an die Lebenswelt des Common Sense hin zu untersuchen. Hier geht es der Religion nicht anders als anderen kulturellen Systemen. Mehr noch, sie profitiert von Anschluss- und Übergangsmöglichkeiten. Beides erfolgt stets über handelnde Subjekte. „Anders (…) ausgedrückt: die Wirkung des religiösen Glaubens auf den Common Sense besteht nicht darin, daß er ihn ersetzt, sondern daß er ein Teil von ihm wird.“79 Drittens: Der Common Sense steht für das Symbolsystem, auf das Menschen in ihrem Alltag ständig zurückgreifen und durch das sie permanent in ihrem Wahrnehmen und Verhalten sozialisiert werden. Wenn Geertz kulturelle Handlungen als „soziale Ereignisse“80 fasst, so will er damit bewusst auf das Ineinandergreifen von Sozialstruktur und Kultur verweisen. Beide analytisch unterscheidbare Sphären durchringen sich im individuellen und kollektiven Handeln von Subjekten (Personen) gegenseitig. Kultur liefert hierfür den Handelnden symbolische Bedeutung, während die Sozialstruktur dem Funktionieren des Zusammenlebens dient. Aber beides fußt, wie auch die Persönlichkeitsstruktur, auf individuell integriertem und sozial motiviertem Handeln. Geertz’ Religionstheorie orientiert sich daher weder ausschließlich an Funktionen noch an Bedeutungen. Sie versteht Religion wie alle anderen symbolischen Systeme als Handlungsprozesse, die der Weltorientierung und dem Geertz betont selbst, eine kulturwissenschaftliche Religionstheorie müsse sich bemühen, die Wahrheitsmomente der Ansätze von Durkheim, Weber, Freud und Malinowski zu verbinden: vgl. a.a.O., 75. 75 A.a.O., 46. 76 Zu Stärken und Schwächen eines ritual- und alltagskonzeptionellen Ansatzes im Gegenüber zu erfahrungsbetonten Konzeptionen, siehe: GEERTZ, Religiöse Entwicklungen (Anm. 60), 155–160. 77 Vgl. treffend die Bemerkungen in: G EERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 72f, Fn. 33. 78 A.a.O., 75. 79 G EERTZ, Religiöse Entwicklung (Anm. 60), 159. 80 Vgl. G EERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 50. 74
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Selbstverstehen von Menschen dienen. Von daher kommt ihr ein verschärftes Bewusstsein für den prozesshaften Charakter sozialer Ordnungen und für den historischen Wandel von Kultur zu. Dagegen ist immer wieder eingewendet worden, Geertz operiere mit einem zu starken, holistischen Verständnis von Kultur und Religion. Dabei hat er nie den hybriden Charakter dieser Größen unterschätzt: „Was ist“ – fragt er in späteren Jahren – „eine Kultur, wenn sie kein Konsens ist?“81 Das allerdings meint doch nichts anderes als: Alles ist konfliktträchtig, ist im Fluss. Von hier aus hat er zunehmend religionstheoretisch auf eine stärkere Integration anderer Perspektiven und Leitkonzepte gedrängt. ‚Erfahrung‘, ‚Identität‘, ‚Macht‘ sind geeignete Kandidaten, um eine stark kultur- und symbolzentrierte Religionstheorie anzureichern.82 Nicht zuletzt durch sie gelingt auch ein vertieftes Verständnis der Funktion von Ritualen beim Aufbau und der Stabilisierung religiöser Weltbilder und Vorstellungen. Darauf müssen wir nun in systematischer Perspektive zu sprechen kommen.
2. Ritus und Religion: Über die religiöse Dimension rituellen Handelns 2. Ritus und Religion: Über die religiöse Dimension rituellen Handelns
Mit Durkheim und Geertz sind in den vorangegangenen Abschnitten zwei Denker vorgestellt worden, die auf der einen Seite im rituellen Handeln den Entdeckungs- und Bewährungsort religiöser Vorstellungen gesehen, damit auf der anderen Seite aber nicht die kognitiven und ethischen Aspekte von Religion, inklusive ihrer Verselbstständigung in Form von Weltbildern und Lehren, Institutionen und Ethosgestalten, geleugnet haben. Bislang haben wir uns dabei der These von der Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals von Seiten der Religionstheorie zugewandt. Nunmehr gilt es, diese Vermutung zu erhärten, indem wir die Blickrichtung umkehren. Liegt es gar in der Eigenart rituellen Handelns, dass es im symbolischen Kultursystem der Religion auf exemplarische wie paradigmatische Weise seinen Ort erhält? Rituelles Handeln repräsentierte dann einen spezifischen Typ des Zugangs zur Wirklichkeit, der seit jeher religionsaffin ist und dessen Funktion, so die These, in einem Dreifachen liegt: der symbolischen Modellierung von Erfahrung, der Bildung moralischer Ideale als Orientierungsgrößen und der empathischen Bearbeitung von Kontingenzsituationen. Wir begeben uns damit auf das Gebiet der Ritualtheorie.
Vgl. GEERTZ, CLIFFORD, Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien: Passagen 1996, 67–90. 82 Vgl. G EERTZ, C LIFFORD, The Pinch of Destiny: Religion as Experience, Meaning, Identity, Power (1999), in: Ders., Available Light (Anm. 56), 167–186. 81
2. Ritus und Religion: Über die religiöse Dimension rituellen Handelns
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2.1 Vorbemerkung: Ritualtheoretische Unübersichtlichkeiten Ritualtheoretische Überlegungen bestimmten die Anfänge von Ethnologie und Religionswissenschaft. Trotz häufig negativer, abschließender Beurteilung als Relikte sog. ‚primitiven‘ Denkens war man sich sicher, durch ihr Studium wesentliche Auskünfte über die Strukturverfassung des Menschen, wenigstens in seiner Frühzeit, zu erhalten. Die Bedeutung, die Émile Durkheim in der Begründung einer ritualtheoretisch ausgerichteten Sozialwissenschaft zukommt, hat wesentlich darin ihren Grund. Zum einen hat er die großen Arbeiten von Wissenschaftlern wie Fustel de Coulanges und William Robertson Smith über die rituellen Grundlagen der semitischen, griechischen und römischen Religion83 als Modell für das Verstehen von Religion und Gesellschaft als durch Handeln konstituierter Ordnungen verarbeitet. Zum anderen diente ihm das Ritual als Modell zur Erklärung, wie Gesellschaften sich mittels (neuer) symbolischer Formationen selbst erhalten und entwickeln konnten. Rituelles, d.h. symbolisch codiertes Handeln fungiert bei Durkheim stets auch als Proto- und Antityp84 zum utilitaristischen Modell von Zweckrationalität bzw. des Instrumentellen. Beide Handlungstypen verfolgen ein unterschiedliches Modell von Reziprozität: Auf der einen Seite geht es um eine an einer gemeinsamen Idealität (Sakralität) ausgerichteten und gefundenen kollektiven Identität, auf der anderen Seite geht es um eine auf symmetrische Formen von Gabe und Gegengabe, Anspruch und Gegenanspruch ausgerichtete Prozedur für den sozialen Umgang im Hinblick auf Rechtsansprüche, Güterverkehr etc. Keine Sozialform ist ohne diese beiden basalen Formen denkbar. Dennoch betonen Durkheim und in Folge eine ganze Reihe von positiv oder kritisch an ihn anschließende Denker85, dass es vornehmlich die rituell-symbolische Handlungsform ist, die den inneren Bestand von Gemeinschaft ausmacht und somit die Eigenart des Menschen als eines symbolisch sich über sich selbst aufzuklärenden Wesens zum Ausdruck bringt. Mit der Renaissance der Ritualtheorie, die seit zwei Jahrzehnten andauert, hat sich eine nachhaltige Verschiebung der Debatten ergeben, bedingt durch den Einfluss postkolonialer und poststrukturalistischer Diskurse. Fortan domi-
83 Vgl. C OULANGES, FUSTEL DE, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms (1864), München: Klett 1988; ROBERTSON SMITH, WILLIAM, Die Religion der Semiten (1889), Freiburg: Mohr 1899. 84 Durkheims La division du travail von 1893/4 will eine Gesellschaftstheorie entwickeln, die im Kern als anti-utilitaristisch zu bezeichnen ist. 85 Vgl. hierzu den knappen Überblick bei: C OLLINS, R ANDALL, Interaction Ritual Chains, Princeton/Oxford: Princeton Univ. Press 2004, 9–32.
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nieren diskursanalytische Konzeptionen im Zeichen des Foucault’schen Machtbegriffs.86 Hinzu kommt eine fast schon inflationäre Ausweitung des Analyseinstruments von Ritual und Ritualisierung. Vor allem letztere wird als strategischer Akt aufgefasst, durch den soziale Machtverhältnisse gefestigt und zugleich internalisiert werden. Man kann diese Verschiebung des Ritualdiskurses am Werk Catherine Bells (1953–2008), einer der wichtigsten Ritualtheoretikerinnen der Gegenwart, verdeutlichen.87 Auch Bell orientiert sich kritisch – wie Asad – an Geertz. Sie grenzt sich radikal von dessen Darstellung der Leistung des Rituals ab.88 Ihr zufolge wird das Ritual bei Geertz zu einem Konstrukt eines verfehlten Wissenschaftsdiskurses, der in rituellen Handlungen die Artikulation von vorher eindeutig bestimmbaren symbolischen Bedeutungen von Kultur erblickt. Stattdessen muss es darum gehen, im Ritual eine bestimmte Art der Performanz zu sehen. Einfacher gesagt: Für Bell sind Rituale bestimmte, strategische Handlungsweisen, die hegemoniale Diskurse, Ordnungen und Strukturen setzen und plausibilisieren. Dies ist schon in ihrem spezifischen Verständnis von Handlung begründet. Handlungen sind nämlich situational, strategic, apt to misrecognize the relationsship between its ends and its means in ways that promote its efficacy, and it is motivated by what can be called “redemptive hegemony,” a construal of reality as ordered in such a way as to allow the actor some advantgeous ways of acting.89
Rituale müssen wir somit als ganz bestimmte Handlungen verstehen, durch die Menschen etwas bezwecken und weniger etwas ausdrücken wollen. Zur Sprache kommt dabei vornehmlich die Zuschreibung und Festlegung auf eine soziale Machtposition. Konsequent sind die Schlussfolgerungen, die Bell als Aufgabenstellung für die Ritualtheorie zieht: A universal definition of ritual can obscure how and why people produce ritualized actions; it certainly obscures one of the most decisive aspects of ritual as a strategic way of acting, the sheer degree of ritualization that is invoked.90
Dafür steht exemplarisch der schon erwähnte Talal Asad. Vgl. ASAD, TALAL, Toward a Genealogy of the Concept of Ritual, in: Ders., Genealogies of Religion (Anm. 59), 55–79. 87 Ihr verdanken wir einen der besten Überblicke über die Geschichte der ritual theory, vgl. BELL, CATHERINE, Ritual Theory, Ritual Practice. Foreword by Diane Jonte-Pace, Oxford/New York: Oxford Univ. Press (1992) 2009. 88 Auf Deutsch findet sich diese Kritik an einer Meta-Konstruktion des Ritualbegriffs bei Geertz dargestellt in: BELL, CATHERINE, Ritualkonstruktion, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden: Springer VS 52013, 37–47, 43–45. 89 B ELL, C ATHERINE, Ritual. Perspectives and Dimensions. Foreword by Reza Aslan, Oxford/New York: Oxford Univ. Press 2009, 81. 90 A.a.O., 82. 86
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Eine Ritualtheorie, die nicht Gefahr laufen möchte, als selbsterzeugte Diskurspraxis von Wissenschaftlern zu gelten, tut bei ihrer Untersuchung von verschiedenen kulturellen Ritualformen und -praktiken gut daran, ritualisierte Handlungen als situations- und kulturtypische Strategien zur Etablierung von symbolischen Machtordnungen zu begreifen. Im Unterschied zu Geertz wird von der teilnehmenden Beobachterperspektive des Ritualtheoretikers Abstand genommen. In der Ritualtheorie dominieren nunmehr akteurzentrierte Perspektiven. Als Handlungsstrategie dient Ritualisierung der Produktion und Verkörperung von Ordnungsmustern als Autoritätsgrößen, die über die konkrete Handlungssituation hinausführen und sie transzendieren. Insofern ist Ritualisierung „a way of acting that tends to promote the authority of forces deemed to derive from beyond the immediate situation.“91 Streng genommen tritt bei Bell an die Stelle des spezifischen Handlungstypus des Rituals das tendenziell inflationäre Konzept von Ritualisierung als einer Handlungsstrategie. Jedes Handeln wird implizit oder explizit als machtvolle Strategie gelesen, selbst wenn dies den Akteuren gar nicht bewusst ist, und als eine Form davon kann Ritualisierung gelten.92 Zudem offenbart der von Bell programmatisch vertretene Abschied von einem expressivistischen Kultur- und Ritualverständnis vor allem eine verzerrte Wahrnehmung dieser Tradition. Im Grunde unterstellt sie nämlich, wie das folgende Zitat belegt, den Vertretern jener Richtung die absurde Behauptung, expressive Handlungen, u.a. Rituale, würden vornehmlich einen in sich feststehenden, vom Akteur klar intendierten Sinn artikulieren: In sum, the study of ritual as practice has meant a basic shift from looking at activity as the expression of cultural pattern at looking at it as that which makes and harbors such patterns. In this view, ritual is more complex than the mere communication of meaning and values in specific ways. Hence, rather than ritual as the vehicle for the expression of authority, practice theorists tend to explore how the ritual is the vehicle for the construction of relationships of authority and submission.93
Auch die Unterstellung, dass ein kulturtheoretisches Verständnis von Ritual der Komplexität dieses sozialen Phänomens nicht gerecht werden würde, bleibt bloße Behauptung. Gleichwohl verweist Bells Ansatz auf einen wichtigen As-
Ebd. Insofern hat Dominik Fugger recht, wenn er urteilt: „Wenn „Ritualisierung“ in irgendeiner Weise eine über den Einzelfall hinausweichende Beschreibungskategorie darstellen soll, dann begegnet diese freilich dem gleichen Problem wie der Ritualbegriff selbst. In letzter Konsequenz impliziert Bell den Abschied von einer Ritualtheorie, die über die jeweils gewählte, vom Beobachter konstituierte soziale Untersuchungseinheit hinausreicht“ (FUGGER, DOMINIK, Symbol, Handlung, Erfahrung. Perspektiven auf das Ritual als Gegenstand soziologischer Theoriebildung, in: European Journal of Sociology 52 (2011), 383–421, 408f). 93 B ELL, Ritual (Anm. 89), 82. 91 92
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pekt. Bei aller Betonung der Artikulation von symbolischen Gehalten im rituellen Handeln darf nicht deren mehr oder weniger zum Ausdruck kommende Machtdimension – auch als Strategie – vernachlässigt werden. Sie ist deswegen stets schon gegeben, weil Rituale soziale Handlungsformationen sind.94 Das bedeutet jedoch etwas Anderes als in Ritualen nichts anderes als reine Machtdiskurse bzw. -strategien zu sehen. Darüber hinaus zeigen diese Vorüberlegungen zu gegenwärtigen Trends im Ritualdiskurs, dass es wichtig ist, die Pluralität der wissenschaftlichen und lebensweltlichen Beobachter- und Teilnehmerperspektiven sorgsam zu unterscheiden. Diese können sich ergänzen, aber auch zu gänzlich divergierenden Resultaten führen. Im Unterschied zum Strategiediskurs, der selbst hegemoniale Züge trägt, lässt sich mit dieser Binnendifferenzierung kein vorschnelles Urteil darüber bilden, welchen Reichtum an symbolischer Wirklichkeitserkenntnis sich im rituellen Handeln erschließt. Und selbstredend kann dazu auch die Darstellung sozialer Macht- und Autoritätsverhältnisse gehören. Clifford Geertz hat diese hermeneutische Differenzsensibilität sehr schön an divergierenden Standortreflexivitäten festgemacht, wie sie in der Folge unterschiedlicher Partizipationsmodi an religiösen Ritualen eintreten: Natürlich sind nicht alle kulturellen Veranstaltungen religiöse Veranstaltungen, und es ist in der Praxis häufig nicht so einfach, religiöse von künstlerischen oder auch politischen Veranstaltungen zu unterscheiden, da symbolische Formen (…) ganz verschiedenen Zwecken dienen können. (…) Was jedoch den Inhalt der Vorführung angeht, so ist er für die beiden Arten von Augenzeugen verschieden: (…) Während nämlich die religiösen Veranstaltungen für die Besucher naturgemäß nur Ausdruck einer bestimmten religiösen Perspektive sein können und damit entweder ästhetischen Genuß oder wissenschaftlich bearbeitbares Material, sind sie für die Teilnehmenden darüber hinaus auch Inszenierungen, Materialisierungen, Realisierungen dieser Perspektive – nicht nur Modelle von Dingen, die sie glauben, sondern auch Modelle für ihren Glauben.95
2.2 ‚Social Act‘ und ‚Symbolic Action‘: Bausteine zu einer Theorie des Rituals Die gegenwärtigen ritualtheoretischen Diskurse knüpfen vornehmlich an der sozialkonstitutiven Funktion an: Rituale konstituieren Individuen und Kollektive, indem sie ihnen einen Status und eine (partielle) Identität verleihen. Für ein adäquates Verständnis von Ritual(en) im Zusammenhang einer symboltheoretischen Anthropologie müssen daher beide Aspekte – der symbolische und der sozialkonstitutive – zusammengeführt werden. Vor diesem Hintergrund skizzieren wir hier Bausteine für eine Theorie des Rituals. Dazu knüpfe ich noch einmal an die Traditionen an, für die Émile Durkheim und Clifford Geertz So gesehen sind Asads genealogische Beschreibungen der mittelalterlichen Ritualpraktiken als Darstellung und Inszenierung sozialer Machtmechanismen durchaus erhellend. Vgl. ASAD, Genealogies (Anm. 59), 83–167. 95 G EERTZ, Religion, in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 79f. 94
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stellvertretend stehen. Rituale als exemplarische Form symbolischer Handlungen zu begreifen, stellt auch ein Resultat aus handlungstheoretischen Überlegungen Talcott Parsons’ dar, dem Lehrer von Clifford Geertz. Demgegenüber versteht Randall Collins, in der Tradition Durkheims stehend, Rituale als elementare, d.h. körperliche Interaktionen, die soziale Situationen und Atmosphären konstituieren. Wenn es gelänge, beide Perspektiven miteinander zu verbinden, könnten vormalige Engführungen weitgehend vermieden werden. Schon Durkheim hat in seinem Religionsbuch auf den sozialen Kontext als Konstitutivum für das Ritual verwiesen. Es ist die Zusammenkunft eines Stammes oder einer Patrie, die als Grundbedingung für das Zustandekommen und die Erneuerung des Kollektivbewusstseins als Idealbewusstsein gilt. Dabei ist die körperliche Ko-Präsenz von Individuen unbedingt notwendig. Sie sorgt nämlich für jene intensive Stimmung und energetische Dichte, die allein in den Zustand kollektiver Ekstase, in die Efferveszenz, führen kann. An dieses Konzept knüpft Randall Collins an96, wenn er in seiner Theorie Rituale als Interaktionen darstellt, die sich – vor allem im Alltag – über Handlungsketten zu Mustern sozialer Kohäsion und Ordnungen herausbilden. Im Unterschied zu Durkheim ist sein Rahmen aber eher ein mikrosoziologischer. Beeinflusst von den Arbeiten von Erving Goffman97 geht es ihm darum, zu zeigen, dass der umfassende rituelle Charakter sozialer Handlungskontexte erst dann erfasst wird, wenn er sich im Alltag der Subjekte als diesen prägend herausstellt. Vor diesem Hintergrund erfolgt seine knappe Definition von ‚interaction ritual‘: The following are the ingredients of any interaction ritual: 1. a group of at least two people is physically assembled; 2. they focus on the same object or action, and each becomes aware that the other is maintaining this focus; 3. they share a common mood or emotion.98
Auffällig ist dabei zunächst, dass keinerlei besonderes Augenmerk auf den Handlungsaspekt von Ritualen selbst gelegt wird. Collins gibt dies auch zu. Er gilt ihm zunächst als „superficial aspect“99, weil es ihm darauf ankommt, wie sich das Ritual als ‚basic social act‘ einstellt. Das, was als rituelle Handlungsformen gilt, bei Gesten und rhythmisierten Bewegungen angefangen, ist für ihn
Deutlich wird dies in seiner ebenso knappen wie präzisen Darstellung von Durkheims Ritualtheorie in: COLLINS, Interaction Ritual (Anm. 85), 32–40. 97 Goffman betonte stets, dass die Bindungen einer Gesellschaft wesentlich von alltäglich praktizierten und variierten Verhaltensregeln abhängen. Zeremonielle Handlungen stehen ihm zufolge eher dafür ein, die in den verschiedenen Verhaltensregeln eingespielte und durchschimmernde ‚moralische Ordnung‘ selbst noch einmal thematisch zu machen. Das geschieht in regelmäßigen, aber eben seltenen Abständen. Zum Ganzen siehe: GOFFMAN, ERVING, Interaktionsrituale. Über das Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. 98 C OLLINS, R ANDALL, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge (Ma.)/London: Harvard Univ. Press: 1998, 22. 99 Ebd. 96
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Folge der Dichte jener gemeinsamen Aufmerksamkeit und Einstellung, die sich aus der Situation der Ko-Präsenz ergibt. Dabei spielen bereits erlernte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster eine große Rolle. Durch die Umsetzung dieser Grundsituation in nicht nur darstellende, sondern zugleich inszenierende, symbolische Handlungen entsteht genau jenes gemeinsame Bewusstsein, das sich in Symbolen zu vergewissern versucht und das je nach Intensität bei allen Interaktanten eine emotionale Vergewisserung und Erfüllungserfahrung entstehen lässt.100 Was bei Durkheim das Sakralobjekt als Symbol und Indikator für das darin gespeicherte ‚moralische‘ Kollektivideal darstellt, gibt es auch in kleiner Münze im Alltag: Es ist jenes materielle oder physische Objekt, das in seiner symbolischen Funktion, den Grund und die Quelle jener emotionalen Bindungsenergie repräsentiert, die mindestens zwei Menschen zu einer Handlungseinheit (Gemeinschaft) werden und ihre Kooperation als echte Partizipation erfahren lässt. So scheint es, als ob es weniger der spezifische Handlungstyp des Rituals als dessen soziales Setting ist, das seine grundlegende Bedeutung ausmacht; ist es doch die soziale Atmosphäre, die als Konstellation für das Wahrnehmen von rituellen Handlungsabläufen steht. Umgekehrt konstituiert sich diese soziale Situation als eine bestimmte nur durch ihren Handlungsvollzug. Mit dieser elementaren Verschränkung von Ritualität und Sozialität steht Collins ganz in der Nachfolge von Durkheim und Goffman.101 Während Durkheim dies allerdings von Anbeginn mit einer religionstheoretischen Zuspitzung verband, entgrenzen Collins und Goffman diesen Zugang weitgehend. Die Religion wird hier vernachlässigt. Viel wichtiger aber ist die allen dreien gemeinsame Ablehnung sowohl naturalistischer Positionen, die in Ritualen nichts anderes als Ersatz- oder Überschussreaktionen sehen, als auch von kognitivistischen Positionen, die Handlungen stets als Ausdruck von bereits vorgegebenen Gründen, Motiven, Normen und Werten verstehen. Die unmittelbare Verschränkung von rituellem Handeln und sozialer Situation führt diese Ansätze vielmehr dazu, die Bedeutung, die sich im Handeln zeigt und symbolisiert werden kann, stets als in diesem Kontext aus leiblicher Ko-Präsenz und kollektiver Aufmerksamkeit konstituiert zu begreifen. Genau das teilen sie mit der Position des symbolischen Interaktionismus: Dieser Ansatz betrachtet eine menschliche Gesellschaft als die Menschen, die mit Leben beschäftigt sind. Dieses (…) ist ein Prozess fortlaufender Aktivität, in dem die Teilnehmer in den mannigfachen Situationen, denen sie begegnen, Handlungslinien entwickeln. Sie sind in
Vgl. a.a.O., 23f. Collins Beispiele können sowohl alltägliche Dinge, wie Rauchen oder Flirten, als auch makrosoziologische Prozesse, wie der Wandel intellektueller Theorien, sein. 100 101
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einem riesigen Interaktionsprozess eingefangen, in dem sich ihre entwickelnden Handlungslinien aneinander anpassen müssen.102
Baut sich die gemeinsame Handlungswelt über die Konstitution von Objekten und ihrer Bedeutung auf, so erfolgt umgekehrt jede Objektkonstitution wie deren Bedeutungssignifikanz nicht anders als in einer „sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht“103. In der Interaktion liegt nicht nur die wechselseitige ‚Handhabung‘ der Wirklichkeit, sondern sie stellt zugleich deren stetige Interpretation dar. Denn die „Bedeutungen (…) verdanken sich einem interpretativen Prozess, den die Person in der Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen“104 eingeht. In diesem sozialen Kontext wird auch über Erfolg und Misserfolg der Praxis entschieden, indem die Bedeutungen je nach dem „benutzt, gehandhabt und abgeändert“105 werden. Erneut zeigen sich hierbei Nähen zu Cassirers Aufbau der Welt der symbolischen Formen und einer sozialanthropologischen Bedeutungstheorie im Gefolge Meads. In allen Praxen gilt, was an Ritualen besonders deutlich wird: Sie repräsentieren nicht einfach Bedeutungen oder bilden diese gar ab, sondern Bedeutungen, Ideen und Ideale werden in ihnen allererst geschaffen, werden durch sie erweitert oder verändert. Rituale stellen somit Praktiken performativer Bewährung von Bedeutung dar. Freilich bleibt bei diesen Ansätzen weitgehend ausgespart, was genau unter ‚Bedeutung‘ zu verstehen ist. Hier nun bietet es sich an, auf den Ansatz von Talcott Parsons (1902–1979) einzugehen, bei dem ein Denkmotiv in der mittleren Phase seines Wirkens vorherrscht, das sich als ein konzeptioneller Vorbegriff auch für eine Theorie des Rituals herausstellen könnte: ‚symbolic action‘. Dies gilt, obgleich Collins ihn als einen kritikwürdigen Vertreter jener Position erachtet, der die Bedeutung als dem Handlungsvollzug immer schon vorgegeben betrachtet. In der Tat ringt Parsons darum, wie Handlungen verständlich werden können. Ohne darin eigenlagerte symbolische Muster lässt sich dies für ihn nicht denken. Einer seiner wichtigsten Beiträge heißt deswegen nicht zufällig: The Theory of Symbolism in Relation to Action106. In Aufnahme terminologischer und konzeptioneller Bemühungen von Sigmund Freud steht zunächst
BLUMER, HERBERT, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus, in: Ders., Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation, hg. v. Heinz Bude und Michael Dellwing, Berlin: Suhrkamp 2013, 88. – Schon die Rede von Handlungsketten findet sich bei Blumer, vgl. a.a.O., 83–88. 103 A.a.O., 64. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 PARSONS, TALCOTT, The Theory of Symbolism in Relation to Action (1953), in: Working Papers in the Theory of Action, hg. v. Ders./Robert F. Bales/Edward A. Shils, New York/ London: The Free Press/Macmillan 1953, 31–62. – Zu den hier verhandelten Aspekten von Parsons’ Handlungstheorie siehe: JOAS, HANS/KNÖBL, WOLFGANG, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Aktualisierte Ausgabe, Berlin: Suhrkamp 2011, 96–106. 102
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das Problem der Ausrichtung und Motivierung von Handlungen im Vordergrund. Diese können stärker kognitiver, evaluativer oder expressiver Natur sein:107 It follows that a symbol always has both ‚cognitive‘ and ‚expressive‘ meanings. The distinction between cognitive and expressive symbolism is a difference of relative primacy of significance of the two orders of meaning, not of seperately distinct ‚kinds‘ (…) In the cognitive type (…) the primary meaning-reference is to the situational object-world; while in the expressive type, the primary reference is to the actors own ‚motivations‘ or ‚intentions‘ (…) But in spite of the primacy of one of the two meaning-references, the other is in the nature of the case always also involved (…) Treating a symbol in such a way in action is to say, not only that in terms of cultural standards it must be ‚appropriate‘ to the relevant object or objects, but it must also at the same time, as an expressive symbol, express the appropriate attitude.108
‚Bedeutung‘ oder ‚Sinn‘ resultieren auch hier aus einer Handlungssituation. Aber sie sind in mehrfacher Weise perspektivisch und lagern sich entsprechend im ‚Symbol‘ ab, je nachdem, ob der Fokus stärker auf das Handlungsobjekt, das Handlungssubjekt oder das Handlungsziel gelegt wird. Allerdings gehen die unterschiedlichen Bedeutungsrichtungen ineinander über. Es gibt keine reine Ausrichtung am kognitiven Objekt- oder am expressiven Intentions- bzw. Motivationssinn. Das liegt auch daran, dass für Parsons jedes Objekt des Handelns durch die ‚kathektische‘ Ausrichtung emotional mitbesetzt ist. Das macht seinen werthaften Charakter aus.109 Subjekte, Objekte und Situationen erhalten im Handlungsprozess einen mehrfachen symbolischen Sinn. Dieser steht für etwas, was über die unmittelbare Funktion im Handlungskontext hinausgeht. Darin liegt die wirklichkeitserschließende Funktion symbolischer Interaktionen. Auch hierbei gilt Parsons’ Devise: „The mutuality of the interactive process is crucial here“110. Für die These vom expressiven Theismus ist an dieser Stelle von besonderer Relevanz, worin sich die expressive Bedeutungsdimension von der kognitiven Außerdem: WENZEL, HARALD, Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsons’ Theorie des allgemeinen Handlungssystems, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, 414–422. – Sigrid Brandt widmet sich in ihrer der Religionstheorie Parsons gewidmeten Arbeit der obigen Thematik leider kaum. Vgl. immerhin die wenigen Bemerkungen in: BRANDT, SIGRID, Religiöses Handeln in der modernen Welt. Talcott Parsons’ Religionssoziologie im Rahmen seiner allgemeinen Handlungs- und Systemtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 98–106. 107 Parsons variiert seine Systematik des Öfteren. Hier wird sich auf seine Darstellung im Hauptwerk der mittleren Phase bezogen: vgl. PARSONS, TALCOTT, The Social System, New York/London: The Free Press/Macmillan 1951, v.a. 384–399. 108 PARSONS, Theory of Symbolism, in: Ders., Working Papers (Anm. 106), 32f. 109 Vgl. a.a.O., 33f., 41 u.ö. – Den Begriff ‚kathektisch‘ übernimmt Parsons von Freud. Anders als dieser zielt er damit aber nie nur auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Schon das frühkindliche Mutter-Kind-Verhältnis weist gleichermaßen kognitive wie emotionale Aspekte auf. 110 A.a.O., 37.
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und kathektischen Ausrichtung des Handelns unterscheidet.111 Expressiv symbolisch ist eine Handlung dadurch, dass sie indexikalisch auf den Standpunkt des Handelnden verweist und ihn mit artikuliert. Sie erklärt sich daher weder durch zweckrationalistische Prämissen (Interessenskalküle) noch durch normative Muster. Zudem liegt nur dann eine expressive Handlung vor und können Symbole als expressive gelten, wenn sie nicht einfach im kulturellen Symbolbestand abgespeichert oder durch soziale Ordnungen institutionalisiert sind. Sie müssen vielmehr konstitutiver Bestandteil von Handlungssubjekten sein, d.h. sie müssen von Personen internalisiert werden. Internalisierung ist die interne Bedingung der externen Funktion im Modus der Indexikalisierung: We shall see that this organization of expressive symbols according to appreciative standards on a cultural level, is not merely ‚external‘ to the actor but becomes, by ‚internalization‘, a constitutive part of his own personality structure.112
Auch ein Set von expressiven Symbolen (Symbolsystem) verdankt sich einem umfangreichen Prozess von Interaktionen. Problematisch bleibt allein, dass Parsons diesem Prozess den Vorgang der Internalisierung vorauszuschalten scheint. Das widerspricht jedoch seiner eigenen Theorie, da diese strenggenommen eigentlich keine Handlungsformen kennt, die nicht zugleich kognitive, evaluative und eben expressive Funktionen kennt. Ein reiner Vorgang von Internalisierung erscheint von daher im Grunde genommen unmöglich. Neben der Kunst ist für Parsons das religiöse Ritual ein besonders eindeutiger Typ von expressiver Symbolhandlung.113 Am Beispiel der Eucharistie zeigt er, wie Selbstartikulation der religiösen Perspektive einhergeht mit kognitiven und evaluativen Aspekten. Augenscheinlich ist hier zunächst die symbolische Doppelbesetzung (‚symbolic association‘) von Brot und Wein als Zeichen für Leib (Nahrung) und Blut, die die Dialektik von Leben und Tod anzeigen.114 Durch die buchstäbliche Einverleibung der Symbole im rituellen Akt wird die expressive Selbstverortung offenkundig, durch die Einbeziehung in ein umfassenderes Geschehen (der Liturgie) kommt die emotional getönte Welt- und
111 Die Differenz zwischen kognitiv und kathektisch wird von Parsons durch das Gegebenbzw. Nicht-Gegeben-Sein einer Affekt- bzw. Wertungsneutralität mit Blick auf Objekte, Subjekte und Situationen bestimmt. 112 A.a.O., 39. 113 Kritisch zur gesamten Anlage des expressiven Symbolismus bei Parsons: PEACOCK, JAMES L., Expressive Symbolism, in: Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honor of Talcott Parsons. Vol. 1., hg. v. Jan Loubser u.a., New York: Free Press/Macmillan 1976, 264–276. 114 PARSONS, Theory of Symbolism, in: Ders., Working Papers (Anm. 106), 47f. – Das Abendmahl dient ihm stets als ein gutes Exempel für die Wirkung des religiösen Symbolismus im Ritual. Vgl. auch: PARSONS, TACOTT (mit FOX, RENÉE C./LIDZ, VICTOR M.), The “Gift of Life” and Its Reciprocation (1975), in: The Talcott Parsons Reader, hg. v. Bryan S. Turner, Malden (Ma.)/Oxford (UK): Blackwell Publ. 1999, 123–151; hier: 129–131.
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Selbststellung der Handelnden gemeinsam zum Ausdruck. Ein Vorteil, den expressive Symbole haben, ist ihre unmittelbare Verflechtung mit körperlichen Vollzügen.115 So sehr es in frühen Arbeiten Parsons den Anschein hat, als würde mit einem expressivistischen Verständnis von Symbolhandlungen ein einseitiger Individualismus einhergehen, so sehr betont er in den späteren Phasen die Bedeutung expressiver Symbolsysteme, die den Handelnden überhaupt erst die Möglichkeit ihrer Selbstartikulation im Zusammenhang einer durch diesen Symbolismus konstituierten Gemeinschaft ermöglicht. Wiederum steht hier Durkheim Pate. Der Kontext des Rituals ist nunmehr auf einem ‚general level of action‘ angesiedelt. Dabei hält er an der Besonderheit des expressiven Handlungstypus insofern fest, als auch weiterhin als dessen Besonderheit die affektive Involviertheit des Handlungssubjekts und deren Artikulation gelten kann. Expressive Symbolsysteme bzw. -codes sind aber dahingehend anderen Symbolsystemen gleichgestellt, dass auch sie regelgeleitet sind: „The symbolization, we would suggest, must be culturally ordered, and this, in turn, suggests that there must be a code aspect of expressive symbolism, which is parallel to that in the cognitive and moral realm.“116 Parsons gelingt mit diesen Ausführungen eine ganz eigenständige Integration von Ritual-, Kultur- und Symboltheorie. Dabei steht er in konstruktiver Nähe zu Cassirer und Durkheim. Symbolisch-expressive Handlungen stiften kulturelle Bedeutung, die die Handelnden und ihre Umgebung allererst zu einer sinnhaften Wirklichkeit formen. Kultur als Bedingung von Sinn kommt damit auf eigenständige Weise zum Ausdruck, ebenso wie die elementare Funktion expressiver Artikulation, die tiefer reicht als kognitive Einstellungen oder moralische Haltungen. Das macht Parsons in einer resümierenden Interpretation Durkheims klar, die im Grunde sein eigenes Verständnis von Ritual wiedergibt: There are many things about this complex that are obscure, but it seems to me very likely that Durkheim (…) contributed notably to the beginning elucidation of a very general code of ritual symbolism which is culturally expressive than primarily cognitive or moral, which is intimately concerned with the maintenance of levels of motivations in the individual, but which is also intimately connected with social solidarity. It is probably significant that these symbols relate very specifically to aspects of the organism, which is in a certain sense the common groundwork of all the other aspects of human action.117
115 Vgl. PARSONS, Theory of Symbolism, in: Ders., Working Papers (Anm. 106), 57f. – Dort spricht Parsons sogar davon, dass somatische Vorgänge selbst ein „expressives Symbol“ sein können. Das erinnert nicht von ungefähr an die von Peirce vertraute semiotische Zeichentheorie, die das gesamte bio-physio-psychische Geschehen als Interpretationsprozess deutet. 116 PARSONS, TALCOTT, Durkheim on Religion, in: Ders., Action Theory (Anm. 24), 222. 117 A.a.O., 224f.
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Rituelles Handeln erfüllt somit eine dreifach soziale Funktion: Es formt die individuelle Persönlichkeit durch Integration, stiftet soziale Ordnung durch Wertbildung und inszeniert und regeneriert die kulturelle Matrix. Für Parsons gelingt das Ritualen deswegen, weil sie als Handlungen nicht nur kulturell codiert, sondern – was genauso wichtig ist – körperlich-leiblich in die natürliche Umgebung verwoben sind. In ihnen kommt die natürlich-kulturelle Doppelstruktur der humanen Lebensform besonders klar zum Vorschein. In der symbolischen Handlung offenbart sich der homo duplex, oder poetischer: „Die symbolische Handlung ist der ‚getanzte Ausdruck‘ einer bestimmten Haltung (dancing of an attitude)“118. 2.3 Religion und Ritual in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung: Zu Roy Rappaports ‚Ritual and Religion in the Making of Humanity‘ Rituale als ‚social act‘ und ‚symbolic action‘ zu verstehen, bedeutet nicht, sie allein anhand der Funktion religiöser Rituale zu begreifen. Nun könnte man bestrebt sein, den Zusammenhang von Religiosität und Ritualität vor allem in systematischer Hinsicht zu konturieren. Doch bliebe das zunächst hochgradig konstruiert. Anders sähe es aus, fände die systematische Analyse ihren Halt in der historischen Rekonstruktion. Eine gattungsgeschichtliche Genealogie, die auf die Ursprünge von rituellem und religiösem Handeln zurückgeht, bedarf zwar genauso ihrer geltungstheoretischen Explikation. Dennoch kann sie die Funktionen des Ritus und seine genuin religiöse Dimension erhellen. In der religiösen Gestaltung ritualisierter Handlungspraktiken, so wird bisweilen sogar behauptet, ließe sich eine Wegscheide aufzeigen, die animalische von humanen Lebensformen trennt. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Aufkommen von Religion an der Fähigkeit hängt, routinisierte und ritualisierte Handlungen reflexiv und kreativ zu formen.119 An diesem Punkt setzt die folgende Auseinander-
118 B URKE, K ENNETH, Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, 14. – Parsons ist mit dem Werk von Burke gut vertraut und zieht ihn in seiner Religionstheorie immer wieder heran: vgl. PARSONS, The “Gift of Life”, in: Parsons Reader (Anm. 114), v.a. 125–129. 119 Diese Doppelthese besagt, nicht Ritualisierung an sich sei ein Kennzeichen der conditio humana. Wie das Phänomen des Spielens als von Selbsterhaltung entlasteter, kreativer und regelgeleiteter Weltumgang bei Tieren zeigt, reichen die Wurzeln tiefer in die Vorgeschichte der Menschheit zurück. Umgekehrt kann das Spielen zu einem Paradigma für das Verständnis der Eigenart menschlicher Ritualität und Religiosität werden. In einer langen Tradition stehend verweise ich statt vieler auf: BELLAH, ROBERT N., Religion in Human Evolution. From Paleolitic to Axial Age, Cambridge (Ma.): Harvard Univ. Press 2011, 74–83.570–573.585– 587. – Dazu ausführlicher: POLKE, CHRISTIAN, Spiel, Kreativität und Utopie. Ein anthropologischer Versuch in kulturtheologischer Absicht, in: Ders./Markus Firchow/Christoph Seibert (Hg.), Kultur als Spiel. Philosophisch-theologische Variationen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 22), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019, 167–196.
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setzung mit dem großen Werk über Ritual and Religion in the Making of Humanity120 des US-amerikanischen Anthropologen Roy A. Rappaport (1926– 1997) an. Rappaport zeichnet für die Anfänge der Menschheitsgeschichte eine parallele Entwicklung nach, die zur Ausbildung von reflexivem Zeichengebrauch und Sprachcodes, damit zum symbolischen Ritualausdruck und zur Konzeption religiöser Weltbilder und Lebensformen führt. Damit steht er im Gegensatz noch zum späten Habermas, für den der Ritus in eigentümlicher Selbstreferenz und lebensweltlicher ‚Sachhaltlosigkeit‘ verharrt und für den die Ausbildung symbolischer Formen deswegen als kognitive Revolution durch Verlagerung auf sprachliche Interaktionsprozesse zu denken ist.121 Dabei grenzt Rappaport in seiner Charakterisierung das Ritual als Struktur von dessen konkreten Ausführungen, den Riten, ab: „Unter Ritual verstehe ich eine Form oder eine Struktur. Es handelt sich dabei um die Ausführung mehr oder weniger unveränderlicher Sequenzen formaler Handlungen und Aussagen, die nicht von den Akteuren codiert worden sind.“122 Rituale sind demnach Sequenzen von Handlungen, die einer bestimmten Ordnung unterworfen sind und die ansonsten in der Art ihrer Ausführung unveränderlich bleiben. Man kann deshalb in diesem Zusammenhang von liturgischen Ordnungen123 sprechen. Dabei erfüllen Rituale eine doppelte Funktion:
120 Vgl. R APPAPORT, R OY A., Ritual and Religion in the Making of Humanity, Cambridge (UK): Cambridge Univ. Press 1999. – Von theologischer Seite hat sich bislang nur Günter Thomas ausführlicher zu Rappaport geäußert. Thomas konnte aber das späte Hauptwerk noch nicht kennen, darum unterscheidet sich meine Darstellung in mancher Hinsicht von seiner Rekonstruktion. Vgl. THOMAS, GÜNTER, Medien. Ritual. Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, 422–434. 121 So etwa in: H ABERMAS, JÜRGEN, Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin: Suhrkamp 2012, v.a. 91–94. Mit der Kennzeichnung von Kultus und Ritus als „archaisch“ hält er mit Hartnäckigkeit an der kognitivistisch-normativen Verzerrung fest, die seiner These von der Versprachlichung des Sakralen zugrunde liegt. Nicht anders in: Ders., Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, in: a.a.O., 74. – Kritisch habe ich mich dazu geäußert in: POLKE, Idee der Menschenwürde, (Anm. 20), 256–262. 122 R APPAPORT, R OY A., Ritual und performative Sprache (1979), in: Ritualtheorien (Anm. 88), 189–208, 189. – Um der leichteren Verständlichkeit willen ziehe ich – soweit möglich – ins Deutsche übersetzte Texte für die Kennzeichnung seiner Theorie heran. Dieses Zitat findet sich auch in: RAPPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), 24. 123 Vgl. die etwa Definition: „[E]rinnern wir uns daran, dass der Begriff „liturgische Ordnung“ erstens die mehr oder weniger unveränderlichen Sequenzen formaler Handlungen und Aussagen, die einzelne Rituale ausmachen, bezeichnet und zweitens Sequenzen von Riten benennt, welche ganze rituelle Zyklen oder Reihen von Ritualen bilden. Der Begriff der „Ordnung“ ist hierfür besonders geeignet, denn diese Reihen von Ereignissen bilden Ordnungen mit mehr als nur der offensichtlichen Bedeutung der betreffenden Sequenz“ (RAPPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien [Anm. 88], 195).
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Zum einen begreift Rappaport sie mit Durkheim124 als basale soziale Handlungen, die eine moralische Verpflichtung beinhalten. Das Ritual ist „the basic social act“125. Rituale bilden die Basis für soziale Ordnungen noch vor jeder kontraktualistischen Gestaltung (und weit darüber hinaus): „not simply a symbolic representation of social contract, but a tacit social contract itself.“126 Zum anderen dienen Rituale der wechselseitigen Kommunikation sowohl derjenigen, die sie praktizieren als auch mit einer weiter gefassten symbolisch codierten Umwelt. Kommunikation ist dabei niemals nur als Information (information) zu verstehen, sondern hat immer zugleich eine Sinn und Bedeutung stiftende Komponente (meaning). Solidarische Sozialität und Sinnkommunikation werden über kooperative, symbolische Handlungen bzw. Handlungssequenzen gestiftet, eben durch Rituale. Weiterhin unterscheidet Rappaport zwischen einer in der liturgischen Ordnung festgehaltenen kanonischen Botschaft und einer selbstreferentiellen. Erst, wenn man beide zusammennimmt, lässt sich die Performativität ritueller Handlungen hinreichend erfassen. Wird durch die kanonische ‚message‘ eine symbolische Ordnung und deren Bedeutung, die über die konkrete Situation hinausreicht, garantiert, so wird letztere durch die selbstreferentielle Bedeutung als ‚here and now‘ der Handelnden thematisch. Rituale leben von der Partizipation aller ihrer Akteure, d.h. aller an ihnen Beteiligten (Anwesenden). Das unterscheidet sie zumeist etwa von (neuzeitlich-klassischen) Theatervorstellungen und darauf beruht ihre indexikalische Wirkung. „Das heißt, indem der Akteur eine liturgische Ordnung ausführt, akzeptiert er – und zeigt sich selbst und anderen auch, dass er akzeptiert –, was immer in den Kanones der liturgischen Ordnung, an denen er teilnimmt, codiert ist.“127 Rituale stellen von daher ‚enactments of meaning‘ dar. In konkreten Riten wird Bedeutung gestiftet und zwar in der doppelten Weise, dass die Bedeutung dessen, was getan wird, verknüpft wird mit der Bedeutung desjenigen, der dies tut. Natürlich erhält diese performative Konstellation ein deutlicheres Gewicht
124 Zum Verhältnis Durkheim und Rappaport siehe: LOTTER, M ARIA-SIBYLLA, Schweine für die Vorfahren. Zu Roy Rappaports Kybernetik des Heiligen, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt/M. 2008, 275–298; 284f. Der Titel dieses Aufsatzes knüpft an Rappaports berühmte Dissertation Pigs for Ancestors aus dem Jahre 1968 an. – Auch Keith Hart stellt in seinem Vorwort des posthum veröffentlichten Hauptwerks von Rappaport diesen in die Traditionslinie Durkheims: vgl. RAPPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), xiv–xix. 125 R APPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), 138. 126 Ebd. 127 R APPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien (Anm. 88), 196 (Kursiv im Original). – ‚Akzeptanz…‘ meint hier keine bewusste Anerkennung bestimmter kognitiver Überzeugungsgehalte, die im Ritual zur Sprache kommen, sondern die Zustimmung zur Selbstpositionierung innerhalb des rituellen Geschehens. Ohne diese Zustimmung würde das Ritual nicht funktionieren.
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mit dem Auftreten der Sprache. Mit ihr treten neue Möglichkeiten ein, das kommunikative Setting, das zugleich eine Sozialform konstituiert, zu gestalten: kreativ, indem alternative Optionen aufgezeigt und dargelegt werden; positiv, indem kooperatives Verhalten explizit gemacht wird; und schließlich negativ durch die Möglichkeit bewusster Täuschung.128 Was Rappaport die große Inversion durch reflexiven Sprachgebrauch nennt, besteht im Kern durch die Möglichkeiten von Lüge und Alternative.129 Stellt die Sprache ein Instrument zum komplexen Zeichengebrauch dar, so dient sie einerseits dazu, die Realität in ihren komplexen Zügen bestimmbar zu machen, und andererseits verschärft sich damit die Wahrnehmung des Kontingenten, Unbestimmten, Prekären und Variablen. An diesem Punkt setzen Rituale an, indem sie Bedeutsamkeiten und Bedeutungen sichern und stabilisieren helfen: Die Vorteile symbolischer Kommunikation sind offensichtlich. Durch Symbole kann Kommunikation dem Hier und Jetzt entkommen und sich auf die Vergangenheit, die Zukunft, das Ferne, das Hypothetische und das Imaginäre beziehen. Mit einem komplexen Symbolsystem wie der natürlichen Sprache kann eine unbegrenzte Menge an Botschaften durch geregelte Zusammenstellung einer kleinen Zahl von elementaren Einheiten codiert werden. Obwohl einige andere Spezies einen wenn auch sehr begrenzten Gebrauch von Symbolen machen, ist symbolische Kommunikation typisch für den Menschen.130
Religiöse Rituale haben demgegenüber eine spezifische Rolle. Sie lässt sich anhand der drei Ebenen von Sinn (meaning) festmachen, die die rituelle Struktur prägen können: die alltägliche oder wissenschaftliche, denotative ‚low-order meaning‘; die größere Zusammenhänge modellhaft erklärende ‚middle-order meaning‘; und schließlich die letztgültige, axiomatische Form der ‚high-order meaning‘. Mit allen drei Sinnebenen operiert der Mensch, der sich seiner Umgebung physisch anzupassen hat und dabei durch seine Anpassungsleistungen als Tätigkeiten dieser Umwelt Bedeutung zukommen lässt. Immer schon leitet ihn dabei eine nicht weiter verifizierbare, sondern stets nur vergewisserbare und unhintergehbare Ordnung des Logos, der alle diese mittleren und tiefen Bedeutungsebenen, die Welt der Logoi, trägt und fundiert. Religiöse Rituale in ihren liturgischen Ordnungen thematisieren die nicht mehr einholbare axiomatische Ordnung und verbürgen jene ‚heiligen Postulate‘, die als oberste Sinnprinzipien das Sakrale ausmachen. „Ich bezeichne das Sakrale als die Eigen-
Vgl. RAPPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), 9–22. In den Worten Lotters: „Das Ritual, so Rappaport, liefert von Anfang an ein notwendiges Korrektiv für Probleme, die durch die Sprache und die durch sie möglich gewordenen Lügen entstanden sind – Probleme, die andernfalls tödlich wären“ (LOTTER, Schweine für die Vorfahren [Anm. 124], 291). 130 R APPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien (Anm. 88), 192. 128 129
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schaft der unbezweifelbaren Wahrheit, die eine Gruppe von Menschen gewissen Sätzen zuschreibt, die von Natur aus weder verifizier- noch falsifizierbar sind.“131 Mit dem zuletzt Gesagten ist nicht an eine kritikimmune Metaphysik gedacht, sondern an das Spezifikum religiöser Rituale als performative Selbstinszenierungen sakralen Sinns. Was man gemeinhin den Ewigkeitswert des Heiligen nennt, meint vor allem dessen fundamentale Ordnungs- und Orientierungsfunktion für den Raum, die Struktur (der Welt) und die Zeit. Es geht nicht um einen Letztbeweis und auch nicht um Immunisierung, sondern um die Art und Weise, wie axiomatischer Sinn Realität erhält und anzeigt: if the ritual form makes unquestionable whatever it represents then ultimate sacred postulates, by being ‚truly said‘ in liturgy bring into being metaphysical facts or states of affairs corresponding to themselves. This act of creation by word, fundamentally performative in nature, is immediately mystified as constative expression. The result is that the correspondence theory of truth remains intact but is, as it were, ‚stood on its head‘.132
Deswegen ist es auch kein Bruch in der Argumentation, wenn Rappaport auf die Fragilität sakraler Axiome verweist. Sie unterliegen genauso der fragilen Bedingung von Sprache (Lüge) und menschlicher Lebensform (Endlichkeit). Dies gilt schon allein deshalb, weil heilige Postulate, letzte Axiome, trotz ihres (korrespondenztheoretischen) Anspruchs auf Wahrheit, diesen nur pragmatisch einholen können. Sie hängen von ihrer Dienlichkeit im Prozess der weitergehenden Menschwerdung des Menschen, so könnte man sagen, ab: „[E]ine Aussage [ist] insofern wahr, als sie das, was erkennbar von allgemeinen Wert ist, auch als allgemein wertvoll wiedergibt“133. Trotz ihrer unmittelbaren Referenzlosigkeit können letzte Postulate soziale Ordnungen stabilisieren oder destabilisieren, den lebensweltlichen Alltag prägen, normieren und strukturieren.134 Anders als Habermas und noch schärfere Kritiker kognitiver Eigenaspekte ritueller Praxis135 steht für Rappaport fest: Religiösen Ritualen kommt eine kognitive Funktion zu, die für jede Sinnkonstitution wichtig ist. Was darüber hinaus den Ansatz von Rappaport für unsere Fragestellung interessant macht, ist seine selbstständige Einordnung von Erfahrungsweisen des Göttlichen. Im Anschluss A.a.O., 202. – Beispiele für solche sprachlichen Postulate, die nicht nur einfache Überzeugungen, sondern auch selbstreferentielle Bekenntnisse darstellen, sind etwa das jüdische Shema Israel oder das muslimische Kalimat al Shahada, siehe dazu: Rappaport, Ritual and Religion (Anm. 120), v.a. 277–281.287–290. 132 R APPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), 344. 133 LOTTER, Schweine für die Vorfahren (Anm. 124), 294. 134 Die Stichworte einer Evaluation, die zur Überzeugung von der Wahrheit letzter Axiome verhelfen, lauten: Wahrhaftigkeit, Normalität, Legitimität und Zuverlässigkeit: vgl. RAPPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien (Anm. 88), 204. 135 Am radikalsten sind hierbei Ansätze in der Nachfolge von Frits Staals berühmter These von der Sinnlosigkeit von Ritualen. Vgl. STAAL, FRITS, The Meaninglessness of Ritual, in: Numen 26 (1979), 2–22. 131
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an Rudolf Otto136 beharrt Rappaport darauf, dass der wesentliche Unterschied zwischen sakralen Axiomen und Erfahrungen des Numinosen bzw. Mystischen darin liegt, dass nur erstere sich ganz versprachlichen lassen. Dementsprechend ist dem Nicht-Diskursiven im Numinosen Rechnung zu tragen. Im Ritual entsteht aus der Überkreuzung des versprachlichten Sakralen und des darüber hinausgehenden Numinosen eine Ahnung des Göttlichen: „The union of the numinous, a product of emotion, with the sacred, a product of language, suggests possible grounds for the notion of the divine“137. Für Rappaport laufen diese beiden Stränge nicht nebeneinander her, noch wird ihnen ausschließlich entweder die Gefühls- oder die Intellektseite des Menschen zugeordnet.138 Gehört doch zum Wissen um letzte Postulate das Wissen um deren Kontingenz (grace) und Unhintergehbarkeit (Notwendigkeit) ebenso wie Emotionen, die sich kollektiv rituell artikulieren, eine communitas erzeugen, die sich über sich selbst verständigen kann.139 Religiöse Erfahrungen, wie sie sich im Vollzug von Ritualen einstellen, sind aus diesen Gründen auch nicht nur Kontrollmechanismen und Stabilisatoren menschlicher Gefühlshaushalte oder von Welt- und Gesellschaftsordnungen. Sie führen zugleich zu kontrollierten Transgressionen mundaner wie sakraler Ordnungen. Hier spielt erneut ein Motiv von Ottos Religionstheorie, nämlich die Janusgesichtigkeit des Heiligen als mysterium tremendum et fascinosum, hinein. Die Nähe von rituellem Handeln und religiöser Ordnung resultiert aus einer gemeinsamen thematischen Überschneidung. Beide behandeln Fragen von Ordnung und deren Durchbrechung (Chaos), von Transzendenz und Kontingenz, von Wahrheit und Lüge, Vernunft und Exzess. Anthropologische und soziale Aspekte der humanen Lebensform werden hier behandelt, ja, sie werden eigentlich erst durch die rituelle Performance und den religiösen Symbolcode aufgeschlossen und prägnant. Das macht den spezifischen Zusammenhang von humaner Evolution, Ritual- und Religionsentwicklung aus: In der Vereinigung des Sakralen mit dem Numinosen werden die abstraktesten Ideen und entferntesten Ideen mit den unmittelbarsten und substanziellesten Erfahrungen verbunden. Wir sind letztlich mit einem bemerkenswerten Spektakel konfrontiert. Das Unfalsifizierbare vom Unwiderlegbaren unterstützt, ergibt so das Unbezweifelbare, welches das Ungewisse, 136 Vgl. R APPAPORT, Ritual and Religion (Anm. 120), 377–379.385. – Es ist ein durch Otto selbst mit verursachtes Missverständnis, in ihm einen Theoretiker des Irrationalen in der Religion zu erblicken. Seinem Anliegen wird man eher dadurch gerecht, das Nicht-Diskursive in der Idee des Göttlichen – um auf den Untertitel von Das Heilige anzuspielen – herauszustellen. 137 A.a.O., 396. 138 Vgl. a.a.O., 399. 139 Vgl. a.a.O., 384. – Zur wechselseitigen Verschränkung siehe auch folgende Bemerkung: „Wie das Sakrale aus der Unveränderlichkeit liturgischer Ordnungen entstehen kann, so kann das Numinose durch den Einklang des Rituals heraufbeschwört werden“ (RAPPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien [Anm. 88], 205).
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das Willkürliche und das Konventionelle in das Richtige, das Notwendige und das Natürliche transformiert. Diese Struktur möchte ich behaupten, ist die Grundlage, auf der die spezifisch menschliche Lebensweise gründet. Diese wird im Ritual verwirklicht. Im Zentrum des Rituals – in seinem ‚Kern‘ – steht die Beziehung des Akteurs zu seiner eigenen Performance.140
Auch spezifische, etwa personale Gottesbilder, resultieren somit aus rituellen Praktiken und deren symbolischen Codes. Sie sind zugleich Aussagen über den, der sie trifft, wie über das, was er erfährt und über die Welt, wie er sie sieht. Ihre Erschließungsfunktion für die Wirklichkeit, die von Rappaport nicht religionskritisch als illusionäre Adaption abgetan wird141, zeigt sich daran, ob sie etwas prägnant zum Ausdruck bringt, was sich nur bedingt der Artikulation fügt. In der Spannung aus diskursivem Zur-Sprache-Bringen und dem GewahrWerden der Präsenz eines nicht darin Aufgehenden kommen schließlich die Transzendenz des Göttlichen, die Kontingenz von Welt sowie die Grenzen der Sprache am Ort des Rituals, der konkreten Riten, des Gottesdienstes, zur Geltung: [T]he divine object – that which is denoted or represented by an Ultimate Sacred Postulate – is predicated as present and urgent in ritual by the numinous experience of worshipers who take their experiences to be reactions to, or experiences of, divinity.142
3. Ritus und Realität: Zur performativen Bewährung symbolisch codierter Wirklichkeit 3. Ritus und Realität
Die Ko-Evolution von Ritual und Religion als wesentlicher Motor in der Entwicklung der Menschheit spricht für die doppelte Vorgehensweise einer ritualtheoretischen Fundierung von Religion und einer religionstheoretischen Analyse der Funktion des Rituals. Man könnte es auch so sagen: Zu fragen, ob wir es mit Religion zu tun haben, ist vornehmlich auch eine Frage, wo wir Handlungen erkennen bzw. beobachten können, die in herausragender Weise die Züge des Rituals annehmen. Und umgekehrt erschließt sich darin auch das, was Religion sein könnte. Das meint keine Ineinssetzung von Religion und Ritual. Vielmehr bedeutet dies in Konsequenz: Das, was Rituale, wenn sie religiös sind, leisten, muss noch genauer spezifiziert werden, sowohl dahingehend, was sie mit anderen rituellen Praktiken und ritualisierten Praxen teilen, als auch dahin-
RAPPAPORT, Ritual und performative Sprache, in: Ritualtheorien (Anm. 88), 207. Dies gilt es zu betonen, um nicht Passagen, wie die folgende, misszuverstehen: „God’s Being is the sum, or rather the amalgamation of its creatures’ status of being“ (RAPPAPORT, Ritual and Religion [Anm. 120], 399). – Rappaports Verständnis von Adaption, das hier eine Rolle spielt, wird von ihm im Rahmen seiner Kybernetik des Heiligen erörtert und bedürfte einer eingehenderen Untersuchung: vgl. a.a.O., 406–437. 142 A.a.O., 398. 140 141
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gehend, worin ihr prinzipieller Eigenwert besteht. Religiöse Rituale sind ja zunächst eingebettet in ein Geflecht oder besser gesagt: in das Zusammenspiel von organischer Natur, physischer Umwelt, soziokultureller Lebenswelt und psychischer Selbsterfassung. Insofern umfassen sie expressive und kognitive Aspekte und stellen als Interaktionen eine gemeinsam erfahrene und symbolisch erfasste Lebenswelt situativ oder institutionell überdauernd dar. Der performative Charakter religiöser Ritualhandlungen begründet darüber hinaus ihren herausragenden Stellenwert für die kulturelle und symbolische Erfassung der Lebenswelt von Menschen. Es sind drei Funktionen, die es hier herauszustellen und im Folgenden zu entfalten gilt: Erstens zeigt das rituelle Handeln, wie es zur symbolischen Codierung von Wirklichkeit und damit zur symbolischen Präganzbildung von Erfahrung im emphatischen Sinne kommt, und zwar nicht nur mittels Bereitstellung von symbolischen Vokabularen, sondern mehr noch in der Erzeugung von deren Vertrauenswürdigkeit. Zweitens lenkt die soziale Konstitution von Erfahrung im Ritual sowie der symbolische Ausdruck von kollektiv erfasster und affektiv-emotional gefasster Situationswirklichkeit, wie wir sie bei Durkheim, Geertz und Rappaport kennengelernt haben, das Augenmerk erneut auf das Faktum der moralischen Idealbildung. Schließlich arbeiten sich religiöse Rituale im Besonderen drittens an der generellen Konstitution von Sinn und Bedeutung ab. Deswegen stellt sich die Frage nach der prinzipiellen Ambivalenz und Ambiguität der situativ erfassten aber generell erfahrenen Realität. Wenn Handeln stets die Bearbeitung von kontingenten und prekären Situationen durch symbolische Identifizierung und Integration ist, dann sind religiöse Rituale der Kasus für die Erfassung und Bearbeitung von Kontingenz schlechthin. Religiöse Ideen, Ideale und Kategorien, mit denen die Welt und ihre Aspekte erfasst und rituell Praktizierende in eine symbolische Ordnung einbezogen werden, thematisieren den prinzipiellen Charakter von Realität als kontingenter. Mit den drei maßgeblichen Ritualfunktionen im Aufbau einer symbolisch strukturierten Lebenswelt als Handlungswelt von Menschen steht zugleich das Verhältnis von ritueller Praxis und Realitätserschließung zur Debatte. So wird das Ritual zugleich als Modell und Ort verstanden, mit dem und an dem wir Wesentliches über die Funktion elementarer Erkenntniskategorien, Wertideale und affektiver Einstellungen und Verhaltensmuster lernen können; und zwar ohne dadurch einem radikalen Konstruktivismus zu verfallen, weil wir im rituellen Handeln, wie in allen Handlungssituationen, stets schon auf etwas zu reagieren haben. So gibt sich streng genommen darin ‚Realität‘ kund. 3.1 Das Ritual als Modell für symbolisch codierte Wirklichkeit Wenn Rituale als Handlungen verstanden werden, die dazu verhelfen, durch symbolische Codierung Wirklichkeit zu erschließen und zu strukturieren, legt sich die Überlegung nahe, das Ritual – ritualtheoretisch – auch als ‚Modell‘ zu
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begreifen. Beides ist zu unterscheiden. Empirisch gesehen funktionieren rituelle Handlungen nicht nur in dem gerade eben beschriebenen Sinne. Und doch bedarf es nicht erst zur interpretativen Erfassung und Rekonstruktion dessen, was wir Ritual nennen, einer modellhaften Anordnung. Rituale lassen sich als Handlungsmodelle beschreiben und dementsprechend erhält die Ritualtheorie modelltheoretische Züge. Clifford Geertz hat darauf aufmerksam gemacht, dass Rituale als ‚Modelle‘ der Erzeugung, Erneuerung und Veränderung von Symbolsystemen dienen.143 Das ist selbst eine metaphorisch-heuristische Beschreibung. Er selbst zieht dazu einen Vergleich mit genetischen Codes und Programmen heran. Betreffen die letzteren ganze (biologische) Gattungen und sind demnach relativ invariabel, so geht den kulturellen Programmen als Symbolcodes jede Generalität, Universalität und relative Unveränderlichkeit ab. Sie unterliegen deutlich höherer Variabilität, was andere Weisen ihrer Stabilisierung und Erneuerung notwendig macht. Mag man auch die von Geertz vorgeschlagene Parallelisierung von intrinsischer und extrinsischer Information mit genetischen und kulturellen Codes als zu simplifizierend werten, da die organischen Prozesse selbst nie nur genetisch festgelegt sind, so dient seine Differenzsetzung doch der Veranschaulichung der Funktion von Ritualen für die symbolischen Systeme oder Formen der Kultur. In einem früheren Text schreibt er: Whatever their other differences, both so-called cognitive and so-called expressive symbols or symbol-systems have, then, at least one in common: they are extrinsic sources of information in terms of which human life can be patterend – extrapersonal mechanisms for the perception, understanding, judgement, and manipulation of the world. Cultural patterns – religious, philosophical, aesthetic, scientific, ideological – are ‚programs‘; they provide a template or blueprint for the organization of social and psychological processes, much as genetic systems provide a template for the organization of organic processes.144
Allerdings bringt die Programmmetapher mit sich, Rituale als festgelegte Steuerungsmechanismen traditioneller oder normativer Art zu begreifen. Das würde der Ritualdynamik, ihren historischen Wandlungsprozessen wie auch ihrem
143 Vgl. G EERTZ, C LIFFORD, „To Exist Is to Have Confidence in One’s Way of Being“. Rituals as Modell Systems, in: Angela N.H. Creager/Elizabeth Lunbeck/M. Norton Wise (Hg.), Science without Laws. Model Systems, Cases, Exemplary Narratives, Durham/London: Duke Univ. Press 2007, 212–224. Modell wird von ihm hier, wie folgt, definiert: „An object or process selected for intensive research as an exemplar of a widely observed feature of life“ (a.a.O., 213). – Der Modellcharakter von Ritualen zeigt sich an den Merkmalen von „specifity, typicality, materiality, complexity, accessibility, standardization, boundedness, individuation, narratability, and ‚self-reinforcingness‘“ (a.a.O., 213f.), die in anderer Konstellation auch für genetische Programme gelten. 144 G EERTZ, Ideology As A Cultural System (1964), in: Interpretation (Anm. 56), 193– 233, 216.
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Handlungscharakter von vornherein widersprechen.145 Demgegenüber ist die Modellmetaphorik klar im Vorteil, gelingt es ihr doch leichter, die Strukturierungsfunktion von Ritualen mit deren Variabilität und Kontingenz zu verbinden. Modelle formalisieren und zeigen Regelhaftigkeiten auf, aber sie unterliegen doch je der konkreten Ausgestaltung, d.h. Modellierung.146 Auf die Vielfalt der Rituale angewendet bedeutet dies: Religiöse wie nichtreligiöse Rituale stellen Konkretisierungen eines bestimmten Prototyps von Handlungsform dar. Beten und Meditieren, Opfern, Schwören und Segnen unterscheiden sich, trotz einer gemeinsamen Strukturierungsfunktion, nicht nur in Nuancen. Vielmehr stellen sie divergente Reaktionsmuster dar, mit der Erfahrungen unterschiedlich konnotiert und symbolisiert werden. In diesem Kontext steht die Rede vom Ritual als Modell für die symbolische Codierung von Wirklichkeit. Rituale stellen einen spezifischen Zugang zur Erfassung und Erkenntnis von Wirklichkeit dar. Sie sind ein ausgezeichneter Ort, der uns Aufschluss darüber gibt, wie bestimmte Grundmuster unserer Wirklichkeitserkenntnis sich performativ einstellen und bewähren. Dazu bedarf es einer spezifischen Art des Symbolgebrauchs. Susanne K. Langer hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Symbolisierung im Ritual nicht primär diskursiver, sondern präsentativer Art ist. Sie erschließen Wirklichkeit, indem sie sie als symbolisch prägnant, d.h. mit Bedeutung geladen präsentieren und formen: Präsentative Symbolbildungen sind konstruierte und komplexe Gestaltungen, die das Fluidale, Prozesshafte und Unabgeschlossene der Wahrnehmungs- und Bezeichnungstätigkeit gleichzeitig transformieren und bannen. (…) Während nun diskursive Symbole die Welt verdinglichen helfen, manifestiert sich in präsentativen Symbolen eine Expression, die zur Form findet. Mythen und Rituale als die basalen Ausdrucksgestalten der Religion sind (…) solche zur lebendigen Form transformierten Wahrnehmungserlebnisse, in denen sich der menschliche Geist schon in seiner frühesten Entwicklung Abstand von der Welt verschafft, indem er sie sich vorstellig macht.147
145 Dies kritisieren teilweise zu Recht am (frühen) Geertz unter Aufnahme der Einwände von Asad: SELIGMAN, ADAM B., et.al., Ritual and Its Consequences. An Essay on the Limits of Sincerity, Oxford/New York: Oxford Univ. Press 2008, 19f. 146 So in latenter Selbstkorrektur: G EERTZ, „To Exist is to Having Confidence…“, in: Science (Anm. 143), 214. – Vom Ritual im Singular sprechen zu können, resultiert nicht aus einer einheitlichen Struktur seiner kulturell diversen Gestalten, sondern aus seinem Modellcharakter als Prototyp (vgl. a.a.O., 221). 147 B AHR, PETRA, Susanne K. Langer: Religion als Auftakt des Geistes in der Theorie des Lebendigen, in: Drehsen u.a., Kompendium Religionstheorie (Anm. 49), 147–157, 149. – Zur Differenz von präsentativem und diskursiven Symbolgebrauch siehe: LANGER, SUSANNE K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M.: Fischer 1965, 86–108. Man muss weder Langers naturalistische Theorie des Geistes noch ihre Einschätzung von Religion als letztlich archaische Welterschließungsleistung teilen, um die Bedeutung der präsentativen Symbolfunktion anzuerkennen.
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Der expressive Charakter des Symbolgebrauchs im Ritual, den wir schon bei Parsons, Geertz und anderen kennengelernt haben, stellt die elementare Form symbolischer Prägnanz dar, die zugleich Rückwirkungen auf das Subjekt der Erfahrung und Wahrnehmung hat. Rituale strukturieren somit sowohl die affektive Innensicht des Menschen wie seine Wahrnehmung von Welt. Dies geschieht in Form einer Ordnung stiftenden und gestaltenden Reaktion auf Wirklichkeit, jedoch nicht rein expressiv, weswegen Langers scharfe Unterscheidung von diskursiv und expressiv mit Vorbehalt zu rezipieren ist. Denn der expressiv zur Form werdende Gehalt ist sehr wohl transformierbar und partiell diskursiv vermittelbar. Langer selbst scheint dies durchaus im Blick zu haben, wenn sie schreibt: Ritual ist mehr im logischen als im physiologischen Sinne Ausdruck von Gefühlen (…) in erster Linie ist es eine Artikulation von Gefühlen. Das Endergebnis solcher Artikulation ist nicht eine einfache Gemütsbewegung, sondern eine komplexe, permanente Haltung.148
Der Übergang zur Artikulation, sei es der Gefühle oder anderer Sachverhalte, produziert eine Formung von Wirklichkeit, die nachhält. Die Permanenz einer Haltung, die sich über das im Ritual zur Artikulation Gebrachte hinaus festigt und erhält, so dass diese „Haltung – die Antwort des Verehrenden auf die durch die heiligen Symbole verliehene Einsicht – (…) als emotionale Struktur, jedwedes individuelle Leben [durchhält]“149, beruht teils auf ihrer prinzipiellen Angewiesenheit auf Wiederholung; sie gründet sich aber teils auch darauf, dass Rituale performative Handlungen sind. Das heißt, in ihnen wird in eo actu erfahrbar, was sich in ihnen präsentiert. Anders als Erkenntniskonstellationen, die den Abstand von der natürlichen Erkenntniseinstellung zugunsten einer methodisch-kontrolliert gestalteten Erkenntnissituation voraussetzen, wird hier Realität unmittelbar symbolisch erfahrbar, und zwar so, dass Erfahrungssubjekt und Erfahrungsobjekt gleichermaßen Form (Konturen) erhalten. 3.2 Ritual und Ritualisierung als performative Praktiken Der performative Zug ist ein wichtiger Aspekt im Verständnis des Rituals. Damit wird zuvorderst angezeigt, dass rituelles Handeln sein Proprium weniger darin hat, einer bestimmten Zweckrationalität folgend eine Absicht intentional umzusetzen. Zwar darf man die Differenz zwischen teleologischen, kreativen, routinierten, rituellen und instrumentell-strategischen Handlungsformen nicht zu scharf stellen, weil sich ein und dieselbe Praxis (Praktik) gleichwohl unter mehrere dieser Typen einreihen kann. Gleichwohl ist es dem performativen Zug rituellen Handelns vornehmlich geschuldet, dass im Gegensatz etwa zum teleologischen oder stragetischen Handlungstyp weniger streng und statisch zwi-
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LANGER, Philosophie (Anm. 147), 155. Ebd.
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schen Handlungsakteuren, ihren Intentionen und den Handlungsfolgen unterschieden werden kann, weil hier allererst ein mit Bedeutungen besetzter Handlungsraum mit Handlungssubjekten in actu konstituiert wird. Dies betrifft dann nicht minder den Sinn und die Folgen der Handlungen (Praktiken) sowie das Selbstverständnis der beteiligten Akteure. Das alles hat religionstheoretische Konsequenzen. Zum einen verlangt auch die Religion – wie das Ritual –, „das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität (…) in Wechselbalance zu halten“150, weil die Artikulation innerer Stimmungslagen und Einstellungen im symbolischen Ausdruck nicht als ein reines Äußerlich-Werden zu begreifen ist. Andernfalls wäre das Ritual lediglich ein Vehikel zur Darstellung von unmittelbar Erlebtem. Aber der performative Zug lässt gerade dies nicht zu, weil er streng genommen erst die Differenz von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, von sinnlichem Eindruck und symbolischem Ausdruck, von Subjekt und Objekt schafft. Darin kommt die „Untrennbarkeit von Performanz und Transzendenz“151 zur Geltung, wie sie nicht nur für den religiösen Kultus einschlägig ist. Der performative Vollzug der symbolischen Handlung steht für das sich jeder endgültigen Fixierung entziehende Moment des Sinnüberschusses als Transzendenz. Anders gesagt: Der Vollzug des Kults manifestiert die transzendierende Kraft der Symbole gegenüber allem einsinnigen Produzieren. Dass Individuen in Stimmungen versetzt werden und darin in höchstem Maße beteiligt sind, zeigt sich spätestens am Versuch, sich ihnen durch Einsprüche und andere Praktiken zu entziehen. Dabei werden andere Deutungsmuster oder Kultpraktiken mit Gegenbildern beansprucht. Kulte sind vielfach Gegeninszenierungen. 152
Die performative Konstellation des Rituals ist somit keine inhaltsleere. Der Fokus auf Performanz zielt nur dann nicht ins Leere, wenn man beachtet, dass mit ihm versucht wird, die Form bzw. Präsentation des Inhalts genauer zu beschreiben. Drei Aspekte des Performativen sind hierbei hervorzuheben153: Der erste bezieht sich auf den Zusammenhang von Sprechen und Handeln. Er ist so eng, dass man eigentlich von einer Sprechhandlung reden könnte. Die aus den Sprechakttheorien Austins154 und Searles einschlägigen Beispiele entstammen nicht überraschend dem religiös-zeremoniellen Bereich, z.B. die Taufe oder DIERKEN, JÖRG, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012, 38. 151 Ebd. 152 A.a.O., 40. Was Dierken dem ‚einsinnigen Produzieren‘ attestiert, gilt eben auch für alle darauf basierenden Projektionsthesen. 153 Damit übernehme ich eine Unterscheidung von: Stanley J. Tambiah: vgl. TAMBIAH, STANLEY J., Eine performative Theorie des Rituals (1979), in: Ritualtheorien (Anm. 88), 223–246, hier: a.a.O., 226. 154 Vgl. A USTIN, JOHN L., Zur Theorie der Sprechakte (How To Do Things With Words), dt. von Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 1979. – Auf die Unterschiede zwischen Austin und Searle muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da uns ausschließlich prinzipielle Züge des Performativen interessieren. 150
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Eheschließung. Dabei folgen Rituale stets konventionellen Regeln und Mustern, die dann nochmals in konstitutive und regulative untergliedert werden können.155 Während die ersteren eine bestimmte Handlung überhaupt erst als solche konstituieren, analog zu Spielregeln im Sport, dienen letztere der Strukturierung und Orientierung von so konstituierten Vollzügen (z.B. als Tischmanieren beim Abendessen als Ritual). Entscheidend aber ist, dass die Sprechhandlung selbst die Wirklichkeit konstituiert, die sie erschließt: Wer getauft wird, wird damit zum Glied in der Gemeinde Christi. Für den zweiten Aspekt kann nochmals an den geläufigen, wenn auch nicht trennscharfen Unterschied zwischen einer klassischen Theater- oder auch Kinovorstellung und einem religiösem Ritual erinnert werden. Anders als bei ersteren sind bei letzterem die Teilnehmer, auch wenn sie innerlich unbeteiligt und äußerlich unsicher sein mögen, auf andere Art und Weise involviert. Sie sind selbst Teil des Vollzugs, sind als Mitspieler – und nicht nur Zuschauer – zu verstehen. „Die Teilnehmer der Hauptrituale vitaler, tribaler oder posttribaler Religion mögen sich im rituellen Prozess einmal passiv, dann wieder aktiv verhalten (…) Alle Sinne der Teilnehmer und Ausführenden können beteiligt sein“156. Mit Turner, von dem das Zitat stammt, lässt sich schließlich noch eine weitere Differenz markieren. Rituale sind nicht einfach Zeremonien, die etwas anzeigen und vollziehen, was auch mehr oder weniger unabhängig davon festgestellt werden könnte, sondern sie verändern die Teilnehmer selbst: „Eine Zeremonie ist indikativisch, ein Ritual transformativ.“157 Der dritte Aspekt verweist auf die indexikalische Funktion. Darauf kam schon Rappaport mit Rekurs auf die Semiotik von Charles Sanders Peirce zu sprechen. Nach letzterem sind Indexe Zeichen, die mit einem durch sie ‚indizierten‘ Objekt in einer – wie Peirce sagt – „existentiellen Relation“158 stehen. Diese kann natürlich oder kulturell gegeben sein. Rituale haben neben ihrem kanonischen einen selbstreferentiellen Charakter, der sich in doppelter Hinsicht auf die Ritualteilnehmer auswirkt: einmal, indem sich im Ritual eine bestimmte Bedeutung für ihn erschließt; zum anderen, dass er selbst Teil dieses Bedeutung erschließenden Vorganges wird. Man kann von einem existentiellen Bedeutungstransfer reden, da es weniger darum geht, sich auf konventionelle Weise Bedeutungen zu vergewissern oder diese ikonisch zu repräsentieren, als vielmehr diejenigen Bedeutungen prägnant zu machen, die rituelles Handeln für den rituell Handelnden hat. Dieser letzte
155 Zu dieser Unterscheidung siehe: SEARLE, JOHN R., Sprechakte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, v.a. 54–60. 156 TURNER, V ICTOR, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M./New York: Campus Neuausgabe 2009, 130. 157 A.a.O., 128. 158 PEIRCE, C HARLES S., Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21993, 65.
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Aspekt macht in gewisser Weise das Spezifikum ritueller Praxis aus.159 Doch dürfen die drei Aspekte nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie alle sind zu berücksichtigen, wenn es darum geht, zu beschreiben, was sich im Ritual verdichtet zeigt und was unter dem modischen, in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften omnipräsenten Schlagwort der ‚Performanz‘ subsummiert wird. Über die emphatische Betonung von Performanz und ihrer Verknüpfung mit der Transzendenzdimension von Sinn, wie sie vor allem ritualtheoretischen Diskursen eignet, darf nicht vergessen werden, dass performative Handlungen viel tiefer in unsere lebensweltlichen Alltagskontexte eingelagert sind. Hier wäre in nicht pejorativem Sinn von Ritualisierung und Routinierung zu reden. Die Übergänge zwischen explizit rituellem Handeln und ritualisierten Praxen sind fließend; bedeutet doch Ritualisierung zunächst, dass sich bestimmte Handlungsmuster als für Situationen typische herausgestellt und eingespielt haben. Ihr Vollzug gilt als mehr oder weniger selbstverständlich und nicht weiter explikationsbedürftig. Das kann sich ändern und dann gilt es, sich auf emphatisch rituelle Weise, sich des darin artikulierten Sinns zu vergewissern. Ritualisierung lässt sich von daher positiv als eingespielte Form kultureller Gestaltung alltäglichen Sinns begreifen. Von daher erklärt sich auch ihre mehr oder weniger stereotypisierte und konventionelle Form.160 Der performative Zug bleibt aber auch darin ungebrochen erhalten.161 3.3 Symbolische Erfahrungskontrolle: die kognitive Funktion des Rituals Damit sind wir an dem Punkt anbelangt, an dem wir die drei Funktionen, die insbesondere religiöse Rituale kennzeichnen, näher beschreiben müssen. Sie entstammen einer modelltheoretischen Betrachtung des Rituals. Maßgeblich Zur grundsätzlichen religionsphilosophischen Bedeutung von Ritualität, siehe: DEUHERMANN, Religionsphilosophie, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 447–473, v.a.
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SER,
452. 160 Es liegt nahe, dass die implizite protestantische Matrix vieler Religionstheorien verhindert, einen unverstellten Blick auf die Bedeutung von ritualisierten und routinierten Praktiken auch auf dem Gebiet der Religion zu gewinnen. Anders etwa eine sich an das konfuzianische Ideal von Kultiviertheit anlehnende Ritualtheorie auf pragmatistischer Grundlage. Vgl. NEVILLE, ROBERT C., Normative Cultures, New York/Albany: SUNY Press 1995, 163– 195; 191: „Civilization thus consists in part in having rituals, the performance of which constitutes civilized family life, civilized community relations, civilized public life and government, and civilized friendship“ (a.a.O., 191). 161 Zum hier nur angedeuteten Komplex von routiniertem und ritualisiertem Handeln als Resultat von Habitualisierung und Internalisierung, siehe meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Technik als Ritual. Ritual als Technik. Über einen elementaren Zusammengang zwischen Transzendenz und Gemeinsinn, in: Anne-Maren Richter/Christian Schwarke (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2014, 187–201, 193–198.
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dafür ist, dass die präsentative Symbolisierung performativen Charakter hat. Symbolische Erfahrungskontrolle, moralische Idealbildung und empathische Kontingenzbearbeitung sind im Kern schon in Durkheims Religionstheorie verankert, auf die deswegen im Folgenden noch einmal genauer einzugehen ist, allerdings nunmehr in der von Hans Joas beschriebenen pragmatistischen Zuspitzung: Wir haben damit im Pragmatismus eine Theorie, welche ausgerichtet an der Lösung von Problemsituationen des instrumentellen Handelns durch die Zeichentheorie auf die Dimension der Sozialität ebenso verweist wie umgekehrt Durkheims Soziologie, orientiert an der sozialen Dimension einer Konstitution der Kategorien nach dem Modell der sozialen Organisation, in der Form der rituellen Praxis, auf die praktische Konstitution der Kategorien stößt.162
Der hier vorgeschlagene Blickwinkel auf die Funktionen religiöser, aber nicht nur religiöser, Rituale verdankt sich der Verknüpfung eines pragmatistischen Konzepts instrumentellen Handelns als Problemlösungsstrategie mit der eher soziologischen Beobachtung der sozialen Konstitution symbolischer Formen und Ideale. Dabei sind Rituale als verkörperte, symbolische Praktiken nicht denkbar ohne einen mehr oder minder intensiven Einsatz von Körpertechniken, -haltungen und -kontakten. Sie lassen sich zugleich als Verhaltensweisen lesen, die Reaktionen bilden auf das, was im Umgang bzw. im Kontakt mit der jeweiligen Umwelt als solches aufgenommen, verarbeitet und erlebt wurde.163 Rituale sind ferner diejenigen Handlungen, die einerseits immer schon symbolische Strukturen aufweisen, die aber andererseits Ideen (Symbole) allererst prägnant werden lassen. Im rituellen Kontext setzen sich symbolische Ideen dadurch durch, dass sie in den durch das Ritual selbst geschaffenen Kollektiven auf andauernde Resonanz stoßen. Das ist gemeint, wenn von der sozialen Dimensionierung von Symbolen die Rede ist. Und sofern symbolische Formen als regelgeleitete Weisen, die Wirklichkeit zu erkennen, ohne symbolische Prägnanzbildung und radikale Metaphern gar nicht in Gang gebracht werden, gilt dies für sie nicht minder. Mit der sozialen Konstitution und Strukturierung aller Kategorien ist daher etwas Anderes gemeint, als eine Übertragung bereits bestehender gesellschaftlicher Strukturen auf die elementaren Glieder einer symbolischen Form: Begriffe, die nach dem Muster sozialer Sachverhalte ausgearbeitet worden waren, können uns demnach helfen, Dinge einer anderen Natur zu bedenken. Zum mindesten spielen diese 162 JOAS, H ANS, Durkheim und der Pragmatismus, Bewußtseinspsychologie und die soziale Konstitution der Kategorien, in: Ders., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21999, 66–95, 77f. 163 Das gilt auch für so ‚geistige‘ Ideen, wie Seele und Person. Auch sie verdanken sich Situationen, denen eine leiblich-korporale Dimension inhäriert. Für Durkheim trifft dies auch noch für geistige oder personale Vorstellungen vom Göttlichen zu. Vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), v.a. 356–369.399–401.
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Begriffe, wenn sie sich derart von ihrer ersten Bedeutung entfernen, in bestimmten Sinn die Rolle von Symbolen, und zwar von gut fundierten Symbolen. Wenn durch die Tatsache, daß es sich um konstruierte Konzepte handelt, auch künstliches hinzukommt, dann handelt es sich doch um eine Künstlichkeit, die gleich hinter der Natur kommt und die sich darum bemüht, ihr immer näher zu kommen. Weil die Ideen der Zeit, des Raums, der Gattung, der Ursache, der Persönlichkeit aus sozialen Elementen aufgebaut sind, darf man nicht gleich schließen, daß sie keinen objektiven Wert hätten. Im Gegenteil: ihr sozialer Ursprung läßt eher darauf schließen, daß sie in der Natur der Dinge begründet sind.164
Religiöse Rituale haben darüber hinaus schließlich die Besonderheit, dass sie an einer radikalen Differenz ansetzen: entweder die zwischen ‚Sakralem‘ und ‚Profanem‘ bzw. ‚Transzendentem‘ und ‚Mundanem‘, was nicht eo ipso das gleiche meint, oder aber zwischen Problemsituationen, die sich (begrenzt) bewältigen lassen, und Situationen, die das Prekäre unserer Welt- und Lebenslage auf prinzipielle Weise markieren.165 Das Spezifikum religiöser Thematik, wie sie im religiös-rituelle Handeln ausdrücklich wird, kann – im Gegensatz zu anderen Handlungssituationen – vielleicht auch als „unworlding of the world“166 bezeichnet werden. Im Folgenden spreche ich in diesem Fall aber lieber von empathischer Kontingenzbearbeitung. Alle drei Funktionen beleuchten den kognitiven Aspekt rituellen Handelns, da hier ein praktischer, nämlich körperlicher als ein konzeptioneller, nämlich klassifizierender und kategorisierender Umgang mit der Wirklichkeit eingeübt (erprobt) und im religiösen Ritual noch an seinen (äußersten) Grenzen affektiver, moralischer und theoretischer Art thematisierbar wird. Durkheims These, wonach nicht nur Ideale, sondern mehr noch alle sozialen Kategorien sich in rituellen Praktiken bilden und dadurch zugleich emotional und evaluativ besetzt werden, ist häufig als ausschließlich für das Verstehen archaischer Völker vorgesehene erachtet worden.167 Damit verbunden ist der A.a.O., 40f. Hier greife ich noch einmal auf die oben behandelten Religionstheorien von Durkheim, Geertz und Rappaport zurück. – Inhaltlich sind die drei im Text genannten Leitdifferenzen von ‚sakral/profan‘, ‚transzendent/immanent‘ und ‚radikal-kontingent/kontext-kontingent‘ zu unterscheiden, aber in ihrer strukturellen Eigenart als radikale Leitunterscheidungen sind sie von gleicher Struktur. Dass ich an dieser Stelle das religionsgeschichtlich am wenigsten partikulare Differenz-Paar auswähle, ist den genannten ritual- wie religionstheoretischen Gründen geschuldet. 166 So Geertz mit Verweis auf die Liminalität bei Turner in: G EERTZ, To Exist (Anm. 146), 221. 167 Claude Lévi-Strauss’ Kritik an der Durkheimschen ‚Affekt-Theorie des Sakralen‘ (LÉVI-STRAUSS, CLAUDE, Das Ende des Totemismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, 94) etwa verfehlt die Pointe, da es Durkheim nicht um Affektbekundung, sondern um das symbolisch prägnante Artikulieren von Emotionen (Gefühlen) geht. Wenn man so will, beachtet Lévi-Strauss nicht die Differenz zwischen Affekt und strukturierter Emotion. Letztere ist im Sinne moderner Emotionstheorie immer schon strukturiert und prinzipiell artikulierbar. Diese Einsicht findet man bereits bei dem Durkheim-Neffen Marcel Mauss ausformuliert: vgl. 164 165
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absurde Verdacht, nach Durkheim müssten sich sämtliche Kategorien unserer Weltorientierung rituellen Praktiken verdanken. Doch trifft dies gar nicht zu. Elementare Klassifikationssysteme resultieren schon aus dem alltäglichen und elementar technischen Umgang mit der Realität. Worauf er stattdessen mit seiner These vom Zusammenhang von Kategorienbildung und ritueller Praxis hinauswollte, ist, dass alle Kategorien nicht als primär logische angeboren oder der Vernunft apriori mitgegeben sind, sondern als soziale sich im Kollektiven konstituieren, und zwar bevor sie sich als individuelle internalisieren lassen.168 Das allerdings trifft nicht nur für archaische Gesellschaften zu. Die Geschichte von Kulturen, Gesellschaften und der Wissenschaften lässt sich als ein spannungsvoller, d.h. steter wie abrupter Wandel von Leitkategorien und Klassifikationssystemen beschreiben. Mythos und Wissenschaft zielen bekanntlich beide darauf, in relativer Distanzierung von unmittelbaren Handlungszwängen Unterscheidungen so einzuführen, dass diese sich in ein umfassenderes, Durkheim sagt ‚spekulatives‘, System von Kategorien und Klassifikationen einfügen lassen.169 Wirksam werden diese jedoch nur, wenn sie als lebenspraktische Vorstellungen kollektiv verankert bereichsspezifisch funktionieren. Zu dieser Verankerung bedarf es einerseits einer lebensweltlichen Routinierung und ihrer individuellen Habitualisierung, andererseits der Möglichkeit sich ihrer immer wieder neu auf emphatische Weise zu vergewissern.170 Dazu dient die professionelle Selbstverständigung (in der Wissenschaft, dem Recht etc.) genauso wie die rituelle Inszenierung in Form von Festen oder Ritualen (Feiertage etc.). Aus der Spannung zwischen lebensweltlicher Bewährung und ritueller Vergewisserung speisen sich alle Möglichkeiten kreativer Welterschließung und Symbolaktivität. Was im Allgemeinen methodisch-professionelle, d.h. im Gewande der Wissenschaften vollzogene, oder rituelle, d.h. u.a. am Ort der Religion vollzogene Vergewisserung genannt wurde, kann mit Blick auf religiöse Rituale auch als ‚symbolische Erfahrungskontrolle‘ fungieren. Diesen Ausdruck entlehne ich
MAUSS, MARCEL, Der obligatorische Ausdruck von Gefühlen (australische orale Bestattungsrituale) (1921), in: Ders., Schriften zur Religionssoziologie, hg. v. Stephan Moebius/Frithjof Nungesser/Christian Papilloud, Berlin: Suhrkamp 2012, 605–614. 168 Das ist die Ausgangsthese von: D URKHEIM, ÉMILE/M AUSS, M ARCEL, Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen (1901/2), in: Ders., Soziologie der Erkenntnis (Anm. 17), 169–284, v.a. 171–178. 249–256. 169 Hier knüpfe ich lose an Durkheims Schlussüberlegungen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft in der Moderne an: vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen (Anm. 9), 571–577.587–597. 170 Diese Konstellation ist auch für ganz andere kulturelle Zusammenhängen einschlägig. Vgl. dazu die Überlegungen von: GEERTZ, CLIFFORD, Person, Zeit und Umgangsformen auf Bali (1966), in: Ders., Dichte Beschreibung (Anm. 50), 133–201.
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von Godfrey Lienhardt.171 Kontrolliert werden hier vor allem Erfahrungen, die sich aufgrund ihrer Neuartigkeit oder ihrer Verstörung einer normalen, alltäglichen symbolischen Formung zunächst entziehen. Anhand kultischer Praktiken des Volkes der Dinkas hat Lienhadt analysiert, wie Erfahrungen von emphatischer Kontingenz, z.B. des Leidens und des Todes, in Ritualen so verstehbar gemacht werden, dass sie einerseits ihre relative Kontrolle ermöglichen, indem sie sich in einen umfassenderen Sinn- und Symbolzusammenhang erfolgreich einordnen lassen. Andererseits werden im rituellen Handeln allererst Klassifikationen vorgenommen, die sich dann in der Handlung bestätigen (sollen). Klassisches Beispiel sind Übergangsrituale. Begräbnisakte scheiden und klassifizieren damit nicht nur Lebende und Tote – etwa als voneinander unterschiedene Gruppen –, sondern stiften auch neue Klassifikationen mittels symbolischer Handlungen. Das geschieht in durchaus dramatischer Weise: „The symbolic actions (…) thus re-create, and even dramatize, situations which they aim to control, and the experience of which they effectively modulate.“172 In Bestattungsriten wird der Status sowohl des Verstorbenen, nunmehr als Toter oder Ahne, wie auch der Angehörigen, nunmehr als Hinterbliebene, neu festgestellt. Der Punkt, um den es geht, ist die Neujustierung der angesichts radikaler Kontingenzen in Frage gestellten Klassifikationen.173 Diese sind so zu revidieren, dass sie wieder anschlussfähig werden für das alltägliche Leben, ohne die erfahrenen Einbrüche dabei unartikuliert zu lassen. Die Restitution der Freiheit zum Handeln – so könnte man emphatisch sagen – hängt wesentlich davon ab, ob Rituale Erfahrungssituationen durch symbolische Artikulation mit Bedeutung besetzen und dadurch kontrollierbar machen können. Nur dann gilt für sie: „experience of the freedom and the contingency of human action is there recreated so as to emphasize finally the possibility of effective human action.“174 Dabei darf man diesen Prozess nicht punktuell begreifen. Religiöse Rituale, die wesentlich mit Kontingenzen radikaler Art zu tun haben, stehen in einem größeren Zusammenhang. Denn sie entwickeln ein Klassifikationssystem, d.h. ein schablonenartiges bzw. musterhaftes System von Bedeutungen, das der symbolischen Erfahrungskontrolle in allen derartigen Situationen dient. Aus diesem umfassenderen Kontext heraus fügen sie dann den alltäglichen Klassifikationssystemen mit ihren Kategorien eine weitere Sinnebene hinzu. Die Vorstellungen vom ‚Ich‘, der ‚Seele‘ oder der ‚Person‘, die ganz gewiss nicht erst der dramatischen Situation des Todes entspringen, werden gleichwohl durch religiöse Passageriten in ihrer alltäglichen Bedeutung modifiziert und wirken darüber 171 Vgl. LIENHARDT, G ODFREY, Divinity and Experience. The Religion of the Dinka, Oxford: Oxford Univ. Press (1961) 2003, v.a. 219–251.252–297. 172 A.a.O., 291. 173 Zum Ausdruck kommt solche Irritation bspw. in der Frage, wo die Toten jetzt sind. 174 A.a.O., 239.
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hinaus auf diese zurück.175 In den prekären Kontingenzsituationen zeigt sich, wie stabil bestimmte symbolische Raster als Modelle von Wirklichkeitsorientierung und -gestaltung sind. Dieser Nebeneffekt kann schließlich auch eine Kontextualisierung und Partialisierung von Kategorien nach sich ziehen. Bestimmte Kategorien lassen sich nurmehr für spezifische Erfahrungskontexte gebrauchen, andere wiederum können eine modifizierte, wenngleich übergreifende Bedeutung haben. So bezeugt die christliche Ritualkultur, angefangen von der Namensgebung in der Taufe bis hin zur individuellen Bestattung, die Relevanz der das Leben überspannenden und die Gottesbeziehung des Menschen im Ganzen zum Ausdruck bringenden Kategorie der ‚Person‘. Sie dient noch an den Grenzen der individuellen Existenz dazu, die erfahrenen Situationen transparent zu machen und damit symbolisch prägnant zu halten. Mitunter zieht sie damit nur weiter aus, was in anderen kulturellen Symbolsystemen an Bedeutung bereits vorliegt.176 Aber das muss nicht immer so sein. Sie kann auch quer zu anderen Bedeutungs- und Verwendungsweisen stehen. Die Debatte um die Bestimmung dessen, was man Person nennen kann, ist im letzten auch ein Streit um die sinnvollen Weisen symbolischer Erfahrungskontrolle in diversen Situationen und historischen Kontexten. Die soziale Natur von Kategorien bringt es mit sich, dass sie nie nur an einen bestimmten Kontext oder an eine symbolische Form (Symbolsystem) gebunden sind. Sie changieren je nach Verwendungsbereich oftmals in ihrer Bedeutung und unterliegen darin unterschiedlichen Geltungs-, d.h. Bewährungskriterien. Umgekehrt zeigt sich, dass sie dadurch in ihrer Bedeutung von ihrem jeweiligen Entstehungskontext und dessen Struktur abhängig bleiben. Mag auch die gleiche religiöse Kategorie, z.B. ‚Gott‘, im Spiel bzw. in Verwendung sein, ihre Klassifikationsfunktion und damit ihr kognitiver Eigenwert sind davon abhängig, welchem (rituellen) Kontext sie entspringt und wofür sie darin gebraucht wird. Weniger von der immer schon klassifizierenden und ordnenden Theologie
175 Zur Entwicklung des Personenbegriffs siehe die immer noch lesenswerte Studie von: MAUSS, MARCEL, Eine Kategorie des menschlichen Geistes: der Begriff der Person und des »Ich« (1938), in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2: Gabentausch –Todesvorstellung – Körpertechniken, Wiesbaden: VS 2010, 227–252. Nach Mauss wird der ‚Platz‘ der Person als sozialer Kategorie – wie schon bei Cassirer – erstmals besonders sichtbar im „heiligen Drama“ (a.a.O., 237), d.h. auf der Bühne des Theaters. – Zu Mauss’ großer Studie vgl. auch den Sammelband: CARRITHERS, MICHAEL/COLLINS, STEVEN/LUKES, STEVEN (Hg.), The category of the person. Anthropology, philosophy, history, Cambridge (UK) u.a.: Cambridge Univ. Press (1985) 1996. 176 Dies zeigt sich auch in der Kohärenz von Praktiken: Die Individualität der Person durch den Namen wird nicht nur durch die Taufe oder das individuelle Begräbnis herausgestellt, sondern dokumentiert sich auch in Geburts- und Sterbeurkunde oder der Ausstellung eines Personalausweises. – Im Übrigen spricht die Tatsache, dass wir unseren Haustieren Namen geben, nicht gegen meine Argumentation. Darin wird man vielmehr – in Form der Übertragung – die Anerkennung ihrer individuellen Eigenart als ‚Familienmitglied‘ vermuten dürfen.
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als von der Rolle, die bestimmte Formen religiösen Handelns in einer Religionstradition spielen, hängt somit ab, welches Gottesbild sich darin symbolisch formt. Dieser Punkt wird uns später noch ausführlicher (in § 8) beschäftigen. 3.4 Moralische Idealbildung: Die evaluative Funktion des Rituals Die zweite Funktion religiöser Rituale betrifft den evaluativen Aspekt unserer Wirklichkeitserfahrung. Auch sie kann Durkheims Paradigma entnommen werden. Ich spreche diesbezüglich im Anschluss an Hans Joas177 von moralischer Idealbildung. Schon für Durkheim erschöpft sich Moral nicht im Aufstellen und der Stabilisierung moralischer Tabus und sittlicher Pflichten im Sinne des Obligatorischen.178 Zur Welt der moralischen Ideale, wie sie sich auch als Ideen präsentieren, gehört mindestens ebenso sehr die Dimension des Attraktiven, d.h. des als wünschenswert Guten und Anziehenden. Deswegen spreche ich hier vom evaluativen Aspekt. Es geht also nicht einfach um das Problem moralischer Motivation. Vielmehr sind moralische Ideale im Rahmen einer realistischen Sicht auf die Qualität moralischer Tatsachen, als attraktiv und obligatorisch zugleich, zu begreifen: „Unbeschadet seines obligatorischen Charakters muß der moralische Zweck also noch erstrebt werden und erstrebenswert sein; das Erstrebenswertsein bildet ein zweites Merkmal einer jeden moralischen Handlung.“179 Der Übergang vom Moralischen ins Religiöse wird dadurch fließend. Denn im obligatorischen wie im attraktiven Moment moralischer Tatsachen als Ideale kommt das Bewusstsein für das Sakrale zum Ausdruck, das sich sowohl auf die Würde der Einzelnen wie auf den Wert des gesellschaftlichen Zusammenhalts beziehen kann. Es ist überpersönlich, aber nicht apersonal.180 Durkheim ist ein soziologischer Werttheoretiker, für den ein Ideal nicht „etwas Fehlendes und
177 Hans Joas hat den Vorgang der Idealbildung als den anthropologischen Nukleus des Rituals in einer kreativen Fortbestimmung der Einsichten von Durkheim herausgearbeitet. Vgl. JOAS, HANS, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Berlin: Suhrkamp 2017, 111–163. 178 Vgl. D URKHEIM, ÉMILE, Bestimmung der moralischen Tatsache (1906) (Anm. 27), sowie: Entgegnungen und Einwände (1906), in: Ders., Soziologie und Philosophie (Anm. 23), 84–117.118–136, sowie ebenso seine pädagogisch-moralsoziologischen Überlegungen in: Ders., Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902/03. Mit einer Einleitung von Paul Fauconnet, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 106–133. 179 D URKHEIM, Bestimmung der moralischen Tatsache, in: Ders., Soziologie und Philosophie (Anm. 23), 96. 180 Zum ‚sakralen Charakter‘ der Moral, der nicht im Obligatorischen des kategorischen Imperativs aufgeht und dem damit verbundenen Konnex vom religiösen Charakter der Moral, vgl. a.a.O., 124–129.
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Ersehntes [ist]. Es ist nicht ein bloßes Futurum, zu dem man hinstrebt. Es existiert auf seine Weise; es hat seine eigene Wirklichkeit.“181 Moral und Religion bemühen sich in idealer, d.h. symbolischer Formgebung um die Ziel- und Sinnbestimmung menschlicher Praktiken in sozialen Kontexten.182 Dies geschieht, worauf Durkheims formaler ‚Kirchen‘begriff verweist, stets in sozialen Zusammenhängen. Religiös ist eine solche moralische Idealbildung, wenn sie diese über die Differenz zwischen Sakralem und Moralischem fasst und ggf. darüber hinaus, wie in den monotheistischen Religionen, durch die spezifischere Differenz von Transzendenz und Immanenz, von Gott als der ‚Quelle alles Guten‘ und der Welt als dem Realisationsort seiner Güte, ergänzt. Für das Verstehen rituellen Handelns als dem ausgezeichneten Ort moralischer Idealbildung, an dem ebenfalls symbolisch Erfahrung modelliert und somit kontrolliert wird, ist nun entscheidend, dass hier keine Trennung zwischen Sein und Sollen angenommen wird. Ideale partizipieren in gewisser Weise an der gleichen Wirklichkeit, wie das, was in Ideen (und Kategorien) kognitiv gefasst wird.183 Durkheim teilt deshalb mit den Pragmatisten, wenngleich auf anderer philosophischer Basis, eine Reserve gegenüber der Fakt-Wert-Dichotomie. Rituale dienen jedoch nicht nur der kreativen Bildung und Vergewisserung von moralischen Idealen. In ihnen spricht sich auch ein Wissen um deren stets nur partielle und fragmentarische Realisierung aus. Gerade darin weisen sie einen Transzendenzbezug auf, kommt ihnen ein implizit religiöser Zug zu. Sie dienen selbst dem moralischen Problembewusstsein und müssen, ob sie wollen oder nicht, sich dem geschichtlichen Wertewandel stellen, wollen sie ihrer Funktion nicht verlustig gehen. Gelingt ihnen das, stellen sie produktive Formen des (moralischen) Umgangs mit den Ambiguitäten, Ambivalenzen und Anomien der Lebensgegenwart dar. Dazu stellen sie die konflikthaften Auf- und Abbrüche in einen weiteren symbolischen, oftmals narrativen Rahmen, der es ermöglicht, sie als Teil eines gemeinsamen Erfahrungsrahmens zu begreifen, der auf vielfache Weise für die Teilnehmer bedeutsam werden kann. Die Inszenierung einer, selbst noch destruktive Tendenzen integrierenden oder sie jedenfalls rahmenden, symbolischen Ordnung lässt dabei individuelle Ausgestaltungen derselben sehr wohl zu, was gerade in pluralistischen Kontexten entscheidend ist. Schließlich kann man auf diese Weise sich seines Platzes innerhalb 181 D URKHEIM, ÉMILE, Werturteile und Wirklichkeitsurteile (1911), in: Ders., Soziologie und Philosophie (Anm. 23), 144–157, 153. 182 Vgl. D URKHEIM, ÉMILE, Einführung in die Moral, in: Bertram, Gesellschaftlicher Zwang (Anm. 45), v.a. 40–47. – Dieser Text ist das einzig uns erhaltene Fragment jener größeren Untersuchung zur Moralsoziologie, die Durkheim im Anschluss an und als Fortführung seines Religionsbuches schreiben wollte. 183 Die Unterscheidung zwischen Idee (bzw. Kategorie) und Ideal ist hier rein theoriestrategisch zu verstehen. Ideen können immer auch zu Idealen werden. ‚Ideal‘ meint daher vor allem die werthafte Qualität bzw. zielt auf die attraktive und/oder obligatorische Wirkung, die eine (akzeptierte) Idee (aus sich heraus) provoziert.
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einer Gemeinschaft vergewissern, als deren aktiven Teil man sich trotz allem begreifen darf: The narrative character of ritual plays a critical role in the capacity of ritual to reaffirm pluralistic values. Ritual tells a story, a message of intention and values dependent (…) on a larger mythology of shared experience, but communicated in ikonic imaginary rich in connotative potential, thus amenable to highly variable interpretations, unlike strict conceptual terminology. The expressive character of ritual permits persons or groups with different claims on the larger collective order to articulate their own position in relation to the moral order.184
Die Effektivität moralischer Idealbildung erweist sich schließlich darin, dass – analog zu Geertz’ Bestimmungen von Religion und Common Sense – das im rituellen Handeln ausdrücklich Artikulierte und Thematisierte sich auf routinierte Alltagspraktiken und institutionalisierte Formen produktiv auswirkt. Nicht in einer kompletten Umsetzung, wohl aber im ‚impliziten Wissen‘ (Polanyi) besteht die Verknüpfung von Ritual und Alltag an dieser Stelle, so wie die Ambivalenz der Wirklichkeit, die sich als Spannung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ thematisieren lässt, im rituellen Handeln ausdrücklich wird. Sie wird reflektiert, wozu allen voran gehört, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Menschen durch ihr eigenes Eingreifen in die symbolische Ordnung der Welt diese als Rechenschaftspflichtige verantwortlich mitgestalten und – zum Guten oder Schlechten – verändern: Das Ritual ist ein Mittel, Dinge so darzustellen, wie sie sein sollten in bewusster Spannung zu dem, wie die Dinge sind und auf eine Art, dass diese ritualisierten Praktiken im gewöhnlichen unkontrollierten Lauf der Dinge bedacht wird (…) Das Ritual bietet Gelegenheit zur Reflexion und Rationalisierung über die Tatsache, dass das, was hätte getan werden sollen, nicht getan wurde, was sich hätte ereignen sollen, sich nicht ereignet hat.185
Im rituellen Handeln wird man der bedeutungsvoll geladenen Handlungswelt bewusst und man nimmt Stellung zu ihr. Es geht also nicht um Kompensation von Handlungsinkompetenz oder gar um Handlungssinntranszendenz, sehr wohl aber um nüchterne, reflexive Thematisierung entsprechender Situationen und um die Motivation, dennoch an werthaften Idealen festzuhalten. Insofern lebt das Ritual aus dieser fast schon eschatologischen Spannung aus ‚Schon jetzt‘ und ‚Noch Nicht‘, aus Faktizität und Geltung.186 Seine Funktion basiert auf der gleichzeitigen Feststellung von Handlungsversagen und der Inszenierung von Handlungsrestitution.
184 W UTHNOW, R OBERT, Meaning and Moral Order. Explorations in Cultural Analysis, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press 1987, 135f. 185 SMITH, JONATHAN Z., Ritual und Realität (1982), in: Belliger/Krieger, Ritualtheorien (Anm. 88), 209–222, 219. 186 Vgl. ebd.
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Die Spannung zwischen kultischer Idealisierung und alltäglicher Realisierung, die im Ritual ausdrücklich wird, beruht letztlich darauf, dass das im weitesten Sinne als instrumentell187 zu verstehende Handeln in größeren sozialen und alltäglichen Kontexten stets einen idealen, ‚teleologisch‘ gefassten ‚Mehr‘wert beinhaltet. Daraus entzündet sich das Bewusstsein der Spannung aus Idealem und Realem, das in unserem moralischen Verhalten zum Ausdruck kommt und es prägt. Denn darin kontrollieren wir unsere Handlungen in beträchtlichem Umfang, d.h. nach Maßgabe unserer Intelligenz, durch unsere Zwecke, durch die Vorstellungen von Ergebnissen, die noch nicht erreicht sind. Unser Verhalten ist, mit anderen Worten, teleologisch.188
Moralisches Bewusstsein, wie es sich als solches im rituellen Handeln konstituiert und restituiert, kann dann in andere Handlungsformen und Weltumgangsweisen kontrollierendes und evaluierendes Handeln übergehen. Zielt es auch auf die immer stärkere Angleichung von Idealem und Realem, so lässt sich jene doch nie ganz erreichen. Andernfalls würde damit zugleich der teleologische Charakter des praktischen Umgangs mit der Realität ausgelöscht. Damit allerdings entfiele die Legitimität der in rituellen Kontexten inszenierten moralischen und religiösen ‚Kultwerte‘. Denn diese leben aus der schon mehrfach genannten Spannung.189 Auch das historisch gewachsene, evaluativ besetzte Ideal der Person, „die Wurzel unseres jetzigen moralischen Lebens“190, an der wir unsere sozialen Institutionen und sittlichen Intuitionen ausrichten, lebt aus dieser Spannung. Daher bedarf es der rituellen Inszenierung als Praxis von Vergewisserung. Das erfolgt in ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr notwendigerweise am Ort der Religion. Seit den Anfängen in der Antike stellt z.B. auch das Gericht einen Ort der rituellen Inszenierung individueller Persönlichkeit und ihrer Würde dar. Das bedeutet nicht, dass das entsprechende Ideal als solches schon zuvor präzise erfasst worden wäre. Vielmehr wird man mit Marcel Mauss von
187 Instrumentelles Handeln wird hier im Sinne Cassirers und des Pragmatismus (v.a. Deweys) als auf die Lösung von Problemen jedweder Art konzentriertes Handeln verstanden. 188 M EAD, G EORGE H., Wissenschaftliche Methode und wissenschaftliche Behandlung moralischer Probleme (1918), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hg. v. Hans Joas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, 371–392, 375. 189 So ist der folgende Satz zu verstehen: „Der Kultwert einer Institution ist nur legitim, wenn die soziale Ordnung, für die er steht, ein Ideal ohne Aussicht auf Realisierung ist. Sofern er sich seiner Verwirklichung nähert, muß in unserem Verhalten sein funktionaler Wert den idealen überlagern“ (a.a.O., 387). – Die Gegenüberstellung von funktionalen und kultischen Werten als instrumentelle und moralisch-religiöse Ideale versucht für die Konzeption einer ethischen Theologie fruchtbar zu machen: SEIBERT, CHRISTOPH, Ethische Theologie, in: ZThK 111 (2014), 76–102, 95f. – Bei Mead stehen als Prototypen für die beiden Formen von Werten die universalen Institutionen von Markt (Wirtschaft) und Moral (Religion). 190 D URKHEIM, Einführung in die Moral, in: Gesellschaftlicher Zwang (Anm. 45), 41f.
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einer Dialektik sprechen müssen, bei der inszeniert und darin zugleich reflektiert wird, was sich dann auch verselbstständigen kann: „Doch der persönliche Charakter des Rechts war schon begründet, und persona war auch schon synonym mit der wahren Natur des Individuums geworden. Auf der anderen Seite ist das Recht auf die persona begründet worden.“191 Doch widerspricht dem nicht, dass eine Vertiefung des Ideals der Person sich nicht zuletzt religiöser Kontexte, ihrer kultischen Praxis und theologischen Interpretation, verdankt. Der moralischen Vertiefung des Personenideals in der Stoa, ihrer Ausrichtung auf den menschlichen Willen und seinen Charakter, gibt das Christentum nun eine „sichere metaphysische Basis“192, die weniger das Resultat dogmatischer Erörterungen zu Trinität und Christologie denn lebendiger religiöser Praxis ist, in deren Gefolge derlei Überlegungen sich allererst einstellten: „Es sind die Christen gewesen, die aus der moralischen Person eine metaphysische Entität gemacht haben, nachdem sie ihre religiöse Kraft gespürt hatten.“193 Zu dieser religiöse Kraft und ihrer Erneuerung dient noch heute der christliche Gottesdienst. Sein gesamter symbolischer Rahmen speist sich aus kommunikativ-personalen Handlungen, die als Bekennen und Beten, Hören und Empfangen, Teilen und Segnen ‚im Angesicht Gottes‘ erfolgen und die so Gemeinschaft konstituieren und erneuern. Im günstigsten Fall verhilft der Gottesdienst seinen Teilnehmern – mehr oder minder explizit – zum Bewusstsein einer gemeinsamen Wert- und Weltorientierung, die durch körperliche Gesten bekräftigt, sinnlich inszeniert und mit diskursiven Elementen versehen wird. Somit lässt sich mit Blick auf die Bedeutung moralischer Ideale und ihrer Bildung im Ritual ein Doppeltes festhalten: Einerseits basieren sie auf einer von Körpertechniken durchzogenen, psychische Dispositionen und soziale Vorstellungen formenden, symbolischen Praxis der Wirklichkeitsaneignung. Andererseits kommt Realität darin als gegenüber allen menschlichen Umgangsweisen offene, resistente und nur partiell instrumentalisierbare zum Ausdruck. Die qualitativ gefasste Kontingenz menschlichen Handelns wird symbolisch in moralischen Idealen artikuliert, denen ein evaluierender Mehrwert inhäriert. Deswegen ermöglichen sie es auch, Revisionen im Verhalten anzuleiten und in der Codierung von Realität vorzunehmen. Sie reorganisieren auf indirekte Weise die symbolischen Formen der Wirklichkeitserkenntnis neu, ohne direkt in deren Praktiken einzugreifen. Mead hat diesen indirekten, aber Realität prägenden Zug in etwas anderem Zusammenhang einmal so formuliert: Eine Institution sollte durch ihre eigene Funktion entstehen und am Leben erhalten werden. Doch insoweit sie nicht funktioniert, kann ihr Ideal nur durch irgendeinen Kult am Leben
MAUSS, Eine Kategorie des menschlichen Geistes, in: Ders., Soziologie (Anm. 175), 227–252, 244. 192 A.a.O., 246. 193 A.a.O., 247. 191
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erhalten werden, dessen Ziel nicht das Funktionieren der Institution, sondern das fortdauernde Vorhandensein ihrer Idee im Geist derjenigen ist, die sie schätzen und an ihr festhalten.194
3.5 Empathische Kontingenzbearbeitung: Die generelle Funktion des Rituals Die dritte Funktion des Rituals lässt am deutlichsten auf das religiöse Proprium schließen. Im Zentrum steht die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Realität, wie sie sich in lebensweltlicher Aneignung, sozialer Gestaltung und wissenschaftlich-technischer Kontrolle einstellt. Die generelle Funktion soll daher als empathische Kontingenzbearbeitung verstanden werden. Sie prägt und überformt noch die kognitive und evaluative Funktion der Ideen- bzw. Idealbildung. Als generelle Funktion ist sie deswegen anzusehen, weil sie mit Kontingenz denjenigen basalen Zug von Realität zur Darstellung bringt, der die menschliche Lebensform zur Entwicklung von Kultur und eo ipso zu symbolischen Praktiken anhält. Weil religiöse Rituale nicht primär als Techniken zur Handhabung alltäglicher Probleme gelten und sie darüber hinaus auch von der wissenschaftlich-technischen Gestaltung der Wirklichkeit zu unterscheiden sind, stellen sie ausgewiesene Möglichkeiten dar, Kontingenz als solche überhaupt wahrnehmbar zu machen. Sie setzen an jenen (basalen) Spannungen an, die aufgrund von (radikalen) Kontingenzen allererst sichtbar werden. Dazu zählen u.a. die Infragestellung analytischer Kategorien und Ordnungssysteme und die Kontrafaktizität des Realen mit dem Idealen. Man kann deswegen von einer Second-OrderFunktionalität des Rituals bzw. rituellen Handelns sprechen, da nunmehr auf einer prinzipiellen Ebene thematisch wird, was zuvor schon mitgegeben ist, z.B. im Wandel von Kategoriensystemen oder moralischen Idealen. Im Übrigen wird Funktionalität hier nicht im Sinne des soziologischen Funktionalismus verstanden, sondern soll auf die intrinsische Rationalität des Rituals hinweisen.195 Empathisch ist diese Funktionsleistung zu nennen, weil Rituale in der Art und Weise, wie sie anleiten, Kontingenz wahrzunehmen und zu thematisieren, die Teilnehmer stets als in dieses Geschehen involviert begreifen. Sie beziehen das Geschehen nicht nur auf die Handlungssubjekte, sondern begreifen diese selbst aus diesem Geschehen heraus. Aus diesem Grund ist es zwar richtig, den formalen Inhalt religiöser Symbolsysteme in der Thematisierung von diversen Typen von Kontingenzerfahrungen zu erblicken, so wie wir dies bei Geertz kennengelernt haben. Aber das ist etwas Anderes als in der Religion in erster Linie eine „Kontingenzbewältigungspraxis“196 zu sehen, der es um die Stiftung eines 194 Mead, Wissenschaftliche Methode und wissenschaftliche Behandlung moralischer Probleme, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 (Anm. 188), 383. 195 Vgl. PARSONS, The Structure of Social Action I (Anm. 47), 431. 196 LÜBBE, H ERMANN, Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln: Styria 21990, v.a. 149–178, hier: 149 u.ö.
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„handlungssinntranszendenten“197 Bedeutungsgehaltes geht. Schon die Rede von einer Bewältigungspraxis suggeriert leicht, man könne der Kontingenz ihre Kontingenzhaftigkeit nehmen oder sie zumindest stillstellen. Wenn dies dann noch vermittelst eines handlungssinntranszendenten Sinns geschehen soll, dann muss dieser selbst den Handlungen schon vorausgehen, in denen er sich (allein) einstellt. Das läuft der ritualtheoretischen Argumentation, wie sie hier vertreten wird, zuwider.198 Die empathische Kontingenzbearbeitung als generelle Funktion rituellen Handelns vollzieht sich jedenfalls nicht erst angesichts der Grenzen unserer analytischen, moralischen und affektiven Handlungsmacht. Die von Geertz eingebrachten formal-materialen Dimensionen der Kontingenz sind an dieser Stelle weniger wichtig als die Form, in der sie rituell bearbeitet werden. Darauf soll hier allein das Augenmerk gerichtet sein. Denn dass überhaupt eine Situation als empathisch kontingente eingestuft wird, da Menschen hier an die Grenze ihrer Leidens-, Verantwortungs- oder Einsichtsfähigkeit (schlechthin) geraten, ist selbst schon Resultat einer sozialen Klassifizierung. Nur darf man sich diese – als bewusste Übereinkunft, gewachsene Mentalität oder in Institutionen gefasste Wertüberzeugung – nicht als restlos stabil vorstellen. Zur Signatur aller Kooperationszusammenhänge gehört deren Ambiguität und Pluralität, da sie stets aus vielen, vernetzten Handlungssubjekten bestehen. Rituale machen dies schon deswegen in ausgezeichneter Weise deutlich, weil sie im Ringen um „shared experience“199 und um gemeinsame Handlungsorientierung stets genötigt sind, die Ambiguität und Pluralität von Verhaltensmustern, Idealen und subjektiven Einstellungen mit darzustellen. Als konstitutive Handlungssets, die zum Aufbau, Erhalt und der Erneuerung von sozialen Zusammenhängen und Wissenskulturen beitragen, sind sie immer zugleich Spiegelbild dafür, was letztlich in ihnen fragil und prekär ist und bleibt. Das Autorenkollegium um Adam B. Seligmann und Robert P. Weller hat in den letzten Jahren in konzeptioneller Hinsicht viel für das Verstehen dieser Aufgabe von Ritualen, gerade auch in hochindividualisierten Gesellschaften und im 197 A.a.O., 159. – Angesichts der radikalen Daseinskontingenz, auf die Religion antwortet, heißt bei Lübbe „bewältigte“ eben „anerkannte Kontingenz“ (a.a.O., 165). Abgesehen davon, dass Religion nie nur auf solche radikalen Daseinskontingenzen antwortet, verschiebt sich das Problem nur zur Frage, was Anerkennung hier bedeuten soll, wenn nicht zeichenhaft handelnd bearbeitete Kontingenz. 198 Meine Kritik an Positionen, wie derjenigen Hermann Lübbes, geht daher in eine andere Richtung als diejenige von Robert Spaemann, der sich auf dem Boden eines strukturellen Antagonismus von Wahrheitsgeltung und funktionaler Geltung gegen Lübbes Religionstheorie wendet: vgl. SPAEMANN, ROBERT, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), in: Ders., Philosophische Essays. Erweitere Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1994, 208– 239. 199 Vgl. SELIGMAN, A DAM B./W ELLER, R OBERT P., Rethinking Pluralism. Ritual, Experience, and Ambiguity, Oxford (UK)/New York: Oxford Univ. Press 2012, bes. 147–180.
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interkulturellen Vergleich, geleistet. Rituale sind für sie zwar keineswegs auf das Feld der Religion beschränkt. Doch alle Formen ritueller Praxis teilen ein wesentliches Merkmal: die „constitution of subjunctive universe“. Was ist darunter zu verstehen? Ritual – like play – creates ‚as if‘ worlds, rooted in the imaginative capacity of the human mind to create a subjunctive universe. The ability to cross between imagined worlds [construed by rituals, sc. C.P.] is central to the human empathy. Ritual (…) defines the boundaries of these imagined worlds, including those of empathy and other realms of creativity200.
Wie schon bei Rappapport dominiert hier der Zusammenhang von Kontingenz und Kreativität201, weil es zur Funktion des Rituals gehört, die Gestaltbarkeit kontingenter Situationen, wie sie zunächst in der Darstellung selbst noch ihrer destruktiven, irritierenden und negativen Momente erfasst werden, im Sinne des ‚Auch-Anders-Sein-Könnens‘ zu thematisieren. Das ist nicht aktivistisch gemeint, sondern darf durchaus im Horizont klassisch religionstheoretischer Figuren als Anleitung zur kreativen Öffnung für andere symbolische Codierungen verstanden werden (z.B. im Sinne einer Deutung sub conditione Dei). Im rituellen Vollzug überlappen sich nicht nur individuelle Erfahrungsmomente durch das Einlassen auf den formalisierten Handlungsablauf, sondern das kollektive Vollziehen provoziert eine gemeinsame Erfahrung oder vorsichtiger: einen gemeinsamen Erfahrungsraum. In diesem wird Kontingenz im Sinne des AndersSein-Könnens bzw. des Kontra-Faktischen thematisch. Das meint das Imaginäre von Ritualen, das für Seligman – trotz der für Missverständnisse anfälligen Terminologie – eben nichts Irreales kennzeichnet, sondern ein permanentes ‚could be‘: [T]hat what constitutes society – what makes the social a sui generis entity, irreducible to any other – is precisely a shared ‚could be‘, a mutual illusion of that sort that all ritual create. To a great extent, this is what symbols do more than anything else: they represent a ‚could be‘. This shared ‚could be‘ (or, sometimes, ‚what if‘) is the nodal point where members of a society come together as symbol users.202
Durch das aus ritualtheoretischen Gründen formal gehaltene ‚could be‘ wird aus der wahrgenommenen Kontingenz, die stets symbolisch codiert wird, eine spezifische Gestalt von Möglichkeit(en), die in dem Sinne transzendent ist und bleibt, insofern sie sich als kontra-faktisch im Kontingenten zeigt. Das meint keine Nivellierung der Ambiguitäten, wie sie, zumal in pluralistischen Kontexten, die Einstellungen und Haltungen der Ritualteilnehmer prägt; wohl aber deren Transzendierung im situativen Gebrauch gleicher Symbole hin auf die SELIGMAN, Ritual and its consequences (Anm. 145), Summary auf der Buchrückseite. Damit versuche ich, die im Gefolge Schleiermachers als das Grundthema der Religion ausgewiesene Spannung von Freiheit und Abhängigkeit handlungs-, genauer: ritualtheoretisch einzuholen. 202 A.a.O., 23. – Und natürlich gehört auch der Modus des ‚should be‘ hierhinein. 200 201
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Schaffung eines gemeinsamen Erfahrungsraumes. Die Fliehkräfte, die in den verschiedenen Lebenskontexten die Inkongruenzen und Ambivalenzen von diversen Lebensstilen, Wissenskulturen und Werteinstellungen steigern, werden somit nicht negiert, wohl aber dadurch bearbeitet, dass sie explizit gemacht und auf einen einheitlichen Fluchtpunkt mit Hilfe eines gemeinsam verwendeten und inszenierten symbolischen Vokabulars hin neu ausgerichtet werden. Dies kann Ritualen deswegen leichter als Prozeduren diskursiver Konsensfindung oder rationaler Überzeugungsarbeit gelingen, weil sie stärker als jene auf die nicht auslöschbare Kontingenz achten, indem sie Spielräume für plurale, d.h. individuelle Aneignungsmöglichkeiten offenlassen. (Religiöse) Rituale leben von der Polymorphie symbolischen Sinns. In Zeiten eines starken Pluralismus werden so betrachtet Rituale geradewegs nötiger, was im Übrigen selbst als ein Beleg für gesteigerte Kontingenz gelten kann: Creating a shared subjunctive universe (…) recognizes the inherent ambiguity built into social life and its relations – including our relations within the natural world. The formality, reiteration, and constraint of ritual are (…) all necessary aspects of this shared creation.203
Insbesondere durch formalisiertes Handeln, das von einer einheitlichen symbolischen Textur geprägt ist, lässt sich somit den irreduziblen Kontingenzen begegnen und eine relative Gewissheit durch eine imaginäre Welt des ‚as if‘ stiften, die dann für eine gewisse Zeit lebensweltstabilisierend wirken und Gemeinsinn ermöglichen kann. Diese Welt des ‚as if‘ umfasst dabei sowohl zeitliche als auch soziale wie sachliche Aspekte. Vor allem aber geschieht dies wesentlich aufgrund der performativen Kraft der Rituale: „[W]hat you are is what you are in the doing“ 204, ohne dass damit ein schroffer Gegensatz zwischen dem bloßen Ritualvollzug und der persönlichen Intensität, mit der dieser geschieht, gegeben sein müsste.205 Überträgt man diese Beobachtungen auf die symbolische Form der Religion, genauer der christlichen Tradition mit ihrem personalen Gottessymbol, so hängt dessen wirklichkeitserschließende Funktion weniger an der kollektiven Aneignung einer bestimmten Glaubensansicht, sondern mehr daran, inwiefern es den zentralen rituellen Handlungen gelingt, ihr eingeschriebenes symbolisch-personales Gottesvokabular so zu inszenieren, dass sich ein Erfahrungsraum bildet,
A.a.O., 7. A.a.O., 24. 205 Die Autoren um Seligman konstruieren in Abgrenzung zu einem bestimmten Typus US-amerikanischer Frömmigkeitskultur leider genau einen solchen schroffen Gegensatz zwischen ‚rituality‘ und ‚sincerity‘ (vgl. a.a.O., 103–130), obwohl ihnen durchaus bewusst ist, dass Rituale nur dann ihre Funktion erfüllen können, wenn sie auf die jeweiligen Lebenslagen der Menschen eingehen können. Insofern gilt es gegenüber einer exzessiven Form von individueller Authentizität und Expressivität auf ein spannungsvolles Gleichgewicht dieser Momente mit der rituellen Performanz hinzuarbeiten. Vgl. a.a.O., 116.118.122.128. u.ö. 203 204
4. Religion, Ritus und Realität
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der zu einem gemeinsamen Blick auf die dadurch wahrgenommene und symbolisch codierte, kontingente Wirklichkeit anleitet. Der ‚schaffende‘, ‚rettende‘ und ‚segnende‘ Gott, der ‚handelt‘ und ‚spricht‘, von dem in der Liturgie die Rede ist, wird dabei nie gleich verstanden, geglaubt oder vergewissert. Das gilt sowohl für die einzelnen Gottesdienstteilnehmer als auch für die Gemeinde als ganze. Doch stellen die symbolischen Handlungen und Vokabulare einen Rahmen bereit, indem durch das Ritual gleichsam ein gemeinsamer Erfahrungsraum geschaffen werden kann, in dem die Rede von Gott Sinn macht. Damit wird stets nur vorläufig Identität, auch religiöse, gestiftet, weswegen rituelle Einübung und Wiederholbarkeit stets zu diesen Vollzügen gehört. Im Ritual überwindet der Mensch nicht die ihm eigenen Kontingenzen und Ambivalenzen, geschweige denn die seiner Lebenswelt. Aber er kann sie im Wissen um Ambiguität und in der Formung einer ‚world as if‘ bearbeiten, indem er sie z.B. mit anderem Sinn relativiert oder in einen umfassenderen Kontext einbettet. Auch ‚Gott‘, als personaler zumal, kann von daher zu Recht als eine Wirklichkeit erschließende Kontingenzformel206, oder besser: als ein emphatisches Kontingenzsymbol begriffen werden. Das hat solange nichts Irreales, als man bedenkt, dass es stets Situationen der Ungewissheit sind, die uns daran erinnern, dass Realität nicht in unseren fixierten symbolischen Wirklichkeitsformungen aufgeht. Erfahrungen mit solchen Momenten machen wir aber stets handelnd, und nur handelnd können wir sie ‚bewältigen‘, indem wir – statt ihrer habhaft zu werden – ihnen auf andere Weise, z.B. betend oder trauernd, begegnen. In diesem Sinne gilt der Satz: „Das Handeln ist das Mittel, durch das eine problematische Situation bewältigt wird“207, auch für die Religion. Schließlich kann alles Erfahren als symbolisch codiertes experimentelles Handeln beschrieben werden. Der Zusammenhang von Ritus und Realität ist deshalb abschließend nochmals religionstheoretisch zu betrachten.
4. Religion, Ritus und Realität: Zum Zusammenhang von Handeln, Symbolisieren und Erfahren 4. Religion, Ritus und Realität
Die Fassung einer Religionstheorie als Ritualtheorie mag für eine protestantische Sichtweise eher ungewöhnlich, wenn nicht gar verstörend erscheinen. Und in der Tat sind unsere Referenzautoren in dieser Hinsicht zumeist nicht dem protestantischen Kontext zuzuordnen. Dennoch soll in diesem abschließenden
206 In Anlehnung an Niklas Luhmann, der scharfsinnig auf die kontingenztheoretische Relevanz der personalen Gottessemantik hingewiesen hat. Vgl. LUHMANN, Religion (Anm. 8), 147–186, 152. 207 D EWEY, JOHN, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln (1929), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 244.
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Abschnitt gezeigt werden, warum auch für protestantische Theologien ein solcher Weg opportun ist. Im Zentrum steht dabei nach wie vor die Frage, was wir eigentlich unter religiösen Erfahrung – etwa die eines personalen Gottes – verstehen. Inwiefern stellt religiöse Erfahrung einen spezifischen Zugang zur Realität dar und wie lässt sich darüber hinaus ihr Verhältnis zu anderen Formen symbolischer Wirklichkeitserfassung und -erkenntnis beschreiben? Hierzu soll zunächst das Profil einer Religions- als Ritualtheorie weiter geschärft werden, und zwar – um der Profilierung willen – in überspitzter Kontrastierung zu zwei gegenwärtig dominanten religionstheoretischen Modellen, die ich als subjektivistischen Expressivismus einerseits und als linguistischen Kulturalismus andererseits, kennzeichnen möchte. Danach ist auf den systematischen Punkt einzugehen, der einen kritischen, symbolischen Realismus ausmacht, so wie wir ihn für Cassirer geltend gemacht und in den einleitenden Paragraphen als Kennzeichen von Historismus und Pragmatismus herausgestellt haben: Dieser betrifft das Moment der Unmittelbarkeit und das Problem seiner Artikulation in und durch Zeichen (Symbole). Vor diesem Hintergrund soll dann deutlich werden, warum eine ritualorientierte Religionstheorie keine schlichte Umstellung von einem Erfahrungs- auf ein Handlungsparadigma darstellt, sondern Erfahrung als Resultat eines handelnden und darin symbolisierenden Umgangs mit der Realität konfiguriert. Nur insofern soll das rituelle Handeln als paradigmatischer Kontext der Ermöglichung religiöser Erfahrung verstanden werden, an den sich naturgemäß andere symbolische Formungsprozesse außerhalb des Ritus, aber nicht jenseits ihrer jeweils handelnden Realisierung, anschließen (lassen). Am Ende steht ein Ausblick auf die religionsphilosophische und systematisch-theologische Entfaltung des hier Grundlegten, in dem auf den geschichtlichen Wandel der Bedeutung, Relevanz und Strittigkeit der Kategorie der Person und mit ihr der Rede von der Personalität Gottes verwiesen wird. Das relativiert nicht den Anspruch des darin über Gott zum Ausdruck gebrachten, sondern belegt nur, dass sein Inhalt wie seine Plausibilität weiterhin zur Bewährung steht. Dies teilt der ‚personale Gott‘ mehr oder weniger mit allen Kategorien und Symbolen religiöser und nichtreligiöser Wirklichkeitsformung. 4.1 Weder subjektivistischer Expressivismus noch linguistischer Kulturalismus Spätestens seit Friedrich Schleiermacher ist das Stichwort der Erfahrung zum vielleicht wichtigsten Paradigma für das Verstehen von Religion geworden. Seine bahnbrechenden Reden Über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 dienten dem Zweck, die Autonomie der Religion als eines genuin menschlichen Bedürfnisses sowohl gegenüber den rationalistischen Tendenzen der Aufklärungsphilosophie, die Religion auf Metaphysik oder Moral zu reduzieren drohte, als auch gegenüber radikaler Religionskritik, heraus-
4. Religion, Ritus und Realität
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zustellen. Als „eigne Provinz im Gemüthe“208 wird Religion nach Schleiermacher zunehmend in der Struktur menschlicher Subjektivität begründet. Religiöse Erfahrung beruht auf der spezifischen „Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins“209, orientiert und ausgerichtet an seinem ‚Woher‘, um es mit den Worten der Glaubenslehre zu sagen. Ohne in die Schwierigkeiten der Schleiermacher-Exegese eintreten zu können, ist für unseren Zusammenhang die emphatische Betonung individueller Bestimmtheit religiöser Subjektivität wichtig. Religion wird zur Angelegenheit des einzelnen Menschen, auch wenn dieser sich stets in intersubjektiven Kontexten bewegt und sich symbolischer Traditionen bedienen muss, um sich über seine religiöse Existenz aufzuklären. In diesem derart zugeschnittenen Erfahrungskonzept werden Schleiermacher später so einflussreiche Denker wie William James und Rudolf Otto folgen.210 Schleiermachers erfahrungsbezogene Wende der Theologie, die unmittelbar am Subjekt ansetzt, kann als paradigmatische Form einer expressivistischen Religionstheorie gelten.211 Religion wird dabei als Ausdrücklich-Werden, d.h. als Artikulation und Deutung eines ursprünglichen Erlebens verstanden. Diese Veranlagung kommt bei Schleiermacher jedem zu, wenngleich sie sich stets historisch und individuell konkretisiert. Nicht ein angeblicher Subjektivismus, der bei Schleiermacher gar nicht gegeben ist, markiert dabei das Problem. Es ist vielmehr die Annahme, dass Religiosität in der transzendentalen Struktur von Subjektivität generell gegeben ist. Diese Figur wird in unterschiedlicher Form in der Theologie des 20. Jahrhunderts weitergeführt. Man denke nur an Paul Tillichs ‚ultimate concern‘ oder an die transzendentaltheoretischen Ansätze Karl Rahners und Bernhard Lonergans. Religionstheoretisch prekär ist nicht nur die schon in empirischer Hinsicht nicht unumstrittene These von der 208 So die berühmte Formel in: SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 2 (= KGA II,1), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: de Gruyter 1984, 185–326, 204. 209 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/1), Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 13, Teilband 1 (= KGA I,13.1), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York: de Gruyter 2003, § 4, 32–40, 38–40. 210 Zu den dennoch beachtlichen methodologischen Unterschieden dieser Denker, siehe: JOAS, HANS, Schleiermacher and the Turn to Experience in the Study of Religion, in: Dietrich Korsch/Amber L. Griffioen (Hg.), Interpreting Religion: The Significance of Friedrich Schleiermacher’s „Reden über die Religion“ for Religious Studies and Theology (RPT 57), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 147–161. 211 Im Folgenden orientiere ich mich an der überzeugenden Rekonstruktion und Kritik erfahrungsbasierter Religionstheorien im Gefolge Schleiermachers und James’, wie sie Wayne Proudfoot vorgelegt hat.Vgl. PROUDFOOT, WAYNE, Religious Experience, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press 1985, v.a. 9–23 (Schleiermacher-Kritik), sowie a.a.O., 23–40 (zum Verhältnis von Expressivität, Deuten und Denken in der religiösen Erfahrung).
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Religion als unabdingbarem Element humaner Lebensform und menschlicher Erfahrung. Mehr noch generiert die allgemeine Fundierung in dem, was bei Schleiermacher ‚Gefühl` als unmittelbare Daseinszuständlichkeit heißt212, die Meinung, darin käme eine generelle Struktur von Religion zum Ausdruck. Die Folge ist zunächst, dass sämtliche kulturellen Formen und individuellen Ausgestaltungen von Religion lediglich Varianten ein und desselben Musters darstellen. Zum Ausdruck gebracht wird stets etwas prinzipiell Vorgegebenes, wenngleich mit unterschiedlichem symbolischen Vokabular. Die radikale Geschichtlichkeit von Religion kann so kaum in den Blick genommen werden, worauf bereits Ernst Troeltsch hingewiesen hat. Seine, d.h. Schleiermachers Begeisterung für Geschichte war eine rein theoretische ohne wirklich historischen Sinn, und seine Entwicklungslehre war im Grunde nur eine Lehre von der unerschöpflichen Individualisation ein und desselben religiösen Vorgangs, dessen verschiedene Typen verbindungslos neben einander stehen.213
Aus der a-historischen Struktur von religiöser Subjektivität resultiert deren strukturelle Homogenität. ‚Erleben‘ und ‚Deuten‘, um es mit einem modernen Schleiermacher-Interpreten und Religionstheoretiker zu sagen214, stellen zwar die wechselseitig aufeinander bezogenen Aufbauelemente religiöser Erfahrung dar. Das verhindert jedoch nicht, dass das erste Moment sachlichen Vorrang hat und die soziokulturellen Ausdrucksformen demgegenüber somit abkünftig sind. Die Tatsache, dass es erst dank spezifischer symbolischer Artikulationen berechtigt sein könnte, von religiöser Erfahrung zu sprechen, wird so gesehen,
212 Sowohl die Rede von der ‚Daseinszuständlichkeit‘, wie auch die hier bevorzugte Tendenz, Schleiermacher so zu lesen, verdankt sich den maßgeblichen Interpretationen von Ulrich Barth. Siehe dazu vor allem: BARTH, ULRICH, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ›Glaubenslehre‹. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie (2001), in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 329–351. 213 TROELTSCH, ERNST, Die Selbstständigkeit der Religion (1895/6), in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), Kritische Gesamtausgabe Bd. 1 (= KGA 1), hg. v. Christian Albrecht, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 364–535, 493. 214 Vgl. B ARTH, U LRICH, Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung (1996), in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 4– 27, 9. – Barths Religionstheorie weckt ebenfalls den Anschein, mit dem Kategorie des Erlebens werde auf etwas letztlich Vor-Symbolisches rekurriert, das nur unter Wahrung der Deutungshoheit des individuellen Subjekts zur Sprache gebracht werden könne. Dabei weiß er selbst darum, dass bereits die emotional grundierten Erlebensschichten stets schon symbolisch, d.h. von der kulturellen und sozialen Lebenswelt mit strukturiert sind, bevor Subjekte überhaupt eine Deutungsleistung vollziehen können. In einer späteren Schleiermacher-Rekonstruktion nimmt Barth im Übrigen diesbezüglich Korrekturen an dessen Religionstheorie vor, die auch als Modifikationen seiner eigenen Religionstheorie gewertet werden können, vgl.: BARTH, ULRICH, Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 304–310.
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unterschätzt. Auch scheinbar religionsaffine Situationen des menschlichen Daseins, wie Geburt, Tod, Geschlechtsreife etc., werden aber erst dadurch zu religiösen Themen, wenn in einem sozialen Zusammenhang ein entsprechendes symbolisches Vokabular diese als solche qualifiziert. Und nur, wenn letzteres für die einzelnen Subjekte Anwendung findet, sie sich damit ausdrücken, entsteht für sie und für andere eine religiöse Erfahrung. Religiöse Erfahrungen sind so gesehen immer schon im Bereich des Intersubjektiven zu verorten, auch wenn sie undelegierbar einzelne Subjekte betreffen. Die Auffassung, wonach dem religiösen Subjekt eine derart irreduzible Innenseite, „Immeriorität“215, zukomme, die es, wenn nicht zu einer Art ‚Black Box‘, so doch zu einer alle symbolischen Artikulationen transzendierenden, von außen nicht fassbaren Größe macht, beruht auf letztlich problematischen metaphysischen Annahmen. Diese setzen bereits dort an, wo in Gestalt der im individuellen Subjekt instanziierten Subjektivität eine gegenüber der sozialen Dimension des Inter-Subjektiven vorrangige Größe für die Erfahrung und Erkenntnis von Wirklichkeit angenommen wird. Zudem wird hier das Problem der Unmittelbarkeit und seiner Artikulation gänzlich von der Seite des individuellen Subjekts her gelöst: ‚Ausdrücklich‘ wird nur das, was zuvor schon innerlich gegeben ist, wenngleich in stets defizitärer Form und stets unter Vorbehalt individueller Authentizität. Darum spreche ich von subjektivistischem Expressivismus. In Gegensatz und Gegenüber zu diesem grob schematisch dargestellten Typus des subjektivistischen Expressivismus hat sich im 20. Jahrhunderts in Gefolge des späten Wittgensteins ein stärker sprachphilosophisch orientierter Zugang zur Religion herausgebildet. Dieser sieht religiöse Traditionen als Grammatiken, die regelgeleitet bestimmte (religiöse) Weltsichten und Lebensformen ausprägen. Der Rang, der im ersten Typus der Erfahrung beigemessen wurde, gebührt hier der Sprache. Religiöse Vorstellungen folgen einer regelgeleiteten Grammatik, der christliche Glaube kann – dogmatisch betrachtet – als spezifische Grammatik einer Lebensform begriffen werden.216 Dabei verfolgt dieser Ansatz ein hermeneutisches Interesse, weil Erfahrungen nur durch den Rückgriff auf symbolische Grammatiken verständlich werden. So gesehen optieren diese Ansätze für eine irreduzible Pluralität von Religionen, die nicht auf einer gemeinsamen Struktur aufbauen, sondern allenfalls über den Vergleich ihrer Grammatiken ‚Familienähnlichkeiten‘ (Wittgenstein) aufweisen. Jedoch führt die enge Verknüpfung von religiöser Artikulation und dem Gebrauch religiöser Grammatiken an zwei Stellen häufig zu Übertreibungen: Zum einen sorgt die 215 Dieser Ausdruck stammt von Bernhard Lonergan, vgl. LONERGAN, B ERNARD J.F., Methode in der Theologie. Übersetzt und hg. v. Johannes Bernard. Mit einem Nachwort von Giovanni B. Sala, Leipzig: St. Benno 1991, 110–133 u.ö. 216 Diesen Ansatz verfolgt Ingolf Ulrich Dalferth u.a. in seiner Studie: D ALFERTH, INGOLF U., Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder 1993, 216–313.
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Grammatikmetaphorik dafür, dass von der Pluralität von Sprach- und Lebensformen oftmals auf deren Inkommensurabilität geschlussfolgert wird; zumindest folgt es der Logik, Ideosynkrasien und Hybridbildungen als Regelverstöße gegenüber den verwendeten Grammatiken zu werten. Zum anderen werden Lebensformen als Sprachspiele derart holistisch verstanden, dass sie als abgeschlossene Gebilde stets dann ein Problem bekommen, wenn sich etwas der Beschreibung durch diese Regeln nicht fügt. Sprache und Welt rücken so nah aneinander, dass es zu einer folgenschweren Behandlung des Moments der Irritation und Neuheit kommt. Denn natürlich kennt dieser Ansatz Sprach- und eo ipso Bedeutungswandel. Aber der Konflikt wird stets innerhalb des jeweiligen Sprachspiels verortet, unterschiedliche Sprachspiele hingegen können sich nur bedingt im Hinblick auf die eine, so gar nicht beschreibbare Wirklichkeit stören oder bereichern. Auch wird die Kreativität der Grammatikverwender unterschätzt, obwohl sie ja für den Fortbestand oder die Korrektur an Sprachspielen und Lebensformen maßgeblich verantwortlich zeichnen. Als ein besonders hartgesonnener Vertreter dieses linguistischen Kulturalismus kann der amerikanische Theologe George H. Lindbeck gelten. Seiner Ansicht nach darf religiöse Innovation keinesfalls „so verstanden werden, als ginge sie aus neuen Erfahrungen hervor, sondern als das Resultat des Zusammenwirkens eines kulturell-sprachlichen Systems mit sich verändernden Situationen“217. Dem ließe sich zustimmen, wenn klar wäre, weshalb es dazu eines harten Hiats zwischen Situation und Erfahrung bedarf. Die ‚Anomalien eines Interpretationsschemas‘, die zu seinem Scheitern führen, sind bekanntlich nicht einfach durch die Situation plan vorgegeben. Vielmehr sind die Veränderungen, die sich aus ihr ergeben, oftmals Resultate kreativer Interpretationen von in diese verstrickten Individuen. Deren Involviert-Sein aber wird durch das Moment des Erfahrens gekennzeichnet, wenngleich dieses die Verwendung von symbolischem Vokabular nie ausschließt. Mag sein: „Religiöse Erfahrungen im Sinne von Gefühlen, Empfindungen oder Emotionen resultieren (…) aus konzeptionellen Mustern“218, doch diese stehen nicht einfach im Vorhinein fest, sondern werden abgewandelt, variiert oder eben auch neu kreiert durch die einzelnen erfahrenden Subjekte. Insofern sind Gefühle, Empfindungen etc. zwar keine ‚Quelle‘ von religiösen Erfahrungen, bliebe Emotion ohne Sprache schließlich stumm; aber sie sind durchaus individuelle Indikatoren für die Erfassung der Qualität jenes Typus von Situationen, durch die kulturelle Lebensformen und Sprachmuster ins Wanken geraten. Sie stehen für das Irritationspotential der 217 LINDBECK, G EORGE A., Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter. Mit einer Einleitung von Hans G. Ulrich und Reinhard Hütter, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1984, 67. – Lindbeck profiliert seinen linguistischen Ansatz in dezidierter Abgrenzung zu expressivistischen Modellen, für die er Bernhard Lonergan als paradigmatisches Beispiel anführt. 218 Ebd.
4. Religion, Ritus und Realität
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Realität gegenüber ihren Symbolisierungen, wie sie nur einzelnen Subjekten individuell oder kollektiv bewusst wird. Im Unterschied zum ersten Theorietyp löst der linguistische Kulturalismus somit das Problem von Unmittelbarkeit und ihrer symbolischen Artikulation ganz zu Gunsten des zweiten Moments auf. Unmittelbarkeit kann als solche gar nicht (mehr) gewusst werden, obwohl sie sich doch gerade im Ungenügen an symbolischen Artikulationen und ihrem Vokabular (indirekt) bemerkbar macht. Beide Theorietypen scheitern in spiegelverkehrter Hinsicht am Problem der Artikulation und dem darin implizierten Moment der Unmittelbarkeit. Im ersten Fall kommt die sprachlich-symbolische Artikulation immer schon zu spät. Außerdem bleibt fraglich, inwieweit sie eigentlich den qualitativen Zustand subjektiv erlebter Unmittelbarkeit als solche zum Ausdruck zu bringen vermag. Im zweiten Fall wird hingegen das Moment der Unmittelbarkeit insofern ganz geleugnet, als alles, was nicht in einem interpretativen Muster artikulierbar gemacht werden kann, letztlich keinerlei Realitätsanspruch für sich behaupten darf. In beiden Fällen bleiben zudem die Phänomene der Kontingenz, der Neuheit und Kreativität unterbelichtet. Weder geht es lediglich um eine neue Konstellation eines individuell Allgemeinen noch um ein lediglich oder radikal Anders-und-Neu-Verstehen-Wollen.219 Aber nur durch ein adäquates Verstehen der Rolle von Kontingenz lässt sich ein kritischer Realismus im Rahmen symbolischer Wirklichkeitserkenntnis vertreten und wird darüber hinaus das Spezifikum religiöser Wirklichkeitsformung klar. Bevor wir vor diesem Hintergrund ein handlungstheoretisches Modell religiöser Erfahrung und ihrer Artikulation skizzieren, gilt es noch einmal genauer das systematische Kernproblem zu beleuchten. 4.2 Das Moment der Unmittelbarkeit und das Problem der Artikulation Pragmatismus und Historismus verfahren nun mit dem Problem der qualitativ noch unbestimmten Unmittelbarkeit und ihrer qualitativen Bestimmtheit dank symbolischer Artikulation auf andere Weise. Mit der Kritik an cartesianischen Konzepten von Letztbegründung und Unmittelbarkeitsgewissheit durch den Pragmatismus wird ebenso wenig das Moment der Unmittelbarkeit geleugnet, 219 Diese Argumentations- und Überbietungsrhetorik liegt einer neueren Studie von Ingolf U. Dalferth zugrunde. Vgl. DALFERTH, INGOLF U., Radikale Theologie. Glauben im 21. Jahrhundert, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010, bes. 13–21.238–282. Man wird die Vermutung äußern dürfen, dass das Bewusstsein für radikalen Bedeutungswandel und für neue Phänomene, das in der Theologie Dalferths gleichwohl dank ihrer phänomenologischen und semiotischen Züge sehr weit ausgeprägt ist, ein Versuch ist, mit der – nach wie vor dem Modell der Grammatik – folgenden Orientierungs- als Unterscheidungslogik zu versöhnen. Gleichwohl sind es wiederum vor allem die Leitunterschiedungen, welche die Phänomene, alte wie neue, noch einmal ‚radikal anders‘ sehen und verstehen lernen. Es dominiert hier trotz aller Pragmatik ein Ideal eindeutiger (dogmatischer) Semantiken.
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wie aus der historistischen Einsicht in das geschichtliche Gewordensein von symbolischen Formen das Problem adäquater Artikulation sich deshalb erübrigt, weil man sich ohnehin (nur) in hoffnungslose Relativismen verstricke. Wenn trotz aller symbolischen Codierung von Wirklichkeit Neues sich erfassen lässt, dann greift hier das Moment der Unmittelbarkeit als dasjenige, was bislang noch nicht vermittelt worden ist, und zwar als qualitativ (noch zu bestimmendes oder sich der Bestimmbarkeit entziehendes) Unbestimmtes. Schon im klassischen hermeneutischen Historismus ist dieser Punkt sehr wohl gesehen worden. Man darf nur an Diltheys berühmte Trias aus Erleben – Ausdruck – Verstehen erinnern, mit der jener das Verhältnis von individueller Unmittelbarkeit und symbolischen Ausdruck zu fassen bemüht ist. Damit soll nicht nur auf die nicht-arbiträre Funktion symbolischer Vermittlungen für das Welt- und Selbstverstehen abgezielt werden. Diltheys Konstellation der Anerkennung geschichtlicher Kontingenz dient in gleichem Maße, indem sie diese nicht vorschnell teleologisch normieren will. Anders gewendet verweist das Moment der Unmittelbarkeit auf das Phänomen irreduzibler Kontingenz und Neuheit.220 Allerdings wird man dem Moment der Unmittelbarkeit nur über und dank symbolischer Artikulation und ihrer Nicht-Identität mit dem, was zu Artikulation nötigt, gewahr. In Anlehnung an Kants berühmtes Diktum lässt sich daher sagen: Symbolische Artikulation ohne Moment der Unmittelbarkeit wird leer, Unmittelbarkeit abseits symbolischer Artikulationen blind.221 Doch die hiermit aufgeworfenen Schwierigkeiten, die zuvor in typisierender Form an den beiden religionstheoretischen Grundtypen spiegelbildlich zutage getreten sind, betreffen ein noch grundsätzlicheres Problem: Mit ihnen steht der realistische Zug symbolischer Wirklichkeitserkenntnis zur Debatte. In Frage steht das Verhältnis einer nur über Zeichen vermittelten Realität zu der durch diese Zeichen geformten Erkenntnis. In anderer Terminologie geht es um ein reflexives Gleichgewicht zwischen den ‚Ordnungen der Sprache‘ (der symbo-
220 Diesen Vorzug der Hermeneutik Diltheys hat für eine Theorie religiöser Erfahrung fruchtbar gemacht: JUNG, MATTHIAS, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatistischen Religionsphilosophie, Freiburg i.Br./München: Alber 1999, 17–133. – Aus jüngerer Zeit darf in diesem Zusammenhang auch auf die Arbeit von Constantin Plaul verwiesen werden. Zur Rolle von Erfahrung und Geschichtsverstehen bei Dilthey vgl. PLAUL, CONSTANTIN, Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys. Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage (BHTh 188), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, v.a. 118–151.213–246. 221 Hier treffen sich meine Überlegungen mit denjenigen von Magnus Schlette, da auch ich das Moment der Unmittelbarkeit nicht jenseits humaner Expressivität als Form des ‚ZuSich-Selbst-Verhaltens‘ ansiedele. Vgl. SCHLETTE, MAGNUS, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt/M./New York: Campus 2013, 223–260.
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lischen Zeichen) und den ‚Ordnungen der Welt‘ als durch diese erkannte Realität.222 Wiederum provoziert dazu die Erfahrung qualitativer Kontingenz und Neuheit. Denn ganz gleich, was man genau darunter versteht, wird mit ihr die Angemessenheit symbolischer Wirklichkeitscodierung auf die Probe gestellt und die Möglichkeiten alternativer Codierungen wachgehalten. Schon bei Cassirer haben wir auf der irreduziblen Pluralität symbolischer Formen beharrt, die ein abschließendes Erkenntnismodell und Beschreibungsvokabular hinter sich lässt. Dabei wird nicht die Einheit der Wirklichkeit geleugnet, machte es doch andernfalls keinen Sinn, von Konflikten zwischen symbolischen Formen zu reden, noch gäbe es dann Anlass, ihre Revisionsoffenheit zu fordern. Am Ort der Kontingenz bricht das Problem des Realismus als das prekäre Verhältnis von Welt und Sprache, von Wirklichkeit und Symbol, auf, dem auf der Ebene der Artikulation das Problem zwischen Sagbarem und Unsagbarem entspricht. Mit der zuletzt genannten Wendung spiele ich auf einen berühmten Aufsatz von Cornelius Castoriadis an, der in Auseinandersetzung mit Phänomenologie und Strukturalismus aufgezeigt hat, dass das Moment der Unmittelbarkeit und also die Nicht-Identifikation von Wirklichkeit mit ihrer symbolischen Erfassung in der Struktur von Artikulation selbst begründet liegt.223 Um etwas symbolisch prägnant bestimmen zu können, bedarf die Artikulation eines Freiraums, der neben bereits Gesagtem und Sagbarem stets auch das Nicht-Gesagte und das (momentan) Unsagbare umfasst. Aus diesem Grund kommt er zur dialektischen These: „Was nicht ausgesprochen werden kann, ist gerade das, was unser Sprechen ermöglicht; das Unsagbare ist die Sagbarkeit selbst, dessentwegen es das Sagbare gibt.“224 Das Unsagbare bedeutet demnach nicht etwas Metaphysisches, keine außersprachliche Entität als ‚Ding an sich‘. Es erinnert vielmehr daran, dass sprachliche und symbolische Artikulationen nicht aus sich selbst heraus erzeugt werden, sondern an etwas arbeiten, das sie zugleich zum Ausdruck bringen, und das sich ihnen doch immer wieder entzieht. Darum kann es keine abschließende symbolische Bestimmtheit von Welt geben. Der Prozess der Sagbarkeit verhindert seine endgültige Stilllegung in der Form von eindeutig Gesagtem und Sagbarem: In Wahrheit ist das Phänomen des ursprünglichen Ausdrucks gar nicht beschreibbar; man rührt immer nur an seine Konsequenzen. Aus zahllosen Erfahrungen wissen wir, daß neue Bedeutungen ihrerseits verfügbar geworden sind (…) Das verweist uns von neuem auf das Sein der Welt und das Sein der Sprache. Von der Welt gibt es stets wieder etwas anderes zu sagen und die Sprache ermöglicht immer wieder ein neues Sprechen. Bestimmte Dinge, die in der Welt vorkommen und unbeschränkt neu bestimmbar sind; (…) Durch ihr Fixieren, 222 Diese Terminologie (‚Ordnung der Sprache‘ und ‚Ordnung der Welt‘) entnehme ich der Abhandlung von: CASTORIADIS, CORNELIUS, Das Sagbare und das Unsagbare. Maurice Merleau-Ponty zu Ehren, in: Ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 107–126. 223 Vgl. A.a.O., 107–113. 224 A.a.O., 122.
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ohne dass sie nicht funktionieren könnte, macht die Sprache das Nicht-Fixierbare möglich, ohne das sie nicht Sprache wäre.225
Zwischen den Ordnungen von Welt und ihrer symbolischen Formung klafft jedoch keine unüberbrückbare Kluft. Denn nur, weil sie stets schon ineinander verfugt sind, kann es überhaupt zum dynamischen Prozess von Bedeutungsaufbau, -wandel und -abbruch kommen. Die Wirklichkeit ändert sich dadurch mit, weil symbolische Formungen nicht etwas ‚von außen‘ an sie Herangetragenes sind, sondern selbst Teil dieser Realität darstellen. In den prekären und vorläufigen Passgenauigkeiten zwischen der Ordnung der Welt und jener der Sprache formiert sich (bestimmter) Sinn. Zur symbolischen Prägnanz dank Artikulation gehört Kontinuität, die symbolische Formen als Zeichenprozesse verstehen lässt. Aber auch sie lebt von der permanenten Möglichkeit zur Störung und zur Neuformierung, die im Moment des Unmittelbaren, des nicht symbolisch fixierten Realen, des Unsagbaren liegt, und die als solche erst im Nachgang, anhand seiner ‚Konsequenzen‘ symbolisch erfasst werden kann. Cassirer hat deswegen in seinen Ausführungen zur symbolischen Prägnanz stets daran festgehalten, dass eine sinnhaft bestimmte Welt von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘, von ‚Selbst‘ und Wirklichkeit‘ allererst durch symbolische Formungsprozesse aufgebaut wird226, ohne dass Wirklichkeit dadurch ein für alle Mal fixiert werden kann. Damit kommt ein realistischer Zug zur Geltung, der Unmittelbarkeit weder als axiomatische Selbstgewissheit noch als rohe Sinnesdaten versteht227, sondern sie als vermittelte Unmittelbarkeit in Gestalt qualitativer Kontingenz im Prozess symbolischer Formungen verortet. Dadurch kann jetzt auch geklärt werden, inwiefern man der Realität und damit des Moments von Unmittelbarkeit überhaupt ansichtig wird, nämlich im Handeln als symbolische Formung und Gestaltung von Wirklichkeit selbst. Das hat ausgerechnet William James, dessen Philosophie ebenfalls nicht ganz frei von einem naiven Unmittelbarkeitspathos ist, auf schöne Weise veranschaulicht. In seinen posthum veröffentlichten Some Problems of Philosophy schildert er die Situation, in welcher der Verfasser eines Briefes um die richtigen Worte ringt. Daran zeigt er auf, wie im Handlungsprozess unter Gebrauch symbolischer Vokabulare das Moment der Unmittelbarkeit sich bemerkbar macht: As I now write (…) I ‚strive‘ after words, which I only half prefigure, but which, when they shall have come, must satisfactorly complete the nascent sense I have of what they ought to be. The words are to run out of my pen, which I find that my hand actuates so obediently to
A.a.O., 117. Vgl. CASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), ECW, Bd. 13. hg. v. Birgit Recki, Hamburg: Meiner 2010, v.a 64– 86.104–117 (Zum Leib-Seele-Problem). 227 Zur Kritik an diesen Formen der Unmittelbarkeit vgl. H AMPE, M ICHAEL, Funktionen der Unmittelbarkeit, in: Ders., Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfut/M.: Suhrkamp 2006, 76–100. 225 226
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desire that I am hardly conscious either of resistance or of effort. Some of the words come wrong, and then I do feel a resistance, not muscular, but mental, which investigates a new instalment of my activity, accompanied by more or less feeling of exertion.228
In diesem Beispiel wird überdeutlich, wie sich das Moment der Unmittelbarkeit als kontingentes im Artikulationsprozess bemerkbar macht. Die sozial eingeübte Technik der brieflichen Kommunikation bedient sich für ihren Zweck stets schon der Medien symbolischer Vokabulare. Doch wird dem Schreiber im Handeln offenbar, dass das Intendierte mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht passgenau zusammenstimmt. Deswegen regt sich Widerstand, auf den er zu reagieren hat. Gelingt es, die Hemmnisse zu überwinden, dann dank einer Neuformulierung und Neujustierung symbolischer Ausdrücke. Es ist die Kreativität des (symbolischen) Handelns (als Interpretieren), die die Restitution der nicht selbst ausgelösten Infragestellung der Passgenauigkeit der Ordnung der Sprache mit der Ordnung der zur Sprache gebrachten Welt zustande bringt. Das aber provoziert eine neue Erfahrung, die sich allererst im Zusammenspiel aus symbolischem Vokabular, praktischer Tätigkeit und der Offenheit der Situation einstellt und die nicht von vornherein durch die beiden ersten Glieder eindeutig festgelegt ist. Damit ist handlungstheoretisch rekonstruiert, was die Relevanz des Moments der Unmittelbarkeit für eine kontingenzorientierte Theorie symbolischer Artikulation und Erschließung von Realität ausmacht. Als Indikator, dass die Realität, in der wir leben, nicht mit unserem Wissen darüber zusammenfällt, zielt das Moment der Unmittelbarkeit auf die Verankerung noch all unseres Wissens im Handeln selbst: Wie weit unser Wissen auch reichen mag, wir bleiben abhängige Wesen, vor allem auch weil unser methodisch kontrolliertes Wissen aus einem Handeln entspringt und in ein Handeln übergeht, das wir nicht kontrollieren können (…) Wirklichkeit (…) soll nicht das bezeichnen, was es eigentlich gibt (…), sondern bezeichne[t] eine Grenze unseres Wissens und unserer Handlungskontrolle, jenseits deren jedoch nicht nichts ist. 229
JAMES, WILLIAM, Some Problems of Philosophy. A Beginning of an Introduction to Philosophy (1910). Introduction by Ellen K. Suckiel, Lincoln/London: Univ. of Nebraska Press 1996, 210f. – In eine ähnliche Richtung geht die Interpretation von: JOAS, HANS, Über die Artikulation von Erfahrungen (2004), in: Ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder 2004, 50–62, 55f. – Entgegen einem hartnäckigen Vorurteil ist übrigens auch für James klar, dass alle religiöse Erfahrung trotz der Qualität ihrer ‚immediacy‘ eine Sache der Interpretation ist. Vgl. JAMES, WILLIAM, Reason and Faith (1905), in: The Works of William James. Essays in Religion and Morality, hg. v. Frederick H. Burkhardt, Cambridge (Ma.)/London: Harvard Univ. Press 1982, 124–128. 229 H AMPE, Funktionen der Unmittelbarkeit, in: Ders., Erkenntnis und Praxis (Anm. 227), 93. 228
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Für die Religionstheorie hat dies eine handlungstheoretische Umstellung der Momente von Erfahrung, Artikulation und Handlung und ihres Verhältnisses in der Beschreibung von religiöser Erfahrung zur Folge. 4.3 Handeln, Symbolisieren und Erfahren: Religionstheorie zwischen Pragmatismus und Historismus Mit der angemahnten Umstellung auf ein handlungsorientiertes Konzept von religiöser Erfahrung ist also mitnichten einem erfahrungsbasierten Verstehen von Wirklichkeit der Abschied beschieden.230 Gleiches gilt für die Einsicht in die symbolische Formung jeder Wirklichkeitserkenntnis. Gleichwohl stellt eine handlungsorientierte Theorie religiöser Erfahrung mehr als nur eine weitere Nuancierung dar. Das betrifft zunächst den Punkt ihres kritischen Realismus. Weil es so gesehen keine isolierten Handlungssubjekte gibt, kann auch Erfahrung nichts heißen, was als mentales Erleben ausschließlich auf deren Innenseite bezogen wäre. Eine Erfahrung machen, heißt stets handelnd und reagierend sich in einer Situation zu befinden, die Andere und Anderes als Wirklichkeit einschließt und die sich nur dank kulturell eingespielter, sozial geteilter und geschichtlich tradierter Interpretationsmuster symbolisch erschließt. Cassirer hat deswegen zu Recht den Gebrauch von Symbolen und Zeichen im Gegensatz zum bloßen Reiz-Reaktions-Verhalten von Tieren als Schritt von der Reaktion zur Antwort bezeichnet.231 Aber auch dieser Schritt erfolgt noch und spezifiziert nur das darin in Anschlag gebrachte Paradigma der Handlung als einer spezifischen Form wechselseitigen Reagierens von Organismus und Umwelt, nämlich als Agieren von Zeichensubjekten auf ihre zeichenhaft erschlossene und zugleich potentiell widerständig bleibende Umwelt. Denn auch der Zeichengebrauch selbst ist wiederum eine Handlung, und zwar – darin liegt der kritische und keinesfalls naive Zug dieses Realismus – ein experimentelles Handeln. Mittels Zeichen und Symbolen erschließen wir uns Situationen und erweitern Handlungsräume. Das trifft auf den alltäglichen Umgang mit unseren Mitmenschen ebenso zu, wie für wissenschaftliche Experimente oder Situationen existentieller Nachdenklichkeit. Stets handeln wir mit Symbolen und Zeichen, und zwar auf probehafte Weise. Man könnte auch mit John Dewey sagen, wir handeln ohne zu handeln, d.h. ohne stets schon irreversibel Dinge zu verändern. Doch auch damit verändern wir Wirklichkeit, so wie 230 Für den Pragmatismus hat das Erfahrungskonzept eindrücklich betont: D EWEY, JOHN, The Need for a Recovery of Philosophy (1917), in: The Essential Dewey, Bd. I: Pragmatism, Education, Democracy, hg. v. Larry A. Hickam/Thomas M. Alexander, Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 1998, 46–70, v.a. 46f. – Zur Interpretation dieses bedeutenden Textes der Philosophiegeschichte: vgl. BERNSTEIN, RICHARD J., Praxis und Handeln, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, 77–90. 231 Vgl. C ASSIRER, ERNST, Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur (1944), Hamburg: Meiner 1996, 52–71.
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wir durch Wirklichkeitsumgang verändert werden. Von daher ist es präzise, zu sagen: „Wir machen eine Erfahrung“. Mit Hilfe von Symbolen, ob nun Gesten, Worten oder ausgefeilteren Konstruktionen, handeln wir, ohne zu handeln. Das heißt wir unternehmen Experimente mit Hilfe von Symbolen, die Resultate haben, die selbst nur symbolisiert sind (…) [W]enn er [sc. der Mensch, C.P.] die Handlung ganz für sich in Symbolen probt, kann er ihr Ergebnis antizipieren und einschätzen. Und auf der Grundlage dessen, was antizipiert und nicht in Wirklichkeit da ist, kann er offen handeln oder nicht handeln. Die Erfindung oder Entdeckung von Symbolen ist zweifellos das bei weitem größte einzelne Ereignis in der Geschichte der Menschen.232
Nun gehört es zweifelsohne dazu, sich klar zu machen, dass wir nicht immer in diesem emphatischen Sinne Erfahrungen machen. Wir sprechen auch im strengen Sinne nur dann davon, dass wir eine Erfahrung gemacht haben, wenn wir in einer Situation waren, die Überraschendes, Neues, Schwieriges oder jedenfalls Problematisches für uns oder andere bereithielt.233 Dann nämlich geraten schon die symbolischen Vokabulare, die wir zur Rekonstruktion der Lage verwenden, ins Schwanken, weil sie allenfalls noch bedingt zu ihr passen. Eine Neu-Interpretation wird daher notwendig, und zwar, soll sie glücken (d.h. erfolgreich sein), unter der Bedingung wahrgenommener und damit bestimmt erfasster Kontingenz. Deswegen sind Erfahrungen stets auch als Experimente im Umgang mit der Wirklichkeit zu kennzeichnen, und zwar mit offenem Ausgang. Darin liegt der dezidiert kritische Zug dieses Realismus. Diese Konstellation des Erfahrungen-Machens mit Hilfe eines als ungenügend wahrgenommenen symbolischen Vokabulars in der Situation des Handelns ist grundsätzlich für alle Weisen des Wirklichkeitsumgangs, des alltäglichen, des wissenschaftlichen und auch des religiösen, strukturell gleich. Worin sich die Weisen unterscheiden, liegt vielmehr in den jeweils probaten Mitteln und symbolischen Rastern, die dabei verwendet werden, begründet. Bemühen sich naturwissenschaftliche Einstellungen eher darum, methodische Kontrolle durch Abstraktion und Quantifizierung zu gewinnen, zielen religiöse Praktiken auf situationsdichte, intensive Symbole, die auf die Gestimmtheiten der Betroffenen eingehen. Damit spielen sich in den unterschiedlichen symbolischen Formen auch divergente Praktiken der symbolischen Formung ein, die Erfahrungen prägnant werden lassen oder auch bewusst neue Erfahrungen provozieren können. Das Reservoir an kulturellen Praktiken, die situationsbedingt sinnvoll einzusetzen sind, bedingt die darin möglichen individuellen und kollektiven Erfahrungskontinua. Sie reichen von eingespielten, routinisierten und
DEWEY, Gewißheit (Anm. 207), 153. Das bedeutet nicht, dass wir nicht in eingespielten Praktiken, die auf typische Probleme und Herausforderungen unserer Umgebung mit relativ hohem Erfolg antworten, nicht auch Erfahrungen machen. Im Gegenteil, rekonstruieren wir doch im Rückblick auf unser Leben als Selbst- und Weltverhalten stets auch Erfahrungen aus diesen Lebensvollzügen. 232 233
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habitualisierten Reaktionsweisen bis hin zu spielerisch-kreativen und kontrolliert eingesetzten Stellungnahmen zur Realität. Deswegen gibt es keine radikale Trennung von gewöhnlicher Erfahrung und wissenschaftlich-experimentell erzeugter Erfahrung, was für die Frage nach dem Eigengewicht religiöser Erfahrung erhebliche Folgen hat, insofern Religion dann nicht einfach etwas ‚Ganz Anderes‘ gegenüber den anderen Erfahrungsmodi darstellen kann. Die Differenzen zu letzteren werden nicht verschwiegen, sind aber – wie schon angedeutet – an Nähen und Fernen zu den existentiell234 erfahrenen Aspekten einer Situation zu messen. An diesem Gradmesser lässt sich zudem angeben, ob es sich beispielsweise eher um ein wissenschaftliches Experiment oder aber eine lebensweltlich dichte Erfahrung handelt. Die Veränderungen, die Erfahrungen mit Blick auf die Subjekte und auf die wahrgenommene Wirklichkeit im Handeln machen, betreffen jedoch nicht nur diese formaleren Aspekte; sie betreffen mehr noch den konkreten Gehalt, der aus dem stets historisch überkommenen symbolischen Vokabular resultiert. Symbolische Formen oder kulturelle Symbolsysteme unterliegen einem steten historischen Wandel. Hier nun macht sich in doppelter Weise die Einsicht des Historismus bemerkbar: Denn zum einen gibt es keine Erfahrung, die nicht präfiguriert ist, wenn ein spezifisches Symbolvokabular handelnd in Anschlag gebracht wird. Symbole fixieren zwar nicht ein für alle Mal eine Bedeutung; aber sie konnotieren einen Bedeutungsraum, von dem in der Regel erst dann abgewichen wird, wenn er Situationen gar nicht mehr zu fassen bekommt. Bedeutungswandel stellt auch dort, wo er radikal ist, keinen absoluten Bruch mit der Vergangenheit dar. Selbst neue symbolische Formen stehen in partieller Kontinuität zu denjenigen Symbolweisen, die sich als ihre Vorgänger in Problemsituationen als ungenügend herausgestellt haben und daher einen Neuansatz notwendig machten. Zum anderen ist es symbolisches Handeln, das für die Kontinuität einer symbolischen Form und ihres Bildes von der Wirklichkeit einzustehen hat. Der schleichende Bedeutungswandel vollzieht sich hier durch Variationen, die selbst noch im routinierten Umgang im Alltag durch individuellen Symbolgebrauch stattfinden. Mit dem Wandel der konkreten Bedeutungsgehalte verändern sich somit die Wirklichkeit, die wir symbolisch rekonstruieren, und zugleich unser Selbstverständnis als auf sie reagierende, handelnde Subjekte. Zusammenfassend lässt sich die Konstellation von Handeln, Symbolisieren und Erfahren so beschreiben: Erfahrungen sind das Resultat von symbolischem Prägnanzgewinn, der sich im reaktiven Verhalten (Handeln) im Lichte spezifischer Situationen einstellt und zu neuem Handeln herausfordert. Von symboli-
‚Existentiell‘ meint hier den Fokus auf das in die Situation involvierte Subjekt: „Die Besonderheit der wissenschaftlichen Abstraktion besteht in dem Grad ihrer Freiheit von partikularen existentiellen Bindungen“ (DEWEY, JOHN, In Defense of the Theory of Inquiry, zitiert nach: BERNSTEIN, Praxis [Anm. 230], 95). 234
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schem Prägnanzgewinn ist deshalb zu reden, weil sich die durch die Sinne sinnlich gegebene Wirklichkeit in der handelnden Rekonstruktion mit Sinn, also mit Bedeutung, als so und so bestimmte erschließt.235 Im Übrigen gilt noch für Erfahrungen von Prägnanzverlust, dass sie selbst als solche wahrgenommen und artikuliert werden müssen. Auch das geschieht wiederum durch eine handelndsymbolische Bearbeitung; und sei es, dass sie als ‚offene Wunden‘ in die lebensweltlichen Kontexte zwar eingeordnet, dort aber solche kenntlich gehalten werden. Insofern kann auch der Bedeutungsverlust, der stets mit kulturellen Prozessen einhergeht und durchaus dramatisch-destruktive Züge annehmen kann, nur indirekt und ex post erfahren werden. Die religiöse Erfahrung nun verdankt sich, wie alle anderen Erfahrungsmodi, einer spezifischen Formung in einem spezifischen Handlungskontext. Jenen haben wir als Ritual gekennzeichnet. Rituelles Handeln ist der exemplarische wie emphatische Kontext religiöser Wirklichkeitserkenntnis und -bearbeitung. Rituale sind demnach diejenigen Kontexte, in denen eine spezifische Form des Handelns auf symbolische Weise Realität erschließt und sie dadurch als ‚religiös‘ qualifiziert. Damit soll nicht behauptet werden, nur im Ritual ließen sich religiöse Erfahrungen machen; wohl aber werden sie dort in besonderer Weise als religiöse prägnant. Das hat zum einen mit diesem spezifischen Handlungstypus zu tun und zum anderen mit der dadurch spezifizierten Weise, wie uns darin Wirklichkeit als solche prägnant wird. Religiöse Erfahrung stellt sich in eigentümlichen Umgangsweisen (spezifischen Reaktionen) mit situativ zu bewältigender, qualitativ erfasster Kontingenz ein. Erst von hier aus wird auch die lebenspraktische und darin Wirklichkeit zum Ausdruck bringende Bedeutung von religiösen Symbolen, Wörtern und Kategorien fassbar. Eine wesentliche Funktion des Rituals, die der empathischen Wahrnehmung und Bearbeitung von Kontingenz, hat mit dessen performativem Charakter zu tun, wie wir weiter oben herausgestellt haben. Dadurch wird der Aspekt der Transzendenz von Wirklichkeit, der sich in allen symbolischen Formungen bemerkbar macht, so auf die symbolisch Handelnden bezogen, dass diese sich als nicht-delegierbare Akteure davon inbegriffen verstehen müssen. Cassirers These vom symbolischen Selbstbewusstsein der Kultur, wie es in der Religion als symbolischer Form thematisch wird, meint genau dies. Insofern kann man davon sprechen, dass Sinn und Bedeutung als Medium von (erschlossener) Wirklichkeit hier prinzipiell zum Thema werden, und zwar unter dem Zeichen 235 Für eine nicht einseitig auf mentale Akte bezogene, umfassende Sinntheorie, die zugleich einen Rahmen für die Gotteslehre bieten kann, siehe: GERHARDT, VOLKER, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München: Beck 2014, v.a. 111–147. – Unter den Pragmatisten hat vor allem John Dewey auf der Sinnkategorie als umfassende, Natur und Kultur integrierende, Kategorie beharrt. Auch für die Kultur ließe sich sagen, was Dewey von der Natur behauptet, dass es nämlich „sowohl Erfahrung von der Natur wie in der Natur gibt“ (DEWEY, JOHN, Erfahrung und Natur [1925]. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 18).
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ihrer stets prekären Kontingenz. Stellt sich damit eine Reflexivität von Sinn ein, die stets nur anhand konkreter, historischer Symbolsprachen und -welten auftritt, so doch nie in abstrakter Weise, sondern bezogen auf die Akteure von Sinn und Bedeutung, also mit Bezug auf die symbolisch Handelnden. Ohne dass die hier kultivierte Arbeit am Sinn des Sinns als solche bewusst sein müsste236, gilt strukturell von religiösen Erfahrungen: In ihnen manifestiert sich eben die Perspektive der Ersten Person in besonders eindringlicher Weise, so nämlich, daß Individuen, die solche Erfahrungen machen, sich in ihrem Weltbezug gleichzeitig als unvertretbare Interpretationssubjekte erfahren.237
Im Ritual nun wird die religiöse Artikulation prinzipiellen Sinns der Realität mit Bezug auf die darin handelnd Involvierten so gestaltet, dass es keinen Sinn mehr macht, von einer Differenz zwischen dem Gehalt des inszenierten prinzipiellen Sinns und seiner (bloß möglichen) Realität zu sprechen. Das verdankt sich der performativen Struktur seines Vollzugs, der die Kontingenz von Sinn und Wirklichkeit jedoch so als ‚transzendent‘ symbolisch codiert, dass es dennoch zu keiner Schließung der Differenz zwischen der symbolischen Formung und der dadurch artikulierten und geformten Realität kommen kann. Darin liegt der über den rituellen Kontext hinausreichende Geltungsanspruch der Religion. Schließlich betrifft die Nicht-Identität von Realität und Sinn, wie sie als qualitative Kontingenz handelnd erfasst wird, alle Wirklichkeitsbezüge samt ihren symbolischen Formungen. Mit dem Weltbezug, der in Handlungssituationen stets gegeben ist – so auch im Ritual – verbinden sich des Weiteren propositionale Ansprüche, die dazu nötigen, sie ins Verhältnis zu anderen Handlungs- und Erfahrungsmodi zu setzen. Zudem kennzeichnet die religiöse Perspektive, da sie an der Irreduzibilität der nie rein singularischen, sondern stets auch pluralen Ersten-Person-Perspektive festhält, dass noch die Geltungsansprüche nie restlos von den durch sie Betroffenen eingeholt werden können. Auch dafür steht der Gottesgedanke (als Grenzbegriff), dessen Anspruch auf Wirklichkeit oder Wahrheit, wenn man so will, schon der religiösen Artikulation inhärent ist:
236 Dabei kann übrigens offenbleiben, ob Religion auf eine ultimative Dimension verweist, die sich an allen Stellen der Wirklichkeit manifestieren kann oder auf eine diesen Sinn in prinzipieller Hinsicht thematisierende eigene Facette von Realität, die mittelbar auf alle anderen Bereiche bezogen werden kann. Unter den klassischen Pragmatisten votiert Dewey – wie auf Seiten der Theologie Tillich – für die erste Variante, wohingegen James deutlicher auf den eigenständigen Realitätsaspekt des Göttlichen beharrt, der jedoch eben dadurch als ‚göttlich‘ zu qualifizieren ist, weil er die anderen Bedeutungsdimensionen des handelnden In-der-Welt-Seins letzthinnig ausrichtet. Vgl. zu dieser, auch für andere religionsphilosophische Traditionen einschlägigen Alternative: SMITH, JOHN E., Experience and God (American Philosophy 3), New York: Fordham Univ. Press 1995, 46–67. 237 JUNG, Erfahrung und Religion (Anm. 220), 392.
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Wer sein religiöses Erleben artikuliert, sagt damit nicht nur etwas über die Bedeutung der Realität für sich selbst oder seine soziale Gruppe aus, er formuliert auch Behauptungen mit externer Referenz, die kritisierbare Geltungsansprüche erheben. So impliziert trivialerweise die interpretierende Überzeugung, im eigenen Existenzvollzug manifestiere sich die Nähe des Göttlichen, die kognitive Überzeugung, dieses Göttliche sei nicht erst durch den Vollzug der Interpretation hervorgebracht worden.238
Dennoch verbindet sich mit dem Hinweis auf religiöse Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüche nicht deren ungeprüfte, kritiklose Übernahme. Denn einerseits beruhen sie nicht auf strikt subjektiven Erlebnissen, die immun gegenüber fremden Perspektiven wären, da sie ohnehin nie anders als durch symbolische Rekonstruktionen des im Handeln gemachten Welt- und Selbstumgangs als Erfahrungen verständlich gemacht werden könnten. Andererseits gilt auch hier dasselbe, wie schon in biographischen Zusammenhängen: Erfahrungen müssen sich im weiteren Vollzug handelnd bewähren. Sie lassen sich auf Probe stellen. In diesem Sinne betrifft der kritische Realismus auch religiöse Symbolsprachen und deren Wirklichkeitserkenntnisse, und zwar einschließlich des Gottesgedankens. 4.4 Expressiver Theismus und der Bedeutungswandel der Person Die soeben skizzierte Theorie des Handelns als einem situativ vollzogenen, mittels symbolischer Codes, Zeichen und Sprache reflexiven Reagieren, in dem Erfahrung als interpretative Bestimmtheit von Situationen zustande kommt, verweist von sich aus auf die Zeit als dem geschichtlichen Prozess, in dem Handeln, Symbolisieren und Erfahren stattfindet und als der sich Realität vollzieht. Mit dem Bedeutungswandel von Symbolen239 und Symbolsystemen als Interpretationsschemata kann dann nicht nur eine Veränderung kultureller Mentalitäten und Formationen gemeint sein, sondern ebenso sehr zielt dies auf eine veränderte Praxis symbolischer Formung als Reaktion auf die veränderte Wirklichkeit. Der Dynamik und dem Wandel von Symbolen entspricht ein Wandel der durch sie erfassbaren Realität, nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders, sondern aufgrund der Tatsache, dass in den Erfahrungs- und Forschungsprozessen mit der Artikulation und Erfassung von Realität jene sich genauso
238 JUNG, M ATTHIAS, Religiöse Erfahrung: Genese und Kritik eines religionsphilosophischen Grundbegriffs, in: Ders./Michael Moxter/Thomas M. Schmidt (Hg.), Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg: Echter 2000, 135– 149, 148. 239 Vgl. dazu die grundsätzlichen Erwägungen bei: C ASSIRER, ERNST, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1932, hg. v. Ernst-Wolfgang Orth, Hamburg: Meiner 21995, 1–21, 1f. An anderer Stelle spricht Cassirer von „Gestaltung“ und bzw. qua „Gestaltenä n d e r u n g “: Ders., Zur Metaphysik der symbolischen Formen (ECN 1), hg. v. John M. Krois, Hamburg: Meiner 1995, 264.
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verändern, wie die Praktiken und Einstellungen, die zu ihnen geführt haben.240 Dieser Wandel kann abrupt oder allmählich vollzogen, als Kontinuität qua Variation beschrieben oder auch als radikaler Ab- und Neuaufbruch aufgefasst werden. Die Religionsgeschichte kennt, wie die weitere Kultur- und Sozialgeschichte, beides: Evolution und Revolution. Die Bedingungen für einen Bedeutungswandel liegen jedoch nicht nur in den jeweiligen Schwierigkeiten des bestehenden symbolischen Vokabulars, die situativ gegebene und handelnd erfahrene Realität adäquat zu fassen. Sie drängen z.B. auch von außen heran, wenn die gleichen Kategorien und Ideale in anderen symbolischen Formen eine andere Bedeutungsrichtung annehmen. Man wird kaum sagen können, dass es auch nur eine Kategorie oder auch nur ein Ideal gibt, dessen Bedeutungsprägnanz sich nur einer symbolischen Form verdankt.241 Ohnehin lassen sich symbolische Formen zwar in sich als Regelordnungen fassen, doch gilt das grundsätzlich nur für ihre theoretische Beschreibung. Im symbolischen Handeln überschneiden sie sich, weswegen Geertz zu Recht betont hat, dass sich die Relevanz und Bedeutung symbolischer Formen nicht allein an ihrer Eigenleistung, sondern an deren Umsetzung und Verflüssigung im kulturellen System des Common Sense – als deren Schnittfeld – zeigt. Dazu verhilft, dass in verschiedenen geschichtlichen und sozialen Kontexten häufig genug gleiche oder bedeutungsäquivalente Kategorien und Symbole Verwendung finden, die allerdings eine anwendungsspezifische Eigenbedeutung aufweisen, die zu Hybridbildungen im Alltagsgebrauch führen kann. Radikalerer Bedeutungswandel drückt sich dann zumeist nicht in einer, sondern häufig in mehreren symbolischen Formen und dies mitunter gleichzeitig oder in zeitlicher Nähe aus. Die daraus resultierenden Spannungen zwischen symbolischen Systemen treten dabei nicht erst auf der Ebene ihrer theoretischen Reflexion auf. Das scheint eher eine Spätfolge zu sein. Vielmehr bezeugen sie sich im Konflikt symbolischer Praktiken beim Aufbau dessen, was man die lebensweltliche – oder im Anschluss an Cassirer – die ‚natürliche‘ symbolische Wirklichkeitseinstellung nennen könnte. So sind zum Beispiel die Kategorien von ‚Gott‘ und ‚Person‘ in diversen historischen Traditionen in Gebrauch242 und finden dabei auf unterschiedliche Weise symbolisch geformt Verwendung. Sie beeinflussen sich gegenseitig, was 240 Vgl. D EWEY, JOHN, Logik. Die Theorie der Forschung (1938). Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt: Suhrkamp 2008, v.a. 589–614. 241 Dies auf dichtem Raum für die Kategorie der Person aufgezeigt zu haben und zwar durch interkulturelle Verweise und mit Blick auf die unterschiedlichen Ordnungen ist die Leistung des Aufsatzes von MAUSS, Eine Kategorie menschlichen Geistes, in: Ders., Soziologie (Anm. 175). 242 Für den Personenbegriff und seine religiös wie kulturell vielschichtige Verwurzelung verweise ich auf den Sammelband von: KÖPPING, KLAUS-PETER /WELKER, MICHAEL/ WIEHL, REINER (Hg.), Die autonome Person – eine europäische Erfindung?, München: Fink 2002.
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zu Familienähnlichkeiten und Familienstreitigkeiten führt. Eine Hermeneutik der Personalität Gottes, die unter dem Titel expressiver Theismus fungiert, steht daher vor der Aufgabe, sich ihres geschichtlichen Standorts zu erinnern und der Verflechtung des von ihr zu Untersuchenden – den Sinn personaler Rede von Gott – mit verschiedenen kulturellen Symbolsystemen eingedenk zu bleiben. Dabei hat sie darüber hinaus mit Blick auf die auf den Gottesgedanken angewandte Kategorie der ‚Person‘ sowohl deren klassifizierende als auch deren evaluierende Funktion zu bedenken. Von Paul Tillich stammt diesbezüglich das Bonmot, wonach Gott erst im 19. Jahrhundert zur Persönlichkeit wurde.243 Diese halb ironisch, halb skeptische Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Gedankens eines personalen Gottes für die Systematische Theologie verdeutlicht, dass die Emphase, mit der um die Stichhaltigkeit der Personalität Gottes gestritten wurde, sich einem über die Grenzen religiöser Praxis und dogmatischer Theorie weit hinausgehenden Wandel des soziokulturellen Kontextes verdankt. Das spricht zunächst weder für noch gegen den religiösen Gedanken und seine dogmatische Auslegung. Denn der Personenbegriff rückt in der Tat erst zu diesem späten Zeitpunkt in seiner heutigen Bedeutung und evaluativen Bedeutsamkeit in die rechtliche, moralische, alltägliche und eben auch religiös-theologische Semantik ein. Das bringt Spannungen mit sich, weil zeitgleich in anderen symbolischen Formen immer stärker von einer personalistischen Semantik Abstand genommen wird. Charles Taylor hat das zutreffend als Reibung zwischen zwei wesentlichen Elementen unserer kulturellen Matrix in der Neuzeit beschrieben: Es stehen in offener Spannung einander gegenüber: die ‚impersonal order‘, wie sie als Modell unsere Sicht auf die Natur und Gesellschaft – vor allem dank der Ökonomie – prägt, und das romantische Authentizitäts- und Individualitätsideal.244 Mit alledem ist natürlich nicht behauptet, was unter der neuzeitlichen Frage der Personalität Gottes verhandelt wird, wäre sachlich gesehen nicht schon elementarer Bestandteil christlicher Religionskultur früherer Zeiten gewesen, wenngleich sprachlich anders gefasst. Auch hier gilt es, innerhalb des religiösen Bedeutungswandels auf die symbolischen Kontinuitäten zu achten. Ohnehin darf man sich die Genese und Behauptung eines derart komplexen Vorstellungsgehaltes, wie es die personale Symbolisierung Gottes darstellt, nicht als
243 Vgl. TILLICH, PAUL, Systematische Theologie, Bd. I/II (1951/7), Berlin/New York: de Gruyter 81987, 283. – Tillichs Diagnostik stimmt mit der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Bedeutung der Kategorie der Person für ein humanes Verständnis von Mensch und Gesellschaft überein. Zu diesen Debatten, die im 19. Jahrhundert anheben, siehe die Studie von: BRECKMAN, WARREN, Marx, the Young Hegelians, and the Origins of Radical Social Theory. Dethroning the Self (Modern European Philosophy), Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2001. 244 Vgl. schon seine knappe Skizze in: TAYLOR, C HARLES, Modern Social Imaginaries, Duke/London: Duke Univ. Press 2004, bes. 49–67.101–107.
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§ 5 Die Geburt der Religion aus dem Geiste des Rituals
Resultat einer einzigen rituellen Form im Verbund mit einer einzigen Symbolgestalt begreifen. Vielmehr ist die theologische Rede vom personalen Gott selbst Folge einer Komplexitätsreduktion und Komplexitätsbündelung, die die verschiedenen rituellen Zusammenhänge und das dabei leitende symbolische Vokabular auf einen Grundnenner – auf ein Reihenprinzip, so könnte man sagen – zu bringen bemüht ist. Erst dadurch wird es möglich, eine unter diesem Vorzeichen konstruierte Wirklichkeitseinstellung zu explizieren, was sich dann wiederum auf das Verständnis jener einzelnen symbolischen Bestände auswirkt, aus der sie begriffen wird. Erst damit ließe sich von so etwas wie einer personalen Taxonomie religiöser bzw. christlicher Weltbilder und Ethosgestalten sprechen. Keine religiöse Symboltradition bildet ein statisches Gebilde, in dem ein für alle Mal feststünde, welche Bilder, Metaphern und Symbole leitend für die Ausgestaltung des spezifisch religiösen Sinns sind. Das gilt schon deswegen, weil diese sich nur durch ihre kontinuierliche Ingebrauchnahme, vornehmlich im rituellen Handeln, seitens der Individuen und der von ihnen gebildeten Gemeinschaften bewähren und fortbestimmen können. In diesem Sinne hat Paul Tillich recht, wenn er schreibt: Jede religiöse und kulturelle Gemeinschaft und bis zu einem gewissen Grade jeder einzelne Mensch hat eine besondere Glaubenserfahrung mit einem eigenen Glaubensinhalt. Der subjektive Zustand des Glaubenden ändert sich und bewirkt Veränderungen der Glaubenssym245 bole und umgekehrt.
Darüber hinaus aber zeitigt die nie rein religiöse Konnotation einer Kategorie, z.B. der Person, verschärft Konsequenzen, wenn sie einer temporalen Dynamik unterliegt, die zu einer Verflüssigung ihrer Grundbedeutungen führt. Nicht mehr nur um ‚Umbesetzungen‘ (Blumenberg) geht es dann, sondern um den Aus- bzw. Wegfall von Optionen, mit der wir uns handelnd in der Wirklichkeit orientieren und diese zu fassen bekommen. Es verändert sich etwas in der Lebenswelt, wenn bislang plausible Interpretationsmuster aus dem Gebrauch im Common Sense zu verschwinden drohen. Das bedeutet kein Plädoyer für einen restaurativen Traditionalismus und ebenso wenig für eine naive Fortschrittsgläubigkeit, die weder für das Feld der Religion noch für andere Erfahrungsund Wissenschaftskontexte hilfreich sind. Und deshalb darf es in Situationen religionskulturellen Wandels zu keiner vorschnellen Entlastung derjenigen Instanzen führen, die, wie die Theologie als reflexive Praxis gelebten Christentums, Verantwortung für Symboltraditionen haben. Eine kritische Betrachtung der Ursachen und Gründe für den Abbruch von Frömmigkeitstraditionen und Glaubensgehalten ist von Nöten. Denn auch wenn der Bedeutungsabbruch oder
245 TILLICH, PAUL, Wesen und Wandel des Glaubens (1961), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II (= GW VIII), Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1970, 158f.
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-verlust von (religiösen) Ideen (und Idealen) sich maßgeblich des Verschwindens oder Belanglos-Werdens ihrer jeweiligen Artikulationsformen und eo ipso Handlungsweisen verdankt, so gilt doch auch umgekehrt: Eine Reflexion auf die darin zum Ausdruck gebrachte Einstellung zur und Erfassung von Wirklichkeit kann jedenfalls dem nachspüren, was auf (möglicherweise) andere Weise gar nicht mehr an Wirklichkeitsaspekten artikulierbar gemacht werden kann. Davon sprach Jacobi, als er bemerkte: „Wenige Menschen erwägen, was ihnen Alles mit dem Glauben an einen persönlichen Gott verloren geht.“246 Der Bedeutungswandel von religiösen Ideen und moralischen Idealen ist somit kein Schicksal. Aber er stellt sich nur in den allerwenigstens Fällen grundlos ein. Beides gilt es zu bedenken, beides verweist auf das Prekäre von Symbolen, aber auch an die Verantwortung für ihre kreative Rekonstruktion. Intellektuell Rechenschaft abzugeben, was durch bewusste oder unbewusste Abwandlung oder Verabschiedung von Modellen, Symbolen und Interpretationskategorien an Aspekten der darüber erfassten Wirklichkeit verloren gehen könnte, mag das eine sein. Das andere ist, diejenigen Situationen und Probleme erneut aufzusuchen, an denen sich besagte Symbole vormals bewährt haben. Von der Rekonstruktion dieser Situationen hängt nicht zuletzt ab, ob und inwiefern sich die darin gefassten Probleme auch gegenwärtig noch, u.U. in veränderter Gestalt, mit neuen und/oder anderen Sinngehalten, zeigen. Für die Position eines expressiven Theismus als den konstruktiven Versuch, das in der Vorstellung von der Personalität Gottes religiös zum Ausdruck Gebrachte auf seine Gegenwartsrelevanz hin zu befragen, gelten die gleichen Fragen, mit denen Marcel Mauss seine Abhandlung über die ‚Person‘ als Kategorie des menschlichen Geistes beschließt: Von einer einfachen Maskerade zur Maske, von einer Figur (personnage) zu einer Person, zu einem Namen und einem Individuum, von diesem zu einem Wesen metaphysischen und moralischen Werts, von einem moralischen Bewusstsein zu einem heiligen Wesen und von diesem zu einer Grundform des Denkens und Handelns (…) Wer weiß, welche Fortschritte der Vernunft in dieser Frage noch ausstehen? (…) Wer weiß überhaupt, daß diese Kategorie, die wir alle für fest verankert halten, immer als solche anerkannt werden wird? Sie bildet sich nur für uns und in uns (…) Wir haben große Güter zu verteidigen, und mit uns kann diese Idee verschwinden.247
246 JACOBI, FRIEDRICH H., Vorbericht (1819), in: Ders., Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1786). Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke (PhB 517), Hamburg: Meiner 2004, 297–321, 318. 247 M AUSS, Eine Kategorie menschlichen Geistes, in: Ders., Soziologie (Anm. 175), 252.
Zweiter Teil: Systematisch-theologische und religionsphilosophische Entfaltung
§ 6 Hermeneutik und Dogmatik personaler Taxonomien des Göttlichen Nach der kultur- und handlungstheoretischen Grundlegung, wie sie uns in den vorangegangenen Paragraphen des ersten Teiles beschäftigt haben, können wir nun zur religionsphilosophischen und systematisch-theologischen Erörterung der Personalität Gottes übergehen, der wir durch die Formel vom ‚expressiven Theismus‘ eine angemessene Fassung geben wollen. Dieses Anliegen zu verfolgen bedeutet gleichzeitig, sich den Umweg über diejenigen symbolischen Zusammenhänge nicht zu ersparen, welche die religiöse Praxis durch eine personale Taxonomie des Göttlichen prägen und leiten. Unsere Aufgabe muss dabei eine doppelte sein: Einerseits geht es darum zu verstehen, wodurch sich personale Taxonomien, konkret diejenige des Christentums, auszeichnen und wie es zu ihnen kam. Dies stellt die hermeneutische Aufgabe dar. Andererseits geht es darum, kritisch nach den Gründen und ihrer Triftigkeit zu fragen, die es erlauben, auch heute noch in ihnen sinnhafte Erschließung von religiöser Erfahrung und Realität zu erblicken. Das bezeichnet die im engeren Sinne dogmatische Fragestellung. Deshalb ist erneut die Vermutung zurückzuweisen, als ginge es hierbei darum, ein bereits feststehendes Personenmodell auf seine Übertragbarkeit auf den Gottesgedanken hin zu überprüfen. Schon Cassirer hatte bereits gegen alle simplen Projektionstheorien eingewandt, dass religions- und kulturhistorisch die Herausbildung eines Personenkonzepts immer schon korrelativ beide Größen, also ‚Gott‘ und das menschliche ‚Subjekt‘, umfasste, also beide allererst im Wechselspiel in symbolischer Weise prägnant wurden.1 Eine andere Gefahr ergibt sich aus der überzogenen Erwartung hinsichtlich dessen, was mit Blick auf die Gotteslehre in der vorliegenden Abhandlung geleistet werden kann. Üblicherweise werden Fragen nach der Einheit und Einzigkeit Gottes (Monotheismus) sowie der trinitarischen Struktur des Gottesgedankens zusammen mit der Personalitätsthematik verhandelt. Dabei handelt es sich bei diesen um durchaus zu unterscheidende Aspekte, die es zunächst verdienen, voneinander getrennt betrachtet zu werden, ohne die möglichen Verbindungslinien zu unterschlagen. Schon historisch lässt sich zumindest für das trinitarische Personenmodell zeigen, dass dessen Stärke, aber auch dessen Prob-
1
Vgl. dazu auch meine Darstellung unter § 4.4.2.
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§ 6 Hermeneutik und Dogmatik personaler Taxonomien des Göttlichen
lematik sich anderen Kontexten verdankt, wie die erst im 18. Jahrhundert verschärft einsetzende Frage nach der Personalität Gottes.2 Enger verknüpft hingegen erscheinen Monotheismusproblem und Personalitätsfrage. Allerdings ist das bislang Entfaltete zur kulturanthropologischen und ritualtheoretischen Grundlegung von Religion offen sowohl für personale Taxonomien von Religionskulturen, die sich monotheistisch verstehen, als auch für solche, die dies dezidiert nicht tun. Dies mag manchen bereits als Schwachpunkt des Theorievorschlags gelten. Auf der anderen Seite könnte man jedoch umgekehrt dafür plädieren, nicht vorschnell einer teleologischen Wertlogik des Religiösen zu folgen, als deren normatives Kriterium ein (impliziter) Monotheismus schon immer mitgegeben ist. Entscheidend für die Hermeneutik und Dogmatik der christlichen Gotteslehre ist vielmehr, dass die Differenz zwischen Gott und Welt (Mensch), Schöpfer und Geschöpf gewahrt bleibt und die Einzigkeit des Göttlichen gegenüber allen anderen Realitäten auch in einem personalen Gottesverständnis gewahrt bleibt. Solange diese beiden Momente beachtet werden und zudem Raum für die trinitarische Entfaltung bzw. Fortbestimmung des Gottesgedankens bleibt, schlage ich vor, die Fragen des Monotheismus und der Trinität von der Behandlung des Sinns personaler Rede von Gott zu unterscheiden. Auch in materialdogmatischer Hinsicht scheint mir die gesonderte Beschäftigung mit der Personalität Gottes gerechtfertigt zu sein. Natürlich zieht jede konkrete Fassung eines dogmatischen Lehrgehalts Konsequenzen für das Verständnis anderer Loci nach sich. Betroffen wären in unserem Fall Anthropologie, Christologie, aber auch Kosmologie (Schöpfungslehre). Allerdings bedürfte die Darlegung und Analyse dieser Verknüpfungen jeweils eine eigene, gesonderte Untersuchung.3 Systematische Theologie soll hier in exemplarischer Weise zeigen, inwiefern eine gedankliche Rekonstruktion dessen, was die geschichtlich gewordene und kulturell gestaltete symbolisch-rituell-mythische Matrix einer gelebten Religion, im konkreten Fall also: die personale Taxonomie der christlichen Tradition, bedeutet; welchen Blick auf die Realität und das in ihr zu lebende Leben sie gibt, und inwiefern sich mit einem möglicherweise genaueren Verständnis argumentative Klarheit und ggf. intellektuelle Vorzugswürdigkeit einstellen kann. Diesseits der Übernahme einer bestimmten philosophischen Perspektive zur Klärung dieser Aufgaben zielt mein Unterfangen demnach auf eine hermeneutisch-dogmatische Doppeloperation. Bei dieser lassen sich Fragen nach der
2 Vgl. dazu auch die Ausführungen über die mittelalterliche Philosophie bei: K OBUSCH, THEO, Die Entdeckung der Person, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21997, bes. 23–36. 3 Ein Beispiel für eine prismenhafte Darstellung der dogmatischen Themenbestände unter der Personenkategorie liegt vor bei: HERMS, EILERT, Zur Systematik des Personbegriffs in reformatorischer Tradition, in: NZSTh 49 (2008), 377–413.
§ 6 Hermeneutik und Dogmatik personaler Taxonomien des Göttlichen
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historischen Genealogie des Sinns bestimmter symbolisch codierter Themenbestände nicht vom Problem ihrer normativen Geltung und Rechtfertigung trennen; und umgekehrt.4 Somit geht es darum, zu verstehen, was der Sinn personaler Rede von Gott ist; worauf er beruht und worin er fußt: Welche Situationen, Probleme und Erfahrungen verdichten sich in ihm in symbolischer und auch in theoretischer Hinsicht? Wer so fragt, setzt ein bestimmtes, wissenschaftliches ‚principle of charity‘ (Davidson) voraus. Einzuklammern sind wenigstens in methodischer Hinsicht von Ressentiments geleitete Gegenpositionen zu Realitätsauffassungen, wie sie sich im religiösen Weltumgang einstellen und die sich mittels des Begriffs bzw. Namens ‚Gott‘ (in westlicher Sprachterminologie) symbolisch artikulieren. Ohne einen solchen hermeneutischen ‚Vorschusskredit‘ scheint das Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und das ist nicht trivial. Denn weder kann eine Arbeit, wie die vorliegende, in Gang gebracht werden, wenn man die These vertritt, ‚Gott‘ wäre ein von Sinn und Bedeutung entleertes Wort, das allenfalls weitere metaphysische Scheinprobleme nach sich zieht, um es mit Carnap zu sagen5; noch würde der eigentliche Kern der Untersuchung erreicht, wenn sein Thema, die Frage nach Gott, nur als eine ‚Chiffre‘ oder ein Substitut für etwas gilt, das sich letztlich nur nicht anders oder noch nicht anders ausdrücken ließe. Strittig ist dabei nicht die konkrete Nomenklatur, die von Sprache zu Sprache, von Kultur zu Kultur variieren mag. Vielmehr liegt die zunehmende Hürde des ‚principle of charity‘ darin, dass, was sich in religiöser Erfahrung als göttliche Wirklichkeit, bpsw. als die eines „higher self“ oder einer „unseen order“6, bemerkbar macht, nicht im Voraus ausschließlich als symbolisches Deutungskonstrukt zu bewerten ist, welches u.U. keine auch nur partielle Unabhängigkeit vom Prozess seines Symbolisierens (als Interpretierens) beanspruchen könne. Dabei geht es mir weder um angeblich metaphysische Existenzbehauptungen noch um eine unkritische Haltung gegenüber den zu analysierenden religiösen Phänomenen. Nichtsdestotrotz gilt es jedoch mit William James und anderen daran festzuhalten, dass die (philosophische) Bedeutung der Frage nach Gott nur dann hinreichend klar erfasst wird, wenn das, was unter der ‚Realität‘ Insofern sind auch nicht alle philosophischen Ansätze gleichermaßen für mein Verständnis von Systematischer Theologie offen. So stehen alle Positionen, die eine harte Trennung von questio facti und questio iuris präferieren, in deutlichem Kontrast zu dem in dieser Arbeit vertretenen Ansatz von Religionsphilosophie und Theologie. 5 Vgl. C ARNAP, R UDOLF, Von Gott und Seele. Scheinfragen in Metaphysik und Theologie (1929), in: Ders., Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften (PhB 560), hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Thomas Mormann, Hamburg: Meiner 2004, 49–62. 6 Die beiden Formulierungen stammen bekanntlich von: JAMES, W ILLIAM, The Varieties of Religious Experience. Introduction by John E. Smith, The Works of William James, Vol, 15, ed. by Frederick H. Burkhard et al., Cambridge (Ma.)/London: Harvard University Press 1985, 51–70. 4
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Gottes verstanden wird, zumindest mit thematisiert wird. Nun kann an dieser Stelle nicht näher auf das damit zusammenhängende Realismusproblem7 eingegangen werden. Aber immerhin lässt sich vor dem Hintergrund der pragmatistischen Rahmung unserer Überlegungen festhalten: ‚Real‘ ist etwas, das nicht nur in der Praxis derjenigen, die es betrifft, einen Unterschied macht; sondern was zugleich das Verständnis des ‚Realen‘ betrifft und verändert. Und in beidem liegt der Realitäts‚check‘ nicht in der Fixierung einer – ein für alle Mal – festgestellten Vergangenheit oder Gegenwart (Anwesenheit) von Entitäten, sondern in der praktischen Bewährung der Annahmen (‚beliefs‘) über das jeweils Erfahrene (Erfasste) in der Zukunft. In dieser Hinsicht hat James davon gesprochen: Die wahre Bedeutung von Materialismus und Spiritualismus liegt also nicht in haarspalterischen Abstraktionen über das innere Wesen der Materie oder über die metaphysischen Attribute Gottes. Sie liegt vielmehr in dem beiderseits so ganz verschiedenen Appell an unser Gefühl und an unsere Handlungsweise, in der verschiedenen Gestaltung unserer Hoffnungen und Erwartungen und in all den fein verästelten Folgeerscheinungen, die diese Unterschiede mit sich bringen.8
Wie wir festgestellt haben, ist die zeitliche Dimension des Werdens von Realität eines der Hauptmerkmale sowohl des Pragmatismus als auch des Historismus. Dies gilt es auch für das Problem möglicher, ontologischer ‚committments‘ (Quine) stark zu machen. Das aber bedeutet umgekehrt, dass es ein negatives und ein positives Kriterium dafür gibt, wie Aussagen über die Realität oder ‚Reales‘, die stets konkret, also situationsverhaftet erfolgen, zu treffen sind. Mit Blick auf unser Problem: Auf der einen Seite gibt es ein irreduzibles Differenzkriterium, das in methodischer Hinsicht die Nicht-Substituierbarkeit der in der Gottesfrage zum Ausdruck kommenden Sicht auf das angesprochene Wirkliche (‚Reale‘) durch anderes sichert.9 Diesem negativen Kriterium kommt dann als positives jenes hinzu, dass auf dem Gedanken möglichst umfassender Kohärenz
Dazu siehe u.a. die Beiträge in dem instruktiven Sammelband von: WILLASCHEK, MAR(Hg.), Realismus, Paderborn u.a.: Schöningh 2000. 8 JAMES, W ILLIAM, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkmethoden (1907). Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung (PhB 297), hg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 21994, 66. 9 Im vorangegangenen James-Zitat kommt dies darin zum Ausdruck, dass nur, wenn materialistische oder ‚spiritualistische‘, d.h. bei ihm theistische Überzeugungen wirklich zu anderen Haltungen, Einschätzungen und Handlungen führen, diese auch ‚realiter‘ voneinander zu unterscheiden sind. Anders gesagt – und so weist dies James in der dritten Vorlesung seines Pragmatismus, aus dem das Zitat stammt, nach: Nur, wenn ‚Gott‘ und ‚Materie‘ in Sätzen und Behauptungen gleichermaßen zu denselben Konsequenzen führen, sind sie austauschbar. Hierin fußt die Möglichkeit, dass auch Naturalismus und Materialismus z.B. über ihre methodologische Basis hinausgehend Weltanschauungscharakter annehmen können. Vgl. JAMES, Pragmatismus (Anm. 8), 60–68. 7
CUS
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und Inklusion beruht, aber nur als Grenzkategorie (terminus ad quem) den Wissens- und Erfahrungsprozess prägt und ausrichtet. So betrachtet gilt auch für James: Die Wahrheit „Gott“ muss mit allen unsern Wahrheiten den Kampf aufnehmen. Gott muss sich an den andern Wahrheiten und diese müssen sich an Gott erproben. Unsere endgültige Meinung über Gott kann erst festgestellt werden, wenn die Wahrheiten alle miteinander fest10 gestellt sind. Wir wollen hoffen, daß sich ein modus vivendi feststellen läßt.
Das heißt, dass der Wahrheitsbegriff hier stets hypothetisch eingebracht wird, aber nicht anti-realistisch. Vielmehr ist ihm ein dynamisch-fallibler Zug von vornherein eingeschrieben. Genau darin entspricht er eben der Grundansicht, was unter ‚Realität‘ überhaupt zu verstehen ist, nämlich ein prekärer, in sich vielfältiger und kontingenter, dabei stets auch Muster und Kontinutiäten (Regelhaftigkeiten) ausbildender Prozess.11 Zur Illustration meines weiteren Vorgehens möchte ich eine kleine Episode voranstellen, die der Soziologe Robert N. Bellah in einem Vortrag erwähnt hat und die zugleich einen Hinweis für die materialdogmatische Bearbeitung der personalen Taxonomie des Göttlichen gibt, um die es im Folgenden geht: I have on occasion had students come to me and ask what church to go to, adding, but I’m afraid I don’t believe in God. I never tell them what church to go, but I do say not to worry about believing in God. I tell them if they become part of the life of the church then they will
10 A.a.O., 68. – Deshalb urteilt Ludwig Nagl zu Recht: „Diese [sc. metaphysisch-religiösen; C.P.] Fragen sind bei James (…) nicht argumentlos ‚privatistisch‘ zu lösen. Denn bei James heißt ‚Hoffen‘, die auf die Zukunft gerichteten Sinnpotentiale, z.B. das Postulat ‚Gott‘, in Auseinandersetzung zu bringen und tendenziell kompatibel zu machen mit all den anderen Sprachspielen, die wir in Wissenschaft, moralischer Erfahrung, Kunst und Alltag spielen. An einen Sinnhorizont ‚glauben‘: das ist für James nicht ein Akt ‚bloßer Dezision‘ (…) Denn (…) Glaube [ist] nicht ein irrationaler Entschluß in einer beliebigen Problemkonstellation, sondern die ‚Ausübung des Rechts‘, einen Akt der argumentativ verteidigbaren Wahl unter der unaufhebbaren Kondition von Unsicherheit in einer wichtigen, unaufschiebbaren Frage zu setzen.“ (NAGL, LUDWIG, Zur dritten Vorlesung: Pragmatismus: Zwischen Kritik und Postulat, in: Klaus Oehler (Hg.), Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Wege des Denkens (Klassiker Auslegen 21), Berlin: Akademie 2000, 69–91, 80). Nagl sieht darin im Übrigen Parallelen zu Kant (vgl. a.a.O., 79) und deutet des Weiteren an, worin sich der stärker kontextbezogene, lebenspraktische Ansatzpunkt einer Religionsphilosophie und Metaphysik bei James vom Ansinnen einer universalsemiotischen Perspektive bei Charles Sanders Peirce wesentlich unterscheidet. Zur Verteidigung der letzteren und der Kritik an den Schwächen von James, siehe: DEUSER, HERMANN, Zum Religions- und Wahrheitsbegriff bei William James, in: Ders., Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (RPT 12), Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 187–201. 11 Dies wird genauer entfaltet in § 10 unter dem Stichwort einer ‚hypothetischen Metaphysik‘ eines ‚personalen Universums‘.
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beginn to see how the word is used and what it means. Believing in God, I say, is not something one decides in the privacy of one’s room, but something one comes to in a living community, for Christians, the church.12
Worum geht es? Bellahs Schilderung darf nicht dahingehend missverstanden werden als wolle er zu religiöser Praxis statt zu wissenschaftlicher, kritischer Arbeit einladen. Es geht hier nicht um eine konfessionell auf Kirchlichkeit und Reinheit der Lehre ausgerichtete Dogmatik, die darüber hinaus ihre Wahrheit eher in der liturgischen Praxis als im intellektuellen Nachvollzug fände. Vielmehr entnehme ich seiner Schilderung zwei Vorannahmen für eine historistisch-pragmatistisch ausgerichtete Religionsphilosophie, die dem ‚principle of charity‘ verpflichtet ist: Erstens verdankt sich ‚Gott‘ als Wort unserer Sprache wesentlich bestimmten Lebensformen, d.h. symbolisch codierten Handlungszusammenhängen. Darin scheint mir Wittgenstein mit seiner vielzitierten Aussage Recht zu haben: „Die Bedeutung eines Wortes liegt in seinem Gebrauch in der Sprache.“13 Doch bedeutet das nachgerade nicht, Sprachformen oder Sprachspiele als in sich abgeschlossene, grammatische Universen verstehen zu müssen, die wiederum inkommensurabel nebeneinanderstehenden Lebensformen zugeordnet werden könnten. So sehr sich die verschiedenen kulturellen Reservoirs, symbolischen Texturen und habitualisierten Praktiken, die unsere Lebensformen ausmachen, mischen und individueller Aneignung ausgesetzt sind, so sehr reichern sich die Bedeutungen von Wörtern, Begriffen und Symbolen an. Damit zusammen hängt dann zweitens, dass sich alle Wörter, Namen, Begriffe, Symbole etc. in ihrer Welt und Realität bestimmenden Bedeutung sozialen Kontexten verdanken. Mit Wittgenstein gesprochen: Es gibt keine Privatsprache.14 Die theologische Reflexion in ihrer hermeneutischen wie dogmatischen Gestalt kommt also an dieser sozialen und kulturellen Einbettung aller ihrer Begriffe und Symbole in die gelebte religiöse Praxis nicht vorbei. Umgekehrt darf und muss sie aber die Frage an die religiöse Tradition stellen, zu der sie ja selbst gehört, inwiefern sich diese Sprachwelten mit anderen Sprach- und Lebensformen, die ebenfalls zu unserer Lebenswelt gehören, in Einklang bringen lassen. Hierzu zählen neben den rechtlichen und moralischen Praxen, die Lebensformen der Alltagswelt sowie die von Wissenschaften und Philosophie. Dies gilt schon deswegen, da Menschen niemals nur in religiösen Kontexten leben und handeln, von daher auch nie von ihnen allein bestimmt werden. 12 B ELLAH, R OBERT N., Religious Pluralism and Religious Truth (1995), in: The Robert Bellah Reader, hg. v. Ders./Steven M. Tipton, Durham/London: Duke Univ. Press 2006, 474– 489, 485f. 13 W ITTGENSTEIN, LUDWIG, Philosophische Untersuchungen (1953), in: Ders., Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (1984) 222014, § 43, 225–580, 262. 14 Vgl., a.a.O., 356–363 (PU § 243–263).
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Im Anschluss an die religionskritischen Vorüberlegungen im nächsten Paragraphen (vgl. § 7) sollen die drei Ebenen des rituellen Ausdrucks, der symbolischen Darstellung und der theoretischen Bedeutung (Explikation) abgeschritten werden, aus deren Überlappung sich die personale Taxonomie des Göttlichen in der christlichen Tradition ergibt. Dabei werden einige zentrale, aber bei weitem nicht alle Aspekte und Phänomene betrachtet. Die hermeneutische Analyse der personalen Taxonomie des Göttlichen mündet schließlich in die Explikation der Rede vom expressiven Theismus in der Gestalt eines ‚personalen Universums‘. Damit ist der metaphysische Horizont eines personalen Gottesverständnisses bezeichnet. Auf der Fluchtlinie der ritualtheoretischen Zuspitzung des Zugangs zur Religion als symbolischer Lebensform, die im Kern eine Weiterführung der Grundthese aus § 5 – der handlungstheoretischen Fundierung symbolisch codierter Erfahrung als Weltzugang – darstellt, liegt es nahe, mit einer Analyse derjenigen Handlungsform zu beginnen, in der sich expressis verbis der Glaube an den personalen Gott artikuliert: dem Beten. Hier (in § 8) soll in dreifacher Weise die Bedeutung des Betens für die Erschließung des Sinns personaler Rede von Gott herausgestellt werden. Zunächst in negativer Hinsicht, insofern die Krise des (westlichen) Theismus in der Neuzeit genauer unter lebensweltlicher wie intellektueller Perspektive erfasst wird, nämlich als doppelte Krise des Gebets und des Glaubens an den personalen Gott. Sodann soll im Durchgang durch neuere religionsphilosophische Positionen gezeigt werden, welche Spielräume für eine Neujustierung eines Gebets- und personalen Gottesverständnisses bereitstehen, wenn mit der allerdings notwendigen konsequenten Transformation der Gotteslehre von einer im Wesentlichen metaphysischen Theorie des Seins zu einer Lehre von den Eigenschaften Gottes, die als Handlungsweisen ihren Erfahrungsort u.a. in den verschiedenen Formen des Betens haben, ernst gemacht wird. Dabei bestätigt sich zudem in materialdogmatischer Hinsicht, was bereits auf der Fluchtlinie unserer religionsanthropologischen Erörterungen lag. In der Praxis des Betens und der immer wieder neuen Selbstverständigung darüber wird ein ganz spezifischer, religiöser Umgang in der symbolischen Wahrnehmung und Gestaltung von Realität erprobt. Die Erfassung der personalen Realität des eigenen Selbst wie des als gegenwärtig erfahrenen Göttlichen vollzieht sich demnach ‚in‘, ‚mit‘ und ‚durch‘ den performativen Akt des Betens. Es ist dieses Moment, das in meinen Augen die besondere Beschäftigung mit dieser religiösen Praxisform rechtfertigt, ohne damit behaupten zu wollen, nur über das Gebet ließe sich der Sinn personaler Rede von Gott erschließen. Dass dem nicht so ist und alles andere eine einseitige Verkürzung wäre, zeigt sich schon in der Tatsache, dass rituelle Vollzüge stets von symbolischen Texturen durchzogen sind, deren Bedeutung weit über den rituellen Handlungskontext hinausreicht. Darauf haben insbesondere die Vertreter einer hermeneuti-
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schen Handlungstheorie immer wieder hingewiesen, denen ich mich in methodischer Hinsicht anschließe.15 Schon die Auslegung dessen, was rituell immer schon in Anschlag gebracht wird, geschieht im Modus des Mythos als symbolischen Deutungskontext.16 Die performative Erfassung der personalen Realität Gottes wie des Menschen muss sich demnach explizieren lassen in einer bestimmten ‚mythisch‘-symbolischen Welt(an)sicht. Eine Pointe dabei ist, dass dies nicht allein durch entsprechende Symbole und Bildwelten geschieht. Viel gewichtiger erscheint mir die formale Eigenart der spezifischen symbolischen Darstellungsmodi personaler Realität. Schon in der Analyse des Betens zeigt sich die Emphase, mit der die Kontingenzhaftigkeit aller Realität erfasst wird. Mit ihr einhergehen eine verschärfte Wahrnehmung der Bedeutsamkeit von Zeit und das Ringen um individuelle und kollektive Identität. Die Weiterführung auf der Ebene der symbolischen Darstellung (in § 9) konzentriert sich daher auf den Nachweis, dass es die narrative Form der Vergegenwärtigung von Geschichte ist, die den Rahmen dafür gibt, innerhalb dessen sich die Eigenart des Personalen in der Pluralität individueller Biographien überhaupt darstellen lässt. Personale Identität vollzieht und bildet sich im Rahmen von Geschichte. Ihrer ansichtig werden zu können, setzt die symbolischen Praktiken des Erzählens und (Selbst-)Bezeugens voraus. Von daher ist es kein Zufall, dass die kanonischen Schriften der Bibel ihr Gottesverständnis durch ein historisches Narrativ rahmen. Eric Voegelin hat in diesem Zusammenhang zu Recht von der „Historiogenesis“17 als des symbolischen Rahmenmodells (Ordnung) des jüdisch-christlichen Kanons gesprochen. ‚Gott‘ und ‚Welt‘, ‚Mensch‘ und ‚Gesellschaft‘ werden konsequent im Rahmen einer ethisch wie soteriologisch qualifizierten Geschichte erfasst. In spezifischen Formen des Betens als rituellem Ausdruck und der Darstellung narrativ vergegenwärtigter Geschichte tut sich in symbolisch codierter Weise die Realität des Personalen auf. Diese kann und muss schließlich auf ihre
15 In § 5 habe ich mich deswegen am Ansatz Clifford Geertz orientiert. Für die Überlegungen in § 9 ausschlaggebend sind aber die Überlegungen von Paul Ricœur. Dessen großangelegtes Werk hat seinen Vorzug darin, dass es ihm gelingt, eine hermeneutische Handlungs- und Sozialtheorie mit geschichtstheoretischen und narratologischen Überlegungen zu verknüpfen. Auf diese Weise eröffnet sich ein genauerer Blick auf die anthropologischen und religionsphilosophischen Aspekte des Zusammenhangs von Text und Handlung, Erzählung, Zeit und Geschichte. 16 Auch Jürgen Habermas hebt inzwischen die Notwendigkeit der „Versprachlichung ritueller Bedeutungen in Gestalt mythischer Erzählungen“ (HABERMAS, JÜRGEN, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin: Suhrkamp 2012, 14) hervor und kann sich, wenn auch nur mühsam, an die Persistenz ritueller Praktiken gewöhnen, ohne jedoch in ihnen mehr als eine Quelle „archaischer Erfahrungen“ (a.a.O., 95) zu erblicken. 17 Vgl. V OEGELIN, ERNST, Historiogenesis (1960), in: Ders., Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (Praktische Philosophie 77), Freiburg i.B./München: Alber 2005, 79– 116.
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generellen Aspekte hin befragt werden. Erst hiermit ist die Ebene der theoretischen Bedeutung oder Explikation erreicht (§ 10). Das ist nicht nur deswegen von Nöten, weil allein dadurch gezeigt werden kann, ob und inwiefern sich Aspekte personaler Realität auch in anderen symbolischen Kulturformationen, etwa des Rechts, der Moral oder auch der Alltagswelt (des Common Sense), wiederfinden oder sich zumindest an diese anschlussfähig erweisen. Mehr noch geht es auf dieser Ebene darum, darzulegen, inwiefern die fortdauernde Praxis des Betens, Erzählens und Bezeugens sich als mit guten Gründen gerechtfertigt erweisen lässt. Mit den beiden Aspekten von kultureller Anschlussfähigkeit und argumentativer Rechtfertigung hebt sich diese Ebene von der unmittelbaren Verbindung mit der religiösen Lebenswelt ab. Zugleich kann erst dadurch die umfassend integrative Dimension, wie sie vor allem mit dem monotheistischen Gottesgedanken mit Blick auf die Erfassung der Realität verbunden ist, eingeholt werden. Mit der Freilegung der schon in Gebet und (historischer) Erzählung eingeholten Sicht auf die kontingente Wirklichkeit, in die hinein sich Menschen als handelnd interpretierende und darin einander verantwortende Wesen gestellt sehen, kommt die Eigenart des personalen Universums zum Vorschein. Personal von Gott zu reden bedeutet darin, die Erfahrung des Göttlichen innerhalb eines wechselseitigen Interpretations- als Verantwortungszusammenhangs zu verstehen. Gott wird personal erfahren, wenn wir ‚seine‘ Gegenwart in der Welt situativ und zeitübergreifend so interpretieren, dass darin ein wechselseitiger Verantwortungszusammenhang erfasst wird. Im Medium einer gemeinsam zu verantwortenden Geschichte prägen sich die personalen Identitäten von Gott und Mensch aus. Personalität ist daher die Grundkategorie einer ‚sozialen Gotteslehre‘ (Hartshorne), die zugleich auf der historisch kontingenten und einmaligen Individualität (bzw. Singularität) von Gott und Menschen als personale Realitäten (Personen) besteht. Alle drei Ebenen nun, die des konkreten rituellen Handelns des Betens, der ‚mythischen‘-symbolischen Darstellung narrativer Geschichte sowie der theoretischen Bedeutung von Personen als verantwortliche Interpreten in einer kontingenten und darin konkret-evaluativ erfassten Realität bilden den Kontext, innerhalb dessen Personalität und damit Personen eine weit über den engeren, religiösen Bereich hinausgehende Bedeutung zukommt. Insofern ist ein so gefasster expressiver Theismus eine Gestalt des religiösen Personalismus, ohne dass dabei genauer auf diese Terminologie eingegangen werden soll. Als konkrete christliche Religionsgestalt bleibt er allerdings nur lebendig, wenn sein „ideologische[r] Gehalt“ einem „soziologische[n] Leib“18 korrespondiert, der lebensweltlich eingebettet ist. Insofern setzt der Glaube an den personalen Gott auch eine Reihe von habitualisierten Praktiken frei und gerinnt in spezifischen 18 TROELTSCH, ERNST, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Teilband 2 (= KGA 16.2), hg. v. Friedrich W. Graf, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 1097.
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institutionellen Arrangements19, die von vornherein den religiösen Binnenraum sprengen. Diese Settings im Blick zu behalten, ist ebenso wichtig, wie die hier vornehmlich vorgenommene Schärfung der (theologischen) Semantiken. Dabei kommen dynamische Prozesse zum Vorschein, in denen sich Überkreuzungen, Überlappungen und Überschneidungen von verschiedenen Ideenformationen von ‚Person‘ und ‚Personalität‘ zeigen, wie sie sich im Austausch divergenter symbolischer Wirklichkeitsformen und -praktiken einstellen.20 Ihre ‚Überlebensfähigkeit‘ verdanken Ideen einerseits der hermeneutischen Erschließung und historischen Rekonstruktion ihrer Bedeutung, ihrer Leistungsfähigkeit mit Blick auf gegenwärtige Probleme der Welt- und Selbstorientierung sowie Handlungsgestaltung, andererseits. Die Formel des ‚expressiven Theismus‘ verweist somit auf ein Modell ‚konzeptioneller Repräsentation‘, das im rituellen Ausdrucksverhalten fundiert und als ein narrativ-historischer Ordnungszusammenhang präsentiert wird, dessen kategorialen Elemente sich aber auch mit anderen kulturellen Ordnungen und Symbolmustern vermischen oder jedenfalls diese beeinflussen können. Dabei besteht kein Überbietungsanspruch der konzeptionellen Seite gegenüber den narrativen und rituellen Ebenen. Vielmehr reichern sie sich ebenso wechselseitig an wie sie sich gegenseitig modifizieren und korrigieren (können). Es bedarf ihrer aller im Sinne der Regel „nothing is ever lost“21. Darauf verweisen die beiden Bestandteile des Ausdrucks expressiver Theismus: expressiv ist er, da er stets an diejenigen symbolischen Artikulationen, die die eigentümliche religiöse Realitätserfahrung prägnant werden lassen, rückgebunden werden muss; Theismus verdient diese Position genannt zu werden, weil sie mit ihrer Überzeugung von der Personalität Gottes beansprucht, mit guten Gründen eine umfassendere Perspektive auf die vielgestaltige Realität einzunehmen. Zwischen der elementaren rituellen Ebene und ihrer konzeptionellen Durchdringung besteht gemeinsam mit der Ebene der symbolischen Darstellung ein wechselseitiges Verhältnis von Kritik und (Re-)Konstruktion.
19 Zu der hier nur angedeuteten Trias von Wertüberzeugungen (Semantiken), Alltagspraktiken und institutionellen Ordnungen – anhand des Beispiels der Anti-Sklaverei-Bewegung – siehe: JOAS, HANS, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp 2011, 133–146. 20 Genau dies lässt sich dem ethnologisch-historisch geschulten Blick auf die Idee der Person entnehmen, wie er von Marcel Mauss in seinem berühmten Aufsatz im Gefolge Durkheims skizziert wurde. Vgl. dazu § 5.3.3–5.3.5 sowie § 5.4.4. 21 B ELLAH, R OBERT N., Religion in Human Evolution. From the Palaeolithic to Axial Age, Cambridge (Ma): Harvard Univ. Press 2011, 267.489. – Diese Formel negiert nicht, dass es radikale Abbrüche gibt, die zu endgültigen Verlusten führen können. Aber gleichwohl insistiert sie darauf, dass noch radikal Neues sich in irgendeiner Weise auf Vorangegangenes wenigstens beziehen lassen muss, ohne dass es ja nicht einmal als ‚Neues‘ fass- und beschreibbar wäre.
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Bei alledem ist vor einem Missverständnis zu warnen. Die folgenden Überlegungen befinden sich gänzlich auf der theoriegeleiteten, konzeptionellen Ebene. In ihren analytischen und begrifflichen Rekonstruktionen wie mit ihren hermeneutischen Operationen sind sie Theologie und damit Theorie, weder Ritual noch Narration. Deshalb beleuchten sie auch die rituelle und die ‚mythisch‘-narrative Seite ihres Themas von diesem Standpunkt. Gefragt wird nach einem angemessenen Verständnis, einer Theorie des Betens, einer Theorie erzählter und bezeugter Geschichte und schließlich nach einer meta-theoretisch verfahrenden, argumentativen Rechtfertigung der in beiden Praktiken symbolisch codierten Wirklichkeit, kurzum einer Theorie personaler Wirklichkeit. Man braucht weder zu beten noch die biblischen Texte und ihre narrativ-historische Textur zu übernehmen, um den Ansatz des expressiven Theismus zu verstehen. Zugleich würde man aber das zu erforschende Terrain bei weitem nicht abschreiten, bezöge man sich exklusiv auf dogmatische und religionsphilosophische Positionen. Darüber hinaus ist die christliche Gottesdienstpraxis ein anschauliches Beispiel für die Kombination von Elementen aus allen drei Ebenen: ihre liturgische Ordnung besteht aus ‚enaktiven‘ Elementen (Mimik, Gestik, Aktion in Gebet und Kommunion), narrativen und bezeugenden Momenten (Schriftlesung, Confiteor, Credo) und direkt narrativer und mitunter hoch diskursiver, argumentativer Rede (Predigt22). Die christliche Liturgie eröffnet in symbolisch dichter wie prägnanter Weise einen Erfahrungsraum, innerhalb dessen sich religiöse Symbolmuster und Wirklichkeitsmodelle einstellen, die sich dann wiederum in den Teilnehmern ausbilden können.23 Damit bestätigt sich erneut, was wir in den vorangegangenen Paragraphen kulturanthropologisch und ritualtheoretisch über die Realitätserfassung durch Religion als symbolische Form gesagt haben.
22 Die Predigt kann dabei selbst mehr auf Inszenierung und Narrativität oder stärker auf intellektuell anspruchsvolle Lebensdeutung setzen. Für beides lassen sich zeitgenössische homiletische Entwürfe angeben. Vgl. nur: NICOL, MARTIN, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, einerseits, GRÄB, WILHELM, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, andererseits. 23 Vgl. dazu: B ELLAH, R OBERT N., Liturgy and Experience, in: James D. Shaughnessy (Hg.), The Roots of Ritual, Grand Rapids (Mi.): Eerdmans 1973, 217–234.
§ 7 Religionskritisches Präludium: Evolution religiöser Kulturtechniken und anthropologische Religionskritik Bevor wir zur Hermeneutik und Dogmatik der drei Ebenen kommen, ist eine weitere Zwischenüberlegung geboten. Denn wie alle theistischen Optionen in der Gegenwart zieht auch der expressive Theismus leicht den Verdacht eines naiven Anthropomorphismus bzw. eines kruden Super- oder gar Supranaturalismus1 auf sich. Die religionskritischen Einwände liegen auf der Hand. Und auch wenn wir uns hier nur andeutungsweise mit ihnen beschäftigen können, soll wenigstens der Horizont aufgezeigt werden, vor dem sich ein Ansatz, wie der expressive Theismus, den entsprechenden Kritiken stellen muss. Dazu ist an dieser Stelle zunächst auf die Parallele zurückzukommen, die wir im Cassirer-Kapitel (vgl. § 4.2.4) zwischen dessen Dreischritt aus Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion innerhalb der Gliederung symbolischer Formen und den Überlegungen zur kulturellen Evolution angestellt haben, wie sie von dem kanadischen Evolutionspsychologen Merlin Donald entwickelt wurden. Beide Denker operieren ja mit dem Gedanken einer Ko-Evolution von Bewusstsein und Symboltechniken, wenn auch unter Rekurs auf unterschiedliche wissenschaftliche (und philosophische) Theoriemodelle. Nach Donald entwickelt sich das menschliche Bewusstsein in seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch symbolische Externalisierungen: Symboltechniken versetzen das Bewusstsein in die Lage, die eigenen Aktivitäten wie in einem Spiegel zu betrachten und die eigenen Operationen umzuprogrammieren (…) Wir setzen
1 Zu dieser Unterscheidung im Anschluss an Tillich und in programmatischer Absicht der Verteidigung eines religiösen Naturalismus nicht-reduktionistischer Art, vgl. WILDMAN, WESLEY J., Science and Religious Anthropology. A Spiritually Evocative Naturalist Interpretation of Human Life, Farnham/Burlington (VT): Ashgate 2009, 19–25. – Während Supranaturalismus auf die radikale Weltunterschiedenheit eines seienden Wesens Gott rekurriert, meint Supernaturalismus die Existenz eines nicht körperlichen, geistigen Wesens höherer (superlativer) Art, aber durchaus in Kontinuum zur weltlichen Realität alles Seiendes. In ontologischer Art sind beide Entitätsbestimmungen mangelhaft, aber als Leerstellen für bestimmte sachhaltige Aspekte des Verständnisses des Göttlichen können sie m.E. weiterhin in Anschlag gebracht werden; jedenfalls solange es keine alternativen Terminologien gibt.
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unsere Instrumente zur Verarbeitung von externen Symbolen ein, um im externen Gedächtnisfeld stabile, dynamische Repräsentationen von vielen Dingen zu schaffen, die zuvor nicht darstellbar gewesen wären.2
Die Evolution der Kultur lässt sich als Verfeinerung menschlicher Kapazitäten und immer stärkere Zunahme von (komplexen) Symboltechniken verstehen. Damit lässt sich darüber hinaus einsichtig machen, wie trotz der relativ stabilen genetischen (biologischen) Konstitution des Menschen als homo sapiens sapiens dessen bewusste Leistungen stetig zunehmen: Im Zentrum befindet sich der episodische Kern, den wir als Angehörige der Primaten ererbt haben; er ist für ein mentales System, das noch nicht in der Kultur eingebettet ist, das Fundament der Erfahrung. (…) Der Kern ist von drei über die Kultur definierten Ebenen des Bewusstseins umgeben, die jeweils an eine entsprechende kulturelle Matrix, das heißt an ein Grundmuster von Regeln und Konventionen gekoppelt sind. Die mimetische Matrix bildet, mit ihren Körperhaltungen, Gesten, Gesichtsausdrücken und nonverbal vermittelten Bedeutungsnuancen, gleichsam die Theaterbühne des menschlichen Lebens. Sie gibt die Grundregeln für sämtliche Kommunikations- und Ausdrucksprozesse vor. Die narrative Matrix ist ein höchst präzises und effizientes System, in dem Wissen mittels Erzählungen, Mythen und Traditionen weitergegeben wird. Die Matrix der externen Symbole ist ein noch exakteres kollektives System. In ihr stehen noch leistungsstärkere Medien zur Verfügung, die dem Artikulieren und Darstellen dienen; auch das Funktionieren von formalen, auf Symbolen basierenden Systemen des Denkens oder von Institutionen und gesellschaftlichen Hierarchien hängt von ihnen ab.3
Diese drei Erweiterungen an symbolischen Techniken entsprechen ungefähr unseren drei Ebenen, die für die personale Taxonomie des Göttlichen in Anschlag gebracht werden. Keineswegs zufällig wird Donalds Theoriemodell von einer der elaboriertesten Theorien religiöser Evolution, derjenigen von Robert N. Bellah (1927–2013), übernommen. Nach ihm verbinden sich die Phasen und Stufen kultureller Evolution mit einer Ausdifferenzierung von symbolischen Praktiken religiöser Repräsentation, in Cassirers Worten mit der Aufgliederung der symbolischen Funktionen innerhalb der kulturellen Form von Religion und ihrer Wirklichkeitserkenntnis: a picture of the development of human culture that parallels phylogenetically what my typology of religious representation had described largely ontogenetically. His [sc. Donalds, C.P.]
2 D ONALD, M ERLIN, Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes, Stuttgart: Klett 2008, 304. – Donald lehnt einen radikalen Konstruktivismus hinsichtlich des Erkennens von Wirklichkeit, auf den bspw. die Überlegungen Thomas Metzingers (METZINGER, THOMAS, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin: Berlin Verlag, 2009) hinauslaufen, ab. 3 D ONALD, Triumph (Anm. 2), 306. – Man beachte, dass auch Donald stets auf die soziale, kollektive Verflechtung der Entstehung und Entwicklung von Geist, Bewusstsein und Kultur achtet. Dazu auch seine Kritik am prominentesten Modell eines kognitionswissenschaftlichen Cartesianismus bei Daniel Dennett, a.a.O. 43–48.
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three stages of human culture – mimetic, mythic, and theoretic – parallel my enactive, symbolic, and conceptual types of religious representation4.
Drei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben: Erstens handelt es sich bei den Übergängen von der episodischen zur mimetischen, zur mythisch-narrativen und von dieser zur theoretischen Kultur nicht um eine teleologische Stufenfolge, in der die jeweils vorhergehende durch die nachfolgende ersetzt und dadurch für obsolet erklärt wird. Zwar transformieren und modifizieren die jeweils neuen symbolischen Fähigkeiten und Fertigkeiten die vorangegangenen und bringen so auch neue Erschließungs- und Generalisierungsmöglichkeiten für die Realitätserfassung mit sich. Dennoch bleiben sie auf die historisch ursprünglicheren weiterhin angewiesen. Das bedeutet umgekehrt, die früheren Schichten behalten ihre basale Bedeutung für Wirklichkeitsorientierung und Weltgestaltung der Menschen. Einfacher ausgedrückt: Mimik und Gestik verlieren nicht ihren grundlegenden Aspekt, ebenso wenig narrative Vergewisserungs-, Deutungs- und Erschließungspraktiken. Gleichwohl kommt es, insbesondere durch das in der Achsenzeit zum Vorschein und Durchbruch gekommene theoretische, d.h. selbst-reflexive Denken zu Spannungen im Verhältnis zu den und zwischen den vorangegangenen Stufen.5 Mit Blick auf religiöse Kulturtechniken ist es die Theologie, die hier ihren Ursprung hat. Zweitens verengen diese Theorien der kulturellen und in ihr der religiösen Evolution als Ko-Evolution von Bewusstseinsstrategien und Verfeinerung von Symboltechniken (et vice versa) den Prozess nicht auf reduktionistische Erklärungen von ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ als Emergenzphänomene. Vielmehr werden die wechselseitigen Evolutions- und Anpassungstendenzen von kognitiven Fähigkeiten (brain) und kulturellen Techniken (mind) herausgestellt. Das unterscheidet sie von vielen zeitgenössischen Positionen im Umfeld der Neurophilosophie. Anders als viele Ansätze in der Cognitive Science of Religion optieren Bellah und Donald, wie schon auf seine Weise Cassirer, für eine differenzholistische Anthropologie, die sowohl das natürlich-kulturelle Kontinuum betont als auch dessen interne Differenzierungen unterstreicht. Darin divergieren sie im Übrigen bei aller anthropologischen Zuspitzung von jenen (religionskritischen) Entlarvungsstrategien, die sich in ihrem Ansinnen dabei gerne, aber leider missverständlich auf Feuerbach beziehen6. Letztere beharren, wie der
4 B ELLAH, R OBERT N., Religion in Human Evolution. From the Palaeolithic to Axial Age, Cambridge (Ma.): Harvard Univ. Press: 2011, 118. 5 Vgl. a.a.O.,118.265–282, sowie, D ONALD, M ERLIN, An Evolutionary Approach to Culture: Implications for the Study of the Axial Age, in: Robert N. Bellah/Hans Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge (Ma.): Harvard Univ. Press 2012, 47–76, v.a. 64–74. 6 Auch für Feuerbach galt bekanntlich Religion als ein Anthropologicum. Das Problem, welches den Ausgangspunkt seiner Religions- als Christentumskritik bildete, bestand dabei in der für ihn falschen Übertragung von religiösen Vorstellungen auf illusionäre Subjekte.
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vielleicht gegenwärtig prominenteste Ansatz von Pascal Boyer darauf, mit neuro- und kognitionswissenschaftlicher Expertise den illusionären Realitätsgehalt von Religion aufzeigen zu können. In seinem auf Deutsch unter dem aufschlussreichen Titel Und Mensch schuf Gott7 erschienenen Buch beschreibt Boyer Religion als den Glauben an die Existenz supranaturalistischer Handlungsagenten. Dessen Ursprünge liegen im Prozess der Struktur des Bewusstseins, dessen ‚natürlicher‘ Suche nach kausalen Ursachen für alles Erlebte.8 Der Mensch sei in seinem Verhalten, angesichts der von ihm nicht leistbaren Komplexitätsreduktion und Sinnbestimmung auf Religion angewiesen. Intuitiv unterlegt er dabei situativ in seiner sozialen Umwelt Handlungsaktivitäten, die er auf Handlungsagenten zurückführt: „Was Götter und Geister so wichtig macht, entstammt in Wahrheit unserem intuitiven Verständnis von Aktivität.“9 Das führt dazu, dass die intuitiv als Personen aufgefassten göttlichen Wesen stets als informierte aufzufassen sind, denen gegenüber strategisches Handeln sinnvoll ist. 10
Konkret bei ihm: von der Gattung Mensch auf Gott. Das darauf beruhende Selbstmissverständnis des Menschen und seine Folgen galt es allerdings nicht einfach zu entlarven, sondern hermeneutisch so zu entschlüsseln, dass es – in einem sachgemäßen Rahmen (Gattung) gestellt – durchaus seine anthropologische Orientierungsfunktion weiterhin ausüben konnte. Darin unterscheidet sich Feuerbach sowohl von Marx als auch von Nietzsche und Freud, was den Erstgenannten schließlich auch zu seiner Feuerbach-Kritik veranlasste. 7 Vgl. B OYER, PASCAL, Und Mensch schuf Gott, Stuttgart: Klett-Cotta 2004. Auf Englisch lautet der Titel Religion Explained. Auch dieser ist aussagekräftig, da es sich offenkundig nicht nur um den Versuch einer Erklärung, sondern mehr noch um den Anspruch eines (ein für alle Mal weg) Erklärt-Habens von Religion und ihren Ursprüngen handeln soll. 8 Vgl. vor allem die Exposition in: a.a.O., 9–68. 9 B OYER, Und Mensch (Anm. 7), 184, aber ebenso a.a.O., 178.198. Schon diese These vom intuitiven Erschließen und Schlussfolgern zeigt deutlich, dass für Boyer kulturelle Symbolpraktiken nicht als Medien der Wirklichkeitserschließung fungieren. Sein Ansatz beruht auf einem neurologischen Solipsismus. Nicht die Rückführung animistischer oder theistischer Ansichten auf die Wahrnehmung von umfassender Aktivität, sondern die These von ihrem intuitiven Zustandekommen und der im Aufdecken dieses Simulationsmodells mitgeführte Überbietungs- und Entlarvungsanspruch der bzw. von religiösen Vorstellungen erweist sich somit als das zentrale Problem dieser Theorie. 10 Dass sich hinsichtlich des dabei zum Anschlag kommenden AnthropomorphismusProblems und der neurowissenschaftlichen Reformulierung der alten Animismus-These Paradoxien einstellen, vor allem, wenn auf den Monotheismus zugesteuert wird, bemerkt zutreffend Sebastian Schüler: „Der Anthropomorphismus soll erklären, dass Menschen ihre Umwelt animieren und Vorstellungen dann ein kognitives Optimum darstellen, wenn sie möglichst nahe an der Kategorie der Person liegen und darüber hinaus minimal kontraintuitiv sind. Nach der Idee der strategischen Information favorisieren Menschen jedoch solche Vorstellungen von übernatürlichen Akteuren, die alles wissen, auch wenn sie dann theologisch abstrakter sind“ (SCHÜLER, SEBASTIAN, Religion, Kognition, Evolution. Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion, Stuttgart: Kohl-
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Neben der kognitivistischen Engführung der Religionsthematik und ihrer Erklärung auf den Vorstellungskomplex personal, d.h. anthropomorph strukturierter Götter als Handlungsagenten erweist sich die Kritik der Religion selbst nur als Anwendungsfall einer generellen These zum Verhältnis von kulturellen Begriffen, Ideen, Symbolen zur Realität: „Wir besitzen unsere kulturellen Begriffe nicht deshalb, weil sie einen Sinn ergeben oder nützlich sind, sondern weil wir dank der Struktur unseres Gehirns nur schwer umhin können, sie zu erzeugen.“11 Hier werden Kultur und Kulturtechniken als emergente Bei- und Nebenprodukte verstanden, produziert durch einen auf Hirnaktivitäten als Steuerungsund Simulationsmechanismen isolierten Bewusstseinsprozess. Dieser nunmehr neurologische Monismus operiert kaum mehr versteckt als szientistische Metaphysik, verbunden mit der anthropologischen Generalthese von der Unhintergehbarkeit und Universalität von Religion.12 Demgegenüber zeigen aber längst Kognitionspsychologie wie Evolutionsanthropologie, dass es sehr viel aussichtsreicher ist, die Phänomene von Bewusstsein und kulturellem „Geist“ als korrelative Größen zu behandeln. Als Resultat eines menschheitsgeschichtlichen Prozesses sind sie wesentlich aus kollektiver Kooperation mit und in der Umwelt entstanden. In diesem Sinne ist von der Ko-Evolution von Bewusstsein und Kultur zu reden, von der Donald zudem meint, dass sie zur Vertiefung des „Bewusstseins der eigenen Person“13 führt. Wie alle anderen symbolischen Formen als Wege und Ziele der Wirklichkeitserkenntnis, so ist auch die Religion dann daraufhin zu erforschen, was eigentlich als Realität durch sie auf welche Weise (‚wie‘/‚how‘) erfasst, bearbeitet und gestaltet wird. Schließlich der dritte Aspekt, den es bei Bellah und Donald zu beachten gilt: Gerade weil mit diesem Ansatz einer kulturellen und religiösen Evolution nicht die historische Variabilität durch die Präferenz für ein bestimmtes semantisches Vokabular verknüpft wird, lässt sich auch von einer Entwicklung von Religionen sprechen, ohne damit überzogene religionstheologische Wertungen oder geschichtsphilosophische Logiken zu verfolgen. So kann im Übrigen auch das Problem zurückgestellt werden, ob Religionen stets ähnliche Fragen zu (angeblich) gleichen Grundproblemen des Menschseins thematisieren; eine These, die hammer 2012, 149). – Strategische Informationen sind nach Boyer derjenige Pool an Wissensbeständen, die für soziale Interaktion maßgeblich sind; mit Blick auf die religiöse Interaktion ist diese eben durch genau jene Asymmetrie gezeichnet, die durch die Überlegenheit an Informationen seitens des ‚göttlichen Partners‘ (vgl. BOYER, Und Mensch [Anm. 7], 184– 199) bedingt ist. 11 A.a.O., 203f. – Zur Kritik dieses Ansatzes sowie zur Nähe Boyers zu Positionen, wie derjenigen von Richard Dawkins und seiner Theorie der ‚Meme‘, siehe: SCHÜLER, Religion, Kognition (Anm. 10), 142–150. 12 Exemplarisch dazu das gut lesbare, den bisherigen Forschungsstand überzeugend zusammenfassende Buch von: NOË, ALVA, Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München: Piper 32011. 13 D ONALD, Triumph (Anm. 2), 307.
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überaus strittig war und ist. Mehr noch aber herrscht hier geschichtsphilosophische Abstinenz vor. Das unterscheidet solche Modelle von einer weiteren, gewichtigen Variante anthropologischer Religionskritik, die stärker kulturtheoretisch und geschichtsphilosophisch vorgeht. Günter Dux hat in seinem Buch über Die Logik der Weltbilder14 die Genese anthropomorpher Gottes- und Götterbilder mit Hilfe von deren „subjektivistische[m] Interpretationsschema“ erklärt. Ähnlich und doch auf ganz andere Weise als Boyer sieht Dux in der Verknüpfung des Handlungs- mit dem Subjektschema die Gründe für den Erfolg jenes personalen Götter- und Gottesschema in der vorneuzeitlichen Erklärung von Weltexistenz und Weltbeschaffenheit. Götter sind personal gefaßte Mächte. Ihre Aufgabe ist so gut wie die jeder anderen subjektivischen Macht, als Agens einzustehen für Verhältnisse und Ereignisse (…) In der gelebten Erfahrung werden sie in der Tat nicht geschaffen. Sie sind da. Den Grund kennen wir: Die Welt wird im subjektivischen Schema begriffen. Dieses Schema muß interpretativ umgesetzt werden.15
Bei Dux erfolgt nun der Fortgang der Geschichte – oder besser: Fortschritt? – durch den Wandel der Logik bestimmter kognitiver Schemata für die Weltorientierung und das Selbstverständnis. Geschichte wird als adaptiver Lernprozess verstanden, der qualitative Fortgänge und Überwindungen kennt. Dafür stehen bei ihm semantische Revolutionen, denen eine Tendenz zur Überbietung des Vorangegangenen innewohnt. Geschichte wird somit insgesamt als Lernprozess verstanden.16 Als bislang letzte Revolution steht bei Dux die Überwindung des subjektivischen Interpretationsschemas fest, das für die meisten Religionen, insbesondere die mit einem personalen Monotheismus, einschlägig war. An deren Stelle tritt nunmehr das funktionale Denken, für das die neuzeitlichen Naturwissenschaften charakteristisch sind: „In der Naturbetrachtung wird ein Interpretationsschema durch ein anderes ersetzt. An die Stelle eines subjektivisch sinnhaften Interpretationsschemas ist ein funktional-relationales getreten.“17 Indem Religionen so allein auf ihre lebensweltlichen Sozialgestalten zurückfallen und den Anschluss an ein zeitgemäßes Weltbild verpassen, verlieren sie zugleich ihre natürliche Einbettung in den kulturellen Gesamtrahmen. Dabei werden Weltbilder, „das ist die entscheidende Konsequenz, nicht erst auf der inhaltlichen Ebene gebildet; sie haften an der kognitiven Grundstruktur.“18 Letztere aber verfährt nach einer Eigenlogik, die realitätsgetränkt ist. In Die Logik der Weltbilder postuliert Dux daher aufgrund der stärker werdenden kognitiven 14 Vgl. D UX, G ÜNTER, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982. – Zur Anknüpfung dieser Tradition an Feuerbach und die anthropologische Religionskritik, vgl. a.a.O., 199–203. 15 A.a.O., 187. 16 Vgl. a.a.O., 249. 17 A.a.O., 282. 18 Vgl. a.a.O., 249.
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Dissonanz ein langsames Ende der Religion, lässt sie sich doch immer weniger in das herrschende kognitive Interpretationsschema ihrer Zeit einfügen; jedenfalls nicht, ohne ihr überkommenes semantisches Potential, das an das subjektivische Schema gebunden ist, zu verraten. Über die ganze Geschichte hin haben Götter und Gott ihren Anhalt an der Auffassung der Wirklichkeit gefunden. Heute ist jeder, aber auch jeder rationale Anhalt abhanden gekommen. Der Verdacht, daß jeder Gottesgedanke nur die Hypothese der Subjektivität des Menschen ist, ist nicht zu entkräften.19
Was scheinbar überzogen anmutet, entspringt einer radikal-genetischen Religionskritik, die sich aus einer wissenschaftlich dargelegten Sicht auf die evolutionäre Einheit der kulturellen Naturgeschichte des Menschen beruft und einen letzten Sinn als Medium umfassender Weltdeutung ausschließt.20 Das Problem in dieser Art naturalistischer Kulturtheorie liegt nun allerdings in ihrem semantischen Uniformismus, der zu einer ihrerseits uniformen bzw. uniformierenden Geschichtslogik führt. Die darin implizierte teleologische Tendenz trägt ein säkularistisch-szientistisches Vorzeichen und führt den funktionalistischen Denktypus als Sieger an. Zudem orientiert sich Dux in der Verknüpfung der Welt der Religion mit dem subjektivischen Schema, das durch das moderne Weltbild abgelöst wird, einseitig an einer spezifischen Interpretation einer bestimmten Religionskultur: alles wird durch die Brille des jüdischchristlichen Monotheismus gelesen.21 Letzterem verdankt sich historisch selbst noch die Vorherrschaft jenes Wahrheitsmonismus, der von ihm selbst in Anschlag gebracht wird und von dem aus er die Einheitlichkeit des Weltbildes notwendig postuliert. Bei Dux können Weltbilder sich zwar zeitlich befristet überlappen. Mehr noch aber lösen sie sich durch die Zeiten hindurch ab und dies führt letztlich zu einer deutlichen Vorherrschaft jeweils eines Weltbildes, gegenüber dem die anderen die Beweislast zu tragen haben. Dux’ Stärke liegt darin, dass er mit Bellah die Parallelität von Onto- und Phylogenese sowie die Eingliederung kultureller Sphären in ein evolutionäres Kontinuum betont. Schwierigkeiten bereitet jedoch sein starker Fortschrittsgedanke, der sowohl für individuelle Bildungsprozesse wie für kulturelle Entwicklungen nur eine substituierende, Vorformen eliminierende Überbietungslogik kennt.22 Die positive Würdigung einer Pluralität von symbolischen Praktiken und Formen des Welt- und Selbstumgangs droht bei ihm unterzugehen.
A.a.O., 305. Vgl. a.a.O., 290ff, v.a. die Leitthese von: a.a.O., 294. 21 Dies wird überdeutlich an der Bedeutung, die Dux dem Monotheismus und seiner Schöpfungslehre bzw. dem Schöpferschema zuspricht. Vgl. a.a.O., 204–247. 22 Vgl. seine Bemerkungen in: D UX, G ÜNTER, Zur prozessuralen Logik historischen Verstehens. Max Weber als Zeitgenosse? – Ein etwas irritiertes Nachwort, in: Falk Wagner/Mi19 20
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Dabei kann auch Dux nicht gänzlich negieren, dass es innerhalb der Sozialwelt durchaus andere kognitive Schemata gibt, die weiterhin stil- und lebensweltprägend (und partiell realitätstauglich?) sind.23 Zu stark geschichtsphilosophisch aufgeladene Kulturtheorien, die mit einer eindeutigen Fortschrittslogik operieren, geraten leicht in die Gefahr, die Abständigkeit des einen Weltbildes lediglich durch die Angemessenheit eines anderen zu behaupten. Während für Feuerbach die Kritik am Christentum immerhin noch als sinnvoller, interpretativer „Umweg“24 zur Erschließung von wahren Sachverhalten, die eben nur in ungenügender Weise erfasst und auf das falsche Subjekt projiziert wurden, diente, – hier also in gewisser Hinsicht Kritik und Konstruktion noch zueinanderfanden25 –, gilt dies für Boyer und Dux offensichtlich nicht mehr. Der hier nur exemplarisch aufgewiesene Ansatzpunkt für eine Kritik von Positionen anthropologischer Religionskritik darf allerdings nicht dazu führen, naturwissenschaftliche Einsichten über den Ursprung und die gegenwärtige Gestalt von Religion zu vernachlässigen oder gar in Abrede zu stellen. Einer so verfahrenden Immunisierungsstrategie, die Religionen gleichsam unter Artenschutz stellt, darf nicht das Wort geredet werden. Vielmehr lief die Argumentation darauf hinaus, der Ko-Evolution von menschlichem Bewusstsein in symbolischer Prägnanz und Kulturtechniken als Wege und Mittel zur symbolischen Wirklichkeitserkenntnis gebührend Rechnung zu tragen. Religionstraditionen lassen sich durchaus daran zu messen, ob und inwiefern sie mit der Ausdifferenzierung ihrer Lebenswelten schritthalten können. Hierunter zählt nicht zuletzt die Frage, ob sie zu einem bewussteren, d.h. selbstreflexiven Umgang mit ihren symbolischen Beständen wie Kapazitäten in der Lage sind. Aber auch, ob sie hinsichtlich der Strittigkeit ihrer Weltdeutungs- und/oder -erklärungsmodelle ihren spezifischen ‚Blick‘ im Gegenüber zu anderen Perspektiven auf die
chael Murmann-Kahl (Hg.), Ende der Religion – Religion ohne Ende? Zur Theorie der „Geistesgeschichte“ von Günter Dux, Wien: Passagen 1996, 264–287, v.a. die Schlusspassagen: a.a.O., 277–284. 23 Das Subjektschema hat bei Dux für die Sozialwelt durchaus noch Geltung. Vgl. D UX, GÜNTER, Die Sorge des Selbst um sich. Seine Not im religiösen und im säkularen Dasein, in: Wagner/Murmann-Kahl (Hg.), Ende der Religion (Anm. 22), 249–266; insb. 260–266. Zu Recht kritisiert diese Ambivalenz sowie die einseitig kognitivistische Behandlung des Religionsthemas: DIERKEN, JÖRG, Zur Modernisierungsfähigkeit der christlichen Religion. Eine Auseinandersetzung mit der wissenssoziologischen Religionskritik von Günter Dux, in: a.a.O., 125–149, v.a. 134–138. 24 LÖWITH, K ARL, Nachwort zu: L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), Stuttgart: Reclam 1969, 527–534, 528. 25 Dies lässt sich in meinen Augen sehr schön an Feuerbachs Hauptwerk über Das Wesen des Christentums zeigen. Dazu die umfassende und vorzügliche Interpretation von: HARVEY, VAN A., Feuerbach and the Interpretation of Religion (Cambridge Studies in Religion and Critical Thought 1), Cambridge (Ma.): Cambridge Univ. Press 1995, v.a. 25–133.
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§ 7 Religionskritisches Präludium
Realität explizieren können. Das betrifft in unseren wissenschaftlichen Debatten vielleicht nichts so sehr, wie den Sinn und die Bedeutung der Rede von der ‚Realität‘, die es unterschiedlich perspektivisch zu erfassen gilt.26 So sehr sich Religionskulturen hinsichtlich der Komplexität ihrer symbolic capacities unterscheiden können27, so sehr können ihre Traditionsbestände in der lebensweltlichen Einsichtigkeit und Stimmigkeit sowie theoretischen Kohärenz ihrer Wahrheitsansprüche divergieren. Davon betroffen sind die semantischen Gehalte sowohl hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit (bzw. Passgenauigkeit) an (für) andere kulturelle Sphären als auch hinsichtlich ihrer Transformationspotentiale angesichts neuer Situationen, Einsichten und Probleme. Deshalb hängt die Möglichkeit, religiösen Ansichten und Überzeugungen Wahrheitsfähigkeit zuzusprechen, wesentlich davon ab, ob das jeweilige symbolische Reservoir, aus dem sie schöpfen, dazu fähig ist, Realität ggf. neu erschließen, gestalten und verändern zu können. Der Prüfstein für die Kritik möglicher Optionen liegt dann jedoch – darin ist der anthropologischen Religionskritik recht zu geben – in der Wahrnehmung der Vielfalt von kulturellen Lebenswelten und der Steigerung von Lebensoptionen und Lebenschancen für die humane Lebensform und ihre Mitglieder.28
26 In diesem Sinn könnte man einerseits fragen, ob eine pragmatistische Gotteslehre, die in einer performativen Weise von der ‚Realität Gottes‘ spricht, sich wirklich in das subjektivistische Schema à la Dux fügt. Und andererseits bleibt aus dieser Sicht zu fragen, welche Folgen es eigentlich für seine Religionskritik hätte, wenn sich zeigen ließe, dass nicht so sehr die „Religionen (…) mit all ihren Deutungen an der kategorialen Vorgabe [!; C.P.] der Subjektivität und deren Umsetzung“ (DUX, Logik [Anm. 14], 203) hängen würden, sondern umgekehrt diese selbst allererst als Folge der Bewährung von spezifischen Wirklichkeitsdeutungen (genealogisch) zu rekonstruieren wären. Dann jedenfalls dürfte sowohl das einlinige Bild der Umstellung auf eine funktionale Wirklichkeitsdeutung in der Moderne Risse bekommen, als auch der von Dux präferierte methodische (und ontologische?) Monismus (hinsichtlich wissenschaftlicher Erklärungen) als extrem voraussetzungsreich erkannt werden. 27 Insofern kann man durchaus von religiöser Evolution sprechen, weil Religionstraditionen in unterschiedlichem Maße an der Verfeinerung der symbolischen Kultur- und Repräsentationstechniken von Wirklichkeit partizipieren. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit der Frage nach ihrer Absolutheit oder ihrer ethischen Güte bzw. Vorzugswürdigkeit. 28 Dies wäre der Ansatzpunkt für eine Ethik des Religionsdiskurses. Jede wissenschaftliche Stellungnahme auf dem Gebiet der Religion ist zugleich mit impliziten Wahrheits- und Wertkriterien verbunden, die offengelegt werden müssen. – Zum ethischen Impuls jeder um die Wahrheitsfrage bemühten Wissenschaft von der Religion siehe auch die Schlussbemerkungen in: BELLAH, Religion (Anm. 4), 567–606.
§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre: Die Realität des personalen Gottes in der religiösen Praxis (Die Ebene des rituellen Ausdrucks) Jede Religion wäre einseitig begriffen, würde man sie auf das Für-Wahr-Halten von metaphysischen Überzeugungen über Wohl und Wehe von Welt und Mensch(heit) reduzieren. Vielmehr zeigen sich Religionen stets als gelebte Praxis, sie bilden Lebensformen aus, also das, was man im Englischen conduct of life nennen würde. Darin verbinden sich existentielle Haltung und Einstellung mit kognitiven Überzeugungen und Verhaltensmustern. Schon deshalb verbietet es sich, Praxis gegen Theorie, Kultus und Ethos gegen Dogma und Lehre auszuspielen. Dennoch ist das Wesentliche in aller Religion nicht Dogma und Idee, sondern Kultus und Gemeinschaft (...) der lebendige Verkehr mit der Gottheit, und zwar als ein Verkehr der Gesamtheit, die ihre Lebenswurzeln überhaupt im Religiösen und ihre letzte die Individuen verbindende Kraft im Gottesglauben hat.1
Ohne die Erschließungskraft religiöser Ideen zu leugnen, setzt das Verstehen von Behauptungen über die ‚Realität Gottes‘ somit an spezifischen, nämlich kultischen (oder rituellen) Praktiken an. Wenn nun im Folgenden über das Phänomen des Betens als besonders einschlägige Praxis der Bezeugung und Bekundung des Glaubens an den personalen Gott dessen Bedeutung und Sinn erschlossen wird, dann ist damit weder behauptet, dass ausschließlich darüber ein Zugang zum Verständnis der Personalität Gottes möglich sei, noch werden dadurch theoretische Reflexion und intellektuelle Rechtfertigung dieses Glaubens durch den Verweis auf die Praxis sistiert. Dennoch scheint mir im Vollzug 1 TROELTSCH, ERNST, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben (1911), in: Ders. Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, Teilband 1 (= KGA 6.1), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 820–851, 836. – Der Theologe Troeltsch kommt mit seiner These von der sozialpsychologischen Notwendigkeit von Kultus und Symbolik nahe an die Einsichten etwa der Durkheim’schen Religionstheorie heran. Insofern stellt es mehr als eine zeitgenössische Kritik, sondern eine systematisch orientierte These dar, wenn ausgerechnet der „Kulturprotestant“ Troeltsch, die „Gemeinschafts- und Kultlosigkeit“ als die „eigentliche Krankheit des modernen Christentums und der modernen Religiosität überhaupt“ (ebd.) bezeichnet.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
und der Struktur des Betens besonders deutlich diejenige symbolische Strukturierung und Erfassung von Realität aufzuscheinen, die mit einem theistischen bzw. personalen Bild von Gott verbunden ist. Zudem bekundet sich sprechend und handelnd im Beten jene symbolische religiöse Weltsicht expressis verbis. Und insofern ist es darüber hinaus sehr verständlich, dass mit der Krise des Glaubens an einen personalen Gott zugleich eine (keineswegs nur) intellektuelle Problematisierung des Aktes des Betens verbunden war. Diesem Zusammenhang widme ich mich in einem ersten Schritt als doppelter Krise des Theismus, um von dort aus die Verbindung von personalem Gottesglauben und Gebetspraxis zu beleuchten. Das Gebet als einen Schlüssel zur Gotteslehre zu bezeichnen, verweist dabei auf zweierlei: erstens steht die genetische2 Rekonstruktion einer spezifischen Überzeugung vom Göttlichen im Mittelpunkt, dessen praktische Inanspruchnahme sich im Modus des Handelns vollzieht; zweitens geht es um die unausweichliche Verknüpfung von rituellem Handeln und symbolischen Denken, die es ebenso paradigmatisch wie exemplarisch am Beten offenkundig zu machen gilt.
1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus 1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus
Es ist ideengeschichtlich von Belang, dass die Krise des personalen Theismus auch auf der Ebene seiner intellektuellen Verhandlung mit einer scharfen Kritik an der Praxis des Betens und einer bestimmten Auffassung dessen, was im Gebet passiert, verbunden war. In emphatischer Weise verschränkt sich hier die Ebene der problematisierenden Reflexion einer konkreten religiösen Praxis (Gebet) mit der In-Frage-Stellung einer bestimmten kognitiven, theologischmetaphysischen Überzeugung (Theismus). Das nenne ich die doppelte Krise des Theismus, da sie sowohl lebensweltliche wie theoriegeladene Aspekte umfasst. Darauf hat schon vor über vierzig Jahren Rolf Schäfer in seiner Tübinger Antrittsvorlesung aufmerksam gemacht, als er den Zusammenhang der Krise der beiden dogmatischen Lehrstücke von Gott und Gebet nachzeichnete. Bereits vor Kant wurde zunehmend strittig, inwiefern der überkommene Gottesgedanke der christlichen Tradition – also nicht nur die Existenz Gottes, sondern mehr noch seine personale Natur – rational begriffen werden kann. Seit den Tagen der Aufklärung setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass hinsichtlich der Einschätzung der klassischen Lehre „die verneinende Antwort je länger desto mehr den Sieg behält“3. Ein Blick in Systematische Theo-
Dabei meint genetisch hier eher entwicklungslogisch als rein historisch. SCHÄFER, ROLF, Gott und Gebet. Die gemeinsame Krise zweier Lehrstücke (1968), in: Ders., Gotteslehre und kirchliche Praxis. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Ulrich Köpf und Reinhard Rittner, Tübingen: Mohr Siebeck 1991, 1–12, 2. 2 3
1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus
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logien und Dogmatiken seitdem dürfte diesen Eindruck bestätigen. Dies bedeutete nicht eine rein destruktive Einstellung zu religiösen Praktiken und zum Gottesgedanken an sich, wohl aber eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber dessen überkommener, traditionell geglaubter Fassung. Noch die Verabschiedung jeder metaphysischen Verhandlung der Gottesfrage und die programmatische Umstellung auf offenbarungs- und trinitätstheologische Konzeptionen fügen sich in diesen Trend, wie sich nicht zuletzt an der Neuausrichtung der Lehre vom Gebet zeigen lässt. Denn das Gebet wird dort, „wo es gemäß dem [sc. trinitarischen; C.P.] Willen Gottes geschieht, ein Reden des Geistes mit Gott, mithin ein innertrinitarisches Geschehen. Dieses innertrinitarische Geschehen ist aber jeglicher Krise entnommen.“4 Inwiefern? Insofern, als das Problem, das mit jedem personalen Theismus, wie er sich im Beten artikuliert, u.a. ja darin besteht, dass Menschen auf Gott Einfluss nehmen wollen und dadurch dessen Souveränität und Vollkommenheit gefährdet wäre. Allerdings reicht der Zusammenhang zwischen den beiden (material-)dogmatischen Topoi von Gott und Gebet weit darüber hinaus. Mit Schäfer: „Wo immer das Gebet im angedeuteten Sinne für möglich oder gar für selbstverständlich gehalten wird, pflegt auch eine reich entwickelte, ihrer selbst sichere Gotteslehre da zu sein.“5 Die Verbindung aus Gebets- und Gotteslehre ist nun aber keine einlinige. Weder bedeutet die Tatsache, dass jemand betet, dass er auch eine inhaltlich dieser Praxis korrespondierenden Gotteslehre (noch überhaupt eine) vertritt, noch gibt es einen unmittelbaren Übergang von einer argumentativ für gerechtfertigt gehaltenen Gottesrede oder -lehre zum Vollzug des Betens. Allerdings darf eine an der religiösen Praxis orientierte Religionsphilosophie und Dogmatik sich nicht der Verbindung aus Praxis und Erfahrung einerseits, Artikulation und Deutung andererseits, entziehen. Die Erneuerung der Gotteslehre hat infolgedessen zur Voraussetzung, daß man dem Phänomen des Gebets nachgeht und sieht, was sich daraus als positive Erkenntnis für die Gotteslehre gewinnen läßt. Denn nicht heilige Lehren, und seien sie noch so würdigen Ursprungs, bestimmen allein das Gottesbild, sondern das, was davon in die Erfahrung eingegangen ist.6
Dieser positiven Auszeichnung des Gebets für eine mögliche Neuformulierung der Gotteslehre und für eine stärkere Erfahrungsbezogenheit der Theologie steht die doppelte Krise des personalen Gottesgedankens und der Sinnhaftigkeit
4 A.a.O., 3. Mit dem Verweis auf innertrinitarische Gebetslehren zielt Schäfer offenkundig auf so prominente, obgleich unterschiedliche Stimmen, wie die Karl Barths und Paul Tillichs. Zu letzterem siehe nur: TILLICH, PAUL, Systematische Theologie III (1963), Berlin/New York: de Gruyter 41987, 222–224. 5 SCHÄFER, Gott und Gebet (Anm. 3), 3. 6 A.a.O., 12.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
des Betens als religiösen Akt entgegen. Am schärfsten kollidiert die neuzeitliche Mentalität dabei mit der Praxis des Bittgebets.7 In ihm kommt schließlich am deutlichsten das Anstößige zum Ausdruck, nämlich die Inanspruchnahme einer möglichen Beeinflussung Gottes durch die dialogische Kommunikation zwischen – in dieser Hinsicht – gleichberechtigten personalen Partnern. Dabei geht es nicht nur um die für die persönliche Frömmigkeit u.U. entscheidende Frage der Gebetserhörung, sondern etwa auch um das Problem eines kausalen Eingreifens Gottes in den geordneten Weltzusammenhang. Reagiert Gott, indem er auf unsere Bitten hört, so, dass er mögliche Dinge neu ordnet und verändert? Erscheint der Zusammenhang zwischen Bittgebet und Personalität Gottes zunächst nur als ein loser, so kulminieren doch in der Verhandlung beider Themenbestände die Schwierigkeiten, die zur Krise des Theismus geführt haben. Mögliche Lösungsansätze sind dabei nicht immer so zu denken, dass mit der Verteidigung der einen auch die Verteidigung der anderen Ansicht verbunden ist. Die beiden großen Denker, auf die wir hier in einem ersten Anlauf zu sprechen kommen wollen, liegen vielmehr quer dazu. Während Immanuel Kants Position durchaus als personal-theistische bezeichnet werden kann, liegt ihm nichts ferner, als das Bittgebet zu rechtfertigen; Friedrich Schleiermacher hingegen kann sich unter Vorbehalten jener religiösen Praxis öffnen, obwohl er mit seiner Theologie zu den schärfsten Kritikern personaler Theismen gehört. Beginnen wir mit Kant (1724–1804): Es ist bekannt, dass seine Kritik der Gottesbeweise im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft nur den Auftakt zu seiner ganz und gar am Primat der praktischen Vernunft orientierten philosophischen Theologie darstellt, in welcher dem Gottesgedanken eine die Freiheitswirklichkeit garantierende Funktion zugeschrieben wird. Darauf zielt bereits in der transzendentalen Dialektik der KrV die Auszeichnung des theistischen Gottesgedankens, die schließlich in die Figur des „moralischen Welturhebers“8 mündet. Nur ein die Perspektiven von natürlicher und sittlicher Weltordnung vereinender und grundierender ‚Gott‘ kann für Kant als ‚lebendig‘ betrachtet und so für die Selbst- und Weltverständigung des vernünftigen Moralwesens (des Menschen als Person) sinnhaft verstanden werden. Getragen wird diese Auszeichnung zudem von Kants lebenslanger Skepsis gegenüber harten spinozistischen Positionen, wovon selbst noch die Fragmente des Opus Postumum beredt zeugen.9 Anders als etwa für Fichte lässt sich für Kant die Diskordanz
Hierzu die Bemerkungen bei Schäfer: a.a.O., 4f.10f. KANT, IMMANUEL, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. V, Berlin: de Gruyter 1968, 145/A 261. – Zur Verortung in der KrV: KANT, IMMANUEL, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. III, Berlin: de Gruyter 1968, 420/B 659. 9 Mit Blick auf das Opus Postumum verweise ich auf die Konvolute I und VII. Vgl. K ANT, IMMANUEL, Opus Postumum, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XXI, 7 8
1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus
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zwischen natürlichem Weltenverlauf und sittlicher Praxis nicht durch den Rekurs auf eine ‚moralische Weltordnung‘ deutend auflösen. Die Diskrepanz zwischen moralischer Glückswürdigkeit und sinnlich-sittlicher Glückseligkeit bleibt der anthropologische Stachel, dem sein personaler Theismus begegnen will. Davon zu unterscheiden ist jedoch Kants kritische Haltung zum Gebet. Sie ist teils der moraltheoretischen Ausrichtung seiner Religionsphilosophie, teils den Implikationen seiner rationalen Theologie geschuldet. In Kants Religionsschrift wird dies am Ideal des Gebets als Mittel zur Stärkung der moralischen Gesinnung offenkundig: Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen); denn es ist ein bloß erklärtes Wünschen gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf, wodurch also nichts getan und also keine von den Pflichten, die uns als Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedacht wird. Ein herzlicher Wunsch, Gott in allem unserem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein, d. i. die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie, als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben, ist der Geist des Gebets (…) Diesen Wunsch aber (es sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln einzukleiden, kann höchstens nur den Wert eines Mittels zu wiederholter Belebung jener Gesinnung in uns selbst bei sich führen, unmittelbar aber keine Beziehung aufs göttliche Wohlgefallen.10
Auffällig ist, das vor allem das mit bestimmten Anliegen verbundene Bittgebet ihm dabei als Religionswahn und Fetischmachen gilt. Wohingegen das Beten als Mittel der inneren Gesinnungs- und Gewissenskultivierung für ihn durchaus einen pragmatischen Wert behält. Nimmt man hinzu, dass Kant in einer wenige Jahre zuvor (zwischen 1788 und 1791) geschriebenen kleinen Abhandlung zum Gebet11 sowohl das persönliche Gebet um des sittlichen Wunsches, Glied im
Dritte Abtheilung Handschriftlicher Nachlaß. Achter Band, Berlin/Leipzig 1936, 3–157, sowie: DERS., Opus Postumum, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XXII, Dritte Abtheilung Handschriftlicher Nachlaß. Neunter Band, Berlin/Leipzig 1936, 4– 131. Dazu siehe die Ausführungen bei: WIMMER, REINER, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York: de Gruyter 1990, 224–259. – Wichtig bleibt anzumerken, dass auch dort, wo Kant die an der Person als Ideal orientierte Gottesidee (als Postulat der selbstgesetzgebenden Vernunft) verteidigt, er damit keine ontologische oder metaphysische Aussage über die Existenz eines personalen göttlichen Wesens trifft. 10 K ANT, IMMANUEL, Die Religion innerhalb der bloßen Vernunft (1793), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VI: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten, Berlin: de Gruyter 1968, 1–202, 194f. – Zu Kants Verständnis des Gebets in der Religionsschrift siehe: NONNENMACHER, BURKHARD, Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens, in: Ottfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Klassiker Auslegen 41), Berlin: Akademie 2010, 211–229, v.a. 220–224. 11 K ANT, IMMANUEL, Vom Gebet, in: Ders., Schriften von 1783–1788, hg. v. Artur Buchenau/Ernst Cassirer, Berlin: Bruno Cassirer 1922, 525–526. – Zusammen mit sechs anderen
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
universalen Reich der Zwecke bzw. mit der Religionsschrift im ‚ethischen Gemeinwesen‘12 zu werden, als auch das öffentliche, gemeinsame Gebet zur Kultivierung einer Atmosphäre kollektiver sittlicher Nachdenklichkeit willen, für nützlich hält13, kann allerdings von einer pejorativen Einstellung zu dieser religiösen Praxis nur bedingt die Rede sein. Ausgeschlossen bleibt für Kant aber definitiv die Vorstellung, man könne über das Gebet Einfluss auf Gott und seine Handlungen nehmen. Dies stellt für ihn im Grunde eine intellektuelle wie praktische Beleidigung Gottes dar. Insofern ist das Beten für Kant allenfalls ein nützliches Beiwerk, das der sittlichen Praxis untergeordnet bleibt. Zudem führt sein Verständnis des Gebets zu keinen inhaltlichen Konsequenzen, weder hinsichtlich der Konzeption seines Gottesgedankens, der allein durch die Tatsache der Freiheit und des Sittengesetzes präfiguriert wird, noch hinsichtlich eines Religionsverständnisses, das den kultischen Vollzügen stärkere Beachtung schenken würde. Eine Reflexion auf die Gestalt- und Gehaltwerdung der Person im religiösen Akt des Betens zu einem personal vorgestellten Gott sucht man bei Kant daher vergebens. Bei Schleiermacher (1768–1834) liegen die Dinge anders. Seine Reaktion auf die Kritik an der christlichen Gebetspraxis impliziert sogar eine Verteidigung des Bittgebets. In einer relativ frühen Predigt Vom rechten Gebrauch des Gebets im Namen Jesu14 sieht er vornehmlich zwei Punkte, die zur radikalen Kritik des Gebets geführt haben: einmal seinen Missbrauch durch diejenigen, welche beten; und zum anderen aufgrund eines falschen Verständnisses davon, was der Sinn und das Ziel des Betens ist, kulminierend in der Frage nach der Gebetserhörung. Schleiermacher, dem wir die berühmten Worte, wonach ‚fromm sein‘ und ‚beten‘ das Gleiche seien, verdanken15, sieht den Kern dieser religiösen Praxis in der Kultivierung der inneren religiösen Subjektivität. Nicht um äußere Vollzüge und deren Regelmäßigkeit geht es beim Beten, sondern um die sich darin und dadurch – einem Reinigungsprozess gleichend – langsam herausbildende und zur Sprache bringende innere Haltung und Einstellung. kleinen Aufsätzen, ebenfalls aus den Jahren 1788 bis 1791, ist dieser Text in dem genannten Auswahlband erschienen. 12 Vgl. Teil III der RiGV, in: K ANT, Religion (Anm. 10), 93–147. 13 Vgl. K ANT, Vom Gebet (Anm. 11), 526. 14 Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu (1791), in: Ders., Sämtliche Werke. Zweite Abteilung, Bd. III, Berlin: Reimer 1836, 27– 41. 15 Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Die Kraft des Gebets, in so fern es auf äußere Begebenheiten gerichtet ist, in: Ders., Kleine Schriften und Predigten, Bd. I, 1800–1820, hg. v. Hayo Gerdes, Berlin/New York: de Gruyter 1970, 167–178. – Dazu sowie zum religionstheoretischen und ästhetischen Rahmen des Gebetsverständnisses bei Schleiermacher siehe die Ausführungen in: GREIFENSTEIN, JOHANNES, Ausdruck und Darstellung von Religion im Gebet. Studien zu einer ästhetischen Form der Praxis des Christentums in Anschluss an Friedrich Schleiermacher (PThGG 18), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, hier v.a. 179–204.
1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus
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Vorbild echten Gebetsverständnisses ist die Haltung Jesu, wonach, wer recht bittet, auch erhört wird. Im Beten artikuliert sich die vertrauensvolle Hingabe an den göttlichen Willen, mit dem sich konform zu wissen, jene glückselige Bestimmtheit schlechthinniger Abhängigkeit bedeutet, die bei Schleiermacher das Äquivalent für den heilvollen Glauben darstellt. Dennoch bedeutet diese Fokussierung keine Verengung der Gebetsanliegen auf innere Vorgänge. Alle welthaften Umstände, die zum Leben des Christen gehören, sollen durchaus als Wünsche und Anliegen in das Gebet fließen. Nur darf die Kraft und der Segen, der religiös als Erhörung versprochen ist, nicht darin gesucht werden, dass der göttliche Wille durch Gebetsanliegen verändert wird: Tragen wir einen Wunsch, daß dieses oder jenes sich in der Welt so ereignen möge wie es für uns das beste zu sein scheint, Gott im Gebet vor, so müssen wir doch denken, daß wir ihn vortragen dem u n v e r ä n d e r l i c h e n Wesen, in welchem kein neuer Gedanke, kein neuer Entschluß entstehen kann, seit dem es zu sich selbst sprach: es ist alles gut, was ich gemacht habe.16
Deswegen sind die menschlichen Anliegen durch ihre Ausrichtung am „Reich Gottes“, dem Inbegriff des schöpferischen, erhaltenden und vollendenden Willen Gottes zu reinigen und gerade so auf den Weg zur Gebetserhörung in innerem Trost und Gelassenheit zu bringen: welch höheren Grad der Selbstzufriedenheit kann wol ein eingeschränktes Wesen erreichen, als wenn wir uns bewußt sind, daß unser Wille mit dem Willen Gottes übereinstimmt, daß wir für uns selbst keine anderen Absichten haben, kein anderes Verlangen als das auszuführen, zu thun und zu leiden, was der Zweck Gottes mit uns, und der Ort, den seine Weisheit uns in der Welt angewiesen, mit sich bringt? (…) zu dieser Stufe erhebt uns das Gebet, welches dem Gebet Jesu ähnlich ist. Auf diese Weise werden wir die schönste Erhörung unseres Gebets empfinden. Unsere Bitte um Glück und Ruhe wird uns glücklich und zufrieden machen, auch wenn uns das nicht zu Theil wird, was der eigentliche bestimmte Gegenstand derselben war. Unsere Glückseligkeit beruht Gott sei Dank, nicht auf den Gegenständen, die uns umgeben, nicht auf den Umständen, worin wir uns befinden, sondern auf dem Eindruck, den diese Gegenstände auf unsere Seele machen, die wir unserer äußern Lage entgegensetzen können.17
In dieser Passage spricht nicht nur der einfühlsame Seelsorger und glänzende Rhetor Schleiermacher. Vielmehr kommen darin schon alle Momente zum Ausdruck, die seine späteren Ausführungen zum Gebet in der Glaubenslehre leiten. Darin wird das Gebet als Mittel zur Ausbreitung des Reiches Gottes in der Welt
16 17
A.a.O., 173. SCHLEIERMACHER, Vom rechten Gebet, in: Sämtliche Werke II.3 (Anm. 14), 40f.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
verstanden, das sehr wohl mittelbar auch Einfluss auf die äußere Lage der Gläubigen haben kann.18 Allerdings wird abgelehnt, dies auf eine reale Kommunikation zwischen Gott und Gläubigen zurückzuführen, in der etwa letztere auf Willen und Wirken des ersteren Einfluss nehmen könnten. Wie Hegel19 geht es Schleiermacher darum, das Beten vom Beschwören abzuheben und vom bloßen Wünschen um äußere Dinge freizumachen. Dies berührt im Letzten Schleiermachers Gotteslehre und ihre Implikationen. Sowohl Dialektik wie Glaubenslehre operieren nämlich weithin mit einem an spinozistischen Figuren angelehnten monistischen Gottesverständnis, trotz der basalen Leitdifferenz von Gottes- und Weltbegriff20. Denn obgleich dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit die Gewissheit schlechthinniger Ursächlichkeit auf Seiten Gottes korreliert21, bedeutet diese Relation keine, in der wechselseitig im Sinne einer actio und reactio gehandelt werden kann.22 Von diesem religiös-christlichen Standpunkt, der dezidiert kein theistischer ist, vollzieht sich der (auch) betende Glaube als ein Einüben in die Gewissheit der letzthinnigen Geordnetheit des Weltverlaufs (Weisheit) und seiner inneren harmonischen 18 Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/1). Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 13, Teilband 2 (= KGA I, 13.2), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York: de Gruyter 2003, §§ 146–147, 417–420. 19 Vgl. H EGEL, G EORG W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Mit einem Vorwort von Philipp Marheineke, Bd. I (Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 15), Stuttgart: Frommann-Holzboog 41965, 314. 20 Vgl. zur absolutheitstheoretischen Fassung einer Leitdifferenz von Gott und Welt, die aber zugleich „in Streit mit denen welche Gott von der Welt trennen“ liegt: SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH, D.E., Dialektik. Aufzeichnungen zum Kolleg 1811, in: Ders., Vorlesungen über die Dialektik. Kritische Gesamtausgabe II. Abteilung, Bd. 10, Teilband 1 (= KGA II, 10.1), hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York: de Gruyter 2002, 31–71, v.a. 43–46, hier: 44. – Zu Schleiermachers Gotteslehre, die man am besten unter dem Figurativ der All-Einheit fassen kann, siehe auch meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Gedanken und Wege der All-Einheit. Schleiermachers „Gott“ zwischen Ost und West, in: Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha/Sarah Schmidt (Hg.), Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017 (Schleiermacher-Archiv 27), Berlin/Boston: de Gruyter, 139–156. 21 Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/1). Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 13, Teilband 1 (= KGA I,13.1), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York: de Gruyter 2003, §§ 50–54, 255–289. 22 Interessant ist, dass Schleiermacher das von theistischen Ansätzen in Anspruch genommene Wechselwirkungsmodell mit seinem Kraftbegriff in den Dialektik-Vorlesungen 1822 auch zur Widerlegung pantheistischer Lehre verwendet. Schon insofern bedarf der Pantheismus-Vorwurf an ihn der Korrektur. Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Dialektik. Kolleg 1822. Nachschrift Kropatscheck, in: Ders., Vorlesungen über die Dialektik. Kritische Gesamtausgabe II. Abteilung, Bd. 10, Teilband 2 (= KGA II,10.2), hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York: de Gruyter 2002, 395–705, 533–537.
1. Gott und Gebet: Die doppelte Krise des Theismus
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Zielausrichtung (Liebe).23 Schleiermachers Lehre vom Gebet entspricht so in stringenter Weise seiner Gotteslehre. Sie hat dort ihre Stärke, wo sie in gelebter Praxis die Autonomie des Religiösen betont. Doch fehlt ihr mehr noch als in Kants an der Diskordanz von natürlicher und sittlicher Sphäre entzündender ‚Moraltheologie‘ jenes harte Differenzbewusstsein von und für Kontrafaktizität, welches personale Theismen ebenso leitet wie es insbesondere Bittgebete in ernster Absicht prägt. Kant und Schleiermacher verhandeln mit unterschiedlicher Zuspitzung die Themen der doppelten Krise des Theismus. Das Ergebnis ihrer Ausführungen erscheint auf den ersten Blick paradox. Während der eine am theistischen Gottesgedanken und seiner Erschließungskraft für die Wirklichkeit festhält, dafür aber demjenigen religiösen Akt, in dem jener seinen Grund findet, kaum Beachtung schenkt, widmet sich der andere liebevoll der Apologie jener Frömmigkeitspraxis ohne deswegen an seiner fundamentalen Kritik an theistischen Gottesmodellen Abstriche zu machen. Der Befund verweist auf tiefergehende Unterschiede zwischen beiden Denkern, vor allem im Umgang mit und im Verständnis der Rolle von Kontingenz als einem Grundzug von Wirklichkeit.24 Darüber hinaus dürften Kant und Schleiermacher als Seismographen für die Schwierigkeiten gelten, die unter neuzeitlichen Bedingungen mit einer über das Gebet laufenden Gotteslehre verbunden sind. Auch wenn es nicht an prominenten Stimmen mangelt, welche die Korrelation von religiöser Praxis (Gebet) und religiöser Wirklichkeitsdeutung (Gotteslehre) weiterhin als fruchtbar ansehen, so gilt doch als ausgemacht, das allen allzu anthropomorphen und narzisstischen Verständnissen vom Gebet und seinem Einfluss auf Gott zu wehren ist. Schon angesichts des Befundes, dass viele Menschen gar nicht in dieser Absicht beten, ist aber auch an diesem Punkt Vorsicht geboten.
23 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 2, 2. Aufl. (Anm. 18), §§ 164–169, 494–513. 24 Zu diesem Problem siehe: M OXTER, M ICHAEL, Subjektivität und Kontingenz. Wandlungen im Rationalitätsverständnis zwischen Kant und Schleiermacher, in: Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.), Vernunft, Kontingenz und Gott (RPT 1), Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 193–212. Moxter erblickt in Kant eine „Subjektivierung von Notwendigkeit“ wohingegen bei Schleiermacher der Kontingenzaspekt subjektiviert wird (vgl. a.a.O., 195.205).
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
2. Im Fokus ‚Gott‘: Das Gebet im religionsphilosophischen Diskurs 2. Im Fokus ‚Gott‘
2.1 Noch einmal: Das Bittgebet als Symptom für die doppelte Krise des Theismus Kant und Schleiermacher belegen je auf ihre Weise die argumentativen Schwierigkeiten, die sich für die Gotteslehre und die Verständigung über die Sinnhaftigkeit des Betens aus der doppelten Krise des Theismus ergeben. Deren Folgen in der Gegenwart sind ungleich gravierender. Zwar findet man sowohl die Personalität Gottes als auch die Gebetsfrage in jeder gewichtigen Dogmatik bzw. Systematischen Theologie verhandelt, aber es ist doch deutlich, dass ihnen kaum je dasjenige religionsphilosophische Gewicht zuerkannt wird, dessen es bedürfte, um die Krisensymptome adäquat zu verstehen und bearbeiten zu können. In dieser Hinsicht scheint Schäfers Diagnose nach wie vor aktuell. Wenn im Folgenden noch eine Weile beim Problem des Bittgebets verweilt werden soll, dann auch deshalb, weil sich an ihm besonders eindrücklich die Schwierigkeiten aufzeigen lassen, die in den meisten Theologien zu jenen Reserven gegenüber einer offensiven Behandlung der Themen geführt haben: der Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Freiheit, das Problem von Anthropomorphismus und Störung des Kausalmechanismus der Wirklichkeit, der Verdacht narzisstischer Projektionen in das Gottesbild hinein. Und aus alledem nährt sich der Verdacht, hier würde die Aseität Gottes und sein unwandelbarer Wille durch die Restitution gleichsam magischer Praktiken und Auffassungen über die Realität untergraben. Das Dilemma, in dem sich die systematische Theologie widerfindet, lässt sich an einem Einwand von Ernst Tugendhat gegen Dieter Henrich schön aufzeigen. Gegenüber den Überlegungen des letzteren zu einer meditativen Einstellung von Dankbarkeit25, die keinen personalen Adressaten bedarf, wendet Tugendhat ein, es sei doch evident, daß man nur einem Wesen danken kann, dem gegenüber es sinnvoll ist – nicht unbedingt über die gleichen Dinge –, etwas zu erbitten, und ich meine es ergibt keinen Sinn, ein
25 H ENRICH, D IETER, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart: Reclam 1999, 152– 193. – Dabei ist zu beachten, dass Henrich die beiden Formen von adressatengebundenem kommunalen Dank und einem darüber hinausreichenden kontemplativen Dank nicht als Gegenpositionen versteht, sondern für ihn der letztere den stark auf das innerweltliche Gefüge fokussierten ersteren vertieft und umgreift. Darin ist der kontemplative Dank im Grunde allein auf den Grund der Wirklichkeit angemessen bezogen. Vgl. a.a.O., 172–184.
2. Im Fokus ‚Gott‘
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nicht-personales Wesen um etwas zu bitten. Gibt es keine übernatürlichen Personen, also Götter, dann heißt das, daß man nicht beten kann. 26
Gewiss ist Vorsicht gegenüber Tugendhats aus religionskritischen Impulsen resultierender Gleichsetzung von personalem Theismus mit einem naiven Supranaturalismus geboten. Auch sind Henrichs Äußerungen zu Formen des nichtprimär adressatengebundenen kontemplativen Dankens keineswegs allein auf religiöse Kontexte bezogen. Dennoch stellt Tugendhat treffsicher die Verlegenheit heraus, die immer dann eintritt, wenn man sich zwar um eine argumentative Rechtfertigung eines Gottesgedankens bemüht, aber dessen Verankerung in einer dann ebenfalls zu rechtfertigenden religiösen Grundpraxis übersieht oder sich dieser Aufgabe programmatisch entzieht.27 Noch einmal: Es geht weniger darum, einseitige Korrelationsverhältnisse zwischen personalen Selbstbildern und theistischen Gotteskonzeptionen zu deklarieren, als einzufordern, dass dort, wo gebetet wird, irgendeine kommunikative, personale Situation vorausgesetzt ist. Daraus entstehen dann konsequent Fragen, wie das Gegenüber-Sein des nicht- oder über-menschlichen, u.U. göttlichen Partners vorgestellt werden könnte. Von diesem religionsanthropologischen Kontext kann sich die Religionsphilosophie nicht ohne verlustreiche Folgen lösen. Es bleibt allerdings zu fragen, ob der Zusammenhang zwischen theistischem Gottesbild und Bittgebet wirklich so eng und notwendig ist, dass da, wo das eine angenommen wird, auch das andere unweigerlich verteidigt werden müsste. Dabei ist stets auch umstritten, was eigentlich den klassisch theistischen Denkrahmen ausmacht? Ist es der personale und/oder monotheistische Gottesgedanke oder sind es eher bestimmte göttliche Attribute, wie z.B. der Allmachtsgedanke, der ausschlaggebend für ihn ist, ohne dass man die Aspekte gegeneinander ausspielen müsste. In den Überlegungen zum Bittgebet, wie sie im Kontext der analytischen Religionsphilosophie in jüngerer Zeit entwickelt wurden, steht daher eher die Spannung zwischen göttlicher Allmacht und Sinnhaftigkeit des Bittens im Vordergrund. Eleonore Stump hat in einem klassischen Status angenommenen Aufsatz28 auf die Unvereinbarkeit zwischen dem Sinn des Bittgebets und einer vollständigen Übernahme aller traditionellen Allprädikate in der Gotteslehre hingewiesen. Insbesondere die Attribute von ‚Allmacht‘, ‚Allgüte‘ und ‚Allwissenheit‘ stehen in Kontrast zur herkömmlichen
26 TUGENDHAT, ERNST, Über Religion, in: Ders., Anthropologie statt Metaphysik, München: Beck 2007, 191–204, 196. – Tugendhats Ausführungen dienen ihm auch zur Profilierung der mystischen Lebensform gegenüber religiösen Lebensformen, die bei ihm entweder mit einem mono- oder polytheistischen Gottesglauben gleichgesetzt werden, vgl. a.a.O., 199– 204. 27 Insofern kann man Tugendhats Anfrage als weniger gegen Henrich und mehr gegen viele Positionen zeitgenössischer Theologie gerichtet sehen. 28 Vgl. STUMP, ELEONORE, Petitionary Prayer, in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), 81–91.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
Unterstellung dessen, was im Bittgebet in Anschlag gebracht wird. Das Umgekehrte gilt nur, if what is requested in a petitionary prayer is or results in a state of affairs the realization of which would make the world better than it would otherwise be, an omniscient, omnipotent, perfectly good being will bring about that state affairs even if no prayer for its realization has been made.29
Stumps eigene Position läuft demgegenüber darauf hinaus, dass eine nicht von einer Seite erzwingbare Kooperation zwischen Gott und seinem freien Ebenbild, dem Menschen, erst die Bedingung dafür sein kann, dass bestimmte ethische Güter und Werte in der Welt ihre Realisierung erreichen: „Auf dem Grundsatz, dass Gott einige Güter und Werte nicht unabhängig von der nicht erzwingbaren Partizipation des Menschen zu realisieren fähig sei, basiert Stumps eigene Deutung der Praxis des Bittgebets“30. Insofern besteht die Beschränkung der klassischen Theismen nicht nur in den üblichen Aporien, in die die Freiheitsthematik – auch angesichts des Übels und des Bösen – führt, sondern auch darin, dass sie das personale Moment dieser Beziehung überhaupt nicht in den Blick nehmen, da sie den dafür notwendigen sozialen (rituellen) Kontext überspielen. Aber genau auf diesen zielt u.a. das Bittgebet. Was bei Stump allerdings lediglich Resultat eines theoretischen Überdenkens klassischer Axiome ist, zeigt sich noch deutlicher, wenn man auf die wechselseitige Verschränkung von religiöser Praxis und kognitiver Überzeugung achtet, der Gottesbilder entstammen. Schon Rudolf Bultmann hat im Zusammenhang der Verkündigung Jesu darauf aufmerksam gemacht, dass Allmachtsgedanke und Bittgebetspraxis nur dann miteinander versöhnt werden können, wenn auch ersterer keine theoretische, d.h. metaphysische Überzeugung oder Implikation eines bereits feststehenden Gottesbegriffs meint: In der Tat ist im Bittgebet der Allmachtsgedanke aufgehoben; aber daran wird nur wieder sichtbar, daß der Allmachtsgedanke als allgemeine Wahrheit, als theoretische Betrachtungsweise nicht in die Gottesanschauung Jesu hineingehört. Gewiß ist Gott für Jesus allmächtig, aber im Bittgebet liegt das Eingeständnis, daß der Allmachtsgedanke dem Menschen gar nicht als Betrachtungsweise zur Verfügung steht, daß der Mensch tatsächlich gar nicht die Anschauung von Gott dem Allmächtigen hat. Ebendeshalb aber ist das Bittgebet die Sache des Menschen, der seine Situation vor Gott recht erfaßt; wollte er um des Allmachtsgedankens auf das Bittgebet verzichten, so würde er sich eine Anschauung Gottes anmaßen, die er gar nicht hat.31
A.a.O., 84. AMOR, CHRISTOPH J., „Bittet, und ihr werdet empfangen“. Das Bittgebet in der aktuellen Debatte, in: FZPhTh 56 (2009), 234. 31 B ULTMANN, R UDOLF, Jesus (1926), Tübingen: Mohr NA 1983, 127f. Bultmann verabschiedet sich dabei nicht von der Vorstellung der göttlichen Allmacht, bettet sie aber in die Glaubenspraxis ein und begrenzt dadurch zugleich ihren Theorieanspruch. 29 30
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Bultmann bemüht sich darum, sowohl an der Notwendigkeit konzeptioneller Aussagen über Gott als Eigenart theologischer Reflexion festzuhalten, wie deren Einbettung in den Realitätstext religiöser Praxis und ihrer Hermeneutik nicht zu unterschlagen. Auch eine Analyse der Personalität Gottes muss um die möglichen Spannungen wissen, die sich ihr bei konzeptioneller Ausgestaltung und Rechtfertigung im Gegenüber zu den Praktiken einstellt, aus denen sie ursprünglich entspringt. Weder ist dann einfach nur der einen oder anderen Seite rechtzugeben, sondern sie müssen in ein reflexives Gleichgewicht gebracht werden. Dann allerdings kann gerechtfertigt werden, was religiös als Gott handelnd erfahren und symbolisch gedeutet wurde und umgekehrt ein selbst-reflexiver Gebrauch religiöser Symbole kultiviert werden. Anders als die meisten prominenten Stimmen im Kontext der analytischen Religionsphilosophie, die ihre Ausführungen zum (Bitt-)Gebet in eine umfassende Verteidigung theistischer Gotteskonzeptionen einbetten, stehen Positionen aus der Tradition der Sprachphilosophie des späten Wittgensteins dem Theismus generell viel skeptischer gegenüber. Hartmut von Sass bspw. versucht im Gefolge Dewi Z. Phillips die Praxis des Betens vom theistischen Vokabular zu lösen und dadurch zugleich die intellektuelle Unhaltbarkeit der „(krypo)theistischen Phantasien“32 zu erweisen. Von Sass geht in umgekehrter Richtung wie Stump vor: Für ihn stehen nicht bestimmte metaphysische Axiome im Vordergrund, die es mit der Praxis des Betens zu vereinbaren gilt, sondern letztere bildet umgekehrt einen wesentlichen Kontext für die hermeneutische Arbeit am Gottesbegriff. Wörter, wie ‚Gott‘ sind eingebettet in kulturell gewachsene, religiöse Sprachspiele, in der sie lebensformprägend sind. Hierzu zählen im Christentum selbstverständlich personale Metaphern zur Charakterisierung Gottes: Von Gott als dem geistig Gegenwärtigen in personalen Metaphern zu sprechen, wird nur dem als ‚zu wenig robust‘ erscheinen, der erstens davon ausgeht, dass Gott überhaupt jenseits figürlicher Rede zur Sprache kommen könnte, und der zweitens übertragene und übertragende Rede als uneigentlich-ersetzbar geringschätzt und darin verkennt, dass Metaphern (…) durchaus eigentliche Redeweisen darstellen33.
Davon zu unterscheiden und fernzuhalten sind aber theistische Vokabulare, die den Anspruch einer metaphysischen Theorie verfolgen. Hierunter zählen auch die illegitimen Fassungen personalistischer Gottesbegriffe. Auch das Beten darf nicht dahingehend missverstanden werden, als würden religiöse Menschen darin irgendwelche metaphysischen Behauptungen über die Welt artikulieren.
32 VON SASS, H ARTMUT, Unerhörte Gebete? Das Bittgebet als Herausforderung für ein nachmetaphysisches Gottesbild, in: NZSTh 54 (2011), 39–65, 64. Der Theismus wird in diesem auch sonst reichlich polemisch gehaltenen Artikel als „(Miss-)Stimmung“ (a.a.O., 49) bezeichnet. 33 Ebd.
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Vielmehr stellt es eine existentielle Praxis in der „Form des Sich-Selbst-Verstehens“34 dar. Von Sass betreibt eine radikalhermeneutische Wende in seinem Bemühen um ein adäquates Verständnis von Gott und Gebet. Seine modale Gotteslehre zielt darauf, die Theologie vor überzogenen Ansprüchen zu bewahren, die in der Gefahr stehen, ihre Rückbindung an das Sprachspiel des christlichen Glaubens (und damit des Christentums als Lebensform) zu verlieren. Das bedeutet nicht, dass es keine Rückwirkung von der Praxis auf die Ebene der Überzeugung gibt. Die Analyse des Sprachspiels des Betens hat Einfluss auf die Formulierung des Gottesglaubens und dann auch der Gotteslehre: „Als betender Mensch ein anderer sein wollen, indem man sich im Gebet durch Anderes anders versteht, lässt uns auch das Andere anders (...) verstehen – also: dieses selbst anders (...) sein: „Gottes Sein ist im Werden“!“35 Besteht in solchen Ansätzen die Gefahr, den Glauben als Sprachspiel auf eine gegenüber anderen Sprachspielen immune und inkommensurable Größe festzulegen und damit Religion als kulturelle Lebensform potentiell von anderen Lebensbereichen abzuschotten, so bleibt doch ihr hermeneutischer Ansatz in Geltung. Allerdings vermag diese ihre Leistungsfähigkeit nur dann voll zu entfalten, wenn sie nicht einfach auf das Verstehen einer bestimmten Sprach- und Denkpraxis reduziert wird, sondern sich auch in eine über diesen Bereich hinausgehenden Weise explizieren lässt. Im Grunde heißt das eben, den metaphysischen Anspruch nicht auszusparen. Weil sich theoretische Überzeugungen, wie sie praktischen Handlungszusammenhängen entspringen, selbst wiederum in der Praxis bewähren müssen, indem sie helfen Realität symbolisch zu erschließen und zu bearbeiten, darum bedarf es gegen die hier nur stereotyp skizzierten Positionen eines reflexiven Gleichgewichts von hermeneutischer Erschließung und vorsichtiger metaphysischer Explikation. Auf der Fluchtlinie unserer kulturtheoretischen Überlegungen im Anschluss an Cassirer gilt daher, was Max Scheler in nicht psychologisch-hermeneutischer Verengung bemerkt hat: das religiöse Erlebnis wird erst vollständig und erst geformt in kultischem Ausdruck und kultischer Darstellung des religiösen Erlebens. Darum gilt für alle historische Erkenntnis der
A.a.O., 60. VON SASS, HARTMUT, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie (HUTh 62), Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 340. – Nicht klar wird allerdings, was das eigentlich bedeuten soll, dass Gottes Sein (!) im Werden ist; welche Indizien dafürsprechen und ob diese, ggf. anders gedeutet, als solche auch außerhalb des Sprachspiel des Glaubens identifizierbar sind. 34 35
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Religion das strenge Wesensgesetz, daß Kult und religiöse Objektideen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander wechseln (…) Wer kniend betet, betet in einer anders gefärbten Idee von Gott, als wer stehend betet.36
2.2 Typen religionsphilosophischen Nachdenkens über Gott und das Gebet Nun könnte es der einseitigen Fokussierung auf das Bittgebet geschuldet sein, dass man der Krise des Theismus überhaupt so einen gewichtigen Stellenwert zuschreibt. Würde sich nämlich zeigen, dass das Bitten in der religiösen Praxis gar nicht die Bedeutung hat, die ihm hier noch zugemessen wird, und könnte ferner nachgewiesen werden, dass sich Überzeugungen über Gott kaum mehr ihrer Verankerung im rituellen Handeln und dessen symbolischen Ausdruck verdanken, dann wären die bislang angestellten Überlegungen an ihr Ende gekommen. Doch zeigt ein Blick in die religionsphilosophische Literatur, dass es vielerorts Sensibilitäten dafür gibt, noch jenseits einer Konzentration auf das Bitten, den systematischen Zusammenhang zwischen der kulturellen Vielfalt religiöser Praxis in Gestalt des Betens und der darin symbolisch gespeicherten Wirklichkeitserfassung – in Form von religiösen Überzeugungen von Gott – hermeneutisch zu erschließen. In der Vermutung, durch eine Beschäftigung mit solchen Positionen weitere Gründe für die Genese und Sinnhaftigkeit eines als expressiv verstandenen personalen Theismus zu erhalten, unternehme ich in diesem Abschnitt eine idealtypische Darstellung von vier Positionen.37 Die dafür herangezogenen Ansätze stehen jeweils exemplarisch für eine philosophische Richtung mit einer ihr entsprechenden methodischen Zuspitzung. Der Reihe nach gehe ich zunächst nochmals auf einen Ansatz aus der analytischen Religionsphilosophie ein (1), um sodann einen stärker religionsgeschichtlich arbeitenden (2) und danach einen strikter phänomenologisch operierenden Zugang (3) vorzustellen. Abschließend soll dann erneut eine Position im Mittelpunkt stehen, die sich der hermeneutischen Erweiterung von Einsichten der Philosophie des späten Wittgensteins bedient (4). Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sich über die Analyse des Betens zugleich eine Hermeneutik des Sinns der Rede von Gott bei den verhandelten Autoren einstellt.
36 SCHELER, M AX, Gesammelter Werke, Bd. 5: Vom Ewigen im Menschen, hg. v. Maria Scheler, Bern: Francke 41954, 260. – Mit dem Verweis auf Scheler wird nicht an dessen metaphysischen Theorierahmen angeknüpft. Wohl aber steht dieses Zitat, entnommen der religiösen ‚Noetik‘ wie sie sich am Kultus und seinen Praktiken orientiert, ganz im Einklang mit Cassirers Überlegungen. Beide Denker zielen letztlich auf die Verschränkung von Innenund Außenseite, von symbolischer Artikulation und theoretischer Behauptung. 37 Dabei muss ich unterstreichen, dass die Typologie nicht vollständig ist. Wichtige Positionen aus der Tradition jüdischer Theologie und Religionsphilosophie sowie aus dem Bereich der Prozesstheologie bleiben ausgespart. Immerhin komme ich auf erstere unter dem dritten Typus (kurz) zu sprechen.
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(1) Vincent Brümmers (*1932) Studie Was tun wir, wenn wir beten? verbindet eine Untersuchung zur Rolle des Betens mit einem offensiven Bekenntnis zum klassischen Theismus.38 Die Fragerichtung des Buches lautet, „was für ein Verständnis von Gott wir voraus[setzen], wenn wir ihn in unseren Gebeten anreden?“39 Anders als etwa in Swinburnes Klassiker über Die Existenz Gottes knüpft hier ein Autor analytischer Provenienz an eine religiöse Handlungsform an, um über deren Analyse ein sinnvolles Gottesverständnis zu entwickeln. Allerdings verbleibt auch er im Rahmen dessen, was ich in § 1 einen definitorischen Theismus genannt habe. Denn die Untersuchung des Gebets folgt der Abfolge der klassischen Attribute und Annahmen über Wesen und Natur Gottes: ‚Allmacht‘, ‚Allwissenheit‘, moralische ‚Güte‘, ‚Unveränderlichkeit‘ etc. Brümmer geht es darum, aufzuzeigen, inwiefern sie Voraussetzungen für eine sinnvoll rechtfertigbare Praxis des Betens bilden. Dabei setzt Brümmer einen Schwerpunkt auf das Bittgebet, ohne jedoch seine Analyse darauf zu beschränken. Ganz allgemein wird Gott im Gebet als ein personales Gegenüber gefasst, zu dem der Mensch in einer symmetrischen Beziehung stehen kann: Das „Verhältnis, das im Gebet vorausgesetzt ist“, ist „eine personale Beziehung (…) ein Verhältnis zwischen handelnden Personen, das (…) symmetrisch ist.“40 Die Qualität des Handlungskontexts ist dabei entscheidend. Mit ihm ist sowohl das Handeln Gottes in der Welt, wie es u.a. im Gebet diagnostiziert wird, als auch die Absicht, dieses bittend mit zu beeinflussen, betroffen. In diesem Sinne verändert das Gebet nicht nur die Beziehung von Gott und Mensch, sondern auch die beiden Relationsgrößen.41 Deswegen und weil die Wirklichkeit, in der gebetet wird, als geschichtliche kontingent ist, lehnt Brümmer die Unveränderlichkeit Gottes als ein Axiom philosophischer Theologie ab. Sie widerspricht ihm zufolge ebenso sehr dem als treu vorgestellten personalen Wesen Gottes42, wie sie das Bittgebet sinnlos machen würde: Wir können zusammenfassen, daß Gott einerseits eine Person ist und sich deshalb in bestimmten Hinsichten verändern kann (z.B. indem er wirklich auf kontingente Ereignisse und menschliche Handlungen reagiert), und andererseits können wir daran festhalten, daß er in anderen Hinsichten unveränderlich ist: wir können ihm vertrauen, daß er in seinem Wesen treu bleibt.43
38 B RÜMMER, V INCENT, Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung (Marburger theologische Studien 19), Marburg: Elwert 1985. – Die im Vergleich zu den anderen drei Positionen kurze Beschäftigung mit Brümmer ist deswegen gerechtfertigt, weil schon in § 1 auf wesentliche Schwierigkeiten analytischer Ansätze hingewiesen wurde. 39 A.a.O., IX. 40 A.a.O., 73. 41 A.a.O., 71. 42 Klar und deutlich negativ formuliert: „Wenn Gott sich in keiner Hinsicht verändern könnte, wäre er keine Person“ (a.a.O., 40). 43 A.a.O., 40.
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Lediglich in seinem Charakter als personal-treues Wesen ist Gott demnach unwandelbar. Zugleich aber handelt und kooperiert er mit den Menschen in einem nicht abschließend determinierten Universum. Brümmer verdeutlicht seine These mit der Rede von der doppelten Täterschaft44, wonach wir ein personales Verhältnis zwischen Gott und Mensch voraussetzen müssen, wenn wir das Bittgebet als wirkliche Bitte und nicht nur als Ausdruck der Abhängigkeit von Gott interpretieren wollen. Das impliziert wiederum, daß Gott tatsächlich ein nicht-deterministisches Universum geschaffen hat, in dem Gott und Mensch handelnde Personen sind.45
Brümmers Vorgehen kommt unserem Anliegen in manchem nahe, wenn auch nicht in methodischer Hinsicht. Aber er versteht richtig, dass die Pointe eines theistischen Gottesverständnisses, wie sie sich u.a. in der Praxis des Gebets artikuliert, vornehmlich in zweierlei besteht: der Auffassung von Personen als spezifische Handlungsakteure und einem Verständnis der Realität, des Universums, als offen und kontingent. Insofern ist auch an der Behauptung einer das Gebet notwendig begleitenden symmetrischen Beziehung zwischen Gott und Mensch(en) nichts zu kritisieren. Die Unterstellung, hiermit würde der monotheistische Kern der Gotteslehre gefährdet, würde nur dann greifen, wenn man jenen abstrakt am Aufweis einer strikten Asymmetrie festmachen wollte.46 Entscheidend ist vielmehr, was genau unter symmetrisch verstanden werden kann.47 Kritisch zu betrachten ist allerdings Brümmers fast schon zwanghaftes Bemühen, die metaphysischen Attribute zu retten. Eine eingehendere Analyse der vielfältigen Gestalten des symbolischen Geschehens des Betens hätte davor bewahrt, doch noch in den Verdacht einer bloßen Repristination theistischer Bestände zu geraten48. (2) Die historisch gewachsenen und kulturell vielfältig ausgeformten Weisen des Betens stehen demgegenüber in der Tradition einer religionsgeschichtlich verfahrenden Religionsphänomenologie des Betens im Mittelpunkt. Immer noch kann Friedrich Heilers (1892–1967) großes Werk über Das Gebet aus dem Jahr 1918 hier als einschlägig für diesen Ansatz gelten.49 Heilers Studie Vgl. a.a.O., 30–34.63–67. A.a.O., 47. 46 Zu dieser Kritik vgl.: H ÄRLE, W ILFRIED, Den Mantel weit ausbreiten. Theologische Überlegungen zum Gebet, in: Ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 283–305, v.a. 294.297. 47 Es lassen sich durchaus Beziehungen vorstellen, die einerseits wechselseitig – und darin partiell symmetrisch – zu begreifen sind und für die doch andererseits gilt, dass deren Relate unter mindestens einem zentralen bestimmten Aspekt strikt asymmetrisch aufzufassen sind. 48 So sieht VON SASS, Unerhörte Gebete (Anm. 32), 44–46, Brümmers Unternehmen. Dieses dient ihm dazu, nicht den Theismus zu widerlegen, sondern seine „Phantasmen etwas näher zu bestimmen“ (a.a.O., 43), was allerdings einer Widerlegungsstrategie qua Entlarvung gleichkommt. 49 H EILER, FRIEDRICH, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München: Reinhardt 21920. 44 45
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verbindet in der Tradition liberaler Theologie eine Wesensanalyse der Religion mit religionspsychologischen und -historischen Erwägungen, deren Abschluss eine Metaphysik bzw. der Religionsphilosophie im engeren Sinne bilden sollte50: „Religiöse Menschen und Religionsforscher, Theologen aller Konfessionen und Richtungen stimmen in dem Gedanken überein, daß das Gebet das zentrale Phänomen der Religion, der Feuerherd aller Frömmigkeit sei.“51 Schon früh finden sich daher in vielen Religionskulturen rudimentäre Gestalten des Gebets. Heilers eigener Zugang ist entscheidend von der bereits bei Tugendhat erwähnten Unterscheidung von mystischem und prophetischem Frömmigkeitstypus bestimmt. Ihr korrelieren zwei Grundtypen religiöser Praxis, die unterschiedliche Formen des Verkehrs des religiösen Menschen mit seinem Göttlichen kennzeichnen, die aber nicht zwingend durch die Alternative Meditation oder Gebet wiedergegeben werden müssen. Während das Ziel des mystischen Frömmigkeitswegs das Erlebnis des Eins-Werdens mit dem Göttlichen ist, greift der prophetische Weg mittels der Gebetspraxis zwar auch auf ‚persönliche Gemeinschaft‘ aus, diese mündet aber nicht in eine letzte ‚Vereinigung‘. Fallen „die Schranken zwischen Gott und Mensch (…) im ekstatischen Erleben: der Mensch geht in Gott auf“52, so vermischen sich beide „niemals (…) Auch die kindliche Zuversicht Jesu zum Vatergott bleibt stets eine persönliche Gemeinschaft; sie bildet sich nie zur mystischen Vereinigung fort.“53 Entsprechend formieren sich unterschiedliche religiöse Einstellungen und Mentalitäten. Idealtypisch werden erneut mystische Gelassenheit einem voluntaristischen Frömmigkeitsmuster gegenübergestellt. Weil sich beide Wege quer durch die einzelnen Religionstraditionen finden lassen, kommt es in diesen auch zeitgleich zu unterschiedlichen Ausprägungen der Gottesidee: Für den Mystiker ist Gott die wandellose höchste Realität, die der Mensch nie durch Bitten beeinflussen kann, selbst wenn er um die höchsten sittlichen Güter bäte. Dem prophetischen Glauben an die Gebetserhörung liegt die primitive Vorstellung einer realen Einwirkung des Menschen auf Gott zugrunde.54
Für Heiler weisen mystischer und prophetischer Frömmigkeitstyp je für sich Vor- und Nachteile auf. Zwar provoziert der Akt des Betens für ihn eine Ausrichtung auf eine seelisch-sittliche Persönlichkeitsmatrix, zugleich aber birgt es
50 Darin kommt sein Ansatz mit Troeltschs Theorieprogramm von Religionswissenschaft und Theologie überein. Zu Heiler siehe die Darstellung von: PYE, MICHAEL, Friedrich Heiler (1892–1967), in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München: Beck 22004, 277–289.399–401. 51 H EILER, Gebet (Anm. 49), 1. Es folgt sogleich der Verweis auf Luther, wonach der Glaube „nichts als eitel Gebet“ sei (ebd.). 52 A.a.O., 281. 53 A.a.O., 282. 54 A.a.O., 397.
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die Gefahr narzisstischen Wunschdenkens.55 Insgesamt wird jedoch seine Darstellung von einer religionsgeschichtlichen Tendenz in Richtung zu persönlichem Gebet und personaler Gottesidee beherrscht. Noch die Andacht dient vornehmlich als „Unterlage“ für das Gebet.56 Sie kann sich auch rein ästhetisch vollziehen. Erst das Gebet „ist (…) ein wirklicher Umgang des Menschen mit Gott, ein lebendiger Verkehr des endlichen Geistes mit dem unendlichen.“57 Im Gebet wurzelt und gründet lebensweltlich der personale Gottesglaube, obgleich der Glaube an die Gegenwart und Personalität Gottes als Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit des Betens fungiert58: Das Gebet ist also ein lebendiger Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten und als gegenwärtig erlebten Gott, ein Verkehr, der die Formen der menschlichen Gesellschaftsbeziehungen w i d e r s p i e g e l t . 59
Heiler sieht sehr genau, dass in religiösen Praktiken, wie dem Gebet, teils sehr umfassende Überzeugungen über die Realität zum Ausdruck kommen. Diese betreffen u.a. auch die soziale Dimension der menschlichen Lebensführung. Dennoch darf man nicht soweit gehen, hier nur die kultischen Anfangsgründe einer sich dann von ihr emanzipierenden Metaphysik zu erblicken. Denn auch das Gebet ist kein bloßer Glaube an die Realität eines persönlichen Gottes – ein solcher Glaube liegt auch einer theistischen Metaphysik zugrunde – und keine bloße Erfahrung seiner Präsenz – dieses begleitet das ganze Denken und Leben der großen Frommen. Das Gebet ist vielmehr eine lebendige Beziehung des Menschen zu Gott, (…) ein persönliches Verhältnis, ein wechselseitiger Austausch (…), ein Verkehr, eine Gemeinschaft (…) zwischen Ich und Du.60
Die Differenz zwischen religiöser Praxis und kognitiver Einstellung ist bei aller Überschneidung der Perspektiven somit einzuhalten. Nicht hierin liegt das grundsätzliche Problem dieses Ansatzes. Neben der heute als problematisch angesehenen Methode der Religionsphänomenologie ist es vielmehr der stark te-
55 Diese Spannung kommt in folgendem Zitat prägnant zum Ausdruck: „Das spontane, freie Bittgebet des naiven Menschen stellt den Prototyp alles Betens dar: es ist ein Nachhall jenes Urgebetes, das einst (…) von den Lippen des vorgeschichtlichen Menschen sich losriß und den Gebetsverkehr zwischen dem Menschen und der Gottheit eröffnet, es ist aber zugleich eine Antizipation jener grandiosen Gebetsschöpfungen, die sich auf den Gipfelpunkten des Erlebens der religiösen Genien vollzogen“ (a.a.O., 38). 56 A.a.O., 493. – Analoges gilt für die Anbetung, die noch nicht die Stufe des lebendigen aktiven Vollzuges als eines personalen Geschehens erreicht hat. Vgl. ebd. 57 A.a.O., 494. 58 Vgl. a.a.O., 490: „Der Glaube an die Persönlichkeit Gottes und die Gewißheit seiner Gegenwart sind die beiden Voraussetzungen des Gebets“. 59 A.a.O., 491. 60 A.a.O., 490.
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leologische Zug, dessen Gipfelpunkt der Religionsentwicklung in der Kombination aus Monotheismus mit individualisierender Religiosität erblickt wird, wie sie im westlichen Persönlichkeitsideal symbolisch zum Ausdruck kommt.61 In gewisser Hinsicht konterkariert Heiler damit selbst jene Vorteile, die sein Ansatz durch eine die gesamte Religionsgeschichte erfassende und die psychologischen Aspekte integrierende Phänomenologie des religiösen Lebens bereithält: nämlich die kulturelle Formung anthropologischer Zusammenhänge auf ihre Wirklichkeitsmodelle hin befragen zu können. (3) Auch der dritte Ansatz kann der breiten Tradition der Phänomenologie zugeordnet werden. Allerdings steht hier deutlich die an Husserl ausgerichtete Methode der phänomenologischen Analyse im Vordergrund. Stellvertretend sei an dieser Stelle auf Bernhard Caspers (*1931) Studie über Das Ereignis des Betens62 eingegangen, in der dieser Elemente des Denkens jüdischer Philosophen, wie Emmanuel Lévinas und Franz Rosenzweig, mit Überlegungen im Anschluss an die eigene katholische Tradition und an Simone Weil verknüpft.63 In seiner hermeneutischen Phänomenologie des Betens steht nicht die Verbindung zur Gottesproblematik im Vordergrund. Vielmehr ist sie von der Überzeugung geleitet, dass sich im Akt des Betens etwas über die Eigenart des Menschen als Menschen erschließt: „Die Frage, was Beten heißen könnte, steht und fällt mit der Frage, was es heißen könnte, daß wir uns als Menschen selbst überschreiten.“64 Der Mensch ist das sich selbst transzendieren (überschreiten) könnende und transzendierende Wesen. Diesen Gesichtspunkt gilt es in der Analyse des Gebets als Vollzug der Selbstüberschreitung vornehmlich herauszuarbeiten. Nur indirekt lässt sich dann auch andeuten, welches Gottesverständnis sich darin einstellt und ausdrückt: Es kann uns nicht darum gehen, was Beten heißt, in einem vorauszusetzenden Verständnis von Wirklichkeit und Welt – und auch Gott – zu erklären. Vielmehr kann es uns nur darum gehen, in einer Besinnung auf ursprünglich geschehendes Menschsein selber aufzudecken, was Beten bedeutet.65
61 Deswegen zeichnet Heiler das individuelle Gebet als höchste Form religiöser Frömmigkeit aus. Vgl. ebd. 62 Vgl. C ASPER, B ERNHARD, Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens, Freiburg i.B./München: Alber 1998. 63 Methodisch zeigt sich in Caspers Vorgehen die Verbindung aus Hermeneutik und Phänomenologie, wie sie insbesondere auch für den frühen Heidegger durchaus einschlägig war. Vgl. nur dessen Vorlesung „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ von 1920/1, jetzt in: HEIDEGGER, MARTIN, Gesamtausgabe, II. Abteilung Vorlesungen, Bd. 60 (= GA II/60), Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt/M.: Klostermann 1995, 3–156. 64 C ASPER, Ereignis des Betens (Anm. 62), 20. 65 A.a.O., 17. – Hier scheint der Zusammenhang zwischen Gottes- und Gebetslehre zunächst gekappt zu werden. Allerdings wird er später über die fundamentalanthropologische Betrachtung wieder eingeführt.
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Für Casper lässt sich der zur Selbsttranszendierung fähige Mensch als jemand beschreiben, der sich selbstgewahr auf seine Endlichkeit und die zeitliche Gestalt seiner Identitätssuche bezieht. 66 Diesen Vorgang kann der Mensch sprachlich artikulieren und gestalten. Sprache wird dabei im phänomenologischen Sinne nicht (primär) unter propositionalen Aspekten betrachtet. Vielmehr wird sie von der Rede in Gestalt der Anrede her verstanden. Ihr eignet ein wesentlich responsorisches Wesen. Ganz auf dieser Linie lässt sich mit Lévinas dann feststellen: Das „Wesen des Diskurses ist Gebet. Was den Gedanken, der auf ein Objekt gerichtet ist, von der Verbindung zu einer Person unterscheidet, ist, daß sich in dieser ein Vokativ ausspricht: was hier genannt wird, wird gleichzeitig gerufen.“67 Scheint diese Tendenz auf ein personal gefärbtes Verständnis des Göttlichen zu verweisen, so bleibt Casper demgegenüber zögerlich. Stattdessen geht es ihm darum, über den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sprachlichkeit einen weiteren Aspekt der condition humaine hervorzuheben, der sich im Akt des Betens artikuliert. In der Erfassung der Geschichtlichkeit seiner Existenz wird dem Menschen seine Eigenart als responsorisches Wesen bewusst. Not wie Notwendigkeit des Betens vollzieht sich in der Wahrnehmung von Zeit und deren kontingent-prekären Zügen.68 Darüber vollzieht sich in herausgehobener Weise die Verantwortlichkeit des Menschen. So erweist sich das Gebet in seinem Geschehen als seinem innersten Wesen nach responsorisch. Es ereignet sich als Antwort. Schon dies, daß wir uns Zeit nehmen in unserem ansonsten endlich verzweckten Uns-zeitigen, dies schenkt sich. Bereits das Innehaltenkönnen selbst ist Gabe. Derart trägt sich das Gebet von seiner innersten Mitte her zu als Geschehen eines menschlichen Verhältnisses freier Gegenseitigkeit.69
Das Gebet gründet sich somit für Casper in einem „vorgängigen unendlichen und unbedingten Angegangenwerden“70. Darin geschieht sowohl Sammlung wie Bündelung von Aufmerksamkeit. Der monotheistische Akt des Betens wird von ihm als „latreutisch“ bezeichnet. Aus-Sich-Heraustreten und das Vom-Anderen-Her-Beschenktwerden bilden die beiden Pole ein und desselben Geschehens (von Transzendenz). Und durch Klage, Bitte, Lob, Dank etc. wird die jeweilige qualitative Stimmung der Lebenssituation durch diverse Formen des Betens prägnant (gehalten). Als Maßstab für ein echtes, d.h. der Fähigkeit des Menschen zur Selbsttranszendenz entsprechendes Beten dienen die Aspekte der Anbetung sowie des Sich-Öffnen-Lassens vom Anderen her bzw. des Sich-Öff-
Vgl. die eindrücklichen Analysen in: a.a.O., 31–42.54–72. LEVINAS, EMMANUEL, Ist die Ontologie fundamental?, in: Ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übersetzt und hg. v. Frank Miething, München: Hanser 1991, 11–23, 19. – Vgl. auch: CASPER, Ereignis des Betens (Anm. 62), 37. 68 Vgl. C ASPER, Ereignis des Betens (Anm. 62), 49. 69 A.a.O., 70. 70 Ebd. 66 67
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nen-Könnens auf den Anderen hin. Wo das Beten von aller Fixierung auf endliche Idole frei wird, geschieht eine dreifache Erweiterung und Findung des Ichs als Mich: ich werde hinaufgehoben, verwandelt und darin aufbewahrt.71 Daß dies geschieht, kann sich mir aber nur schenken. Vertraue ich ich nicht mehr auf das Geschehen dieses Sich-schenkens, dann kann das „Beten“ mit einer sonst nicht möglichen Intensität in reine Selbstbehauptung umschlagen. Es nimmt dann den Charakter der Beschwörung und der Magie an.72
Der Gefahr der Idolisierung – und damit des ‚Fetischmachens‘ – kann nur durch ein Insistieren auf die radikale Transzendenz des Göttlichen und dessen pure Freiheit des Sich-Schenkens (Gnade) gewehrt werden. Auch deswegen hält sich Casper zurück, wenn es um eine Ausbuchstabierung der im Beten implizierten Gotteslehre geht. Das monotheistische Bilderverbot umgreift gleichsam die latreutische Gebetslehre. Lediglich die im Beten sprachlich in Anspruch genommene und bezeugte Konstellation lässt als eine Möglichkeit ein personales Gottesverständnis durch die Hervorhebung der responsorisch-dialogischen Züge zu: In dem Ereignis des latreutischen Geschehens sagen Menschen in ihrem Sich-zeitigen selbst jeweils etwas über sich selbst und über Gott oder das Göttliche oder auch Namenlose, von dessen Anruf her sie leben, – und über die Welt, die ihnen über alle vergegenständlichte Erfaßbarkeit hinaus in ihrem Sinn als eine solche – oder solche aufgeht. Das Sich-Einlassen in dieses Ereignis eröffnet so aber jeweils den Weg, den Menschen gehen, – zum Unheil oder Heil.73
Die für die Religion als symbolischer Form eigentümliche Verschränkung von Gottes-, Selbst- und Welterkenntnis wird im Vollzug des Betens besonders ausdrücklich. Ob darin aber auch von einem personal erfassten Göttlichen die Rede ist, hängt nicht so sehr nur vom symbolischen Vokabular ab. Vielmehr bedarf die Rede vom Responsorischen einer genaueren Klärung: Ist dies auch im Sinne eines wechselseitigen Reagierens zu verstehen, in das uns das Beten als expressive Handlungssituation stellt oder bleibt es bei der hermeneutisch weicheren Fassung, wie es der pathische Modus des Affiziert-Werdens im Verbund mit einer Ordnung des Ereignens vermuten lässt?74 (4) Diese Verschränkung von Gott-, Welt- und Selbstverstehen prägt schließlich auch den vierten Typ, der die hermeneutische Analyse mittels Einsichten aus der Sprachphilosophie des späten Wittgensteins vornimmt. Im Folgenden Vgl. a.a.O., v.a. 28–30.152f. A.a.O., 143. 73 A.a.O., 156. Deutlich wird in diesem Zitat, dass Casper mehrere Optionen zulässt. Daher spricht er zum einen in offener Weise von ‚Gott‘, ‚Göttlichem‘ und ‚Namenlosen‘, präferiert zum anderen aber an dieser Stelle statt des stärker personalen Ausdrucks der ‚Anrede‘ den unpersönlicheren, aber nicht a-personalen des ‚Anrufs‘. 74 An dieser Stelle trennen sich m.E. phänomenologisch-hermeneutische Wege von stärker pragmatistischen Ansätzen. 71 72
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soll dies anhand von Dewi Z. Phillips (1934–2006) und seiner zuerst 1965 erschienenen Studie The Concept of Prayer75 gezeigt werden. Grundlegend für Phillips ist die Verschränkung von Sprachspiel und Lebensform, wie es jede religiöse Praxis kennzeichnet. Um die Bedeutung religiöser Ausdrücke und Praktiken erfassen zu können, muss bei der Interpretation darauf geachtet werden, was Gläubige mit ihnen in Anschlag bringen.76 Dabei unterscheidet sich die philosophische Analyse des Gebets vom Selbstverständnis des betenden Menschen dadurch, dass sie nicht Ausdruck eines Glaubens ist, sondern in konzeptioneller Hinsicht über den Gebrauch der religiösen Sprache die orientierende Funktion dieses Sprachspiels als Lebensform zu ermitteln sucht. Das Gebet ist deswegen ein besonders aufschlussreiches Phänomen, weil sich in ihm im Modus des Sagens und Tuns zeigt, was das Wort ‚Gott‘ konkret in seinem Gebrauch in der Sprache bedeutet (bzw. bedeuten kann). Allerdings: „Dem Gebet eine deskriptive Hauptrolle zuzuweisen, verdankt sich bei Phillips keiner theologischen Entscheidung, zumal es nirgends als gesonderte ‚Anredeerfahrung‘ oder ‚religiöse Grundsituation‘ in Betracht kommt.“77 Vielmehr verknüpft Phillips ein kritisches und ein konstruktives Element in seiner Untersuchung: „My arguments have a destructive and a constructive aspect: I want to stop ways of talking about prayer which lead to confusion, but also I want to try to say what people are doing when they pray.“78 Aufschlussreich ist, dass der destruktive Aspekt genau jene Kombination von theistischem Gottesglauben und Gebetspraxis betrifft, um die es uns hier geht. Die Rede vom Gebet als Rede zu Gott ist für Phillips schlicht eine falsche Schlussfolgerung, da sie den Rahmen des religiösen Sprachspiels sprengt. „If God is not a participant in language, how can one say anything to God?“79 Beten ist zwar ein Sprechakt, aber eben keine Kommunikation zwischen zwei Partnern. Dieses Modell scheint jedoch allen personalen Theismen zugrunde zu liegen. Weil für Phillips Personen wesentlich ‚language-users‘ sind, kann Gott als
75
Vgl. PHILLIPS, DEWI Z., The Concept of Prayer, London: Routledge & Kegan Paul
21968.
A.a.O., 1. VON SASS, HARTMUT, Sprachspiele des Glaubens. Eine Studie zur kontemplativen Religionsphilosophie von Dewi Z. Phillips mit ständiger Rücksicht auf Ludwig Wittgenstein (RPT 47), Tübingen: Mohr Siebeck 2010, 384. 78 PHILLIPS, The Concept of Prayer (Anm. 75), 28. 79 A.a.O. 53. – Zum Problem von ‚Prayer and the Concept of Talking‘, siehe: a.a.O., 41– 52. Die Stärke, die in dieser Destruktion des Kommunikationsmodells liegt, ist, wie gleich oben noch gezeigt werden soll, dass sie nicht einfach auf eine Kritik der Gottesbeweise oder der Verifikation der Gottesrede im religiösen Akt zielt, sondern dass sie stattdessen immanent auf die Schwierigkeiten eines Kommunikationsmodells für die Analyse des Gebets verweist. 76 77
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Person nicht gedacht werden.80 Dies gilt noch vor allen anderen Schwierigkeiten, die klassische Theismen mit sich führen. Doch sein Argument gegen das Gebet als Kommunikationsform wiegt noch schärfer. Denn: To construe the philosophical problem concerning prayer as the problem of finding out whatever the believer is speaking to someone when he prays, is to make the distinction between talking to God, and believing that there is a God to talk to.81
Schon mit dieser Unterscheidung gerät man auf falsche metaphysische Pfade. Zwar ist Beten „talking to God, and the divinity of the object determines the nature of the talk“82; auch kann die Bedeutung von ‚Gott‘ nur über die Analyse der religiösen Sprechakte erfolgen, in die dieses Wort eingeführt ist; und insofern müssen noch nicht einmal personale Metaphern und Bilder für die Gottesrede ausgeschlossen werden. Gleichwohl kann es dabei nicht darum gehen, hinter den Wörtern und ihrer Funktion in den Sprachspielen eine Referenz auf etwas ‚Außer‘-Sprachliches zu vermuten. Mit der berechtigten Kritik an einem Modell personaler Kommunikation, das mit sprachfähigen Sendern und Empfängern operiert, verbindet sich bei Phillips nun nicht, wie bei anderen radikalen Spätwittgensteinianern, die Behauptung inkommensurabler Lebensformen mit geschlossenen Sprachspielen, überlappen sich doch diverse grammatikalische Ausdrücke in unterschiedlichen Sprachspielen. Eher schon sollte gegenüber Phillips deutlicher betont werden: Den interpretativen Netzen von Symbolen und Sprache nicht entkommen zu können, heißt eben auch: die interpretierte Realität lässt darin nicht einschließen. Es gibt eine darüber hinausreichende Irritations- und Störanfälligkeit all unserer Sprachspiele. Noch Wittgensteins dunkel-geniale Bemerkung, wonach man Gott immer nur mit einem selbst reden ‚hören‘ kann, aber nicht mit Anderen, steht unter dieser Bedingung.83 Wenn nun aber Realität nicht in unserer sprachlich erschlossenen Wirklichkeit aufgeht, dann provoziert das – keineswegs nur philosophische – Anschlussfragen.84 Das affirmative Interesse von Phillips hingegen kulminiert in einer Aneignung christlicher Überlegungen zum Selbst-Verständnis des Menschen im Akt
Vgl. a.a.O., 43. A.a.O., 38. 82 A.a.O., 43. 83 Vgl. W ITTGENSTEIN, LUDWIG, Zettel Nr. 717, in: Ders., Über Gewißheit, Werkausgabe 8, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 259–444, 443. – ‚Genial‘ nenne ich diese Bemerkung, weil sie noch für den Akt des kollektiven Betens auf die teilnehmende Position des einzelnen Subjekts beharrt. ‚Dunkel‘ bleibt sie, weil sie als dezidiert ‚grammatische Bemerkung‘ kaum Aufschluss darüber gibt, was hier als kritikwürdige Gegenposition fungiert. 84 Eine stärker realistische Lesart des späten Wittgenstein, die auch jene (metaphysisch anmutenden) Anschlussfragen zulässt, die Phillips eher außen vor lassen will, hat Hilary Putnam vorgelegt: vgl. PUTNAM, HILARY, Für eine Erneuerung der Philosophie. Aus dem Amerikanischen, Stuttgart: Reclam 1997, 187–200.201–226. 80 81
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des Betens. In diesem religiösen Sprachspiel versteht sich der Mensch als absolut abhängig in seinem Leben. Nicht Gott verändert sich darin, sondern mit Kierkegaard geht es um die Veränderung des eigenen Selbst: ‚… prayer does not change God, but changes him who offers it‘ (…) My thesis is that prayer, being an act of devotion, the dependence of God it entails is best understood in terms of that devotion (…) The point of praising God is in the prayer itself, since without prayer, that devotion is not expressed.85
Im expressiven Akt des Betens kommt die religiöse Selbstorientierung zur Geltung: „God is told nothing, but in the telling, the person who confesses is told something about the state of his soul.“86 Im kontemplativen Danken wie Bitten um Vergebung erhält der Beter Hoffnung für sich und die Welt und wird sich somit der Sinnhaftigkeit seines Lebens bewusst.87 Auch bei Phillips kommt der Kontingenz der Welt und der eigenen Existenz große Bedeutung zu. Sie wird aber mehr lebenspraktisch gedeutet als durch religiöse Praxis qualitativ erfassend umgestaltet, so könnte man sagen. Insofern bleibt das Beten ein Akt des sich im Modus des selbst Aussprechens unter Rekurs auf ‚Gott‘ als vom Anderen her Neu-Verstehens.88 Die Frage, die sich daraus ergibt, ist nun aber, ob die Bedeutung von ‚Gott‘ in ihrer hermeneutischen Funktion aufgeht oder ob sie zwar nicht einfach auf etwas ‚außerhalb‘ ihrer selbst, wohl aber auf etwas nur durch sie konkret als ‚real‘ Erfasstes verweist. Welcher Status kommt dem im Wort ‚Gott‘ gefassten Inhalt zu, wenn Phillips schreibt: „If the notion of God as a Spirit is taken seriously (…) prayer is a participation in that spirit; a practice of its presence.“89 Phillips betont zu Recht, die Bedeutung und lebenspraktische Funktion des Wortes ‚Gott‘ müsse jeweils aus dessen kultureller Verwurzelung in einer religiösen Tradition und seiner gegenwärtigen kulturellen Einübung ermittelt werden. To sum up. One cannot pray to know God’s will unless God’s will is already known (…) By ‚already known‘ I refer to the communal concepts of God which determine the broad limits of what the will of God could and could not be, in sympathetic or unsympathetic relation to which the individual believer prays to know the will of God. 90
PHILLIPS, The Concept of Prayer (Anm. 75), 109. A.a.O., 59. 87 Vgl. A.a.O., 105. 88 Im Vordergrund stehen demnach bei Phillips die Momente von Abhängigkeit, Dankbarkeit und Hingabe im Gebetsvollzug. Dies betont zu Recht: VON SASS, Sprachspiele (Anm. 77), 387–391. 89 PHILLIPS, D EWI Z., The Problem of Evil and the Problem of God, Minneapolis: Fortress Press 2004, 223. 90 PHILLIPS, The Concept of Prayer (Anm. 75), 157. 85 86
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Wegweisend bleibt dieser Ansatz in seiner Beachtung intersubjektiver Lernkontexte und historisch gewachsener Symbolsysteme. Dennoch darf eine theologische und religionsphilosophische Fragestellung sich nicht allein auf die Rechtfertigung richtigen grammatikalischen Gebrauchs von Wörtern innerhalb eines Sprachspiels beschränken, sondern muss auch über das darin angezeigte Bild von Realität diskutieren (können).91 Auch die symbolische Textur eines religiösen Sprachspiels operiert stets mit impliziten – eben ontologischen – Realitätsunterstellungen. Will man keiner generellen Skepsis an ontologischen Fragestellungen das Wort reden, was schwer zu untermauern wäre, sollte dieser Aspekt wenigstens offengehalten werden. Dann allerdings lässt sich ein abschließendes Urteil über Sinn und Unsinn personaler Gottesrede nicht abseits der Differenz von Sprachgebrauch und Realitätsimplikationen und deren Interpretation fällen. 2.3 Beten und das Problem einer Grammatik religiöser Rede von Gott: Überleitende Bemerkungen Alle vier skizzierten Positionen des Zusammenspiels von Gebetsanalyse und religionsphilosophischer Behandlung der Gottesfrage verdienen in einem oder mehreren Aspekten in unsere Überlegungen aufgenommen zu werden. Diese sollen zur besseren Vergegenwärtigung nochmals kurz erwähnt werden: (1) Der analytische Zugang ist darin vorbildlich, dass er sich bemüht, die der Gebetsthematik inhärenten ontologischen Implikationen mit Blick auf die performativ in Anschlag gebrachte Realität Gottes freizulegen. Dabei muss nicht die einzelne metaphysische Position unterschrieben werden. Aber die Einsicht, dass mit der Praxis des Betens auch eine umfassende Stellungnahme des religiös agierenden Menschen zum Gesamt seiner Realitätserfahrung vorliegen kann, ist hermeneutisch zu beachten. Auch in der Praxis des Gebets modelliert und artikuliert sich eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit, in deren Zentrum eine bestimmte Auffassung des Göttlichen vorherrscht. (2) Der religionsgeschichtlich orientierte Ansatz belehrt darüber, dass vom Phänomen des Gebets nicht abstrakt gesprochen werden kann. Praktiken und Ausgestaltungen ebenso wie symbolische Deutungen und Erklärungen sind stets schon historisch geworden und kulturell und sprachlich geformt. Dabei vermengen und überlappen sich nicht nur divergente religionskulturell entstandene Praktiken, sondern auch die darin gespeicherten und artikulierten Ideen. Ohne einer einseitigen „Ideendiffusion“ das Wort reden zu müssen, gibt es – jenseits überzogener Normativismen, die von der Idee der (göttlichen) Person oder der
91 Das bedeutet nicht, dass nur ein religiöser Denker diese Fragestellung aufgreifen könnte; eine Forderung, die geradezu absurd wäre: Vgl. dazu auch: PHILLIPS, DEWI Z., Belief, Change, and Forms of Life, Hampshire: Palgrave/Macmillan 1986, 12.
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Praxis des Gebets sprechen – Sprach- und Kulturgrenzen überschreitende Verständigungsmöglichkeiten. (3) Die fundamentalanthropologischen Implikationen, wie sie sich im Akt des Betens artikulieren, werden durch eine hermeneutisch ansetzende Phänomenologie in den Mittelpunkt gerückt. Im Sprechakt des Betens zeigt sich die personale Statur des Menschen als eines responsorischen Wesens. Dieses kann sein Leben so vollziehen, dass es sich selbst in der Überschreitung seiner selbst wiederfindet und darin verantwortlich zu sich und anderen verhalten kann. In diesen Horizont ist zugleich eingeschrieben, wie der Gegenwart des Göttlichen begegnet werden kann. Sprache wird hier nicht ausschließlich als Diskurs gefasst, sondern ebenso sehr als Medium eines umfassenderen Anrufs bzw. einer Anrede. (4) Schließlich hat der vierte Ansatz im Gefolge des späten Wittgensteins noch einmal den unauflöslichen Zusammenhang von Sprachspielen und Lebensformen herausgestellt. Deren Komplementarität wird dadurch noch intensiviert, dass sie nur handelnd vollzogen werden kann und als solche sich nur handelnd erhalten und stabilisieren lässt. Vorbildhaft ist hier, wie eine Hermeneutik des Gebets, die wesentlich eine Analyse der kulturell und symbolisch geformten Praktiken und Vokabulare darstellt, Aufschluss darüber gibt, was gemeint ist, wenn von ‚Gott‘ auf diese oder andere Art und Weise die Rede ist. Hier wird in methodischer Hinsicht mit der sozialen Rückbindung religiöser Gottessemantiken und ihrer Einbettung in ein Set von kollektiven, rituellen und ethischen Handlungen Ernst gemacht. Die einzelnen zu integrierenden Punkte sind nicht alle auf der gleichen Ebene angesiedelt. Unter ihnen finden sich sowohl methodische wie inhaltliche Aspekte, die im Fortgang der Argumentation aufgenommen werden. Trotz der Kritik am Ausschluss ontologischer Anschlussfragen galt im Vorangegangenen den Ausführungen von Dewi Z. Phillips unser besonderes Augenmerk. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass sein (methodischer) Zugriff auf die Verschränkung von Gottes- und Gebetsthematik als in besonderer Weise der Sache angemessen gewertet werden darf. An ihm zeigt sich zugleich die Komplexität, mit der es eine auf den Sinn und die Bedeutung des Wortes ‚Gott‘ in einer spezifischen religiösen Lebensform bedachte Religionsphilosophie und Theologie zu tun bekommen. Dabei kristallisierte sich als entscheidende Frage heraus, ob – in anderer Terminologie gesprochen – das mit dem Wort ‚Gott‘ Gemeinte eigentlich in seiner synkategorematischen Funktion aufgeht. Darunter ist mit Friedrich Kambartel, der diesen Vorschlag vor Jahren in die Debatte um die Bedeutung religiöser Sprachausdrücke eingebracht hat, folgendes zu verstehen: „Sprachliche Ausdrücke, die nur in einem komplexen Wortverband sinnvoll gebraucht
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werden können, heißen in der heutigen Logik im Anschluss an einen mittelalterlichen Sprachgebrauch synkategorematische Ausdrücke“92. Auch die in den vielfältigsten Formen des Gebets verwendete Anrufung des Göttlichen bei seinem Namen wäre erst dann hinreichend in ihrer Bedeutung erfasst, wenn man – was zumindest für monotheistische Religionstraditionen gilt – mit dem sprachlichen Ausdruck ‚Gott‘ eine umfassende Lebensorientierung begreifen würde. Es kommt demnach nicht so sehr darauf an, ob das Wort ‚Gott‘ zum Namen für eine Realität wird, die nicht in anderen Realitätsaspekten aufgeht, sondern eher darum, ob die Funktion der Gottesvokabel imstande ist, im konkreten Leben in umfassender Weise daseins- und handlungsorientierend zu sein: „Was man immer ‚mehr‘ oder ‚anderes‘ noch über (…) Gott glaubt sagen zu müssen, weniger als dies (…) kann es nicht sein.“93 Insofern erhält jede Gotteslehre und jede Lehre vom Gebet eine modale Zuspitzung. Und dennoch bleibt fraglich, ob damit bereits alles verstanden ist, was sich gerade am Anrufungs- und Anredecharakter des Betens zeigt. Mag sein, dass es nicht sinnvoll ist, in diesem Phänomen sofort den Ausdruck einer ontologischen Basisüberzeugung zu sehen. An der Funktion von ‚Gott‘ als Eigenname oder Nominator darf aber eine Hermeneutik des Gebets nicht einfach vorübergehen. Damit freilich kehrt die Frage nach einer möglichen, nicht im sprachlichen Ausdruck aufgehenden Referenzfunktion des Wortes ‚Gott‘ zurück. Schon in unserer handlungstheoretischen Betrachtung religiöser Erfahrung haben wir darauf verwiesen, dass keine kulturelle Praxis damit rechnen darf, die Kluft zwischen zu interpretierender Realität und ihren jeweiligen Interpretationen endgültig schließen zu können.94 Wenn also dennoch an einer Referenzfunktion festgehalten wird, dann sicher nicht im Sinne eines harten (metaphysischen) Realismus. Gleichwohl lässt sich die in der Kontingenz der Phänomene sowie in der Störanfälligkeit von Deutungen und Erklärungen ansichtig werdende Widerständigkeit von Realität nicht auflösen. Warum sollte dies ausgerechnet für die in der Religion als erfahren behauptete und symbolisch artikulierte göttliche Realität anders sein? Die irreduzible Spannung von Realität und ihrer sprachlich-symbolischen Erfassung lässt es dann aber geboten sein, auch mit Blick auf das Wort ‚Gott‘ auf dem Zugleich von dessen Referenz- und Signifikanzfunktion zu beharren. Alle Erfahrungen stellen sich in Situationen ein, auf die handelnd reagiert und die dabei zugleich symbolisch codiert und artikuliert werden. Unmittelbare
92 K AMBARTEL, FRIEDRICH, Theo-Logisches. Definitorische Vorschläge zu einigen Grundtermini im Zusammenhang christlicher Rede von Gott, in: ZEE 15 (1971), 32–35, 33. 93 TRACK, JOACHIM, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott (FSÖTh 37), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, 279. 94 Vgl. die Ausführungen in § 5.4.
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Erfahrungen gibt es demnach ebenso wenig wie bloße Widerfahrnisse.95 Mittels des Zusammenspiels von „sprachlichem Ausdruck, nicht-sprachlichem Verhalten und Situation“96 gilt es zu untersuchen, was gemeint ist, wenn in manchen Reaktionsweisen (z.B. Beten) mittels symbolischer Artikulationen bestimmte Situationen als Gegenwart von etwas spezifisch Realem (z.B. dem personalen Göttlichen) gedeutet und erfahren wird. Indem wir etwas, auf das wir reagieren, benennen, unterstellen wir allerdings auch, dass wir es als etwas erfahren und ihm dadurch Realität zusprechen. Der Kontext als ganzer kann als eine soziale Handlungssituation beschrieben werden, in der handelnd auf etwas Wider-Ständiges re-agiert wird.97 Darin gründet das Faktum, dass keine personale Gottesrede ohne Handlungssemantik denkbar ist.98 Synkategoremantische und nominatorische Verwendung des Wortes ‚Gott‘ schließen sich dabei jedoch nicht aus, sondern bedürfen einander, um der vollen Bedeutung des Wortes in seinem sprachlichen Gebrauch, seiner eine religiöse Lebensform prägenden Funktion und seiner mit beiden einhergehenden, sie auch fundierenden, Realität erschließenden Rolle ansichtig zu werden. In historischer wie genetischer Hinsicht ist allerdings der benennende Gebrauch der ursprünglichere. Er weist auf die Genese religiöser Einstellungen zurück, konkret auf jene ‚gemachten‘ Erfahrungen, wie sie – als religiöse symbolisch interpretiert – in spezifischen Handlungssituationen entstanden sind. Mehr noch aber bürgt der benennende Gebrauch der Gottesvokabel im weiteren Verlauf, d.h. wenn die orientierende Rolle hinzutritt, dafür, dass nicht vergessen wird, dass es sich bei der als göttlich (-personal) erfahrenen Realität um etwas gegenüber allen Deutungen und Interpretationen irreduzibel Eigenständiges handelt, das nicht in letzteren aufgeht.99 Von daher werden wir im Folgenden von einer ‚ontologischen Grammatik‘ sprechen müssen, die dem Sprachakt des Betens innewohnt.
Widerfahrnisse sind selbst gewiss ein Element von Erfahrung, aber sie sind noch „blind“ und werden erst durch symbolisches Handeln prägnant und darin eben als Erfahrung von Realität begriffen. 96 TRACK, Sprachkritische Untersuchungen (Anm. 93), 287. 97 Dabei erlaubt die Einsicht in die Angewiesenheit sachhaltiger Erfahrung auf symbolische Prägnanzbildung die Unterscheidung zwischen ‚Wort‘ und ‚Sache‘, sprachlichem Ausdruck und der darin zum Verständnis gebrachter Realität (als Sachverhalt). Damit wird verhindert, dass Erleben und Deuten zusammenfallen. Vgl. a.a.O., 291. 98 Track betont zu Recht den Zusammenhang von Handlungssemantik und personaler Gottesgrammatik, vgl. a.a.O., 290–304. 99 Dabei ist nicht behauptet, dass jede nominatorische Funktion des Gottesbegriffs bereits seine Personalität impliziert. 95
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3. Der Mensch – ‚das betende Tier‘: Zur ontologischen Grammatik des Betens 3. Der Mensch – ‚das betende Tier‘
Der Mensch – ‚das betende Tier‘100, damit kommt griffig zur Geltung, worum es geht, wenn wir nun auf die These von der ontologischen Grammatik des Betens eingehen wollen. Hierzu greifen wir die in § 5 wesentlich ins Zentrum gerückte Überzeugung von der Geburt der Religion aus dem Geist des Rituals erneut auf.101 Es gibt unzählige religiöse Handlungsweisen: Beschwören, Opfern, Meditieren, Singen, Tanzen etc., und eben auch Beten. Dabei treten sie häufig miteinander verbunden auf. Wer betet, kann dies gleichzeitig singend und tanzend vollziehen oder in Schweigen kniend verharren. Zwar wird der performativen Art religiöser Praktiken gegenwärtig viel Beachtung geschenkt. Unterschlagen wird dabei jedoch häufig, dass daneben zu einem vollen Verständnis auch die Analyse ihrer dabei in Anschlag gebrachten ‚ontological commitments‘ (Quine) gehört. Ein pragmatistischer Zugang darf daran nicht vorbeigehen, weswegen von einer ontologischen Grammatik im Folgenden zu reden ist. Nun bleibt das Verhältnis von ontologischen und hermeneutischen Aspekten in der Analyse religiöser Rituale umstritten. Generell lässt sich feststellen: „Ritual is a strangeley undeveloped notion in the West, and since the Enlightenment has been construed most frequentley in negative overtones.“102 Dennoch darf der rituelle Aspekt als ein, Kulturen übergreifendes, anthropologisches Moment gelten. Schwierigkeiten zeigen sich allerdings besonders dann, wenn es um mögliche ontologische Implikationen des Betens geht. Der Verdacht liegt nahe, hier würden erneut magische Vorstellungen hoffähig gemacht, die mit einem primitiven Kausalschema operieren, was wiederum zu naiven Supranaturalismen führe. Schon Friedrich Schleiermacher bescheinigte ja jeder „Theorie des Gebets“, die von einer „Einwirkung auf Gott“ und einer „Wechselwirkung zwischen Geschöpf und Schöpfer“ ausgeht, „wie wohl einige ebenso gottergebene als gläubige Christen sich zu derselben bekennen (...) einen Übergang in das Magische“103. Ihm ist darin zuzustimmen, dass es magische Verständnisse des Gebets geben kann und deswegen eine Klärung des dabei stets mit ins Spiel gebrachten Handlungsparadigmas von Nöten ist. Ob dieser Verdacht alle sog.
100 Diese Formel stammt von: H ARDY, A LISTER, Der Mensch – das betende Tier. Religiosität als Faktor der Evolution, Stuttgart: Klett 1975. 101 Als Gewährsmann dieser These steht ein: D URKHEIM, ÉMILE, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), übersetzt von Ludwig Schmidts, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, u.a. 557–562. 102 N EVILLE, R OBERT C., Normative Cultures, Albany: SUNY Press 1995, 163. – Ähnlich auch: DEUSER, HERMANN, Religionsphilosophie, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 447. 103 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH, Der christliche Glaube 2, 2. Aufl. (Anm. 18), § 147.2, 423.
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vor-aufklärerischen Gebetspraktiken und -theorien betrifft und somit ein neuzeitliches Christentum auch von allen sog. primären Religionskulturen abhebt, bedürfte sorgfältiger historischer Detailanalysen. Angesichts vielfältiger religionsanthropologischer Einsichten darf jedoch Skepsis angemeldet werden. Dennoch muss eine sorgfältige Differenz von Magie und Religion (Gebet)104 vorgenommen werden, ohne suggerieren zu wollen, es ließe sich bei den betroffenen Phänomenen jemals Trennschärfe theoretisch oder praktisch herstellen. Der Magiediskurs kann schließlich dazu verhelfen, die handlungstheoretischen Paradigmen und ihre ontologischen Implikationen, die zu divergierenden Vorstellungen vom Göttlichen und von der Rolle des Menschen in der Welt führen, deutlicher zu profilieren. Dabei kann offengelassen werden, ob sich religionshistorisch ein Wandel von eher magischen zu stärker nicht-magischen religiösen Weltbildern vollzogen und durchgesetzt hat. 3.1 Beten und der Verdacht der Magie Spätestens seit Frazers The Golden Bough105 gehören Fragen nach Ursprung und Differenz von Magie und Religion zu den immer wieder kehrenden Debatten in den religionsbezogenen Wissenschaften. Dies hängt auch damit zusammen, dass die hermeneutische Aufgabe des Verstehens fremder Kulturen deutlicher profiliert wurde. Für unser Thema ist in dieser Hinsicht die sog. The Myth and Ritual Debate aufschlussreich, da in ihr jener Zusammenhang von Ritual und Mythos grundsätzlich reflektiert wurde. Handelt es sich bei religiösen und magischen Wirklichkeitsverständnissen primär um (fehlgeleitete) kognitive oder eher (emotional basale) praktische Einstellungen? Davon betroffen ist nachgerade auch das Problem, wie in methodischer Hinsicht der Übergang von der Gebets- zur Gotteslehre vollzogen werden kann, ob der performativen Praxis des Betens grundsätzlich eine ontologische (kognitive) Stellungnahme, etwa in Form eines spezifischen Gottesglaubens, unterstellt werden darf. Der oftmals im Zusammenhang von naiven Gottes- und Gebetslehren geäußerte Magieverdacht muss deshalb daraufhin befragt werden, woran sich seine Kritik entzündet. Steht die Praxis des Betens generell in Verdacht oder geht es vornehmlich
104 Die Unterscheidung ‚Magie‘ und ‚Religion‘ ist hier rein operational verstanden. Nicht tangiert ist die Frage, die in anderer Hinsicht wohl zu bejahen ist, dass Magie durchaus auch als religiös gelten kann. 105 Vgl. dt: FRAZER, JAMES G., Der Goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker. Aus dem Englischen von Helen von Bauer, Reinbek: Rowohlt 62011. – Frazers Ausführungen haben immer wieder religionstheoretische Debatten beflügelt, nicht zuletzt im Gefolge Wittgensteins. Siehe: WITTGENSTEIN, LUDWIG, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Ders., Vortrag über Ethik und andere kleinere Schriften, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 29–46.
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darum, die im Gebetsvollzug in Anschlag gebrachten Wirklichkeitsauffassungen, die sich extrapolieren lassen, als zu Unrecht angenommene Realitätsbehauptungen zu kritisieren. Bei Frazer lagen die Dinge bekanntlich so: Magie und Religion sind beide vornehmlich als kognitive Überzeugungsmuster anzusehen. Jedoch wird die Magie durch die Religion als kulturelle Stufe abgelöst. Magische Praktiken verweisen auf eine primitive Form von supranaturalem Wissen, das sich aus heutiger Sicht in falschen Kausalgesetzlichkeiten und Analogiebildungen ausdrückt. Magie dient somit der Bewältigung von nicht anders erfassbaren Problemen, die sich dem Leben des sog. ‚Primitiven‘ stellen. Auf die allmähliche Infragestellung des magischen Weltbilds reagierte die Religion durch immer stärker transzendent werdende Vorstellungen vom Göttlichen. Durch den starken Fokus auf die mythische als kognitive Dimension des Religiösen wie des Magischen gelangte Frazer zu einer strikten Scheidung beider Größen: Während letzteres auf dem Glauben an übernatürliche Kausalmächte beruhte, bilden personifizierte Götter die Wurzel des Religiösen, da mit ihnen die Scheidung der mundanen von der divinen Sphäre erfolgt. Die Beeinflussung der Götter durch magische, d.h. bezwingende und beschwörende Praktiken wird dadurch schwieriger bzw. nichtig gemacht. Die von Frazer vorgenommene Differenz von Magie und Religion ist bis heute heftig umstritten. Für unser Thema interessant sind dabei Einwände, die Robert R. Marett (1866–1943), ein in Oxford lehrender Anthropologe, relativ früh formulierte.106 Gegen die These von der Ablösung der Magie durch die Religion und dem Verstehen der ersteren als primitiver Wissenschaft richten sich vor allem Ausführungen in seinem Aufsatz From Spell to Prayer107, der, wie der Titel schon anzeigt, unser Thema unmittelbar berührt. Sechs Gesichtspunkte sind hervorzuheben: Erstens wirft Marett Frazer vor, Religion und Magie einseitig als kognitive Größen zu begreifen und deren praktische Kontexte nachrangig zu verhandeln. Dabei sind gerade sie in den Mittelpunkt des Verstehens zu rücken. In den berühmten Worten: „savage religion is something not so much thought out as danced out“.108 Deswegen geht es Marett zweitens stärker darum, magische und religiöse Elemente auf der Ebene ritueller Handlungen 106 Einen guten Überblick zu Leben und Werk gibt: R IESEBRODT, M ARTIN, Robert Ranulph Marett (1866–1943), in: Michaels, Klassiker der Religionswissenschaft (Anm. 50), 171–184. – Zur Auseinandersetzung von Marett mit Frazer siehe die Darstellung bei: JONES, ROBERT A., The Secret of the Totem: Religion and Society from McLennan to Freud, New York: Columbia Univ. Press 2005, 162–176. 107 M ARETT, R OBERT R., From Spell to Prayer, in: Ders., The Threshold of Religion, London: Methuen 31924, 31–72. 108 M ARETT, Introduction, in: Ders., Threshold (Anm. 107), xx–xxxii, xxxi u.ö. – Mit Durkheim betont Marett historisch und genetisch die Vorordnung des Rituals vor Glaubensüberzeugungen. Kritik an Durkheim übt er aufgrund von dessem kollektivistischen Ansatz: vgl. MARETT, The Birth of Humility, in: Ders., Threshold (Anm. 107), 169–202, 181.
3. Der Mensch – ‚das betende Tier‘
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analytisch zu trennen. Mit dem Titel des Aufsatzes gesprochen, geht es um den Weg vom magischen Beschwören zur religiösen Anbetung. Drittens bleibt Marett aber auch gegenüber einseitigen Ableitungen religiöser Vorstellungen aus den spezifischen Ritualen reserviert. Hier wie an anderer Stelle konzediert er zwar eine enge Verbindung zwischen der Heraufkunft des Betens und der Tendenz zu personalen Gottesvorstellungen, das belegt aber keinen monokausalen Zusammenhang.109 Als Vertreter der britischen Sozialanthropologie betont er viertens die Rolle psychologischer Faktoren bei der Analyse von Ritualen. Religiöse wie magische Praktiken sind Artikulationsformen eines emotional getönten In-der-Welt-Seins, dessen sich Menschen symbolisch vergegenwärtigen und vergewissern. Dadurch provozieren sie Reaktionen: Religion „stands for a certain composite or concrete state of mind wherein various emotions and ideas are together directly provocative of action.“110 Insofern lehnt Marett auch fünftens die Auffassung Frazers ab, nach welcher die Magie gegenüber der Religion einer niedrigeren Stufe der sozialen Evolution angehöre. Religiösen und magischen Praktiken ist gemeinsam, dass in ihnen Gefühle wie Ehrfurcht und ‚humility‘ dominieren.111 Erst der divergente Umgang mit der dadurch zum Ausdruck gebrachten emotionalen Stellung des Menschen in der Welt markiert den Differenzpunkt. Und deshalb gilt sechstens, dass der Übergang von im engeren Sinne als magisch geltenden zu religiösen Praktiken fließend ist. Der Bruch zwischen Magie und Religion ist weder eindeutig noch zwingend einlinig112. Vielmehr beruht er auf einer Transformation symbolischer Praktiken und des Selbstverständnisses der sie Ausführenden. Modal lässt sich der Übergang an der Form des Bittens anzeigen, in dem der Übergang von einem imperativen Modus in Form des Beeinflussens und Beschwörens zu einer Handlung im Modus des Optativs gegenüber einer sakralen, göttlichen, übermenschlichen Macht beschrieben wird: „the spell pass by easy graduations into the prayer, the imperative into the optative.“113 Damit ergibt sich ein verändertes Verständnis der Art und Weise, wie mit göttlichen Mächten kommuniziert werden und wie die eigene Lebenswirklichkeit als kontingente erfasst und beeinflusst werden kann. Bis es allerdings dazu kommt, unterlaufen magische Praktiken einen mehrere Stufen umfassenden Transformationsprozess. Aus der einfachen rudimentären Vgl. MARETT, The Concept of Mana, in: Ders., Threshold (Anm. 107), 99–121, 100. MARETT, Pre-animistic Religion, in: Ders., Threshold (Anm. 107), 1–28, 5. 111 Vgl. M ARETT, The Birth, in: Ders., Threshold (Anm. 107), 171–202. Vgl. auch die Bemerkung: „magic proper is all along an occult process, and as such part and parcel of the “godstuff” out of which religion fashions itself“ (MARETT, From Spell to Prayer, in: Ders., Threshold [Anm. 107], 66). 112 Dies gilt obgleich Marett im Laufe seiner Entwicklung immer stärker einen modernistisch-entzauberungstheoretischen Blick auf die Religionsgeschichte verfolgt hat, wie Martin Riesebrodt zu Recht hervorhebt. Vgl. RIESEBRODT, Marett, in: Michaels, Klassiker der Religionswissenschaft (Anm. 50), 184. 113 M ARETT, From Spell, in: Ders., Threshold (Anm. 107), 55. 109 110
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Reaktionsweise über eine sprachlich immer feiner austarierte Ritualhandlung bis hin zu damit verbundenen Deutungen dessen, was sich mittels Magie bewerkstelligen lässt (und was nicht).114 Erst an letzter Stelle entstehen Auffassungen von einer außer-alltäglichen Macht, die quasi-personale Züge trägt, da sie als handelnd verstanden wird.115 Hier nun erreichen wir die Schwelle zur Religion, wofür exemplarisch der Übergang zum Gebet steht. Die dabei auftretende Personalisierung betrifft sowohl die ausführenden Menschen wie die Götter, zu denen Kontakt aufgenommen wird. Immer stärker wird die emotional gefärbt erfahrene kontingente Wirklichkeit unter dem Paradigma willentlicher Handlungen interpretiert, die jedoch nicht kausal beeinflussbar sind, geschweige denn als personale Mächte gebändigt werden können: [M]agic is finally swallowed up in unmistakable religion, (…) the natural outcome of such a gradually-intensifying personification. But this personification in its turn would follow naturally upon that view of the magical act which we have all along assumed to have been its ground-idea, namely, the view that it is an inter-personal, inter-subjective transaction, an affair between wills – something, therefore, generically akin to, if specifically distinct from, the relation which brings together the suppliant and his god.116
Vergleicht man Maretts Abgrenzungen von Religion gegenüber Magie mit harten Differenzkriterien, wie sie etwa bei Schleiermacher und anderen zu finden sind, so könnte der Eindruck entstehen, hier würde nachgerade das Beten wieder an magische Praktiken angenähert. Für Schleiermacher würde sich dies nicht zuletzt dadurch ergeben, dass erneut auf ein Modell göttlich-menschlicher Wechselwirkung rekurriert wird. Doch ist dies nicht zwingend. Eine weniger scharf auf harte Differenzen setzende Analyse magischer und religiöser Wirklichkeitsmodelle hat demgegenüber den doppelten Vorteil, dass sie anders als die erwähnten Alternativen keine ontologischen Zusatzannahmen hinzuziehen braucht und dennoch den entscheidenden Unterschied zwischen dem, was man ‚magisch‘ nennen kann, und dem, was ‚religiös‘ ist, nicht aus den Augen verliert: die Ablehnung eines quasi-mechanischen Modells als Rahmen für göttliche Interventionen sowie der humanen Provokation im Modus der Beschwörung. Seit ihrem ersten Auftreten haben es Religionen wesentlich mit der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Menschen zu tun117, und zwar durch 114 Aus der Sicht neuerer, religionsanthropologischer Forschung sind Maretts Ausführungen durchaus bedenkenswert, insofern er eine Anreicherung symbolischen Ausdruckshandlungen und emotiver, expressiver Handlungen durch Sprache und symbolische Techniken skizziert und es ihm dabei um die Einbeziehung evolutionärer Gesichtspunkte ohne Evolutionismus geht. Vgl. a.a.O., 40f. 115 A.a.O., 51. 116 A.a.O., 70f. 117 Darauf zielt auch die Religionstheorie des späten Marett in seinen Gifford-Lectures, derzufolge Menschen im Kult die Wiederherstellung ihres lebenspraktischen ‚Machtgefühls‘ suchen. Siehe dazu: MARETT ROBERT R., Glaube, Liebe, Hoffnung und Liebe in der primitiven Religion, Stuttgart: Enke 1936, 12.
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das Gewahr-Werden seiner Situation in einer Realität, die als kontingente stets qualitativ (emotional) erfasst und qualifiziert ist. Im Wandel vom ‚spell‘ zum ‚prayer‘ zeigt sich die veränderte Haltung zu diesen oftmals krisenhaften Lebenssituationen, die in ihrer Bestimmtheit auf personale Größen zurückgeführt werden. Die Einstellung des religiös Praktizierenden ist fortan nicht mehr die des magisch Handelnden, der durch imperatives Gebieten und Beschwören versucht, Einfluss zu nehmen, sondern diejenige eines Bittenden, der sich an ein unabhängiges, als mit Willen ausgestattet vorgestelltes göttliches Gegenüber wendet, sich darin seiner bleibenden Angewiesenheit auf es bewusst bleibt und auf diese Weise auf einen elementaren Zug des Personalen in einer prinzipiell kontingenten Realität aufmerksam wird.
*** Ethnologischer Exkurs: Beten als soziale Praxis (Marcel Mauss) Die Nähe von Religion und Magie resultiert nicht zuletzt aus Ähnlichkeiten von Reaktionsmustern gegenüber Lebenssituationen, die als krisenhaft und außeralltäglich erfasst werden. Mit Hilfe von Maretts sozialpsychologischen Überlegungen konnte dennoch eine gewisse Trennschärfe herausgearbeitet werden. Allerdings bleibt sein anthropologischer Zugang zu individualistisch verengt. Denn wie alle religiösen Rituale, so ist auch das Beten selbst ein primär sozialer bzw. kommunitärer Akt. Das gilt nicht erst ob der Tatsache, dass es zumeist kollektiv vollzogen wird. Vielmehr ist es schon von seiner Struktur her und durch seine verbalen Formulare sozietär; weswegen noch das stille, private Gebet an diesen Grundzügen partizipiert. Dies soll im Folgenden in Form eines ethnologischen Exkurses noch etwas genauer entfaltet werden, und zwar unter Rekurs auf einen frühen Text von Marcel Mauss (1872–1950), eines Neffen von Émile Durkheims, über Das Gebet aus dem Jahr 1909. Dabei werden wir sehen, dass die Praxis des Betens selbst eine ‚implikative Ontologie‘ bereithält, deren Analyse Aufschlüsse über die Art der Realitätserfassung in diesen religiösen Vollzügen gibt. Methodisch vollzieht sich diese Analyse im Modus der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ (Geertz) und dient der Erhellung einer performativen Einstellung zur Wirklichkeit. Mauss wie Durkheim betonen sowohl die rituelle Fundierung von Religion als auch ihre soziale Wirkweise als symbolische Lebensform. Divergenzen zwischen beiden bestehen vor allem hinsichtlich der Unterscheidung von Religion und Magie, die wir an dieser Stelle aber nicht weiter zu
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betrachten brauchen.118 Mauss’ Studie zum Gebet119 stellt ein frühes Zeugnis seiner Herangehensweise dar, über die Analyse bestimmter Praktiken Aufschluss über das Selbstverständnis fremder Völker und Kulturen und ihrer gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erhalten. Diese Studie dokumentiert die Verschränkung von Ethnologie, Soziologie und Religionsgeschichte und bildet so eine erste Darstellung von Mauss’ eigener Religionstheorie.120 Allgemein begreift Mauss das Gebet als einen spezifischen „oralen Ritus“121, was nicht heißt, dass alle oralen Riten Gebete darstellen. Darüber hinaus treten Gebete nicht isoliert voneinander auf, sie sind zumeist eingebettet in andere orale und manuelle Riten, wie z.B. im Rahmen des Opfers. In seiner Arbeit operiert Mauss dabei nicht mit einer festgelegten Definition von Gebet, denn die brächte immer schon das Problem einer kulturell verengten Sichtweise mit sich. Vielmehr schwebt ihm von seiner Methode her vor, das Gebet als ein Kulturen übergreifendes soziales Phänomen, und zwar über das methodische Zusammenspiel aus vorläufigem Definieren, Beobachten und Systematisieren, zu erklären.122 Als elementare Praxis religiösen Lebens ist das Beten zugleich ein soziales Faktum (Tatbestand), das für den Soziologen höchst aufschlussreich ist. Als ein solches gibt es sowohl Auskunft über den Stand der sozialen Evolution als auch über die historische Entwicklung religiöser Lebensformen und Traditionen. Schon deshalb kann der Ritus des Gebets nicht von dem ihn jeweils prägenden religiösen Mythos getrennt werden: In Wirklichkeit (…) entspricht jeder Ritus notwendigerweise einem mehr oder weniger vagen Begriff, und jede Glaubensvorstellung ruft Bewegungen hervor, und seien sie noch so schwach. Doch vor allem im Fall des Gebets liegt der Zusammenhang zwischen diesen
118 Generell gesprochen hat Durkheim ein rein pejoratives Verständnis von Magie, die keinerlei Öffentlichkeit sucht (vgl. DURKHEIM, Die elementaren Formen [Anm. 101], 72: „Es gibt keine magische Kirche.“), wohingegen Mauss deutlicher auf das unterschiedliche Abzielen von Magie und Religion verweist: Magie tendiert zum Konkreten, Religion zum Abstrakten. Das ist der Grund, warum er, ganz auf der Linie seines Onkels, vornehmlich in der Religion die gesellschaftlichen Ressourcen kollektiven Wertebewusstseins erblickt. Religion und Magie sind bei Mauss analog zu unserem Vorgehen als analytische Kategorien und als Kontrast- und Komplementärbegriffe zu verstehen. – Zum allgemeinen Verständnis von Magie, vgl.: MAUSS, MARCEL (gem. HUBERT, HENRI), Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1904), in: Ders., Schriften zur Religionssoziologie, hg. v. Stephan Moebius/Frithjof Nungesser/ Christian Papilloud, Berlin: Suhrkamp 2012, 243–402. 119 Vgl. M AUSS, M ARCEL, Das Gebet (1909), in: Ders., Schriften zur Religionssoziologie (Anm. 118), 463–598. 120 Sie war ursprünglich als Dissertationsschrift gedacht, blieb aber unvollendet und wurde außer in einem Privatdruck zu Mauss’ Lebzeiten nie veröffentlicht. Zu den Hintergründen siehe: FOURNIER, MARCEL, Marcel Mauss. A Biography, Princeton/Oxford: Princeton Univ. Press 2006, 155–160. 121 Zu den verschiedenen Typen von Riten und der Zuordnung des Gebets zu den oralen Riten, vgl. MAUSS, MARCEL, Handbuch der Ethnographie (Übergänge 60), hg. v. Iris Därmann/Kirsten Mahlke, München: Fink 2013, 295–303, bes. 300f. 122 Vgl. M AUSS, Gebet, in: Ders., Schriften zur Religionssoziologie (Anm. 118), 495–511. – Konzeptionell ist diese Methode von ihm dargelegt worden in dem frühen Aufsatz: MAUSS, MARCEL (mit FAUCONNET, PAUL), La sociologie: object et méthode (1901), in: Ders., Essais de sociologie, Paris: Seuil 1968, 6–41.
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beiden Ordnungen von Tatsachen klar auf der Hand. Hier sind die rituelle und die mythische Seite lediglich die beiden Seiten ein und derselben Handlung. 123 Das Besondere am Gebet ist nun, dass darin auch ein bestimmter Zustand der Evolution von symbolischen Kulturtechniken und -praktiken zum Vorschein kommt. Im Verbund mit mythischen Vorstellungen sticht nämlich besonders eindrücklich die Verbindung aus Handeln, Sprechen und Denken hervor. Dies privilegiert zumindest latent die oralen gegenüber bloß manuellen Riten: Nachdem es anfangs völlig mechanisch war und nur mittels der ausgestoßenen Laute wirkte, wurde es am Ende vollkommen geistig und innerlich (…) Während die manuellen Riten natürlicherweise die Tendenz haben, sich mehr nach den zu erzielenden materiellen Wirkungen zu richten als nach den Geisteszuständen, von denen sie herrühren, steht das Gebet, das Sprache ist, deshalb dem Denken näher. 124 Und so wie im religiösen Vollzug die kulturellen Symbolpraktiken eingeübt und verfeinert werden, so treibt diese Kultivierung in religionshistorischer Hinsicht zwei Tendenzen voran, die auch als allgemeinere Kulturtrends gelten dürfen: Individualisierung und Spiritualisierung. Dieses evolutionistisch anmutende Schema kommt gewiss zeittypisch üblichen Auffassungen nahe, aber es birgt doch die Einsicht in sich, dass Ideenentwicklung und kultureller Fortschritt durch Techniken ineinandergreifen: Während sie [sc. die Religion; C.P:] anfangs in mechanischen, materiellen und präzisen Riten, in genau formulierten Glaubensvorstellungen bestand und fast ausschließlich aus sinnlich wahrnehmbaren Bildern aufgebaut war, neigte sie im Laufe ihrer Geschichte dazu, dem Bewußtsein einen immer größeren Platz einzuräumen. Die Riten sind mehr Haltungen der Seele als des Körpers geworden, sie haben sich mit geistigen Elementen, Gefühlen und Ideen angereichert (…) Die Entwicklung hat das Verhältnis umgekehrt, so daß am Ende die Tätigkeit der Gruppe begrenzt ist. Die religiösen Praktiken sind meistenteils wirklich individuell geworden (…) Der »innere Gott« der fortgeschrittenen Religionen ist auch der Gott der Individuen.125 Mauss postuliert keine lineare historische Entwicklung, wenn er die Tendenzen der Individualisierung und Spiritualisierung, wie er sie in seiner Untersuchung des Gebets benennt, in eine sozialevolutionäre (Gesamt-)Entwicklung stellt. Ist doch damit kein wissenschaftlicher Beweis für die Vorzugswürdigkeit des Gebets gegenüber anderen Ritualen kraft Modernitätstauglichkeit verbunden. Dennoch unterschlägt er nicht den Zusammenhang zwischen ritueller Praxis und humanem Emanzipationspotential: Wird doch das Gebet „[z]uerst streng kollektiv (...) oder zumindest nach Formen gesprochen (...) und manchmal sogar verboten“ schließlich „zur Domäne der freien Unterredung mit Gott.“126
123 A.a.O., 471. Das erleichtert nach Mauss auch die Analyse des Gebets, da hier ein „Korpus von Ideen und Gefühlen“ nicht vage bleibt, sondern oftmals von sich aus „die Umstände, die Motive seiner Äußerung präzisiert“ (a.a.O., 470) werden. 124 A.a.O., 473. 125 A.a.O., 472f. 126 A.a.O., 473. – Hier zeigt sich, dass sich auch der Ethnologe und Sozialwissenschaftler nicht abschließend seiner evaluativen Grundorientierungen enthalten kann. Mauss hat dies immer eingestanden.
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Zwischen ‚Spiritualisierung‘ und ‚Individualisierung‘ muss jedoch unterschieden werden. Während mit ersterer vor allem der allmähliche Bedeutungsverlust von materiellen Techniken und Werkzeugen in rituellen Vollzügen gemeint ist – man kann hier auch von Entmaterialisierung sprechen127, ist der zweite Aspekt für unser Thema gewichtiger. Beten als ein Handeln, das zugleich äußeres Sprechen und innerliches Denken und Besinnen bedeutet, entlässt aus sich eine Vorstellung, wie der Beter sich selbst je individuell und d.h. als Person begreift. Dieser Zusammenhang, der uns in diesem Paragraphen besonders beschäftigt, steht jedoch bei Mauss nicht zentral im Vordergrund. Vielmehr ist es die soziale Dimensionierung noch des persönlichsten Gebetsakts. Diese macht sich in zwei Hinsichten bemerkbar: Zum einen gebraucht jeder, der betet, ein symbolisches Vokabular, das historisch gewachsen ist: Ein Gebet ist nicht nur die Ergießung einer Seele, der Schrei eines Gefühls. Es ist Teil einer Religion. Man vernimmt darin das Echo einer immensen Reihe von Formeln; es ist ein Stück Literatur, das Resultat des gesammelten Bemühens der Menschen und Generationen (…) [S]elbst dann, wenn das Gebet individuell und frei ist (…), so enthält das, was er [sc. der Gläubige; C.P.] sagt, doch nichts als geheiligte Sätze, und er spricht darin (…) von sozialen Dingen.128
Zum anderen entstammt die seit der Kindheit oder späterhin eingeübte Weise des Betens als rituelles Sprechen selbst einer sozialen Praxis: „Das Gebet ist nicht nur aufgrund seines Inhalts sozial, sondern auch seiner Form nach. Seine Formen sind ausschließlich sozialen Ursprungs. Es existiert nicht außerhalb eines Rituals.“129 Deshalb ist für eine Analyse und Definition des Betens seine Verortung in einem rituellen Gesamtrahmen ausschlaggebend. Mauss selbst nennt hierfür sieben Elemente, die es hervorzuheben gilt130: Erstens ist das Gebet wie jedes religiöse Phänomen eine soziale Größe. Zweitens unterliegt es als rituelles Element religiöser Traditionen kultureller Entwicklung und historischem Wandel. Drittens stellt das Beten zugleich den Ausdruck, die Artikulation des kollektiven Bewusstseins einer Gemeinschaft dar, auch insofern, weil es deren sprachliche und symbolische Vokabulare verwendet. Viertens kann das Gebet als ein paradigmatischer Typ von sozialer Handlung gelten, bei der Denken und Sprechen, individuelle Perspektiven und kollektive Deutungsmuster untrennbar miteinander verschränkt sind: Das Gebet ist ein Ritual der Wortzusammensetzung; es ist ein anschauliches Beispiel, wie Sprechen rituell sein und mit sozialem Handeln gleichgesetzt werden kann. Sprechen ist (rituelles) Handeln (…) hinter dem individuellen Gebet steht das kollektive Gebet, die kollektive Sprache.131
127 Vgl. a.a.O., 523. Auch die zunehmende Abstinenz von und mangelnde Observanz bei körperlichen Techniken im Ritual wird von Mauss hierfür angeführt. 128 A.a.O., 488. – Das Gebet ist ein soziales Phänomen, da Religion selbst immer eine soziale Größe ist, genauer: „ein organisches System von kollektiven Begriffen und Praktiken, die sich auf die von ihr anerkannten sakralen Wesen beziehen“ (ebd.). 129 Ebd. 130 Vgl. die Ausführungen von: PICKERING W ILLIAM S.F., Introduction to an Unfinished Work, in: MAUSS, MARCEL, On Prayer, hg. und eingeleitet von William S.F. Pickering, New York/Oxford: Durkheim Press/Berghahn Books 2008, 1–15, 12f. 131 M OEBIUS, STEPHAN, Die Religionssoziologie von Marcel Mauss. Ein Nachwort, in: MAUSS, Religionssoziologie (Anm. 118), 617–682, 669.
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Fünftens lässt sich kein Gebet verstehen, ohne seine Rolle beim Aufbau von kognitiven Überzeugungen über das Göttliche, die Welt und den Sinn der eigenen Handlung zu beachten. Dabei stellt sich die Überzeugung (der Glaube an die Wirksamkeit des Gebets) nicht vor dem rituellen Vollzug ein, sondern kommt performativ und artikulatorisch in ihm zur Geltung und steht unter ständiger Bewährung. Sechstens ist Beten stets eine absichtsvolle und zweckhafte Handlung. Zwar ist es nicht zwingend, schon vorab an seine Wirksamkeit oder Erhörung zu glauben, wohl aber wohnt dem Vollzug selbst ein teleologischer Sinn inne132. Und schließlich kann siebtens eine Handlung dann als Beten charakterisiert werden, wenn das ins Spiel gebrachte Anliegen wie die Haltung der betend handelnden Person sich in direkter Weise auf sakrale Dinge oder Realitäten bezieht. Das kennzeichnet den genuin religiösen Zug dieser Handlung, insofern gilt: Die „Riten der Religion unterscheiden sich durch die ausschließlich sakrale Natur der Kräfte, auf die sie angewandt werden (…) Es sind wirksame traditionelle Handlungen, die sich auf sogenannte sakrale Dinge beziehen.“133 Vor allem in den drei letztgenannten Punkten – kognitive Deutung, Glaube an die Effektivität, Ausrichtung auf eine sakrale Realität – zeigen sich nunmehr die ontologischen Implikationen, die, so unterschiedlich kulturell gefärbt sie auch immer sein mögen, jeder Gebetshandlung inhärieren. Die Haltung des Betenden stellt sich auf die Qualifizierung der Situation ein, nämlich das In-Kontakt-Treten mit einer ihm „gegenüber“ stehenden sakralen Realität. Dabei zeigt sich in den divergierenden Weisen der Reaktion auf das Gewahr-Werden dieser Situation, welche Möglichkeiten für den Menschen bereitliegen und wie damit die sakrale Realität erfasst wird: Geht es primär um die Möglichkeit der Einflussnahme oder steht der Aspekt der Kommunion im Vordergrund? Auf der Ebene der kognitiven Überzeugungen, die den Akt des Betens begleiten, folgt daraus, dass die jeweiligen Vorstellungen, wie die sakrale Wirklichkeit begriffen wird, auch von der Eigenart der Wirksamkeit des Betens abhängt (und umgekehrt). Davon unberührt scheint nur die – zumindest partielle – Unabhängigkeit der sakralen Realität von derjenigen des Beters zu sein. Ansonsten aber erschließt sich in den verschiedenen Modi des Beschwörens, Bittens und Anrufens etc. beides: die Form, wie in einem religiösen Weltbild der Kontakt zwischen Göttern und Menschen vorgestellt wird und wie von daher die Eigenart der ‚kommunizierenden‘ Subjekte zu denken ist. Im Vordergrund des Betens steht dabei für Mauss die direkte Ausrichtung an dem die eigene Lebenssituation verändernden, direkten Kontakt mit der göttlichen Realität. Deswegen kann das Gebet trotz aller Übergänge (und Rückfälle) in magische Praktiken und Vorstellungen als ein Musterbeispiel für die Eigenart von Religion selbst gelten: Wenn man betet, erwartet man im allgemeinen von seinem Gebet irgendein Ergebnis, für etwas oder für jemanden, und sei es nur für sich selbst. Aber dies ist nur ein Nebenprodukt, das den Mechanismus des Ritus nicht beherrscht. Dieser ist ganz und gar auf die religiösen Mächte ausgerichtet, an die er sich wendet, und erst in zweiter Linie kommt es durch deren Vermittlung vor, daß er das profane Leben berührt. Manchmal sogar beschränkt sich sein ganzer Nutzen auf den bloßen Trost, den er dem Betenden spendet, da die göttliche Welt fast seine gesamte Wirksamkeit absorbiert. 134 So bestimmen die Aspekte von Kommunion und Kommunikation zwischen Menschen und Göttern diese religiöse Praxis, bei der es um eine direkte Kontaktaufnahme bzw. -pflege geht.
‚Teleologisch‘ ist hier bewusst weit gefasst. Auch das Gebet als Mittel zum Freiwerden von allen Wünschen und Willensabsichten ist in diesem Sinne ziel- bzw. zweckhaft. 133 M AUSS, Gebet, in: Ders., Schriften zur Religionssoziologie (Anm. 118), 519. 134 A.a.O., 524. 132
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Deshalb lautet die abschließende Definition bei Mauss: „Das Gebet ist ein oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht.“135
*** 3.2 Das Gebet als Ausdruck religiöser Lebensform: Was heißt ontologische Grammatik? Bevor der Überschritt von der Religionsanthropologie zur theologischen Hermeneutik des Gebets als Schlüssel zur Gotteslehre erfolgt, ist zuvor noch auf den Sinn der Rede von der ‚ontologischen Grammatik‘, die der Handlung des Betens eingeschrieben ist, einzugehen. Sie ist formuliert auf der Basis des bereits in dieser Untersuchung erläuterten Konnex von Handlung, symbolischer Artikulation und Erfahrung von Realität. Der Fokus liegt dabei auf dem grundlegenden Kontext, den es zu beachten gilt, wenn man eine Erfahrung macht.136 Realitätsunterstellungen beruhen auf situativ bedingten Erfahrungen, die stets auf symbolische Artikulationen (dieser Situationen) angewiesen sind, die aus Handlungen als Reaktionen auf die Umwelt hervorgehen. Dabei lassen sich die involvierten Subjekte und die von ihnen als partiell (von ihnen) unabhängig erfahrene Welt nicht völlig voneinander abtrennen. Und obwohl sie nie ohne sprachlich-kulturelle Vokabularien erkannt werden könnte, geht die zu erfassende Realität nicht in den symbolischen Codes auf. Deswegen bilden Erfahrungen Realität nicht einfach ab, sondern sind selbst Teil dieser Realität und verändern sie auch.137 In diesem pragmatistischen Sinne kann von ‚ontological commitments‘ (Quine) geredet werden, die sich teilweise bereits in den Praxen des Wirklichkeitsumgangs strukturell ausprägen. Nur in diesem – vom herkömmlichen Verständnis von ‚Ontologie‘ im Sinne der klassischen Metaphysik weit abweichenden – Sinne soll also von einer ‚ontologischen Grammatik‘ gesprochen werden. Diese kurze Erinnerung an bereits Ausgeführtes dient uns an dieser Stelle dazu, das Eigentümliche in der Rede von der ontologischen Grammatik einer religiösen Lebensform herauszustellen. Auch für Wittgenstein besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Lebensform und bestimmten Handlungsweisen: „die Tatsache, dass wir so und so handeln (…) Das Hinzunehmende,
A.a.O., 525. Wer sich in groben Zügen dieses Setting nochmals vor Augen führen möchte, der sei verwiesen auf das berühmte Kapitel über „Eine Erfahrung machen“ in: DEWEY, JOHN, Kunst als Erfahrung (1934), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, 47–71. 137 Im Anschluss an Dewey gibt es nicht einfach nur Erfahrung von Natur und Kultur, sondern vielmehr Erfahrung als Natur bzw. Kultur. Vgl. die berühmte Formulierung in: DEWEY, JOHN, Erfahrung und Natur (1925). Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 18. 135 136
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Gegebene – könnte man sagen – seien Tatsachen des Lebens / seien Lebensformen.“138 ‚So und so zu handeln‘ bezieht sich nicht nur, aber wesentlich auch auf die Sprache. Die Gestalt einer Lebensform lässt sich somit nicht allein auf bestimmte Sprachhandlungen, d.h. Sprachspiele reduzieren. Denn das „Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen einer Sprache ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“139 ist. Vor diesem Hintergrund können Sprachspiele als Interpretationsmuster gar nicht in sich abgeschlossen sein. Überlappungen gibt es schon etwa hinsichtlich gleich strukturierter Handlungsoder Sprechweisen, obwohl damit keineswegs die Identität von Lebensformen bzw. Sprachspielen gezeigt ist. Um nur ein Beispiel zu geben: Befehle im Militär und in der Erziehung deuten auf analoge Dimensionen von Situationen und Lagen hin, ohne jedoch dabei deren Identität zu behaupten. Zudem kreuzen sich im Leben der Menschen eine Vielzahl an symbolischen Praktiken und damit Lebensformen. Hybridbildungen stehen sowohl in biographischer wie in kultureller Hinsicht auf der Tagesordnung, was zur Folge hat, dass auch das Differenzbewusstsein kulturell wachgehalten werden muss. Die Rede von der ontologischen Grammatik verweist auf die Verschränkung epistemischer und ontologischer Perspektiven, die – wie wir bei Cassirer gesehen haben140 – zu einem vollen Verständnis der Funktion symbolischer Formen gehört. Die Qualifizierung ‚ontologisch‘ verweist darauf, dass jedes Sprachspiel und jede Lebensform den Anspruch mit sich führt, Realität in spezifischer Hinsicht zu erschließen und prägnant erfahrbar zu machen. Dies geschieht jedoch stets in einer regelhaften Formung. Deren Regeln können als die jeweilige Grammatik bezeichnet werden. Diese umfasst sowohl die grundlegenden Ordnungsglieder (Kategorien) als auch die Regeln ihrer Verknüpfung. Aus dem 138 W ITTGENSTEIN, LUDWIG, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. 1, (Werkausgabe, Bd. 7), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, § 630, 122 (Var.). 139 W ITTGENSTEIN, LUDWIG, Philosophische Untersuchungen (1953), in: Ders., Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (1984) 222014, § 23, 225–580, 250. 140 Jedenfalls dann, wenn man, wie wir in § 4.5, darauf achtet, dass auch die Philosophie der symbolischen Formen eine Metaphysik hinsichtlich des Verhältnisses von Geist und Leben, von Sinn und Sein impliziert. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Cassirer selbst den Titel ‚Ontologie‘ nicht für sein Unternehmen hätte gebrauchen wollen. – Kritisch zur Verwendung der Rede von ‚ontologischen Verpflichtungen‘ mit Blick auf religiöse (aber nicht nur religiöse) Sprachspiele, wie sie in anderer Hinsicht auch Charles Taylor (vgl. TAYLOR, CHARLES, Understanding and Explanation in the Geisteswissenschaften, in: Steven H. Holtzman/Christopher M. Leich (Hg.), Wittgenstein: to Follow a Rule, London: Routlede 1981, 191–210) befürwortet, bleibt Hans Julius Schneider. Vgl. SCHNEIDER, HANS J., Sprachliche Kreativität und ontologische Verpflichtungen, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Paul Lorenzen und die konstruktive Philosophie, Münster: Mentis 2016, 189–210. Allerdings eint Schneider, Taylor und mich das Ansinnen, abseits eines ‚platten Realismus‘ auf der transsubjektiven Verbindlichkeit religiöser Rede und ihrer ‚Gegenstände‘ zu bestehen. In diesem Sinne ist hier von ‚Ontologie‘ die Rede.
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ergibt sich, dass jede symbolische Form sowohl eine Perspektive auf die Realität (‚concept of reality‘) beinhaltet als auch Perspektiven zu deren Gestaltung und Veränderung (‚concept for reality‘). ‚Ontologie‘ ist also nicht im Sinne einer allgemeinen Kategorienlehre für die Klassifikation von existierenden ‚Gegenständen‘ zu verstehen. Aber mit der Differenz von Epistemologie und Ontologie wird auf die konkret erfahrene Widerständigkeit der von uns als mindestens partiell unabhängig qualifizierten Wirklichkeit verwiesen.141 Abschließend lassen sich damit für das Gebet – noch vor seiner konkreten, einer spezifischen religiösen Tradition entlehnten, inhaltlichen Füllung – folgende Merkmale als Regeln der religiösen Wirklichkeitsformung angeben: (1) Beten ist eine expressive Sprachhandlung, in der Realität symbolisch prägnant wird. Diese umgreift sowohl das Göttliche als auch das Selbstverständnis des Handelnden als Betenden, sowie die jeweilige (mundane) Situation, in der das Gebet gesprochen wird. (2) Beten als Praxis meint den zumeist sprachlich gefassten Umgang mit einer als machtvoll und über- oder nicht-menschlich erfahrenen Realität. Dabei besteht die Tendenz, diese als willentliche Macht und somit als göttliches Gegenüber zu personifizieren.142 (3) Beten versteht sich als ein spezifisches In-Beziehung-Treten, das man im weitesten Sinne als Kommunikation verstehen kann. Das setzt zumindest eine sprachliche Grammatik voraus, die den Umgang zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Subjekt‘ als irreduzible Größen zulässt und die Benennung des ‚göttlichen Gegenübers‘ in Form der namentlichen Anrufung kennt. (4) In der Vielfalt möglicher Gebetsweisen (als Bitten, Klagen, Danken, Fluchen etc.) zeigt sich die existentielle Situativität, die gemeinsam mit dem betenden Subjekt in der Sprachhandlung emotional gefärbt sich artikuliert. (5) Wie in anderen kulturellen Praktiken kreuzen sich im Gebetsakt das Soziale und das Symbolische. Die symbolische Artikulation entspringt stets einer
141 In einem eher phänomenologischen Sinne könnte man deswegen gleichwohl von ‚Gegen-ständlichkeit‘ sprechen, ohne erneut einem kruden Realismus das Wort zu reden. Wie wir weiter unten noch sehen werden, ist es dieser Zug der bleibenden Differenz und partiellen Unabhängigkeit der von uns zu erfassenden Realität, die William James – anders als bspw. den späten Wittgenstein – weiterhin von der unabhängigen ‚Realität‘ der göttlichen Wirklichkeit reden lässt. Zu dieser Differenz zwischen James und Wittgenstein, aber für die Position des letzteren plädierend, siehe auch: SCHNEIDER, HANS J., Religion, Berlin: de Gruyter 2008, 59–64.92–98. 142 Religionstraditionen lassen sich daher grob dahingehend klassifizieren, ob sie die sakrale bzw. übermenschliche Realität eher als Qualität oder aber als Macht auffassen. Beten im Sinne der obigen Definition findet sich dabei vornehmlich im Umfeld des zweiten Typus. Zu dieser analytischen Unterscheidung immer noch lesenswert: BENEDICT, RUTH, Religion, in: Franz Boas (Hg.), General Anthropology, Madison (Wi.): U.S. Army Forces Institute 1944, 627–665, v.a. 628–634.639–644.
4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet
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historisch gewachsenen kulturellen Sprachtradition und wird intersubjektiv eingeübt und tradiert; selbst dann, wenn sie nicht kollektiv, sondern individuell praktiziert (und dadurch variiert) wird. In Konsequenz gibt es auch keine rein privaten Vorstellungen über das göttliche Gegenüber. (6) In der Handlung des Betens wird dem Betenden die ihn umgebende Realität als kontingente gewahr und deren Zukunft als offene bewusst. Das ihm gegenübertretende, oder genauer: das als ‚Gegenüber‘ von ihm erfahrene Göttliche nimmt ihn dabei ebenso in Verpflichtung wie er selbst es in die Pflicht nimmt. Alle Ansichten über die Effektivität des Betens sind vor diesem Hintergrund zu sehen.
4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet: Neuzeitliche Transformationen der Gotteslehre seit Schleiermacher 4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet
Bislang haben wir uns vornehmlich auf eine Strukturanalyse des Gebets konzentriert. Zunächst in ideengeschichtlich-religionsphilosophischer Absicht und dann in kulturanthropologischer Hinsicht. Mit der Rede von der ontologischen Grammatik des Betens sollte verdeutlicht werden, dass es weniger um eine Analyse des Sinns des Betens selbst als vielmehr um den Zusammenhang zwischen Gebetspraxis, Realitätssicht und den Ansichten über die Eigenart des Göttlichen geht. In diesem Abschnitt wollen wir nun programmatisch den Transformationsprozess in den Mittelpunkt rücken, der die dogmatische Lehre von Gott im Zuge der neuzeitlichen Verschiebungen – zu deren Auslöser auch die doppelte Krise des Theismus gehört – entscheidend verändert hat.143 Drei Denker sind für unsere Belange besonders aufschlussreich: Schleiermacher – James – Ebeling. Die Auswahl begründet sich darin, dass alle drei – im weiteren Sinne – dogmatische Lehrgehalte über Gott rückbinden an ihren Sitz im Leben, d.h. in die religiöse Erfahrung und Praxis. Dabei weisen diese drei Denker unterschied-
143 Die gegenwärtig jüngste Gesamtdarstellung der theologischen Facetten des Gebets stammt von dem Praktischen Theologen Michael Meyer-Blanck. Zu der hier aus thematischen Gründen vorgenommenen Konzentration auf die ‚ontologische Grammatik‘ des Betens als sozial-performativer Praxis finden sich dort wichtige (liturgie-)geschichtliche, phänomenologische, entwicklungspsychologische und liturgietheoretische Ergänzungen. Auch für Meyer-Blanck steht zu Recht fest: „Ein Gott, zu dem nicht mehr gesprochen wird, lohnt es auch nicht mehr, dass man – sich selbst vergewissernd – über ihn (dogmatisch) spricht. (…) Die empirische Realität religiösen Redens ist die Bedingung der dogmatischen Arbeit von Kirche und Theologie“ (MEYER-BLANCK, MICHAEL, Das Gebet, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 414). – Für unseren theoriegeschichtlichen Zusammenhang ferner wichtig sind die resümmierenden Darlegungen in: a.a.O., 198–213.
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liche Nähen zueinander auf, je nachdem welchen Aspekt man in den Mittelpunkt rückt. So eint Schleiermacher und James ihr Interesse an der religiösen Erfahrung, die den Hintergrund für eine Sinnexplikation des Wortes ‚Gott‘ bildet. James und Ebeling wiederum teilen das Anliegen, den personalen Theismus als eine weiterhin lebendige Option in der Moderne herauszustellen. Und Ebeling und Schleiermacher stehen als christliche Theologen in der hermeneutischen Tradition, die nicht vergisst, dass jede Glaubensüberzeugung sich stets im symbolischen Medium historisch gewachsener Bilder und Ausdrücke zur Sprache bringt. Die Reihenfolge der Betrachtung folgt der Chronologie, aber sie mündet auch deswegen in die Auseinandersetzung mit Ebeling, weil sich in ihr die einzelnen Schritte der neuzeitlichen Transformation der dogmatischen Gotteslehre – von einer metaphysischen Theorie zur Eigenschaftslehre und von dieser zu einer Theorie des sich in der religiösen Praxis des Betens artikulierenden christlichen Gottesglaubens – bündeln und zum Abschluss bringen lassen. Das bedeutet keine restlose Zustimmung zu Ebeling, da mein Ziel im Aufweis einer handlungstheoretischen Grundlegung der Gotteslehre und somit einer kontingenzsensiblen Metaphysik liegt, die der Rede von der Personalität Gottes auch unter neuzeitlichen Bedingungen eine adäquate Form geben können.144 Diese Zuspitzung findet so bei Ebeling nicht statt. 4.1 Gotteslehre als Lehre von den göttlichen Eigenschaften (Friedrich Schleiermacher) Friedrich Schleiermachers Werk haben wir bislang als eines der profiliertesten Versuche einer Antwort auf die Krise des neuzeitlichen Theismus kennengelernt. Mit der Neuausrichtung seiner Dogmatik als Glaubenslehre verbindet sich, wie er in seinem Sendschreiben an Lücke betont hat, die Absage an jene Mixtur, mit der die systematische Theologie metaphysische und biblisch-mythologische Elemente verband.145 Emanuel Hirsch ist daher zuzustimmen, wenn er das Großartige an Schleiermachers Ansatz im Ausbalancieren zwischen „skeptische[m] Atheismus“ und „mythischer Orthodoxie“146 sieht. Dogmatische Gehalte, vor allem in der materialen Gotteslehre, differieren gegenüber absolutheitstheoretischen Spekulationen, changieren zwischen systematischer Rekonstruktion und bildlicher Darstellung religiöser Rede von Gott. In der konkreten Füllung des Wortes ‚Gott‘ drückt sich das Bewusstwerden der Einheit des Lebens des Subjekts aus. Erst beide Fäden zusammengenommen – die Differenz zwischen Metaphysik und Dogmatik sowie der Rückbezug der letzteren Zu den einzelnen metaphysischen Implikationen siehe die Ausführungen in § 10. Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D. E., Über die Glaubenslehre, an Herrn Dr. Lücke. Erstes Sendschreiben, in: Schleiermacher-Auswahl. Nachwort von Karl Barth, Gütersloh: Güterlsoher Verlagshaus 1968, 120–139, 138. 146 H IRSCH, EMANUEL, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh: Bertelsmann 21949, 316. 144 145
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auf die Bestimmung des religiösen Bewusstseins – lassen erkennen, wie revolutionär Schleiermachers Transformation der dogmatischen Gotteslehre ist. Schleiermacher hält zwar ausgerechnet an der Lehre von den göttlichen Eigenschaften fest, die herkömmlicherweise den metaphysischen Gehalt des Gottesgedankens konkretisierten; aber er deutet sie als Aussagen, in denen das religiöse Subjekt sein In-der-Welt-Sein, die Bestimmtheit seines religiösen Bewusstseins als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, auslegt.147 Die Einfaltung von Gottes- und Weltbewusstsein in das am Ort des sinnlichen Bewusstseins auftretende unmittelbare Selbstbewusstsein bedingt zugleich, dass eine gesonderte Behandlung der Gotteslehre als Lehre von den göttlichen Eigenschaften – verstanden als ‚Handlungsweisen‘ – nur von abgeleiteter Natur ist.148 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die inhaltlichen Bestimmungen von Schleiermachers materialer Gotteslehre für die Dogmatik entbehrlich wären. Reflektieren sie doch in symbolischer Sprache den in allen menschlichen Lebenszuständen mitgesetzten Horizont des ‚Woher‘ der schlechthinnigen Abhängigkeit, dem der religiöse Basalausdruck ‚Gott‘ entspricht.149 Der Gehalt des Gottesgedankens ist auch deswegen stets religiös, weil er sich nur in und an den Phänomenen der menschlichen Lebenswelt zeigt. Darin liegt die konkrete Sachhaltigkeit dieser Gotteslehre, die auch als Transparent-Werden der religiösen Subjektivität im Umweg über die symbolische Artikulation begriffen werden kann. Ein Problem tut sich an anderer Stelle auf. Schleiermacher beharrt nämlich darauf: „Alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, sollen nicht etwas Besonderes in Gott bezeichnen“150, sie spiegeln „nichts Reelles in Gott“151. Dies
147 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 2. Aufl., Bd. 1 (Anm. 21), § 4 in Verbindung mit §§ 33–4, 32–40.205–215. – Ulrich Barth hat zu Recht darauf verwiesen, dass der von Schleiermacher dogmatisch in Anschlag gebrachte Religionsbegriff erst in den Darlegungen der Schöpfungslehre seinen Abschluss findet. Vgl. BARTH, ULRICH, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ›Glaubenslehre‹. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 329– 351, v.a. 344–349. 148 Insofern bleibe ich skeptisch gegenüber der Lesart Gerhard Ebelings, in Schleiermachers Gotteslehre die Vollendung und das Fundament seiner Glaubenslehre zu erblicken. Vgl. zu dieser These: EBELING, GERHARD, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. II. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Tübingen: Mohr Siebeck 1969, 305–342, hier: 333. – Kritisch hierzu ebenfalls: OSTHÖVENER, CLAUS-DIETER, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, Berlin/New York: de Gruyter 1996, 25–27. 149 So die Formulierung in: SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1, 2. Aufl. (Anm. 21), § 4.4, 38–40. In der ersten Auflage der Glaubenslehre wird diese Formulierung noch nicht verwendet. 150 A.a.O., § 50, 300. 151 A.a.O., 305, und ebenfalls in § 51.5: a.a.O., 310.
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bedeutet, dass trotz der Deutung der einzelnen göttlichen Attribute als Qualifikationen der göttlichen (schlechthinnigen) Ursächlichkeit152 diese nichts über die Bestimmtheit des Gottesgedankens an und für sich besagt. Das hat wesentlich zwei Gründe: Zum einen möchte Schleiermacher in seinem Gebrauch der Figur der via causalitatis jeden Anschein vermeiden, wieder in ein kausales Schema zu verfallen, das Gott als qualifizierte und substanzhafte Ursache aller Wirkungen in der Welt verstehen will. Insofern ist auch die von ihm verwendete Rede von den Eigenschaften als „Handlungsweisen“153 unter dieser Einschränkung zu verstehen. Erkenntnistheoretisch heißt dies, dass wir für Gott behaupten müssen, dass „niemals aus den Wirkungen das Wesen dessen selbst, was eingewirkt hat, erkannt werden kann.“154 Zum anderen greifen hier Überlegungen, die im transzendentalen Teil der Dialektik den Kern der philosophischen Gottesidee bilden. Denn letztere muss als absoluter Identitätspol verstanden werden.155 Als radikale Identität von Denken und Sein, Wissen und Wollen darf der Gottesbegriff im Gegensatz zu seinem Korrelat, dem Weltbegriff, keine innere Differenz kennen. Es ist somit die gleiche Argumentation, mit der es Schleiermacher gelingt, sein Konzept vor pantheistischen Missverständnissen zu schützen, durch die er jede inhaltliche Bestimmtheit über die Gott eigene Realität ausschließt. Prädikative Bestimmungen und Aussagen über Gott sind nach diesem Verständnis vielmehr ausschließlich intensional zu verstehen: sie bringen zum Ausdruck, auf welche Art und Weise der Referent ‚Gott‘ im Bewusstsein des Sprechenden gegeben ist.156
Zur Bedeutung der göttlichen Ursächlichkeit vgl. die prinzipiellen Aussagen der Leitthese zu § 68a der ersten Auflage der Glaubenslehre: „In dem Begriff der göttlichen Allmacht ist sowol dieses enthalten, daß der gesamte Naturzusammenhang in allen Räumen und Zeiten in der göttlichen als ewig und allgegenwärtig aller natürlichen entgegengesetzten Ursächlichkeit gegründet sei, als auch dieses, daß die göttliche Ursächlichkeit wie sie in unserem Abhängigkeitsgefühl ausgedrückt ist, in der Gesammtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt werde, und also auch alles wirklich sei und geschehe, wozu es eine Productivität in Gott giebt“ (SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D. E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche. Erste Auflage [1821/22], Kritische Gesamtausgabe, I. Abteilung, Bd. 7.1 [= KGA I,7.1], hg. v. Hermann Peiter, Berlin/New York: de Gruyter 1980, 204). 153 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1, 2. Aufl. (Anm. 21), § 30, 163. – Obwohl Schleiermacher den Ausdruck ‚Handlungsweisen‘ mitunter nur als Alternative zu demjenigen des Attributs verwendet, ist er in einer Hinsicht prägnanter, verdeutlicht er doch, dass das Motiv der göttlichen Ursächlichkeit den Grund aller inhaltlichen Bestimmungen von Eigenschaften bildet. 154 A.a.O., § 50.3, 305. 155 Vgl. seine Ausführungen in § 51 zu Allmacht und Ewigkeit Gottes (sowie darin inbegriffen zu Allgegenwart und Allwissenheit) in: a.a.O., 309–312. 156 G ROßHANS, H ANS-PETER, Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis? Zum Verhältnis von schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl und schlechthinniger Ursächlichkeit bei Friedrich Schleiermacher, in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre (FS für E. Jüngel), 152
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Alle Prädikationen über die Eigenart der schlechthinnigen Ursächlichkeit, somit auch jene beiden elementaren der schlechthinnigen Innerlichkeit und schlechthinnigen Lebendigkeit, stellen im Grunde keine die göttliche Realität per se bestimmenden, d.h. unmittelbar betreffenden Aussagen dar.157 In ihnen drückt sich lediglich der koextensive Umfang der Gottesidee hinsichtlich der Perspektiven auf die Welt aus: sie bezieht sich auf Raum und Zeit ebenso wie auf Natur und Geist. Sie sind inhaltliche Korrelate eines in sich differenzierten Weltbewusstseins, das raumzeitliche Größen wie natürlich-geistige Formen unterscheidet, dies aber unter der Wahrung der göttlichen Perspektive absoluter Identität. Vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, warum in Schleiermachers als Eigenschaftslehre rekonstruierter Gotteslehre das Thema der Personalität Gottes außen vor bleibt. Es gibt eigentlich nur zwei Stellen in seinem umfangreichen Werk, in der auf dieses Problem näher eingegangen wird. Die eine findet sich nicht zufällig im Briefwechsel mit Jacobi.158 Darin spricht sich Schleiermacher für den gleichberechtigten Gebrauch anthropomorpher und kosmomorphischer Symbolisierungen des undarstellbaren, göttlichen Grundes aus.159 Die andere Passage findet sich in den Ergänzungen zur dritten Auflage der Reden, die sich in zeitlicher Nähe (1821) zur ersten Auflage der Glaubenslehre bewegt. Dort stellt er zwar fest, dass die symbolisch-anthropomorphe Rede vom personalen Gott auf dem Feld religiöser Rede nicht zu beanstanden sei. Das heißt, sich die Vorstellung eines persönlichen Gottes anzueignen, nämlich überall wo es darauf ankommt sich selbst oder Andern die unmittelbaren religiösen Erregungen zu dolmetschen, oder wo das Herz im unmittelbaren Gespräch mit den höchsten Wesen begriffen ist,160
hg. v. Ingolf U. Dalferth/Johannes Fischer/ders., Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 127–144, 140. 157 So zu Recht: O STHÖVENER, Die Lehre von Gottes (Anm. 147), 54: „Diese Form der göttlichen Wirksamkeit bedarf aber offensichtlich nicht der Vorstellung, daß Gott auch selbst Leben habe in einem uns gar nicht verständlichen Sinn, sondern es muß lediglich darauf geachtet werden, daß eine anschauliche Vorstellung Gottes dieser Wirksamkeit nicht geradezu widerspricht, wie es bei der schicksalhaften Notwendigkeit der Fall ist“. 158 Vgl. C ORDES, M ARTIN, Der Brief Schleiermachers an Jacobi, in: ZThK 68 (1971), 202–212. 159 Vgl. A.a.O., 119. Schleiermacher spricht von „Anthro-“ bzw. „Ideomorphismus“ auf der einen und „Hylomorphismus“ auf der anderen Seite, wohingegen für Jacobi kein Ausgleich „zwischen Naturvergötterung und sokratisch-platonischem Anthropomorphismus“ (ebd.) möglich ist. 160 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (2.–) 4. Auflage, in: Ders., Über die Religion (2.–) 4. Auflage. Monologen (2.–) 4. Auflage, Kritische Gesamtausgabe I. Abteilung, Bd. 12 (= KGA I,12), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York: de Gruyter 1995, 1–321, 146.
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ist erlaubt. Allerdings entspricht ihr kein dogmatisch eigenständig zu rekonstruierender Gehalt.161 Vielmehr stellen sich ernsthafte Bedenken gegen eine allzu emphatische Betonung der Personalität Gottes ein. So muss man doch auf der anderen Seite die wesentlichen Unvollkommenheiten in der Vorstellung von einer Persönlichkeit des höchsten Wesens anerkennen, ja das Bedenkliche daran, wenn sie nicht auf das vorsichtigste gereinigt wird (…) daß, da es so schwer sei eine Persönlichkeit wahrhaft unendlich und leidensunfähig zu denken, man einen großen Unterschied machen sollte zwischen einem persönlichen Gott und einem lebendigen. Das leztere allein ist eigentlich der vom materialistischen Pantheismus und von der atheistischen blinden Nothwendigkeit scheidende Begriff.162
Schleiermachers Problem ist im Grunde schon hier dasjenige, welches in der Glaubenslehre als Rückschluss aus den göttlichen Handlungsweisen auf die Eigenart Gottes formuliert wird. Mit der Rede von der Personalität Gottes wird zunächst das Prädikat der göttlichen Unendlichkeit in Frage gestellt. Diese ist wesentlich von der Koextensivität des Seins der Welt mit der göttlichen Ursächlichkeit geprägt. Mehr noch aber wäre mit der Personalität eine Leidensfähigkeit Gottes gegeben, d.h. ein wechselseitiges Auf-Einander-Wirken von Gott und Mensch. Mit der Option einer möglichen Veränderlichkeit Gottes wäre es aber ebenso möglich, aus den Wirkungen des jeweiligen Handelnden auf dessen Eigenart zu schließen. Beides aber ist für Schleiermacher unmöglich. Interessant ist jedoch, dass er bei alledem sehr wohl darauf achtet, dass sein monistisches, genauerhin spinozistisches Konzept nicht in einen Pantheismus umschlägt. Die Perspektiven aus in sich differenzierter Welt als Totalität und Gott als absolutem, d.h. differenzlosem Einheitsgrund sind nicht ineinander überführbar. Wäre dies anders, verlöre die symbolische Darstellung Gottes jeglichen Sinn. Dieser aber bedürfen wir als Subjekte, weil uns anders als durch Rekurs auf seinen transzendenten Grund die Einheit unseres Lebens gar nicht gegeben ist. Auch die symbolische Artikulation und Deutung des Gehalts des Gottesgedankens durch Rückgriff auf innerweltliche Aspekte erfolgt unter der erkenntnistheoretischen Feststellung, dass dies „nicht adäquat geschieht“163. Der unüberbrückbaren Differenz zwischen dem stets mitgesetzten, transzendenten Grund, dessen Transzendenz absolut und nicht weiter bestimmbar ist, und der
161 Man könnte die Vermutung anstellen, dass sie damit analog zu behandeln wäre, wie die Rede von der göttlichen „Barmherzigkeit“. Sie ist ein dichterisch-metaphorischer Ausdruck, dem aber aus systematischen Gründen kein dogmatisches Äquivalent entsprechen kann. Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1, 2. Aufl. (Anm. 21), § 85, 527–529. – In den beiden Auflagen der Glaubenslehre wird das Problem der Personalität Gottes jedenfalls nicht mehr verhandelt. 162 SCHLEIERMACHER, Über die Religion, 2.– 4. Aufl. [Anm. 160], 146. 163 SCHLEIERMACHER, Dialektik (Anm. 22), 576 (Variante Hagenbach). Daher findet die Gotteslehre auch erst in den Bestimmungsmodalitäten des Weltbegriffs ihren Abschluss.
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notwendigen Bestimmtheit, die er für das religiöse Subjekt in der Einheit seiner Lebensvollzüge bekommt, ist nicht zu entkommen.164 Der Gewinn von Schleiermachers Transformation der Gotteslehre zur Lehre von den göttlichen Eigenschaften scheint mit einem hohen Preis verbunden. Denn so sehr es ihr gelingt, den Ort der Rede von Gott, auch und gerade in theologisch-reflexiver Hinsicht, an die im frommen Bewusstein erfassten Lebensmomente zurück zu binden, so verlegen bleibt sie doch hinsichtlich der Frage, ob die stets in symbolischer Weise erschlossene Realität Gottes eigentlich über diese Deutungssituationen hinausreicht. Deutet man die Personalität Gottes in strukturell-funktionaler Hinsicht als eine Erinnerung daran, dass die göttliche Realität sich in allen ihren Wirkungen und Handlungen nicht erschöpft, obgleich sie ihre Eigenart darüber darstellt, dann stellt deren Vernachlässigung bei Schleiermacher uns vor die Frage, ob in einer konsequent als Frömmigkeitstheorie gefassten Dogmatik nicht doch die Rede von den ‚göttlichen Eigenschaften‘ letztlich in inhaltliche oder funktionale Strukturbestimmungen frommer Subjektivität überführt werden könnte (bzw. sogar müsste). In der Gotteslehre entspricht dem das Postulat einer notwendigen Koextensivität von schlechthinniger (göttlicher) Ursächlichkeit und schlechthinniger (menschlicher) Abhängigkeit. Damit wird nur noch entscheidend, wie in der religiösen Situation das qualitativ erfasste Moment der schlechthinnigen Ursächlichkeit symbolisch gedeutet wird und nicht mehr, ob eine solche Deutung überhaupt der Situation angemessen ist. Für Schleiermacher ist die kontingente Faktizität der göttlichen Realität und ihre Bestimmung durch das involvierte Subjekt im prozesshaften Geschehen der Welt nicht denkbar. Stattdessen optiert er für eine Konstellation, in der Gott als schlechthinnige Ursächlichkeit derart notwendig mitzudenken sei, dass die in einer Hinsicht prägnante Haltung des Menschen als ‚schlechthin abhängig‘ zu keiner ‚realen‘ Eigenständigkeit gegenüber Gott – etwa in Form eines handelnden Reagierens – führen kann. Konsequent werden alle diejenigen Fragen ausgeblendet, die auf die Eigenart auch der göttlichen Realität gegenüber den Geschehnissen in der Welt noch einmal abheben und so zu einer Qualifikation Gottes auch sub contrario und ex negativo veranlassen würden.165 Schleiermachers revolutionäre Umstellung in der Gotteslehre, die dieser eine Lebensnähe gerade durch die Fokussierung auf die Erfassung und Deutung der 164 Michael Moxter hat den interessanten Vorschlag gemacht, durch eine phänomenologische Lesart Schleiermachers dessen Gotteslehre dadurch zu stärken, indem die hermeneutischen Konsequenzen symbolischer Rede von Gott deutlicher reflektiert werden. Vgl. MOXTER, MICHAEL, Gott als Künstler. Anmerkungen zu einer Metapher Schleiermachers, in: Denkwürdiges Geheimnis (Anm. 156), 386–404. 165 Das ist der Grund, warum das Theodizeeproblem für jede Form von personalem Theismus von weitreichender Bedeutung ist. In ihm wird die Widerständigkeit von Handlungszentren offenkundig, die wir als Option zur Kontra-Faktizität bzw. – mit Scheler – zum ‚NeinSagen‘ allein personalen Größen zugestehen.
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religiösen Gegenwart der Subjekte gewährt, bedarf demnach einer stärkeren Berücksichtigung von harter Kontingenz, die wiederum nur als eine Pluralität von Handlungs- bzw. Reaktionszentren gedacht werden kann.166 Distinkt von Gott und Mensch reden zu können bedeutet daher stets auch, auf der weiter qualifizierten Nichtidentität erfahrener göttlicher Gegenwart mit deren religiös- symbolischer Artikulation zu beharren. William James hat in seinen Analysen religiöser Erfahrungen genau auf diesen Punkt besonders geachtet und vor diesem Hintergrund seine handlungstheoretische Metaphysik konzipiert. 4.2 Beten als Kern religiösen Lebens, personaler Theismus als lebendige Option (William James) Ähnlich wie Schleiermacher hat sich knapp achtzig Jahre später William James (1842–1910) um den Aufweis der Eigenberechtigung religiöser Einstellungen als praktische Lebensoption vor dem Hintergrund des Siegeszugs der Naturwissenschaften und insbesondere der Evolutionstheorie bemüht. Auch für ihn ist eine sinnvolle Rede über das Göttliche nur möglich, wenn sie unter der „ganze[n] Fülle des (…) sinnlichen Menschenlebens“167 erfolgt. Eine Religion, die sich als Glaube an Gott artikuliert und die generell als praktische Lebenshaltung168 verstanden werden kann, fußt auf der lebendigen Erfahrung eines sich in diesem Moment religiös begreifenden Subjekts. Dabei stellt für James, wie er bereits in einem frühen Aufsatz klarmacht, die religiöse Haltung nicht 166 Genau dies wird allerdings von ihm im § 30 der Glaubenslehre (2. Auflage) ausgeschlossen, in dem klargemacht wird, dass die Aussagen über Gott und Welt stets als sekundärabhängige gegenüber den Beschreibungen des religiösen Selbstbewusstseins zu gelten haben. Es ist somit vor allem der geschichtlichen Entwicklung geschuldet, dass die Dogmatik auf solche Aussagen (bislang) nicht verzichten konnte: „so mußte das Rhetorische und Hymnische in diesen die Bildung von Begriffen göttlicher Eigenschaften vorzüglich begünstigen, ja sie wurden notwendig, um jene Ausdrücke auf ihr rechtes Maß zu bringen“ (SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1, 2. Aufl. [Anm. 21], § 30, 195). Anders gesagt: Neben dem Umstand, dass Schleiermacher in seiner Rekonstruktion der Eigenschaften als „göttlichen Handlungsweisen“ (a.a.O., 194) von der metaphysischen Konstellation mit ihrer am Kausalitätsschema orientierten Rede von der ‚göttlichen Ursächlichkeit‘ ausgeht, dient die Rede von den ‚Handlungsweisen‘ zudem der Plastizität und rhetorischen Prägnanz religiöser Rede. Strenggenommen allerdings verbietet sich die Handlungssemantik gänzlich für die Explikation des Gottesgedankens, metaphysisch (in der Dialektik) wie dogmatisch (in der Glaubenslehre). 167 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, Bd. 1, 2. Aufl. (Anm. 21), § 5.1, 42. 168 Im Sinne der „living option“, wie James sie in seinem berühmten Aufsatz The Will to Believe als genuine, d.h. handlungsleitende und wirklichkeitsverändernde Lebenseinstellung gekennzeichnet hat. Vgl. JAMES, WILLIAM, Der Wille zum Glauben (1896), in: Ders., Essays über Glaube und Ethik. Ausgewählt von R.B. Perry, übersetzt von W. Flöttmann, Gütersloh: Bertelsmann 1948, 40–67. – Zur Interpretation im Ganzen siehe: SEIBERT, CHRISTOPH, Religion im Denken von William James. Eine Interpretation von seiner Philosophie (RPT 40), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 143–184.
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einfach ein qualitatives ‚Zuständlichkeitsbewusstsein‘ dar, so sehr er auch mit Schleiermacher die emotional-affektive Seite von Religion betont. Vielmehr greift er in Reflex Action and Theism auf die zeitgenössische Theorie der Reflexhandlung zurück, um zu zeigen, dass alle Eindrücke, die wir aus der Umwelt erhalten und die wir schon aufgrund unserer Gehirnaktivitäten umformen, in bestimmte Handlungen münden. Es gibt keinen Sinneseindruck, der sich nicht, soweit er nicht durch einen anderen, stärkeren daran behindert wird, unmittelbar oder mittelbar in einer Handlung irgendwelcher Art ausdrückte. Es gibt keinen unter den verwickelten Vorgängen in den Gehirnwindungen, denen unsere Gedankengänge entsprechen, der nicht ein bloßes Mittelglied wäre, eingeschaltet zwischen einer einlaufenden Sinnesempfindung, die ihn verursacht, und einer nach außen gehenden Entladung irgendwelcher Art, hemmend oder auch anregend, wozu er, der Vorgang selbst den Anlaß gibt.169
Dieser elementare Lebensvorgang, den wir auch als Prozess des Erfahrung-Machens begreifen können, steht unter der Vorgabe: „Wahrnehmung und Denken sind nur für das Verhalten da.“170 James unternimmt hier eine Transformation der klassischen Vermögenslehre zur Unterbreitung seiner Theorie eines „teleological mechanism“. Darin kommt dem Willen, wie Katja Thörner zu Recht betont, ein funktionaler Primat gegenüber Wahrnehmung und kognitiver Verarbeitung (Denken) zu, weil er als Strebevermögen als das Charakteristikum des Lebendigen schlechthin gelten kann.171 Greift man in diesem Zusammenhang die Überlegungen auf, die James in seiner Psychologie zum Konzept des humanen Selbst oder der Person vorträgt, dann steht der menschliche Wille genau für jenes entscheidende Kraftzentrum, das für die spezifisch humanen Leistungen Verantwortung trägt: für die bewusste Aufmerksamkeit und das praktische Interesse des menschlichen Selbst ebenso wie für seine aktive Gestaltbarkeit, seine Kreativität. Der Selbstvollzug der menschlichen Person im Wechselspiel von empirisch gehaltvollem Mich und unverfügbar, spontanem Ego stellt einen teleologischen Prozess dar, den man in die prägnante Kurzformel bringen kann: „persons are purposer“172. 169 Dieser frühe Aufsatz aus dem Jahre 1881 findet sich in deutscher Fassung ebenfalls in: JAMES, WILLIAM, Reflexhandlung und Theismus (1881), in: James, Essays über Glaube (Anm. 168), 112–142. 170 A.a.O., 115. 171 Vgl. THÖRNER, K ATJA, William James’ Konzept eines vernünftigen Glaubens auf der Basis religiöser Erfahrung (Münchener philosophische Studien, Neue Folge 29), Stuttgart: Kohlhammer 2011, 52. – Darüber hinaus stellt Thörners Arbeit die bislang einzige Arbeit zu James im deutschsprachigen Raum dar, die den personalistischen Elementen in dessen Spätschriften, v.a. in Pragmatism und A Pluralistic Universe, nachgeht und ihre systematische Bedeutung trotz aller Kritik an dualistischen Theismen und allem Panpsychismus plausibel aufweist: vgl. a.a.O., v.a. 195–223. 172 Diese Formel geht auf Edgar Sheffield Brightman zurück, der sich wiederum an James orientiert. Vgl. BRIGHTMAN, EDGAR S., A Philosophy of Religion, New York: Prentice-Hall,
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Im Reflexaufsatz bedient sich James nun dieses Modells, um zu zeigen, dass, angenommen in einer religiösen Einstellung und Lebenspraxis wird mit der Annahme eines Gottes gerechnet, sich diese von diesem Theoriemodell her begreifen lassen müsste. Wenn demnach in einer religiös erfassten Situation ‚Gott‘ als „das denkbar angemessenste Objekt“173 fungiert, da er bzw. es so erfahren wird, dann ist zugleich nach den Bedingungen für die sinnvolle Qualifizierung dieser Situation als ‚religiöser‘ und ihres ‚Objektes‘ als ‚göttlichem‘ im Rahmen der teleologischen Gesamtausrichtung menschlichen Erlebens, Handelns und Gestaltens zu fragen. Zusammengefasst lauten die beiden dabei in Anschlag gebrachten Kriterien für James: „Alles, was geringer ist als Gott, ist nicht vernunftgemäß, alles, was mehr ist als Gott, ist nicht möglich.“174 Die Stimmigkeit dieser formalen Bedingungen kann man sich dabei wie folgt erklären: Würde es sich bei dem religiösen Erfahrungsobjekt um etwas handeln, worauf in keiner Hinsicht auf menschliche Weise, also im Sinne der Triade von Wahrnehmen, Denken und Handeln, reagiert werden kann, dann wäre es selbst als etwas Höchstlebendiges noch unterhalb der Schwelle humaner Bedeutsamkeit. Dies meint keine metaphysische Prämisse, sondern betrifft allein die Qualifizierung der religiösen Situation und des als real erfahrenen Göttlichen als einer „Angelegenheit des Menschen“ (Spalding), wie man sagen könnte. Deswegen sind nach James weltanschauliche Positionen, wie Materialismus, Atheismus und (personaler) Theismus weniger als metaphysische Theorien denn als praktische Lebensoptionen anzusehen. Da nun aber ‚lebendige Optionen‘ selbst teleologisch ausgerichtete Aktivitäten darstellen, geraten für den frühen James alle Positionen, die, wie der Materialismus, aber auch der Agnostizismus und Atheismus, jene teleologische Qualifikation des humanen In-der-Welt-Seins leugnen, in Selbstwidersprüche. Sie sind wie James sagt, unvernünftig: „Unterhalb des Theismus liegende Auffassungen, Formen des Materialismus und Agnostizismus, sind nicht vernunftgemäß, weil sie unzureichende stimuli für die praktische Natur des Menschen sind.“175
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z.B. 380. – Bei James finden sich entsprechende Bemerkungen in den Principles of Psychology, wo es gegen die sog. ‚Automaten-Theorie‘ des Geistes und deren kognitivistische Engführung gewendet heißt: „Every actually existing consciousness seems to itself at any rate to be a fighter for ends, of which, many, but for its presence, would not be ends at all. Its powers of cognition are mainly subservient to these ends, discerning which facts further them and which do not“ (JAMES, WILLIAM, Principles of Psychology [1890], Vol. I, New York: Dover 1950, 141). Zu James und Brightman siehe ferner meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Expressive Theism: Personalism, Pragmatism, and Religion, in: Hans Joas/Hermann Deuser/Magnus Schlette (Hg.), The Varieties of Transcendence: Pragmatism and the Philosophy of Religion, New York: Fordham Univ. Press 2015, 54–72, v.a. 57–63. 173 JAMES, Reflexhandlung, in: Ders., Essays über Glaube (Anm. 169), 116. 174 Ebd. 175 A.a.O., 132.
4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet
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Damit wird nun nicht der ‚methodische Atheismus‘ naturwissenschaftlicher Forschung geleugnet, da deren Absehen von Zwecken selbst wiederum in eine umfassendere Zweckgerichtetheit menschlichen Lebensvollzugs eingebettet ist. Vielmehr geht es James darum, dass Religion – als praktische Lebensoption begriffen – ihre Eigenart durch eine spezifische Lebensform ausdrücken muss, die als teleologisch qualifiziert ist, wenn sie als vernünftig gelten soll. Auch wenn der vom frühen James in Anschlag gebrachte und im Übrigen an Lotze erinnernde Terminus des ‚teleologischen Mechanismus‘ unglücklich gewählt ist, zielt der damit formulierte Gedanke doch in eine ganz ähnliche Richtung, wie bei Kant das praktische Vernunftpostulat ‚Gott‘. Die Sinnhaftigkeit eines personalen Theismus muss sich in seiner ihm gemäßen Lebensform erweisen: Die überlegene praktische Rationalität des theistischen Glaubens besteht (…) darin, daß sie die Wirklichkeit im Ganzen auf eine optimal zum Handeln motivierende, der affektiven Dynamik des bewußten Lebens entgegenkommende Weise deutet. Ein personaler Gott steht für die Affinität des Weltgrundes zur menschlichen Personalität ein, seine große Macht sichert die Finalität des Weltprozesses und verhindert sein Mißlingen, die uns gewährte Freiheit verbürgt die existentielle Relevanz unserer eigenen Bemühungen.176
James kann dies behaupten, weil er mögliche Alternativen mit Hilfe des für ihn charakteristischen Stilmittels der idealtypischen Kontrastierung – ganz auf Linie von Diltheys Weltanschauungstypologie – auslotet. Haben wir bereits die Gefahren alles umgreifender Materialismen und Agnostizismen in deren handlungslähmenden Konsequenzen festgemacht, so führen auf der anderen Seite überzogene Spekulationen, die der frühe James schon mal leichtfertig mit der Vokabel ‚Gnostizismus‘ belegen kann177 und als dessen maßgeblicher Vertreter ihm der absolute Idealismus gilt, zu einem realitätsverschließenden ‚point of nowhere‘ (Th. Nagel), in dem jede Eigenständigkeit der verschiedenen Realitäten untergeht: „Die Versuche nun, über den Theismus hinauszugelangen, von denen ich spreche, sind Versuche, diese letzte Dualität zwischen Gott und dem 176 JUNG, M ATTHIAS, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatistischen Religionsphilosophie, Freiburg i.B./München: Alber 1999, 205. – Jung selbst verweist auf die Nähe zu Kant (vgl. a.a.O., 202, Fn. 143). In der Tat weist der Reflexaufsatz gegenüber Überlegungen in den Varieties eine deutlich pragmatistischere Argumentation auf (vgl. a.a.O., 218). Von daher sollte man aber entschiedener als Jung dies zu tun scheint, auf die Kontinuitäten zwischen dem frühen und dem späten James hinsichtlich des personalen Theismus achten. Dies scheint mir die Leistung der Arbeit Thörners (vgl. Anm. 171) zu sein. Dennoch bleibt zu konzedieren, dass der frühe Text zum Teil hoch abstrakt und artifiziell daherkommt, was James selbst eingesteht. 177 Im Hintergrund steht die Abgrenzung zu jeder Form von theistischer Mystik ist. Diese achtet nämlich auf die irreduzible Eigenständigkeit der involvierten Größen, also Mensch und Gott: „Die höchsten Gedankenflüge theistischer Mystik, weit davon entfernt, sich ein Eindringen in die Geheimnisse des Ich und des Du in der Anbetung noch eine Überwindung des Dualismus durch einen Akt des Verstandes anzumaßen, wenden sich von solchen Versuchen einfach ab“ (JAMES, Reflexhandlung [Anm. 169], 134).
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Gläubigen zu überwinden und sie in irgendeine Form der Identität umzuwandeln.“178 Eine theistische Option, für die das Attribut der Persönlichkeit zentral ist, hat daher sowohl die Differenz zwischen Gott und Mensch als auch deren religiös erfasstes und symbolisch artikuliertes Kontinuum zu achten. In der religiösen Praxis wird dabei die göttliche Realität vom menschlichen Geist, der „nach dem Muster des dreiheitlichen Reflexes gebaut ist“179, so erfasst, dass zugleich festgehalten wird, dass bei der ‚Definition der wesentlichen Attribute Gottes‘ dem Modell „eine[r] außerhalb unserer eigenen liegende[n] Persönlichkeit und anders als wir, eine Macht, die Nicht-wir“180 ist, zu folgen sei. Um jedoch ein Kontinuum zwischen unserer personalen Lebensgegenwart und der ebenfalls als solche erfahrenen, göttlichen Realität behaupten zu können, bedarf es eines Maßstabs. Für James sind mindestens zwei Kriterien ausschlaggebend: ein formales, das er als geistige Mächtigkeit bzw. als Fähigkeit zu qualitativer Aufmerksamkeit und Zielgerichtetheit erblickt, sowie ein materiales, das er durch die ethischen Attribute der ‚Güte‘ und ‚Gerechtigkeit‘ bestimmt. Erstens ist es wesentlich, daß man Gott als tiefste Macht im Universum auffaßt, und zweitens muß man ihn in der Gestalt einer geistigen Persönlichkeit auffassen. Die Persönlichkeit braucht innerlich durchaus nicht weitergehend bestimmt zu werden als das der Hochschätzung gewisser Dinge und in der Anerkennung unseres Angelegtseins auf diese Dinge (…) wobei die Dinge selbst alle gut und gerecht sind. Äußerlich gesehen aber muß ich sozusagen Gottes Persönlichkeit wie jede andere Persönlichkeit als etwas außerhalb meines Ichs Liegendes und etwas anderes als das Ich betrachten, auf dessen Dasein ich einfach stoße und das ich vorfinde. Eine Macht demnach, die Nicht-Wir ist, die nicht nur auf Gerechtigkeit abzielt, sondern sie bedeutet, und die uns anerkennt.181
James konzentriert sich in diesem frühen Aufsatz darauf, den argumentativen Nachweis zu erbringen, dass auch in naturalistischen Zeiten ein personaler Theismus weiterhin als religiöse Option möglich ist. Was ausbleibt und erst in den Varieties of Religious Experience (1902) nachgeholt wird, ist eine hermeneutische Analyse von Religion als gelebter Praxis. Verzichtete er in der ReflexAbhandlung noch auf einen Definitionsversuch von Religion, so lautet dieser nunmehr: „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen
A.a.O., 133. A.a.O., 122. 180 A.a.O., 122f. 181 Ebd. – James wird in seinen späteren Schriften zwar die starke Differenzsetzung zwischen Gott und Mensch zurücknehmen, hält aber an den beiden Kriterien für das gott-menschliche Kontinuum fest. Vgl. JAMES, WILLIAM, Das pluralistische Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie (1909). Ins Deutsche übertragen von Julius Goldstein, hg. v. Klaus Schubert und Uwe Wilkesmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, 14–18. 178 179
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in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in einer Beziehung zum Göttlichen stehen.“182 Auch wenn James fortan das Feld der Analyse weitet, verbleiben seine Überlegungen weiterhin im Kontext eines personalen Theismus als sinnvollen ‚Over-Belief‘, wie er ihn am Ende der Studie entfaltet. Generell stellt er für ihn eben nicht einfach eine subjektive Gefühlsangelegenheit dar, weil dieser unweigerlich die Annahme und praktische Stellungnahme gegenüber einer ‚unsichtbaren Realität‘, die größer und umfassender als der Mensch ist und der eine lebensverändernde Qualität zukommt, impliziert. Religion ist schon von daher mehr als Moral. Die ihr am meisten entsprechenden Gefühle der Feierlichkeit, des Enthusiasmus, der Heiligkeit etc. verändern sowohl das Subjekt wie seine Haltung zu seiner Welt. So wenig gefühlsverengt Religion ist, so wenig individualistisch ist sie in ihrem Inhalt. Denn der religiöse Mensch und seine Welt wird durch jene höhere Form von Bewusstseinsmacht, die James das ‚Göttliche‘ nennen kann, umgriffen und geborgen: „Glaube ist also eine Einstellung zur Wirklichkeit, die vom sicheren Gefühl der Präsenz einer stärkeren Kraft getragen ist.“183 Die Annahme einer nicht auf sich selbst oder das Weltganze reduzierbaren göttlichen Macht, die wir schon zuvor als Merkmal des personalen Theismus kennengelernt haben, erfolgt nun aber wesentlich in praktischer Hinsicht, d.h. sie vollzieht sich performativ in der religiösen Praxis. Und hier nun stoßen wir auf die Rolle des Gebets bei James. In den Varieties kann er dieses als „the very soul and essence“184 der Religion bezeichnen, das Gebet gilt ihm als „core“185 der Religiosität. Gemeinsam mit der mystischen Erfahrungsform, die sich u.a. auch im Beten einstellen kann, stehen wir hier im Zentrum von James’ Religionstheorie. Beiden Elementen kommt für die Erfassung des Göttlichen eine epistemische Funktion zu, „für die drei Gesichtspunkte eine Rolle spielen: [d]ie Betonung der radikalen Rezeptivität des Bewusstseins, der Unmittelbarkeit sowie der kognitiven Qualität des Erlebten.“186 In dieser Hinsicht ist Religion keine von Subjekten selbst produzierte Erfahrung, sondern rührt von einer den Individuen gegenüber unabhängigen eigenständigen Realität her. In dieser Widerständigkeit kommt bereits ein personales Element zum Vorschein. Was James für uns an dieser Stelle so interessant macht, ist, dass es ihm in den Varieties gelingt, mit der Hermeneutik der religiösen Erfahrung im Gebet 182 JAMES, W ILLIAM, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur (1902). Mit einem Vorwort von Peter Sloterdjik, übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut, Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1997, 64. 183 JOAS, H ANS, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M.:Suhrkamp 1999, 81. 184 JAMES, W ILLIAM, The Varieties of Religious Experience (1902). Introduction by John E. Smith, The Works of William James, Vol. 15, hg. v. Frederick H. Burkhardt u.a., Cambridge (Ma.)/London: Harvard Univ. Press 1985, 365. 185 A.a.O., 367. 186 SEIBERT, Religion im Denken (Anm. 168), 253.
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zugleich dessen ontologische Grammatik freizulegen. Sehen wir genauer hin: Zunächst betont er die soziale Verfassung und kommunikative Struktur des Betens, um dann sogleich seine Berechtigung an dessen Effektivität zu knüpfen. Das Gebet ist demgemäß ein Phänomen (…) in dem Menschen sich mit höheren Mächten verbunden fühlen und sich mit ihnen austauschen. Dieser Austausch wird in der jeweiligen Situation als aktiv und wechselseitig wahrgenommen. Wäre er nicht wirksam, wäre er nicht eine Beziehung des Gebens und Nehmens, würde durch ihn nicht wirklich etwas vollzogen, würde die Welt durch ihn kein bißchen anders: dann wäre das Gebet in diesem weiten Sinne eines Gefühls, daß etwas vollzogen wird, allerdings ein Gefühl von etwas Illusionärem (…) so wie es die Materialisten und Atheisten immer behauptet haben.187
Während Schleiermacher alles darangesetzt hat, das Beten nicht als einen wechselseitigen Prozess zweier Handlungsakteure zu verstehen, legt James gerade auf eine solche Vorstellung als begleitende Interpretation besonderes Gewicht. Nur dann nämlich, wenn diese gegenseitige Reaktionsmöglichkeit gegeben ist, kann auch das Effektivitätskriterium überhaupt ins Spiel gebracht werden. D.h. dort, wo keine realen Wirkungen vom Beten ausgehen, verbleibt dieses im Modus eines illusionären Spiels. Es lassen sich dieser Phänomenologie des Betens noch weitere Basiselemente der theistischen Lebensoption entnehmen: Nur, wenn das uns zugewandte, mit uns in Kommunikation tretende ‚Reale‘, ein ‚MEHR‘ an Wirklichkeit darstellt, macht es Sinn von ihm aufgrund seiner umfassenderen Perspektive auf Welt und Selbst als einem Göttlichen zu sprechen. Dies wiederum bedeutet, dass die Erfassung unserer Wirklichkeit als Handlungsgeschehen in jenem aktiven wechselseitigen Prozess (des Betens) distinkt gegenüber allen anderen ebenfalls möglichen Erfahrungsweisen wird. Andernfalls würde mit der Wirksamkeit des Betens dessen lebensverändernde und lebensgestaltende Macht verloren gehen, weil sie gar nicht mehr (be)greifbar wäre.188 In Gefahr stünde damit das Eigenrecht der Religion als eine nicht auf anderes reduzierbare Lebensoption und Wirklichkeitsperspektive. So gehen bei James seinem Verständnis einer ‚science of religion‘ folgend189 hermeneutische Beobachtungen konsequent in grundsätzliche, religionstheoretische Überlegungen über. Besonders deutlich wird dies in der einleitenden Passage aus den ‚Schlussfolgerungen‘ der Varieties. Dieser Abschnitt sei deswegen in voller Länge wiedergegeben: JAMES, Vielfalt (Anm.182), 456. Einfacher gesagt: Man erfährt religiös, d.h. als betender Mensch, nicht nur Dinge und die Welt anders oder neu, man erfährt auch Anderes, Neues und Mehr. Deswegen bleibt auch für den späten James wichtig, dass die praktische Bewährung des theistischen Gottesgedankens im Lichte eines harten Differenzkriteriums betrachtet werden muss. Vgl. JAMES, WILLIAM, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkmethoden. Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung (PhB 297), hg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 21994, v.a. 60–68. 189 Dazu siehe meine Überlegungen in § 2.2. 187 188
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Die in allgemeinster Form zusammengefaßten charakteristischen Befunde des religiösen Lebens schließen folgende Überzeugungen ein: 1. daß die sichtbare Welt Teil eines mehr geistigen Universums ist, aus dem sie ihre eigentliche Bedeutung gewinnt; 2. daß die Vereinigung mit diesem höheren Universum bzw. eine harmonische Beziehung zu diesem unsere wahre Bestimmung ist; 3. daß das Gebet bzw. die innere Gemeinschaft mit dem Geist dieses Universums – mag dieser Geist »Gott« oder »Gesetz« sein – ein Prozeß ist, in dem etwas Wirkliches geschieht, durch den spirituelle Energie in die Erscheinungswelt einfließt und dort psychologische oder materielle Wirkungen hervorbringt.190
Fragt man nun danach, wie im Akt des Betens die Gemeinschaft mit dem göttlichen ‚Geist des Universums‘ erlebt wird, dann spricht James „von der Tatsache, daß das personale Bewußtsein in ein größeres Selbst übergeht, von dem rettende Erfahrungen ausgehen“191. Der soteriologische Gehalt der Religion hängt an ihrer personalen Qualität, die, der interaktiven Struktur des Betens entnommen, sowohl das Göttliche wie den Menschen betrifft. Auf diesen Zusammenhang ist James schon einige Jahre zuvor im Rahmen seiner Psychologie aufmerksam geworden. Dort diagnostizierte er zunächst lapidar: „We cannot help praying.“192 Was grobschlächtig als Alltagspsychologie daherkommt, hat seinen Grund darin, Beten als Form größtmöglicher Öffnung und Überschreitung des eigenen Selbst hin auf einen anderen, idealen Partner zu begreifen. Darin realisiert sich die personale Eigenart des humanen Selbst, insofern ihm Gott als „judging companion“193 dient. Intimität und basale Sozialität gehen ineinander über und richten sich an einer idealen Gestalt aus. Wenn man so will, sind bereits hier alle Elemente des Personalen gegeben: „The impulse to pray is a necessary consequence of the fact that whilst the innermost of the empirical selves of a man is a Self of the social sort, it yet can find its only adequate Socius of an ideal world.“194 Auch wenn James hier wie an anderen Stellen von keiner besonderen religiösen Tradition spricht, ist der protestantische Hintergrund deutlich. Dennoch wird man sagen können, dass das, was er hier behauptet, für alle theistischen Religionstraditionen und ihre Lebensoptionen gelten kann: Das Gebet stellt nicht nur den basalen Ausdruck theistischer Religiosität dar; es zeigt auch, wie theistische Religionen die religiöse Grundsituation verstehen, nämlich als
JAMES, Vielfalt (Anm. 182), 473. A.a.O., 492. – Dem korrespondiert die Tatsache, dass in der personalen Dimension des Erfahrungsbereiches, an den die Religion wie keine andere Wirklichkeitsperspektive heranreicht, der volle Realitätsgehalt zu finden ist. Vgl. a.a.O., 478–482. 192 JAMES, Principles, Vol. 1 (Anm. 172), 315. 193 Ebd. Vgl. auch: „Alle Entwicklung des sozialen Selbst vollzieht sich in der Weise, daß an immer höhere Instanzen appelliert wird“ (JAMES, WILLIAM, Psychologie [1892]. Übersetzt von Marie Dürr mit Anmerkungen von Ernst Dürr, Leipzig: Quelle & Meyer 1909, 192; zur Theorie des Selbst: a.a.O., 174–216) – Zu James’ Theorie des personalen Selbst siehe auch: THÖRNER, William James (Anm. 171), 134–144. 194 JAMES, Principles, Vol. 1 (Anm. 172), 316. 190 191
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wechselseitige Handlungskonstellation, in der sich eigenständige Realitäten begegnen bzw. erfassen. Die Religion behauptet, daß das, wovon sie berichtet, Erfahrungstatsachen sind. Das Göttliche ist wirklich gegeben (…) und zwischen ihm und uns Menschen bestehen wirkliche Beziehungen des Gebens und Nehmens (…) Begriffliche Prozesse können diese Tatsachen klassifizieren, definieren, interpretieren; aber sie produzieren können sie nicht, noch können sie ihre Individualität reproduzieren. Das Empfinden hat gegenüber dem Denken immer ein Plus, eine Diesheit, für das es ganz allein einstehen muß.195
Erst in den letzten Sätzen des Zitates kommt nun aber abschließend auch die Grenze dieses Ansatzes zum Vorschein. James gerät nämlich in die Gefahr, die Bedeutung symbolischer Artikulation bei der Bestimmung religiöser Erfahrung zu verkennen, und dies trotz aller feinfühligen und im Grunde seiner hier geäußerten Position selbst widersprechenden Analyse, vor allem in den Varieties. Denn Erfahren und Interpretieren lassen sich nicht, wie es oben im Zitat erscheint, derart auseinanderreißen. Nichts, was erfahren wird, bleibt uninterpretiert. Auch wenn jede sprachliche Äußerung unweigerlich hinter dem zurückbleibt, was sie bekundet, so kann doch nur durch sie überhaupt begriffen werden, was als real erfahren wird. Für unseren Zusammenhang bedeutet dies: Wir müssen daher die Fokussierung der Realitätsbekundung im religiösen Gebetsleben mit James weiterführen zu einer hermeneutischen Gotteslehre, die in den symbolischen Ansichten und Lehren, wie sie in göttlichen Attributen und Eigenschaften zum Ausdruck kommen, mehr als nur sekundäre Denkleistungen sieht, sondern sie als Mittel zum symbolischen Prägnanzgewinn versteht, durch die sich das Göttliche allererst als ein „real Wirkendes“ begreifen lässt. Damit sind wir bei Gerhard Ebeling. 4.3 Die Lehre vom Gebet als Mitte der Gotteslehre (Gerhard Ebeling) Fassen wir den bisherigen Gedankengang in diesem Teilkapitel zusammen: War es Schleiermachers Verdienst, die Fassung des Gottesgedankens aus der Perspektive der gelebten Frömmigkeit als Eigenschaftslehre zu denken, da „göttliche Eigenschaften und Handlungsweisen, welche sich auf die Entwicklung menschlicher Zustände ausschließlich beziehen, wie man dies von allen sogenannten moralischen Eigenschaften sagen kann, nicht verstanden werden können ohne vorgängige Kenntnis dieser Zustände“196 und wurde dadurch die Gotteslehre von ihren falschen Abstraktionen zugunsten einer engeren Verzahnung 195 JAMES, Vielfalt (Anm. 182), 447. – Wenn an dieser Stelle bei James von „Behauptungen“ die Rede ist, dann zielt das auf den Realitäts- und Wahrheitsanspruch von Religion, oder knapper: auf die in § 8.3.2 mit der religiösen Erfahrung eingegangenen „ontologischen Verpflichtungen“. Dabei bleiben die religiösen Überzeugungen im epistemischen Status von ontologischen Behauptungen, solange jedenfalls, wie sie sich nicht praktisch bewähren. Dieses Kriterium ist aber für alle Erfahrungsweisen gültig und in Anschlag zu bringen. 196 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1, 2. Aufl. (Anm. 21), § 31.2, 197.
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von Glauben und Leben im theologischen Denken befreit, so ist es William James geschuldet gewesen, dafür einen adäquaten theoretischen Rahmen für die Plausibilität einer theistischen Option gefunden zu haben. Gerhard Ebeling (1912–2001), der dritte Autor, dem wir uns hier zu wenden, knüpft nun wiederum an Schleiermacher an, wenn er betont, dass das Interesse am universalen Lebensbezug der Frömmigkeit (…) nicht hinreichend erfaßt [wäre], wenn man nur an eine nachträgliche Anwendung des in sich selbst fertigen Gottesbewußtseins auf das übrige Leben dächte, als wäre eine religiöse Theorie in die religiöse Praxis zu überführen (…) Der Lebensbezug gibt dem Gottesbewußtsein gleichsam den Stoff. Und er verleiht dem Gottesbewußtsein damit eine sich differenzierende Physiognomie.197
Mit Schleiermacher insistiert er somit auf der Verzahnung von Glauben und Leben, die noch die Bedingung ihrer kritisch-theologischen Reflexion bildet. In der Gotteslehre wird dieser Zusammenhang nur besonders deutlich. Folgt Ebeling daher Schleiermacher in seiner Betonung der Eigenschaftslehre für die materiale Gotteslehre, so teilt er mit James – ohne explizit auf ihn zu sprechen zu kommen – die Hervorhebung des Gebets als kulturelle (kultische) Formation gelebter Glaubenspraxis und artikulierten Gottesglaubens. Das Gebet ist für Ebeling nicht nur ein Grundphänomen des religiösen Lebens, es wird zugleich zum Mittelpunkt der dogmatischen Gotteslehre. Einer berühmten Aussage Wilhelm Herrmanns folgend, wonach wir von Gott nur sagen können, was er an uns tut198, geht Ebeling von einer tätigen Aktivität Gottes im Gegenüber zum Menschen aus. Dieses Geschehen ist – darin macht sich sein von James und Schleiermacher gleichermaßen unterschiedener Theorieansatz kund – für ihn primär als Wortgeschehen zu verstehen. Diese hermeneutische Grundlegung ermöglicht ihm eine stärkere Beachtung der symbolischen bzw. sprachlichen Verfasstheit religiöser Handlungen und Erfahrungen. Die Wirklichkeit, wie sie der Glaube (bzw. die Religion) erfasst, kommt nur inhaltlich gefüllt und sprachlich artikuliert – eben als Wortgeschehen – zum Ausdruck. Ebelings Zugang zum Gebet ist von vornherein ein doppelter: Zum einen lassen sich über dieses religiöse Phänomen bestimmte anthropologische Grundzüge erschließen, zum anderen stellt das Gebet aus der Perspektive lutherischer Theologie ein fundamentaltheologisches Thema dar199. Beide Aspekte zusammengenommen führen in der Neuzeit zu dem, was wir oben die doppelte Krise des Theismus genannt haben. Die Schwierigkeiten des „modernen Menschen“ 197 EBELING, G ERHARD, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. III. Studien zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen: Mohr Siebeck 1975, 116–136, 124f. 198 Vgl. H ERRMANN, W ILHELM, Die Wirklichkeit Gottes, in: Ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie, Bd. 2, hg. v. Peter Fischer-Appelt, München: Kaiser 1967, 290–317, 312. 199 Man denke nur an Luthers Dreiklang aus Oratio, Meditatio und Tentatio, die bekanntlich den Theologen ausmacht.
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mit dem Beten betrifft nicht nur die Praxis als solche, sondern ebenso das darin in Anspruch genommene personale Gottesverständnis: Die Widersprüche, an denen man sich stößt, konzentrieren sich in erster Linie auf das Gottesverständnis (…) Gott als Person sich vorzustellen und mit ihm auf du und du zu stehen, scheint auf der Linie der Götterbilder zu liegen, die als Projektionen des Menschlichen ins Göttliche von innerem Selbstwiderspruch gezeichnet sind.200
Nicht jede Gebetskritik allerdings entwächst atheistischen Haltungen. Es gibt auch Stimmen, die einen konsequenten Gottesgedanken mit der Ablehnung des Gebets systematisch verbinden: „Wo bleibt sie [sc. die Allmacht Gottes; C.P.], falls das Gebet etwas vermag? Vermag es aber nichts, was soll es dann?“201 Für Ebeling lassen sich die Schwierigkeiten in eine fast paradoxe Grundsituation zusammenfassen: So sehr das Gebet im Grunde eine kindliche Einstellung gegenüber der Wirklichkeit und somit die Verleugnung der eigenen Autonomie darstellt, so sehr zeigen Erfahrungen mit den Widersprüchlichkeiten des Lebens die Dürftigkeit menschlicher Handlungsoptionen und drängen so von sich aus, oftmals sogar gegen den eigenen Willen, zum Gebet. Die Strittigkeit des Gottesverständnisses in der Moderne wiederholt sich somit am Ort seines elementaren Vollzugs und darin wird eine religiöse Grundkonstellation deutlich, weswegen für Ebeling das Gebet auch als Brücke und für die „Kontinuität des Christentums mit der gesamten Welt der Religionen“202 steht. Während andere elementare Praktiken, wie der „Opfer- und Bilderdienst“203 überwunden wurden, ist das Gebet durch den christlichen Gottesgedanken vertieft und intensiviert worden. Was bislang eher anthropologisch und religionstheoretisch formuliert wurde, lässt sich schließlich in fundamentaltheologischer Hinsicht spezifizieren: Die Situation des Gebets ist die Situation des Glaubens selbst, weil sie – lutherisch gesprochen – die Relation des coram deo-Seins des Menschen offenbart. Denn Situation ist ein Relationsbegriff und meint das Feld derjenigen Beziehungen, die zu einer gegebenen Zeit menschliches Leben bestimmen und fordern. Mit dem Begriff der Situation wird das Menschsein auf Externität, Zeitlichkeit und Personalität angesprochen: auf Externität, weil der Mensch nur in der Leiblichkeit und darum in passivem und aktiven Zusammensein mit seiner Umwelt da ist; auf Zeitlichkeit, weil er, durch seine Endlichkeit herausgefordert, den Augenblick transzendiert und so stets im Übergang lebt; auf Personalität, weil er alles sprachlich erfährt und verantworten muss.204
Nicht nur wird die Situation, wie sie im Beten erfasst wird, auf die Eigenart der menschlichen Existenz hin qualifiziert, sie betrifft zugleich das göttliche Gegenüber. Dies gilt für alle drei Momente: Extern ist Gott insofern, als im Beten EBELING, GERHARD, Das Gebet, in: Ders., Wort und Glaube III (Anm. 197), 408f. A.a.O., 409. 202 A.a.O., 419. 203 Ebd. 204 A.a.O., 421. 200 201
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die Eigenständigkeit der menschlichen Person selbst dadurch nicht aufgehoben wird, dass Gott als der den Menschen in seinem Geist Umgreifende gedacht wird; zeitlich wird Gottes Realität verstanden, da die Situation, die im Gebet zur Sprache gebracht wird, nicht nur einem zeitlichen Index unterliegt, sondern im Akt des Betens der Beter wie sein göttliches Gegenüber als reaktiv veränderbar begriffen wird; und schließlich setzt das „Gebet (…) offenbar das Personsein Gottes [Hervorhebung; C.P.] voraus. Die Anrede in der zweiten Person ist nicht eine beliebig auswechselbare Stilform, sondern konstitutiv.“205 Alles in allem bedeutet dies in knapper und auf Fichte und den Atheismusstreit anspielender Hinsicht: Wer betet, widerspricht implizit oder explizit dem „restriktiven neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis[]“206, das „Wirklichsein und Endlichsein identisch setzt“207. Dieser Rahmen, den Ebeling in einem Aufsatz von 1973 konzipiert hat, zieht er fünf Jahre später in (fast) ingeniöser Weise als Grundstein seiner Gotteslehre in der Dogmatik des christlichen Glaubens208 aus. Für unseren Zweck soll allein der systematische Aufriss von Interesse sein. Ebeling konstruiert die drei Paragraphen der Gotteslehre im ersten Band analog zu den Sprechsituationen: Er setzt mit der drittpersonalen Perspektive des Redens über Gott (§ 8) ein, in der es um die philosophischen und existentiellen Bedingungen der Gottesrede als verantwortetes Sprachgeschehen geht. Von hier aus leitet er über zum dialogisch-zweitpersonalen Reden zu Gott (§ 9), das die eigentliche Lehre vom Gebet ausmacht. Schließlich münden seine Ausführungen zur erstpersonalen Rede, die vom Standpunkt des Glaubenden aus nur als Rede von Gott her (§ 10) gedacht sein kann. Hier verhandelt er vornehmlich die Lehre von der Offenbarung. Ebeling macht mit der sprachhermeneutischen Grundlegung der Theologie auf stringente Weise ernst. Überraschend ist allerdings, dass für ihn weder Offenbarungs- noch Trinitätslehre den Mittelpunkt und Schlüssel zur materialen Gotteslehre bilden, sondern eben die Gebetslehre. Begründet wird dieser Schritt zum einen dadurch, dass die Situation des Menschen als Sprachsituation begriffen wird und der Strittigkeit des Gottesgedankens nur dadurch begegnet werden kann, dass sie sich dem religiösen Lebensvollzug öffnet und darin den religiösen Ursprachakt als Reden zu Gott analysiert.209 Zum anderen setzt noch die notwendige Frage nach dem ‚Woher‘ der Rede von Gott, d.h. das Problem der Offenbarung, das Reden nicht nur über, sondern eben auch zu Gott voraus.
A.a.O., 423. Ebd. 207 Ebd. 208 Vgl. EBELING, G ERHARD, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1: Prolegomena. Erster Teil: Der Glaube an Gott als den Schöpfer der Welt, Tübingen: Mohr Siebeck 31987. Die Paragraphen im Haupttext beziehen sich auf diesen Band. 209 Vgl. a.a.O., 192. 205 206
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Andernfalls würde jene Erfahrungsbasis fehlen, die überhaupt den Grund der Frage nach und der Rede von Gott aus sich heraus entlässt.210 Das Phänomen des Gebets wird somit zum hermeneutischen Schlüssel der Gotteslehre. Von da aus öffnet sich das Verständnis für das Gott zugesprochene Sein und für die Gott zugesprochenen Attribute. Die Lehre von Gott ist deshalb in Korrelation zur Lehre vom Gebet zu entwerfen. Dies bedeutet eine wesentliche Abweichung vom traditionellen dogmatischen Vorgehen. Zugleich steht es jedoch im Gegensatz zu der gegenwärtigen Verunsicherung in Bezug auf die Lehre von Gott. Es verleiht der Gotteslehre eine Konzentration und Begründung, die dem biblischen Reden von Gott näher stehen als die Verfahrensweise der klassischen dogmatischen Gotteslehre.211
So sehr dieser Ansatz, von Ebeling selbst eingestanden, mit herkömmlichen dogmatischen Behandlungen der Thematik bricht, so wenig werden die dabei verhandelten Probleme entsorgt. Vom Phänomen des Gebets her präzisiert sich nämlich die Gottesfrage in zweifacher Weise: Erstens belegt das Gebet, dass Gott nicht durch Handlungen bezwingbar oder durch Identifikation objektivierbar ist. Beten meint nachgerade keine Magie. Zudem ist der Mensch „hier in einer Weise beteiligt, die ihm die Zuschauerrolle unmöglich macht und die neutrale Distanz aufhebt“212. Zweitens bedeutet dies, dass im Gebet nicht von Gott in objektiv-neutraler Weise gesprochen werden kann, auch nicht im Sinne einer vermittlungslosen Unmittelbarkeit.213 Im Gebet kommt somit zum Tragen, dass die religiöse Haltung im strengen Sinne weder Metaphysik noch Mystik meint. In jenem grundlegenden religiösen Sprachgeschehen, welches das Beten darstellt, erfährt sich der Mensch vielmehr als ein „Von-Woanders-her-Angesprochener“. Hierin erst liegt die Möglichkeit zur Prädizierbarkeit bzw. zur konkreten Gottesrede begründet, und zwar sowohl als Rede zu, als auch als Rede über und von Gott her. „Man könnte auch sagen: Für die Art, wie die Gotteslehre vom Sein Gottes und von seinen Attributen spricht, bedeutet es eine entscheidende Verstehenshilfe, all dies in die Sprache des Gebets zurückzuübersetzen.“214 Damit ist die methodisch-didaktische Maxime benannt, unter der im Folgenden die Reformulierung der dogmatischen Gotteslehre mit ihrer klassischen
Vgl. a.a.O., 243f. A.a.O., 193. Mit dem Verweis auf das biblische Schrifttum betont Ebeling die Bedeutung des jeweiligen symbolischen religiösen Vokabulars für die konkrete, interpretative Erfassung der Realität Gottes. 212 A.a.O., 204. 213 Vgl. a.a.O., 205. 214 A.a.O., 210. 210 211
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Dreiteilung – bestehend aus Lehre von der Existenz, des Wesens und der Eigenschaften – erfolgt. Für Ebeling erweist sich im Gebet das Sein Gottes in dreifacher Gestalt als Gegenüber-Sein, als Person-Sein und als Tätig-Sein215: Im Unterschied freilich zur bloßen Existenzaussage über Gott interpretiert das Faktum des Gebets die Seinsaussage sogleich in dreifacher Hinsicht: als Gegenübersein, als Personsein und als Tätigsein. Dies impliziert selbst der schlichteste Gebetsseufzer, die bloße Interjektion ‚O Gott!‘, das Reden zu Gott als Schrei nach Gott: daß da ein Gegenüber ist, das etwas vernimmt und auch etwas unternimmt – ‚ein Ohr, zu hören meine Klage, ein Herz, wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen‘.216
Während das Gegenüber-Sein Gottes, das der Mensch im Beten erfährt, die alte Lehre von den Beweisen der Existenz Gottes ersetzt, da sie im selben Moment angenommen und anerkannt ist217, präzisiert die Rede vom Tätig-Sein einerseits das Person-Sein Gottes und rückt andererseits an die Stelle von den klassischen Attributen. Diese standen von jeher in der Gefahr nur als Abstrakta des Seins vom Handeln Gottes zu reden.218 Im Zentrum steht nun aber die Lehre vom Person-Sein. Mit ihr wird das Wesen Gottes zu begreifen versucht.219 Was versteht Ebeling unter Gottes Person-Sein? Im Sinne seiner relationalen Ontologie bedeutet es zunächst dessen Zusammensein mit dem Menschen und der Welt. Genauer formuliert: das in seinem spezifischen Tätig-Sein sich realisierende Zusammen-Sein Gottes mit dem (bzw. den) mit der Welt zusammenbestehenden Menschen. Das ist noch weiter zu präzisieren: Erstens erstreckt sich das unter die Kategorie des Zusammenseins Gottes Gefasste stets auf alle drei Relationsgrößen, also auf ‚Gott‘, ‚Welt‘, ‚Mensch‘. Es gibt kein weltloses, solipsistisches Zusammensein, sowenig es ein Gebet gibt, das nicht stets auch das In-der-Welt-Sein des Menschen thematisiert. Zweitens resultiert die Verknüpfung von Gottes Person- und seinem „Einer“-Sein nicht aus der kosmologischen Überlegung, wonach Gott als Einheitspunkt gegenüber der Vielgestaltigkeit der Welt zu stehen kommt. Vielmehr ist Gott der ‚Eine‘ im Gegenüber von Mensch 215 Zu Recht weist Joachim Ringleben darauf hin, dass sich diese Dreiteilung auch bei Heiler findet. Zu seiner Ebeling-Deutung, vgl. RINGLEBEN, JOACHIM, »In Einsamkeit mein Sprachgesell«. Das Gebet als Thema der Dogmatik, in: ZThK 79 (1982), 230–248; hier: 243. 216 Vgl. EBELING, Dogmatik, Bd. 1 (Anm. 206), 213. Das Zitat im Zitat entstammt Goethes Prometheus. 217 Vgl. a.a.O., 215–224. – Das Dilemma, in das die Gottesbeweise geführt haben, soll durch die hermeneutische Rekonstruktion der relationalen Ordnung des vielschichtigen Zusammenseins von Gott, Welt und Mensch ersetzt werden. Als ontologische Grundkategorie rückt daher der Modus des Seins als Zusammensein in den Mittelpunkt. Vgl. a.a.O., 219. 218 Ebeling beruft sich in seiner Kritik an diesem Abstraktionsmodell nicht zufällig auf seine beiden großen Gewährsmänner Luther und Schleiermacher, vgl. a.a.O., 230–233. 219 Damit läuft meine Würdigung der Leistung Ebelings derjenigen von Harmut von Sass (vgl. VON SASS, Gott als Ereignis [Anm. 35], 328) diametral entgegen, die gerade in der Wendung zur Lehre vom Person-Sein Gottes einen ‚Rückfall‘ angesichts der Krise des Theismus erblickt.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
und Welt. Dabei fußt der Monotheismus somit auf der Personalität Gottes, nicht umgekehrt.220 Drittens wird dies noch dadurch überboten, dass, analog zum biblischen Volk Gottes- und Bundesmotiv, nicht der einzelne Mensch primär dem Person-Sein Gottes entspricht, sondern der Einzelne erst durch den Bezug auf das „Einersein Gottes“ in seinem „Gegenübersein (…) zu den Menschen insgesamt“221 seine Personalität empfängt. Es ist zweierlei, ob das Einer-Sein Gottes dem Gesamtnexus der Welt als Natur korrespondiert, oder ob es einem aufgeht an dem Zusammensein Gottes mit der geschichtlichen Menschheit und an seinem Gegenübersein zu ihr, so daß alle als Einzelne in Gott denselben Bezugspunkt haben und dadurch untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Falle ist das Personsein Gottes für das Verständnis dessen konstitutiv, dass Gott Einer ist.222
Das Verständnis der Personalität Gottes, dass sich unter jüdisch-christlichen Vorzeichen mit dem Verständnis seiner Einheit und Einzigkeit verbindet, entspringt somit jener Situation, die zuvor als eine externe und zeitliche, eben welthaft-geschichtliche skizziert wurde und im Gebet exemplarisch artikuliert wird. Deswegen kann Ebeling die Rede von der Personalität Gottes auch nicht von ihrem anthropologischen Ort, der Situation des Menschen in der Welt, abtrennen.223 Skeptisch bis kritisch eingestellt bleibt er von daher gegenüber trinitarischen Modellen der Ableitung der Personalität des Menschen, da sie entweder eine ontologische Überreizung des Personenbegriffs darstellen oder aber diesen
220 Somit entscheidet sich schon in der Modellierung der Größen von ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘, welcher Richtung durch die jeweilige Konstellation der Vorzug gegeben wird: einer eher kosmotheistischen bzw. monistischen oder einer eher personal-theistischen. – Erwähnenswert ist, dass Ebeling unter Rekurs auf die Figur des ‚Zusammenseins‘ auch eine Kritik an kruden Anthropomorphismen vorträgt: „Es ist zweierlei, ob für das Personsein Gottes die Vorstellung einer Menschenähnlichkeit des Göttlichen leitend ist, so daß von da aus der Pluralität der Göttergestalten grundsätzlich nichts im Wege steht, oder ob für das Personsein Gottes sein Gegenübersein zum Menschen in dessen In-der-Welt-Sein bestimmend ist. In diesem Fall bringt das Personsein Gottes nicht die Menschenähnlichkeit Gottes zum Ausdruck, sondern das Zusammensein Gottes mit dem Menschen“ (EBELING, Dogmatik, Bd. 1, [Anm. 208], 227). 221 Ebd. 222 A.a.O., 228. 223 Ebeling führt daher die Diskussion um das Begreifen dessen, was Personalität bedeutet, in den anthropologischen Abschnitten seiner Dogmatik, konkret im §14 der Dogmatik des christlichen Glaubens, fort (vgl. a.a.O., 334–355). Die dort genannten drei Momente des Personseins als Zusammen-, Sprachlich- und Verantwortlich-Sein belegen deutlich, dass hier der Weg zu einer handlungstheoretischen und ethischen Fundierung des Personenbegriffs wenigstens im Ansatz beschritten ist. Vgl. dazu schon: EBELING, GERHARD, Theologische Erwägungen zum Gewissensbegriff, in: Ders., Wort und Glaube I, Tübingen: Mohr Siebeck 1960, 429–446.
4. Von der Eigenschaftslehre zur Lehre vom Gebet
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in lediglich uneigentlicher Weise gebrauchen, was ihn wiederum für die Kennzeichnung des Seins Gottes untauglich machen würde.224 Eine ontologisch befriedigende Weise, vom Personsein Gottes zu reden, läßt sich nur im Zusammenhang mit der Anthropologie erreichen. Nicht etwa so, daß ein untheologischer Begriff des menschlichen Personseins auf Gott zu übertragen wäre. Vielmehr so, daß im Sinne relationaler Ontologie der Begriff des Personseins das Menschsein als Zusammensein mit Gott bestimmt und verständlich werden läßt, warum das Zusammensein Gottes mit dem Menschen als Gegenübersein angesprochen und dieses ebenfalls als Personsein präzisiert werden kann. Und zwar nicht in einem bloß übertragenen, uneigentlichen Sinne, sondern in strikter Bedeutung. Deshalb bleibt die Erörterung über das Personsein Gottes (…) solange unabgeschlossen, bis vom Menschen coram Deo die Rede ist225.
Schließlich lässt sich noch ein vierter Gesichtspunkt hervorheben. Er betrifft die Modi des Tätigkeit-Sein Gottes als verschiedene Weisen und qualitativen Bestimmungen seines realen Zusammenseins mit der Welt und den Menschen. Hier befinden wir uns nach Ebeling am neuralgischsten Punkt der Gotteslehre, weil er unmittelbar den Zusammenhang von Gott, Glaube und Leben betrifft. Erst mit ihm wird die aus der Gebetslehre entwickelte Gotteslehre konkret, insofern die verschiedenen Weisen des Betens verdichtet zum Ausdruck bringen, wie Gott an uns als unser Gegenüber handelt und wie wir ihn je konkret als unseren Gott erfahren. Im Unterschied zur klassischen Unterscheidung von ontologischen und ethischen Attributen fußen alle göttlichen Eigenschaften auf der Form ihrer sprachlichen Artikulation und Darstellung. Darüber bestimmen sie wesentlich die erfahrene, personale Realität Gottes in qualitativer Hinsicht. Die Hauptelemente des Gebets sind Anrede, Dank und Bitte. Durch jedes dieser Elemente wird ein Grundzug im Wesen Gottes angesprochen. Aber wie Anrede, Dank und Bitte nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern einander bedingen und eines im anderen enthalten ist, so umschließt jeder der so angesprochenen Wesenszüge Gottes auch die anderen und wird jeweils einer auf die anderen hin durchsichtig. Da nun im Gebet das Leben seine äußerste Verdichtung erfährt und im Zusammensein mit Gott die das Leben durchwaltenden Spannungen stärkstes Ausmaß annehmen, bricht bei jedem Grundzug des Wesens Gottes eine Polarität auf, die der Ausdruck dessen ist, daß Gott als lebendiger Gott angesprochen und geglaubt wird.226
224 Vgl. a.a.O., 228f. – Das bedeutet nicht, dass Ebeling den Gottesgedanken oder auch die Lehre vom Gebet nicht christologisch, pneumatologisch und dabei zugleich trinitarisch anreichern würde. Schon der zweite Band seiner Dogmatik macht ja deutlich, dass jede Weise des Tätigseins Gottes, d.h. die göttlichen Attribute, durch die christologische Deutung der Lebensgeschichte Jesu näher zu bestimmen ist. Auch das Gebet ist erst dann christlich, wenn es im Namen Jesu geschieht. Vgl. EBELING, GERHARD, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2: Der Glaube an Gott den Versöhner der Welt, Tübingen 1979, 99f. 225 EBELING, Dogmatik, Bd. 1 (Anm. 208), 229. 226 A.a.O., 241. – Ebelings diesbezügliche Ausführungen haben nur mehr den Status einer Skizze. Darin bleiben sie notwendigerweise fragmentarisch. Dabei betont er den „meditativen Umgang“ (ebd.) mit diesem Problem, was seine Ausführungen denjenigen Schleiermachers
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
5. Vom Beten: Die Realität des personalen Gottes in der religiösen Praxis 5. Vom Beten
Ebelings hermeneutische Gebetslehre, rekonstruiert man sie nicht allein in ihrer binnendogmatischen Gestalt, sondern vor dem Hintergrund dessen, was zuvor als ‚ontologische Grammatik des Betens‘ (vgl. § 8.3.2) skizziert wurde, stellt einen wichtigen Beitrag zur Reformulierung der Lehre von der Personalität Gottes dar. Dies gilt obgleich sein strikt in binnentheologischem Rahmen verbleibender Ansatz sich kaum religionsphilosophischen Überlegungen zum Zusammenhang von Gott und Gebet stellt, wie wir sie weiter oben behandelt haben (vgl. § 8.2). In meinen Augen stellt das größte Manko Ebelings sein mangelndes Interesse an einer handlungstheoretischen Rückbindung der Gotteslehre dar, wie sie sowohl neuere Ritualtheorien als auch pragmatistische Ansätze nahelegen würden. Sein Verdienst sowohl gegenüber Schleiermacher als auch James ist jedoch seine Fokussierung auf die sprachlich-hermeneutische Dimension. Geht man nun zunächst von der Praxis des Betens als einer Situation aus, in der sich religiöse Erfahrungen, somit auch Gotteserfahrungen, einstellen, dann lässt sich jene allgemeine Konstellation freilegen, die diesem religiösen Akt zugrunde liegt: Die symbolische Artikulation der gemachten Erfahrung eines wechselseitigen Handlungsgeschehens, welches die Situation des Betens konstituiert. Zur Religion, wo sie eine aktive Angelegenheit ist, [gehört] der Glaube an die Gegenwart von etwas Geistigem (…) und die Überzeugung, daß in unserer Gebetsgemeinschaft mit dieser Gegenwart etwas Reales geschieht und geschaffen wird.227
Vor diesem Hintergrund lässt sich eine weitere Hypothese plausibilisieren: Das, was als personal bezeichnet wird, und sowohl den oder die Beter wie das als real erfahrene Göttliche qualifiziert, entstammt der symbolisch prägnanten Artikulation und Deutung dieses Handlungskontextes. Strenggenommen stellen ‚Gott‘, ‚humanes Selbst‘ und ‚Person‘ dabei in Anspruch genommene interpretatorische Konzepte dar, die sich in ein kohärentes Modell bringen lassen müssen, wollen sie überzeugen. Sie ordnen und strukturieren vor, was sich in der konkreten religiösen Handlung an Erfahrung einstellen kann, aber nicht
nahebringt, der neben einer strikt dogmatischen auch eine eher ‚dichterische‘ Verhandlung von Gottesmetaphern kennt. Entscheidend ist, dass Ebelings Betonung des Spannungsreichtums innerhalb der Gotteslehre sich einer spannungsvollen Deutung des Gebetsgeschehens verdankt. Daher kennt er keine bevorzugte Weise des Betens, etwa diejenige des Danks oder der Andacht. Anders hingegen die Ausführungen von Gunther Wenz, in denen er sich an seinem Lehrer Wolfhart Pannenberg orientiert: vgl. WENZ, GUNTHER, Andacht und Zuversicht. Dogmatische Überlegungen zum Gebet, in: ZThK 78 (1981), 465–490. 227 JAMES, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 182), 477.
5. Vom Beten
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muss228. Insofern behält die hermeneutische Fassung des Problems durch Ebeling ihr Recht, weil nur über die symbolische Sprachgemeinschaft, die konkrete religiöse Tradition, erfasst werden kann, was genau unter dem Begriff bzw. der Vorstellung der Personalität Gottes gemeint ist. Nimmt man beide Momente – den Handlungs- und den Sprachaspekt – zusammen, dann zeigt sich, dass im Akt des Betens das religiöse Verhältnis selbst als ein personales bestimmt ist oder umgekehrt, dass dieses in religiöser Hinsicht Aufschluss darüber gibt, was ‚personal‘ eigentlich bedeutet. In diesem Sinne gilt zu Recht: Das Gebet versteht die Grundsituation des Menschen als durch die Beziehung zu Gott entscheidend bestimmt (…) Wenn man mit Schleiermacher diese Beziehung als schlechthinnige Abhängigkeit versteht (…), so ist dies nur dann recht verstanden, wenn das Abhängigsein des Menschen von Gott unablässig anhängig ist vor Gott – anhängig wie in einem Rechtsprozeß (…) ausgeweitet auf den Lebensprozeß (…) Die Gottesbeziehung ist nicht eine physikalische Kausalitätsrelation (…) sondern eine sprachliche Personalitätsrelation.229
So gesehen konfigurieren sich ‚Gott‘ und ‚Mensch‘, der Beter und das ‚göttliche Gegenüber‘ im Akt des Betens gegenseitig als Personen. Streng genommen ist es somit die Situation, die als relationale personal bestimmt wird und darüber dann auch ihre Glieder. Diese Bestimmung geschieht mittels sprachlicher Symbole und ritueller Gesten. Aber ihr bleibt doch die Erfassung der Situation als (wechselseitige) Handlungsgegenwart vorgängig. In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, den Unterschied zwischen einem kausalen und einem sprachlich-personalen Verständnis dieser Handlungsgegenwart zu beachten. Andernfalls ist es leicht, jedes Verständnis des Betens als wechselseitiges Handlungsgeschehen unter Magieverdacht zu stellen. Suggeriert dies doch, als würde man kausal oder suggestiv auf Gott einwirken können. Doch sieht man genauer hin, entziehen sich schon die meisten traditionellen Formeln und biblischen Gebetsmuster (bspw. in den Psalmen) diesem simplen Verständnis. Mehr noch, wie wir aus gegenwärtigen Untersuchungen zum Selbst- und Gottesverständnis von Menschen, die (regelmäßig) beten, wissen230, sind diese sich des diesbezüglichen Unterschieds ebenso bewusst wie sie oftmals ein starkes Sensorium für die Schwierigkeiten haben, die moderne Menschen (inklusive ihrer selbst) mit dem Beten haben. 228 Denn es gehört zum Realismus dieses Modells, dass Interpretationskonstrukte an der Realität scheitern können. 229 EBELING, Das Gebet, in: Ders., Wort und Glaube (Anm. 200), 422. 230 Das Gebet ist erst in jüngerer Zeit wieder verstärkt auch Gegenstand soziologischer Untersuchungen, abseits der üblichen religionstatistischen und quantitativen Befragungen, geworden. Für eine neuere Untersuchung verweise ich auf: GIORDAN, GIUSEPPE/WOODHEAD, LINDA (Hg.), A Sociology of Prayer, Surrey (UK)/Burlington (VT): Ashgate 2015. – In diesem Band werden unterschiedliche Gebetsformen, -anlässe und -kontexte (aus verschiedenen, vor allem christlichen Frömmigkeitstraditionen) untersucht, die auch die materiale Dimension der Gebetspraxen einschließen.
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
Der US-amerikanische Religionssoziologe Robert Wuthnow, auf den ich mich hier berufe, hat gezeigt, wie implizit oder explizit die Strukturmerkmale, die das Gebet als Sprechakt auszeichnen, den betenden Personen durchaus bewusst sind.231 Das heißt: Die Betenden wissen sehr wohl, dass sie im Gebrauch alltagsprachlicher Verwendungen, bspw. durch Metaphorisierung, so etwas wie einen ‚Code-Switch‘ vornehmen, der selbst wiederum Regeln unterworfen ist.232 In deutlicher Nähe zu dem, was weiter oben die ontologische Grammatik des Betens genannt wurde, kennt Wuthnow sechs Elemente – er nennt sie ‚devices‘, die den Sprechakt des Betens formieren und die zugleich Auskunft über das darin performativ sich artikulierende Gottesverständnis geben können: I describe six devices of language that serve as ways of praying and talking about prayer while also expressing some degree of doubt or ambivalence about what prayer is and actually accomplishes: shema alignment, ontological assertion, contingency referents, domain juxtaposition, code switching and performative competence.233
Alle sechs Elemente prägen zusammen das im Gebet in Anschlag gebrachte Gottes- und Selbstverständnis der religiös Handelnden. Und zwar sowohl durch die religiöse Sprache, die dabei Verwendung findet, als auch durch die jeweils individuelle Aneignung seitens des Betenden. Ohne genauer auf die einzelnen devices eingehen zu können, prägen sich doch vor allem zwei Aspekte aus, die für die Hermeneutik des personalen Gottesverständnisses aus dem Akt des Betens entscheidend sind: Erstens bleibt Gott gegenüber den Menschen in qualitativer Hinsicht verschieden – von daher sind simple kausale oder übernatürliche Schemata fehl am Platz, wenn es zu verstehen gilt, wie Gott im Gebet handelt.234 Zweitens stellt sich die Eigenart des Betens darin ein, dass Gott und Mensch gleichermaßen im Gebet als aktiv erfasst werden. Deswegen stellt das 231 Vgl. W UTHNOW, R OBERT, The God Problem. Expressing Faith and Being Reasonable, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press 2012. Vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen geht Wuthnow der Frage nach, wie gläubige Menschen (mit hohem Bildungsgrad) dem in westlichen Gesellschaften dominierenden Mentalitätsvorbehalt gegenüber Religion als überkommener Praxis begegnen. Dabei fußen seine Analysen auf qualitativen Interviews von Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schichtung. Interessant ist dabei das – auch durch komparative Studien – erhärtete Faktum, dass es keine einlinige Korrelation zwischen höherem Bildungsgrad und abnehmender Religiositäts-, konkret sogar: Gebetspraxis gibt. Vgl. a.a.O., 21–29. – Den Hinweis auf Wuthnow, den ich erst nach Abfassen eines ersten Entwurfs zu diesem Kapitel erhielt, verdanke ich einem Gespräch mit Peter L. Berger (Boston). 232 Zum Ausdruck des ‚code-switching‘ in der Analyse des Gebetsverständnisses: a.a.O., 80–83. 233 A.a.O., 58. 234 Wuthnow spricht hier von einer Modellanpassung (‚shema alignement‘), die in der Konfiguration des religiösen Schemas immer dann vorgenommen wird, wenn die religiöse, aber auch die theologische Sprache bspw. von einem Handeln Gottes spricht: vgl. a.a.O., 60– 63.
5. Vom Beten
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Gebet auch keine andächtige Selbstreflexion oder meditative Praxis dar. Als kommunikative Handlung fußt es vielmehr auf einer in Anspruch genommenen wechselseitigen Relation, als welche die religiöse Situation artikuliert und gedeutet wird. Die Struktur des Betens, seine ontologische Grammatik, beruht somit auf der Wechselseitigkeit der beiden Glieder oder Partner; sie hängt an der Anerkennung ihrer nicht aufeinander reduzierbaren Gegenüber.235 Das bleibt solange unproblematisch, wie zweierlei beachtet wird: Erstens ist das Insistieren auf einer Wechselseitigkeit nicht gleichzusetzen mit der Unterstellung einer Symmetrie zwischen beiden Gliedern.236 Dies wird schon durch die erste Implikation ausgeschlossen. Wechselseitigkeit schließt zwar gegenseitige Reaktionsfähigkeit ein, aber diese lässt sehr wohl kategoriale Asymmetrien zu. Ausgeschlossen bleiben muss aber zweitens ein Verständnis des Betens als wechselseitigen Sprechakts im Sinne des Sender-Empfänger-Modells. Auch wer nichts gegen die Qualifizierung des Gebetsakts als eines Kommunikationsgeschehens einzuwenden hat237, muss darauf achten, dass sein dabei verwendetes Modell nicht zur Vorstellung führt, auch Gott ‚rede‘ mit und ‚antworte‘ den Menschen mittels innerlicher Sprache oder mimisch-gestischer Zeichen. Das Modell alltagssprachlicher Kommunikation führt hier in die Irre.238 So zeigt sich eine spezifische Konstellation, die im Vollzug des Betens als religiöser Handlung praktisch angenommen wird: Für das Verständnis der göttlichen und menschlichen Realität umfasst diese die beiden grundlegenden Aspekte der qualitativen Differenz und wechselseitigen Reaktionsfähigkeit. Dies gilt ganz generell, d.h. noch vor jedem spezifischen Verständnis von Gott und Mensch, wie es historischen Religionstraditionen und ihren religiösen Sprachstilen entnommen werden kann; und es ist auch hinsichtlich dessen, was unter Vgl. a.a.O., 65–75. Zur Unterscheidung von Wechselseitigkeit und radikaler Symmetrie, bezogen auf die differenten Weisen personaler Anerkennungsverhältnisse, siehe: RICŒUR, PAUL, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein (2004). Aus dem Frz. von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, v.a. 274–206.317– 325. 237 Der Grund, warum das wechselseitige Geschehen des Auf-Einander-Wirkens im Gebet weiterhin als Kommunikationsgeschehen begriffen werden kann, liegt darin, dass das ganze Setting als kontrastive Handlungssituation begriffen wird. Menschen, die sich an Gott wenden, erfahren zwar, dass sie die Grenzen ihres eigenen Selbst überschreiten, aber eben so, dass sie sich einem Anderen öffnen und dabei trotz allem ihr Selbst nicht verlieren. Vgl. die Überlegungen zum Aspekt der „domain juxtaposition“ bei: WUTHNOW, The God Problem (Anm. 231), 75–80. 238 In diesem Sinne betont PHILLIPS, Concept of Prayer (Anm. 75), v.a. 53–64, zu Recht, dass Gott kein (unverständlicher) Teilnehmer unserer Sprache, d.h. Sprecher in unseren Sprachspielen, ist. – Häufig genug produziert dieses Missverständnis dann weitere, wie man am Problem der Gebetserhörung sieht. Dabei muss gerade ein personales Gottesverständnis das Wissen festhalten, dass es zur spezifischen Form personaler Kommunikation gehört, dass die Weisen des Reagierens kontingent bleiben und auch scheitern können. 235 236
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
„Reaktion“ zu verstehen ist, ganz allgemein gehalten, also noch nicht mit einer elaborierten Handlungssemantik versehen, die ebenfalls stets kulturell geprägt ist. Für die jüdisch-christliche Tradition lassen sich dann, wenngleich ohne apologetische Wertung, jene Tendenzen ausmachen, die Mauss, Heiler, aber auch Ebeling als Individualisierung und Spiritualisierung ausgemacht haben. Mithin ist der personale Aspekt des Göttlichen zwar schon in den oben benannten strukturellen Aspekten angelegt, aber er kommt erst durch das jeweilige symbolische Vokabular vollends zum Ausdruck. Angelegt ist er dadurch, dass mit Hilfe der beiden Aspekte von qualitativer Differenz und wechselseitiger Reaktionsfähigkeit verständlich wird, warum im Akt des Betens sich die personale Realität der in das Geschehen Involvierten gleichsam performativ von selbst einstellt.239 Zwar lassen sich weder der Glaube an die Existenz noch an die Personalität Gottes allein auf den Vollzug von Gebet und Gottesdienst beschränken. Man wird auch nicht ernsthaft behaupten wollen, dass man zu allererst von der Existenz oder Personalität Gottes überzeugt sein müsse, um zu beten. Aber „[r]ichtig ist, daß mit jemanden, der zu Gott zu beten behauptet, während er bestreitet, an die Existenz Gottes zu glauben, etwas nicht stimmen würde.“240 Daher lässt sich sehr wohl umgekehrt behaupten, dass der Glaube an einen personalen Gott sich in dieser spezifischen Handlung besonders seiner selbst vergewissert bzw. dass jene die herausgehobene Bewährungssituation für die Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit der personalen Realität Gottes darstellt: In der Religion dagegen kann es zwar ein Nachdenken über die Existenz Gottes geben, das mitunter vielleicht zum Verlust des Glaubens führt, doch dieses Nachdenken selbst läßt sich von der Reflexion über das Gebet, die Verehrung und dergleichen nicht trennen. Dies ist die Form, die das Nachdenken über die Existenz Gottes annimmt.241
Geht aber das, was man den personalen Zug des Göttlichen nennen kann und wie er sich selbst noch für Außenstehende als im Gebet besonders artikuliert darstellt, vollständig in jenen Aspekten von qualitativer Differenz und wechselseitiger Reaktionsfähigkeit – bei irreduzibler Eigenständigkeit der beiden Glieder – auf? Dies würde allenfalls zu einem sehr formalen Personenkonzept füh-
239 Zum performativen Verständnis des betenden Sprechaktes, vgl. auch: W UTHNOW, The God Problem (Anm. 231), 84–86. 240 So zu Recht: W INCH, PETER, Bedeutung und religiöse Sprache, in: Ders., Versuchen zu verstehen, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, 165. – Deswegen stellt das Aufgeben des Betens weniger eine Konsequenz als vielmehr – mit Winch und dem lebensweltlichen Phänomen angemessener – einen Aspekt des Glaubensverlustes dar (vgl. a.a.O., 166). 241 A.a.O., 167. – Meine Argumentation zielt also dahin, dass Winchs Überlegungen nicht nur für die Existenz Gottes gelten, sondern ebenso sehr für das, was ich im basalen Sinne als die Personalität Gottes verstehen würde.
5. Vom Beten
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ren und die Reichhaltigkeit religiöser Traditionen ins künstlich Abstrakte auflösen. Aber jede konkrete Artikulation des Göttlichen im performativen Akt des Betens bedient sich schon immer eines bestimmten sprachlichen und symbolischen Reservoirs. Darin ist sie stets eine interpretatorische Handlung. Es gibt, wie Mauss richtig erkannt hat, in diesem Sinne kein rein individuelles Gebet; selbst wenn man umgekehrt mit ihm zugleich davon sprechen kann, dass das Beten selbst ein Akt der religiösen Individualisierung, ja Personalisierung darstellt. Auf der sprachlichen Ebene kommt die stets schon vollzogene inhaltliche Bestimmung des personalen Göttlichen im Gebet eindrücklich dadurch zur Geltung, dass es in diesem Sinne kein ‚namenloses‘ Beten gibt. Die Funktion der Anrede und die Benennung des göttlichen Gegenübers beim Namen dient dabei stets mehr als nur der Eröffnung einer spezifischen Kommunikation(ssituation). Vielmehr kommt darüber die Identität des als ‚real‘ angenommenen göttlichen Gegenübers zum Vorschein und verbindet sich mit einer konkreten Situation vor dem Hintergrund eines historisch überlieferten, gemeinschaftlich erlebten und individuell angeeigneten Erfahrungsraumes, über den sich überhaupt nur die Bilder des Göttlichen in bestimmten Religionstraditionen bestimmen lassen. In der Sprache des biblischen Kanons sind der Gottesname JHWH, aber auch die Abba-Prädikation Jesu gute Beispiele für diesen Vorgang.242 Der Beter verortet sich selbst in diesem symbolischen Rahmen. Die Anrede zu Gott als dem Vater Jesu Christi meint implizit oder explizit die Anerkennung einer ganzen Reihe von weiteren qualitativen Bestimmungen der eigenen Situation des Inder-Welt-Seins vor Gott: etwa, dass Gott für jeden seiner Kinder das Gute will und trotz allem Leiden dieses zur Durchsetzung bringen kann: „Dein Reich komme“ (vgl. Mt 6,9). Dabei gilt für die Namensnennung wie -gebung Gottes in der Gebetspraxis, was Hans Blumenberg einmal so formuliert hat: „Nicht auf die Kenntnis des [sc. Gottes; C.P.] Namens (...) kommt es an, sondern auf die Wirksamkeit in der Anrufung.“243 Damit ist schließlich ein letzter Aspekt schon angedeutet, der uns zu einem weiteren Aspekt von Personalität führt, wie sie im Gebet performativ für Gott und Mensch in Anspruch genommen wird, sich aber nicht ausschließlich auf den rituellen Vollzug des Betens beschränken lässt: Mit dem Namen verbunden ist nämlich die Kennzeichnung der im Gebet artikulierten Handlungssituation als einer Verantwortungskonstellation. Schon die erste Nennung des Menschen
Zu denken wäre aber auch an die islamische Tradition der 99 Namen Allahs. BLUMENBERG, HANS, Die Welt hat keinen Namen. Die Misere der Namenslosigkeit, in: Ders., Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam 1996, 46– 59, 55. – Blumenberg weist in seiner kleinen Skizze darauf hin, dass zur Namensgebung notwendig die Wahrung bzw. Wahrnehmung von Distanz gehört – ein Zug, den wir oben als einen Grundaspekt des Personalen kennengelernt haben. Deswegen hat die Welt selbst keinen Namen im eigentlichen Sinne. Vgl. a.a.O., 50. 242 243
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§ 8 Das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre
bei seinem Namen – „Adam, … wo bist du?“ (Gen 3,9) deutet auf diesen Aspekt hin; ebenso Jesu Gebet in Gethsemane (vgl. Mk 14,36 par). Auch eine personale Auffassung des Göttlichen, wie sie exemplarisch im Gebet zur Sprache kommt, kann ebensowenig wie das personale Selbstverständnis des Menschen auf eine evaluative und eine responsive Komponente verzichten. Unter ersterer verstehe ich vornehmlich jenen Vorgang der (Be-)Wertung der Situation, in oder angesichts derer zu oder von Gott, der Welt und einem selbst gesprochen wird.244 So wie es das Beten nur in jeweils spezifisch qualifizierten Formen gibt, nämlich als Klage, Bitte, Sündenbekenntnis, Lob oder Dank, so machen diese Sprachhandlungen nur Sinn, wenn sich anzeigen lässt, warum es Sinn macht, zu bitten, zu klagen, zu danken etc. Darin eingelagert sind demnach Näherbestimmungen des (personalen) Göttlichen, die es zulassen, eine stets kontingente Situation so oder so wahrzunehmen, indem sie artikuliert und dadurch zugleich neu (d.h. darin handlungsmotivierend und -orientierend) qualifiziert wird. Andernfalls verlören Bitten, Klagen, Lob etc. ihren Sinn. Das würde in abgemilderter Form auch für den Fall gelten, dass der zweite Gesichtspunkt unterschlagen würde. Das responsive Element deutet ja darauf hin, dass in der als Kommunikation rituell inszenierten Gemeinschaft Gottes mit den Menschen im Gebet von einer wechselseitigen Reaktionsfähigkeit ausgegangen wird. In der Tat soll sich im Gebet nicht die Ergebung in Gottes unabänderlichen Willen vollziehen, sondern das Gebet soll Gott bewegen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde. Natürlich soll es nicht mit magischen Zwang auf Gott wirken, aber es soll ihn bewegen, so wie ein Mensch den andern durch seine Bitten bewegt.245
Es wäre somit zu wenig, im Beten eine responsorische Sprachhandlung zu erblicken, die sich allein auf eine, nämlich die menschliche Seite, bezöge. Ein solches Verständnis, das den responsiven Zug nicht als reaktiven, d.h. beide Seiten in Verantwortung nehmenden versteht, würde die Verbindung zum personalen Gottesverständnis lösen. In diesem Zusammenhang muss gar nicht das Problem der Gebetserhörung verhandelt werden. Viel aufschlussreicher ist, zu bedenken, was die hier von Bultmann gemachten Bemerkungen als Konsequenzen für das Verstehen nicht nur der individuellen Lebenssituation, sondern des überindividuellen geschichtlichen Zusammenhangs haben. In beiden Fällen kann nämlich nur dann von personaler Verantwortung gesprochen werden,
244 Die Tatsache, dass ich diesen Vorgang nicht auf das Gebet reduziere, verweist auf jenen umfassenderen Zusammenhang, der im nächsten Paragraphen (§ 9) als die symbolische Darstellungsebene der Personalität Gottes begriffen wird: nämlich die als Heil und/oder Unheil qualifizierte Geschichte. 245 So prägnant: B ULTMANN, Jesus (Anm. 31), 127. – Daher hat das Gebet im Sinne Jesu auch nichts mit einem „inneren Sichabfinden mit dem Schicksal“ oder einem „andachtsvolle[m] Sichunterwerfen unter den Ratschluß Gottes“ (a.a.O., 128f.) zu tun.
5. Vom Beten
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wenn einerseits der Faktor der Kontingenz zugestanden wird, d.h. wenn auf keiner Seite nur Unabänderliches angenommen wird; und wenn andererseits prinzipiell beide Seiten wechselseitig aufeinander reagieren und somit (sich und den jeweils Anderen) weiter bestimmen können. In dieser Differenzsetzung eingeschlossen ist dann immer zugleich eine Wertung und Neubestimmung der individuellen wie geschichtlichen Situation. In der Bewährung dieser situationsbedingten Neubeschreibungen von und Reaktionen auf Realität, zu der auch die in sie involvierten ‚Akteure‘ gehören, liegt die Chance für die Plausibilisierung jeder Art von religiösen Glauben, so auch für den Glauben an den personalen Gott. Mit William James gesprochen, ist Gott „wirklich, weil er etwas Wirkliches hervorbringt.“246 Dieses Wirkliche kann ganz unterschiedlich gedeutet werden, aber klar ist, dass es diese Möglichkeit der Wirksamkeit ist, die den Sinn der Praxis des Betens allemal sichert. In der Vorstellung von der Personalität Gottes wird dann nur konsequent ausbuchstabiert, was es heißt, von der Wirksamkeit Gottes zu sprechen. Letztere wird zwar besonders intensiv in der individuellen wie gottesdienstlichen Gebetssituation zur Sprache gebracht; ihren eigentlichen ‚Ort‘ findet sie jedoch in einem umfassenderen Rahmen, nämlich dem, aus dem sie sich stets speist, und das ist die Geschichte. In ihr ist von der personalen Wirksamkeit Gottes und der wechselseitigen Verantwortungsgemeinschaft von Gott und Mensch die Rede. Dem haben wir uns nunmehr zuzuwenden, wenn wir auf die Ebene der symbolischen Darstellung zu sprechen kommen.
246 JAMES, Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 182), 493. – Diese Formel ist natürlich in sich höchst interpretationsbedürftig. Es ließen sich mindestens drei unterschiedlich weitreichende Lesarten herausstellen. Zunächst diejenige, die der James-Schüler William E. Hocking in die Formel eines „negativen Pragmatismus“ gebracht hat und die gegenüber der James’schen Version zu schwach ist: „That which does not work is not true“ (HOCKING, WILLIAM E., The Meaning of God in Human Experience. A Philosophical Study of Religion [1912], New Haven/London: Yale Univ. Press 141963, xxiii). Sodann, worauf mich Michael Moxter gebracht hat, die eher ‚bedeutungstheoretische‘ Variante: ‚Wirklich ist, was nicht unwirksam ist.‘ Hier bleibt es bei einer Pluralität von möglichen Interpretationen, allerdings ohne weitergehende ontologische Qualifikationen (Behauptungen). Demgegenüber vertrete ich mit William James die noch stärkere, nämlich in diesem Sinne realistische Lesart, insofern sich alle unsere Aussagen über die Wirklichkeit nicht nur in negativer (Hocking), sondern auch in positiver Hinsicht durch die Interpretation ihrer Wirksamkeiten in ihrem Realitätsgehalt wie -anspruch, wenngleich stets vorläufig und unter Vorbehalt, bestimmen lassen.
§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis – Medium und Modus personaler Rede von Gott (Die Ebene der symbolischen Darstellung) Die vorangegangenen Ausführungen zum rituellen Ausdruck des Glaubens an einen personalen Gott in der Form des Gebets haben auf weite Strecken davon abstrahiert, dass eine solche Praxis in liturgische Ordnungen eingebettet ist, die selbst wiederum Teil eines umfangreicheren religiösen Symbolsystems sind. Ohne die symbolischen Deutungen und Auslegungen bliebe die rituelle Praxis, so auch das Gebet, stumm und verlöre ihren (bzw. seinen) Sinn. So gesehen hat Paul Tillich Recht mit seiner Behauptung: „Es gibt keinen Kult, keinen Frömmigkeitsakt ohne mythischen Inhalt. Und umgekehrt: kein Mythos ist religiös, der nicht in Kultus und Frömmigkeit lebendig ist.“1 Umgekehrt darf nun daraus jedoch nicht geschlossen werden, als würde die Ebene der symbolischen Darstellung der Glaubensgedanken allein von ihrem rituellen Gebrauch zehren. Sie greift weit darüber hinaus, beeinflusst Ethos und Lebenskultur von religiösen Gemeinschaften und geht zudem in deren gesellschaftliches Umfeld ein. Fragt man von hier aus nach den symbolischen Mustern, die zum Glauben an den personalen Gott und zur Überzeugung von seiner Personalität beigetragen haben, dann sind für die jüdisch-christlichen Religionstraditionen natürlich die personalen Bilder, Metaphern und Symbole prominente Kandidaten, wie sie das biblische Schrifttum kennzeichnen und durchziehen. Das bedeutet nicht, dass es neben personalen Mustern nicht auch a-personale geben würde; und auch die bloße Vorfindlichkeit entledigt uns nicht der kritischen Reflexion auf den Gebrauch dieser Symbole, Bilder, Metaphern etc.2 Wohl aber ist die her-
1 TILLICH, PAUL, Mythos und Mythologie (1930), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (= GW V), hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1964, 187–195, 189. – Ein Beispiel aus der christlichen Liturgie wären die rituellen Bekundungen des Glaubens an Gott als den (personalen) Vater im Credo und mehr noch im Herrengebet (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4), die beide wiederum in ein heilsgeschichtliches bzw. eschatologisches Narrativ eingebunden sind. 2 Ohne dies weiter ausführen zu können, halte ich an der Notwendigkeit einer Kritik religiöser Symbole (und Symbolismen), z.B., was die Vatergestalt anbelangt, aus feministischer oder psychoanalytischer Sicht, durchaus fest. Für die Rekonstruktion der Personalität Gottes
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meneutische Analyse, die mit der rituellen Ebene des Ausdruckshandelns begonnen wurde, nunmehr einen Schritt weiterzuführen, und auf der Ebene der symbolischen Darstellung ist danach zu fragen, wie sich im biblischen Symbolsystem ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ eigentlich verstehen lassen. Und darin, das allerdings dürfte unbestritten sein, kommt personalen Mustern eine hervorgehobene Rolle zu, so dass man von einer personalen Taxonomie des Göttlichen in den kanonischen Schriften sprechen darf. Schon am Ende des vorigen Paragraphen sind wir kurz auf die Rolle des (göttlichen) Namens zu sprechen gekommen, wie er gleichsam als Abbreviatur für jene Geschichte steht, in der sich Gott in seiner Identität offenbart (zeigt) und auf die sich der Mensch im Gebet beruft. Die darin in Anschlag gebrachten Begriffe von Name, Identität, Offenbarung – Geschichte, Erzählung, Zeugnis verweisen auf die tiefer gehenden Strukturen und Texturen nicht nur des biblischen Schrifttums, sondern auch der ihm entsprechenden Religionspraxen. Durch sie, d.h. die Strukturen und Texturen, und in deren Zusammenspiel erhält die Vorstellung vom personalen Gott allererst jenes Gewicht, die ihr zweifelsohne für die Religionstraditionen des Judentums und Christentums, sowie des Islams, zukommt. Sind es doch Personen, denen wir darum einen Namen geben, um ihre Identität festzuhalten und deren Individualität wir uns durch das Erzählen von Geschichten, in die sie handelnd (und leidend) verstrickt sind, vergewissern. Dies gilt wohl gemerkt nicht nur für andere Personen, sondern auch für uns selbst, d.h. unseren Blick ‚von‘ und ‚nach innen‘. Trifft dies zu, so sind Erzählung und Geschichte keine sekundär hinzutretenden Merkmale des Personalen. Vielmehr stellen sie dessen wesentliche Medien dar, ohne dass Personalität restlos durch sie erfasst werden würde. Darauf verweist das dritte Begriffspaar von ‚Offenbarung‘ und ‚Zeugnis‘, das nicht vorschnell religiös konnotiert werden darf. Zeugnis und Offenbarung stellen vielmehr den Modus bzw. die Modi dar, in denen Personen sich wechselseitig zu erkennen geben und durch den sie sich auch selbst – über alle kontingenten Umstände hinweg – vergewissern können. Anders formuliert: Von Personen wissen wir, in dem sie uns von sich oder anderen erzählen oder indem wir ihnen handelnd begegnen; aber die jeweiligen Personen gehen nicht in diesen Erzählungen und Handlungen auf; sondern sind ihnen gegenüber noch einmal in relativer Weise unabhängig. Sie ‚tönen‘ (im Sinne des lat. personare) und ‚zeigen‘ sich durch ihre Geschichte und ihre Handlungen. Darin werden sie Zeugen ihrer selbst. Worum es also bei Geschichte, Erzählung und Zeugnis wesentlich geht, sind die elementaren Aspekte einer bestimmten symbolischen Wirklichkeitskonfiguration, die wir immer dann voraussetzen und uns ihrer bedienen, wenn wir von Menschen als Personen und ihrer Geschichte reden.
heißt das, diese so weit wie irgend möglich aus dem traditionell androzentrischen Rahmen zu lösen.
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Das allerdings provoziert Anschlussfragen, die, wenn man das Gesagte auf die religiöse Rede vom personalen Gott überträgt, sich nur noch verschärfen. Die vielleicht wichtigste ist diejenige nach dem Verhältnis von historischer Faktizität und literarisch-poetischer Fiktionalität, die nicht einfach ein theoretisches Problem darstellt, weil sich im Modus des (Selbst-)Zeugnisses jenes Verantwortungsmotiv meldet, das schon bei der handlungstheoretischen Rahmung unserer Ausführungen zum Gebet zur Sprache kam. Jede erzählte Geschichte, die keinen Anhaltspunkt an vergangenen Ereignissen und Taten hätte, würde die Identität der darin Handelnden von jeder Verantwortung für sich und für andere entledigen. In einer solchen Erzählung geht nicht nur die Realität des dargestellten Subjekts in der Fiktion unter, die Konstruktion von dessen Identität gerät radikal ins Ideosynkratische. Nicht zufällig führen derlei Überlegungen nicht nur in prinzipientheoretische Grundfragen der Theologie, etwa, wie sich das biblische Zeugnis zum historischen Wahrheitspostulat verhält; sie führen ebenso sehr mitten hinein in (post-)moderne Debatten über die personale Identität des menschlichen Selbst.3 Für die Frage nach der Sinn- und Stichhaltigkeit der Personalität Gottes ist es von einigem Belang, wie sich ihr hermeneutischer Rahmen – die ‚erzählte Geschichte‘ – zur Wahrheitsfrage verhält und ob mit der Figur des Bezeugens mehr gemeint ist als eine religiöse Immunisierungsstrategie. Aber wir greifen vor und müssen der Reihe nach einige Implikationen des Skizzierten entfalten.4
1. Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte 1. Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte
Wir sagten bereits, dass der symbolische Raum, innerhalb dessen alle rituellen Praktiken ihre Resonanz entfalten, im Christentum die kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind. Sie prägen und bestimmten weite Teile der liturgischen Ordnungen und der christlichen Frömmigkeitskultur. Dies allerdings stets in Form des selektiven Zugriffs aus dem endgültigen Bestand des Kanons. Das muss an dieser Stelle betont werden, weil die Privilegierung der personalen Gottesrede, wie wir sie dem biblischen Schrifttum entnehmen, daran geknüpft ist, dass neben der Einzelwürdigung exegetischer Schichten auch die kanonische Endredaktion von systematisch-theologischem Gewicht ist. Erst in
3 Vgl. zu dieser Problematik im Ganzen: THOMÄ, D IETER, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 4 Letztlich gelangt die Argumentation erst im nächsten Paragraphen zum Abschluss, in dem ich zu zeigen versuche, dass zum Verständnis der Personalität Gottes unweigerlich das Motiv des ‚verantwortlichen Gottes‘ gehört. Siehe dazu: § 10.5.
1. Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte
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ihr zeichnen sich deutlich diejenigen Tendenzen ab, die sich bei Wahrung interner Pluralität um theologische Kohärenz bemühen, und genau dieses Unterfangen hat für uns Bedeutung.5 Insbesondere für den hebräischen Tanach lässt sich sagen, dass der biblische Personalismus6 wie die geschichtstheologische Rahmung sich in ihrer Prägnanz nicht unwesentlich Einflüssen der ‚deuteronomistisch‘ gefärbten Endredaktion7 sowie dem Vorgang innerbiblischer Exegese verdanken. In den meisten neutestamentlichen Schriften ist dieser Hintergrund vorausgesetzt und auch bei der Deutung der Jesusgeschichte in Anspruch genommen.8 Dabei verschränken und verstärken sich gegenseitig Elemente eines ethisch-personalen Gottesglaubens und eines bisweilen stärker messianisch, mitunter apokalyptisch geprägten Geschichtsbewusstseins. Mit diesen – gegenüber dem komplexen Stand der exegetischen und religionsgeschichtlichen Forschung – bewusst sehr allgemein gehaltenen Beobachtungen über religionsgeschichtliche Tendenzen und kanontheoretische Indizien sollte auf das interessante Faktum aufmerksam gemacht werden, dass es sich hierbei wohl nicht um zwei nebeneinander laufende Entwicklungen gehandelt haben kann: In dem Moment, in dem Lebens- und Weltzeit immer stärker geschichtlich wahrgenommen wird, wächst auch das Bewusstsein für den in dieser geschichtlichen Zeit handelnden Gott. Deutlicher noch als beim exklusiven Monotheismus mit seiner Idee der radikalen Transzendenz scheint hier eine klare Korrelation zwischen biblischem Personalismus und heilsgeschichtlichem Denken vorzuherrschen. Die Idee der personalen Transzendenz entspringt wesentlich einem geschichtlichen Verständnis von ‚Gott‘, ‚Welt‘, ‚Mensch‘ und ‚Gesellschaft‘. Sie, die Geschichte ist das symbolische Medium der Darstellung des personalen Gottes. Das ist genauer zu erläutern. Zum hier von mir unterstellten Verständnis des Schriftprinzips, siehe: MOXTER, MISchrift als Grund und Grenze von Interpretation, ZThK 105 (2008), 146–169. 6 Selbst in der späten Weisheitsliteratur wird sich ja darum bemüht, a-personale Tendenzen durch personale Figuren abzumildern, vgl. den berühmten, aber späten Text in Prov 8. 7 Das Deuteronomium, mit seinen Bundes- und Loyalitätsfigurativ im Zeichen von Ethos und Recht, wird damit zum Paradigma „normativer Literatur als solcher“, wie Konrad Schmid schreibt: „Eine Bestätigung dafür liefert auf seine Weise der Befund „deuteronomistisch“ überarbeiteter Bücher im Alten Testament, an denen erkennbar wird, wie ein normativer Text wie das Deuteronomium auf erzählende Überlieferungen ausstrahlen kann. Dieses Modell ist dann gewissermaßen in der späteren Ausstrahlung der Tora auf die übrigen Teile des Alten Testaments repetiert worden“ (SCHMID, KONRAD, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 221). – Entscheidend ist dabei, dass die Interpretation der Geschichte eben selbst normative Züge erhält, weil sie in der Konstellation von ‚Segen‘ und ‚Fluch‘ auf die Entsprechung (oder Missachtung) des Willens Gottes seitens seines Volkes ausgerichtet ist. 8 Das gilt vor allem für die geschichtstheologische Rahmung des Matthäus-Evangeliums, das ohnehin als „Kirchenevangelium“ in der Geschichte der christlichen Liturgie (v.a in der Lectio-Ordnung der römischen Messliturgie) einen besonderen Stellenwert erhalten hat. 5
CHAEL,
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1.1 Personale Gottesmetaphorik und personalistische Taxonomie Betrachtet man die Vielfalt biblischer Gottesbilder und -bezüge, dann scheint es fast schon vermessen, in ihr jenseits der Konnotation und Denotation auf die Namen JHWH ( )יהוהund Kyrios Jesu Christou (κυριός Ιησού Χριστού), semantisch eindeutige Tendenzen ausmachen zu wollen. So sehr religionsgeschichtlich die soziomorphe Gestalt der Götter, wie in den Kulturen der altorientalischen Umwelt üblich, dominierte und so sehr sich darin die Herrschaftsstruktur antiker Königtümer widerspiegelte, so wenig lässt sich auf textlicher Ebene eine ausschließliche Verwendung von Herrschafts- und Machtmetaphern für das Verständnis des Göttlichen ausmachen. Das gilt ganz unabhängig von der Frage, wann der entscheidende Schritt von Polytheismus und Monolatrie zum (exklusiven) Monotheismus zeitlich zu verorten ist.9 Gleichwohl lässt sich festhalten: Die Texte des Alten Testaments – betrachtet man sie in der literarischen Synopse als Ganzes – konstruieren das Bild oder Konzept eines Gottes, das diesen „im Spiegel der Erfahrungen“ mit ihm als eine „selbstidentische Größe“ erscheinen lässt: Dies geschieht (mit Blick auf die nachalttestamentliche Geschichte muss man sagen: noch) nicht im Sinne eines philosophischen Prinzips, sondern eher nach Maßgabe altorientalischer Königsvorstellungen. Gott ist der Souverän, der gnädig oder hart, gerecht oder willkürlich erscheinen mag, aber als bestimmende Macht beschrieben wird. Erfahrungen mit ihm werden im Alten Testament diskursiv miteinander in Beziehung gesetzt, so dass ein komplexes Bild möglicher und aktueller Wirkweisen Gottes entsteht.10
Für die Entdeckung der Personalität Gottes bzw. der Entstehung des Glaubens an einen personalen Gott ist religionshistorisch der soziomorphe Charakter altorientalischer Gottheiten von entscheidender Bedeutung. In einem solchen Rahmen wird die Welt als umfassender Handlungsbereich verstanden, der sowohl die Menschen als auch die Götter erfasst. Die soziale Struktur prägt alle Seinsbereiche, die wiederum in wechselseitigem Austausch und Kontakt miteinander stehen. Deswegen gehört es im antiken Denken ganz natürlich dazu, dass auch Götter Körper haben und sichtbar sein können:
9 In der Forschung ist es nach wie vor üblich, den Durchbruch zum (exklusiven) Monotheismus im Alten Israel zeitlich erst bei Deuterojesaja und beim sog. Deuteronomisten, sowie in den späten Büchern Esra und Nehemia, anzusetzen. Das gilt zumindest auf der Ebene der (Intellektuellen-)Literatur, natürlich weniger auf der der gelebten Frömmigkeit. Statt vieler verweise ich nur auf die einschlägige Studie von: LEUENBERGER, MARTIN, »Ich bin Jhwh und keiner sonst« (Jes 45,5f). Der exklusive Monotheismus des Kyros-Orakels Jes 45,1–7 in seinem religions- und theologiegeschichtlichen Kontext (SBS 224), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2010. – Eine knappe Schilderung hin zum monotheistischen Durchbruch gibt ferner: RÖMER, THOMAS, The Invention of God. Transl. by Raymond Geuss, Cambridge (Ma.)/ London: Harvard Univ. Press 2015, 210–241. 10 SCHMID, Literaturgeschichte (Anm. 7), 219f.
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Erst in ihren Beziehungen zu anderen Handlungsträgern auf der menschen- und götterweltlichen Ebene gewinnen die einzelnen Gottheiten ihr unverwechselbares Gepräge. Erst durch Interaktionen nach sozial signifikanten Mustern wird die Welt der Götter verstehbar.11
Dieser Soziomorphismus, wie es im Unterschied zum Anthropomorphismus besser lauten muss, prägt noch das Werden des monotheistischen Glaubens. Denn auch dieser übernimmt die beiden Grundmotive, die Welt als Ort des Austausches und der Interaktion zwischen Gott und Menschen zu sehen, und die Art der Begegnung mit Hilfe sozialer Muster und Rollen symbolisch zu codieren. An das königlich-höfische Milieu angelehnt wird die kultische Praxis als höfische Zusammenkunft vorgestellt, in der die Rollen zwischen Herrscher und seinen Untertanen bzw. Schützlingen klar verteilt sind und in der trotz aller Kontaktaufnahme doch deutlich wird, dass göttliche und menschliche Wirklichkeitssphäre voneinander verschieden sind. Für unsere Arbeit ist an diesem Befund zunächst erstaunlich, wie grundlegend anders handlungsorientiert solche Weltbilder verfasst sind. Nicht im Sinne einer missratenen Applikation eines naiven Kausalschematismus, wie es Boyer und Dux bezeichnen würden12, sondern vielmehr dadurch, dass über die soziale Praxis situativ immer wieder neu Bedeutung für die erfahrene Realität umfassend gestiftet und somit ein stimmiges Bild der Welt konfiguriert wird. Der kultisch inszenierte und sich darin bewährende religiös-mythische Orientierungsrahmen entlässt so ein elementares Bild von Personalität, die Gott und Mensch in Anspruch nehmen, wenn sie in Kontakt miteinander treten, ohne dabei primär Welterklärungen abgeben zu wollen. Es bedürfte einer eigenständigen Untersuchung, das Prägnant-Werden und den Wandel personaler Gottesmetaphorik historisch und auf der Ebene der textlichen Befunde nachzuzeichnen. Und gewiss darf man dabei nicht einfach an der Polysemie des biblischen Gottesbildes vorbeigehen. Hinsichtlich der per-
11 H ARTENSTEIN, FRIEDHELM, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 22. – Das gilt, wie Christoph Markschies gezeigt hat, auch noch für die christliche (Spät-)Antike, und das heißt: eo ipso für Darlegungen über den jüdischen und christlichen Gott (im Singular!). In seinen Schlussfolgerungen plädiert Markschies vor dem Hintergrund des von ihm erforschten Materials für einen konstruktiven Anthropomorphismus, der die nach wie vor in Theologie und Philosophie übliche Reserve gegenüber der Rede von der ‚Körperlichkeit‘ Gottes auch nicht von Kritik verschont. Vgl. MARKSCHIES, CHRISTOPH, Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München: Beck 2016, v.a. 419–431. 12 Vgl. dazu meine kritischen Bemerkungen in § 7.
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sonalen Gottesmetaphorik gibt es „keinen allgemeinen Vorrang für den Personalismus der Ich-Du-Beziehung in der Beziehung zu Gott“13; schon allein aufgrund der neuzeitlichen Fassung dieser philosophischen Richtung. Das auf textlicher Ebene festzuhalten bedeutet allerdings nicht, damit schon ein hermeneutisch sachhaltiges Urteil gefällt zu haben. Zwar ist Vorsicht geboten, allzu schnell literarische Motive, wie das der persönlichen Frömmigkeit, als Beleg für das Vorliegen einer bestimmten Glaubensüberzeugung – z.B. diejenige an die Personalität Gottes – zu werten14; doch beförderten kultische Formen der Anrede Gottes als ‚Helfer‘, ‚Herr‘ und ‚Freund‘ natürlich die Tendenz zu personalen Vorstellungen über das Göttliche. Noch mit Blick auf den Sieg des Monotheismus mit seiner Idee der radikalen Transzendenz Gottes ist zu sagen, dass dieser keine Abkehr von personalen Gottesbildern bedeutete. Eher wird man von einem Bedeutungswandel von ‚Personalität‘ sprechen können, die mit der Transformation soziomorpher Symbolismen und ihrer (latent) personalen Gottesmetaphorik einherging. Genau daraus ergab sich die für den biblischen Monotheismus der kanonischen Endgestalt des Tanach eigentümliche spannungsreiche Dynamik: [A] text that views God as transcendent and beyond any image has at the same time created a gigantic anthropomorphism, a God deeply concerned with a people (…) ‚I argue that it was the creation of a new level of anthropomorphism, derived, for the most part, from a royal imagery, but attaining, ultimately, a new picture of a divine personality, that synthesized the conflicting aspects of divinity.‘15
Um zu verdeutlichen, wie allmählich intertextuell neue Verschränkungen, die schließlich zu einer personal(istisch)en Taxonomie bzw. einem entsprechenden Klassifikationsschema führten, den Boden für das, was man den biblischen Personalismus nennen kann, bereiteten, sei nochmals auf das Deuteronomium und die in seinem Gefolge stehende ‚deuteronomistische Schule‘ verwiesen. Zusammen mit Deutero-Jesaja gelten sie als wichtige Referenzquellen für den exklusiven Monotheismus des biblischen Schrifttums. Die zunehmende Transzendenz Gottes wird allerdings auch hier verschränkt mit einer deutlichen Emphase
RICŒUR, PAUL, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik der religiösen Sprache (Evangelische Theologie, Sonderheft), München: Kaiser 1974, 24–45, 41. 14 Von daher bleibe ich gegenüber einschlägigen Bemerkungen Bernhard Langs, wie er sie in seinem Portrait des biblischen Gottes gibt, kritisch. Vgl. LANG, BERNHARD, JAHWE – der biblische Gott. Ein Portrait, München: Beck 2002, 137–172. Schon eine Kapitelüberschrift mit ‚Herr des Einzelnen – der persönliche Gott‘ (a.a.O., 5.137) mutet in diesem Zusammenhang sowohl für die Religion des Alten Israels als auch für die anderen altorientalischen Religionskulturen, anachronistisch an. 15 B ELLAH, R OBERT N., Religion in Human Evolution. From the Paleolitic to the Axial Age, Cambridge (Ma.): Harvard Univ. Press 2011, 316. – Das Zitat im Zitat stammt von dem jüdischen Bibelwissenschaftler Stephen A. Geller. 13
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für seine Nähe zu seinem Volk durch sein Wort (Gesetz): Die elementaren Kategorien, aus denen sich dann die Ansichten über die Zeit als Geschichte und die Sozialgestalt Israels entfalten, sind allesamt personalistisch: Bund, Volk, Person. Mit beeindruckender Konsequenz werden im Gefolge – das prophetische Erbe fortschreibend – die Beziehungen zwischen ‚Gott‘, ‚Volk‘ und ‚einzelnem Menschen‘ in rechtlichen und moralischen Schemata beschrieben und wird dementsprechend die Geschichte religiös, d.h. mittels der soteriologisch konnotierten Kategorien von ‚Heil‘ (Segen) und ‚Unheil‘ (Fluch) gedeutet16: „Israelite rhetoric was developed in a forensic context.“17 Dabei betrifft der religiöse Bedeutungswandel, der mit dem Durchbruch des ethischen Monotheismus verbunden ist, wie schon gesagt, vor allem die Vorstellung dessen, was Personalität bedeutet. Einerseits wird die Reichweite des Personenbegriffs eingeschränkt und universalisiert, sie betrifft jetzt nur noch Gott und die Menschen, aber eben alle Menschen.18 Andererseits werden damit die ethischen und sozialen Komponenten, die wir selbstverständlich mit dem Personenbegriff verbinden, stärker als je zuvor hervorgehoben. Beides lässt sich religionsgeschichtlich nicht nur als Resultat intellektueller Debatten deuten, sondern mehr noch „als Folge einer existentiellen Erfahrung“19 der Krise, was diese Tendenzen für breitere Schichten öffnet und sie als stimmig erscheinen lassen. Paradoxerweise ist es die Erfahrung der Geschichte, die es fortan als sinnvoll erscheinen lässt, Gott als „eine lebende Persönlichkeit, (…) in anthropomor-
16 In diesem Zusammenhang kann auf Parallelen der religionsgeschichtlichen Entwicklungen im Alten Ägypten und in Israel aufmerksam gemacht werden. Wie Jan Assmann m.E. zu Recht darlegt, verdankt sich die Dynamik der Personalisierung der Gotteskonzeptionen einem religiösen Bedeutungswandel, in dem sich soziomorphe Weltbilder, persönliche Kultpraxis sowie eine darin angelegte und immer stärker zum Vorschein kommende Theologie des Willens, verschränken. Vgl. ASSMANN, JAN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, Frankfurt/M.: Fischer 1999, 259–277. Auch Assmann betont dabei die Rolle, die der geschichtstheologischen Reflexion zukommt, vgl. a.a.O., 267–277. 17 B ELLAH, Religion (Anm. 15), 321. – Unter diesem Gesichtspunkt hat Walter Brueggemann (BRUEGGEMANN, WALTER, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis: Augsburg Fortress Press 1997), seine Gesamtdarstellung der Theologie des Alten Testaments entworfen. 18 Vgl. U FFENHEIMER, B ENJAMIN, Mythos und Realität im alten Israel, in: Samuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt Teil 1: Griechenland, Israel, Mesopotamien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, 192–239, 205: „Im Gegensatz zum Heidentum, das für das ontologische Kontinuum und die Personifizierung des Universums steht, stützt sich der Monotheismus auf die völlige ontologische Loslösung Gottes (…) von der Welt und die Reduktion der Personifizierung des Universums bis zu dem Punkt, an dem nur noch zwei Gestalten existieren: Gott und Mensch“. 19 A.a.O., 234.
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phen Bildern, in vollständiger Analogie zur menschlichen Persönlichkeit in ihren verschiedenen Manifestationen“20 darzustellen. Mit diesem Deutungsschema operieren letztlich noch die kanonischen Endredaktionen, so dass es durchaus stimmig ist, von einer personalistischen „Diskursordnung“21 der Theologie(n) des Alten Testaments auszugehen. Das bedeutet nicht, den biblischen Texten bereits ein reflexives Verständnis von Gott als Person unterstellen zu wollen. Solches dürfte, von einigen Ausnahmen abgesehen, kaum vorliegen.22 Wohl aber lassen sich auf der textlichen Ebene semantische Marker angeben, die sich durchhalten und die – hermeneutisch rekonstruiert – eine personale Taxonomie ergeben. Friedhelm Hartenstein hat das unter Rekurs auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen exemplarisch vorgeführt und so den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität – bei ihm präziser mit Handlung wiedergegeben, die biblischen Motive und Metaphern von Angesicht und Name (topologisch), Zorn und Reue (chronologisch) und Liebe und Gerechtigkeit (pragmatisch) zugeordnet.23 Daraus ergeben sich wesentliche Bausteine einer symbolischen Textur personaler Rede von Gott. Was wir biblischen Personalismus nennen können, besteht im Grunde aus diesem dichten Netz von Symbolen, Bildern und Metaphern und lässt sich hierüber auch begrifflich analysieren. So stellt sich ein Verständnis von Personalität (Gottes) nicht schlicht dadurch ein, dass Bilder, Namen und Metaphern auf Gott übertragen werden, sondern ist selbst das Produkt eines hermeneutischen Prozesses, der sich kulturell wie kultisch abspielt, und indem wir nicht „zuerst wissen, was Person ist und dann diesen Begriff auf Gott anwenden. Sondern in der Begegnung mit Gott erfahren wir zuerst, was Person sein soll“24. Durch die Betonung des Moments der Begegnung wird unterstrichen, dass personale Verständnisse des Göttlichen wesentlich davon leben, dynamische Vorgänge, soziale und temporale Handlungsprozesse in den Mittelpunkt ihres Weltbildes zu stellen. Das Schema personaler Wirklichkeits(re)konstruktion bildet im Kern einen sozialen Wechselwirkungszusammenhang, dessen Sinn und Bedeutung sich in der Zeit realisiert, weswegen die Vorstellungen über die Eigenart Gottes wie des Menschen davon maßgeblich geprägt sind. Es sind
A.a.O., 207. Diesen Ausdruck entnehme ich der instruktiven Studie von: HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Personalität Gottes im Alten Testament, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.), Marburger Jahrbuch Theologie XIX: Personalität Gottes, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007, 19–46. 22 Zu denken wäre aber an Stellen, wie Psalm 94, 9: „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?“. 23 Vgl. a.a.O., 25–39. Dazu siehe auch meine Anordnung der metaphysischen Explikation unter § 10.1.2. 24 TILLICH, PAUL, Biblische Religion und die Frage nach dem Sein (1956), in: Ders., GW V (Anm. 1), 138–184, 152. 20 21
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demnach weniger einzelne, mitunter naive Anthropomorphismen, die das personale Gottesbild der Bibel ausmachen. Vielmehr wurzelt dieses in einem Verständnis von Personalität (Gottes wie der Menschen), das sich aus einer bestimmten Deutung der und einer spezifischen Einstellung zur Geschichte ergibt. Darauf müssen wir nunmehr unser Augenmerk richten. 1.2 Die Entdeckung der Geschichte – Israels Form der ‚Mythospekulation‘ Die Entdeckung der Geschichte als Ort und Medium der personalen Deutung Gottes zu werten, ist interpretatives Resultat einer Relektüre der kanonischen Endgestalt des Alten Testaments.25 Alle biblischen Motive und Metaphern, die wir zuvor genannt haben, konturieren sich in einem geschichtlichen, d.h. genauer in ihrem heils- bzw. unheilsgeschichtlichen Zusammenhang. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Jedenfalls provozieren beide, sowohl die deuteronomische Bundestheologie mit ihrer Fokussierung auf das juridisch-moralische Motiv der Gerechtigkeit als auch die deuteronomistische Geschichtstheologie, der es um den in der Geschichte handelnden und damit seinen Willen bekundenden Gott geht, eine deutliche Betonung des geschichtlichen Rahmens, innerhalb dessen über Heil und Unheil von Welt und Mensch entschieden wird. Und in beidem wirken prophetische Traditionen fort. Das derart konfigurierte Deuteschema dient der Interpretation der Geschichte Israels sowohl mit Blick auf die Gegenwart wie im Rückblick auf Vergangenheit als auch im Ausgriff auf die Zukunft. Noch die deutlich späteren Entwicklungen von messianischem und apokalyptischem Denken wie auch die Traditionen sapientialer Theodizee operieren zumeist in diesem Rahmen.26 Vielfach kollektiver Krisenerfahrungen geschuldet und zugleich mit dem Scheitern tradierter symbolischer Deutungsmöglichkeiten konfrontiert, lässt sich das Geschichtsdenken als umfassende Neuausrichtung und Neujustierung des bisherigen symbolischen Vokabulars begreifen. Dies gilt nicht nur für die Ebene umfassender Wirklichkeitsdeutung, wie Jan Assmann parallel für das Alte Ägypten festgestellt hat: Der Diskurs der Persönlichen Frömmigkeit erwächst aus einer neuen Form der Wirklichkeitskonstruktion, in der Zeit, Schicksal und Geschichte für den Menschen im religiösen Sinne lesbar werden (…) Zeit als die Dimension der ‚Widerfahrnisse‘ im umfassendsten Sinne. Sie wird jetzt auf den richtenden und planenden Willen Gottes zurückgeführt.27
25 Darüber hinaus gilt zu beachten: Alle genannten Motive für eine personale Taxonomie des Göttlichen (‚Name‘, ‚Angesicht‘, ‚Reue‘, ‚Zorn‘, ‚Liebe‘, ‚Gerechtigkeit‘) prägen auch das Neue Testament. Dort wird an keiner Stelle der geschichtstheologische Rahmen des Alten Testaments revoziert, sondern mitunter radikalisiert (Apokalyptik) oder transformiert bzw. allenfalls nicht in den Vordergrund gerückt. 26 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen zu einer Theologie des Alten Testaments bei: HARTENSTEIN, FRIEDHELM, JHWHs Wesen im Wandel. Vorüberlegungen zu einer Theologie des Alten Testaments, in: ThLZ 137 (2012), 4–20. 27 A SSMANN, Ägypten (Anm. 16), 274.
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Man wird die Dynamik und Radikalität dieses tiefen Eingriffs in das bisherige Symbolsystem wohl nur mit dem Durchbruch zum Monotheismus oder aber neutestamentlich mit der christozentrischen Soteriologie vergleichen können. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass es offenbar zu einem verschärften Wahrnehmen und einer reflexiven Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen führte. Die Lesbarkeit der Kontingenz des krisenhaft Erfahrenen – Assmann spricht von ‚Widerfahrnissen‘ – scheitert an den Mängeln überkommener symbolischer Artikulationen und verhilft dadurch zu einem vertieften Blick in die bedrängende Wirklichkeit. Es geht darum, Geschichte als zugleich verantwortete und darin doch stets riskierte und riskante zu verstehen. Hier ist der Ort, an dem sich der Rahmen für die Erfassung von Personalität und ihrer Facetten auftut. Damit soll nicht die Behauptung vertreten werden, die Texte des Alten Testaments würden bereits ein (modernes) Geschichtsverständnis enthalten. Vielmehr geht es darum, Geschichte selbst als ein Medium der Reflexion bzw. der Spekulation auszuzeichnen, das schon unter ‚mythischen‘ Bedingungen eine neue Weise der Weltsicht aus sich entlässt. Eric Voegelin hat in diesem Kontext von „Mytho-Spekulation“28 gesprochen. Dabei ging er in seiner groß angelegten Studie über Order and History davon aus, dass in den symbolischen Ordnungen von Gesellschaften sowohl deren Verständnis über sich selbst als auch über die Zeit und ihr Werden gespeichert sind und zugleich Geschichte dadurch selbst in ihrer Ordnung ansichtig wird.29 ‚Gott‘, ‚Mensch‘, ‚Welt‘ und ‚Gesellschaft‘ werden als Elemente des Seins symbolisch prä- und konfiguriert und leiten so die Erfahrung mit ihnen an. Dabei ist schon die Gemeinschaft mit dieser Vierer-Struktur (…) ein Datum der menschlichen Erfahrung – und ist es auch wiederum nicht. Sie ist ein Datum der Erfahrung, insofern sie dem Menschen kraft seiner Partizipation am Geheimnis ihres Seins bekannt ist. Sie ist kein Datum der menschlichen Erfahrung, insofern sie nicht nach Art eines Objekts der Außenwelt gegeben ist, sondern nur in der Perspektive der Partizipation an ihr erkannt werden kann.30
Die Wirklichkeitserfahrung, wie sie durch die symbolischen Ordnungsmuster geprägt wird, orientiert die existentielle Lebensführung genau in dem Maße, wie diese sich darin einschreiben bzw. an ihr partizipieren lässt. Geschichte, so könnte man sagen, stellt eine bestimmte, in diesem Fall: temporale Anordnung und Konfiguration der Elemente dieses ontologischen Kontinuums dar. Dabei 28 Siehe dazu: V OEGELIN, ERIC, Ordnung und Geschichte, Bd. 8: Das Ökumenische Zeitalter – Die Legitimität der Antike (1974), hg. v. Peter Opitz, München: Fink 2004, 86–90. 29 Vgl. die berühmten ersten Sätze in: V OEGELIN, ERIC, Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten (1956), hg. v. Jan Assmann München: Fink 2002, 27: „Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung“. 30 A.a.O., 39.
1. Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte
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sind mit Blick auf die Geschichte mehrere Typen von Symbolismen zu unterscheiden. Während die Theogonie eher auf die Entstehung und das Werden der Götterwelten abstellt, setzt eine Kosmogonie eher beim Kosmos an. Was nun für Voegelin das Besondere u.a. des israelitischen Symbolsystems ausmacht, nennt er ‚Historiogenesis‘. Bei dieser steht die Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft und ihrer Ordnung im Zentrum und folgerichtig wird von hier aus auf die anderen Aspekte von Gott, Welt und Mensch abgezielt.31 Die Entdeckung der Geschichte wird somit an der gesellschaftlichen Ordnung festgemacht. Allerdings finden sich historiogenetische Symbolismen religions- und kulturgeschichtlich in einer Vielzahl von antiken Hochkulturen. Das Besondere, das Voegelin in Israel artikuliert sieht, liegt auf einer noch grundsätzlicheren Ebene der Entdeckung der Geschichte.32 Dies zeigt sich erst, wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten für die Bestimmung des Sinns von Geschichte sich durch die religiösen Kategorien von Offenbarung und Bund ergeben. ‚Bund‘ und ‚Offenbarung‘ verweisen – auf der symbolischen Deutungsebene – nicht nur auf die Genese des Volkes Israel, in ihnen drückt sich auch das Verständnis von ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ aus und dies auf wesentlich geschichtliche Weise. Hierbei stellen ‚Bund‘ und ‚Offenbarung‘ analytisch-heuristische Begriffe dar.33 Mit ihnen lässt sich die symbolische Struktur freilegen, wie sie der Lesefolge der kanonischen Texte entnommen werden kann und worin die symbolische Textur des biblischen Welt-, Gottes- und Menschenbild zum Vorschein kommt. Dabei sind beide Begriffe oder Kategorien von durch und durch geschichtlicher Prägung, wie Voegelin verdeutlicht: Wenn die Ordnung der Seele und der Gesellschaft auf den Willen Gottes ausgerichtet ist, und folgerichtig die Handlungen der Gesellschaft und ihrer Glieder als dessen Erfüllung oder Abfall von ihm erfahren werden, ist eine historische Gegenwart geschaffen, deren Form auf eine Vergangenheit ausstrahlt, die in ihrer eigenen Gegenwart nicht bewußt geschichtlich war.34
Zu diesem Begriff vgl.: VOEGELIN, ERIC, Historiogenesis (1960), in: Ders., Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (Praktische Philosophie 77), München: Alber 2005, 79–116. 32 Diese in Ordnung und Geschichte (vgl. V OEGELIN, ERIC, Ordnung und Geschichte, Bd. 2: Israel und die Offenbarung – Die Geburt der Geschichte [1956], hg. v. Friedrich Hartenstein und Jörg Jeremias, München: Fink 2005, 43) einseitig auf Israel bezogene Sicht wird Voegelin später revidieren. 33 Was bedeutet, dass sie nicht in der gleichen Funktion verwendet werden, wie im biblischen Urtext. Ohnehin gilt, dass nur die Bundeskategorie diejenige Bedeutung schon auf der textlichen Ebene hat, die hier für beide Begriffe postuliert wird; der Begriff der Offenbarung spielt hingegen im AT keine bedeutende Rolle. 34 V OEGELIN, Ordnung und Geschichte 2 (Anm. 32), 45. 31
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
„Als das Bewußtsein des göttlichen Willens die Klarheit der Offenbarung erreicht hat, hat das historische Geschehen begonnen.“35
Während das letztere Zitat auf die paradigmatische Offenbarungsszene von Ex 3,14ff. anspielt, zielt das erstere auf die ethisch-soteriologische Dimension des biblischen Geschichtsverständnisses. Beides hängt zusammen, insofern die Glieder ‚Gott‘, ‚Israel‘ und ‚Mensch‘ ihren Sinn und ihre Bedeutung durch geschichtlich kontingente Ereignisse (Manifestationen) erhalten. Diese bilden sodann den inhaltlichen Nukleus, der die Formierung der Idee einer sich über die Zeiten hinweg erstreckenden gegenseitigen Verpflichtungsgemeinschaft provoziert. In diesem Sinne platziert die Historiogenesis „die Ereignisse unerbittlich auf der Linie der nichtumkehrbaren Zeit, in der Gelegenheiten für immer verloren und Niederlagen endgültig sind.“36 Wenn wir uns an dieser Stelle auf Voegelin stützen, geht es weniger um die Frage, ob diese Konstruktion der Religionsgeschichte Israels eigentlich bis ins Detail mit der gegenwärtigen Forschung übereinstimmt37; uns interessiert eher der am biblischen Material gewonnene hermeneutische Rahmen. Dieser ist neben dem, was Historiogenesis genannt werden kann, noch durch ein zweites Merkmal gekennzeichnet. Letzteres ist im Offenbarungsmotiv schon angelegt und bricht im Monotheismus endgültig durch: Das ontologische Kontinuum wird durch die Behauptung der radikalen Transzendenz Gottes aufgebrochen und die Geschichte noch radikaler als kontingenter Handlungsrahmen und Handlungsraum konzipiert. Durch die Erfahrung von Geschichte als religiös bedeutsames Medium werden die Ereignisse nicht in einem pragmatischen Zusammenhang von Mittel und Zweck erfahren, als Handlungen (…) im innerweltlichen Bereich, sondern als Akte des Gehorsams gegenüber oder des Abfalls von einem geoffenbarten Willen Gottes.38
Dabei stellt sich allerdings das Problem, die Geschichte – im Zeichen radikaler Kontingenz und Transzendenz Gottes verstanden – nicht beliebigen Deutungen 35 V OEGELIN, ERIC, Ordnung und Geschichte, Bd. 3: Israel und die Offenbarung – Mose und die Propheten (1956), hg. v. Friedhelm Hartenstein und Jörg Jeremias, München: Fink 2005, 75. 36 V OEGELIN, Ordnung und Geschichte 8 (Anm. 28), 92. 37 Im Hintergrund steht Gerhard von Rads Wiederentdeckung der Bedeutung dessen, was er die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen genannt hat, vgl. VON RAD, GERHARD, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München; Kaiser 41962, v.a. 117–142. – Zur Problematik einer Überbewertung dieses Strangs der biblischen Überlieferung: SMEND, RUDOLF, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (1968), in: Ders., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien 1, München: Kaiser 1986, 160–185. 38 V OEGELIN, Ordnung und Geschichte 2 (Anm. 32), 37. – Man beachte, nicht der Handlungsaspekt der Geschichte wird negiert, sondern Handlungen werden anders interpretiert. Zur diesbezüglichen Unterscheidung und Beziehung von pragmatischer und paradigmatischer Geschichte, vgl. a.a.O., 37–41.
1. Biblischer Personalismus und das Problem der Geschichte
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auszuliefern. Um sowohl den göttlichen Willen bestimmen als auch demgegenüber menschliche Taten qualifizieren zu können, bedarf es daher innerhalb der Geschichte eines paradigmatischen Berichts von einem, Ordnung und Identität stiftenden, Gründungsgeschehen. Dieser wirkt hinein bis in die Gegenwart, weil ihm ein Sinnüberschuss verliehen ist, der sich als Wahrheit immer wieder neu in und für die Gegenwart und Zukunft bewähren kann. Hier wird die Wahrheit über ‚Gott‘ und ‚Welt‘, ‚Mensch‘ und ‚Gesellschaft‘ selbst zu einer geschichtlichen: Die Konstituierung von Israel als eines Trägers der Wahrheit, als einer identifizierbaren und dauerhaften sozialen Größe in der Geschichte, konnte nur durch die Schaffung eines paradigmatischen Berichts erreicht werden, der (1) die Ereignisse um die Entdeckung der Wahrheit und (2) den Verlauf der Geschichte Israels in immer neuen Fassungen als eine Bekräftigung der Wahrheit erzählte. Dieser Bericht ist das Alte Testament. Gerade dann, wenn man sie als pragmatischen Bericht in Zweifel zieht, offenbart die Erzählung ihre Funktion für die Erschaffung eines Volkes in Politik und Geschichte. 39
An diesem Punkt tritt jene Spannung auf, die darin besteht, einerseits die geschichtlich entdeckte (oder offenbarte) Wahrheit festzuhalten, d.h. ihren Sinn zu bewahren, und andererseits die eigene Gegenwart notwendigerweise durch Interpretation der paradigmatischen Geschichte zu deuten und letztere neu auszulegen. Das meint Voegelin letztlich, wenn er die für Israel typische mythospekulative Historiogenesis „als autonome[n] Symbolismus betrachtet (…), der aus der Kooperation von pragmatischer Geschichtsschreibung mit Mythopoesie und noetischer Spekulation hervorgeht.“40 Im Grunde scheint hierin schon die Frage späterer Generationen auf, deren – im modernen Sinne – historisches Bewusstsein die historiogenetische MythoSpekulation zwar hinter sich gelassen hat, doch ohne sie gar nicht denkbar gewesen wäre: „Wie lässt sich ein bleibender Wahrheitsgehalt historischer Ereignisse überhaupt denken?“, „Wie ewige Wahrheit im zeitlichen Fluss von Geschichte begreifen?“ Für den biblischen Kanon, der die göttliche Wahrheit geschichtlich konfiguriert, wird man dabei immerhin feststellen dürfen, dass noch der mythische Teil der historiogenetischen Spekulation (…) keine unhistorische Fabel [ist], sondern der Versuch, die Gründe zu präsentieren, welche die res gestae des empirischen Teils zum Rang der Geschichte erhoben haben. Der Symbolismus als Ganzes hat den Status eines historischen Werkes, dessen Autoren sich ihres eigenen Relevanzprinzips bewußt sind.41
Ohne Referenz auf ein Minimum von tatsächlich Geschehenem verlöre ein geschichtlich verfasstes religiöses Verständnis von ‚Gott‘ und ‚Welt‘, ‚Mensch‘ und ‚Gesellschaft‘ jeglichen Anspruch auf Wahrheit. Umgekehrt – und genau A.a.O., 40. VOEGELIN, Ordnung und Geschichte 8 (Anm. 28), 89. 41 A.a.O., 90. 39 40
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dies verdeutlicht die Polarität von paradigmatischem Bericht und notwendig historischer Re-Interpretation – stellt jede „Betrachtung der Geschichte immer (…) ein Mitschaffen des Sinns der Geschichte“42 dar. Damit steht die Behauptung im Raum, die Personalität Gottes verdanke sich im Kern der Konfiguration durch ein geschichtliches Wirklichkeitsverständnis. In den Theoriefiguren von ‚Bund‘ und ‚Offenbarung‘ deutet sich an, worin konkret der Zusammenhang von Geschichtstheologie und Personalismus besteht: Manifestation des Göttlichen und Verantwortlichkeit von Gott und Mensch bilden wichtige Aspekte. Das gilt es nunmehr grundsätzlich und in struktureller Hinsicht zu betrachten. Dazu soll zunächst die Blickrichtung geändert und nach dem Beitrag von Texten, Geschichte und Geschichten zur Erfassung von humaner Personalität gefragt werden. Sodann stellt sich das Problem des Verhältnisses von historischer Faktizität und narrativer Fiktionalität im Medium der Geschichte: Inwiefern vergewissern wir uns darüber unserer personalen Realität – und darin unserer ethischen Identität? Erst danach kehren wir noch einmal zur Verhandlung der Personalität Gottes zurück, wie sie auf der Fluchtlinie einer systematisch-theologisch angeleiteten Schrifthermeneutik liegt. Möglicherweise lässt sich in der Überkreuzung dieser nur angedeuteten Sichtweisen ‚Geschichte‘ als hermeneutischer Rahmen verstehen, in dem sich auch die personale Realität Gottes symbolisch prägnant erfassen und darstellen lässt.
2. Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch: Ein methodischer Zwischenschritt 2. Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch
Zunächst soll es also um die Bedeutung von Geschichten und Texten, konkret von Erzählungen, für die Erfassung humaner Personalität gehen. Wir können dies als einen methodischen Zwischenschritt verstehen, insofern wir uns an die anthropologische Dimension von Narrativität halten und erst an späterer Stelle deren Relevanz für den Gottesgedanken thematisieren. Worauf zunächst aufmerksam gemacht werden soll, ist die Einsicht in die Notwendigkeit zu Geschichten bzw. zur narrativen Konstitution von Handlungssinn. Der Mensch erfährt sich selbst als in seinem „In-Geschichten-Verstrickt-Sein“43 nicht nur, da er darauf gekommen ist, die ihn umgebende Wirklichkeit durch Benennung zu kennzeichnen und sich ansichtig zu machen44; sondern mehr noch, weil er seine TILLICH, Mythos und Mythologie, in: GW V (Anm. 1), 193. Diese Formulierung entnehme ich der Abhandlung von: SCHAPP, WILHELM, In Geschichten verstrickt: Zum Sein von Mensch und Ding (1953), Frankfurt/M.: Klostermann 42004. 44 Dies ist das Thema des großen Werkes von: B LUMENBERG, H ANS, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M.: Suhrkamp (1979) 51990. – Zum Thema des Namens siehe auch den Abschnitt § 9.4.3. 42 43
2. Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch
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eigene Rolle innerhalb der Realitäten, in denen er lebt und in die hinein er wirkt, narrativ (sich) vergegenwärtigen kann. Unsere, vor allem im vorangegangenen Paragraphen zunächst handlungstheoretisch orientierten Überlegungen werden nunmehr durch hermeneutische Einsichten erweitert. Dies geschieht im Folgenden zunächst durch Rekurs auf Hannah Arendt (1906–1975) und dann auf die texttheoretische Handlungstheorie Paul Ricœurs (1913–2005). Dessen Werk spielt in diesem Paragraphen ohnehin eine wichtige Rolle, da Ricœurs Hermeneutik der Person sich jener Überkreuzung von handlungs-, text-, erzähl- und geschichtstheoretischen Diskursen verdankt, die sich für unsere Hermeneutik symbolischer Rede vom personalen Gott als extrem aufschlussreich erweisen wird. An dieser Stelle interessiert uns jedoch zunächst seine Einsicht, wonach der handlungstheoretische Sinn von Geschichten (in Form von Erzählungen) sowie der Idee der Geschichte als solcher diesen äußerlich bliebe, würde sich nicht auch die umgekehrte Richtung nahelegen, welche Handlungen zugleich als symbolische Texturen lesen lässt; ein Grundgedanke, der uns bereits im Zusammenhang mit dem Ritual beschäftigte (Stichwort: ‚symbolic action‘). Diese Verbindung von Texttheorie, Hermeneutik und Handlungstheorie lässt verstehen, inwiefern die handelnd-sprechende Person der „in Geschichten verstrickte“ Mensch ist. 2.1 Der sprechend-handelnde Mensch als eine ‚in-Geschichten-verstrickte‘ Person In Vita activa hat Hannah Arendt das Sprechen und Handeln als diejenigen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten45 bezeichnet, die das Wesen der Person enthüllen. Dabei ist vorausgesetzt, dass von einer Welt von Personen nur gesprochen werden kann, wenn diese auch im Plural existieren. Pluralität, Inter-Subjektivität und die Möglichkeit zur Kommunikation sind Bedingungen, um sowohl von der Gleichheit als auch der Verschiedenheit menschlicher Wesen als Personen sprechen zu können. Humanität, Personalität und Individualität hängen somit eng miteinander zusammen: Im Menschen wird die Besonderheit dessen, was den Menschen mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und die menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.46
Diese Einzigartigkeit des Menschen als Personen ist jedoch selbstverständlich nur möglich, wo es eine elementare Gemeinsamkeit gibt, die sich sowohl im 45 Die Doppelformulierung von ‚Fähigkeiten‘ und ‚Fertigkeiten‘ ist bewusst gewählt, um den Eigensinn von ‚human capacity‘ zu betonen, an den Arendt in ihrer Untersuchung anknüpft. 46 A RENDT, H ANNAH, Vita activa, oder Vom tätigen Leben (1958), München/Zürich: Piper 42006, 214.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
Aufeinander-Wirken als auch im Miteinander-Sprechen zeigt und die als Initiativfähigkeit mit jedem neuen (geborenen) Menschen ihre besondere, konkrete einmalige Gestalt erhält47: Sprechen und Handeln sind diejenigen Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden sich die Menschen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.48
Man muss dabei im Blick behalten, dass der Arendtsche Handlungsbegriff nicht alle Tätigkeiten des Menschen umfasst, sondern sich durch die Differenz zu den Begriffen des Arbeitens und Herstellens, d.h. der Welt des physischen und instrumentellen Weltumgangs, von diesen elementar abhebt.49 Erst im Raum des Handelns lässt sich in prägnanter Weise vom Charakteristikum des Personalen sprechen. Erst hier werden, soweit der Handlungsraum „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient (…) die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte“50 geschaffen. Für Arendt ist es somit diese Welt der Handlungen, die als die Welt von Personen infrage kommt. In sie hinein werden wir geboren oder besser noch: bestimmt die Tatsache unserer Geburt den Auftakt zu neuer kreativer Initiativfähigkeit (Natalität), mit der sich unsere einzigartige Position als Person konstituiert.51 Diese Initiativfähigkeit oder Freiheit äußert sich vor allem im Umstand, miteinander kommunizieren und gemeinsam agieren zu können. Erst dadurch erhält die Welt des Personalen ihre Signatur als eine Welt von Einmaligen als Einzigartige, im Plural: Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.52
47 Bei diesen und weiteren Überlegungen der folgenden Abschnitte geht es immer auch um die Frage, inwiefern Gott und Mensch in differenter und zugleich gemeinsamer Weise personal verstanden werden können, was das heißt und worauf dies rekurriert. 48 Ebd. – Man beachte die von Arendt offenkundig bewusst gewählte Semantik des Enthüllens, Darstellens und Offenbarens. 49 Vgl. a.a.O.,16–27. 50 Vgl. a.a.O., 18. 51 Zur Bedeutung von Natalität als notwendiges und vorausgehendes Komplement zur Mortalität in ethisch-theologischer Sicht, siehe meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Life’s beginning and life’s end: An essay on natality and mortality, in: Lars Charbonnier u.a. (Hg.), Pluralisation and Social Change. Dynamics of Lived Religion in South Africa and in Germany (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 21), Berlin/Boston: de Gruyter 2018, 97–110. 52 A RENDT, Vita activa (Anm. 46), 215.
2. Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch
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Liegt in der praktischen Handlungsinitiative, die den humanen Weltumgang vor dem aller anderen Lebewesen auszeichnet, das Spezifikum der Person, dann darf diese jedoch nicht einfach mit den Fertigkeiten des Sprechens und Handelns gleichgesetzt werden.53 Wie Arendts Verortung in den Kontext des Politischen verdeutlicht, ist es erst deren Prägung durch den Gedanken der Verantwortung, mit der die Eigenart von Personen vollständig freigelegt wird. Damit verbunden ist, dass dies alles nur in einem intersubjektiven, sozialen und darin eben elementar politischen Umfeld gedacht werden kann.54 Wie aber lässt sich dieser Zusammenhang darstellen? Handeln und Sprechen geben für Arendt über das, was gesagt und getan wird, hinweg Aufschluss über den, der etwas sagt oder tut. Hierin liegt ihre Bedeutung für das, wer oder was eine Person ist: „Ohne diese Eigenschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben, wird das Handeln zu einer Art Leistung wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch.“55 Eine Bedingung dafür ist nun aber, dass das eigene Handeln bereits das Handeln anderer voraussetzt. Das ‚Wer‘ des Handelnden kann nur in und durch ein Geflecht verschiedener Handlungen und Reaktionsweisen ausgemacht werden. Zugleich haben wir es nicht mehr ausschließlich mit einer sozialen, sondern darüber hinaus mit einer historischen Konstellation zu tun. Diese Verschränkung bewahrt Arendts Ansatz vor Gefahren sowohl eines aktualistischen wie eines okkasionellen Verständnisses personaler Handlungsgegenwart. Zwar kann man die Pluralität handelnd-sprechender Personen und deren Identität als Handelnde und Sprechende durch „Lebensgeschichten erzählbar“56 machen, aber dies erfolgt nur auf ebenso retrospektive wie wiederum pluralfragile Weise. Erzählungen von Lebensgeschichten enthüllen den Charakter einer Person, indem sie diese vor einem inter- und transindividuellen Sinnhorizont konturieren, welchen sie selbst (mit) gestiftet haben.57 Noch die individuelle Lebensgeschichte besteht nie nur aus den Handlungen und Widerfahrnissen dieses jeweiligen Individuums. Als Personen lassen sich Individuen immer nur zusammen mit ihrem sozialen und historischen Kontext verstehen. Die narrative Konstitution personaler Identität und ihre handlungstheoretische Grundierung verdeutlicht darüber hinaus noch einen weiteren Aspekt, der als Hinweis für die innere Verbindung von Personalität und Geschichtlichkeit gelten kann: Weil das „Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absich-
53 Allerdings birgt der Umstand, dass Arendt Handeln und Sprechen derart gänzlich ihrer instrumentellen Seite zu berauben scheint, seine eigenen Probleme: vgl. a.a.O. 225. 54 Vgl. a.a.O., 224. 55 A.a.O., 221. 56 A.a.O., 226. 57 Vgl. a.a.O., 229. – Das meint keinen radikalen Konstruktivismus (vgl. schon a.a.O., 227), wohl aber deutet sich hier an, welche Bedeutung kanonische Texte haben können, weil man diese als Artikulationen dieses Sinnhorizonts verstehen kann.
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ten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen“, verursacht, dass „der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen“58 kann, und dadurch niemand „auch der Held der erzählten Geschichte (…) unter keinen Umständen in dem gleichen Sinn als Autor der Geschichte und ihres Sinns angesprochen werden [kann] wie etwa der Verfasser einer Novelle“59, darum bleibt der Charakter von Personen, ihre Identität, stets kontingent, offen und darum fragil und revidierbar.60 Bleibt noch zu fragen, wie wir überhaupt zu einem Bild oder Verständnis von uns, aber auch von anderen Menschen und – mit Blick auf unser Thema – von Gott als Personen kommen? Zwei Ebenen sind es, die wir hier unterscheiden müssen: die Ebene der Biographie als erzählte Geschichte und die Ebene des Zeugnisses oder ‚Enthüllung‘, wie Arendt sie nennt, in der die Handlungen und Sprachakte für sich selbst sprechen und der insofern ein dramaturgisches Element zukommt. Beide Ebenen können nicht einfach voneinander getrennt werden und sind zugleich mit Blick auf die spezifische Weise, wie Handeln und Sprechen als intersubjektives Verantworten und Rechenschaft-Abgeben auf den personalen Charakter des sich in ihm Zeigenden verweisen, zu entschlüsseln. Zum einen gilt: „Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie“61. Das darf allerdings nicht dazu verführen, (auto-)biographische Darstellungen zum alleinigen Medium der Erfassung von Personen zu stilisieren; bedarf es doch einer mehrere Perspektiven und Deutungen integrierenden Sicht auf das Schicksal eines Handelnden, um zu erkennen, wer er als Person ist (oder war). Auf der anderen Seite ist nicht erst nach Abschluss einer Lebensgeschichte die Erfahrung personaler Identität bzw. Charakters62 möglich, sondern sie zeigt sich vielmehr im zwischenmenschlichen Umgang schon während der Lebenszeit dieser Person. Auch dann ist sie wesentlich an die Handlungen der Akteure gebunden; aber diese werden dann in einer spezifischen Hinsicht gedeutet: nämlich als Selbstdarstellungen. In diesem Sinne ist – den etymologischen Ursprüngen der Personenvokabel nahekommend – der Schauspieler das paradigmatische Modell einer Person und das Theater oder genauer: das Drama, das literarische Muster personaler Geschichtsschreibung. Darin ist
A.a.O., 226. A.a.O., 229. 60 Vor diesem Hintergrund erklärt sich Arendts besonderes Gespür für die „Zerbrechlichkeit“ (Kontingenz) und die ‚Aporien‘ des Handelns. Der darin zum Ausdruck kommenden fragilen Identität von Personen kann auf verantwortliche Weise durch die humanen Fähigkeiten zum ‚Versprechen‘ und ‚Verzeihen‘ begegnet werden. Vgl. a.a.O., 300–317. 61 A.a.O., 231. 62 An dieser Stelle ist es nicht notwendig, weiter zwischen Charakter und Identität zu unterscheiden. 58 59
2. Die ‚Welt‘ des Textes und der in Geschichten verstrickte Mensch
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die dem Handeln und Sprechen eigene Enthüllung des Wer so unlösbar an den lebendigen Fluß des Vorganges selbst gebunden, daß (…) [w]as sich in der Aufführung zur Geltung bringt, (…) dabei nicht so sehr der Gang der Handlung [ist], der sich auch im reinen Erzählen wiedergeben ließe, als das So-und-nicht-anders-Sein der handelnden Personen, die der 63 Schauspieler unmittelbar in ihrem eigensten Medium darstellt.
Fragt man abschließend nach dem gemeinsamen Blick, den beide Ebenen, die auch im weiteren Verlauf unserer Argumentation eine wichtige Rolle spielen werden, auf Geschichte, Erzählung und personale Identität einnehmen, dann lässt sich zweierlei festhalten: Erstens vertiefen sie das handlungstheoretische Fundament personaler Realität. Es geht um den Sinn und die Bedeutung, die Handlungen – auch als Sprechhandlungen – für die Identifizierung und Bestimmung (Beschreibung) des Handlungssubjekts haben. Zweitens halten sie daran fest, dass auch dieses Bemühen unabschließbar bleibt, da zum einen die Perspektiven auf den personalen Charakter von Handelnden plural bleiben und zum anderen die Handelnden selbst immer wieder in den Deutungsprozess eingreifen können und dadurch anzeigen, dass sie nicht in diesen Erzählungen (und Handlungen) aufgehen. Ob und inwiefern dies beides auch mit Blick auf Gott ausgesagt werden kann, jedenfalls unter der Perspektive der biblischen Traditionen, muss sich im Verlauf der Darlegungen allererst erweisen. Halten wird fest: Personale Identität, wie sie sozial konstituiert und sich geschichtlich vollzieht, lässt sich nicht fixieren. Daraus resultiert eine letzte für unser Thema wichtige Feststellung: Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfaßt ist. Der einzige Jemand, den sie enthüllt, ist und bleibt der Held der Geschichte, dessen Wer sich nur im Medium des Erzählbaren und daher ex post facto in einer Greifbarkeit und Bedeutungsfülle darstellt, die der ungreifbar flüchtigen und doch unverwechselbaren einzigartigen Manifestation entspricht, in der die Person durch Handeln und Sprechen einer Mitwelt gegenwärtig ist.64
Obwohl Personen ihre Identität wesentlich über Handlungen ausbilden und festlegen, können sie aufgrund der mehrfach kontingenten Konstellation, die ihr Leben ausmacht, nicht als (alleinige) Autoren ihrer Lebensgeschichte oder der Geschichte überhaupt gelten. So gehen sie als Personen weder in ihrem eigenen Selbstbild noch in dem Bild anderer auf, ohne dabei ihre Freiheit, d.h. ihre Initiativfähigkeit, zu verlieren. Trifft dies zu, wird Kontingenz für das Verstehen
A.a.O., 233. A.a.O., 178. – Arendts Beobachtung ist auch geschichtstheologisch von Bedeutung, insofern Gott demnach als Person, d.h. als einer, der sich in der Geschichte handelnd offenbart, verstanden werden kann, ohne das schiefe Bild von ihm als Autor der Weltgeschichte zeichnen zu müssen; dies gilt ungeachtet der anderen Konditionen, unter denen das Leben Gottes im Vergleich zum menschlichen Leben zu begreifen ist. 63 64
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von Personen als auch für das Verständnis von Geschichte als dem ausgezeichneten Medium der Darstellung von Personalität, zentral. Darauf ist zurückzukommen. Doch im Folgenden ist danach zu fragen, wie überhaupt Texte als Erzählungen sich dazu eignen, Handlungen und somit Geschichte(n) in ihrem Sinn und ihrer Bedeutung zu erschließen. 2.2 Die ‚Welt‘ des Textes: Handlungsraum und Sinnkonstitution Die bisherige Argumentation folgte vornehmlich anthropologischen Einsichten. Als vorläufiges Resultat konturierte sich ein Verständnis von Personen als menschliche Lebewesen, die gemeinsam handelnd und sprechend in Geschichte und Geschichten verstrickt sind und nur mittels Geschichten ihrer selbst wie auch anderer als Personen ansichtig werden können. Das ist gemeint, wenn von der narrativen Konstitution personaler Identität die Rede ist. Doch lassen sich noch Erzählungen, die nur mündlich tradiert werden, als ‚Texte‘ begreifen und damit stellt sich die Frage, ob und wie Handlungsstränge textlich strukturiert und verstanden werden können. Handlungen bilden das Ferment des Vollzugs personaler Existenz und somit auch den gewichtigsten Stoff von Erzählungen als Formen der Darstellung von personaler Identität und Individualität. Doch wie gelingt es Narrationen mittels ihrer textlichen Struktur, den Sinn von Handlungen zu sichern, oder, wie wir hier vertreten wollen: gar den Sinn und die Bedeutung von personalen Handlungen überhaupt erst erschließbar zu machen? Zur Klärung dieser Frage greife ich auf Überlegungen Paul Ricœurs zur hermeneutischen Handlungstheorie zurück.65 Mit ihrer Hilfe lassen sich Handlungen selbst als Texte verstehen, und umgekehrt Texte als symbolische Muster zur Erfassung von Handlungssinn begreifen. Dieser Vorschlag fügt sich nicht nur in unser Verständnis der Überlappung der Stufen ritueller Artikulation und mythisch-symbolischer Deutung, wie sie diesen und den vorangegangenen Paragraphen leitet. Mehr noch könnte es auf diese Weise gelingen, die Binnenperspektive der Handlungsakteure nicht von der Außenperspektive eines objektiven Handlungssinns trennen zu müssen. Für unseren Zusammenhang kann dies anschaulich gemacht werden, wenn man bedenkt, dass im Zentrum unserer hermeneutischen Überlegungen Texte stehen, die im Vollzug von (rituellen) Handlungen erprobt werden und deren Sinn und Bedeutung weit über diesen Anwendungskontext, in dem sie als symbolische Texturen Verwendung finden, hinausreicht. Dadurch rechtfertigt sich erneut der Einsatz beim Ansatz einer „teilnehmenden Beobachtung“ im Sinne Clifford Geertz’, wie er schon die religionstheoretischen Überlegungen gekennzeichnet hat (vgl. § 5.1.3 sowie 5.3.1). Und 65 Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich in der Ricœur-Interpretation verstärkt das Ansinnen ab, dessen hermeneutische Philosophie im Ganzen als eine Philosophie des fähigen, darin aber vor allem handelnden Menschen zu rekonstruieren. Vgl. dazu auf eindrückliche, weil die gesamte Werkgeschichte inkludierende Weise: MICHEL, JOHANN, Paul Ricœur. Une philosophie de l’agir humain, Paris: Les Éditions du Cerf 2006.
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schließlich lässt sich mit Blick auf die weiteren Schritte der Argumentation vorausgreifend festhalten, dass das Selbstverständnis der in den Blick genommenen Texte darauf zielt, dem in der Welt handelnden und sprechenden Menschen Orientierung mit Blick auf sich selbst zu gewähren. Die ‚Welt‘ des Textes versteht sich somit stets zugleich als eine Perspektive auf die Welt des Handelnden. Dies gilt es nun Stück um Stück zu entfalten. Den Grundstein für seine hermeneutische Handlungstheorie, die zugleich Teil seiner lebenslangen Arbeit an einer philosophischen Anthropologie bildet66, hat Ricœur in seiner Abhandlung Der Text als Modell67 gelegt. Zwei Ziele sind es, die er mit seiner hermeneutischen Handlungs- bzw. handlungstheoretischen Texttheorie im Wesentlichen verfolgt: Erstens den Sinn und die Bedeutung menschlicher Handlungen darüber zu erschließen, dass man sie als QuasiTexte begreift; und zweitens zu zeigen, dass auch Geschichtsverstehen und Geschichtsdeutung sich in dieses Modell einzeichnen lassen. Für uns ist diese doppelte Beweisführung deswegen von Belang, weil auf diese Weise die weitergehende These, wonach die Geschichte das Medium der Darstellung von Personalität ist, eine tiefere Begründung erhält. Doch muss zunächst das Paradigma des Textes charakterisiert werden, das uns erlaubt, mit ihm auch Handlungen zu verstehen und umgekehrt Handlungen durch Texte in ihrem Sinn zu fixieren und zu erfassen. Vier Aspekte sind von Belang. Dabei erhält [d]ieses Paradigma seine Grundzüge aus der Charakteristik des Textes selbst, d.h. 1. der Fixierung des Sinngehalts, 2. der Trennung von Sinngehalt und geistiger Intention des Autors, 3. der Entfaltung von nicht-ostentativen Zügen, und 4. der unbegrenzten Reihe ihrer Adressaten. Diese vier Grundzüge zusammengenommen machen die »Objektivität« des Textes aus.68
Dem wiederum korrespondieren auf handlungstheoretischer Seite ebenfalls vier Charakteristika, die die Objektivität der Handlung und dadurch auch die Bestimmung ihres Sinns garantieren. Denn wie Texte lassen sich Handlungen zunächst fixieren (1), um sie dann von den Intentionen des Handelnden unterscheiden zu können (2). Ganz analog zu Arendt sieht auch Ricœur in der „Autono-
66 Zur Kontinuität seiner Arbeit an einer handlungstheoretischen Anthropologie bei gleichzeitiger Hinwendung zu Fragen der Hermeneutik, Texttheorie und Narratologie, vgl. die Selbstauskunft in: RICŒUR, PAUL, Preface, in: Ders., From Text to Action. Essays in Hermeneutics II, transl. from the French by Kathleen Blamey and John B. Thompson, Foreword to the New Edition by Richard Kearney, Evanston (Il.): Northwestern Univ. Press 2007, xvii–xix. 67 Vgl. R ICŒUR, PAUL, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen (1972), in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hg. v. Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, 83–117. 68 A.a.O., 101.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
misierung der menschlichen Handlung (…) die soziale Dimension der Handlung [konstituiert].“69 Von hier aus zeigt sich, dass die Bedeutung der Handlung – und das ist für das Geschichtsverstehen wichtig – weder in der Sinndeutung durch die Akteure noch in ihrer Situationsrelevanz aufgeht (3). Und schließlich gilt für wichtige, d.h. ausschlaggebende und Wandlungen provozierende Taten, Werke und Entscheidungen, dass sie „groß genug sind, um in neuen historischen Situationen neue Bedeutung gewinnen zu können“70 (4). Von hier kann man zum Schluss gelangen, dass analog zum Text in seiner Gänze menschliches Handeln ein vollendetes und offenes Werk ist, dessen Sinn in der Schwebe bleibt. Gerade weil sie neue Bezüge ‚eröffnen‘ und neue Bedeutung für diese bekommen, verlangen die menschlichen Taten nach neuen Interpretationen, die ihren Sinngehalt bestimmen. Alle entscheidenden Ereignisse und Taten stehen auf diese Weise der praktischen Interpretation durch die gegenwärtige Praxis offen. Menschliches Handeln ist sozusagen jedem zugänglich, der lesen kann.71
Die Lesbarkeit72 von Handlungen und Handlungsketten, ja von Geschichte als Geflecht aus Ereignissen und Handlungsabfolgen wird somit dadurch ermöglicht, dass sie sich mittels der Hilfe des Textmodells interpretieren lassen. Die Objektivität und Offenheit des Sinns ist dabei Folge dessen, dass nicht die Autoren- bzw. Akteursintention im Vordergrund steht. Man würde nachgerade den Sinn- und Bedeutungsreichtum unterschlagen, wollte man sich ausschließlich an ihr orientieren: „Weil der Bedeutungsgehalt eines Ereignisses in dessen zukünftigen Interpretationen liegt, kann die Interpretation der Zeitgenossen in diesem Prozeß keine bevorzugte Sonderstellung für sich beanspruchen.“73 So gesehen führt nicht nur kein Weg an der Interpretation vorbei. Vielmehr lassen sich Handlungen als solche in ihrem Sinn nur fixieren, wenn zugleich die Offenheit dieser Bedeutungskonstitution gewahrt bleibt, wie die Offenheit von Texten, z.B. von Erzählungen, durch interpretierende Re-Lektüre. Das bedeutet nicht, Willkür und Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen, insofern Handlungen wie Texte an basale (grammatikalische und strukturelle) Regeln gebunden sind. Zum „hermeneutischen Bogen“74 gehört das Wissen, dass schon die Identifizierung von Handlungen wie Texten nur gelingt, wenn diese sich durch symbolische Zeichen und Codes darstellen lassen. Symbole sind somit der eigentlichen Interpretation vorgelagert, insofern sie den praktischen Weltumgang sinnhaft A.a.O., 95. A.a.O., 98f. Hervorhebung im Zitat durch mich. 71 Vgl. a.a.O., 99. 72 Diese Metapher wird von Ricœur programmatisch herangezogen. 73 A.a.O., 99. – Zur Kritik am Modell des fremdseelischen Verstehens siehe auch: a.a.O., 116. 74 R ICŒUR, PAUL, Was ist ein Text? (1970), in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999) (PhB 570), hg. v. Peter Welsen, Hamburg: Meiner 2005, 79– 108, 108. 69 70
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bestimmen: „The word interpretation must be taken here in Peirce’s sense: before being open to interpretation, symbols are interpreters of conduct.“75 Ihre regelgeleitete Norm, die sie mit allen Zeichen aufweisen, dient demnach zunächst der Organisation, Strukturierung und dadurch auch dem Prägnanzgewinn von Handlungen. Symbole konstituieren Sinn- und Bedeutungsmöglichkeiten für einen Raum von Handlungen, der durch Interpretation näherhin bestimmt werden kann. Keinesfalls zufällig verweist Ricœur daher auf das Phänomen des Rituals, in dem dieser elementare Zusammenhang von Handeln, Sprechen und symbolische Koordination76 sowie Interpretation besonders zum Ausdruck kommt: To speak is to be ‚commited‘ (…) that is, to make use of words and sentences in accordance with the codification prescribed by the linguistic community. Transposed to the theory of action, the notion of code implies that meaningful action is, in one way or another, rule governed. To understand a genuflection in a ritual is to understand the code of a ritual that makes this genuflection count as a religious act of adoration.77
Für Handeln, Sprechen und Erzählen gilt demnach analog wie für Texte, Mythen und Geschichten, dass keine dieser Tätigkeiten bzw. kulturellen Werke ohne symbolische Vermittlung auskommt. Und so wenig diese jenen äußerlich sein kann, so wenig gilt dies für Größen, die wir uns nur über jene Vorgänge überhaupt erschließen können, also: Personen und Geschichte.78 Es gibt demnach keine nicht-interpretierte Geschichte oder Handlung; und wir können nicht verstehen, ‚wer‘ eine Person ist, ohne, dass wir ‚ihre‘ Geschichte, ihre Handlungen etc. vor dem Hintergrund von symbolischen Referenzquellen interpretieren. Noch für ‚echte‘, d.h. real-geschichtliche Personen ist wesentlich, was sich mit Blick auf eine narrativ, d.h. textlich inszenierte Figur sagen lässt:
75 R ICŒUR, PAUL, Practical Reason, in: From Text to Action (Anm. 66), 194f. – An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, dass das Verhältnis von Ricœur sowohl zur Zeichentheorie von Peirce wie auch zur Symboltheorie Cassirers schwankend bleibt. Nur zum Beleg siehe die durchaus divergierenden Stellungnahmen in: RICŒUR, PAUL, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (1965), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, 22–27, einerseits, ders., Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung (1983), München: Fink 1988, 94, andererseits. 76 Von Koordination muss deswegen gesprochen werden, weil schon die Elementareinheit des Textes, der Satz, eine regelgeleitete Koordination von Zeichen darstellt: „Während das Zeichen (phonetisch oder lexikalisch) die Grundeinheit der Sprache ist, ist der Satz die Grundeinheit des Diskurses“ (RICŒUR, PAUL, Der Text als Modell, in: Hermeneutik [Anm. 67], 84). 77 A.a.O., 194. 78 Das meint im Grunde auch Taylors Rede vom Menschen als „self-interpreting animal“, vgl.: TAYLOR, CHARLES, Self-Interpreting Animals, in: Ders., Human Agency and Language. Philosophical Papers 1, Cambridge (UK)/New York: Cambridge Univ. Press 1985, 45–76, 64: „man as a self-interpreting animal (…) this kind of interpretation is not an optional extra, but (..) an essential part of our existence“.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
Die als Figur der Erzählung begriffene Person ist keine von ihren ‚Erfahrungen‘ verschiedene Entität. Ganz im Gegenteil: Sie hat Anteil an dem der erzählenden Geschichte eigentümlichen Regelsystem dynamischer Einheit. Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.79
Wird aber dadurch nicht der Unterschied zwischen Fiktionalität und Realität allzu sehr vernachlässigt, der ja doch für die Bestimmung sowohl von lebenden Personen als auch von deren Geschichte als Historie wesentlich ist? Wie wir später noch sehen werden, setzt genau hier die für Ricœur alles entscheidende Unterscheidung zwischen narrativer und personaler Identität an, die – auch darin im Einklang mit Arendt – zugleich die Differenz zwischen der Ebene der Erzählung (biographisch) und des Zeugnisses (dramaturgisch) impliziert. In der Differenz von Selbigkeit (idem) und Selbstheit (ipse) wird deutlich, dass zur Identität einer Person sowohl die Frage nach seinem ‚Was‘ als auch nach seinem ‚Wer‘ gehört. Beide Momente sind miteinander verschränkt, wobei die narrative Identität die Aufgabe [hat; sc. C.P.] (…) ein Gleichgewicht herzustellen zwischen denjenigen unwandelbaren Zügen, die die narrative Identität der Verwurzelung der Lebensgeschichte in einem Charakter verdankt, und jenen Zügen, die dazu tendieren, die Identität des Selbst von der Selbigkeit des Charakters zu trennen. 80
In den zuletzt genannten „Zügen“ macht sich die partielle Autonomie (Freiheit) des ‚Wer‘ von seiner Geschichte bemerkbar und somit die existentielle Unvertretbarkeit des persönlichen Einsatzes für die eigene Glaubwürdigkeit. Und schließlich wird erst durch das Festhalten an einer elementaren Historizität der ethische Aspekt der Personalität als geschichtlicher Verantwortlichkeit ersichtlich. Dies alles wird uns noch weiter beschäftigen. Aber an dieser Stelle ist vorläufig nur noch der Schritt zu tun, das Textmodell der hermeneutischen Handlungstheorie für das Verstehen von Geschichte als prinzipiell möglich herauszustellen. Dazu verhilft, dass Ricœur gegen strukturalistische Textverständnisse diese nicht als geschlossene Einheiten versteht, die auf nichts Außer-Sprachliches verweisen.81 Selbst, wenn mit letzterem nicht zwingend etwas empirisch-Reales 79 R ICŒUR, PAUL, Das Selbst als ein Anderer (1990), München: Fink (1990) 1996, 182. – Das scheint zunächst widersprüchlich, soll doch die Differenz von narrativer und personaler Identität betont werden. Allerdings kommt alles darauf an, was man unter ‚verschieden‘ (in diesem Zitat) versteht. Zwar ist eine restlose Identität von einer lebenden Person mit ihrer narrativen Biographie ausgeschlossen. Aber keine lebende Person kann sich derart von ihren Erfahrungen, die zu einer erzählbaren, nämlich ihrer Biographie führen (können), ablösen, dass man von einer „von ihren ‚Erfahrungen‘ verschiedene[n] Entität“ (ebd.) sprechen könnte. 80 A.a.O., 152. 81 Vor allem in Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss kommt Ricœur auf diesen Aspekt zu sprechen. Hier zeigt sich erneut, wie sehr seine text- und handlungstheoretischen
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gemeint ist, zielen noch literarische Texte darauf, eine Welt außerhalb ihrer selbst zu skizzieren. Das gilt allemal für die Darstellung von Personen in ihrem Lebensgeschick. Vor allem aber für das Feld der Geschichte ist die Differenz zwischen den faktischen Ereignissen und Taten einerseits und deren Deutungen andererseits aufrechtzuerhalten; und zwar nicht nur, um den Prozess der Interpretation in Gang zu halten, sondern weil die Wahrheitsfrage an dieser Stelle nicht stillgestellt werden kann: The fact that history – by this I mean the history of historians – gives rise to the same problems and debates as textual theory and action theory should not be surprising, since, on the one hand, history – historiography – is a kind of narrative, a ‚true‘ narrative in comparison with mythical or fictional narratives, and since, on the other hand, history is concerned with the actions of those of the past.82
Die Orientierung an der ‚wahren Geschichte‘ bzw. an dem, was ‚wirklich‘ stattgefunden hat, kennzeichnet nun aber nicht nur die historische Forschung (mit dem möglichen Einspruch der Quellen) im Gegensatz zur mythischen Darstellung oder zur Narration. Sie ist im Kern auch in der narrativen Selbstverständigung von Personen angelegt, da deren Biographien ja selbst Teil eines geschichtlichen Prozesses sind, der wiederum in narrativer Form verdichtet und symbolisch prägnant dargestellt werden muss. Schon die ‚Historiogenesis‘, so sahen wir weiter oben, lässt sich nicht ganz auf mythische Erzählungen zurückführen; der ‚Stachel‘ der historischen Faktizität ist ihr vielmehr durch den Anspruch auf singuläre Tatsächlichkeit des Geschilderten bereits mit eingeschrieben. Wenngleich daher Erzählungen dem Versuch einer Konfiguration einer umfassenden Artikulation des Sinns und der Bedeutung von Geschichte und Geschichten dienen und somit das Ganze eines Lebens darstellbar machen können, so entlastet dies doch nicht davon zu fragen, ob und inwiefern dieser Sinn und diese Bedeutung sich selbst in der Geschichte verankern lassen. Dies gilt umso mehr, als wir hier nun nicht einfach nach der narrativen Konstitution von personaler Identität fragen, sondern nach der Sinnhaftigkeit der Rede von einem personalen Gott, dessen ‚Identität‘ sich als geschichtlich erweisen lassen muss.
Überlegungen stets eine religionstheoretische Flanke besitzen. Ein rein strukturalistisches Verständnis des Mythos vernachlässigt dessen semantische Dimension, durch welche die Artikulation existentieller Erfahrungen überhaupt erst möglich wird, völlig zugunsten seiner syntaktischen Ordnungs- und Klassifikationsfunktion. Zu dieser Kritik vgl. RICŒUR, Was ist ein Text?, in: Ders., Vom Text (Anm. 74), 101–103; sowie DERS., Text als Modell, in: Hermeneutik (Anm. 67), 110–113. 82 R ICŒUR, Explanation and Understanding, in: Ders., From Text (Anm. 66), 138.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
3. Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handeln, Erzählung83 3. Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handeln, Erzählung
Aus den bisherigen Gedankengängen ergibt sich ein zweifacher Befund: Erstens zeigte sich, dass die personale Rede von Gott, wie sie die jüdisch-christliche Tradition prägt, mit der Herausbildung eines am Paradigma der Geschichte ansetzenden Wirklichkeitsbildes zusammenhängt. Dies betrifft zweitens nicht nur die inhaltliche Seite, sondern zeigt sich mehr noch in der Art und Weise, wie überhaupt von Gott und den Menschen personal gesprochen werden kann, nämlich in der Form von Erzählungen, die aber stets auf etwas außerhalb ihrer selbst rekurrieren. Doch was wird eigentlich unter Geschichte verstanden, wenn behauptet wird, von Gott ließe sich – ebenso wie von Menschen – nur im Medium erzählter, bezeugter, aber ebenso realer Geschichte personal reden? Mit der geschichtstheologischen Verortung der Personalität Gottes, wie sie hier anklingt, stellt sich die Frage, welche Elemente des Verstehens von Geschichte eigentlich ausschlaggebend sind. Schon von ihrer internen Verknüpfung mit der Darstellungsform der Erzählung her wird ersichtlich, dass Geschichtstheologie wie Geschichtsschreibung nicht einfach in der Sammlung von Daten und Fakten aufgeht und positivistisch rein kausaler Ursachenforschung dient. Dies würde von vornherein jede Darstellung der personalen Züge der betroffenen Handlungssubjekte verhindern. Insofern gilt auch für jede Form geschichtstheologischer Reflexion, was Hayden White, einer der führenden Geschichtstheoretiker im 20. Jahrhundert, über die Geschichtsschreibung gesagt hat: Zwar kombiniert sie „eine bestimmte Menge von Daten, theoretische Begriffe zu ihrer Erklärung sowie eine narrative Struktur, um ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben sollen“84, aber sie tut dies mit einem „tiefenstrukturellen – allgemein poetischen und insbesondere sprachlichen – Gehalt“, der „als das vorkritisch akzeptierte Paradigma, wie eine spezifisch historische Erklärung auszusehen hat“85, fungiert. Es besteht mit anderen Worten ein Wechselverhältnis zwischen der Art und Weise, wie Geschichte verstanden wird, und dem, was als ihr Sinn durch die strukturellen Vorgaben beschreib- und bestimmbar wird. Nicht nur stellt sich so vor diesem Hintergrund einer geschichtlichen Weltsicht ein bestimmtes Verständnis von Personalität ein, sondern umgekehrt prägen bestimmte Aspekte, die den Rahmen
83 Zu diesem und dem folgenden Abschnitt siehe auch meine Überlegungen in: POLKE, CHRISTIAN, Mit dem Rücken zur Wand. Von Schwierigkeiten und der Unausweichlichkeit personaler Rede von Gott im Horizont der Geschichte, in: Michael Meyer-Blank (Hg.), Geschichte und Gott. XV. Europäischen Theologenkongress (VWGTh Bd. 44), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, 780–798. 84 W HITE, H AYDEN, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert (1973). Aus dem Engl. von Peter Kohlhaas, Frankfurt/M.: Fischer 2008, 9. 85 Ebd.
3. Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handeln, Erzählung
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der Geschichte kennzeichnen, die Auffassung darüber, was als Geschichte eigentlich gelten kann und was sich mittels Geschichtsschreibung in Form der Erzählung demnach aufzeigen lässt. Die Frage steht im Raum, ob auch die Realität von Personen hierunter fallen. Wir haben es hierbei mit einem vielstufigen Interpretationsprozess zu tun, deren basale Elemente – Zeit, Handlung und Erzählung – wir in diesem Abschnitt noch ausdeuten müssen, bevor wir zum biblischen Kanon und seiner geschichtstheologischen Fassung der Personalität Gottes zurückkehren. 3.1 Geschichte, Geschichten und das Problem der Historik Dabei ist zunächst ein Grundproblem zu benennen, das sich aus den bisherigen Überlegungen ergab, nämlich das Verhältnis von Geschichte als Historie zu den Geschichten als Erzählungen. Damit ist mehr und anderes gemeint als die Beziehung zwischen Historizität und Faktizität, insofern auch – für das handlungstheoretische Verständnis von Person entscheidend – die Erzählung von Geschichte als Historie in der Form von Geschichten als Erzählungen verläuft. Hier stoßen wir auf ein zentrales Problem der Historik oder genauer noch: von Historik und Hermeneutik. Widersteht man der Auffassung, Personen seien nichts Anderes als literarisch-fiktionale Konstruktionen, selbst im Falle realer Menschen86, muss dennoch genauer bestimmt werden, worin sich der Widerhaken der Geschichte als historischer Realität gegenüber ihren literarischen Darstellungen bemerkbar macht, und was dies für das Erfassen von Geschichte bedeutet. Mindestens zwei weitere Schwierigkeiten stellen sich dabei ein: Die Differenz zwischen historischen Geschehnissen, die erzählt werden, und fiktionalen Erzählungen besteht nicht schlicht darin, dass den einen eine außertextuelle Referenz zukommt, die den anderen abgeht. Schon die Tatsache, dass beide auf ein ‚Außen‘ des Hörers bzw. Lesers zielen, spricht dagegen. Wenn man diesen Weg weiter konsequent verfolgen wollte, dann ist es eher die Qualität des jeweiligen ‚Außen‘ – Phantastisches, Imaginäres, Empirisches etc., von der sinnvolle Unterscheidungen abhängen. Sodann aber – und das ist für unsere Frage noch gewichtiger – scheint es so, als ob selbst in anthropologischer Hinsicht die Notwendigkeit zur Erzählung keineswegs mit dem Bedürfnis zur Wahrung der Differenz zwischen Faktizität und Fiktionalität einhergehen muss. Alasdair MacIntyre hat das einmal prägnant auf den Punkt gebracht:
86 Das ist im Grunde die Position Richard Rortys, der das menschliche Selbst als Person und auch die Geschichte radikal konstruktivistisch als mehr oder minder variabel gehaltenes Produkt von als jeweils irreduzibel und individuell ausgegebenen Interpretationen begreift. Vgl. RORTY, RICHARD, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M.: Suhrkamp (1989) 1992, v.a. 52–82.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
Der Mensch ist in seinen Handlungen und in seiner Praxis ebenso wie in seinen Fiktionen im wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier. Er ist im wesentlichen kein Erzähler von Ge87 schichten, die nach der Wahrheit streben, aber er wird es durch seine Geschichte.
Solange man nun darauf insistiert, dass Geschichte als Geschichtsschreibung kein rein fiktionaler Status zukommt, muss, insbesondere dann, wenn nach ihrer anthropologischen Bedeutung gefragt wird, die doppelte Spannung zwischen ereigneter Geschichte und sprachlich gedeutetem Sinn einerseits und zwischen Faktizität und Fiktionalität andererseits ausgehalten werden. Für die Selbstverständigung von Personen dient Geschichte ohnehin erst dann, wenn sie als Kollektivsingular verstanden den Rahmen bezeichnet, innerhalb der die Geschichten der individuell Handelnden nicht nur angesiedelt sind, sondern angesiedelt sein müssen, weil die Geschichte eines individuell Handelnden und seiner Veränderungen in der Zeit ohne diesen Rahmen und dessen Veränderungen in der Zeit nicht zu verstehen ist.88
Stellt also der Rahmen der Geschichte die Bedingungen bereit, Handlungen in ihrem Sinn zu verstehen, so lässt sich fragen, ob sich dann „die Bedingungen möglicher Geschichte in Sprache und Texten [erschöpfen]“89? Solange man an dem Eigensinn von Ereignissen, die als Geschehen stattgefunden haben, festhalten will, scheint die Antwort klar: Nein! Denn auch wenn zugestanden werden muss, dass wir Geschichte immer nur als dargestellte, beschriebene und damit mit sprachlichem Sinn erfasste ‚haben‘, so bedeutet dies eben nicht, dass damit schon alles gesagt ist, was sich in und mit ihr ereignet hat. Dies gilt noch für den Zusammenhang von Sprechen und Handeln, bei dem „eine Differenz [bleibt], auch wenn Sprechen eine Sprechhandlung ist und auch wenn Tun und Leiden sprachlich vermittelt werden.“90 Auf diesem Unterschied beruht die Bedeutung der historischen Faktizität, und zwar mit Blick auf den nur geschichtlich zu erfassenden personalen Handlungssinn. Inwiefern? Dazu muss man sich klarmachen, dass alle Handlungen, die sich historisch identifizieren lassen, einer doppelten Zeitbedingung unterliegen. Einerseits findet jede „reale“ Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, ist dadurch irreversibel auf der Zeitachse eingeschrieben. Andererseits lässt sich der Sinn von Handlungen nur dadurch verständlich machen, dass er in übergreifende
87 M ACINTYRE, A LASDAIR, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, 288. 88 A.a.O., 276. 89 K OSELLECK, R EINHART, Historik und Hermeneutik (1987), in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 98–118, 99. 90 K OSELLECK, R EINHART, Sprachwandel und Ereignisgeschichte (1989), in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Pragmatik und Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 32–55, 33.
3. Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handeln, Erzählung
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bzw. überlagernde Zeit- und darin Sinnschichten eingebettet ist. Insofern sind in jeder einmaligen Handlung (…) die von ebenso einmaligen oder einzigartigen Menschen jeweils vollzogen oder ausgehalten wird, (…) immer sich wiederholende Zeitschichten enthalten. Sie ermöglichen, bedingen und begrenzen die menschlichen Handlungschancen und setzen sie zugleich frei.91
Vor diesem Hintergrund deutet sich bereits eine wichtige Implikation an, welche die Bedingungen betrifft, wie die Individualität und Singularität von Personen sich im Feld von Geschichte, d.h. im Raum wechselseitiger Aktion (Handeln) und Reaktion (Leiden), überhaupt bestimmen lässt: Analog zu den doppelten Zeitverhältnissen ist auch die Einmaligkeit eines ‚Wer‘ davon abhängig, sie in übergreifenden Zusammenhängen bestimmen zu können. Damit verstärkt sich, wie sehr es beim Verstehen von Geschichte bzw. von Personen in der Geschichte darauf ankommt, einerseits die Rolle von symbolischen und sprachlichen Schemata bei der Deutung der Faktizität des Individuellen und Singulären zu würdigen – denn nur durch sie werden Fakten, Taten und eben auch Personen „verständlich“, und andererseits darauf zu beharren, dass alle „Handlungszusammenhänge, auf Endlichkeitsformationen in einem auch außersprachlichen Bereich“92 rekurrieren. Während die Historik auf die außersprachliche Realität zielt, innerhalb derer Handlungen stattfinden (bzw. stattgefunden haben) und Personen ihr Leben führen (bzw. geführt haben), steht „deren Verständlichkeit“93 im Zentrum der hermeneutischen Bemühungen. Aber die Differenz von sprachlicher Geschichtsdarstellung und dargestelltem historischem Sachverhalt geht noch weiter, greift tiefer. Denn obgleich das Verstehen von Geschichte ohne hermeneutische Operationen gar nicht möglich ist, so gilt doch wenigstens für die Geschichtsforschung, dass sie in einem anderen Verhältnis zu Texten als den symbolischen Medien für die Erfassung ihres Untersuchungsgegenstandes steht als andere hermeneutisch verfahrende Wissenschaften. Denn der Historiker bedient sich grundsätzlich der Texte nur als Zeugnisse, um aus ihnen eine Wirklichkeit zu eruieren, die hinter den Texten liegt. Er thematisiert also mehr als alle anderen Textexegeten einen Sachverhalt, der jedenfalls außertextlich ist, auch wenn er dessen Wirklichkeit nur mit sprachlichen Mitteln konstituiert.94
Daran knüpft ein weiterer Aspekt an, der unsere These von der Artikulation personaler Realität im Medium von erzählter Geschichte erhärtet: Zeigt sich doch, dass der Historiker jene Texte und Dokumente, denen er den Sinn von 91
KOSELLECK, REINHART, Einleitung, in: Ders., Begriffsgeschichten (Anm. 90), 9–16,
13. KOSELLECK, Historik und Hermeneutik, in: Ders., Zeitschichten (Anm. 89), 112. Ebd. 94 A.a.O., 116. 92 93
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
Geschehnissen und Handlungsketten entnehmen will, genau als das liest, was wir weiter oben als das zweite Element der geschichtlichen Darstellung von Personen kennengelernt haben: nämlich als Zeugnisse. Personen bleiben als KoAutoren ihrer Geschichte von den Spuren ihrer Lebensgeschichte unterschieden; und wie wir noch sehen werden, kann erst dadurch ihre Verantwortlichkeit gesichert werden. In einem ähnlichen Sinn verweisen Texte als Zeugnisse von sich aus, d.h. als sprachlich-symbolische Dokumente, und in nochmals anderer Weise als durch den Akt des Lesens (und Hörens) verursacht auf etwas AußerSprachliches. Dessen zeitliche Einmaligkeit wird, wo es um Handlungen und Widerfahrnisse geht, die von Subjekten mit-initiiert werden, ein Indikator für jenen dritten Aspekt von Personalität, der unmittelbar mit dem Rahmen der Geschichte verbunden ist: deren temporale Einmaligkeit und Singularität, oder anders: die Notwendigkeit des ‚In-der-Zeit-Seins‘ von Personen. 3.2 Zeit, Handlung, Erzählung – Bausteine zur Erfassung von Geschichte Wenn wir im Folgenden das Feld bzw. den Rahmen der Geschichte unter den drei Gesichtspunkten der Zeit, der Handlung und der Erzählung genauer charakterisieren wollen, dann geschieht dies von vornherein mit der Absicht, Geschichte als symbolisches Darstellungsmedium für Personalität begreifbar werden zu lassen. Von daher geht es nicht um eine vollständige Erfassung der Kategorien geschichtlichen, genauer: historischen Verstehens. Zumal, und dies kommt einschränkend hinzu, die drei Bausteine auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu liegen scheinen: So mag Zeit abwechselnd als Formal- oder als Modalkategorie verwendet werden, wohingegen mit dem Handlungsaspekt zumindest in pragmatistischer Perspektive so etwas wie ein anthropologisches Radikal benannt wird; und schließlich stellt die Erzählung, auch wenn sie auf eine elementare Fähigkeit des Menschen zurückgeht, ein hoch artifizielles Kulturprodukt dar. Doch stärker noch wiegt der Einwand, wonach durch ein solches Setting Geschichte als Historie auf Handlungen beschränkt und Geschichtsforschung mit Geschichtserzählung in eins gesetzt würde. Dann stünde schon im Vorhinein fest, warum am Ende nur ein personalistisches Modell Zustimmung fände. Mit diesem Verdacht setzt deshalb meine Skizze der drei Bausteine ein. Es ist klar, dass zur Darstellung von Geschichte nie nur Ereignisse gehören, erst recht nicht ausschließlich solche, die auf Handlungen zurückzuführen sind. Strukturen wie Ereignisse können nicht unabhängig voneinander historisch erfasst und beschrieben werden, obgleich sie sich durch ihre unterschiedliche zeitliche Dauer voneinander gegenseitig abheben, und jedenfalls nie nur als Resultate von menschlicher Aktivität infrage kommen. Diese Beobachtung ist auch deswegen von Belang, da sie es erlaubt, die Differenz zwischen beschreibender und erzählender Geschichtsdarstellung genauer zu fassen: Ereignisse und Strukturen haben (…) im Erfahrungsraum geschichtlicher Bewegung verschiedene zeitliche Erstreckungen, die von der Historie als Wissenschaft eigens thematisiert
3. Der Rahmen der Geschichte: Zeit, Handeln, Erzählung
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werden. Herkömmlicherweise nähert sich die Darstellung von Strukturen mehr der Beschreibung (…) die der Ereignisse mehr der Erzählung 95.
Insofern ist die geschichtliche Darstellungsform mit Hilfe narrativer Muster zur Erfassung von der Realität von Personen nur eine von mehreren Arten, sich der Historie zu stellen. Erst unter dieser spezifischen Betrachtungsweise macht die Charakterisierung von Geschichte als Disziplin, nämlich als einer Wissenschaft von den Menschen, und zwar: „von den Menschen in der Zeit“96, Sinn. In ihr wird auf indirekte Weise, d.h. unter Rückgriff und Auswertung von Quellen, wie Dokumenten, Zeugnissen, Artefakten etc., versucht, dem Handeln von Menschen auf die Spur zu kommen. So gesehen kann Geschichte auch als eine „Wissenschaft durch Spuren“97 verstanden werden und dabei ist „[d]ie Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Zeugnisse (…) nahezu unendlich.“98 Denn: „Alles, was der Mensch sagt oder schreibt, alles, was er herstellt oder womit er in Berührung kommt, kann und muß über ihn Auskunft geben.“99 Die Arbeit des Historikers besteht also wesentlich darin, aus Zeugnissen, die als Spuren von Handlungen gelesen werden können, auf die Eigenart von Akteuren rückzuschließen, die sich darin artikuliert haben. Diese generelle Beobachtung wird in denjenigen Fällen nochmals verstärkt, in denen historische Dokumente selbst Zeugnisbzw. Berichtcharakter annehmen100. So oder so lässt erst diese doppelte Vermittlung von den Spuren über die Zeugnisse zu den Handelnden die rekonstruierte Geschichte als ‚Ort‘ von Personen, als Vollzug realisierter Personalität verständlich werden. Dies lässt sich, wie wir sehen werden, auch auf das geschichtliche Verständnis des Wirkens Gottes übertragen: Von Gott in personaler Weise zu sprechen setzt in spezifischer Hinsicht voraus, dass seine Identität nur in der Zeit durch die Deutung der Spuren seines Handelns bestimmt werden kann. Was bleibt, ist die Frage, wie und mit welchen Mitteln dieser Übergang von der Identifikation von Ereignissen (und Strukturen) in der Zeit durch Spuren und als Zeugnisse zur Behauptung führen kann, sie als Handlungsresultate zu qualifizieren. Hierin gründet die Rolle der Erzählung in der Konfiguration von Geschichte. So sehr sich die narrative Geschichtsschreibung von der analytisch-kritischen Geschichtsforschung abhebt, so sehr hängt sie doch von dieser ab. Ihre 95 K OSELLECK, R EINHART, Darstellung, Ereignis und Struktur (1973), in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 144–157, 148. 96 B LOCH, M ARC, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers (1949/67), München: dtv/Klett 1985, 26. Hervorhebung von mir. 97 R ICŒUR, PAUL, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. Mit einem Vorwort von Burkhard Liebsch, Göttingen: Wallstein 42004, 31. 98 B LOCH, Apologie (Anm. 96), 54. 99 Ebd. 100 Genau dies ist im Wesentlichen der literarische Selbstanspruch einer Vielzahl der biblisch-kanonischen Texte. Dazu weiter unten mehr: § 9.4.
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Eigenart besteht ja darin, dass es ihr gelingt, durch ihr „narratives Bezugssystem“101 eine sinnhafte Konstellation von Interaktionen freizulegen, die es erlaubt, Geschehnisse in der Zeit mit der Initiative handelnder Subjekte zu verknüpfen und dadurch ihre Bedeutsamkeit über ihre historisch einmalige Situation hinaus zu retten. In diesem Sinne zielt die Geschichtserzählung stets über die Zeit des in ihr Erzählten hinaus in die Gegenwart des Lesers bzw. Hörers. Zudem eignet ihr ein teleologischer Zug, der sich als Resultat einer (re-)konstruktiven Tätigkeit einstellt. Mit diesem ist zunächst kein wertender Aspekt, sondern vielmehr die Tatsache gemeint, dass schon die Verlaufsform der Narration, gleichsam ihre Tendenz, Entwicklungen ansichtig zu machen, von evaluativen Kriterien durchzogen ist. Zudem gilt auch für die Gesamtkomposition der Erzählung, dass sie bereits selektiv und darin ebenfalls wertend verfährt. Schon die Konstruktion des historischen Gegenstandes erfolgt durch die Unterstellung einer „Wert- oder Sinneinheit, die der jeweiligen Totalität für ihr eigenes Bewußtsein immanent ist und die wir freilich nur vermöge unserer eigenen Fähigkeit der Wert- und Sinnempfindung erfassen können“102. Sind historische Darstellungen somit „in hohem Grade symbolisch“103, so lässt sich die Geschichte selbst als symbolische Form verstehen, für die charakteristisch ist, dass es ihr durch die narrative Komposition gelingt, Zeit und Handeln so darstellen zu können, dass deren personaler Zug sichtbar wird und dadurch Personen in ihrer spezifischen Realität ansichtig werden. Das rührt an die Eigenart historischen Sinns, zu dem neben dem Bewusstsein seiner inhärenten Kontingenz das Verstehen von Geschichte als prekärer Realität gehört. 3.3 Die historische Zeit – ‚Ort‘ der Darstellung von Personalität Zeit ist ein konstitutives Element von Realität. Schon von daher spielt sie als basale Kategorie in allen symbolischen Formen eine Rolle. Mehr noch, es darf als ausgemacht gelten, dass die bewusste Lebensgegenwart von Personen unmittelbar mit der Empfindung und Wahrnehmung von Zeit zu tun hat. Ohne
101 Vgl. H ABERMAS, JÜRGEN, Geschichte und Evolution, in: Ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 200–259, 245 (kursiviert von mir). 102 TROELTSCH, ERNST, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Teilband 1 (= KGA 16.1), hg. v. Friedrich W. Graf, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 214. – Dies meint auch bei Troeltsch keine tendenziöse oder metaphysisch fixierte Geschichtsschreibung, ist doch „das Wort Sinn nicht als bewußte Zwecksetzung, sondern als vielleicht völlig unbewußter Trieb- und Bedeutungszusammenhang gemeint. Er ist zugleich rein formal verstanden und braucht gar nicht jedesmal einen positiven Sinn und Wert zu bedeuten“ (ebd.). 103 A.a.O., 213.
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Zeiterfahrung, so lautet die These dieses Abschnittes, kein Verstehen von Personalität.104 Wie ist dies im Einzelnen zu begreifen? Wir orientieren uns hier an der Form der Zeitkonfiguration, wie sie sich in der historischen Erzählung abspielt. Damit verbunden ist, dass unsere Perspektive von vornherein auf die Zeit, wie sie sich als Zeit des Handelns präsentiert, fokussiert ist. Wenn demnach von Zeiterfahrung als einer Bedingung für das Verstehen von Personalität die Rede ist, dann geht es nur bedingt um ein rein chronologisches Zeitverständnis und ebenso wenig steht die physikalische ‚Zeit‘ im Vordergrund. Vielmehr knüpfe ich an die These Ricœurs an, wonach die Zeit „in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“105 Das ist nun alles andere als selbstverständlich. Impliziert dies doch eine Reihe von Annahmen, die es zu analysieren gilt, um Klarheit zu bekommen, inwiefern die historische Zeit als Ort der Darstellung von Personalität gelten kann. Drei dieser Annahmen scheinen von besonderer Bedeutung: erstens die Rolle, welche die Zeitdimension der Gegenwart hierbei spielt; zweitens die Tatsache, dass Zeiterfahrung stets sozial konstituiert ist; und drittens der evaluative Horizont der Zeit, wie er in der Erzählung deutlich zum Vorschein kommt. Geht es beim ersten Punkt darum, Zeit aus der Handlungsperspektive zu erschließen, steht im zweiten die Verschränkung von Welt- und Lebenszeit und ihre symbolische Erschließung im Mittelpunkt, um schließlich im dritten Punkt Geschichte – narrativ gestaltet – als zwischen Erinnerung und Erwartung aufgespannt zu verstehen, was sich wiederum auf das konkrete Verstehen von Handlungen auswirkt. Daraus entsteht ein Muster von historischer Zeit, wie sie Personen bewusst wird. Ein Grundsatz des Pragmatismus, der unsere Überlegungen leitet, betrifft auch Zeiterfahrung und Zeiterfassung. Denn diese wurzeln in und entspringen aus Handlungssituationen. Im Handeln werden wir Zeit als Zeit gewahr. Dabei hängt die jeweilige Zeiterfahrung am Primat der sozial situierten Gegenwart. Sie ist der ‚Ort‘, an dem die Zeit in ihr[em] Gegenwartscharakter ein Licht auf die Welt wirft. Die Vergangenheit und die Zukunft, die in der Gegenwart erscheinen, kann man als die Schwellen eines winzigen Stückchens einer unendlichen Ausdehnung sehen106.
104 Zur generellen Bedeutung dieses Zusammenhangs, vgl. den instruktiven Sammelband: Zeiterfahrung und Personalität, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992. Darin v.a.: STURMA, DIETER, Person und Zeit, in: a.a.O., 123–157. 105 R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 87. 106 M EAD, G EORGE H., Philosophie der Sozialität (1932), in: Ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Vorwort von Hansfried Kellner, Frank-
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Der Primat der Gegenwart ist aber nur ein perspektivischer. Denn zur sozialen Situiertheit der Zeit im Handeln gehört, dass die Gegenwart als solche nur durch ihre indirekte Konstruktion, d.h. über die Konstruktion ihrer jeweiligen Vergangenheit und Zukunft, erfasst wird. Wie (die Bilder von) Vergangenheit und Zukunft am Ort der Gegenwart als Handlungshypothesen entworfen und methodisch-kontrolliert erfasst werden, so gilt gleiches von der jeweils davon abgehobenen gegenwärtigen Situation.107 Damit wird nicht behauptet, die Ereignisse der Vergangenheit, wie sie sich einmal ereignet haben, ließen sich posthum verändern108; liegt doch das Augenmerk dieser dynamischen Sicht auf die Zeitverhältnisse darauf, die Veränderbarkeit ihres konkreten Charakters zu betonen. Diese Zeitverhältnisse werden durch veränderte Situationen und Perspektiven je neu bestimmt, indem sie erneut rekonstruiert werden (können). Das jedenfalls gilt für das, was wir die historische Zeit nennen; und Analoges gilt noch für das prognostische Ausgreifen auf die Zukunft. Nur dies meint somit die epistemische Würdigung der Gegenwart als Ort der Rekonstruktion von Vergangenheit und Konstruktion von Zukunft. Zum Vorschein kommt das Interesse, das uns zur geschichtlichen Orientierung treibt: So „orientieren [wir] uns nicht an der Vergangenheit, welche die Gegenwart war“, sondern „wir sind an einer Reformulierung der Vergangenheit als Bedingung der Zukunft interessiert.“109 Dies gilt schon generell für die epistemischen Einstellungen, die uns bei der Bestimmung von Vergangenheit und Zukunft leiten; mehr noch aber, bedenkt man, dass sich darin stets auch ein Selbstverständigungsinteresse der Handelnden bemerkbar macht. Denn wie bereits in den anthropologischen Überlegungen110 deutlich gemacht wurde, dienen alle kulturellen Formationen als Artikulationen menschlicher Praxis stets zugleich der Selbstverständigung der Handelnden. Zeittheoretisch gesehen bedeutet dies zunächst: „Die funktionalen Grenzen der Gegenwart werden durch die in ihr ablaufende Tätigkeit gesetzt – durch das, was wir tun. Die Vergangenheit und die Zukunft, auf welche solche Aktivität verweist, gehören zu dieser Gegenwart.“111 In den Tätigkeiten des Handelnden macht sich nun jedoch zugleich die Eigenart des individuellen Selbst, eben seine personale Identität, bemerkbar, die
furt/M.: Suhrkamp 1969, 229–324, 262. – Der deutsche Titel dieses späten Werkes ist irreführend, handelt es sich doch um eine Philosophy of the Present, wie der englische Originaltitel lautet. 107 Vgl. a.a.O., 341. 108 Mit Sturma gilt es darauf zu achten, „daß die Ontologie vergangener Ereignisse und die personale Rekonstruktionsperspektive nicht zur Deckung gebracht werden können“ (STURMA, Person und Zeit, in: Zeiterfahrung [Anm. 104], 138). 109 M EAD, Philosophie der Sozialität (Anm. 106), 244. 110 Vgl. die Ausführungen zum anthropologischen Gesamtrahmen der Kulturtheorie Cassirers in § 4. 111 M EAD, Philosophie der Sozialität (Anm. 106), 321.
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sich in der Form der Erzählung symbolisch rekonstruieren lässt, da sie es vermag, die nunmehr ‚ausgetreckte‘ Gegenwart als einen Prozess des kontinuierlichen Handelns und somit als Geschichte darstellen zu können. Der Mensch besitzt demnach aufgrund seiner reflexiven Handlungseinstellung sowie seiner Fähigkeit zur narrativen Vergegenwärtigung die Möglichkeit, seine Lebensgegenwart auszudehnen, sie retrospektiv auf ihre Herkunft hin zu rekonstruieren und sie prospektiv auf ihre Zukunft hin zu entwerfen. Das aber führt zum zweiten Punkt, der den sozialen Charakter der historischen Zeit betrifft. Jene ist zwischen Lebens- und Weltzeit eingespannt. Mehr noch, sie verbindet erlebte und universale Zeit durch „die gemeinsame Eigenschaft, die narrativen Strukturen (…) [auch] auf das Universum zu übertragen“112. Die Sozialität von Zeit macht sich in der historischen Erzählung vornehmlich dadurch bemerkbar, dass sie mehrerer Zeitordnungssysteme bedarf. In ihr steht neben der kosmisch skalierten Zeit die kulturell geprägte kalendarische Zeit, die vor allem durch den jeweiligen Festzyklus symbolisch inszeniert wird; und die individuell erlebte Zeit der eigenen Handlungsaktivität verschränkt sich mit Aspekten ihrer sozialen Verflechtung, zu der die verschiedenen Generationen ebenso gehören wie die Wahrnehmung der Mitmenschen als Zeitgenossen. Die im engeren Sinne historische Zeit konstituiert sich somit als symbolische Ordnung, die durch soziale Erfahrungen von Zeitgenossen, Vorgängern und Nachfolgern einerseits und durch die kalendarische und epochale Erfassung, d.h. die Identifikation von Ereignissen und Handlungsketten nach kulturellen Mustern andererseits, geprägt ist. Vor diesem Hintergrund wird darüber hinaus deutlich, welchen Anteil symbolische Zeitordnungen an der Erfassung von Personalität haben. In der Taxierung der historischen Zeit bestimmt die Chronologie der Ereignisse somit nicht alles. Schließlich kommt der soziale Charakter der Zeit darin zum Vorschein, dass Zeit nicht nur symbolisch verkörpert sein muss, sondern dass ihre Erfahrung von Menschen eingeübt werden muss. Seit alters her wird deswegen die Zeiterfassung durch mythische Muster und rituelle Praktiken konstituiert wie restituiert. Dies darf im Grunde noch heute gelten, solange man Mythos und Ritus nicht auf archaische Tatbestände reduziert. In Gestalt von Feier- und Gedenktagen, aber auch als kollektive Identitätsmuster, erfüllen sie immer noch diese Funktion: Wenn man Mythos und Ritus einander gegenüberstellen will, könnte man sagen, daß der Mythos die gewöhnliche Zeit (wie auch den Raum) erweitert, während der Ritus die mythische Zeit der profanen Sphäre des Lebens und Handelns annähert.113
112 R ICŒUR, PAUL, Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit (1985), München: Fink (1985) 21999, 165. 113 A.a.O., 168. – Als symbolische Identitätsmuster dienen u.a. kollektive Geschichtsnarrative und ihre öffentlichen Inszenierungen, etwa in Form von Nationalfeiertagen, aber eben auch das Kirchenjahr.
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An diesem Zusammenhang von Mythos und Ritus bei der Konstitution von Zeit und ihres symbolischen Sinns deutet sich bereits der dritte Aspekt an, der auch für die historische Zeit bedeutsam wird. Die narrative Einheit der Geschichte erfolgt in evaluativer Hinsicht, insofern die Zeit der Gegenwart als Zeit der (Selbst-)Vergegenwärtigung sich durch ihr Aufgespannt-Sein zwischen der Zeit der erinnerten Vergangenheit und der Zeit der erwarteten Zukunft konturiert. Reinhart Koselleck hat in diesem Zusammenhang von überlagernden Zeitschichten gesprochen, die jene Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte bilden, aus denen sich sowohl individuelle als auch kollektive Gedächtnisse speisen und die damit zugleich das symbolische Reservoir für persönliche Identitätsbestimmungen bilden. Geschichte als „geheime Verknüpfung von Ehemaligem und Zukünftigem“ wird nur dann verständlich, wenn man es vermag, sie „aus den beiden Seinsweisen der Erinnerung und der Hoffnung zusammenzufügen“114. Darin kommt zum einen ihre symbolische Konstruktion zur Geltung und zum anderen erfolgt ihre Konfiguration damit stets unter anthropologischen Gesichtspunkten. Denn Hoffnung und Erinnerung, oder allgemeiner gewendet Erwartung und Erfahrung, – denn Erwartung umfaßt mehr als nur Hoffnung, und Erfahrung greift tiefer als Erinnerung – sie konstituieren Geschichte und ihre Erkenntnis zugleich (…) indem sie den inneren Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft früher, heute oder morgen aufweisen und herstellen.115
Anthropologisch ist diese Beschreibung deswegen, da sie mit Hoffnung und Erinnerung bzw. Erwartung und Erfahrung die Dimensionen der Zeit so qualitativ bestimmt, dass diese einer narrativen Kohärenz zugeführt werden kann, um dann in Situationen der jeweiligen Handlungsgegenwart Orientierung geben zu können.116 Dadurch wird der grundlegende teleologische Zug, der allen Lebewesen innewohnt, in Gestalt von Geschichte(n) symbolisch ausdrücklich und zwar dank der spezifisch humanen Fähigkeiten des Erinnerns, Vergessens und Erwartens, sowie des Versprechens und Verzeihens. Für die Erfassung der Eigenart von Personen ist die Fähigkeit des „Ich-kann-mich-erinnern“117, die Be-
114 K OSELLECK, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien (1977), in: Ders., Vergangene Zukunft (Anm. 95), 349–375, 353. 115 Ebd. 116 Diesen Zusammenhang zwischen der Handlungssituation und der Rolle, die Erwartungen und Erfahrungen darin spielen, macht auch Koselleck stark, vgl. a.a.O., 357. 117 Vgl. R ICŒUR, PAUL, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (2000), München: Fink 2004, 603: „Das Ich-kann-mich-erinnern schreibt sich ebenfalls ins Register des Tunkönnens des fähigen Menschen ein. Wie die anderen Fähigkeiten zählt es zu jenem Modus einer Gewissheit, die den Namen einer Bezeugung verdient, welche sowohl als kognitiver Beweis unwiderlegbar als auch aufgrund ihres Glaubenscharakters dem Verdacht unterworfen ist“. – Vor allem im Versprechen wird der handlungstheoretische Umgang mit der Konstruktion von Geschichte und ihrer Wertung markant, insofern sich hier eine Person freiwillentlich an die (dadurch mitbestimmte) Zukunft bindet und zwar durch „die gegenwärtige Glaubwürdigkeit
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reitschaft zur genealogischen Verortung, ebenso einschlägig wie die Perspektive des teleologischen Ausgriffs118, wenngleich beides nicht auf das einzelne Individuum beschränkt bleibt. Für den Menschen wird Geschichte somit dank symbolischer Codierung erfahrbar, ohne dass das, was sie ausmacht, d.h. ihr qualitativ zunächst unbestimmter und kontingent ablaufender Zeitfluss, je fixiert oder revidiert werden kann. Ihr Sinn wird dadurch bestimmt, dass die Spannung, die dem chronologisch geordneten Verhältnis von Erfahrung und Erwartung entspringt, durch einen narrativen Zusammenhang geordnet wird und darin die konkreten Erfahrungsräume mit spezifischen Erwartungshorizonten verknüpft werden. So treibt am Ort der handelnd zu bewältigenden Gegenwart die Spannung von Vergangenheit und Zukunft die historische Zeit aus sich heraus und verlangt immer wieder neu, die gemachten Erfahrungen und die gehegten Erwartungen sinnvoll zu beschreiben und zu deuten (interpretieren). Erst damit lässt sich Geschichte als symbolische Form zur Selbstorientierung des sich zeitlich wie sozial verstehenden Menschen vollumfänglich erfassen. Von ihr hat schon Cassirer bemerkt, dass in ihr wissenschaftliche, mythische und ästhetische Ausdrucks- und Darstellungsformen ineinanderfließen, um so „das menschliche Leben zu begreifen“119 und „nicht nur die Aktionen [zu] verstehen, sondern auch die Akteure“120. Und dabei gilt auch nach ihm, dass das „historische Denken nicht wiederholende Reproduktion des wirklich historischen Prozesses, sondern dessen Umkehrung“121 ist. Erst dadurch lassen sich Realitäten, die sich prozesshaft vollziehen – und genau dies sind u.a. Personen – bestimmen. Denn das ‚Wer‘ einer konkreten, handelnden Person kann durch deren stets soziale und geschichtliche Verflechtung in die offene Zukunft hinein nie abschließend bestimmt werden. Genau darin liegt das überschießende Potential der ebenfalls nie zur Ruhe kommenden Erzählungen historischer Zeiten: „Der aktualen, empirischen Rekonstruktion fügt die Geschichtswissenschaft eine symbolische Rekonstruktion hinzu.“122 des Versprechenden“, die „das Resultat einer ganzen Lebensgeschichte“ (RICŒUR, PAUL, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Aus dem Frz. von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer, Frankfurt/M.: Suhrkamp [2004] 2006, 315f) ist. 118 Zu diesem schwachen Verständnis von Teleologie, vgl. die Bemerkung Meads, wonach eine elementare Bedingung von Leben als Bewusstsein ist, dass „das Lebewesen in seinem teleologischen Prozeß als ein Ganzes zielbewußt auf die Bedingungen seines eigenen Organismus reagieren kann“ (MEAD, Philosophie der Sozialität [Anm. 106], 300). Deswegen bildet stets die Gegenwart als soziale, zeitlich konstituierte Handlungssituation den Ort, an dem sich die Realität von Geschichte zeigt. 119 C ASSIRER, ERNST, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944) (PhB 488), Hamburg: Meiner 1996, 277. 120 A.a.O., 280. 121 A.a.O., 281. 122 A.a.O., 271.
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3.4 Das Prinzip der Mimesis – Handlung und Erzählung Wenn die historische Zeit als eine konfigurierte sich aus der Verschränkung von kosmischer, d.h. linearer, und psychologisch-erlebter, d.h. intentionaler Zeit versteht; wenn diese sich zudem aus ihrer elementaren Erfassung und Erfahrung im Handeln ergibt; und wenn schließlich gilt, dass beides für den Menschen nur dann einsichtig wird, wenn er es sich selbst als ihn betreffend erschließen kann, dann stellt sich die Frage, wie sein Handeln und dessen Bedeutung narrativ rekonstruiert werden können. Damit nehmen wir den Faden wieder auf, den wir weiter oben als den Zusammenhang zwischen der Welt des Textes mit der Welt der Handlung kennengelernt haben. Ricœur hat in diesem Kontext auf das Prinzip der Mimesis als einer schöpferisch-nachahmenden Funktion und Rolle der Erzählung hingewiesen. Durch sie, der Mimesis, gelinge es der Erzählung, jene Zeiterfahrung zum Ausdruck zu bringen und somit jene Geschichte ansichtig zu machen, in die wir in und mit unseren praktischen Handlungssituationen verstrickt sind. Am Modell der aristotelischen Erzähl- bzw. Fabelkomposition verdeutlicht, gilt daher: Welches immer die Innovationskraft der dichterischen Komposition im Bereich unserer Zeiterfahrung sei, so ist doch die Fabelkomposition in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters.123
Aus dieser Theoriekonstellation ergibt sich ein doppeltes: einerseits, darauf verweist die Fabel-Komposition im Modell, funktionieren Erzählungen in diesem Fall nur, weil die Welt der Handlung strukturell wie semantisch bereits verstanden oder jedenfalls prinzipiell verstehbar ist; andererseits operiert dieses SinnVerstehen, diese Artikulation von sinnhaftem Handeln, stets schon mit Aspekten dessen, was man zur schöpferischen Mimesis rechnen darf. Unterstellt ist dabei in beiden Momenten jenes durchgängige Moment der Zeitlichkeit, das selbst wiederum nur in der Handlung erfahren und schließlich in der narrativen Rekonstruktion symbolisch erfasst werden kann: Diese symbolische Gliederung der Handlung enthält schließlich Züge, die in bestimmterem Sinne zeitlich sind und auf denen unmittelbarer die Eignung der Handlung dazu beruht, erzählt zu werden, ja vielleicht das Bedürfnis sie zu erzählen.124
Wird demnach in der Erzählung konfiguriert, was in der Handlung bzw. in deren symbolischer Textur präfiguriert ist, und macht beides zusammen es möglich, von Geschichte und Geschichten in einem bedeutungsvollen Ablauf zu sprechen, dann darf nicht übersehen werden, dass wir es bei alledem stets schon
RICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 90. – Ricœur weist darüber hinaus an dieser Stelle explizit auf Nähen seines Ansatzes zu denjenigen von Cassirer und Geertz hin: vgl. ebd., sowie a.a.O., 94f. 124 A.a.O., 90. 123
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mit symbolisch imprägnierten Zügen von Realität zu tun haben. „Daß nämlich die Handlung erzählbar ist, beruht darauf, daß sie schon in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert, immer schon symbolisch vermittelt ist.“125 Die Lesbarkeit von Geschichte, wie sie dann in der narrativen Form der Erzählung präsentiert wird, ist abhängig davon, dass ihr basaler Baustein, nämlich die Handlung lesbar ist, und dies ist nicht ohne symbolische Formen, d.h. ohne die öffentlichen Bedeutungssysteme der Kultur möglich. Die Pointe, dass es ausgerechnet der Erzählung im Besonderen bedarf, um Geschichte(n) und ihre handlungstheoretischen Aspekte herauszustellen, liegt darin, dass es ihrer figurativen Form des gleichzeitigen Nach- und Nebeneinander-Aufzeigens am ehesten gelingt, die Vielschichtigkeit des symbolisch imprägnierten Raums der Handlungen, d.h. zugleich auch die verschiedenen Aspekte der Semantik des Handelns126, zur Darstellung zu bringen. An der narrativen Rekonstruktion von erlebter Zeit, wie sie als Handlungszeit erfahren wird, mit dem Aufdecken ihrer symbolischen Bedeutungen und ihrer Identifikation in einem öffentlichen Ereignisverlauf, der sich linear darstellen und verorten lässt, zeigt sich das für jedes geschichtliche, nicht nur historische Erfassen von Zeit besondere Charakteristikum, dass das Verständnis der Handlung (…) sich nicht auf eine Vertrautheit mit dem Begriffsnetz der Handlung und ihren symbolischen Vermittlungen [beschränkt]; es erkennt sogar in der Handlung Zeitstrukturen, die zum Erzählen herausfordern.127
Worauf die Figur der Mimesis, d.h. die „semantische Innovation“ der Erzählung aufmerksam macht, ist nichts anderes als der scheinbar so selbstverständliche Prozess der Lesbarkeit der Handlung, welcher „in der Erfindung einer Fabel, die ebenfalls ein Werk der Synthesis ist“, besteht und durch den „Ziele, Ursachen und Zufälle zur zeitlichen Einheit einer vollständigen und umfassenden Handlung versammelt“128 werden. Auf das damit angesprochene stets Prekäre und Offene dieser Konstruktion, auf deren Kontingenz, die sowohl fiktive wie historische Narrative leitet und sie zu Erzeugnissen „dissonanter Konsonanz“129 macht, soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden. A.a.O., 94. Die Semantik des Handelns fragt schließlich sowohl nach den Ursachen, Gründen, Motiven, als auch nach den unterstellten oder in Anschlag gebrachten Sinnintentionen und erwartungen, worin sich die Subjekte oder Autoren von Handlungen für sich selbst wie für ihre Umwelt und die Leser bemerkbar machen. Kurzum: Es geht um Fragen nach dem ‚Wer‘, dem ‚Wozu‘, dem ‚Warum‘, dem ‚Mit‘- oder ‚Gegen-Wen‘. Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 122), 91f. Es gibt „keine Strukturanalyse der Erzählung, die nicht Anleihe bei einer expliziten oder impliziten Phänomenologie des ‚Tuns‘ machte“ (a.a.O., 92). 127 Ebd. 128 A.a.O., 7. 129 Vgl. im Anschluss an die Interpretation der Poetik des Aristoteles: a.a.O., 73, sowie dann erneut und verstärkt im Zusammenspiel von Prä-, Kon- und Refiguration der mimesis der Erzählung im Akt des Lesens: a.a.O., 115–122. 125 126
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Lediglich zwei Momente sind an dieser Stelle noch herauszustellen: erstens, wie sich in der schöpferischen Innovation der Mimesis durch die „produktive[] Einbildungskraft“130 handelnd erlebte Zeit und damit zugleich Geschichte rekonstruieren lässt; und zweitens, wie sich diese Konstruktion und Rekonstruktion von Zeit zur Frage von Faktizität und Fiktionalität, dann aber auch zu ihrer Rezeptivität verhält. Der zuletzt genannte Aspekt verweist darauf, dass Geschichten nie grundlos, d.h. ohne Anlass bezogen und ohne weitere Nötigung zu weiterem Handlungsvollzug, erzählt werden. Kreativ ist an der Rekonstruktion von Handlungskontexten in der Zeit zunächst deren Konfiguration, d.h. die Herstellung der „Einheit der zeitlichen Totalität“131, die ‚Zeit‘ als historische und/oder literarische darstellbar macht. Ereignis- und Handlungsketten werden demnach nicht nur in ihrem bloßen Ablauf, sondern in ihrem vielschichtig qualifizierten Verlauf zu einer nicht ausschließlich chronologischen Totalität verbunden, die es erlaubt, eine Situation zu ‚Sehen-Wie‘ und im Sinne eines ‚AlsOb‘ zu erfassen. Auf diese Weise erhalten auch die einzelnen Akteure mit ihren Reaktionsweisen, Motiven, Zielen, Interessen eine einheitliche Tendenz. Sie werden als geschichtlich Handelnde qualifiziert. Diese Überkreuzung von Ereignisablauf (Chronologie) und narrativ rekonstruierter Bedeutsamkeit betrifft geschichtlich-historische ebenso wie fiktiv-literarische Darstellungen. Man kann sowohl von einer Fiktionalisierung der Historie wie von einer Historisierung der Fiktion reden, die Fiktion (ist) quasi-historisch (…), gerade so wie die Geschichte quasi fiktiv ist. Die Geschichte ist quasi-fiktiv, da die Quasi-Gegenwart der Ereignisse, die dem Leser durch ihre lebendige Erzählung vor Augen geführt werden, durch ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit den nötigen Ersatz bietet für das sich entziehende Vergangensein der Vergangenheit, von dem die Paradoxe der Repräsentanz ein beredtes Zeugnis ablegen.132
Nicht um pure Fiktionalität von Geschichte handelt es sich also, wenn der dargestellte Ereignisablauf selbst Spuren, Dokumente, Archive etc. hinterlässt, die als Repräsentanten, d.h. als Zeugen und Zeugnisse für den irreversiblen, gleichwohl stets interpretationsbedürften Zeitablauf stehen und dafür bürgen. Hinzu kommt, dass wir es nie nur mit Einzelhandlungen zu tun bekommen, sondern
130 Zur Notwendigkeit und Bedeutung der produktiven Einbildungskraft oder Imagination für das Verstehen nicht nur von Erzählungen, sondern für die Handlungstheorie allgemein, siehe: RICŒUR, PAUL, Imagination in Discourse and Action, in: Ders., From Text (Anm. 66), 168–187, 177f. 131 R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 107. – An das Motiv des ‚Sehen-Wie‘ als eine Qualifikation der historischen wie literarischen Fiktionalisierung knüpft Ricœur noch in seinem späten geschichtstheoretischen Werk an, vgl.: RICŒUR, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (Anm. 116), 432ff, darin bezugnehmend auf: Ders., Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 222–252; v.a. 249–252. 132 R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 308.
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der Plot von Handlungen immer schon im Geflecht von anderen Handlungssequenzen und -ketten stattfindet, die gleichermaßen symbolisch rekonstruiert und dann zusammen in eine zeitliche Totalität gebracht werden müssen. Dies meint – bei Ricœur im Anschluss an Aristoteles – das Zusammenspiel der Aspekte der mimesis und des mythos. Während die Leistung der Mimesis auf die Konstruktion der sinnhaft erfassten und verstandenen Handlung zielt, lässt erst das Moment der Mythoskonstruktion es zu, den Zusammenhang der Handlungen, d.h. aber ihren Sinn und ihrem Gehalt als den Fokus von Geschichte(n), zu erfassen.133 Denn in ihm, genauer im vornehmlich in der Gestalt des Epos134 (und Dramas) auftretenden Mythos wird die vergangene, dargestellte Handlungswelt dadurch verständlich, dass das, „was wir (...) die Pointe, das Thema, den »Gedanken« der erzählenden Geschichte nannten“135, aufgrund „der anschaulichen Darstellung der Umstände, Charaktere, Episoden und Schicksalswendungen“136 provoziert wird. Gleichwohl geschieht dies nicht ohne interpretatorische Leistung durch den Leser oder Hörer, sind diese Rekonstruktionsleistungen doch „als aktive Vorgänge und nicht als Strukturen zu verstehen“137. Damit rückt das Moment der Rezeptivität in den Mittelpunkt, bei dem es um die Absicht innerhalb und mit der narrativen Rekonstruktion der Geschichte geht. Rezeptivität meint hier ganz allgemein zunächst das Ansinnen, dem Leser (oder der Hörerin) in irgendeiner Weise zu imponieren. Von hier aus gilt es zu verstehen, inwiefern das, was in der Welt der Handlung, d.h. des praktischen Lebensvollzugs präfiguriert und mittels der narrativen Komposition sinnhaft erschlossen, d.h. konfiguriert wird, sich eigentlich auf die jeweilige Gegenwart handlungsorientierend auswirken kann. Die Refiguration, die im Akt des Bewusstmachens von Geschichte – sei es im Modus des Lesens, des Hörens oder anderer Formen des Sich-Vergegenwärtigens – stattfindet, lässt mit Blick auf die Einholung der Vergangenheit als erinnerter in die Gegenwart mit ihren Erwartungen ihren handlungsorientierenden Sinn – die Aufschließung der jeweiligen Gegenwart – erkennen. Erst im Sich-Vorstellig-Machen von Geschichte kommt der Sinn ihrer Rekonstruktion zum Abschluss, wird ihre Orientierungsfunktion offenkundig. Dieser scheinbar rein passivische Prozess, Ricœur spricht von „Affiziertwerden“, kombiniert dabei freilich „eine Passivität mit einer Aktivität (…) wodurch es möglich wird, das Lesen eines Textes, mithin eine Handlung, als dessen Rezeption zu bezeichnen.“138 Was hier noch strikt mit Blick auf 133 Vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 60. – ‚Mythos‘ in diesem Sinne ist also noch nicht als Opposition zur Historie gemeint, sondern stellt die Darstellungsweise dar, die unabdingbar ist, um Geschichte als Geschichte darstellen zu können. 134 Vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 305f. Dort nochmals mit Rekurs auf Arendt. 135 R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 110. 136 Ebd. 137 A.a.O., 56. 138 R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 271.
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die Leseerfahrung ausgesprochen ist139, verweist im Grunde genommen jedoch schon auf jenen im ‚Außerhalb‘ des Erzählten liegenden Vorgangs der Bewährung im nunmehr re-orientierten Handeln.140 Über diesen zeitlich nach vorne hin offenen, nach hinten gleichwohl stets prekär zu rekonstruierenden Verlauf von Geschichte als symbolischer Handlungswelt vollzieht sich das, was man die Erfassung personaler Identität nennen kann, die selbst immer wieder von ihrer Reaktualisierung im Handeln abhängt. 3.5 Prekäre Geschichte: Zur Kontingenz des Sinns von historisch Geschehenem Bereits mehrmals ist auf das Problem von Fiktionalität und Faktizität rekurriert worden, wie es sich auf der Darstellungsebene auch für die Rekonstruktion historischen Geschehens ergibt. Damit wurde auf das Prekäre der Geschichte angespielt, und zwar im doppelten Sinn ihrer Erfassung sowohl als vereinheitlichtes Geschehen, d.h. als Kollektivsingular verstanden, als auch im Plural der dargestellten Geschichten. Jedoch bleibt noch in anderer Hinsicht die Darstellung von Geschichte qua symbolischer Rekonstruktion prekär, ist doch Geschichte stets im Zugleich und in der Differenz von Ereignis und Erzählung anzusiedeln. Anders gesagt: Es überkreuzen sich die „Gesamtheit der abgelaufenen, gegenwärtigen und künftigen Ereignisse (Tatsachen)“141 mit der „Gesamtheit der über diese Ereignisse (Tatsachen) gehaltenen Diskurse – in Zeugnis, Erzählung, Erklärung und letztlich Darstellung der Vergangenheit durch den Historiker“142. Von daher gilt für die historische Rekonstruktion, dass sie abseits der Feststellung von bloßer Faktizität „im Binnenraum der Erzählungen (…) Varianten, aber keine Alternativen“143 kennt. Damit wird auch klar, warum es ganz unsinnig wäre, über die Quellen- und Faktenbezogenheit der Geschichte hinwegzugehen. Die Spuren, die nur als gedeutete ihre Wirkung entfalten kön-
139 Die Gefahr einer Unterbestimmung der Differenz von fiktiver und historischer Narrativität bei Ricœur sehen zu Recht: FERBER, CHRISTIAN, Der wirkliche Mensch als möglicher. Paul Ricœurs Anthropologie als Grundlagenreflexion der Theologie, Göttingen: V&R unipress 2012, 223–225, als auch: ORTH, STEFAN, Das verwundete Cogito und die Offenbarung. Von Paul Ricœur und Jean Nabert zu einem Modell fundamentaler Theologie, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder 1999, 248. Orth spricht von dem Problem möglicher Willkür der narrativen Bestimmung meiner Existenz. 140 Vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 291–293 141 R ICŒUR, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (Anm. 117), 538. 142 Ebd. 143 M OXTER, M ICHAEL, Erzählung und Ereignis. Über den Spielraum historischer Repräsentation, in: Jens Schröter/Ralph Brucker, Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Jesus-Forschung, Berlin/New York: de Gruyter 2002, 67–88, 72.
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nen und doch nicht in ihren Deutungen aufgehen, d.h. darin etwas Überschüssiges und Widerständiges bilden144, stehen für die Unwiderrufbarkeit des Vergangenen als Faktischem. Gleichwohl unterliegen in ihrem Deutungspotential geschichtliche Ereignisse stets der Möglichkeit zur Varianz und Revision.145 Die Spannung, die sich zwischen der Geschichte, die sich ereignet hat, und ihren Beschreibungen als Erzählungen und Erklärungen einstellt, gründet nicht nur in dem stets schon vorliegenden zeitlichen Abstand, sondern ebenso sehr in der Tatsache, dass sie durch geschichtliche, von Absichten und Interessen geleitete Wesen konstituiert wird, als die wir Menschen nunmal als Personen anzusehen sind: „Wir machen Geschichte (faisons l’histoire) und wir schreiben Geschichte auf (faisons de l’historie), weil wir geschichtlich sind.“146 In der humanen Geschichtlichkeit, die sich zeitlich erstreckt und sozial vollzieht, zeigt sich die doppelte Angewiesenheit des Menschen auf Selbstaufklärung in der Form von Geschichten (stories) wie der Rekonstruktion von Geschichte (history), beides im eminent praktischen Sinn verstanden. In diesem Sinne dienen Geschichtsschreibung, Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie stets auch der ethischen Orientierung. Somit wohnt der Tendenz, Ereignisse zu Handlungsketten zu verknüpfen147, sie mit Erinnerungen zu verbinden und mit Erwartungen aufzuladen, um die Bedeutsamkeit bzw. die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart als Geschichte herauszustellen, stets ein teleologisches Interesse bei. Dabei bleibt die narrative Rekonstruktion von Geschichte in Geschichten stets hochgradig kontingent. Noch das historische Urteil bleibt trotz aller Bezogenheit auf äußeres Spurenund Quellenmaterial hinsichtlich seiner Interpretation, erst recht, wenn es um den Sinn von geschichtlichen Zusammenhängen geht, prekär. Die logische Folge, daß das kontinuierliche Werden historischer Dinge, soweit es in Wahrheit kontinuierlich ist, nicht in einer Zusammenreihung abgrenzbarer Einzelvorgänge rein kausal dargestellt werden kann, sondern daß die Einzelvorgänge verschmolzen sind in einer sie
144 Zum Phänomen der Spur, vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 185–200. – Mit der Metapher der ‚Spur‘ wird darauf verwiesen, inwiefern der realistische Charakter der Geschichtswissenschaft nur über indirekte Repräsentation eingefangen werden kann. Denn die Spur ist selbst nicht ohne Interpretation denkbar; aber das, was zu interpretieren ist, geht nicht in den Interpretationen auf, sondern wird als Abwesendes durch die Spur repräsentiert und ist somit als der Interpretation strukturell vorausgehend mitgegeben. 145 Darüber hinaus ist noch die Narration nur eine mögliche, aber nicht zwingend notwendige Interpretationsoption, oder mit Ricœur: „Der narrative Satz ist eine der möglichen Beschreibungen des menschlichen Handelns“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung I [Anm. 75], 217). 146 Ebd. 147 Vgl. M ACINTYRE, Der Verlust (Anm. 87), 275–280. – Nach MacInytre haben Handlungen stets einen sozialen Rahmen, der symbolisch codiert ist und sich aus dem Geflecht von Intentionalem, Sozialem und Historischem ergibt.
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durchziehenden, ineinander auflösenden und dadurch kontinuierlich machenden Werde-Einheit148,
zeigt, dass der historische Sinn von einer reinen Kausalerklärung von Ereignissen (und Geschehensabläufen) zu unterscheiden ist. Allerdings ist die narrative Ordnung, die Zeitsequenzen mit Sinnkontinuitäten zu verknüpfen erlaubt und dadurch zugleich das Ganze eines Geschehens – seine „Werde-Einheit“ – darzustellen vermag, keineswegs a-logisch, weil der „Verlauf von Ereignissen, die die Geschichte ausmachen, (…) der Gegenstand logischer Bestimmung ist.“149 Die Rationalität des Narrativen, wie sie sich aus dem historischen Urteil ergibt bzw. als solches präsentiert, erfolgt somit in mehreren Schritten hin zu einer Ordnung der Ereignisse als sinnbehafteter Erzähleinheit (zeitliche Totalität). Den Auftakt bildet die Bedeutung, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinreichen muss: Denn „[w]o die Vergangenheit keinerlei Spur oder Fährte hinterlassen hat, die bis in die Gegenwart hinein dauert, ist ihre Gegenwart unwiederbringlich verloren.“150 Sodann betrifft die Kontingenz historischen Sinns in dessen Rekonstruktion die Standortbezogenheit der Perspektive wie ihres Interpreten. Insofern gilt gleich in doppelter Hinsicht: „Jede historische Konstruktion ist notwendig selektiv.“151 So oder so bleibt es jedoch dabei, dass die Art der Rekonstruktion, sei sie stärker explikativ oder stärker narrativ, dem Prozess- bzw. Werdecharakter von Geschichte gerecht werden muss: „Es gibt keine Geschichte außer in Begriffen der Bewegung auf ein Ergebnis hin, auf etwas, was als Resultat angesehen wird“152. Dabei spielen vor allem „beherrschende Probleme und Auffassungen der Kultur der Epoche“153 eine maßgebliche Rolle hinsichtlich der Selektivität und Kontingenz historischer Repräsentation. So zeigt sich erneut die ethische bzw. praktische Seite von Geschichtsschreibung, insofern sowohl die Erfahrungsräume als auch die Erwartungshorizonte aus der als unsicher erfassten Situation der Gegenwart heraus entworfen werden müssen. Man könnte auch sagen, dem historischen Bewusstsein kommt eine gleichermaßen auf Traditionsstiftung wie auf deren Erneuerung ausgerichtete Funktion zu. Es lässt sich als ein ideologische wie utopische
TROELTSCH, Der Historismus, KGA 16.1 (Anm. 102), 228. DEWEY, JOHN, Logik. Die Theorie der Forschung (1938). Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, 271. – Auch Dewey operiert mit einem doppelten Begriff von Geschichte: „Geschichte ist das, was in der Vergangenheit geschah, und Geschichte ist die intellektuelle Rekonstruktion dieser Geschehnisse zu einem späteren Zeitpunkt“ (a.a.O., 279). – Zur Fruchtbarkeit von Deweys Ansatz für Theologie und Geschichtsdenken, vgl.: HUTT, CURTIS, John Dewey and the Ethics of Historical Belief. Religion and the Representation of the Past, Albany (NY): SUNY Press 2013. 150 D EWEY, Logik (Anm. 149), 273. 151 A.a.O., 277. 152 A.a.O., 281. 153 A.a.O., 279. 148 149
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Motive integrierender handlungsleitender Gegenwartsentwurf begreifen.154 Mittels der Geschichte entziffern wir nicht nur die symbolischen Ordnungen unserer Handlungen, sondern schreiben sie implizit oder explizit fort, indem wir sie mit denkwürdigen Erinnerungen und ersehnten Hoffnungen verbinden. Die derart historisch rekonstruierte und interpretierte Handlungsgegenwart unserer selbst wie unserer Gemeinschaften ist von daher stets evaluativ besetzt, was ihrerseits zur ständigen kritischen Bestandsaufnahme mahnt.155 Zum Prekären der Geschichte und ihres jeweiligen Sinns gehört somit neben der prinzipiellen Uneinholbarkeit des unwiderruflich Geschehenen die nicht minder prinzipielle Anerkennung ihrer permanenten Revisionsbedürftigkeit. Einerseits stellen Veränderungen in der Gegenwart, die gesellschaftlichen Problemen eine neue Wendung geben, die Signifikanz dessen, was in der Vergangenheit geschah, in eine neue Perspektive. Sie stellen uns vor neue Probleme, von deren Standpunkt aus die Geschichte der Vergangenheit neu zu schreiben ist. Auf der anderen Seite gewinnen wir in dem Maße, wie sich das Urteil über die Signifikanz vergangener Ereignisse verändert, neue Instrumente für die Einschätzung gegenwärtiger Bedingungen als Potentialitäten für die Zukunft.156
Es ist die soziale Situation der Gegenwart, um die es letztlich in der kritischen Geschichtsschreibung geht. Damit wird ersichtlich, warum man Geschichte als Ort der Identifizierung von Personen kennzeichnen kann. Denn sie ist jenes symbolische Netz, in dem sich Menschen ihre jeweilige Situation – aufgespannt zwischen Vergangenheit und Zukunft – als jeweils ihre Handlungsgegenwart verständlich machen können. Der Primat der Gegenwart ist dabei ein methodischer und kein etwa auf die Irrealität der anderen beiden Zeitmodi zielender. Denn die Vergangenheit ist mit logischer Notwendigkeit die Vergangenheit der Gegenwart, und die Gegenwart ist die Vergangenheit einer zukünftig lebendigen Gegenwart. Die Idee der Kontinuität der Geschichte zieht diese Schlußfolgerung notwendig nach sich.157
Vor diesem Hintergrund verändert sich auch das Verhältnis von Fiktion und Faktizität. Denn so wenig es bei der Rekonstruktion von Geschichte, sei es die
Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), v.a. 335–371, sowie: Ders., Ideologie und Utopie. Zwei Ausdrucksformen des sozialen Imaginären (1976), in: Vom Text (Anm. 74), 135–151. – Gerald Hartung hat zu Recht die Vernachlässigung der beiden Aspekte von Ideologie und Utopie als miteinander verschränkte Modi des sozialen Imaginären in der Interpretation von Ricœurs Handlungs- und Geschichtstheorie kritisiert. Vgl. HARTUNG, GERALD, Abschied von der Geschichtsphilosophie? Paul Ricœurs Geschichtsdenken im Kontext, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur (DZPh. Sonderband 24), Berlin: Akademie 2010, 311– 331, 330. 155 Vgl. R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 371–388. 156 D EWEY, Logik (Anm. 149), 282. 157 A.a.O., 281. 154
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einer individuellen Biographie oder einer kollektiven Identität, um bloße Dichtung geht, so wenig kann darüber hinweggegangen werden, dass die Möglichkeiten ihrer noch unausgeschöpften Sinnpotentiale davon abhängen, mit welchen veränderten Erwartungen oder sich aufdrängenden Erinnerungen wir uns ihr je neu nähern. Die Unmöglichkeit der Deckung von geschichtlich Erfahrenem und sprachlich Bezeugtem bzw. Dokumentiertem offenbart hier das fiktive Moment am historisch rekonstruierten Faktischen: Wirklich in einem zugänglichen und überprüfbaren Sinne sind nur die Zeugnisse, die uns als Relikte von früher überkommen sind. Die daraus abgeleitete Geschichte ist dagegen ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, theoretischer Vorgaben und methodischer Durchgänge, die schließlich zu einer Erzählung oder Darstellung zusammenfinden. Das Ergebnis ist nicht die Wiedergabe einer vergangenen Wirklichkeit, sondern, überspitzt formuliert, die Fiktion des Faktischen.158
In der Selektivität sowohl ihres Gegenstandes als auch ihrer Perspektiven, in der Prägung durch die gegenwärtige Handlungssituation und schließlich im notwendig fiktiven Moment ihrer Rekonstruktion treten gleichermaßen die Aspekte der Kontingenzhaftigkeit historischen Sinns zu Tage. Damit erhält aber die Haltung dieses „existentiellen Historismus“159 oder besser: dieses selbstreflexiven Historismus, der eben keinen radikalen Konstruktivismus meint, zugleich seine unvertretbar ethische Pointe, insofern Geschichte selbst sets (nicht zuetzt in ihrer Rekonstruktion) neu verantwortet werden muss. Zudem erlaubt gerade ein solches Ernstnehmen der Kontingenz der Geschichte es allererst, jene als Ort, in dem Handelnde ihre eigene Identität ausprägen, zu begreifen. Gleichermaßen erweist sich so der Aspekt der qualitativ erlebten und – im Handeln und Erleiden – (mit)gestalteten Kontingenz als Bedingung160 sowohl für die Erfahrung von Geschichte als auch für die Erfassung von sich in der Zeit handelnd ausprägenden personalen Realitäten. Auf diese Weise wird es möglich, dass Geschichte als erzählte, damit in Erinnerung und ins Gedächtnis gebrachte, den hermeneutischen Rahmen für das Verstehen von Personalität bildet, gleichsam als ‚Bühne‘ von handelnd sich darstellenden Personen. Nicht, weil Personen alles ausmachen, was Geschichte genannt werden kann. Wohl KOSELLECK, REINHART, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit (1976/2007), in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. und mit einem Nachwort versehen von Carsten Dutt, Berlin: Suhrkamp 2010, 80–95, 91. 159 Der Ausdruck stammt ursprünglich von Eduard Spranger. Hans Joas hat ihn für seine Troeltsch-Interpretation wieder aufgegriffen. Vgl. JOAS, HANS, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp 2011, 147–203. Dazu siehe auch meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Affirmative Genealogie als existentieller Historismus. Bemerkungen zur Troeltsch-Interpretation von Hans Joas, in: Hermann Josef Große Kracht (Hg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld: Transcript 2014, 153–169, v.a. 160– 163. 160 Vgl. die Ausführungen zum Kontingenzbegriff in § 10.3. 158
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aber, weil sie nur durch jene sich in ihrer Eigenart begreifen lassen, indem sie sich stets von Neuem rekonstruktiv zur Vergangenheit und damit offen für die Zukunft verhalten können. Darin liegt ihre spezifisch personale Verantwortung begründet. So sehr also der zeitliche Prozess der Geschichte unabgeschlossen bleibt, so offen die Möglichkeiten seiner Sinndeutung sich zeigen mögen, stets erhält dieser seine Konturen durch die Interpretation der in ihm Handelnden und ihn so Gestaltenden.161 Ob in diesem Sinne auch vom Göttlichen in der Geschichte geredet werden kann, ob dessen Konturen in der Deutung seines geschichtlichen Wirkens jemals so prägnant bestimmt werden können, dass sich mit Recht von einem personalen Modell Gottes reden lässt, muss im Folgenden geklärt werden, und zwar durch eine Rückkehr zum biblischen Geschichtsmodell und seiner kanonisch fundierten, darin genuin theologischen Interpretation. Unter Anerkennung der möglichen Einsprüche kritischer Geschichtsforschung hat sich hier noch einmal in ganz eigener Art die Vorstellung von der narrativen Selbsterschließung personaler Identität zu bewähren.
4. Der Name Gottes und die narrative Identität des Göttlichen 4. Der Name Gottes und die narrative Identität des Göttlichen
Die bisherigen Überlegungen zur Leistung von rekonstruierter Geschichte als hermeneutischer Rahmen zur Erfassung von Personen konzentrierten sich allein auf den Menschen. Dennoch stand die Frage nach der Übertragbarkeit auf den Gottesgedanken stets mit im Hintergrund. Inwiefern lässt sich von einer nicht nur literarisch, d.h. kanonisch bzw. biblisch gefassten narrativen Identität des Göttlichen auf seine außer-literarisch zeitlich-handelnde, eben geschichtlich konstituierte Realität und Identität schließen? Denn was wir für die Erfassung von Personen allgemein gekennzeichnet haben, dass sie zwar stets mittels narrativer Rekonstruktionen verstanden werden müssen, aber nicht in Geschichten aufgehen, das müsste dann auch für Gott gelten. Hinzu kommt, dass mit Blick auf den biblischen Mythos als symbolischer Form, in dem über weite Strecken die narrativen und geschichtlichen Darstellungen dominieren, sich noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Historiographie und ‚mythischer‘ Sinndeutung der Geschichte stellt. Lässt sich ferner der narrativ verfasste
161 Daran erinnert letztlich auch Troeltschs Bemerkung, wonach „der Tod der Individuen die Grenze aller Geschichtsphilosophie“ (TROELTSCH, Historismus, KGA 16.1 [Anm. 102], 393) sei. Ob man deswegen so weit gehen und mit Volker Gerhardt behaupten muss, nur das Individuum überwinde die Geschichte, oder ob man nicht eher sagen sollte, das Individuum als Person transzendiert immer auch seine Geschichte, lasse ich an dieser Stelle offen. Vgl. GERHARDT, VOLKER, Nur das Individuum überwindet die Geschichte. Zum Topos der Selbstüberwindung bei Ernst Troeltsch, in: Friedrich W. Graf (Hg.), »Geschichte durch Geschichte überwinden«. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien NF. 1), Berlin/New York: de Gruyter 2006, 93–115.
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und geschichtlich bestimmte Mythos auch weiterhin als symbolische Wirklichkeitserkenntnis sui generis begreifen? Die hier nur angedeuteten hermeneutischen Grundsatzfragen sind auch im Folgenden mitzubedenken. Sie sind insofern von prinzipieller Bedeutung, als ein Eindruck unserer bisherigen Überlegungen darauf hinauslaufen könnte, die Narration als exklusive Diskursform für die Explikation des Gottesgedankens zu begreifen und insofern einer strikt narrativen Theologie das Wort zu reden. Dem widerspricht allerdings bereits der biblische Befund, der bekanntlich nicht nur narrative Diskurse kennt. Zudem wird mit Blick auf die Frage nach Gottes Realität und Identität schon auf der textlichen Ebene mit der Figur des Namens eine dritte Kategorie eingeführt, die jenseits von Metapher (und Mythos als Narration) und diesseits des Begriffs auf die außersprachliche, darin aber zugleich wirkmächtig sich bezeugende Eigenart des Göttlichen verweist. Der Zusammenhang zwischen Geschichte, Erzählung und Name, zwischen den irreduzibel vielfältigen Metaphern und Symbolen für Gott einerseits, dem personalen Modell zur Fassung des Göttlichen andererseits, bilden somit im Kern jene Anknüpfungspunkte, die eine materiale Dogmatik der Personalität Gottes zu entfalten hat. Damit bewegen sich die folgenden Ausführungen auf der Grenze von Hermeneutik und materialer Dogmatik. 4.1 Kanonische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Historiographie Wir haben bereits am Beginn dieses Paragraphen (vgl. § 9.1) erörtert, dass es zur Eigenart der biblischen, vor allem der alttestamentlichen Vorstellungen gehört, ‚Gott‘ und ‚Welt‘, ‚Mensch‘ und ‚Volk‘ im Medium der Geschichte zu verstehen. Unter Verwendung des von Eric Voegelin entlehnten Begriffs der Historiogenesis besagt das, die Sinndeutung der einzelnen Größen hat geschichtlich zu erfolgen. In ihrer Genesis und ihrem Werden wird sukzessiv deren Eigenart freigelegt und prägnant. Dabei bleibt über den gesamten Fortschreibungsprozess der kanonischen Literatur hinweg klar, dass mit dem monotheistischen Bruch sowie der zunehmenden Personalisierung des Gottesbildes allerdings kein Abschied von der mythischen Einkleidung der Darstellungsformen vollzogen wird. Und doch wird spätestens bei Deutero-Jesaja auch auf literarischer Ebene diejenige Spannung bemerkbar, die zwischen mythischer und spekulativer Vorstellung des Göttlichen herrscht (vgl. Jes 44,6ff; 45,5ff); verstärkt sich doch hier – im Verbund mit der ironisierenden Götzenkritik – die Wahrnehmung der einzigartigen und darin auch radikalen Transzendenz Gottes. Das führt auf der Ebene der religiösen Rede u.a. zu einer deutlich zurückhaltenderen Deutung des göttlichen Handelns (und Willens) mit Blick auf Einzelereignisse. Inwiefern nun lässt sich der Weg von der geschichtlichen Mythospekulation, die das Handeln JHWHs in der Welt deutet, hin zur echten Historiographie auf der kanonischen Ebene nachvollziehen und identifizieren?
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Wer so fragt, gibt zu erkennen, dass die neuzeitliche Prägung der dabei in Anschlag gebrachten Kategorien von Mythos und Historiographie nicht als etwas Nebensächliches gelten kann.162 Zur Debatte steht nicht nur das kritische Bedenken dessen, was es heißen könnte, dass auch unser Geschichtsverständnis sich wesentlich und noch in säkular-wissenschaftlicher Zeit symbolischen Formierungsprozessen verdankt, wie sie sich in der lange Zeit normativ maßgeblichen Gestalt des biblischen Doppelkanons niedergeschlagen haben, und dass darüber hinaus der Anspruch der biblischen Texte, nimmt man ihn ernst, sich gleichwohl nicht im Fiktionalen erschöpft. Für unsere Frage viel einschlägiger ist die Tatsache, dass der durch die Aspekte von Zeit, Handlung und Erzählung beschriebene hermeneutische Rahmen die Geschichte zum Ort der Darstellung von Personen werden lässt. Dann aber stellt sich die Frage, wie die narrativ konstruierte Eigenart von Personen sich zu ihrer nicht in (fiktiven) Geschichtserzählungen aufgehenden Realität verhält. Anders gesagt: Es geht um den zwischen Mythos und Historiographie changierenden Status der kanonischen Geschichtsschreibung als sinnhafter Rekonstruktion göttlichen Handelns in der Zeit. Im Zentrum steht die keineswegs den Historiker allein betreffende Spannung zwischen biblischen Geschichtsüberlieferungen und den Ansprüchen historisch-kritischer Forschung. Im Grunde wiederholt sich hier das Problem von narrativer und personaler Identität, von außersprachlich ereigneter und stets symbolisch-sprachlich gefasster Geschichte. Von daher bietet es sich an, die beiden Pole Mythos und Historie nochmals genauer zu betrachten. Mit Hilfe Ricœurs lassen sich beide, Mythos und Geschichte – letztere im Sinne der neuzeitlichen Historik – als symbolische Anschauungs-, Denk- und Lebensformen fassen. Sie bilden regelgeleitete Ordnungen, mit denen wir uns als Menschen unser In-der-Welt-Sein erschließen und verständlich machen.163 Mit Blick auf viele biblische Texte lässt sich dabei zunächst sagen, dass in ihren mythischen Texturen „das Symbol die Form der Erzählung annimmt.“164 Die elementaren symbolischen Bilder, Ausdrücke und Wörter erhalten dabei nicht nur eine neue zeitliche Struktur, sondern ihre Form verändert auch bzw. transformiert und reichert ihre Bedeutung an. Insofern ist die Struktur des Mythos nicht dem Sinn der Symbole äußerlich, sondern prägt diese durch und durch:
162 Vgl. B LUM, ERHARD, Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: Ders./William Johnstone/Christoph Markschies (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums Das Alte Testament und die Kultur der Moderne anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg 18–21. Oktober 2001, Münster: LIT 2005, 65–86, 67f. 163 Vgl. seine Bemerkungen im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die lebendige Metapher: RICŒUR, PAUL, Die lebendige Metapher (1975). Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe (Übergänge 12), München: Fink 21991, I–VIII. 164 R ICŒUR, PAUL, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (1960), Freiburg/München: Alber 32002, 191.
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„Den Mythos als Mythos verstehen heißt verstehen, was er dank seiner Erzählstruktur zur Offenbarungsfunktion der Ursymbole hinzufügt.“165 Seine narrative Struktur präfiguriert dabei, wie ein Geschehen in der Zeit sinnhaft verstanden und interpretiert wird. [I]ndem er erzählt, wie diese Dinge angefangen haben und wie sie enden werden, holt der Mythos die Erfahrung des Menschen in ein Ganzes ein, das von der Erzählung Richtung und Sinn gewinnt. So erbringt sich durch den Mythos ein Verständnis menschlicher Realität im Ganzen mittels einer Erinnerung und einer Erwartung.166
In diesen Ausführungen kommt zur Sprache, wie stark sich Mythos und Geschichte in ihrer Struktur und demnach auch in ihrer Interpretationsleistung (weniger in ihrer Interpretationsabsicht167) ähneln. Denn auch die historischrealen Ereignissen entnommene Sinnperspektive spannt sich als narrative Ordnung auf und wird mit bestimmten Dingen verknüpft, die wir zuvor als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont bezeichnet haben. Was hingegen Geschichte von einem substantiellen Mythosverständnis unterscheidet, ist der nicht zwingend gegebene Ausgriff aufs ‚Ganze‘, d.h. Geschichte erhält zumeist keine kosmisch-sakrale Signatur. Was so gesehen nicht zwingend erscheint, kann gleichwohl vorliegen. Schon der biblische Kanon redet bekanntlich an zentralen Stellen von einem einmaligen und geschichtlichen Handeln Gottes und deutet es zugleich in die Gegenwart hinein aus. Die Pointe dabei liegt in der Überkreuzung von Mythos und Geschichte, da kontingente singuläre Ereignisse mit einer über sie hinausgehenden, die Zeiten umfassenden Bedeutung versehen werden. Aus diesem Grund bedarf auch der biblische Geschichtsglaube der Inszenierung und Wiederholung durch rituelles und kultisches Handeln und gilt auch für ihn die Mahnung Hans Blumenbergs: „Der Grundmythos ist nicht das Vorgegebene, sondern das am Ende sichtbar Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen genügen konnte.“168 So sehr nun also darauf geachtet werden muss, der biblischen Darstellung von Geschichte nicht ein (neuzeitliches) Verständnis von Historie zu unterstellen, dass es gar nicht von sich aus hätte entwickeln können, so sehr bleibt doch die Aufgabe, Geschichte als symbolische Form – und in kritischer Distanz zur Leistung des Mythos – auf der Ebene biblischer Geschichtsschreibung zu wür-
165 R ICŒUR, PAUL, Poetik und Symbolik (1984), in: Hans-Peter Duerr (Hg.), Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 11–34, 18. 166 R ICŒUR, Symbolik des Bösen (Anm. 164), 12. 167 Unter Interpretationsabsicht würde man hingegen u.a. auch verstehen, zu erkunden „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke). Dies aber ist ohne Zweifel keine Grundabsicht mythischer Darstellungen. 168 B LUMENBERG, Arbeit am Mythos (Anm. 44), 192.
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digen. Erst von hier aus kann nämlich deren paradigmatischer Charakter begriffen werden.169 Letzterer besteht in der unauflösbaren Spannung zwischen der Erinnerung an einmalige und einschneidende Ereignisse in der Vergangenheit170, und ihrer stets von Neuem verständlich zu machenden Bedeutung durch Nacherzählung und Reinterpretation im Angesicht gegenwärtiger Probleme und Situationen. Paradigmatisch heißt dies deswegen, da es nie nur um die Aufbewahrung und Erinnerung konstitutiver Ereignisse geht, sondern mehr noch diese Sicherung im Wissen um ihr unausschöpfbares Potential zur Gegenwartsdeutung geschieht. Auf der Ebene des biblischen Kanons kreuzen sich somit historische Fiktion und geschichtstheologische Weltdeutung: Die Konstituierung Israels als eines Trägers der Wahrheit, als einer identifizierbaren und dauerhaften sozialen Größe in der Geschichte, konnte nur durch die Schaffung eines paradigmatischen Berichts erreicht werden, der (1) die Ereignisse um die Entdeckung der Wahrheit und (2) den Verlauf der Geschichte in immer neuen Fassungen als eine Bekräftigung der Wahrheit erzählte. Dieser Bericht ist das Alte Testament.171
Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass schon die Identifizierung derjenigen Ereignisse und Geschehnisse, die Gott in seinem Handeln in der Geschichte bezeugen, nicht ohne die Absicht erfolgt, ihre bis in die Gegenwart hineinreichende Sinn bzw. Wahrheit erschließende Kraft zu erkunden. Insofern dominiert bereits hier die Perspektive der jeweiligen Gegenwart, im konkreten Fall: diejenige der biblischen Autoren bzw. Redaktoren.172 Das allerdings teilt sie im Grunde mit heutiger historischer Rekonstruktionsarbeit. Jedenfalls liegt hierin die theologische Bedeutung der Redaktionsgeschichte, welche auf der Verschränkung von historischer Refiguration und Rezeption beruht. Die Pointe des biblischen Geschichtsdenkens liegt somit nicht einfach, wie früher angenommen, im linearen Zeit- und Geschichtsverständnis.173 Auch darf Voegelin nimmt hier Einsichten Cassirers auf und würdigt zugleich die Einarbeitung historischer Tatbestände im kanonischen Schrifttum. Vgl. VOEGELIN, Ordnung und Geschichte 2 (Anm. 32), 31–51. 170 Immerhin dürfte nach wie vor eine überwiegende Mehrheit alttestamentlicher Exegeten darin übereinkommen, dass bestimmte historische Ereignisse zum Auslöser für die Bildung und Stiftung wie auch Umbildung und Erneuerung von Traditionen wurden und dass noch die Neuinterpretationen durch diese Ereignisse selbst mit provoziert wurden. Wenigstens für die historische Gliederung in und theologische Bedeutsamkeit von ‚vor‘- und ‚nach-exilisch‘ dürfte hier ein Konsens vorherrschen. 171 V OEGELIN, Ordnung und Geschichte 2 (Anm. 32), 40. 172 Zum Problem des Ursprungsortes, vgl. H ARTENSTEIN, FRIEDHELM, Die Anfänge JHWHs und die „Sehnsucht nach dem Ursprung“. Eine geschichtshermeneutische Problemanzeige, in: BThZ 30 (2013), Heft 1: Anfänge und Ursprünge der Jahwe-Verehrung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013, 166–192. 173 Zu Recht kritisch gegen dieses hartnäckige Vorurteil: M OMIGLIANO, A RNALDO, Zeit in der antiken Geschichtsschreibung, in: Ders., Wege in die Alte Welt. Mit einer Einführung von Karl Christ. Übersetzt von Horst Günther, Berlin: Wagenbach 1991, 38–58. 169
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man trotz des Insistierens auf die Faktizität der berichteten Ereignisse die historische Qualität der biblischen Schriften nicht überschätzen. Was viel wichtiger erscheint, ist die Art und Weise, wie hier in Gestalt mythischer Darstellung und durch frühe Formen von Historiographie Geschichte verstanden wird: nämlich als raumzeitlich qualifizierter und durch eine Pluralität von Akteuren gestalteter Handlungszusammenhang. Erst dies macht die Bibel im Verbund des Festhaltens an der Faktizität von bestimmten Ereignissen zu einem theologischen ‚Geschichtsbuch‘. In diesem Sinne ist Gerhard von Rad zuzustimmen, wenn er für das Gesamt der geschichtlichen Überlieferungen festhält: Ein Glaubensbekenntnis allereinfachster Art liegt diesem Werk [gem. ist 2 Sam 9; C.P.] zugrunde und deshalb muß es unter allen Umständen als ein theologisches Geschichtswerk bezeichnet werden, wenngleich es ein ganz weltliches Gemälde darbietet. Die Handelnden in diesem Drama sind Menschen von Fleisch und Blut (…) Und doch wird dem Leser gelehrt, auf Gott zu sehen als den verborgenen Herrn und Lenker der Geschichte (…) die Menschen sinken nicht zu Marionetten herab und der Hinweis auf Gott ist nicht im letzten unernst.174
Um überhaupt eine Theologie der Geschichte, wie sie zum Grundbestand der biblischen Glaubenstraditionen und der religiösen Identitäten von Judentum und Christentum gehört, entwickeln zu können, bedarf es jedoch einiger Voraussetzungen. Dazu gehört neben der Sensibilität für das Kontingente und Einmalige bestimmter Ereignisse die Fähigkeit zur narrativen Darstellung sowie das Bewusstsein und „Vermögen, eine bloße Aufeinanderfolge von Einzelereignissen überhaupt als Geschichte zu sehen und zu verstehen“175. Nur dann lässt sich Geschichte auch als „das Wirkungsfeld des göttlichen Handelns“176 begreifen. Dabei wird in zunehmenden Maße der geschichtstheologische Rahmen durch die Wahrnehmung der (radikalen) Transzendenz Gottes mitbestimmt, weshalb ein Handeln Gottes in der Geschichte nur indirekt dargestellt werden kann. Das ist der eigentliche Grund, warum die Bedeutung selbst historisch verifizierbarer Ereignisse (history) nicht in der bloßen Beschreibung ihres Verlaufs gleichsam positivistisch fixiert werden kann, sondern stets der Rekonstruktion im Medium erzählter und tradierter Geschichten (stories), d.h. in ihrem Zusammengang untereinander, bedarf. Obgleich als irreduzibel einmaliger, zeitlich unumkehrbarer, darin kontingenter und durch Akteure bestimmter Handlungszusammenhang verstanden kann sich Geschichte ihres in diesem Sinne symbolisch-mythischen Charakters nicht entkleiden, so wichtig die historisch-kritische Hinterfragung bleibt. Zudem wächst die Umstrittenheit religiöser Geschichtsdeutung in dem Moment, wo – kontrafaktisch zu dem (Angekündigten und) Erwarteten 174 VON R AD, G ERHARD, Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel (1944), in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, Bd. I, München: Kaiser 1958, 148–188, 186. 175 A.a.O., 152. 176 Ebd.
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– Entscheidendes ausbleibt oder in sein Gegenteil verkehrt erlebt wird. Das wiederum provoziert die stärkere Wahrnehmung der Verborgenheit Gottes. Als Konsequenz kann fortan in religiöser Hinsicht der wichtigste der geschichtlich zur Darstellung zu bringenden Akteure, also Gott, nicht eindeutig und unmittelbar identifiziert werden. Vielmehr wirkt er stets ‚in‘, ‚mit‘ und ‚unter‘ den Geschehnissen. So korrespondiert dem verborgenen Sinn der Geschichte der verborgene Gott der Geschichte. Und unter der Hand wird aus dem Problem der historischen Fiktionalität die hermeneutische Frage, ob die historische Rekonstruktion in Verbindung mit der religiösen Interpretation von Geschichte vielleicht doch nur noch ein narratives ‚Sehen-Als‘ bzw. ‚Sehen-Wie‘ von Gott zulässt; die Rede von der Personalität Gottes doch nurmehr eine narrative Fiktion als Modell meint. Diese Problematik kommt freilich nicht von ungefähr. Denn sie wird nicht erst durch die historische Kritik in der Neuzeit, sondern bereits auf der Ebene der biblischen Texte provoziert. Man kann dort geradezu von einer Inszenierung historischer Faktizität im Modus literarischer Fiktionalität sprechen: das Sehen-Als bzw. Sehen-Wie im Sinne einer spezifischen Interpretation177, da es ein geschichtliches ‚Sehen-Als‘ bzw. ein ‚Sehen-Wie‘ als Geschichte meint. Mit Paul Ricœur: It is an indisputable trait of the basic stories of the Bible that they are history-like, with the exception of intended fictions such as parables and maybe some stories in the Old Testament, Jonah und others. The perplexing problem is that this history-like feature, for those who live in the story (…) ignores the distinction between fiction and history. It is not fiction because there is no such feeling of fable-intention as the one that Aristotles ascribes to poetry writing. It is not history because the purpose of history writing according to documentary evidence is also not part of the writer’s intention. Therefore, the problem is only ours. But it is ours precisely as a result of a crisis generated by the history-like character of the biblical narratives.178
Von ihrem Gebrauch her unterlaufen die kanonischen Texte, zumindest, wenn sie religiös verstanden werden, die Unterscheidung von Faktischem und Fiktivem. Und doch beanspruchen sie diesseits neuzeitlicher Vorstellungen von historischem Repräsentationsdenken einen Bezug auf ein ‚Außerhalb‘ des von ihnen Geschilderten. Insofern entkommt man der Dialektik aus Ereignis und 177 Ein ‚Sehen-Als‘ bzw. ein ‚Sehen-Wie‘ ist daher ganz im Sinne Wittgensteins kein simpler Wahrnehmungs-, sondern immer schon ein vermittelt-hochstufiger Interpretationsakt. Vgl. WITTGENSTEIN, LUDWIG, Philosophische Untersuchungen Teil II, in: Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (1984) 222014, v.a. 518–556.560f. – Zur Bedeutung dieser Figur bei Wittgenstein siehe auch die klaren Ausführungen von: GEBAUER, GUNTER, Wittgensteins anthropologisches Denken, München: Beck 2009, 208–231. 178 R ICŒUR, PAUL, Toward a Narrative Theology: Its Necessity, Its Ressources, Its Difficulties (1983), in: Ders., Figuring the Sacred. Religion, Narrative, and Imagination, hg. v. Mark I. Wallace, Minneapolis: Fortress Press 1995, 236–248, 244.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
Erzählung, aus Geschehen und Sinndeutung unter keinen Umständen. Auch ein literaturwissenschaftlich angelegter Ansatz biblischer Hermeneutik muss demnach der Tatsache Rechnung tragen, dass den Texten ein Anspruch innewohnt, der eine „zugleich historische Bedeutung und kerygmatische Dimension hat.“179 Dabei meint die kerygmatische Dimension der Texte, dass deren als geschehen berichtetes ‚Außen‘ nicht nur in die Vergangenheit zurück-, sondern mehr noch von ihr herkommend auf die Gegenwart des Lesenden und Hörenden verweist. Der auf diese Weise geschilderte Gott erhält seine Identität durch die Erzählung seiner Taten und wird doch als einer verstanden, der seine Identität im Wandel der Geschichte stets neu in der Gegenwart erweist. Die Auslegungsgeschichte des Kanons hat diese Dialektik mit guten Gründen auf der Ebene der Texte selbst ausfindig zu machen geglaubt. In der Figur des göttlichen Namens wird benannt, was nur indirekt bezeugt werden kann und was doch zugleich untrennbar mit den geschichtlichen Ereignissen, die erzählt und erinnert werden, zusammenhängt. Aus diesem Grund wird in der Figur des göttlichen Namens theologisch die Schnittstelle zwischen der ‚Welt‘ des Textes und seinem durch sie hindurch bezeugten ‚Außen‘ thematisch. Zugleich bündeln sich im Gottesnamen entscheidende Momente des Personalen: die irreduzible Individualität, ja Singularität, mit unveräußerlicher Geschichtlichkeit und damit mundaner Sozialität. 4.2 Der Name als Kurzerzählung: Zur Figur des göttlichen Namens Die Figur des göttlichen Namens führt ins Zentrum der Identitätsfindung monotheistischer Religionen. Dabei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen, die durch die Namensgebung und Namensnennung in Anschlag gebracht werden. Zum einen ist kulturtheoretisch daran zu erinnern, dass beides, Namensgebung wie Namensnennung, die Unbändigkeit erlebter Realität bricht und fassbar macht. Mit Blumenberg gesprochen dient Namensgebung der Bändigung des Absolutismus der unvertrauten Wirklichkeit. In der Figur des Namens wird bereits Arbeit an der radikalen Kontingenz betrieben. Dies ist beim Gottesnamen in außerordentlicher Weise der Fall. Denn „als Namenloses“ könnte Gott „nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden.“180 Zum anderen wird erst durch die Namensgebung die Möglichkeit eröffnet, das Geschehen der Wirklichkeit mit dem Göttlichen zu verbinden: „Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen.“181 Der Name lädt gleichsam zur Erzählung ein und dort, wo mittels dieser sich ein Name immer mehr zu einer durch ihn repräsentierten, bestimmten (distinkten) Realität verdichtet, dort kann er als eine Art ‚Kurzerzählung‘ gelten. RICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Metapher (Anm. 13), 38. Ähnlich auch a.a.O., 42f. 180 B LUMENBERG, Arbeit am Mythos (Anm. 44), 40. 181 A.a.O., 41. 179
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Mit Blick auf diese Leistung ist nun allerdings im Fall von personalen Größen noch ein weiterer Aspekt von Belang. Sprachgeschichtlich ist das Aufkommen der Verwendung von Namen als Eigennamen entscheidend. Nicht mehr nur abstrakte Kennzeichnungen und Klassifikationen, sondern irreduzibel individuelle Größen werden nun qua Nennung erfasst und identifizierbar. Dabei ist die Funktion von Eigennamen eine eigentümliche. Wie Saul A. Kripke gezeigt hat, erfolgt die Festlegung der Eigennamen nicht mehr unter Vorgabe sachlicher Analogien, sondern ist Resultat einer kausal konstruierten, notwendigen Festlegung.182 Genau dadurch wird die eigentliche Funktion gesichert. Denn Eigennamen gestalten und ordnen Kontingenz, indem sie notwendige (und sachhaltige) Bezüge durch dieselbe Referenz fixierbar machen, z.B. Handlungen mit Blick auf ihren Verursacher, ohne jedoch die Wandlungsfähigkeit des damit Verknüpften, z.B. den veränderlichen Charakter des in gewisser Hinsicht identisch mit sich bleibenden Verursachers, zu sistieren. Auf der einen Seite fungieren Eigennamen somit strikt, indem sie ihren Referenten in allen möglichen Welten und Beschreibungssystemen als ein und denselben auszeichnen.183 Auf der anderen Seite lässt es gerade dieser ‚absolute‘ Orientierungspunkt zu, dass er selbst unter Achtung der Vielfalt seiner Bezüge und Beschreibungen unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Die eigenartige Beziehung zwischen Eigenname und Notwendigkeit lässt sich so bestimmen, dass Namensgebungen „eine unwiederholbare und unteilbare Entität (…) vereinzeln, ohne sie zu kennzeichnen, ohne sie auf der prädikativen Ebene zu bedeuten, also ohne irgendeine Information über sie zu geben.“184 Damit nun aber umgekehrt diese Vereinzelung wirklich gehaltvoll wird, muss gesichert sein, dass die starre Referenz prädikativ durch das mit ihr Verknüpfte gefüllt wird. Hierin tut sich der Zusammenhang mit der Geschichte auf. Deswegen „hängt das Privileg der Eigennamen, die Menschen zugeschrieben werden, mit ihrer späteren Rolle bei der Bestätigung ihrer Identität und ihrer Selbstheit zusammen.“185
182 Vgl. K RIPKE, SAUL A., Name und Notwendigkeit. Übersetzt von Ursula Wolf, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 112f. 183 Zum Begriff des Designators a.a.O., 34. – Es ist wichtig zu sehen, dass Kripke, und nur darum interessiert er uns hier, den Zusammenhang von Name und Notwendigkeit stets als einen zwischen Eigennamen und Notwendigkeit auffasst, also andere Formen, wie Beschreibungen und sprachliche Kennzeichnungen à la „der Mann, der x an y getan hat“, ausschließt. Vgl. a.a.O., 33. 184 R ICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 41. – Dies gilt ganz unabhängig von der Tatsache, dass Eigennamen selbst keine anthropologischen Universalien sind. Gleichwohl zeigt jedoch ein kulturvergleichender Blick, dass zwischen der Genese einer bestimmten Personenidee und der Praxis der Eigennamen ein sachlicher Zusammenhang besteht. Vgl. hierzu: GEERTZ, CLIFFORD, Person, Zeit und Umgangsformen auf Bali (1966), in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21991, 133–202. 185 R ICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 42.
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Dabei darf man – übernimmt man diese Erwägungen für die Hermeneutik des göttlichen Namens – nicht unterschlagen, dass es keinesfalls so ist, dass mit der Funktion des Eigennamens als individualisierender Designator schon die Behauptung der Existenz jenes Referenten mitgedacht ist.186 Wohl aber lässt sich im Eigennamen ein Zeicheninstrument erkennen, welches die Dialektik aus rekonstruierter Bestimmung (qua Erzählung) und kontingent bleibender Fortbestimmung (qua Handlung bzw. Ereignis) in sich aufzunehmen und zu verarbeiten scheint. Mit dieser Leistung wird die Verwendung des Namens als Kurzerzählung nochmals radikalisiert, weil der Eigenname, zumindest, wenn er sich auf handelnde Wesen bezieht – wie im alltagssprachlichen Gebrauch zumeist üblich187, sich nicht mehr auf einen festgelegten Bedeutungsrahmen einengen lässt, sondern diesen immer schon unter dem Vorzeichen der Kontingenz als weiterhin offen, das heißt fortbestimmbar, kennzeichnet. Es ist dieser Hintergrund, den eine systematische Hermeneutik des biblischen Gottesnamens zu berücksichtigen hat. Traditionell steht dabei die Frage im Vordergrund, was es bedeutet, wenn Gott nicht nur begrifflich gefasst, sondern mittels der Figur des Namens verstanden wird. Dabei geht die Funktion des Eigennamens nicht in seinem Gebrauch als singulärer Terminus auf. Vielmehr stellt er das Mittel für die Identitätsfiguration von personalen Instanzen bereit. Deswegen bleibt auch Gott als Eigenname verstanden auf die beiden anderen Verwendungsweisen von Gott als Begriff und Gott als (radikaler) Metapher angewiesen. Umgekehrt bliebe ein Verstehen Gottes, das die religiöse Namensnennung, -gebung und -anrufung aussparen würde, defizitär. Dies gilt selbst dann noch, wenn man eingesteht, dass „viele Namen Gottes keineswegs Begriffe sind oder werden, sondern Metaphern waren und bleiben“188. Es ist nun dem biblischen Eigennamen Gottes, ausgedrückt im Tetragramm JHWH aus Ex 3,14, eigentümlich, dass er diese Spannung aus Bestimmung und bleibender Unbestimmbarkeit provoziert. Zieht man seine überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen heran, die schon innerhalb des Kanons anzusetzen sind, dann wird man von einem spannungsvollen Prozess aus
Vgl. KRIPKE, Name (Anm. 182), 43. – An dieser Stelle steht bei Kripke allerdings ein besonderer Aspekt im Vordergrund: Es geht nicht um ontologische Existenzbehauptungen, sondern um die Frage, ob aus dem Satz „Der Mann, der Israel durch das Schilfmeer geführt hat, hat nicht existiert“ analytisch zu folgern ist: „Moses existiert nicht“; und zwar unter der Voraussetzung, die Beschreibung, die durch den Satz „der Mann, der…“ gegeben wird, stimme inhaltlich mit der Bestimmung der Identität des Moses überein. 187 Die Verwendung von Eigennamen für Haustiere, Schiffe etc. hat daher immer einen übertragenen Charakter, dessen Sinn sich freilich genau aus jener ursprünglich auf (menschliche) Individuen (und geschichtliche Ereignisse) bezogenen Bestimmung ergibt. 188 STOELLGER, PHILIPP, ›Im Namen Gottes‹. Der Name als Figur des Dritten zwischen Metapher und Begriff, in: Ingolf U. Dalferth/ders., Gott Nennen. Gottes Name und Gott als Name (RPT 35), Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 248–285, 263. 186
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Übersetzung, Interpretation und Neu-Übersetzung sprechen müssen.189 Für den systematischen Theologen steht dabei weniger die religionsgeschichtliche Herkunft190 des Namens als seine allmähliche Bedeutungsanreicherung und religiöse Umbesetzung im Vordergrund. Darüber nämlich lassen sich Spuren des Prägnantwerdens des biblischen Gottesglaubens entziffern.191 Der Selbstvorstellung JHWHs, verbunden mit der Einführung seines Namens in Ex 3,14, wohnt bis heute die Aura eines geheimnisvollen Textes an. In den Rahmen einer klassischen Berufungserzählung (des ‚Propheten‘ Mose) eingebettet, orientierten sich an ihr sowohl hermeneutische Bemühungen um die Entzifferung der Bedeutung des göttlichen Namens als auch Versuche, metaphysisches Denken kanonisch verorten zu können. So abwegig bisweilen manche Versuche erscheinen mögen, die philosophische Interpretation des Tetragramms, wie sie schon für das hellenistische Judentum prominent ist, bezeugt – gemeinsam mit dem Verbot der Aussprache des Gottesnamens in ritueller Hinsicht –, dass hier ein Glutkern der Gottesvorstellung zu finden ist.192 Insgesamt ist mit Hartmut Gese festzuhalten: „Wichtiger als die Bedeutung des Namens ist die Funktion als Name.“193 Damit wird das Augenmerk auf den Kontext der Einführung des Gottesnamens gelenkt. Erst von diesem her wird deutlich, worin das revolutionäre Potential der Selbstoffenbarung JHWHs liegt. Bedenkt man, dass zuvor Gott seinem Volk zwar als ‚Gott seiner Väter‘ bekannt war (vgl. Ex 3,6), aber noch nicht mit seinem eigentlichen Namen, so zeigt sich, dass entscheidend ist, daß diese äußerste Offenbarung Gottes als Namensoffenbarung eine Selbsterschließung der Person bedeutet, die sich an den Menschen bindet, der als Du diesem Ich Gottes konstitutiv zugeordnet wird (…) Er offenbart sich eben nicht an sich, sondern als Selbst. Wir kommen
Vgl. dazu und im Folgenden: LACOCQUE, ANDRÉ/RICŒUR, PAUL, Thinking Biblically. Exegetical and Hermeneutical Studies, Chicago (IL)/London: The Univ. of Chicago Press 1998, ix–xix. Zu Ex 3:14, siehe: a.a.O., 307–368. 190 Vgl. dazu die knappe Übersicht in: H ARTENSTEIN, Die Anfänge JHWHs (Anm. 172), 187–191, sowie umfassend: LEUENBERGER, MARTIN, Gott in Bewegung: Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im Alten Israel (FAT 76), Tübingen: Mohr Siebeck 2011. 191 Zur notwendigen Zusammenführung von religionsgeschichtlichen Einsichten, textlichen Befunden und hermeneutischen Überlegungen siehe: HARTENSTEIN, FRIEDHELM, Die Geschichte JHWHs im Spiegel seiner Namen, in: Dalferth/Stoellger (Hg.), Gott Nennen (Anm. 188), 73–95. 192 Konsequent ist es daher, wenn im neutestamentlichen Schrifttum, v.a. im Johannesevangelium, die christologische Vertiefung des alttestamentlichen Gottesglaubens, wie in den ‚Ich-bin‘-Worten (vgl. Joh 6,35;8,12;11,25f.;14,6 etc.), durch bewusste Anlehnung an das Tetragramm erfolgt. 193 G ESE, H ARTMUT, Der Name Gottes im Alten Testament, in: Heinrich von Stietencron (Hg.), Der Name Gottes, Düsseldorf: Patmos 1975, 75–89, 81. 189
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also zu der These: Gott hat einen Namen, er ist eine Person und erschließt sein Selbst in der Offenbarung 194.
Natürlich soll dadurch kein (erst neuzeitliches) Personenverständnis in die Texte hineingetragen werden. Wohl aber lässt sich dem literarischen Setting der Einführung des Gottesnamens im Modus der Selbstvorstellung JHWHs an seinen Diener Mose entnehmen, worauf die fortan zentrale Nennung und Anrufung des Gottesnamens zielt. Die Passage versteht sich als Regel für den Gebrauch wie zugleich als Regel für die Bestimmung (Gehalt) des Gottesnamens. Sie entfaltet eine semantische Pragmatik für das Verstehen Gottes: In der Rede von und zu Gott entfaltet der Name seine pragmatischen Funktionen, die indirekt, auf dem Umweg der Semantik, angezeigt werden. Der Name in seiner Gewandung durch Geschichten dient dem Orten, Orientieren, Ordnen und Operieren – von Gott und Mensch. Mit dem Namen wird nicht allein gesagt, wer Gott ist, sondern wo und wie er ist – und entsprechend in welchem Verhältnis er zu uns steht und wir zu ihm stehen.195
Die (implizite) Logik des Namens, auf die Philipp Stoellger anspielt, vollzieht sich mittels der Funktion des Namens in Anwendung auf die mit ihm verbundenen geschichtlichen Ereignisse und Situationen. Damit wird zugleich klar, dass die Pragmatik wie die Semantik des JHWH-Namens eingebunden ist in seinen sozialen Kontext, dem Schicksal des Volkes Israel (und seiner Propheten). Erst dies wahrt den Gottesnamen vor der Gefahr semantischer Beliebigkeit und hält zugleich die Möglichkeit semantischer Transformationen und Umbesetzungen offen. Durch die Szene um Ex 3,14 wird ein Gottesverstehen initiiert, das in mindestens drei Aspekten personale Züge aufweist, nämlich: Aktivität, Geschichtshaftigkeit (Temporalität) und Sozialität. Sehen wir genauer hin: (1) Die Einführung des neuen Gottesnamens steht im Kontext der bisherigen Vätergeschichte, in die hinein auch Mose gestellt wird. Zugleich weist dessen Berufung auf das zentrale Exodus-Geschehen voraus. Aus letzterem wird verständlich, warum die oftmals futurische Übersetzung des ’ehyeh ’asˇer ’ehyeh Sinn macht. Die Selbstvorstellung verweist sowohl auf vergangene, mehr noch aber auf noch ausstehende (Rettungs-)Taten Gottes, sowie auf seine gegenwärtige, dynamische Präsenz (konkret: im Dornbusch): „God’s Being means his active, dynamic Presence.“196 Anders gesagt: Der durch den Namen JHWH anvisierte Gott ist ein primär Handelnder, und zwar nicht in genereller Perspektive, sondern in konkreter Geschichte und Tat:
194 A.a.O., 79. – Von Gese stammt auch die heute übliche und vielfach akzeptierte Übersetzung: „ich erweise mich, als der ich mich erweisen werde“ (a.a.O., 82). 195 STOELLGER, ›Im Namen Gottes‹ (Anm. 188), 258. 196 LAC OCQUE, A NDRÉ, The Revelation of Revelations, in: Ders./Ricœur (Hg.), Thinking Biblically (Anm. 188), 308–329, 314.
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„The Tetragrammaton is no invitation to speculate upon the aseity of God. It does not refer to a divine causa sui; it always takes place within very concrete happenings (…) “Yhwh,” God-as-Agent points to a type of action that the root hyh was deemed appropriate to express.“197
(2) Damit ist bereits der zweite Aspekt benannt: Gottes Realität (Wirksamkeit), wie sie sich in seinem Handeln kundtut, hat ihren Ort in der Welt, genauer: in der Geschichte. Diese wird als Heilsgeschichte verstanden. Wohlgemerkt nicht in der Art eines geschichtstheologischen Schemas; sehr wohl aber als riskanter und prekärer Handlungsprozess von mehreren Akteuren zwischen Erinnerung und Erfahrung einerseits, Hoffnung und Unsicherheit andererseits.198 Insofern wird der Name zum Versprechen; die Auslegung des JHWH-Namens aber abhängig von den mit ihm gemachten geschichtlichen Erfahrungen. Anders gesagt: Die Auslegung des Gottesgedankens hat sub conditione historiae zu geschehen. Consequently, most philosophical speculations on the Divine are in need of radical revision. The philosophical concepts of transcendence, omnipotence, infinitude must be considered sub specie historiae, instead of sub specie aeternitatis et absoluti (…) ’ehyeh ’asˇer ’ehyeh, he says, and the unaccomplished form of the verb must be taken in all seriousness. I will be what I will be; I will become what I will become. There is here an uncannily taut drama concentrated in the relative pronoun asˇer (what), for its content essentially depends on the quality of history that Moses and his people will pour into it.199
(3) Der sich als geschichtlich Handelnder offenbarende Gott ist nun aber nicht ohne diejenige Bezugsgröße zu denken, an der er gehandelt hat und weiterhin vermittelt oder unmittelbar handeln wird: Mose und das Volk Israel. Dabei ist dieser Handlungsprozess, der Geschichte ausmacht, kein einseitiger, sondern ein wechselseitiger.200 Man kann das Tetragramm somit nicht verstehen, ohne dessen sozialen Kontext, seine Relationalität. Von einer strikten Aseität Gottes kann an dieser Stelle nicht die Rede sein. Vielmehr bewirkt der relationale Kontext, der sich bis auf den individuellen Leser des Textes performativ ausweiten kann, eine dialogische Situation201. Das göttliche ‚Ich‘ und sein Dialogpartner in der Form des ‚Du‘ des Mose bzw. Israels (oder später der Kirche), des einzelnen Lesers etc. bilden personale Relationen. Dies kommt – paradox genug – bereits im Namen selbst zum Ausdruck: Denn der Gott von Ex 3,14 wird in A.a.O., 322. Deswegen kann Heilsgeschichte auch nicht ohne die dialektische Spannung aus göttlicher Präsenz und Absenz, aus Offenbarung und Verborgenheit, verstanden werden. 199 A.a.O., 324. 200 Interessant ist dabei, dass die im Alten Orient verbreitete magische Vorstellung, wonach das Wissen um den Namen Gottes auch dessen Beeinflussbarkeit zur Folge hat, keine Rolle spielt. 201 Diese ‚dialogische Situation‘ ist nicht auf zwei Partner beschränkt, sondern verweist auf die Art und Weise, wie hier wechselseitige Präsenz als kommunikative Aktion erfahren wird. 197 198
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V.15 zum Gott, der Mose zum Volk sendet. Dies gehört mitten hinein in die Bedeutungsfülle von JHWH: The sharpest paradox is that the only One who is really entitled to say ‚I‘, and who is the unique ’ehyeh, has a Name that includes a second person, a ‚you‘. A ‚you‘ that is revealed and enshrined in the Name itself.202
Im Namen JHWH spiegelt sich somit die Singularität Gottes wieder, die zugleich eine elementar sozial-relationale ist. Darum ist Ex 3,14 nicht einfach ein Bekenntnis zu Gott als Person. Vielmehr verweisen die Dimensionen der Einführung und der Funktion des Namens auf ein Gottesverständnis, das mit einem sozialen Kontext (Gemeinschaft) unweigerlich verwoben ist und dessen Subjekte (‚Gott‘, ‚Israel‘) als sich wechselseitig aktivisch bestimmend und mundan und temporal vollziehend gedacht werden. Dieses dynamische Geschehen bleibt noch in seinen Kontinuitäten nie ein für alle Mal stabil, sondern steht unter bleibend kontingenten Bedingungen. Genau darin ist es als ein personales zu begreifen, und zwar auf beiden Seiten. André LaCoque, dessen Interpretation von Ex 3,14 wir hier weitgehend gefolgt sind, hat dies wie folgt zusammengefasst: The intimate tie between the Tetragrammaton on the one hand and the divine action on the other indicates in what direction philological research should go. An agent is designated whose work is actualized in Israel’s exodus from Egypt. Whatever may be the deep meaning of the Tetragrammaton, “Israel” is the name of the Thou in dialogue with the divine I. Thus, the name Yhwh is clearly action-oriented and not conceptually devised.203
Nun ist es gerade die Pointe von Ex 3,14, dass die elementare Qualifikation des Gottesgedankens durch die Aspekte des Handelns, seiner Temporalität und sozialen Verankerung so inszeniert wird, dass weder die Transzendenz noch die Singularität Gottes – und damit seine bleibende Differenz zu Welt und Mensch – unterschlagen wird. Es wird strikt darauf geachtet und ebenfalls durch den Gottesnamen sprachlich gesichert, dass Gott weder in seinem Handeln, noch in der Geschichte, noch einfach in seinem Zusammensein (mit dem Volk Israel oder der Welt) aufgeht. Der Einzig(artig)keit seines Wirkens entspricht die Einzigkeit seines Namens.204 Deswegen kommt in der Geschichte der Einführung des Gottesnamens auch die bleibende Verborgenheit Gottes in seinem ge-
202 A.a.O., 315f. Vgl. auch: „God’s vis-à-vis receives a proper name within the relationship with a God who is not nameless“ (a.a.O., 315). 203 A.a.O., 314f. 204 Die so bestimmte Singularität als Einzigkeit ist daher das eigentliche Kennzeichen des jüdischen Monotheismus. Das hat in etwas anderer Zuspitzung auch Hermann Cohen stark gemacht. Vgl. dazu: COHEN, HERMANN, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen: Töpelmann 1915, 21–26, sowie: Ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/29), Wiesbaden: Fourier 21959, 41–57. – Cohen übersetzt daher im Anschluss an Ex 3,14 JHWH nicht als das Seiende, sondern als „der Seiende“: „Gott ist nicht das Seiende, und auch nicht das Eine, sondern der einzig Seiende“ (a.a.O., 49).
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schichtlichen Handeln, die Offenheit für sein zukünftiges Wirken und das Wissen um seine singuläre Differenz zum Menschen zur Sprache. An der These vom Namen als Kurzerzählung lässt sich nur dann mit Blick auf Gott festhalten, wenn „die Geschichte Gottes (…) als Geschichte einer sukzessiven Namensoffenbarung“205 verstanden wird. Dieser Prozess ist aber solange nicht abgeschlossen, wie es Menschen und wie es die Welt in ihrer Geschichte gibt.206 Der als Eigenname und Kurzerzählung fungierende Gottesname steht dann für das Zugleich der unverbrüchlichen Identität und der geschichtlichen Entfaltung des personalen Gottes. Insofern bedingen sich die hermeneutische Figur des Namens und das Modell der Personalität wechselseitig. 4.3 Die Bedeutung des personalen Modells in der Vielfalt kanonischer Gottesdiskurse Wenn man so sehr die Form des narrativen Diskurses, die Figur des göttlichen Namens und in deren Fluchtlinie ein personales Modell zum Verstehen der göttlichen Wirklichkeit in den Mittelpunkt rückt, wie in den vorangegangenen Ausführungen, dann ist zu bedenken, wie sich eine die Vielfalt der kanonischen Zeugnisse nicht unterschlagende Hermeneutik des Gottesgedankens zu anderen Weisen des Redens von Gott verhält. In der Tat konnte „[n]ur eine Theologie, die Jhwh als den handelnden Herrn einer Befreiungsgeschichte verkündigt, (…) an die Erzählform gebunden werden.“207 Und „[o]hne Zweifel liegt darin der größte Gegensatz zwischen dem Gott Israels und dem Gott der griechischen Philosophie.“208 Und mit dem Insistieren auf dem personalen Gott der Geschichte geht zudem die (ethisch-)soteriologische Zuspitzung von ‚Gott‘ und ‚Geschichte‘ einher.209 STOELLGER, ›Im Namen Gottes‹, in: Gott nennen (Anm. 188), 258. Dies gilt noch dann, wenn man mit Stoellger klarstellt: „Auch die Namen haben eine Ordnung – final offensichtlich auf das Tetragramm hin, oder mehr als final in der Offenbarung Christi“ (a.a.O., 258). 207 R ICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Metapher (Anm. 13), 38. 208 Ebd. – Zur Bedeutung der zeitlich-geschichtlichen Rahmung für eine Theologie des Alten Testaments siehe auch die grundsätzlichen Überlegungen bei: HARTENSTEIN, Wesen und Wandel (Anm. 26). 209 Damit ist eine im weitesten Sinne geschichtstheologische Fassung der Gotteslehre behauptet, die Geschichte freilich weder auf ein traditionelles heilsgeschichtliches Schema festlegt noch nur die Menschheitsgeschichte einbezieht. Gleichwohl gilt es die Geschichte als den umfassenden Rahmen für das Verstehen der religiösen Signifikanz und Referenz des Wortes ‚Gott‘ in der jüdisch-christlichen Tradition zu identifizieren. Dies hat zu Recht herausgestellt: NIEBUHR H.RICHARD, The Meaning of Revelation (1941). Introduction by Douglas F. Ottati, Louisville (KT): Westminster John Knox Press 2006, v.a. 38–42, 42: „The standpoint of faith, of a self directed towards gods or God, and the standpoint of practical reason, of a self with values and with a destiny, are not incompatible; they are probably identical. To be a self is to have a god; to have a god is to have history, that is, events connected in a 205 206
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Davon unabhängig findet der Gottesname JHWH nicht nur in narrativen Zusammenhängen Verwendung. Das Wort ‚Gott‘ wird in religiösen Diskursen und im biblischen Schrifttum zumal polyphon verwendet. Selbst dort, wo das gleiche Wort (bzw. die gleiche Wortwurzel) in Gebrauch ist, wird erst durch den Kontext divergenter literarischer Gattungen und Formen sein konkreter Bedeutungsgehalt prägnant: So wird mit ‚Gott‘ im hymnischen Diskurs ein machtund vertrauensvolles Gegenüber angerufen, während man sich in weisheitlichen Texten damit vornehmlich auf die sinnhafte Ordnung aller Wirklichkeit bezieht.210 Während der Prophet im ‚Namen Gottes‘ spricht und so seine Stimme für eine andere Stimme sprechen lässt, indem er sich zu deren Werkzeug machen lässt, funktionieren Gesetzestexte im Modus imperativer Weisung, und dies womöglich mit dem Verweis auf ein gebietendes ‚Ich‘, jedenfalls aber auf ein derart angesprochenes ‚Du‘. Nicht alle diese Redeweisen sind dabei schon von vornherein auf ein personales Verständnis Gottes festgelegt, wenngleich sie es doch in der Mehrzahl und der Tendenz nach strukturell implizieren. Das lässt sich zumindest dann behaupten, wenn man auch die kanonische Endgestalt und intertextuelle Referenzen ernst nimmt. Dennoch sollte die durch die Mehrzahl an Gattungsformen präfigurierte Polyphonie der biblischen Gottesrede nicht unterschätzt werden. Daher sollte „die Nennung Gottes in der Erzählung, in der Prophetie und in der Weisung (…) nicht der Bereicherung durch die Weisheit und den Hymnus beraubt werden.“211 Will man also in diesem Sinne schriftbezogen ‚Personalität Gottes‘ denken, so wie sie in einer Hermeneutik des Gottesnamens ihren Anhaltspunkt findet und wie sie in Gebet und Anrufung kultisch wirksam und in Schriftlektüre und Textinterpretation sinnbestimmend wird, dann ist jede Form von exklusivem Personalismus zu vermeiden, der allein die personalen Bilder (wie ‚Vater‘, ‚Herr‘ etc.) für die eigentliche Gottesrede zulässt. Dagegen spricht im Übrigen meaningful pattern; to have one god is to have one history. God and the history of selves in community belong together in inseparable union“. 210 Vgl. dazu die Bemerkung von: SMEND, Elemente, in: ders., Mitte (Anm. 37), 90: „die Geschichte ist durchaus nicht die Denkform des alttestamentlichen Glaubens, sondern eine unter mehreren; neben ihr stehen Kultus, Recht und Weisheit. Eine Hermeneutik des Alten Testaments, als Hilfsdisziplin zur Theologie des Alten Testaments kein überflüssiges Unternehmen, hätte mindestens diese vier Denkformen oder Denkbereiche in ihrem Nebeneinander und [!, sic. C.P.] Ineinander zu analysieren“. Siehe auch unter Hinzunahme der Prophetie als maßgeblicher Denkform: JEREMIAS, JÖRG, Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (Thlz.F 17), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, 9–22, 17f. 211 R ICŒUR, PAUL, Gott nennen (1977), in: Ders., Vom Text (Anm. 74), 153–182, 169. – Das hat Folgen für die Entfaltung eines Offenbarungsbegriffs, mit dem jedenfalls die Vielschichtigkeit der Diskurse nicht zugunsten eines, meist des prophetischen Modells von Gott „als Stimme hinter der Stimme (…) [als] absolute[s] Subjekt“ (a.a.O., 166) verabschiedet werden sollte.
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ja auch die noch einmal anders gelagerte Verkündigung Jesu, die gleichnishaft von Gott in den Bildern vom ‚Reich Gottes‘ bzw. vom ‚Himmelreich/Reich der Himmel‘ spricht. Man wird somit weder durch den quantitativen Aufweis die sachliche Vorrangstellung personaler Gottesbilder behaupten und damit – nebenbei gesagt – einem positivistischen Schriftverständnis ohne hinreichende hermeneutische Reflexion das Wort reden wollen; noch wird man allerdings an dem Umstand vorbeikommen, dass es weniger die einzelnen Vorstellungsbilder sind, die dem biblischen Gottesverständnis einen unweigerlich personalen Zug geben, als vielmehr der nun schon mehrfach genannte geschichtliche Entdeckungs- und narrative Rekonstruktionsvorgang. Was man mit Gerhard von Rad und anderen als „den Primat der narrativen Struktur in den biblischen Schriften“ nennen kann, weil die „Nennung Gottes (…) zuerst eine narrative Nennung [ist]“, beruht darauf, dass in Gestalt eines „historischen Dramas“ Gottes „Bedeutung als Handelnder (…) mit den Gründungsereignissen verbunden [ist] (…) Es sind diese Ereignisse selbst, die Gott nennen.“212 Historischer Kontext und narrative Darstellung fußen auf der Erfassung Gottes als eines Handelnden. Im Anschluss daran konturiert sich die spezifisch biblische Formung von Gottes Personalität, und zwar noch vor jeder konkreten Auszeichnung durch anthropomorphe Symbole und Metaphern. Es ist dieses Verständnis, das als narrative Grundstruktur den Kanon anleitet, in dem die Gottesgeschichte letztlich von der Schöpfung in Gen 1 bis zur Neuschöpfung in Apk 22 (bzw. mit Blick auf den Tanach bis 2 Chr 36) dargestellt wird. Schon innerhalb dieser Anordnung der beiden Teile von Hebräischer Bibel und Neuem Testament ergeben sich Spannungen, die durch die Lektüre zu wechselseitiger Re-Interpretation führen213 und die dennoch immer wieder auf die Verortung Gottes als eines Handelnden in der Welt (Geschichte) und am Menschen abzielen.214 Vor diesem Hintergrund ist es durchaus angemessen, das in Anschlag
212 A.a.O., 165. – Analoges gilt für die Ausrichtung der neutestamentlichen Schriften um das Christusgeschehen und dessen Gründungsereignis der Auferstehung: a.a.O., 174–176. 213 Jan Assmann hat darauf hingewiesen, dass sich bereits in der Hebräischen Bibel, genauer in Neh 8, die Struktur des notwendig interpretativen Umgangs mit kanonischer Literatur finden lässt. Vgl. ASSMANN, JAN, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München: Beck 2000, 146. 214 Siehe dazu die Überlegungen von: R ICŒUR, PAUL, Die Verflechtung von Stimme und Schrift im biblischen Diskurs, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Veronika Hoffmann, Freiburg i.B./München: Alber 2008, 95–115, v.a. 100–105. – Bereits die Ordnung des Hebräischen Kanons weist im Übrigen eine ebenso deutliche geschichtstheologische Rahmung auf. Dies zeigt sich insbesondere durch die erneute Rekapitulation der bisherigen Geschichte von Gen bis 2 Kön: „Inneralttestamentlich ist die Doppelung von Gen–2Kön und 1– 2 Chr und die Eigenschaft 1–2 Chr als textexterne Neuedition von Gen–2Kön die Ausnahme geblieben. In hermeneutischer Hinsicht ist sie aber insofern von großer Bedeutung, als mit der gemeinsamen Kanonisierung von Text und Kommentar (…) die Auslegungsdynamik
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gebrachte handlungs- und geschichtstheoretische Verständnis der Personalität Gottes als prägende Dominante der biblischen Gottesdiskurse anzusehen, das – wie gesagt – der geschichtlich-narrativen Strukturierung nicht erst, aber wesentlich auch in seiner kanonischen Endgestalt entspringt. Das personale Gottesbild, das den biblischen Schriften zu eigen ist, erweist sich somit als Basismodell, wie Gott zu ‚sehen‘, d.h. zu interpretieren (verstehen) ist. Seinem Modellcharakter ist es ferner zuzuschreiben, dass es einerseits eine spezifische Vorrangstellung gegenüber anderen Metaphern und Symboliken einnimmt, andererseits allerdings sehr wohl mit der Vielstimmigkeit biblischer Gottesdiskurse vereinbar ist. Es geht also nicht darum, stärker personale Bilder und Metaphern (Vater, Herr, Hirte etc.) gegen eher a-personale (Quelle, Licht, Leben) auszuspielen. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die durch Symbole, Metaphern, Bilder etc. zur Sprache gebrachten Erfahrungen und Deutungen ohne modellhafte Rahmung kaum systematisiert und in ihrem Zusammenhang erfasst werden könnten. Modelle dienen hier wie in naturwissenschaftlichen Forschungskontexten der Entdeckung neuer Aspekte und somit der vertieften Einsicht in Wirklichkeitsprozesse.215 Darauf will meine Rede vom Modellcharakter des personalen Gottesbildes der Bibel verweisen: Ultimate interpretive models – whether of a personal God or of an impersonal cosmic process – are organizing images which restructure one’s perception of the world. One may notice features which might otherwise have been ignored. Because of their vividness and immediacy, they are strongly evocative of personal response, but they also help to integrate interpre216 tations of diverse areas of experience.
Modelle bilden somit Wirklichkeit nicht einfach ab, was im Falle Gottes zu behaupten, ohnehin verwegen wäre. Sie helfen gleichwohl, divergente Daten, Ereignisse, Sachverhalte, Bilder und Metaphern so zu verbinden, dass durch deren Zusammenhang Wirklichkeit neu erschlossen wird. Das geschieht nicht einlinig oder ein für alle Mal, wie schon ein Blick auf die kanonischen Texte zeigt. Denn dort verschränken sich oft genug (und durch Redaktion bewusst vorgenommen) Erzählungen mit ethischen und prophetischen Diskursen, hymnische Texten und weisheitlichen Erörterungen.217 Aus den sich daraus ergebenden, produkti-
selbst im Alten Testament verankert worden ist“ (SCHMID, Literaturgeschichte [Anm. 7], 190). 215 Dazu siehe auch: R ICŒUR, Lebendige Metapher (Anm. 163), 227–238. 216 B ARBOUR, IAN G., Myth, Models, and Paradigms. A Comparative Study in Science and Religion, New York u.a.: Harper & Row 1974, 51f. 217 Vgl. R ICŒUR, Gott nennen, in: Ders., Vom Text (Anm. 74), 168 u.ö.
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ven Spannungen folgt im Grunde die Notwendigkeit, sie in einem umfassenderen Rahmen zu modellieren.218 Insofern konfigurieren Modelle Wirklichkeit, indem sie diese als – durch artikulierte Erfahrungen erschlossen – ordnen und dadurch neu justieren. Doch zugleich dienen sie selbst als Werkzeuge, neue Erfahrungen anders zu artikulieren. Damit sie beides vermögen, müssen sie für Revisionen offenbleiben, denn ihre Interpretationsstärke hat sich an ihrer andauernden Integrationskraft zu bewähren. Dabei gehört es zur Leistung von Modellen, sowohl kognitive Aspekte der Wirklichkeitserschließung herauszustellen als auch die existentielle Verortung der Interpretierenden artikulierbar zu machen. Auf diese Weise wird man des Interpretationsvorgangs als ganzem ansichtig. Konkret gesprochen: Das personale Gottesmodell verhilft den Glaubenden einerseits, die überlieferte wie erfahrene Geschichte religiös auf ihren Sinn und ihre Bedeutung hin zu rekonstruieren; ein Sinn, der zugleich bezogen ist auf sie selbst. Und dadurch begreifen sie andererseits sich selbst als aktiv in diese Geschichte involviert, d.h. als handelnde (und leidende) personale Instanzen.219 Hierüber erhalten die Motive von ‚Heil/Unheil‘, ‚Knechtschaft/Befreiung‘ etc. ihre für die Glaubenden existentielle Relevanz. Allerdings wird nicht nur durch die Modellierung ein Bezugsrahmen gewährt, der als hermeneutischer Bezugspunkt die diversen Gottesdiskurse zu bündeln erlaubt. Denn auch die Figur und die Funktion des Namens dient sowohl der Forderung nach der Pluralität der Gott-Nennungen als auch dem Verweisen auf einen gemeinsamen Referenzpunkt. Hier wie dort aber tut sich darin eine Spannung zwischen dem, was genannt oder interpretiert werden kann, und dem, was diesen Rahmen bzw. diese Nennung sprengt, auf. Der Name als sprachlich offen gehaltener Referent dient als mit Sinn und Bedeutung erfüllter Platzhalter für den, der sich als ‚in‘, ‚mit‘ und ‚unter‘ geschichtlichen Ereignissen Handelnder bezeugt. Noch die in der klassischen Dogmatik verwendeten Damit ist nicht behauptet, nur ein Rahmenmodell, etwa das narrativ-geschichtliche, käme zur Ordnung der vielstimmigen Gottesdiskurse in Frage. Aber man wird jedenfalls von der Notwendigkeit einer solchen Rahmung ausgehen müssen. An der Unterschiedlichkeit der Rahmung entscheiden sich theologische Grundpositionen. Für eine Theologie des AT ist es bspw. zentral, wie der narrative Gottesdiskurs mit den weisheitlichen Gottesaussagen in einen stimmigen, die inhaltlichen Divergenzen nicht negierenden Zusammenhang zu bringen ist. Die sog. ‚Personifizierung‘ der Weisheit in Prov 8 kann als ein Vorschlag hierzu gedeutet werden. Vgl. bei aller Überholtheit nach wie vor triftig: VON RAD, GERHARD, Weisheit in Israel, Neukirchen: Neukirchener Verlag 1970, v.a. 81–91.105–216, sowie: WITTE, MARKUS, Von der Weisheit des Glaubens an den einen Gott – eine Skizze zu den historischen Anfängen und theologischen Ausgestaltungen des Monotheismus im Alten Testament, in: Rolf Schieder (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismus-Debatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und Anderen, Berlin: Berlin Univ. Press 22014, 79–116. 219 In Anlehnung an Barbour, der von zwei Grundfunktionen religiöser Modelle spricht, der „expression of religious attitudes“ und der „interpretation of experience“ (BARBOUR, Myth Models [Anm. 216], 67). 218
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Prädikationen als göttliche Eigenschaften, die sein Wesen beschreiben wollen, partizipieren letztlich an dieser Struktur. Denn „[j]ede Prädikation Gottes ist als Beschreibung (…) des göttlichen Wesens eine Kurzerzählung, die das göttliche Selbstverhältnis aufgrund seines Verhaltens zu uns zur Sprache bringt.“220 Mit dem Namen Gottes als JHWH ist somit jener unendliche Referenzpunkt bzw. -horizont sprachlich und textlich benannt, der selbst nach einer Modellierung verlangt, insofern sich in ihm die unterschiedlichen Redeweisen wie in einem Fluchtpunkt treffen müssen. Die Ausrichtung an einem Begreifen Gottes als eines geschichtlich Handelnden ist dabei das, was die biblischen Schriften durchzieht. Insofern bündeln sich im Namen Gottes all diejenigen geschichtlichen Aspekte, die als ein göttliches In-der-Zeit-Handeln erzählend (und bezeugend) rekonstruiert werden können.221 Und doch erhalten sowohl das personale Gottesmodell als auch der Gottesname in seiner Funktion bei aller Bestimmbarkeit der göttlichen Realität deren Transzendenz, da diese in alledem als eine jede konkrete Nennung und Benennung immer wieder sprengende Größe sichtbar wird: Das Wort »Gott« sagt mehr als das Wort »Sein«, denn es setzt den ganzen Kontext der Erzählungen, Prophetien, Gesetze, Weisheitsschriften, Psalmen usw. voraus. Der Referent »Gott« wird so durch die Konvergenz aller dieser partiellen Redeweisen angezielt. Er drückt das Kreisen des Sinnes in allen Formen der Rede, in denen Gott genannt wird, aus.222
4.4 Narrative und personale Identität: Zur (narrativen) Konfiguration des personalen Gottes Die doppelte Funktion des personalen Gottesmodells, die Rekonstruktion von Geschichte als Handlungsraum Gottes und die Verortung des Menschen als in diesen aktiv mit involviert, ist bislang vor allem unter dem ersten Gesichtspunkt verhandelt worden. Dabei leitete im Wesentlichen der narrative Gottesdiskurs, der die kanonischen Schriften durchzieht, zu einem personalen Modell des Göttlichen an. Von daher lässt sich von einer narrativen Konfiguration des personalen Gottes als Glaubensvorstellung sprechen. Diese ist Resultat einer hermeneutischen Grundoperation, die sich einer spezifisch geleiteten und inszenierten Lektüre und Rezeption der Texte verdankt. Damit ist im Grunde aber 220 JÜNGEL, EBERHARD, Thesen zum Verhältnis von Existenz, Wesen und Eigenschaften Gottes, in: Ders., Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 253–273, 263. – Der Hinweis auf Jüngel ist auch deswegen triftig, weil er ganz analog zu Ebelings und meinen eigenen Ausführungen in § 8 die Realität Gottes, also die Behauptung seiner Existenz Gottes, an die religiöse Situation im Vollzug des Betens (vgl. a.a.O., 261–263), rückbindet. 221 Das bedeutet noch keine Festlegung, wie dieses personale Gottesmodell metaphysisch zu begreifen wäre. Hier bieten sich wiederum unterschiedliche Möglichkeiten an: dialogisch, klassisch theistisch, prozesstheologisch etc.: BARBOUR, Myth Models (Anm. 216), 158–170. 222 R ICŒUR, Gott nennen, in: Ders., Vom Text (Anm. 74), 170.
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schon der Übergang zur existentiellen Verortung der Interpretierenden gegeben. Denn die Konfiguration eines Gottesbildes zielt immer auf die aktive Aneignung durch diejenigen, die das so und so Interpretierte für sich übernehmen und damit sich selbst zugleich in einen Bezug dazu setzen. Anders gesagt, vollzieht sich hierdurch das wechselseitige Entdeckungsgeschehen personaler Identität, sowohl Gottes als auch des (der) Menschen. Dem ist nun genauer nachzugehen, und zwar sowohl mit Blick auf die stets evaluative Dimension, welche die Rekonstruktion von und existentielle Verortung in der Geschichte prägt, als auch hinsichtlich des Verhältnisses von personaler Identität zu ihrer narrativen Konfiguration von personaler Identität. Denn die Spannung, die sich aus der Interpretation von Figur und Funktion des Gottesnamens angesichts der Vielstimmigkeit seiner (Be-)Nennungen ergab, ist auch hier in Anschlag zu bringen. So, wie das geschichtlich Bezeugte nicht in dem in den Texten Bezeugten aufgeht und so, wie der Name Gottes als gemeinsamer Referenzpunkt aller Bestimmungen des Göttlichen dennoch eine abschließende Fixierung verhindert, so stehen auch narrative und personale Identität in einem Spannungsverhältnis. Ohne dieses würde Identität nicht mehr in ihrem ethischen Charakter verstanden werden, der aber schon die Geschichte als Ort ihrer Herausbildung kennzeichnet. Zunächst gilt es jedoch den Begriff der Konfiguration genauer zu spezifizieren. Auch er entstammt Paul Ricœurs erzähl- und texttheoretischen Arbeiten. Ricœur hat bekanntlich die Potentiale, welche die Aneignung erzählter Texte für die Selbstorientierung der menschlichen Existenz in ihrem praktischen Inder-Welt-Sein223 bietet, durch einen Dreischritt zu klären versucht: Prä-, Konund Refiguration.224 Damit knüpft dieser Weg in der Handlungswelt des Menschen an und führt letztlich über die Neuorientierung in diese zurück. Auf unser Thema übertragen verändert sich die handlungsleitende Sicht auf sich selbst und das Leben in dem Maße, wie das durch die biblischen Texte konfigurierte Bild eines in und mit den Menschen in der Welt geschichtlich handelnden Gottes Menschen neu orientiert. Genau im Übergang von der Kon- zur Refiguration im Akt des Lesens, des Hörens, des Überzeugt-Werdens aber wird nunmehr praktisch Identität neu gestiftet. Das geschieht jeweils in dem Sinne, daß sie [sc. die Repräsentations- und Vertretungsfunktion der Texte; C.P.] Züge ans Licht bringt, die zwar verborgen aber gleichwohl in unserer praktischen Erfahrung bereits angelegt sind; verwandelnd in dem Sinne, daß ein so durchleuchtetes Leben ein verändertes, ein anderes Leben ist.225
223 Die Betonung liegt von Anfang an auf dem praktischen, die Handlungswelt des Menschen betreffenden Aspekt. Denn schon der Schritt der Präfiguration der Texte geschieht vor dem Hintergrund ihres Vertraut-Seins durch und ihres Verankert-Seins in der symbolisch vermittelten Handlungswelt des Menschen. Vgl. die Ausführungen in § 9.3.4. 224 Vgl. zusammenfassend: FERBER, Der wirkliche Mensch (Anm. 139), 210–223. 225 R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 254.
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Die personale Identität, die sich durch die biblischen Texte konfiguriert, betrifft auf unterschiedliche Weise beide Seiten: den durch sie interpretierten Gott und das sich selbst darin mit interpretierende, auslegende humane Subjekt. Sie ist somit ein paradigmatischer Ausdruck der Wechselseitigkeit von Gottes- und (menschlicher) Selbsterfahrung bzw. -erkenntnis. In der narrativen Konfiguration wird somit das Wesentliche der Erfahrung so prägnant, dass die personale Identität der so Konfigurierten fassbar wird: deren Kennzeichen ist ihre Verankerung in einer sozialen Konstellation, die als wechselseitige Handlungsgegenwart praktisch vollzogen und verstanden wird. So gesehen lässt sich die Identitätskategorie nie im Singular verwenden. Die Rede vom personalen Gott würde also keinen Sinn machen, wo es keine anderen personalen Instanzen, etwa in Form von Menschen, gäbe.226 Zudem verweist ein solches Verständnis von Identität stets darauf, dass diese nur aus der sozialen Situation permanenter Praxis, d.h. im Kontext eines zeitlichen Geflechts von Handlungen begriffen werden kann: „Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber?“227 Von dieser Anlage aus wird zunächst klar, dass Identitätsbestimmungen auch dort, wo sie scheinbar strikt privat bzw. subjektiv erfolgen, sich stets im sozialen Raum von ‚Ich‘, ‚Wir‘ und ‚Welt‘ befinden.228 Und dies nicht erst deshalb, da diese in ihrer Artikulation auf sprachliche und andere symbolische Muster angewiesen sind, sondern mehr noch aufgrund ihres (impliziten) praktischen Charakters als einer Näher-Bestimmung ihres Initiators (Urhebers) als eines Handelnden. Weil eine Geschichte zu erzählen gleichsam die Antwort auf die Frage ist, wer einer ist, darum gibt die „erzählte Geschichte (…) das wer der Handlung an“229. Insofern bilden die in der Geschichte aufbewahrten bzw. konfigurierten Handlungen, deren Fassung stets über die Beschreibung der mit ihnen verknüpften Ereignisse hinausgeht, das Zentrum dieses Prozesses der Identifikation (von Personen). Ganz gleich, ob nun diese Identifikation an einem selbst oder an anderen vorgenommen wird: Der zarte Sprössling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann. »Identität« wird hier als eine Kategorie der Praxis aufgefasst.230
226 Dass dies nicht gegen trinitarische Explikationen eines personalen Gottesverständnisses spricht, versuche ich zu zeigen in: § 10.5.3. 227 R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 395. 228 Das gilt auch für Gott. Von ihm kann zumindest nicht in personaler Weise in Absehung von Welt, Ich und Wir gesprochen werden. 229 A.a.O.,395. 230 Ebd.
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So wenig es nicht interpretierte Handlungen gibt, so wenig ist die personale Identität eines Menschen (oder Gottes) ohne (Selbst-)Interpretation möglich. Dafür sorgt schon ihre narrative Konfiguration, die ohne symbolische Vermittlung nicht möglich ist. Die Bestimmung der narrativen Identität ist somit das Mittel um überhaupt der personalen Identität und damit der Realität des Personalen ansichtig zu werden. Die personale Identität wird mittels narrativ verdichteter Darstellungen präsent und prägnant. Erzählungen jedoch funktionieren nur, indem sie durch ihre Anordnungen und ihren Verlauf wertende Differenzen einziehen. Jede Story bzw. jeder Plot von Erzählungen vollzieht sich durch Strukturierungen, Normierungen und Evaluierungen von Ereignissen, Geschehnissen und Handlungen. Das gilt umso mehr, wenn im Zentrum Akteure und ihre Handlungen stehen, die sie und sich selbst für den Leser bzw. Hörer aussagekräftig machen wollen. Von hier aus erklärt sich, warum beides – der Vorgang der Identitätsbestimmung wie dessen konkretes (inhaltliches) Resultat – als Resultat einer Praxis unter evaluativen Gesichtspunkten erfolgt. Es ist diese Tatsache, die dazu berechtigt, Personen als für sich und für andere verantwortliche Wesen zu begreifen. Denn die Eigenart personaler Identität, wie sie als geschichtliche narrativ rekonstruiert wird, erweist sich als eine unvermeidlich werthaft besetzte; sie gibt es nicht abseits erfolgter Wertsetzung. Mittels der Identifizierung mit bestimmten Werten (nicht nur im ethischen Sinne) wird nämlich der Charakter des Handelnden besonders offenkundig: „In der Tat besteht die Identität einer Person, wie die einer Gemeinschaft, zum Großteil aus diesen Identifikationen mit Werten, Normen, Idealen, Vorbildern, Helden, in denen Person und Gemeinschaft sich wiederkennen. “231 Kulturelle Muster, ethische Ideale und eingespielte Gewohnheiten bieten so dem sich um Identitätsfindung bemühten Akteur die Möglichkeit, eigene und fremde Handlungsabläufe mit Blick auf seine oder andere Person(en) zu verstehen. Von einer Identität einer Person lässt sich erst dann sprechen, wenn sich in diesem narrativen Geflecht von Interpretationen Muster zeigen, die auf zeitliche Kontinuitäten und inhaltliche Kohärenzen schließen lassen. Solche Kontinuitäten, die Identitätsbestimmungen zulassen, wären ohne narrative Konfiguration gar nicht erfassbar. Nur durch deren Stetigkeit kann man das „durch seinen Namen bezeichnete Subjekt der Handlung ein ganzes Leben lang (…) für ein und dasselbe“232 halten. Nun scheint es so zu sein, als würde der ethische Charakter personaler Identität sich rein auf der narrativen Darstellungsebene halten. Dem ist aber nicht so. Schon diese Darstellung ist selbst Resultat einer aktiven, darin wertenden Rekonstruktion. Zudem zielt die narrative Konfiguration in diesem Kontext stets auf die Erfassung personaler Identität. Diese reicht schon dadurch über die 231 232
RICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 151. RICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 395.
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narrative hinaus, da sie fähig ist, aktiv in das Interpretationsgeschehen einzugreifen. Dies lässt sich nochmals im Rekurs auf die bereits erwähnte Unterscheidung von idem- und ipse-Aspekt der personalen Identität verdeutlichen, insofern damit keine Trennung oder Ineinssetzung der beiden Aspekte gemeint ist. Zwar lässt sich sagen, hierbei handele es sich um die Überlagerung des Wer? durch das Was?, die die Frage: Wer bin ich? in die Frage: Was bin ich? übergehen läßt. Diese Überlagerung des ipse durch das idem ist jedoch nicht solcherart, daß sie den Verzicht auf deren Unterscheidung forderte. Die Dialektik von Innovation und Sedimentierung, die dem Prozeß der Identifikation zugrunde liegt, erinnert daran, daß der Charakter eine Geschichte hat233.
So erweist sich der Prozess der Identitätsbestimmung in diesem Sinne als doppelt unabgeschlossen, weil jede Erzählung nicht nur weiter erzählt234, sondern immer auch anders erzählt werden kann. Aber vollends deutlich wird die ethische Bedeutung erst mit der Vergegenwärtigung des Faktors der Kontingenz, der die geschichtliche Realität wie ihre narrative Rekonstruktion gleichermaßen bestimmt. So sehr nämlich im Nachvollzug von Geschichte (und Geschichten) sich bemüht wird, „inmitten von Kontingenzen (…) unter Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet“235, so sehr bedeutet „Geschichte (…) zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß.“236 Kontingenz wird hier also bearbeitet, indem sie geordnet wird. Doch genau dazu bedarf es stets wertender Strukturierung. Die ganze Ambivalenz, das bleibend Prekäre jeder Identitätsbestimmung wird jedoch erst dann deutlich, wenn man den Schritt – wie bei unserem Thema nötig – über den Bereich literarischer Fiktionalität hinausgeht. Das Moment der existentiellen Verortung – bei Ricœur: der Vorgang der Refiguration – meint ja die Rückkehr in die durch die narrative Konfiguration re-orientierte Lebensals Handlungswelt. Hier nun wird man des „untrennbar mit der Narration verbundenen Anspruch[s] auf ethische Richtigkeit“237 vollends gewahr, worauf die Phänomene des Vertrauens und Versprechens ebenso verweisen, wie diejeni-
RICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 152. Zu Recht stellt Walter Benjamin daher fest: „In der Tat gibt es keine Erzählung, an der die Frage: Wie geht es weiter? ihr Recht verlöre“ (BENJAMIN, WALTER, Der Erzähler [1936], in: Ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 103– 128, 128). Damit ist die Absage an die Möglichkeit der Position eines absoluten auktorialen Erzählers verbunden, was festzuhalten mit Blick auf narrative Theologien nicht unwichtig erscheint. 235 R ICŒUR, Zeit und Erzählung I (Anm. 75), 108. 236 Ebd. 237 R ICŒUR, Zeit und Erzählung III (Anm. 112), 400. 233 234
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gen von Treue und Verrat. An ihnen wird gleichermaßen die Grenze der narrativen Identität offenkundig wie die Notwendigkeit, „die Verbindung (…) zu den nichtnarrativen Komponenten der Bildung des handelnden Subjekts [zu suchen]“238. Und erst damit ist die Ebene der personalen Identität als solche erreicht. Die Variabilität der Erzählung wird demnach durch die (ethische) Instabilität des von ihr zu Fassenden, der handelnden Person verschärft. In beidem zeigt sich, dass der Begriff der Identität nicht nur an die Fähigkeit zur narrativen Rekonstruktion und Interpretation von Handlungen gebunden ist, sondern mehr noch an den Faktor von (gestaltbarer) Kontingenz. An diesem Punkt angekommen können wir nunmehr in einem letzten Abschnitt in positiver Weise jenes Charakteristikum personaler Identität benennen, welches über die Darstellungsebene qua narrativer Rekonstruktion hinausgeht. Im Modus des stets ethisch, d.h. verantwortlich mit Blick auf die eigene Geschichte gegebenen Zeugnisses – im Modus des Versprechens, der Treue oder aber auch (in negativer Hinsicht) des Verrats – enthüllt sich, zeigt sich die Eigentümlichkeit der Person als immer noch über ihre eigene Geschichte hinausgehend und diese doch weiter (selbst mit) fortbestimmend.239 In diesem Sinne lässt sich das Entfaltete im Motiv der Verantwortung bündeln. Denn durch das wechselseitige Verantworten im Modus des Versprechens und der Treue zu sich selbst und zu anderen wird es möglich, dass man sich selbst und andere als personale Größen (an)erkennen kann. Allerdings gehört es zum biblischen Realismus, dass diese Verantwortung mit Blick auf den Menschen und sein Handeln in der Geschichte stets prekär und vor allem hochgradig ambivalent bleibt. Was unter dem Topos der ‚Sünde‘ interpretiert wird, meint im Grunde nichts Anderes als das unter dem negativen Vorzeichen von Verrat, Untreue, Missachtung etc. erfasste Scheitern personaler Beziehungen zwischen Gott und Mensch (Volk) und zwischen den Menschen untereinander. Aber noch das setzt die personale Eigenart von Gott und Mensch(en) voraus. Im Grunde gehen die biblischen Schriften aber noch weiter. Denn an vielen Stellen tritt neben der als Sünde gedeuteten Verfehlung personaler Beziehung und Anerkennung ein weiteres Moment der Negativität. Wenn angesichts kontrafaktischer Ereignisse um die Glaubwürdigkeit göttlichen Heilshandelns und Heilszeugnisses in der Geschichte gerungen wird, dann wird dadurch betont, dass noch die mit dem Namen JHWH Israel – und letztlich der ganzen Welt – verheißene Zusage endgültiger Rettung stets neu mit der geschichtlichen Ge-
238 Ebd. – Deswegen mag es zwar eine Ethik der Erzählung geben. Aber weder der ethische Charakter einer Person noch ihre Identität lässt sich abschließend durch eine Erzählung auf den Punkt bringen. Dies betont zu Recht, wenngleich ohne die einschlägigen Überlegungen Ricœurs zu berücksichtigen: THOMÄ, Erzähle Dich selbst (Anm. 3), 7–36.213–222.236–246. 239 Vgl. dazu in fundamentalanthropologischer Sicht: R ICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 147–155.
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genwart und ihren Realitäten verbunden werden muss. Selbst hier kann Kontingenz nur vorläufig interpretierend stabilisiert werden. Die Überzeugung vom geschichtlich weiterhin mitunter verborgen handelnden Gott wird so zum Ringen um dessen personale Identität (Treue) im Modus narrativ verdichteter Rekonstruktion (Heilsgegenwart); und dies bisweilen im Zustand der Anfechtung.
5. Die Entdeckung personaler Identität im Modus des Zeugnisses 5. Die Entdeckung personaler Identität im Modus des Zeugnisses
Unsere bisherigen Überlegungen ergaben, dass wir, wenn wir vom biblischen Schrifttum ausgehend dem Sinn der personalen Rede von Gott auf die Spur kommen wollen, stets an Texte verwiesen werden, die etwas konfigurieren, das uns gleichzeitig existentiell verortet und neu bestimmt. Und in und mit dieser Refiguration im Akt des Lesens und Hörens werden wir zugleich auf ein nie zu unterschlagendes ‚Außerhalb‘ der Texte verwiesen. Dieses zielt nicht nur auf den mit dem ‚history-like‘ (der biblischen Texte) verbundenen Anspruch, vergangene Ereignisse und Geschehen für die Gegenwart wahr- und glaubhaft zu überliefern. Mehr noch steht es für das Angebot, sich selbst im Angesicht dessen neu zu verstehen, der sich durch die Texte selbst zum Ausdruck bringt. Das aber heißt, Texte als Zeugnisse zu begreifen. Denn das „Spezifische des Zeugnisses besteht darin, daß die Wirklichkeitsbehauptung untrennbar an die Selbstdesignation des bezeugenden Subjekts gekoppelt ist.“240 Mit anderen Worten: Von der Feststellung, die biblischen Texte erlaubten es, so von Gott zu reden, dass wir uns selbst als seine personalen Gegenüber verstehen lernen, zu der Annahme der Personalität Gottes gelangt man nur über das Ernstnehmen des doppelten Zeugnischarakters dieser Texte: Zum einen nämlich bezeugen sie interpretierte Geschichte als wirklich geschehene, zum anderen bekunden sie dadurch zugleich den sich darin und dabei selbst Bezeugenden. Theologisch fußt darin die Bedeutung dessen, was traditionell unter ‚Offenbarung‘ gefasst wird, für das Verstehen von Personalität.241 Das Ergebnis vorwegnehmend lässt sich sagen: Offenbarung geschieht im Modus des (Selbst-)Zeugnisses als geschichtliche Bekundung von personaler Identität. Diese These beinhaltet eine Reihe von Implikationen. Ist nämlich das Zeugnis der Modus, in dem Personen ihre Identität bekunden, dann kann dies nicht im quasi luftleeren Raum geschehen. Andernfalls würde Identität nämlich ein Abstraktum bleiben. Von daher rührt die Bedeutung, die wir als handelnd voll-
240 R ICŒUR, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (Anm. 117), 250. – Zum Kontext dieser Behauptung siehe: a.a.O., 223–279 241 Auf diesem systematischen Zusammenhang fußt die Philosophie Jacobis, der bekanntlich am Beginn der neuzeitlichen Debatten um die Personalität Gottes wie der Menschen steht. Vgl. die Ausführungen in § 1.
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zogener und narrativ rekonstruierter der Geschichte zuerkannt haben. Sie bildet das Medium, in dem sich Personen (modal) bezeugen. Das ‚Wer‘ einer Person lässt sich nur über ihr ‚Was‘ bestimmen. Weil dem so ist, kann es keine direkte Erfassung von Personen geben. Sie erfolgt stets indirekt. Diesbezüglich ist Wolfhart Pannenberg uneingeschränkt Recht zu geben, wenn er gegenüber Karl Barth (und seinen Schülern) zu bedenken gegeben hat: Die Selbstoffenbarung Gottes hat sich nach den biblischen Zeugnissen nicht direkt, etwa in der Weise einer Theophanie, sondern indirekt, durch Gottes Geschichtstaten, vollzogen.242
Damit wird nicht nur behauptet, jedes Gottesverständnis entwickle und entfalte sich in dem Sinne geschichtlich, dass seine historische Dimension konstitutiv für die Bedeutung seines Gehalts ist und noch den Zugang zu ihm präge.243 Vielmehr wird bei aller Angewiesenheit auf Interpretation die Aufmerksamkeit auf das bleibend nicht in der Interpretation Aufgehende gelenkt, wie es selbst nur in und mittels der (historischen) Sinnrekonstruktion offenbar wird.244 Zwar wird im Bekenntnis zu Gottes Sein in seinen Heilstaten auf die Einheit von historischem Ereignis und religiöser Sinninterpretation rekurriert. Doch geschieht diese Bekundung stets aus der Retrospektive. Ganz analog zur historischen Rekonstruktion provoziert das geschichtliche Zeugnis immer neu seine Interpretation, weil diese zwar vom Zugleich von Ereignis und Sinn herkommt, aber es nie zu fassen bekommt, so dass eine „nie endende Vermittlung des Unmittelbaren“ notwendig wird, die freilich „vom Zeugnis selbst gefordert“245 wird.
242 PANNENBERG, W OLFHART, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung (1961), in: Ders. (Hg.) Offenbarung als Geschichte. In Verbindung mit Rolf Rendtorff, Ulrich Wilckens, Trutz Rendtorff, Zweite Auflage mit einem Nachwort, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, 91–114, 91. 243 Insofern korreliert einer geschichtstheologischen Gotteslehre eine geschichtliche Fassung des Glaubensbegriffs. Dazu immer noch lesenswert: TROELTSCH, ERNST, Art. Glaube und Geschichte, in: RGG1 2, 1910, 1447–1457. 244 Dieses bleibend nicht in der Interpretation Aufgehende, das ‚Außen‘ der Texte, kann auch nicht einmal durch eine Kreuzung verschiedener Interpretationen, gleichsam im ‚Konflikt der Interpretationen‘ (Ricœur), eingeholt werden. So sehr etwa historische Kritik, philologische Exegese und theologische Interpretation sich in der Schrifthermeneutik ergänzen müssen, so wenig würde noch eine Aufsummierung ihrer Resultate jenes ‚Außen‘ einholen können; welche allerdings auch gar nicht intendiert ist. Auch in dieser Grenzbestimmung kann man eine Funktion der Offenbarungskategorie sehen. 245 R ICŒUR, PAUL, Hermeneutik der Idee der Offenbarung (1977), in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214), 41–83, 78. – Ricœur bezieht sich hier auf Hegels Deutung des leeren Grabes (vgl. HEGEL, GEORG W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einer Einführung von Thomas Litt, Stuttgart: Reclam 1961, 530–532), anhand derer dieser die Dialektik von Erscheinen und Verschwinden und somit die vermittelte Unmittelbarkeit religiösen Sinns expliziert.
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Inwiefern aber hilft die Einsicht in den Zeugnischarakter der biblischen Texte, die Pointe personaler Rede von Gott, wie sie sich uns aus einem spezifischen Verstehen von Geschichte als Handlungsraum (Gottes und der Menschen) nahegelegt hat, nicht zu verfehlen? Dazu ist es hilfreich, sich das Zeugnis als Modus der Bekundung von Personalität näher anzusehen. Im Grunde geht es dabei ja nicht einfach um Zeugnisse im Sinne von Dokumenten oder Quellen. Vielmehr geht es um den Akt der Bezeugung, der Ereignissen innewohnt, die dann Spuren hinterlassen und zu (symbolischer, textlicher etc.) Interpretation Anlass geben. Zeugnis und Bezeugung sind somit nicht identisch, wohl miteinander verbunden. Mit dem Zeugnisbegriff sind wir – wir haben das bereits erwähnt – auf die Dialektik aus historischer Referenz und interpretativer Deutung verwiesen. In dreifacher Weise werden wir hier einer Spannung gewahr, die nur in indirekter Weise und stets vorläufig abgemildert werden kann.246 Erstens hat das Zeugnis eine empirische Seite, insofern der (anwesende oder abwesende) Zeuge etwas Geschehenes, das er mit eigenen Augen gesehen hat oder ihm aus zweiter Hand glaubhaft übermittelt wurde, so berichtet, dass weder die historische Faktizität des Geschehenen noch die Grundzüge seines Verlaufs in Abrede gestellt werden können. Damit verbunden ist zweitens die Urteilsstruktur jedes Zeugnisses. Darin fußt seine evaluative, ja juridische Bedeutung. So wenig das historische Geschehen durch das Zeugnis selbst ein für alle Mal ansicht gemacht werden kann, so notwendig fußt dessen Darstellung auf der Bewertung seines Verlaufs und seines Sinns. Schließlich gilt drittens: Das Zeugnis steht mit dem Zeugen selbst in einem unverbrüchlich existentiellen Zusammenhang. Denn der Zeuge bürgt mit seiner Person für die Glaubwürdigkeit des von ihm Bezeugten. So hängt die Wahrheit des letzteren auch an der Wahrhaftigkeit des ersteren, auch dann, wenn das Bezeugte nicht im (wahren) Zeugnis aufgeht. Im Akt der Bezeugung bzw. des Zeugnis-Gebens zeigt sich eine spezifische Verantwortungskonstellation, die den Zeugen an das Zeugnis wie an das Forum, welchem er Zeugnis abgibt, bindet. In den drei Aspekten empirischer Triftigkeit, evaluativer Prägnanz und existentieller Aufrichtigkeit wird zudem klar, worin sich ein Zeugnis von der reinen Erzählung, der (berichtende) Zeuge vom Erzähler unterscheidet. Denn der Zeuge ist jemand Anderes als
246 Zum Folgenden siehe: R ICŒUR, PAUL, Die Hermeneutik des Zeugnisses (1972), in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214), 7–40, v.a. 12–18. – Zur Relevanz der Zeugnismetapher und ihrer Zweideutigkeit bei Ricœur siehe die Ausführungen von: HOFFMANN, VERONIKA, Offenbarung denken? Paul Ricœurs Begriff des Zeugnisses, in: Stephan Orth/Peter Reifenberg (Hg.), Poetik des Glaubens. Paul Ricœur und die Theologie, Freiburg i.B./München: Alber 2009, 67–87. – Um des Ziels der Argumentation willen vereindeutige ich im Folgenden die Zeugniskategorie und betrachte sie ausschließlich als Korrelat einer Hermeneutik der Offenbarung.
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ein genauer, gar penibel genauer Erzähler. Er beschränkt sich nicht darauf zu bezeugen, dass…, sondern er legt Zeugnis ab, für … Durch diese Ausdrücke macht unsere Sprache deutlich, dass der Zeuge seine Unterstützung der Sache, die er verteidigt, mit dem öffentlichen Bekenntnis seiner Überzeugung (…) einem persönlichen Einsatz bekräftigt 247.
Aus diesem Grund bleibt der Zeuge unwiderruflich an sein Zeugnis gebunden, ist mit ihm zuinnerst verwoben und kann genau darum für es verantwortlich gemacht werden. Im Verantwortlich-Sein scheint auf, inwiefern das ZeugnisGeben-Können als ein elementarer Akt der Bekundung von Personalität gelten darf. Paradigmatisch ist hierfür der forensische Kontext, den auch die biblische Prophetie für sich verwendet. Mit Blick auf die Dimension des Verantwortlich-Seins lässt sich darüber hinaus die Eigenart personaler Verhältnisse und ihrer Gestaltung deutlicher fassen. Dabei fordern sich Treue zum Zeugnis auf der einen und Vertrauen gegenüber dem Zeugen bzw. dem Zeugnis auf der anderen Seite wechselseitig.248 Zugleich zeigt schon diese Beschreibung an, dass es sich hierbei stets um prekäre, jedenfalls nicht ein für alle Mal gewährleistete Verhältnisse handeln kann. Dies gilt auch für die weitere Differenzierung zwischen dem Zeugnis als solchem und dem aktiven Vorgang der Bezeugung.249 Der Unterschied lässt sich zunächst so fassen, dass das Zeugnis stets auf etwas Anderes bzw. jemand Anderen verweist bzw. nur durch diese Referenz überhaupt als Zeugnis greifbar wird, wohingegen im Akt der (Selbst-)Bezeugung stets ein reflexives Moment, die Arbeit an der eigenen Identität zum Tragen kommt. So „daß der Akt des Bezeugens nicht nur ein Zeugnis geben von etwas anderwärts Erfahrenem oder Erlebten ist, kein bloßes Versichern da, wo nichts zu begründen und zu beweisen ist, sondern ein Akt der ausdrücklichen Repräsentanz des Wirklichkeitsraumes“250, was bedeutet, dass der, der bezeugt, „sich gerade nicht außerhalb dieses Raumes stellt, um sich von da aus mit anderen über ihn zu verständigen, Feststellungen zu treffen oder Behauptungen aufzustellen, sondern in ihm eingebunden bleibt und aus solcher Einbindung heraus redet“251. Mittels der Praxis des Bezeugens stehen RICŒUR, Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214),16f. Selbstredend gilt dies auch in negativer Weise, d.h. mit Blick auf die Korrelation zwischen Verrat und Misstrauen. 249 Zur Unterscheidung im Anschluss an Ricœur: G REISCH, JEAN, Testimony and Attestation, in: Richard Keaney (Hg.) Paul Ricœur: The Hermeneutics of Action, London/Thousand Oaks/New Delhi: SAGE 1996, 81–89. 250 FISCHER, JOHANNNES, Behaupten oder Bezeugen? Zum Modus des Wahrheitsanspruchs christlicher Rede von Gott, in: ZThK 87 (1990), 224–244, 238. 251 Ebd. Auch von daher betont Fischer, dass „die ganze Überzeugungskraft christlichen Redens und Tuns in solcher impliziten und expliziten Repräsentanz [liegt], im Feiern des Gottesdienstes, in Gebet und Fürbitte, in Helfen, Heilen und Segnen – und eben, wo es um Wahrheit geht, im ausdrücklichen Bezeugen“ (ebd.). – Dabei ist wichtig, dass mit dem anderen Modus der Wahrheitsbezeugung gegenüber der strikt propositionalen Wahrheitsbehauptung keineswegs der Wahrheitsanspruch in kognitiver oder normativer Hinsicht zugunsten 247 248
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Menschen (und Gott) somit für ihre Identität ein, was bedeutet, die prekäre Selbstständigkeit als (personales) Selbst sich selbst und anderen handelnd zu vergegenwärtigen. Die Frage, wer jemand ist, mag sich an als Zeugnissen gewerteten sachlichen Aspekten entzünden. Aber beantworten lässt sie sich nur durch ihre Bewährung im Akt der Selbst- oder Fremd-Bezeugung. Das ist deswegen so, da Identität kein a priori stabilisiertes Phänomen darstellt. Vielmehr lässt sie sich als das Resultat einer praktischen Aufgabe, nämlich der Kontinuitätsstiftung durch und im Medium historischer, d.h. wesentlich biographischer und sozialer Kontingenzen, verstehen. Im spezifischen Fall der Selbstbezeugung kommt hinzu, dass sie besonders emphatisch auf die dabei vorausgesetzte Fähigkeit zur Selbstbindung (als Selbstverpflichtung) im öffentlichen Raum aufmerksam macht: Selbstbezeugung (…) vollzieht sich so, dass ich mich durch das Vertrauen der Anderen auf meine Wahrhaftigkeit zu der Selbst-Ständigkeit von Handlungen oder Verhaltensweisen aufgerufen fühle, durch die ich im vollen Bewusstsein ihrer Erwartungen verspreche, was immer ich tun und wie immer ich mich verhalten werde, immer derjenige zu sein, der dieses Versprechen einlösen wird, und diese Selbst-Ständigkeit so erlebe, dass ich vermittels ihrer performativen Bindung meiner Person die Willkürlichkeit und Kontingenz meiner zukünftig möglichen Irrungen und Wirrungen auf die Gewissheit hin überschreite, wer ich ›im Innersten‹ oder ›in Wahrheit‹ bin252.
Die Eigenart personaler Realitäten setzt somit den geschichtlichen Rahmen als Medium ihrer Selbst- und Fremdgestaltung voraus, weil dieser den Stoff bildet, der es Handelnden erlaubt, ihre irreduzible Personalität als sozial vermittelte Individualität ausbilden zu können. Der Modus der Bezeugung nimmt dabei jene beiden Momente in Anspruch, auf deren wechselseitiger Spannung der Prozess der Ausbildung von personalen Identitäten beruht: die gewachsenen, entweder habitualisierten oder symbolisch sedimentierten Kontinuitätsmuster und die Fähigkeit zur kreativen Neugestaltung, die im Handelnden selbst begründet liegt. Die Spannung zwischen Kontinuität und Kreativität – beides im Übrigen Weisen der Kontingenzbearbeitung – zeigt sich schon auf der Ebene rein expressiver Authentizität aufgegeben ist. Anders als etwa im Gefolge der von Jürgen Habermas prominent vertretenen Unterscheidung von Geltungs- in Wahrheits-, Richtigkeitsund Wahrhaftigkeitsansprüchen (vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 41987, v.a. 410–451), gilt für das religiöse Bezeugen, dass es wesentlicher Bestandteil einer kommunikativen Religionspraxis von handelnden Subjekten ist, „die darin in bestimmten Situationen und Kontexten unter Verwendung bestimmter Textsorten und Medien etwas, für das sie einen Wahrheitsanspruch erheben, zu verstehen geben, sich dabei selbst verständlich zu machen und sich miteinander zu verständigen suchen“ (ARENS, EDMUND, Gottesverständigung. Eine kommunikative Religionstheologie, Freiburg i.B./Basel/Wien: Herder 2007, 219). 252 SCHLETTE, M AGNUS, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt/M./New York: Campus 2013, 406.
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der narrativen Identität, da diese ebenfalls als „beide Enden der Kette (…) die Beständigkeit in der Zeit des Charakters und diejenige der Selbst-Ständigkeit“253 zusammenhält. Mehr noch aber wird dieses durchaus konfliktuöse, jedenfalls prekär-stabile Geschehen dort virulent, wo im strengen Sinne von personaler Identität, d.h. von der Realität personaler Instanzen gesprochen werden kann. Denn letztere zeichnen sich dadurch aus, dass ihre ‚Selbst-Ständigkeit‘ als eine reflexive gefasst ist, weil sie sich auf die gewachsenen Muster ebenso beziehen wie diese fortsetzen oder durchbrechen können. Darin wurzelt ihre Verantwortlichkeit, die für die Person bedeutet, sich so zu verhalten, daß der Andere auf sie zählen kann. Weil jemand auf mich zählt, bin ich einem Anderen über meine Handlungen Rechenschaft schuldig (…) Der Begriff Verantwortung vereinigt beide Bedeutungen auf sich: ‚auf jemanden zählen…, Rechenschaft schuldig sein für…‘254 .
Diesem spannungsvollen Wechselspiel aus gewachsenen Kontinuitäten und kreativen Eigenständigkeiten kann man nicht entkommen, wenn es um die Erfassung von personalen Realitäten geht. Andernfalls würde man entweder deren Spezifikum verlieren, nämlich die Kontinuitätsstiftung im Modus der Bezeugung, oder aber man würde diese zur hohlen Phrase werden lassen, da die Bezeugung immer etwas voraussetzt, an das sie anknüpft, dass sich in der Zeit durchhält und symbolisch rekonstruieren lässt. Auf diese Weise wird noch einmal deutlich, warum die personale Identität nicht ohne narrative Identität zu denken ist, ohne dabei in letzterer aufzugehen.255 Damit lässt sich abschließend die Besonderheit anzeigen, die für die personale Rede von Gott im Modus des Zeugnisses gilt. Sie besteht aus einer spezifischen Konstellation von geschichtlichem Zeugnis und personaler Bezeugung, wie sie als vertrauenswürdig (im Glauben) anerkannt wird. Mit Blick auf das Problem von Offenbarung in der Geschichte ist das Phänomen des Zeugnisses deshalb von Belang, weil in ihm die Momente der indirekten Bekundung in Form von Vermitteltheit, der historischen Kontingenz und des existentiellen Involviert-Seins in ihrem Zusammenspiel offenkundig werden. Denn es gibt „überhaupt keinen Zeugen des Absoluten, der nicht Zeuge historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinns, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre.“256 Worauf es dabei ankommt, lässt sich auch so sagen: Zwar scheint es im Vergleich zum Menschen ungemein schwieriger, von Gott personal zu reden, da die Bekundung der Personalität hier einer gesteigerten und darin strittigeren Vermittlung bedarf und in ihrer Deutung somit höchst angreifbar bleibt; RICŒUR, Das Selbst (Anm. 79), 203. A.a.O., 202f. 255 Zum wiederkehrenden Motiv des Prekären in der Frage nach der personalen Selbstbezeugung, siehe: LIEBSCH, BURKHARD, Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte WerFrage im Horizont der Moderne, Weilerswirst: Velbrück 2012. 256 R ICŒUR, Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214), 21. 253 254
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umgekehrt können dadurch aber noch deutlicher die Züge personaler Realität (als solche) begriffen werden. Die Differenz zwischen göttlicher und humaner Personalität liegt nicht darin, dass sie unterschiedlichen Kriterien unterliegen würde. Weder hinsichtlich des Rahmens ihrer Realisierung, d.h. im Medium der Geschichte, noch in der Art und Weise, wie sie im Modus der (Selbst-)Bezeugung zum Ausdruck kommen, unterscheiden sie sich. Was hingegen differiert, ist die Tatsache, dass von Gott ausschließlich auf doppelt indirekte Weise personal gesprochen werden kann. Seine (Selbst-)Bezeugung vermittelt sich über Zeugnisse und Zeugen, die auf ihn verweisen, ohne ihn dabei ‚leibhaftig‘ dingfest machen zu können257. Das hat Folgen für die Weise, wie die sinnhafte Rekonstruktion von Geschichte als Ort der Offenbarung Gottes begriffen werden muss. Die Verschränkung von Historie und Sinn, wie sie narrativ dargestellt und als Zeugnis gewertet bekannt wird258, führt nur durch einen mehrstufigen Interpretationsakt zu dem, von dem sie redet und den sie bezeugt. Denn was „wir in einem Zeugnis erkennen können – nicht im Sinn der Erzählung des Zeugen, sondern eines Werkes, das bezeugt –, ist, dass es der Ausdruck der Freiheit ist“259. Texte, Erzählungen als Zeugnisse gewertet, verweisen somit nicht nur auf den, der mit ihnen als Zeuge fungiert und auf den oder das, wovon er/sie glaubwürdig berichten will, sondern sie weisen darüber hinaus auf die Qualität der darin bekundeten Realität hin: diejenige einer freien Initiative. Durch diese doppelt indirekte Referenz, wie sie sich nur inmitten kontingenter Geschehnisse vollziehen kann, wächst natürlich auch das Prekäre ihrer Interpretationstriftigkeit. Der Kontingenz der Ereignisse und der Kontingenz ihrer sinnhaften Rekonstruktionen entspricht die Kontingenz ihres Wahrheitsanspruchs wie ihres Wahrheitsgehaltes. Anders gewendet: Auch wenn sich die Fakten nur indirekt als Ausdruck einer handelnden Realität interpretieren, d.h. bewerten lassen, so kann diese doch nie unabhängig davon verstanden werden. Darin zeigt sich die Besonderheit des Zeugnisses, welches nie ohne den Akt der Zustimmung oder Verweigerung zu denken ist. Andernfalls verlöre es seine doppelte Verweisungsfunktion: nämlich von sich weg auf den, von dem es zeugt, und zu denen 257 Insofern ist das immer wieder in der Theoriegeschichte in Anschlag gebrachte Kriterium der endlichen Leiblichkeit als sekundäres, genauer gesagt: als spezifisch humanes Kriterium von Personalität zu verstehen. Davon zu unterscheiden ist die Tatsache, dass Personen stets nur im Plural und als soziale Größen gedacht werden können. Dies gilt auch für Gott. – Worauf ich nicht weiter eingehen kann, ist die gesonderte Frage, ob nicht auch Gott einen Körper hat, der freilich extensiver als alle endlichen Körper sein muss. Dies ist jedenfalls sowohl in der neueren Philosophiegeschichte (z.B. bei Georg Simmel oder in der Prozesstheologie) erwogen worden, wie sich eine bis in die Antike hineinreichende (christliche) Tradition dafür angeben ließe. Siehe erneut Anm. 11 in diesem Paragraphen. – Jedenfalls gilt die „doppelt indirekte Weise“ der Erfassung von Personalität mitunter auch für Menschen, aber in exklusiver Hinsicht eben für Gott. 258 Auch Narrationen können, müssen aber nicht als Zeugnisse verstanden werden. 259 R ICŒUR, Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214), 39.
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hin, für die es Zeugnis sein will. Die besondere religionskritische Pointe, die sich daran anschließt, dass der Verdacht bleibt, Gott sei (personal) konstruiert, muss bestehen bleiben, weil es eben keine Tatsache gibt, die von ihrer Idee abgetrennt werden könnte, die ihr ihren Sinn gibt, und einen Sinn, der das Ereignis selbst übersteigt (…) In der Begrifflichkeit des Urteils bleibt die Interpretation eines Zeugnisses eine wahrscheinliche; aber als eine solche erscheint sie nur, wenn man sie mit einem Ideal der Wissenschaftlichkeit vergleicht, das lediglich über einen einzigen Bereich (…) herrscht, nämlich über die Objekterkenntnis.260
Egal, wie man nun die Struktur der Objekterkenntnis spezifiziert, die Eigenart des Personalen erweist sich in ihrer spezifischen Differenz zu ersterer. Diese liegt gerade in der Kontingenz ihrer Gewissheit und in der Wahrscheinlichkeit des (darin implizierten) Urteils. Dies kann gar nicht anders sein, wenn – wie hier in diesem Kapitel vertreten – die Geschichte als Ort der Darstellung von Personalität fungiert. Denn beides gilt „auch für die historische Interpretation der Zeugnisse; die Art von Tribunal, vor dem die Zeugen erscheinen und die Art von Prozess, für den die Zeugnisse Beweismaterial bilden, fallen unter dieselben Kategorien der Modalität des Urteils wie die Kriteriologie des Göttlichen“261, deren Resultat die Vorstellung von der Personalität Gottes ist. Wie der Zeuge nicht von seinem Zeugnis getrennt werden kann, sondern darin in Verantwortung steht, weil er für es bürgt oder aber seine Glaubwürdigkeit verliert, so gilt Analoges für den, der von sich selbst oder für einen anderen direkt oder indirekt Zeugnis abgibt. Darin kommt die identitätsstiftende Funktion der (Selbst-)Bezeugung wie des Zeugnisses zum Vorschein, die sich natürlich auch in negativer Form der Zeugnisverweigerung oder eines ‚Zeugnisses gegen… jemand oder etwas‘ bekunden kann. Beides aber verweist auf ein Freiheitszentrum, auf eine konkrete Handlungsmacht, die sich im geschichtlichen Zeugnis (selbst) bekundet oder zur Darstellung gebracht wird. Ihre Anerkennung ist selbst wiederum kontingent, basiert sie doch letztlich auf dem ebenfalls freien Akt der Annahme des Zeugnisses. Anders gewendet: In diesem Sinne lassen sich auch Gott und Mensch nur wechselseitig als personal begreifen, und zwar in der Form des Glaubens. Hier wäre der Ort, an dem christologisch weitergedacht werden kann, liegt doch eine Funktion der Christologie genau darin, Gott und Mensch in ihrem Zusammen- und Miteinander-Sein zu bedenken. So ließe sich in Aufnahme einer berühmten Figur Karl Barths aus der Versöhnlungslehre seiner KD von Jesus Christus als dem „wahrhaftigen Zeugen“262 sprechen. Für den christlichen A.a.O., 37. Ebd. 262 Unter diesem Titel stehen die Ausführungen Barths zum prophetischen Amt in: B ARTH, KARL, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3: Die Lehre von der Versöhnung, § 69 (Studienausgabe, Bd. 27), Zürich-Zollikon: Theologischer Verlag (1959) 1989. Vgl. hierzu die Einleitung in: a.a.O., 1–40. – Nicht zufällig bildet die erste These der Barmer Theologischen 260 261
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Glauben intensiviert sich das Verständnis der Personalität Gottes dadurch, dass er die Lebensgeschichte (!) der Person Jesu von Nazareth als unüberholbar einmaliges wie freies „Zusammensein von Gott und Mensch“ (Ebeling) interpretiert. Jesus ist darin der Christus, weil er den Menschen Gott bezeugt, so wie er umgekehrt vor Gott zum Zeugen des wahren Menschseins wird. Der Modus dieses doppelten Zeugnisses liegt dann aber in der Wahrung genau jener Verantwortung, die sein wahres Sohnsein ausmacht und die sowohl in seinem „auf Gott als seinen Vater wahrhaft zählen“ als auch in seinem „für Gott und für die Menschen vor Gott und den Menschen Rechenschaft abgeben“ liegt. Genau darin offenbart sich das personale Geheimnis des „Zusammenseins von Gott und Mensch“, wie es schon die altkirchliche Christologie mit ihren denkerischen Mitteln zu Sprache bringen wollte. Gegenüber der bei Barth vorherrschenden offenbarungstheologischen Christozentrik ist allerdings Vorsicht geboten. Als personal erweist sich Gott stets am Ort der Geschichte, und zwar nicht nur im singulären Akt der Person Jesu Christi. Dafür spricht schon, dass in der Verkündigung des historischen Jesus der Vatername selbst eine bedeutende Rolle gespielt hat, obwohl hier von einem Glauben an Christus noch keine Rede sein kann. Stimmiger erscheint es von daher, die Art und Weise, in der Jesus für Gott als Zeuge gebürgt hat, als seine christologische Auszeichnung zu begreifen. In diesem Sinne gilt es spätestens im Lichte des Osterglaubens, von einer „Selbstbezeugung“263 Jesu Christi zu sprechen. – Auch bei Barth kommt dem Begriff des Zeugen im Übrigen eine aletheische und damit (implizit) eine verantwortungsethische Funktion zu. Nicht umsonst ist das harmatiologische Korrelat zum „wahrhaftigen Zeugen“ der sündige Mensch als Lügner (bzw. im Grunde auch der Verräter).264 – Auf interessante Weise hat auch H. Richard Niebuhr in einem Anhang seiner posthum erschienenen ethischen Studie The Responsible Self unter dezidiertem Rückgriff auf Cassirer von Jesus Christus als ‚symbolischer Form‘ gesprochen.
Erklärung auch die Leitthese dieses Paragraphen; und wiederum nicht zufällig wird die offenbarungstheologische Frage nach den „anderen Lichtern“ Gottes in der Welt ebenfalls in diesem Paragraphen verhandelt. Das Selbstzeugnis Jesu wird so gestuft vermittelt über andere Medien der Bezeugung, zunächst der Schrift und der kirchlichen Verkündigung, dann – immer an diesen orientiert – schließlich sogar in anderer Form außerhalb der Kirche und in den Gesetzmäßigkeiten von Natur und Geschichte. Vgl. a.a.O., 126–171. Überhaupt sollte man die Rolle der Zeugnisfigur für die Theologie Barths nicht unterschätzen. Immerhin wird durch sie die Offenbarungskategorie bei Barth maßgeblich bestimmt. Das ließe sich schon für die Ausführungen von KD I/1 und nicht minder für die Gotteslehre in KD II/1+2 zeigen. 263 B ARTH, K ARL, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/1: Die Lehre von der Versöhnung, §§ 57–59 (Studienausgabe, Bd. 21), Zürich-Zollikon: Theologischer Verlag (1953) 1986, § 59, 390. 264 Vgl. B ARTH, K ARL, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3: Die Lehre von der Versöhnung, §§ 70–71 (Studienausgabe, Bd. 28), Zürich: Theologischer Verlag (1959), 1989, § 70, 425–551, v.a. 499–531.
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In ihm intensiviert sich nochmals auf eindrückliche Weise das personale Moment der Verantwortlichkeit in ethischer und soteriologischer Perspektive: Jesus Christ is a symbolic form with the aid of which men tell each other what life and death, God and man, are like (…) As with the apprehension, understanding, and evaluation of the fellow man so it is with the apprehension or the understanding of God (…) to which the self responds. Jesus Christ is the symbolic figure without which the Christians can no longer imagine, or know, or believe in the Determiner of Destiny.265
In dieser Figur, die als Person für Gott steht, wird somit das personale Verständnis Gottes nochmals vertieft und die personale Eigenart des Menschen wie Gottes als ‚verantwortliche Selbste‘, wie wir im folgenden Paragraphen genauer zeigen werden, auf einmalige Weise prägnant. Zugleich kommt hier das personale Moment von Freiheit besonders deutlich zum Vorschein. Auch die ebenfalls als Zeugnisse verstandenen, d.h. gelesenen und gewerteten (biblischen) Texte bürgen durch ihre Funktion als Zeugnis für eine geschichtlich identifizierbare Realität, die sich als Freiheit bzw. Handlungsmacht bekundet. Sie tun dies, indem sie „die Dimension der historischen Kontingenz ein[führen], die derjenigen der Welt des Texts fehlt, die absichtlich unhistorisch oder transhistorisch ist.“266 Historische Kontingenz und kreative Gestaltbarkeit
265 N IEBUHR, H. R ICHARD, The Responsible Self. An Essay in Christian Moral Philosophy (1963). Introduction by James M. Gustafson. Foreword by William Schweiker (Library of Theologica Ethics), Louisville (KT): Westminster John Knox Press 1999, Appendix A: Metaphors and Morals, 154f. – Im zweiten Appendix (B) wird dann das Verhältnis von „Christ and Responsibility“ genauer beleuchtet: a.a.O., 161–178. Niebuhr zieht in diesem Buch, die bei ihm schon vorher deutliche geschichtstheologische Rahmung seiner Theologie auf das Gebiet des Ethischen aus, ohne dabei die theologische Grunddimension aus den Augen zu verlieren. Dabei ist er zugleich jedem Christozentrismus (vgl. seine Barth-Kritik, a.a.O., 158) abhold. Zu Niebuhrs Verständnis der Verantwortlichkeit als Kern personaler Realitäten, siehe auch meine Ausführungen in § 10.4.3 und § 10.5.3 – In der Cassirer-Literatur kommt, ohne Niebuhr zu nennen, Michael Bongardt ebenfalls zum Vorschlag, das Christusereignis als ‚symbolische Formung‘ der christlichen Religionstradition, gleichsam als deren Reihenregel, zu begreifen, vgl.: BONGARDT, MICHAEL, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg: Pustet 2000, v.a. 97– 113. – Die wenigen Überlegungen, die ich hier zur christologischen Anschlussfähigkeit meiner Ausführungen geben konnte, haben lediglich die Funktion, der These entgegen zu treten, hier würde die Bedeutung der Christologie für das Verständnis der Personalität Gottes unterschlagen. Sie wäre vielmehr eigens weiter auszuführen, bestünde allerdings vornehmlich in einer Intensivierung und Fokussierung, weniger in einer gänzlich neuen Ausformung. 266 R ICŒUR, Idee der Offenbarung, in: Ders., An den Grenzen (Anm. 214), 75. – Auch wenn für Ricœur nicht immer die historische Dimension des religiösen Offenbarungsgedankens im Vordergrund stand, so hat er doch stets – anders als in seinem poetischen Offenbarungskonzept (vgl. bspw. die Kritik von: HOFFMANN, VERONIKA, Offenbarung denken?, in: Poetik des Glaubens [Anm. 246], 73f). – an ihrer Bedeutung festgehalten. Vgl. z.B. RICŒUR, PAUL, D`un Testament à l`autre, in: Ders., Lecture 3: Aux frontières de la philosophie, Paris: Édition du Seuil 1992, 353–366, 362: „l’assertion christiologique que c’est à l’homme Jésus
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(Freiheit) fügen sich so ineinander. Damit kommt in der Freiheit zur Zukunft und deren Gestaltung zum Vorschein, dass „Person (…) das Gegenteil eines vorhandenen Wesens“ ist; dass Gott und „Menschen (…) gerade darin Personen sind, daß sie in ihrer Wirklichkeit für uns nicht ganz und gar vorhanden sind, sondern durch Freiheit ausgezeichnet (…) im Ganzen ihres Daseins (…) unverfügbar bleiben.“267 Ohne Fähigkeit zum Handeln keine Geschichte (als Historie) und ohne darin stattfindende Akte der (Selbst-)Bezeugung von Handlungsmacht keine Identifizierung von personalen Realitäten als sich (selbst) geschichtlich handelnd kontinuierenden Instanzen. *** Von hier aus lassen sich die Ausführungen dieses und des vorangegangenen Paragraphen zum Gebet und zur symbolisch rekonstruierten Geschichte nochmals bündeln und ins Verhältnis setzen. Schon bei der Analyse des Gebetsaktes, in dem auf emphatische Weise der Sinn personaler Rede von Gott zur Sprache kam, wurde letztlich auf ein geschichtliches Verständnis Gottes rekurriert. Bereits in ihm traten deutlich die Momente der (historischen) Kontingenz, der (sozialen) Inter-Aktion und der (zeitlichen) Unverfügbarkeit hervor. Diese sind sämtlich entscheidend, um zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn von der Personalität Gottes (und des Menschen) gesprochen wird.268 Einerseits wird erst durch den als Geschichte rekonstruierten Rahmen überhaupt prägnant, was man als personale Handlungsinstanzen bezeichnen kann; andererseits ist es gerade die rituelle Ausdruckshandlung des Betens, die von der Realität des als so und so identifizierten Göttlichen im Leben des Vollziehenden zeugt und dafür bürgt. Darum konkretisiert sich die geschichtliche Identität Gottes im Akt des Betens ebenso wie sie sich darüber hinaus auch in der Gegenwart, also wiederum geschichtlich, bewähren (lassen) muss. Die Verschränkung von Geschichte und Gebet kommt nirgendwo deutlicher zum Vorschein als im Phänomen des Namens. Wie wir weiter oben bereits sahen, fungiert der Name Gottes (JHWH) schon in den biblischen Schriften – ansetzendend mit Ex 3,14 – sowohl als ‚Kurzerzählung‘ als auch als Anredeform. Stellen die verschiedenen Weisen des Betens in den Formen von Bitte, Klage, (Sünden-)Bekenntnis, Lob und Dank im Grunde qualitative Bewertungen der que Dieu s’est identifié lui-même afin d’effectuer historiquement l’auto-explication métaphorique et dialectique qui Dieu est en lui-même“. 267 PANNENBERG, W OLFHART, Reden von Gott angesichts atheistischer Kritik (1969), in: Ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, 29–47, 43. 268 Vgl. hierzu auch: PANNENBERG, WOLFHART, Die Frage nach Gott (1965), in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, Gesammelte Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, 361–386, v.a. 381–384.
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(eigenen) Situation in der Welt dar, so machen diese jedoch nur vor dem Hintergrund eines geschichtlichen Rahmens Sinn, der selbst schon ein hinreichend qualifiziertes Gottesbild aufweist bzw. freigibt. Beten und Erzählen verschränken sich hier erneut und bilden den Teil einer andauernden Rekonstruktion von Geschichte und der Darstellung ihrer personalen Akteure. Die Geschichte Gottes, die Geschichte der Glaubensgemeinschaft und der Menschheit als ganzer wie die eigene Biographie kommen im Gebet ebenso zum Ausdruck und zur Darstellung, wie dieses durch sie seinen eigentlichen Sinn erhält: Der „Gottesbegriff“ des Beters füllt sich nicht dadurch mit Inhalt, daß dieser eine metaphysische Definition benutzt; vielmehr geschieht dies im Vollzug jener Sprachhandlung, in welcher die Namensanrufung sich zur Stiftung einer gemeinsamen Geschichte entfaltet.269
Diese Verschränkung von Geschichte und Gebet, die religionsgeschichtlich für die Ausbildung der jüdischen wie der christlichen Glaubensidentität maßgeblich gewesen sein dürfte270, bildet letztlich die Basis für die religiöse Rede sowohl von der Personalität Gottes als auch von der Personalität des Menschen. Beide, Gott wie Mensch, erhalten dadurch ihre spezifische Identität, dass sie in einen gemeinsamen (sozialen) Zusammenhang, in ein geschichtliches Kontinuum, gestellt werden, das sie selbst je auf ihre Weise mitgestalten. Beten und Erzählen gestalten somit Zeit als Geschichte und lassen dadurch die Realität unter personalen Gesichtspunkten prägnant erscheinen: Im Akt des Erzählens verknüpft der Beter die Geschichte seiner eigenen Taten und Leiden und die Geschichte der göttlichen Großtaten an den Vätern und in seinem eigenen Leben zu einer umfassenden, gemeinsamen Geschichte. Erst dadurch aber gewinnt er vor dem Gott, zu dem er spricht, seine eigene historische Identität, gewinnt die Welt als derjenige geordnete Gesamtzusammenhang, in dem alle Erzählinhalte ihre Stelle finden müssen, ihre spezifische historische Kohärenz.271
Nicht nur das individuelle Gebet, mehr noch die gottesdienstliche Liturgie mit ihren Elementen der Verkündigung und des Bekenntnisses stellen im Grunde nichts Anderes als praktizierte Geschichtstheologie dar. Sie bemühen sich, kontingenzsensibel, die jeweilige Lebensgegenwart der Anwesenden in jenes biblische Geschichtskontinuum zu stellen, dessen identitätsstiftende Wirkung sich aber je neu individuell und kollektiv erschließen muss. In diesem Sinne bleibt 269 SCHAEFFLER, R ICHARD, Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln/Trier: Johannes 1988, 68. 270 Schon auf der Ebene der kanonischen Literatur lässt sich dieser identitätsstiftende hermeneutische Konnex aufweisen. Rudimentär bereits im sog. Mirjam- und Meerlied in Ex 15,2, exemplarisch dann in den Geschichtspsalmen (Ps 78.105.106.118.135.136) und hoch elaboriert im Formular der Bußtagsliturgie in Neh 9. Dazu siehe jetzt die Untersuchung von: KLEIN, ANJA, Geschichte und Gebet. Die Rezeption der biblischen Geschichte in den Psalmen des Alten Testaments (FAT 94), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, bes. 357–391. – Analoges ließe sich für das Neue Testament nachweisen. 271 SCHAEFFLER, Kleine Sprachlehre (Anm. 266), 65.
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§ 9 Geschichte: Erzählung und Zeugnis
nicht nur die personale Identität der Glaubenden als narrativ und rituell konstituierte prekär, sondern auch diejenige Gottes als des in der Geschichte handelnd Erfahrenen und Bezeugten. Das kann auch nicht anders sein, wenn man sich daran erinnert, dass die personale Identität nie ohne das Moment der Freiheit als Fähigkeit zur Kontingenzgestaltung dank Eigeninitiative bestimmt werden kann. Auch Beten, Erzählen, Bezeugen und Bekennen sind Ausdruck dieser Eigenschaft der Kontingenzgestaltung durch Kohärenzstiftung, die jedoch unverfügbar und deswegen revisibel bleiben muss; weswegen die handelnd erfahrene Realität nicht in ihren artikulierten und symbolisierten Interpretationen aufgeht. In der Realität des Personalen bekundet sich so auf besonders eindrückliche Weise ein grundlegender Zug von Realität: ihre Kontingenz als Zugleich von radikaler Entzogenheit und Unverfügbarkeit auf der einen und prinzipieller Gestaltungsoffenheit auf der anderen Seite. Unsere Überlegungen standen bislang im Zeichen einer Hermeneutik, der es um die „Wiederherstellung“ oder „Sammlung des Sinns“272 geht. Das macht ihren weitgehend konstruktiven, aber keineswegs unkritischen Ton aus. Durch sie haben wir die Vorstellung von der Personalität Gottes als Resultat einer spezifischen, religiösen Lebensform verstanden. Diese gestaltet sich maßgeblich durch die rituelle Ausdruckshandlung des Betens und die dabei stets schon in Anspruch genommene, über sie hinausreichende narrative Rekonstruktion der Geschichte als Rahmen, mittels dessen die göttliche und menschliche Realität in ihrer personalen Qualität erfahren und symbolisch zur Darstellung kommen kann. Doch wäre die systematisch-theologische Aufgabe unterbestimmt, würde man es bei diesem Vorgehen belassen. Denn was immer sonst noch zur Debatte steht, jedenfalls bleibt die Frage akut, wie sich das in diesen religiösen Vollzügen aufbauende Verständnis von Realität eigentlich zu anderen Perspektiven auf die Wirklichkeit, in der wir leben, verhält. Davon hängt nicht zuletzt ab, ob man die vielfach unterstellte Inkommensurabilität verschiedener Lebensformen und ihrer symbolischen Artikulationsweisen zugunsten einer den realen Lebensbedingungen der Menschen angemesseneren Einstellung und Wirklichkeitssicht verabschieden kann. Anders gesagt: In der hierfür erforderlichen Freilegung der metaphysischen Implikationen der Ergebnisse unserer hermeneutischen Überlegungen entscheidet sich, ob und inwiefern die personale Rede von Gott anschlussrational für und gegenüber anderen Wirklichkeitsperspektiven bleibt. Dazu ist es allerdings erforderlich, eine Meta-Ebene einzunehmen, damit aber auch, sich weiter von der Binnenperspektive gelebter christlicher Religionskultur mit ihren Texten und Gestalten zu entfernen. An der konzeptionellen Fassung und Explikation der metaphysischen Implikationen des Expressiven Theismus entscheidet sich letztlich seine argumentative Triftigkeit 272 Im Anschluss an: R ICŒUR, PAUL, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (1965), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, 41. – Das notwendige Korrelat einer Hermeneutik des Verdachts oder der „Einübung in den Zweifel“ (a.a.O., 44) haben wir dabei stets mitlaufen lassen.
5. Die Entdeckung personaler Identität im Modus des Zeugnisses
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und die theoretische Rechtfertigung dieser Position im religionsphilosophischen Diskurs (und darüber hinaus).
§ 10 ‚Ein personales Universum‘ – Expressiver Theismus als Horizont der Personalität Gottes (Die Ebene der theoretischen Bedeutung) In den vorangegangenen Paragraphen sind wir der Genese und den damit verbundenen Geltungsansprüchen des personalen Gottesverständnisses, wie es sich in der christlichen Religionstradition einstellt, anhand der symbolischen Praktiken des Betens, Erzählens und (Selbst-)Bezeugens nachgegangen. Aus ihnen resultiert im Wesentlichen die personale Taxonomie christlicher Religion als symbolischer Form. Das gilt unabhängig davon, ob jeder, der sich ihrer bedient, am Ende zu einer affirmativen Haltung gegenüber der Personalität Gottes kommt. Schließlich zielte unser Ansatz darauf, zu zeigen, wie durch dieses Netz aus symbolischen Handlungen eine symbolische Religionsform sich konfiguriert und kontinuiert, deren Verständnis von Gott als ein personales zu kennzeichnen ist. Theologisch kann ohnehin nie davon abstrahiert werden, wie Menschen sich selbst und ihren Glauben an Gott in Praktiken ausdrücken. Deswegen ist ein Theismus, der sich als religiöse Glaubenshaltung und als theologische Glaubensposition versteht, im Kern ein expressiver. Im Zugleich von Selbstausdruck und Weltverstehen, wie er auch religiöse Wirklichkeitsperspektiven kennzeichnet, geht der expressive Theismus aber über eine rein auf die Gottesfrage konzentrierte Antwort hinaus. Deshalb ließe sich aufgrund seiner Basiskategorie der ‚Person‘, durch die auch andere Aspekte humanen In-der-Welt-Seins geprägt und integriert werden, zugleich von einem expressiven Personalismus sprechen. Als Grundproblem bleibt allerdings die Frage bestehen, was unter dem Stichwort ‚Person‘ oder des ‚Personalen‘ genauerhin zu verstehen sei. In diesem letzten Paragraphen der systematisch-theologischen Entfaltung kann es lediglich noch darum gehen, wesentliche Momente einer personal geprägten, gleichwohl umfassenderen Wirklichkeitsperspektive herauszustellen, die in der Vorstellung von der Personalität Gottes ihren religiös-symbolischen Ausdruck findet. Dabei ist stets schon unterstellt, dass sich mindestens eine wesentliche Qualität angeben lassen muss,
§10 ‚Ein personales Universum‘
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die eine Kontinuität zwischen der personal gefassten Realität Gottes und der personalen Realität des Menschen rechtfertigt.1 Damit deutet sich an, worin sich die folgenden Ausführungen gegenüber den vorangegangenen zum rituellen Ausdrucksverhalten (Gebetstheologie) und zur narrativen Darstellung (Geschichtstheologie) abheben. Sie betreffen nur noch in sehr abgeleiteter Form die Ebene gelebter Religiosität. Denn sie zielen auf eine prinzipielle Rechtfertigung der impliziten Vorstellungen und Argumente, die Ritus und Narration prägen. Durch weitgehende Abstraktion und Konzeptionalisierung geht es nunmehr um den Bedeutungsgehalt religiöser Symbolisierungen auf der Ebene religionsphilosophischer und theologischer Theoriebildung. So gesehen wird es in der Tat im Folgenden darum zu tun sein, Metaphysik zu treiben. Dies jedoch unter nach-metaphysischen Bedingungen. Was heißt das? Im losen Anschluss an Jürgen Habermas, auf den die Formel vom nachmetaphysischen Denken zurückgeht, kann es keine Theologie oder Metaphysik mehr geben, die sich um den Aufweis letzter, axiomatischer Gründe, Gewissheiten oder Strukturen bemüht; jedenfalls nicht im Sinne einer letzten Begründung.2 Dies wird durch die Historisierung, Temporalisierung, sowie den stets konstruktiven Charakter unseres Wissens verhindert. Insofern kann keine Theoriebildung mehr von möglicher Kritik ausgenommen werden. Nach-metaphysisches Denken ist von daher kritisches Denken im Anschluss an Kant. Es wäre allerdings ein Trugschluss, daraus zu folgen, metaphysische Themen und Probleme würden dadurch generell obsolet. Nach-metaphysische Metaphysik kann daher nicht bedeuten, sich ihnen nicht mehr zu stellen. Wohl aber hat sie die veränderte Ausgangslage für die Theoriebildung zu beachten. Es gehört zu den Leistungen pragmatistischen Denkens, sich dieser Aufgabe von Anfang an nicht entzogen zu haben. Nicht um Metaphysikverzicht geht es, sondern um die Ausarbeitung einer hypothetischen Metaphysik3, die in kritischer Nähe zu den empirischen Wissenschaften und zur Lebenswelt steht. Hypothetisch ist diese Metaphysik zu nennen, weil sie in ihrer Analyse der in den verschiedenen Wissensbereichen in Anschlag gebrachten Kategorien auf deren Veränderbarkeit achtet. Dadurch unterliegt sie selbst einer permanenten Revidierbarkeit. Metaphysisch ist ihre konzeptionelle Arbeit deswegen, weil sie durch Abstraktion 1 Das bedeutet nachgerade nicht, dass sie (d.h. Gott und Mensch) in jeder Hinsicht alles teilen müssten, was man als personale Qualitäten bezeichnen könnte. Lediglich eine wesentliche müsste die Bedingung sein. Zugleich wird an dieser Stelle deutlich, wo sich sodann Seitenverbindungen zu einer theologischen Anthropologie auftun. 2 Vgl. H ABERMAS, JÜRGEN, Motive nachmetaphysischen Denkens, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, 35–60. 3 Für das Gebiet der Religion hat ein solches Verständnis von hypothetischer Metaphysik im Anschluss an die beiden produktivsten Köpfe der Metaphysik des 20. Jahrhunderts, Charles Sanders Peirce und Alfred North Whitehead, entwickelt: NEVILLE, ROBERT C., Ultimates. Philosophical Theology, Bd. I, Albany (NY): SUNY Press 2013, v.a. 55–61.
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und Verallgemeinerung, sich darum bemüht, die diversen Formen der Wirklichkeitsbeschreibung so aufeinander zu beziehen, dass dank kategorialer Analyse und Ordnung aus einem bloßen Nebeneinander ein produktives Mit- und Füreinander werden kann. Sie geht damit über die jeweiligen Wissensbereiche konstruktiv hinaus, was dazu führen kann, dass sie selbst Wissensprozesse produktiv erneuern oder in Gang bringen kann. Vor allem der letzte Aspekt ist religionsphilosophisch und theologisch von erheblicher Bedeutung. Denn strukturell betrachtet liegt in der Universalität des (monotheistischen) Gottesgedankens die Notwendigkeit begründet, ihn auf das Ganze des hypothetischen Weltwissens zu beziehen, um seine Rationalität hinreichend aufzuweisen.4 Ernst Troeltsch hat diesbezüglich zu Recht das Kohärenzpostulat unterstrichen, wonach der Gottesgedanke „mit den übrigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang stehen und von ihnen auch in irgendeiner Weise indiziert sein muß“5. Zur „Umgestaltung der religiösen Gottesidee“ gehört durchaus deren „Konformierung mit dem modernen wissenschaftlichen Weltbild“6, was jedoch nicht bedeutet, dies nur in einer Richtung gelten zu lassen. Wissenschaftshistorisch steht außer Zweifel, dass die religiösen Ideen den wissenschaftlichen Fortgang ebenso sehr konstruktiv beeinflusst haben. Auch hier ist an der Pluralität symbolischer Formen und ihrer Wirklichkeitsperspektiven festzuhalten, wenngleich es sehr wohl zur Eigenart der Perspektive des Gottesgedankens, vor allem auf dem Boden der symbolischen Form einer monotheistischen Religion, gehören kann, alle kulturellen Formen mit ihren Wirklichkeitserkenntnissen noch einmal zu brechen und darin zu transzendieren. Wissenschaftssystematisch stellen die Ausführungen dieses Paragraphen somit den im engeren Sinn religionsphilosophischen Teil der Arbeit dar. Aber selbst hier kann nicht von ihrer religionskulturellen und materialdogmatischen Grundierung in der Welt des Christentums und seiner Theologie(n) ganz und gar abstrahiert werden. Und doch muss eine argumentative Rechtfertigung der Personalität Gottes, soll diese keine religiöse Sondergruppensemantik sein, über die engere Lebenswelt christlicher Religionspraxis hinausgehen und sich als anschlussfähig gegenüber anderen Wissenskulturen mit ihren Perspektiven auf die Wirklichkeit erweisen.
4 Das gilt im Übrigen nicht erst für nach-metaphysische Zeitalter, wie man mit Verweis schon auf Theologien der Hochscholastik zeigen könnte. 5 TROELTSCH, ERNST, Wesen der Religion und die Religionswissenschaft (1909), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Ethik und Religionsphilosophie, Tübingen: Mohr 1913, Nachdruck der 2. Aufl. von 1922, Aalen: Scientia 1962, 452–499, 496. 6 A.a.O., 497.
1. Pragmatistische Gotteslehre
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1. Pragmatistische Gotteslehre aus der Perspektive der Pneumatologie 1. Pragmatistische Gotteslehre
Bislang sind Religionsphilosophie und Theologie als Theoriebildungen nicht voneinander abgegrenzt worden. Das hat seinen guten Sinn darin, dass auch die Dogmatik religionsphilosophischer Theoriemomente nicht entbehren kann. Aber sie geht darin nicht auf. Umgekehrt beinhaltet auch die Religionsphilosophie nicht notwendigerweise eine theologische Dimension. Allenfalls in formaler Hinsicht gilt, dass sie als kategoriale Entfaltung sich auf Phänomene gelebter Religion in irgendeiner Art beziehen (lassen) muss.7 Historischerseits ist Religionsphilosophie als wissenschaftliche Disziplin im engeren Sinn ein Produkt der Aufklärung und ihres kritischen Impulses zur Überprüfung religiöser Geltungsansprüche. Aber noch damit hat sie die Struktur von systematischer Theologie nachhaltig geprägt, insofern diese selbst religionsphilosophische Züge angenommen hat. Dies betrifft zum einen ihre Basiskategorien, unter denen sie christliche Glaubensbestände rekonstruiert, sei es als Explikation von Strukturelementen religiöser ‚Subjektivität‘, als symbolische Gehalte unbedingten ‚Sinns‘ oder als Momente des Selbstvollzugs des Absoluten als ‚Geist‘. Zum anderen aber wird in systematischen Theologien und Religionsphilosophien auf analoge Weise das Terrain modelliert. Sie operieren ebenfalls mit konstellativen Anordnungen der Größen von ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Selbst‘. Je nachdem, wie diese Konstellation und unter welchem kategorialen Vorzeichen ihre Größen gefasst werden, baut sich ein unterschiedliches Modell von Wirklichkeit auf. Dabei hat sich weitgehend durchgesetzt, mindestens drei Beschreibungsperspektiven zu berücksichtigen: die Perspektive auf die Subjekte, die Wirklichkeit religiös formen (Selbst), die Perspektive auf den Ort, der religiös geformt wird (Welt), und die Perspektive auf die Wirklichkeit, von der her oder mit Blick auf die religiös geformt wird (Gott). Dabei lässt sich die zweite Perspektive auch in die beiden anderen integrieren. Dann aber resultiert aus der jeweiligen Konstellation von ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ eine Perspektive auf die ‚Welt‘, mittels derer sich die beiden anderen Momente voneinander abheben und unterscheiden lassen.8 Schließlich kann auch das Verhältnis der Korrelate in dieser Konstellation unterschiedlich qualifiziert werden: als ‚Abhängig von…‘, als ‚Bedingtsein durch…‘ oder als ‚(a-)symmetrische Korrelation‘ etc. Die hier nur angedeuteten Parallelen in Aufbau und Konzeption systematisch-theologischer und religionsphilosophischer Positionen sollen zur Einsicht 7 Vgl. D IERKEN, JÖRG, Glaube und Leben im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher (Beiträge zur historischen Theologie 92), Tübingen: Mohr Siebeck 1996, 436. 8 Anders ausgedrückt, die ‚Welt‘ wird der Ort, an dem sich ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ voneinander unterscheiden.
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verhelfen, dass bereits mit der strukturellen Anlage von Theorien inhaltliche Vorentscheidungen gefällt sind, die selbst wiederum an ihrem Gegenstand zu prüfen sind. Schlichter gesagt: Die Hermeneutik der Personalität Gottes lässt sich nicht in jeder religionsphilosophischen Konstellation in gleichem Maße begreifen. Dies aufzuzeigen, dient die folgende Typologie, in deren Anschluss dann eine systematisch-theologische Zuspitzung der Problemstellung erfolgt. 1.1 Drei Typen, Religionsphilosophie zu betreiben Die notwendige Aufmerksamkeit für metaphysische Problemstellungen, wie sie im Rahmen systematisch-theologischer Theoriebildung stets auftreten, hat im 20. Jahrhundert vielleicht kein anderer Theologe so sehr betont, wie Paul Tillich (1886–1965). Dies gilt nicht erst für seine reife Systematische Theologie, die als imposanter Versuch gelesen werden kann, auf der Grenze zwischen Philosophie und Religion (systematische) Theologie oder eben: „christliche Religionsphilosophie“9 zu treiben. In diesem Zusammenhang stellt Tillich in einem Aufsatz von 1946 unter dem programmatischen Titel The Two Types of Philosophy of Religion10 zwei Grundtypen religionsphilosophischen und damit auch theologischen Denkens vor und einander gegenüber. Sie werden von ihm – in historischer Schablone – als zwei Suchbewegungen bzw. ‚Wege‘ verstanden, die unterschiedliche epistemologische Voraussetzungen haben und divergierende soteriologische Vorstellungen mit sich führen: Es gibt zwei Wege, auf denen man zu Gott gelangen kann: durch die Überwindung der Entfremdung und durch die Begegnung mit dem Fremden. Auf dem ersten Weg entdeckt der Mensch sich selbst, wenn er Gott entdeckt; er entdeckt etwas, das mit ihm selbst eins ist, obgleich es ihn unendlich transzendiert (…) Auf dem zweiten Weg begegnet der Mensch einem Fremden, wenn er Gott begegnet. Die Begegnung ist zufällig. Wesenhaft gehören sie nicht zueinander. Der Mensch kann sich versuchsweise mit dem Fremden befreunden in der Erwartung, ihm näher zu kommen. Aber er kann keine Gewißheit über ihn erreichen (…) und nur Wahrscheinliches über sein Wesen [kann] ausgesagt werden11.
Diesen Ausdruck verwendet Tillich für die philosophische Theologie, programmatisch in seiner Antrittsvorlesung am Union Seminary: vgl. TILLICH, PAUL, Philosophie und Theologie, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (= GW V), hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1964, 110–121, 111. – In diesem Text wird zudem bereits der Grundriß der späteren Systematischen Theologie sichtbar, vgl., a.a.O., 120f. 10 Im Folgenden zitiere ich stets die deutsche Fassung: Vgl. TILLICH, PAUL, Zwei Wege der Religionsphilosophie (1946), in: Ders., GW V (Anm. 9), 122–137. – Das englische Original ist leicht greifbar in: TILLICH, PAUL, The Two Types of Philosophy of Religion (1946), in: Paul Tillich. Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz, Werner Schüßler und Erdmann Sturm, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 289–300. 11 TILLICH, Zwei Wege, in: Ders., GW V (Anm. 9), 122. 9
1. Pragmatistische Gotteslehre
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Tillich kennzeichnet den ontologischen Typ als Weg ‚zur Überwindung der Entfremdung‘ von Gott und Mensch, während der kosmologische Typ das Modell der ‚Begegnung mit dem (göttlichen) Fremden‘ als (ganz) Anderen vertritt. In beiden Typen geht es um mehr als eine Theorie religiöser Erkenntnis oder religiösen Heils. Im Kern stehen divergierende Weisen des korrelativ gefassten Gottes- und Selbstverstehens zur Debatte. Tillichs Präferenz gilt eindeutig dem ersten Typus und das hat mehrere Gründe: Erstens weist der kosmologische Typ stark dualistische Züge auf und führt zugleich in die Gefahr, Gott in die Kette des Seins als dessen oberstes und vollkommenstes Glied einzuordnen.12 Zweitens bedeutet das Modell der ‚Begegnung mit dem Fremden‘ einen Verlust an der – für ihn so wichtigen – unbedingten Sinngewissheit. Denn mit ihm würde Tür und Tor für voluntaristische Gnadenverständnisse geöffnet werden. Drittens gelingt es dem ontologischen Typus demgegenüber aus der leidigen Subjekt-Objekt-Diastase auszubrechen und damit den „Gegensatz von Nominalismus und Realismus“13 zu transzendieren. Vor diesem Hintergrund kann für ihn Gott als Unbedingtes, das alles Bedingte umgreift, begriffen werden. Die Welt aber, und mit ihr – strenggenommen – der Mensch, der sich seiner Bedingtheit im Horizont des Unbedingten bewusst wird, fungieren als die ‚Orte‘, an denen das „Gewahrwerden des Unbedingten“ in der „Mächtigkeit des Seins“14 erfolgt. Dieses hat seine Unbedingtheit darin, dass es jenseits des Seins als dessen „Macht in allem, was Macht hat, sei es ein Allgemeines oder ein Einzelnes“15, zu stehen kommt. Tillich modelliert vom Standpunkt des Endlich-Bedingten eine Theorie, der es einerseits um das Festhalten an der Differenz von Gott und Sein, von Gott auf der einen und Welt und Mensch auf der anderen Seite, geht. Andererseits muss aber an der umfassenden Partizipation Gottes als dem SeinSelbst an allem endlich-Bedingtem programmatisch festgehalten werden. Sonst verlöre die Überwindung der Entfremdung ihr inklusives Element. So oder so ist dieses Vorgehen apologetisch16. Das hat prinzipielle Folgen für die Rede von und das Nachdenken über Gott. Daran knüpft Tillichs Symbolverständnis an, das zu explizieren hier nicht der Ort ist. Wichtig ist lediglich, dass alle Symbole – so auch das des personalen Gottes – daran zu messen sind, ob sie der Struktur des ontologischen Typs, also
12 Vgl. a.a.O., 126–129. – Tillich unterschlägt dabei die für Thomas von Aquin so gewichtige Differenz zwischen Gott und allem Seienden, was insofern die Triftigkeit seiner Typologie infrage stellt, da Thomas zugleich als paradigmatisches Beispiel für den kosmologischen Ansatz dienen soll. 13 Ebd. 14 A.a.O., 134. 15 Ebd. 16 Apologetisch vor allem, weil durch den ontologischen Typus im letzten sogar die Möglichkeit radikaler Profanität und des Atheismus ausgeschlossen werden kann, vgl. a.a.O., 135.
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der Partizipation durch Integration entsprechen.17 Das geschieht mit durchaus unterschiedlichem Erfolg. Die Personalität Gottes hat hier jedenfalls deutlich mehr Schwierigkeiten als etwa die von Tillich präferierte Redeweise von Gott als dem ‚Sein-Selbst‘ oder auch stärker metaphorische Wendungen, wie von Gott als (unerschaffenes) ‚Licht‘. Wayne Proudfoot hat in diesem Zusammenhang prägnant auf die Probleme einer, am idealistischen Systemgedanken, orientierten Theologie aufmerksam gemacht. Tillichs monistischer Fassung des Gottesgedankens als ‚Sein-Selbst‘ steht von Grund auf das Modell von Gott als ‚Selbst-Sein‘ gegenüber. Letzteres kann strictissime nur so gedacht werden, dass Gottes Selbst-Sein etwas als ein Anders-Sein gegenübersteht, für das er genauso offen ist, wie umgekehrt. Im Bild gesprochen kann dann nicht nur Gott den Menschen gegenüber ein ‚Fremder‘ sein, sondern auch die Menschen Gott gegenüber. Dieses Modell würde Tillichs Vorstellungen vom Monotheismus und der absoluten Gewissheit im Kern gefährden. Die Folgen sind, wie Proudfoot bemerkt, beträchtlich. An Tillichs Eschatologie zeigt er, dass sowohl die Individualität menschlicher Handlungssubjekte als auch die Irreversibilität der Zeit und damit auch die Qualität der Geschichte zugunsten der Essentifikation in die göttliche Seinsrealität (hinein) absorbiert werden.18 Damit sind grundlegende Revisionen am ontologischen Partizipationsmodell notwendig, um der religiösen Eigenbewandtnis der Rede von der Personalität Gottes gerecht zu werden. Das kann jedoch nicht dadurch geschehen, schlicht dem kosmologischen Typ den Vorzug zu geben. Denn dieser bringt, worauf Tillich zu Recht bestand, ebenfalls erhebliche Probleme mit sich, wobei der inhärente Dualismus wohl das gewichtigste darstellt. Proudfoot hat von daher vorgeschlagen, die Typen religionsphilosophischer Theoriebildung um einen dritten zu erweitern. Die neuzeitliche Korrelation der Ideen von ‚Gott‘ und
17 Mit dieser Formulierung knüpfe ich an Tillichs Existenzanalysen in Der Mut zum Sein an. Dort wird bei aller Betonung der Gleichnotwendigkeit von Individuation und Partizipation der menschlichen Existenz am Grund des Seins der Partizipationsgedanke deutlich in den Vordergrund gerückt. Die Konsequenz wird in der Figur des ‚Gott über Gott‘ sichtbar, die den ‚Gott des Theismus‘ – also den personalen Gott – transzendiert. Vgl. TILLICH, PAUL, Der Mut zum Sein (1952), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. XI: Sinn und Sein. Zwei Schriften zur Ontologie (= GW XI), hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1966, 11–139, v.a. 134–139. 18 Vgl. PROUDFOOT, W AYNE, God and the Self. Three Types of Philosophy of Religion, Lewisburg (NJ)/London: Bucknell Univ. Press 1976, 36–87. – Tillichs Eschatologie changiert in der Tat zwischen dem Eingeständnis, dass noch die symbolischen Bilder von den „letzten Dingen“ nicht ohne das Element der „Andersheit“ auskommen, dass jedoch umgekehrt im letzten Eschatologie „theozentrisch“ zu entfalten ist. Ihr Ziel ist dann die Darlegung, dass „der Weltprozeß für Gott Bedeutung [erhält]“ (TILLICH, PAUL, Systematische Theologie, Bd. III (1963), Berlin/New York: de Gruyter 41987, 476).
1. Pragmatistische Gotteslehre
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(menschlichem) ‚Selbst‘ zugestanden, muss die Alternative nicht zwingend einen dualistischen Typus darstellen. Vielmehr lässt sich eine dritte Option konzipieren, die den auf Totalität zielenden monistischen und den individualistisch verengten dualistischen Typ19 in einer sozialen Konzeption von Religionsphilosophie überwindet. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass erstens Religionsphilosophie zu betreiben stets bedeutet, eine spezifisch symbolisch gefärbte Interpretation durchzuführen, die niemals vorsprachlich ist; und dass zweitens dies auch deswegen der Fall ist, weil alle religiöse Erfahrung stets sozial und niemals subjektivistisch, da sprachlich verfasst und weltlich situiert, ist. Darüber hinaus hat der soziale Typ den Vorteil, dass man mit ihm die Wahrheitsmomente der beiden anderen integrieren kann. Sie stellen notwendige Zwischenschritte dar, die mitunter isoliert zu betrachten sind. Auch Religion ist bekanntlich Teil jener umfassenden humanen Praxis, die darin besteht, die Welt zu interpretieren. Die Resultate solcher religiösen Interpretationspraxis variieren durchaus und können zu stärker mystischen oder dualistischen, monistischen oder theistischen Konzeptionen von ‚Selbst‘ und ‚Gott‘ führen. Aber die religionsphilosophische Analyse und Klärung der verwendeten Begriffe kann nicht davon absehen, sie als Interpretationen zu betrachten, die einem kulturellen und sozialen Umfeld entstammen und sich eines bestimmten symbolischen Vokabulars bedienen: Each of the three types is adequate for the expression of particular aspects of human experience, but only the third type is sufficiently comprehensive to provide the basis for an adequate philosophical description of the self and its world, and thus for an adequate conception of God. The monistic and individualistic types are expressive of moments in the religious consciousness, but when they are elevated into fundamental philosophical categories they yield implications that are belied by our knowledge of the social character of human language and activity.20
Proudfoots Vorschlag für einen sozialen Typ von Religionsphilosophie folgt Tillichs Vorgehen darin, dass auch er beim Subjekt religiöser Interpretation von Wirklichkeit ansetzt. Das Selbst, welches Vorstellungen von Gott, Welt und sich selbst aus Erfahrungskontexten bildet, ist nun aber weder schlicht als (empirischer) Ort (‚Datum‘), an dem sich das Absolute oder Gott vollzieht, zu begreifen, noch als ein in sich autonomes individuelles Handlungssubjekt. Vielmehr bildet es selbst bereits eine sozial konstituierte und zeitlich erstreckte Größe. Das ist bei der Analyse der Bedeutung des als Interpretament von Wirklichkeit fungierenden Gottesgedankens in Rechnung zu stellen. Für eine empirisch und historisch orientierte sowie hypothetisch-kategorial verfahrende Religionsphilosophie ist die folgende Feststellung von daher keineswegs trivial: Der bei Proudfoot als individualistisch gekennzeichnete kosmologische Typ wird am Werk von Austin Farrer, eines neueren Vertreters des analytischen Theismus, problematisiert. Vgl. a.a.O., 88–148. 20 A.a.O., 29. 19
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[C]ontemporary investigations of the concept of the self point to the greater adequacy of the social type. Self-awareness is not a primitive datum. Rather, it is the consequence of a sophisticated development and differentiation in a social and temporal context.21
Eine solche Religionsphilosophie muss ein revidiertes Modell bereitstellen, um die herkömmliche religiöse Rede von ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Selbst‘ neu zu rekonstruieren und darüber deren Sinn zu begreifen. Einen Wegbereiter eines sozialen Typs von Religionsphilosophie, der sich zudem der Erneuerung der Traditionsbestände des Christentums verpflichtet weiß, sieht Proudfoot in Josiah Royce. Dieser hat in seinem (späten) Hauptwerk, The Problem of Christianity, eine Theorie des Christentums entworfen, die jenes von seinen Grundideen aus als eine auf die Probleme der Gegenwart zielende und darin zeitgemäße Metaphysik (der Gemeinschaft) rekonstruiert. Davon wird noch zu reden sein. Für Royce und ebenso für die anderen klassischen Pragmatisten, allen voran für William James22, trifft das Charakteristikum eines sozialen Typs von religionsphilosophischer Theoriebildung jedenfalls zu: The social conception is that in which a notion of community or society is taken to be fundamental. A person is a system of social relations as well as an individual entity. Relations are not external or accidental. They are intrinsic in the development and the constitution of each individual. The metaphor of the polis can be applied to individuals as well as to the whole. Being is social.23
Die These, alles Sein sei sozial, zielt somit weder auf einen metaphysischen Kollektivismus noch eine gesellschaftsfunktionale Theorie von Religion. Die Sozialität des Universums – letzteres verstanden als Integralbegriff für alle Realität, fungiert als Beschreibung für die Konstellation, innerhalb derer in einer sozialen Religionsphilosophie die Kategorien und Interpretamente, die zur symbolischen Erfassung von Wirklichkeit anleiten, zu stehen kommen. ‚Zeit‘, ‚Welt‘, ‚Person‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Gott‘ etc. stellen nicht deswegen primär soziale Kategorien dar, weil sie sich gesellschaftlicher Konstruktion verdanken würden24, sondern weil durch sie Wirklichkeit konstruktiv als soziale gefasst wird. ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ fungieren als Interpretationsgrößen, ohne die das durch sie Bestimmte an Realität sich nicht symbolisch prägnant erfahren ließe. Für die Theologie heißt das, den konstruktiven Charakter der Ausdrücke ‚Gott‘ und ‚Person‘ anzuerkennen, ohne dadurch in einen Konstruktivismus geraten
Ebd. Tillich hat James übrigens dem eigenen ontologischen Typus zugeordnet. Dabei hat er durchaus richtig erkannt, dass dessen radikalem Empirismus zwar ein methodischer, aber eben kein substantiell-ontologischer Monismus innewohnt. Vgl. TILLICH, Zwei Wege, in: Ders., GW V (Anm. 9), 129. – Tillichs Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus ist leider marginal geblieben, wohl zu seinem eigenen Nachteil. 23 PROUDFOOT, God and the Self (Anm. 18), 25. 24 Es geht hier also nicht um einen religionsphilosophischen ‚Soziologismus‘. 21 22
1. Pragmatistische Gotteslehre
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zu müssen. Unter neuzeitlichen Bedingungen lassen sie sich ohnehin nicht mehr als substantielle Entitäten verstehen: An implication of this third type and the present emphasis upon theology as a construction is that the self and God are themselves constructions (…) that the self is not a datum, but an interpretation (…) To be consistent (…) both the self and God must be understood as interpretative constructions.25
Es macht nun allerdings keinen Sinn, die drei Modelle abstrakt gegeneinander auszuspielen. Die Vorteile des dritten Typs für einen konstruktiven Zugang zur Personalität Gottes liegen auf der Hand. Aber ob er wirklich dafür taugt, muss die konkrete Durchführung zeigen. An dieser Stelle soll nur noch einmal an die Differenz zwischen einer religiös ungebundenen Religionsphilosophie und einer religiös positionellen Theologie, die aber als Religionsphilosophie auftreten kann, erinnert werden. Für beide kann gelten, dass ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ oder auch ‚Person‘ limitative Kategorien darstellen können, die uns an die Grenzen unserer symbolischen Erfahrungspraxis führen. Schon aufgrund dieser Stellung sind sie aufeinander bezogen26: Conceptions of God and the self are constructions that attempt to describe the limits of our experience (…) The self stands at the limit that is the origin of our acts, and is thus inaccessible to us in our thinking or action. A conception of God stands at the limit of our ability to imagine the origin and goal of all experience. These constructions are necessarily constantly receding.27
Doch ist für den Theologen damit noch nicht alles gesagt. Denn er positioniert sich ja reflexiv innerhalb einer bestimmten Religionskultur. Er kann daher religiöse Interpretamente und Vorstellungen nicht nur in ihrer Funktion als Grenzbegriffe analysieren. Vielmehr muss er dem Umstand Rechnung tragen, dass sie expressiv als Artikulation erfahrener Realität in der religiösen Praxis zur Geltung kommen und dass darin zugleich ihr deskriptiver Anspruch für eine umfassendere Interpretation von Wirklichkeit ansetzt.28 War bislang der Ort der metaphysischen Verhandlung der Personalität Gottes eine soziale Konstellation von Religionsphilosophie, so muss nun dogmatisch präziser formuliert werden: sie ist christlicherseits in pneumatologischer Perspektive zu vollziehen. 1.2 Handlungstheoretische Gotteslehre in pneumatologischer Perspektive Der Status von Glaubensaussagen wird dann als theologisch qualifiziert, wenn zwar zwischen ihrer Bestimmtheit und ihrem Vollzug unterschieden, dabei aber zugleich darauf reflektiert wird, dass ihre Bestimmtheit nur durch den Vollzug A.A.O., 230. Gleiches ließe sich in meinen Augen auch für den Begriff der Welt behaupten. 27 A.a.O., 229. 28 Damit variiere ich einen Gedanken Proudfoots, der von einer expressiven und deskriptiven Funktion der Interpretationen redet. Vgl. a.a.O., 229f. 25 26
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konstitutiert wird. Das gilt auch für den Glauben an Gott und dessen Überzeugungsgehalte. Aus diesem Grund wird dogmatisch die Perspektive der Pneumatologie zum Ausgangspunkt für eine Hermeneutik der Personalität Gottes. Pneumatologie wird dabei nicht als einzelnes Lehrstück verstanden, sondern als diejenige Perspektive, in der die einzelnen dogmatischen Lehrstücke behandelt werden.29 Schließlich setzt am Ort der Pneumatologie die Reflexion des Verhältnisses von Gott und Mensch an, und zwar im Modus des Zugleich von Gottes- und Selbstverstehen in einer genuin sozialen Konstellation. In der pneumatologischen Perspektive wird die „Verbindung von Gottesglaube und Intersubjektivität“30 symbolisch prägnant. Das zeigt sich an ihren einzelnen Topoi. So geht es in Soteriologie, Ekklesiologie und Eschatologie um die Reflexion auf das „Dabei-Sein“31 der Menschen im Vollzug des Glaubens, der Gestaltung und Formung der christlichen Lebenswelt, der Reflexion auf Ziele und Grenzen des eigenen Handelns. Dies erfolgt durch Differenzsetzung zum ‚im‘ und ‚als‘ Geist bewussten Gott. Selbstsein und Anderssein von ‚Gott‘ und ‚Mensch‘ erhalten hier ihre symbolische Prägnanz. Allerdings steht die pneumatologische Perspektive nicht auf sich allein, sonst würde ihr die historische Bestimmtheit fehlen, die sie von einer allgemeinen Geist-Perspektive als spezifisch christlicher nicht abheben ließe. Damit soll daran erinnert werden, dass zur christlichen Pneumatologie als Perspektive das Bewusstsein ihrer historischen Verfasstheit innerhalb der christlichen Religion als symbolische Formtradition gehört. Deswegen ist es kein Zufall, dass sie selbst noch auf die Medien des Zustandekommens einer christlichen Glaubensposition rekurriert. Pneumatologie ist die kritische Selbstreflexion des christlichen Symbolbewusstseins in und bezüglich der Formung seiner Wirklichkeitssicht.32 Dass die vorangegangenen Überlegungen zur Personalität Gottes bereits aus dieser Perspektive erfolgt sind, lässt sich in mehrfacher Hinsicht klarmachen.
29 Man könnte von ihr auch als einem „organisierende[n] Zentrum“ sprechen, wie Michael Moxter es vorschlägt. Vgl. MOXTER, MICHAEL, Über den Grund unseres Glaubens an Personalität. Gottes Personsein aus der Perspektive der systematischen Theologie, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.), Marburger Jahrbuch Theologie XIX: Personalität Gottes, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007, 77–98, 94. 30 Ebd. 31 Vgl. D IERKEN, JÖRG, Dabeisein. Erfahrung als Prinzip von Dogmatik in der Moderne, in: Ders., Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 133–157, v.a. 149–157. 32 Als christliches Symbolbewusstsein ist ihm eine trinitarische Grammatik eigen, die es aber nur in der Gestalt ihrer pneumatologischen Rekonstruktion reflektieren kann. Damit finden sich diese Überlegungen in Einklang mit denjenigen zu einer „trinitarischen Stukturierung der Kulturtheologie“, wie sie Michael Moxter vertritt. Vgl. MOXTER, MICHAEL, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 38), Tübingen 2000, 385.
1. Pragmatistische Gotteslehre
417
In den kulturtheoretischen und geschichtshermeneutischen Überlegungen ging es darum, die Religion als symbolische Form unter historischen Bedingungen zu rekonstruieren. Dabei lag das Augenmerk darauf, den Wandel und die in der Variation sich durchhaltende Kontinuität symbolischer Bestände zu fassen zu bekommen. Symbolische Bestimmtheit schließt Offenheit für Revisionen nicht aus, sondern erfordert sie, um sich weiterbestimmen und somit erhalten zu können. Damit wird der oben gemachte strukturelle Zusammenhang von Pneumatologie und historischer Bestimmtheit in Anschlag gebracht, der dazu nötigt, die historisch gewachsenen Gestalten einer Symbolkultur auf ihr Bedeutungspotential hin zu rekonstruieren. Darüber hinaus erfordert die soziale Konstitution religiöser Symbolsysteme und Wirklichkeitssichten nicht nur die Auseinandersetzung mit ihrer geschichtlichen Herkunft, sondern auch die Einholung ihrer eigenen Struktur in symbolische Zusammenhänge. Wenn sich Religionen als symbolische Formen immer sozial ausbilden, dann geben sie ihrem sozialen Rahmen eine symbolische Prägnanz. Anders gewendet: Die symbolische Prägnanz der Vokabel ‚Gott‘ entsteht nicht jenseits des sozialen Kontexts, in dem sie in Gebrauch ist (z.B. der Gemeinde, der einzelnen Seele etc.). ‚Gott‘ als Symbol kann ohnehin nie alleinstehen, bedarf es doch stets weiterer Symbole in einem Symbolisierungs- als Zeichenprozess, damit Bedeutung konfiguriert werden kann. So interpretieren sich bestimmte Kategorien wechselseitig. Darin liegt ihre soziale Struktur, die auf ihren Entstehungskontext verweist. Ein paradigmatisches Beispiel ist die symbolische Konstruktion des Gott- und Selbstverständnisses durch die Kategorie der Person. ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ erhalten mittels der Kategorie der ‚Person‘ ihre symbolische Prägnanz und zwar wechselseitig und nicht in einseitiger Abhängigkeit einer der beiden Glieder von der anderen. Es ist dieser letzte Aspekt, der die pneumatologische Struktur dieses Symbolisierungsprozesses vollends einsichtig macht und der sein kulturtheoretisches Pendant darin findet, das gilt: Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene, fertig ausgestaltete Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: Sondern die Gestalt seiner Götter ist es, an der er dieses Selbstbewußtsein erst f i n d e t . Durch das Medium der Gottesanschauung gelangt er dazu, sich selbst als tätiges Subjekt33
zu verstehen. Den stärksten Grund für eine pneumatologische Fassung der Gotteslehre wird man aber im Spezifikum unserer religions- und ritualtheoretischen Überlegungen finden (vgl. § 5). Erschließt sich Erfahrung im rituellen Handeln; zeichnet dieses sich ferner dadurch aus, performativ Transzendenz symbolisch zu fassen, dann gibt es kein symbolisches Interpretationsresultat, das sich nicht gleichzeitig auf den, der durch seine Symboltätigkeit etwas erfährt, wie auch auf das, was er damit zur symbolischen Prägnanz bringt, bezieht. Von Gott kann 33 C ASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1924), ECW, Bd.12, Hamburg: Meiner 2010, 249.
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jedenfalls nur dann personal geredet werden, wenn derjenige, der dies tut, sich selbst in eo actu damit als Person identifiziert. ‚Gott‘ und sich ‚Selbst‘ als ‚Person‘ zu begreifen, heißt, ihn und sich selbst zugleich als, oder besser: im ‚Geist‘ zu verstehen. Unter etwas anderem Vorzeichen hat Jörg Dierken die Dynamik des wechselseitigen Interpretationsprozesses als Symbolisierungs- und damit als geistige Tätigkeit beschrieben: Gott als Geist zu fassen ermöglicht es, den Geist durch kreativ bildende Tätigkeit auch symbolisch als Gott zu imaginieren (…) Hinzu kommt die symbolische Darstellung von Transzendenzdimensionen Gottes, die sich (…) einfacher Darstellbarkeit entziehen (…) So wird der als Gott symbolisierte Geist zum Referenzpunkt für eine kultische Andacht als Gegenmoment zur Aneignung im Glauben.34
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Relevanz der Kategorie35 der Person für die Gotteslehre verdankt sich deren pneumatologischer Perspektivierung, so wie die Kontexte ihrer Verwendung pneumatologisch zu beschreiben sind: als rituelle Interaktion im Gebet, als narrative Rekonstruktion von Identität in Biographie und Geschichte etc. Unklar blieb bislang noch, inwiefern die Gotteslehre handlungstheoretisch zu entfalten ist. Mit dem Stichwort der ‚Handlung‘ ist die spezifische Struktur benannt, die der Konstellation von ‚Gott‘, ‚Welt‘, ‚Selbst‘ hier gegeben wird. Sie ergibt sich aus den Erörterungen zu den symbolischen Praktiken des Betens, des Erzählens, der Bezeugung. Wird Wirklichkeit handelnd erfasst und gilt, dass sich diese darin verändert, so wird im Moment des Handelns zugleich der Modus als auch die Gestalt von Wirklichkeit präsent. Allerdings bleibt der Handlungsbegriff damit noch weitgehend unbestimmt. Es ist noch nicht klar, ob er zwingend mit Intentionalität verbunden zu denken ist36 oder ob ihm ein bestimmter Subjektbegriff inhäriert37. Allgemeine Merkmale sind aber, dass er stets eines sozialen Kontextes bedarf und unter der Bedingung von Zeit steht.
34 D IERKEN, JÖRG, Immanente Transzendenzen. Gott als Geist in den Wechselverhältnissen des sozialen Lebens, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert (DoMo 7), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 233–250, 248. 35 Die Tatsache, dass in diesem Paragraphen zumeist von Kategorien gesprochen wird, rührt von seinem theoretischen Status her. Auch Kategorien sind Symbole bzw. Zeichen (im Sinne von Cassirer oder Peirce), aber nicht jedes Symbol muss als Kategorie fungieren. 36 Das vertritt mit Blick auf die Gotteslehre z.B.: SCHWÖBEL, C HRISTOPH, Die Rede vom Handeln Gottes im christlichen Glauben. Beiträge zu einem systematisch-theologischen Rekonstruktionsversuch, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.); Marburger Jahrbuch Theologie I (MThSt 22), Marburg: Elwert 1987, 56–81. 37 Diesen Zusammenhang stellt bspw. Trutz Rendtorff her, wenn er von ‚Gott‘ als ‚absolutem Subjekt aller Wirklichkeit‘ redet. Vgl. RENDTORFF, TRUTZ, Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann/Habermas), München: Piper 1975, 73.
2. Das ‚pluralistische Universum‘
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‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Kausalität‘ (Handlung) dienten schon Cassirer als Kategorien zur Analyse des religiös-mythischen Denkens.38 Wir lehnen uns an sein Vorgehen an, wandeln es aber spezifisch ab. Raum und Zeit werden als elementare Voraussetzungen eines Konzepts von Handeln, und zwar als dessen Strukturelemente, begriffen, genauer als Sozialität und Geschichtlichkeit. Sie werden verortet in einem umfassenden Zusammenhang, den ich als Universum kennzeichnen werde. Dabei besteht die Pointe des personalen Handelns in seiner Eigenart als interpretierendes (Selbst-)Verantworten. In knappster Verdichtung heißt dies: Als sozialer Kontext wird Welt zu einem pluralistischen Universum. Im Wechselspiel von Kreativität und Kontingenz wird die Zeit als Geschichte zu einem melioristischen Universum. Handeln als (sich, andere und anderes) interpretierendes Verantworten macht das pluralistische Universum als ein melioristisches zu einem personalen Universum. Am Ort des Universums als Inbegriff von Realität wird unter der Kategorie des verantwortlichen Selbst schließlich das prägnant bestimmt, was – mit Blick auf Gott und Mensch – Person genannt zu werden verdient. Diese Schritte sind nunmehr genauer zu explizieren.
2. Das ‚pluralistische Universum‘ als soziales Interaktionsgeschehen 2. Das ‚pluralistische Universum‘
Die These eines personalen Universums, die ich in diesem und den folgenden Abschnitten entfalten will, geht nicht den Weg, von einem mehr oder weniger scharfen Begriff der Person ausgehend dessen Übertragbarkeit auf Gott hin zu prüfen. Dies würde voraussetzen, als konzeptionelle Größen hätten ‚Gott‘ und ‚Person‘ bereits eine mehr oder minder fixierte Bedeutung. Das ist schon innerhalb einer Symboltradition keineswegs ausgemacht. Die These vom personalen Universum ist vielmehr ein Theorieangebot, innerhalb dessen sich die symbolischen Vorstellungen über (den personalen) Gott auf ihre allgemeine Relevanz hin explizieren lassen sollen. Sie bietet einen Interpretationsrahmen, der zu einer kritischen Rekonstruktion der Personalität Gottes verhilft, die weder nur affirmativ noch rein destruktiv vorgeht. Sie ist als Arbeit der Interpretation zugleich Arbeit am Symbol und dient dessen „Prägnanzmodifikation“39. Mit der Formel ‚personales Universum‘ lehne ich mich bewusst an William James’ Rede vom „pluralistischen Universum“40 an. Wenn hier – anders als es Vgl. CASSIRER, PhsF II (Anm. 33), 35–86. MOXTER, Kultur als Lebenswelt (Anm. 32), 389. 40 Vgl. JAMES, W ILLIAM, Das pluralistische Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie (1909). Ins Deutsche übertragen von Julius Goldstein, mit einer neuen Einführung, hg. v. Klaus Schubert und Uwe Wilkesmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. 38 39
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§10 ‚Ein personales Universum‘
sich mit James anbieten würde – nicht von einem personalistischen, sondern lediglich von einem personalen Universum die Rede ist, so um jeden Anschein zu vermeiden als stünde eine Abschlusstheorie in Gestalt eines metaphysischen Personalismus (gar als ‚theory of everything‘) hier zur Debatte. Das ist nicht der Fall. Denn der Fokus auf der personalen Qualität des Universums stellt nur eine von möglichen Betrachtungsformen dar. Es gibt einen Pluralismus partiell metaphysischer Beschreibungsweisen. Die Ausführungen zum ‚personalen Universum‘ entstammen dem Bereich der Religionsphilosophie und konzentrieren sich von daher auf sie. In einem ersten Schritt soll der folgenden Überlegung nachgegangen werden. Um sinnvoll von der Personalität Gottes sprechen zu können, muss erstens aufgezeigt werden, dass es möglich ist, den sozialen Kontext als eine solche Konstellation zu beschreiben: Das Universum „conceived after a social analogy, as a pluralism of independent powers“41, um es mit William James (1842–1910) zu sagen. Diesem ersten Aspekt des Pluralismus ist dann zweitens die Möglichkeit pluraler Weisen der Wirklichkeitserkenntnis zur Seite zu stellen, die jedenfalls so begriffen sein müssen, dass sie nicht prinzipiell in hartem Widerspruch zueinander stehen und sich als solche lebensweltlich bewähren. Beide Aspekte von Pluralismus gehören zur ersten Teilthese, wonach ein pluralistisches Universum den sozialen Kontext der Rede vom personalen Gott ausmacht. 2.1 ‚Universum‘ als offene Prozesskategorie Seit Schleiermachers Reden über die Religion ist der Begriff des Universums in religionsphilosophischem Kontext einschlägig. Bei ihm fungiert sie als Totalitätskategorie für das, was in religiöser Anschauung und Gefühl gegeben ist. Entgegen der Behauptung ihres Autors handelt es sich bei ihr schon in den Reden um einen metaphysischen Begriff, der dann in der Dialektik in die korrelativen Ideen von ‚Gott‘ und ‚Welt‘ ausdifferenziert wird.42 So lässt sich in einer 41 JAMES, W ILLIAM, Faith and the Right to Belief (Appendix), in: Ders., Some Problems of Philosophy. A Beginning of an Introduction to Philosophy (1910). Introduction by Ellen K. Suckiel, Lincoln/London: Univ. of Nebraska Press 1996, 221–231, 228f. Man könnte argumentieren, es wäre besser statt von ‚independent‘ von ‚interdependent powers‘ zu reden. Dass James hier nicht von einer atomistischen Konzeption ausgeht, wird aus den Formulierungen im Kontext deutlich. Mit dem Insistieren auf ‚independent‘ will er vor allem die bleibende Riskiertheit und somit Nicht-Festgelegtheit möglicher Kooperationen von einzelnen ‚powers‘ deutlicher betonen. – Zu dieser Formel im Ganzen, die in nuce die Religionstheorie von James bündelt, siehe: LAMBERTH, DAVID C., Interpreting the Universe after a Social Analogy: Intimacy, panpsychism, and a finite god in a pluralistic universe, in: Ruth A. Putnam (Hg.), The Camebridge Companion to William James, Cambridge (UK) u.a.: Cambridge Univ. Press. 2005, 237–259. 42 Das zeigt zu Recht auf: B ARTH, U LRICH, Was heißt »Anschauung des Universums«? Spinozanische Hintergründe von Schleiermachers Jugendschrift, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 222–243.
2. Das ‚pluralistische Universum‘
421
Hinsicht vom ‚Universum‘ als einer totalisierenden Grenzidee bzw. eines Grenzbegriffs reden, in einer anderen Hinsicht jedoch von einem Inklusionsbegriff, der Gott und Welt und darin das sie und sich erfassende Subjekt umgreift. Wenn wir im Folgenden vom pluralistischen und später dann vom personalen Universum reden, knüpfen wir an diese Konstellation an, geben ihr aber eine andere Fassung. Der Universumsbegriff ist dabei zunächst von seinen üblichen Verwendungen im Bereich der Physik abzugrenzen. Er ist ferner in seiner Differenz zum klassischen Weltbegriff der metaphysischen Theoriesprache zu sehen. Diesen kann man mit Schleiermacher als „Totalität des Seins als Vielheit gesezt“43 verstehen. Der Begriff von Welt steht hier dann als „Einheit mit Einschluß aller Gegensäze“44 dem Gottesbegriff als seinem kontrastiven Korrelat, als „Einheit mit Auschluß aller Gegensäze“45, gegenüber. Das heißt nicht, Gott und Welt stünden lediglich in einem externen Verhältnis; wohl aber ist von Gott immer noch anders als von der Welt zu sprechen, käme dies doch sonst einem strengen Pantheismus gleich.46 Im Gegenzug zu diesem Modell zielt der hier in Anschlag gebrachte Universumsbegriff nicht auf die Probleme von Einheit und Vielfalt, Identität, Individualität und Ganzheit. Sein Anliegen lässt sich nicht mit diesen idealistischen Hintergründen verbinden. Er ist weder ein konstitutiver noch regulativer Abschlussgedanke. Diesseits dieser negierten, totalisierenden Funktion steht er aber gleichwohl der Verwendung beim frühen Schleiermacher nahe, wenn man ihn als Inklusionsbegriff versteht, der das Gesamt einer Konstellation von Gott, Selbst und Welt zu beschreiben versucht. Damit ist dem Universum schließlich die Möglichkeit einer ‚all-at-once‘-Kategorie genommen. Die Universumskategorie darf nicht mehr als strikte Totalitätsidee verstanden werden, sondern ist als Prozessbegriff zu fassen, der damit jedoch seinen limitativen Charakter keineswegs verliert. Denn: Das Universum als solches gibt es nicht. Als Grenzbegriff versucht der Universumsbegriff alles, was unter Realität zu verstehen ist, in einer Konstellation, für die er steht, lozierbar zu machen. Er ist der Inbegriff des sozialen Kontextes, ein in sich plural verfasstes, stets in Veränderung begriffenes und aus vielfältigen und vielschichtigen Relationen bestehendes Gefüge. Unser Universum ist also kein monolithisches
43 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren Zusätzen), in: Ders., Vorlesungen über die Dialektik. Kritische Gesamtausgabe. II. Abteilung, Bd. 10, Teilband 1 (= KGA II,10.1), hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York: de Gruyter 2002, § 218, 73–197, 147. 44 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Ausarbeitung zum Kolleg 1822, in: Ders., Vorlesungen über die Dialektik, KGA II,10.1, hg. v. Andreas Arndt, Berlin/New York: de Gruyter 2002, 217–276, 269. 45 Ebd. 46 Genau diesen Verdacht wollte Schleiermacher bekanntlich mit seiner Theorieanordnung aus dem Weg räumen.
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§10 ‚Ein personales Universum‘
„Blockuniversum“47. Als offener und kontingenter Prozess – mit pluralen Strukturen durchzogen – bleibt er fluide und überschreitet stets seine Bestimmtheiten ins bislang Unbestimmte, noch nicht Realisierte. Deswegen stellt das Universum im Gegensatz zu seinen Gliedern keine weitere Realitätsgröße dar. Damit wird die Kategorie von ‚Universum‘ zu einer konstellativen Größe, deren limitativer Status darin besteht, dass es als Universum anders als alle seine distinkten Glieder keine weitere Umwelt mehr kennt, von der es sich abhebt. In diesem Sinne impliziert die Grenzidee des Universums noch als Prozesskategorie, dass alle in ihr gefassten Realitäten einerseits stets distinkt voneinander sind und somit ein ‚Außen‘ kennen, andererseits aber in je bestimmten, freilich nicht uniformen oder gleichförmig symmetrischen Verbindungen zueinanderstehen. Mit James verweist unsere Universumskategorie auf das Faktum eines ‚Multiversums‘, das kein ‚Pluriversum‘ meint. Denn: Unser ‚Multiversum‘ macht noch immer ein Universum aus: denn jeder Teil ist, wenn auch nicht in tatsächlicher oder unmittelbarer Verbindung, so doch in einer möglichen oder mittelbaren Verbindung mit jedem anderen noch so entfernten Teil verbunden, und zwar dank der Tatsache, daß jeder Teil mit seinem nächsten Nachbarn in unauflöslicher gegenseitiger Vermischung zusammenhängt. Es muß zugegeben werden, daß der Verbindungstypus hier verschieden ist von dem monistischen (…) der Alleinheit. In dem pluralistischen Typus sind die Dinge nicht zu einer sich gegenseitig bedingenden Einheit zusammengefügt; sie sind nur aneinandergereiht und den Typus ihrer Verbindung kann man als Typus der Kontinuität, der Kontiguität oder der Verkettung bezeichnen.48
Die Ausführungen von James können in formaler Hinsicht zur Beschreibung der Konstellation dienen, um die es geht. Die erste Bedingung für das Reden von der Personalität Gottes besagt, dass von ihr nur dann sinnvoll geredet werden kann, wenn es mehrere voneinander (partiell) unabhängige Instanzen gibt, die aufeinander einwirken können. Damit steht genau jene Alternative zur Debatte, die James zwischen ‚Block‘- und ‚Multiversum‘ aufgezeigt hat. Beide Modelle stehen nicht einfach als Plädoyer für Einheit oder Vielfalt einander gegenüber. In beiden geht es vielmehr um die Frage, wie angesichts der Pluralität der Glieder von Wirklichkeit diese zueinanderstehen. Beruht ihr Verhältnis (Ordnung) wesentlich auf einer letzten, gleichen Struktur oder Verfasstheit oder basiert ihr Zusammenhang darauf, dass Zusammenhänge unter prekären Bedingungen und in zeitlichen Abläufen gestiftet werden? Aus letzterem erklärt sich der Prozesscharakter des Universums, aber so, dass es sich hierbei rein um eine Verhältnisbestimmung handelt, die nicht mit der Einführung einer weiteren
Vgl. JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 213. – Bei James operiert dieser pejorativ gebrauchte Ausdruck (der Alleinheit) für monistische Konzeptionen der Wirklichkeit. 48 A.a.O., 211. 47
2. Das ‚pluralistische Universum‘
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ontologischen Kategorie verwechselt werden darf49. Das ‚Universum‘ steht für eine synechistische Konstellation, innerhalb derer Wirklichkeit begriffen werden muss. D.h. letztere unter der „Tendenz zu verstehen, alles zusammenhängend [continuous] zu betrachten.“50 Mit dem Stichwort der ‚Tendenz‘ wird deutlich, dass nicht etwas eindeutig fixiert oder konstatiert werden soll, sondern es sich um eine Zielperspektive handelt, die jedoch dem prozesshaften Charakter des Universums und der durch sie gefassten Realität entspricht. Jene prägt sich unter raumzeitlichen Bedingungen als entfaltendes Kontinuum dergestalt aus, dass ihre Glieder miteinander auf unterschiedliche Weise verknüpft werden bzw. in Beziehung stehen.51 Damit wird klar, warum das Universum als Prozess nicht ablösbar von dem ist, was sich ‚in‘ ihm prozedural als seine Glieder52 realisiert; stellt es doch selbst keine Zusammenhänge her, sondern bildet stets nur deren Gestalt. Es lässt sich als das Medium fassen, in dem Realitäten sich ereignen, gestalten und zeigen. Damit bürgt es für den Zusammenhang, ohne dieser selbst zu sein. Mit der relationalen Struktur ergibt sich ein erster Hinweis auf das, was im Folgenden die Sozialität aller Realität genannt werden soll. Das so rekonstruierte Problemtableau lässt sich für die Verortung Gottes, wie sie sich exemplarisch aus der Situation des Betens als Frage einstellt, fruchtbar machen. Dazu kann erneut eine Beobachtung von James hilfreich sein. Sie hat ihren Ausgangspunkt in dem Problem, wie sich ein religiöser Monotheismus zu seiner philosophisch-theologischen Verfasstheit verhält. Die Spannungen sind aus der Theoriegeschichte allesamt bekannt. Man denke nur an das Problem der göttlichen Allmacht als herausgehobenes Prädikat eines monotheistischen Gottesgedankens. Macht ist selbst ein soziales Phänomen und beißt sich in ihrer höchsten Steigerung am Moment der ebenfalls theoretisch notwendigen Aseität Gottes. Aber diese theoretische Problemrekonstruktion überdehnt den Anspruch auf Konzeptionalität zuungunsten des Kontextes seiner religiösen Entdeckung. Darauf macht James mit Folgenden aufmerksam: 49 Damit unterscheidet sich dieser Universumsbegriff in seinem Status von demjenigen der Kreativität in der Prozessphilosophie, zumindest bei ihrem klassischen Vertreter Whitehead. Für diesen ist ‚Kreativität‘ die fundamentale, metaphysische Kategorie, die für Gott und Welt grundlegend ist, und dies in einem durchaus ontologischen Sinne. Vgl. WHITEHEAD, ALFRED N., Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929). Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hans G. Holl, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, 611–627, v.a. 622f. 50 PEIRCE, C HARLES S., Unsterblichkeit im Licht des Synechismus (1892/3), in: Ders., Religionsphilosophische Schriften. Übersetzt unter der Mitarbeit von Helmut Maaßen, eingeleitet, kommentiert und hg. v. Hermann Deuser, Hamburg: Meiner 1995, 203–208; 203. 51 Vgl. Ebd. 52 Ich spreche hier bewusst in künstlichem Sinne von ‚Gliedern‘ statt von ‚Teilen‘, um klar zu machen, worin der entscheidende Unterschied zum Verständnis von Universum als einer Totalitätsidee besteht.
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[D]er Monotheismus selbst, soweit er wirklich Religion und nicht etwa das Thema metaphysischer Universitätsvorlesungen ist, hat immer in Gott nur einen der Helfer gesehen, nur den primus inter pares inmitten all der anderen Mächte, die das große Geschick der Welt gestalten.53
Mit dieser Bemerkung will James nicht den Monotheismus prinzipiell infrage stellen. Auch wird die Spannung zwischen Theorie und Praxis nicht einfach zugunsten der naiven Frömmigkeit gelöst. Viel eher zielt das Insistieren auf dem Eigenrecht der religiösen Perspektive darauf, wonach ein metaphysisches Modell so zu konzipieren wäre, dass es die Sozialität des Universums, der Welt, als einen pluralistischen Kontext versteht, innerhalb dessen seine Glieder als irreduzible Individualitäten (mit Blick auf die Menschen) bzw. als Singularität (mit Blick auf den einen Gott) zu begreifen wären. So ließe sich einerseits am Kontinuum von Gott und Menschen festhalten, die als in der Welt oder im Universum Tätige zu verstehen sind, und andererseits über den Gedanken der Singularität am monotheistischen Gottesgedanken festhalten, der in jener Hinsicht auch mehr ist als nur ‚primus inter pares‘.54 Während man im Modell des Blockuniversums den Gottesgedanken als den absoluten Einheitspunkt bezeichnen könnte, der stets mitgesetzt ist, so steht der Gottesgedanke im Multiversum, das jedoch kein Pluriversum ist, für diejenige einzigartige Tätigkeit, die ihm als ‚Helfer‘ und ‚Partner‘, aber auch als ‚Richter‘ und ‚Versöhner‘ in den religiösen Praxen zuerkannt wird und die auf jeden Fall von einer Kontinuität, einem Zusammenhang zwischen von einander zu unterscheidenden Gliedern ausgeht. Der Vorteil dieses Modells liegt zunächst darin, dass auf die soziale Konstellation geachtet wird, innerhalb derer es allein Sinn macht, von ‚Gott‘ und ‚Menschen‘ als personalen Realitäten zu sprechen. Damit ist nicht ein etwaiges Transzendenzkriterium infrage gestellt, sondern lediglich positiv vermerkt, dass Gott und Menschen als Glieder des Universums nie in Abstraktion von der Welt gedacht werden können. In anderer Terminologie hat Volker Gerhardt diesen Sachverhalt so ausgedrückt: Aus der Sinnperspektive des Handelnden kann Gott daher als das Wesen der Welt bezeichnet werden. Versuchen wir hingegen ihn als außerweltliche Größe zu denken, verliert er jeden
53 JAMES, W ILLIAM, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkgewohnheiten (1907). Übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung (PhB 297), hg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 21994, 192. 54 Über James partiell hinausgehend kann unter Rückgriff auf die Figur der Singularität, die insbesondere von Hermann Cohen und Franz Rosenzweig zur Kennzeichnung des biblischen Monotheismus herangezogen wurde, der monotheistische Gottesgedanke im Modell des pluralistischen Universums gewahrt bleiben und zwar in Kontrastierung zu monistischen Alternativen. Diese Kontrastierung, die symbolisch gesprochen die Einzigkeit gegenüber der Einheit Gottes betont, teilen James, Cohen und Rosenzweig. Vgl. nur: COHEN, HERMANN, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen: Töpelmann 1913, 23.26.61.
2. Das ‚pluralistische Universum‘
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Sinn für den, der in der Welt handeln muss und der alles Kommende (…) nur in ihr vorstellen kann.55
Das macht den Realitätsgehalt der Gotteslehre aus, und es ermöglicht zugleich, die bestimmte, u.U. auch personale Rede von Gott als sachhaltig zu verstehen. „Das Göttliche (…) muss eine Wirklichkeit im Sinn einer realen Wirksamkeit – und insofern etwas Positives – sein.“56 Gerhardts Rede von der „Wirksamkeit“, die wir späterhin als eine spezifische Handlungsmächtigkeit fassen werden, verweist jedenfalls darauf, dass es zur Grundstruktur von Realität oder auch Wirklichkeit57 gehört, dass sie sozial ist. 2.2 Die Sozialität aller Realität Die Rede von der Sozialität aller Realität ist explikationsbedürftig. Unter der Disposition ‚sozial‘ ist mehr und anderes gefasst als das, was wir unter humaner Sozialität – im Sinne von Gesellschaft und Inter-Subjektivität – verstehen. Beides ist zwar darin inbegriffen, stellt aber sehr hochstufige Fälle eines weitaus grundsätzlicheren Aspekts von Realität dar, den wir hier als Sozialität auszeichnen. Bereits an anderer Stelle ist diesbezüglich auf Meads Verständnis der sozialen Gegenwart aller Realität zurückgegriffen worden. Grundlegend für dessen Verständnis ist die Tatsache, dass alles, was sich real erfassen lässt, stets perspektivisch erlebt und symbolisch codiert wird. Auf diese Weise zeigt sich eine noch grundlegendere Sozialität, die nicht darauf beschränkt ist, dass es Instanzen gibt, die sie als solche erfassen. Deswegen kann Mead kurz und knapp feststellen: „Sozialität ist die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein“.58 55 G ERHARDT, V OLKER, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München: Beck 2014, 228. – Wir werden im Folgenden allerdings nicht von Gott als dem ‚Wesen der Welt‘ sprechen, weil das zu Missverständnissen führen könnte. Bei Gerhardt läuft diese Rede jedenfalls nicht auf einen Pantheismus hinaus. Das wird dadurch verhindert, dass die handelnde Sinnperspektive (der menschlichen Person) als Ausgangspunkt für das Verstehen des Göttlichen – als Wesen der Welt – nicht übersprungen werden kann. Von daher erklärt sich auch Gerhardts positive Würdigung der Personalität Gottes. Vgl. a.a.O., 234f. 237–241.258–266. – Vor dem Hintergrund einer anderen philosophischen Tradition laufen Gerhardts und meine Überlegungen daher in vielem parallel. 56 A.a.O., 229f. 57 In dieser Arbeit werden die Begriffe von ‚Realität‘ und ‚Wirklichkeit‘ weitgehend synonym verwendet. Das meint keinen naiven Realismus, sondern will der Ansicht Rechnung tragen, dass in der hier beanspruchten pragmatistischen Tradition Wirklichkeit etwas ist, das reale Konsequenzen hervorbringt oder nach sich zieht und sich von daher als Wirksamkeit zeigt. Das aber kann nicht abseits symbolischer Bestimmtheit erfasst werden. 58 M EAD, G EORGE H., Philosophie der Sozialität (1932), in: Ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Einleitung von Hansfried Kellner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, 229–324, 281. – Im Hintergrund stehen hier Einsichten der Relativitätstheorie und Quantenphysik, die Mead – ähnlich wie Cassirer – in ihren philosophischen Konsequenzen ausleuchten will.
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§10 ‚Ein personales Universum‘
Dieser scheinbar kryptische Satz zielt darauf ab, dass alle Aktivitäten, die sich im Universum feststellen lassen, zum gleichen Zeitpunkt unter verschiedenen Perspektiven betrachtet und erkannt werden können. Als Strukturbegriff ist Sozialität somit auf elementare Pluralität von Realitäten und ihrer Erkenntnis ausgerichtet. Allerdings wäre damit der Facettenreichtum von Sozialität noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Es gibt mindestens zwei weitere Punkte, die notwendig sind, um den prinzipiellen Charakter der Sozialität des Universums als Erkenntnis- und Realitätsmedium zu kennzeichnen. Den ersten haben wir bereits mit der Formel von James gestreift, wonach das Universum als Erfahrungskontinuum „after a social analogy“59 zu fassen ist. Die Rede von der Verkettung von Ereignissen und Gliedern, die zusammen die allgemeine Konstellation von Realität beschreiben, deutet an, dass es sich bei den Verhältnisbestimmungen, die die einzelnen Glieder eingehen, weder nur um zufällige Optionen handelt, noch diese einer festen Logik im Sinne eines Gesetzes folgen. Die faktischen Relationen verdanken sich daher auch nicht reinen Vernunftoperationen; so als würde allererst durch die Vernunft konstruiert, was zuvor unverbunden nebeneinanderstünde. Zur Sozialität als Perspektivenpluralität gehört die Gleichursprünglichkeit der Distinktheit der Glieder und der diversen Verbindungen (Relationen). Das ändert nichts daran, dass beide Perspektiven – distinkte und konjunktive Relationen und Glieder – unterschieden werden können, sie aber sind Bestandteil ein und derselben Konstellation, des Universums, sind, innerhalb dessen sie erkannt und bestimmt werden können. In diesem Sinne kann man von einem radikalen Empirismus sprechen, ohne sich der Jamesschen Fassung automatisch anzuschließen. Jeder, der das Empfindungsleben in concreto untersucht, muß erkennen, daß Beziehungen jeder Art: Zeit, Raum, Verschiedenheit, Gleichheit, Veränderung, Maß, Ursache oder was sonst noch, genau so wesentliche Bestandteile des Flusses der Sinneserfahrungen sind, als sie B e g r i f f e sind und, daß konjunktive wie disjunktive Beziehungen echte Bestandteile dieses Flußes sind.60
In diesem zweiten Fall meint Sozialität nicht so sehr die Möglichkeit anderer Perspektivierung oder den prinzipiellen Perspektivenreichtum, der von jedem Sachverhalt gelten kann. Vielmehr steht die durch die prozesshafte Entfaltung JAMES, Some Problems (Anm. 41), 228f. JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 179. – James bezieht sich hier auf seinen Aufsatz: JAMES, WILLIAM, Eine Welt der reinen Erfahrung (1904), in: Ders., Pragmatismus und radikaler Empirismus, hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Claus Langbehn, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 28–57. – Hier wie dort liegt die systematische Pointe darin, gegenüber harten kategorialen Scheidungen, z.B. in primäre und sekundäre Qualitäten oder auch von phänomenaler und noumenaler Perspektive, an der Vielgestaltigkeit erfassbarer Realitäten festzuhalten; und zwar aufgrund der Einsicht, dass solche harten Klassifikationen bereits auf Voraussetzungen beruhen, die selbst harten Begründungspflichten unterliegen. Daran lässt sich auch unabhängig von der psychologischen Rahmung des JamesZitats festhalten. 59 60
2. Das ‚pluralistische Universum‘
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von Realitäten verursachte Pluralität an wechselseitig möglichen Relationen im Vordergrund. Es geht um die jeweilige Qualität dieser Beziehungen als enge oder lose Verknüpfungen von Gliedern. Deswegen meint die Rede von dem „pluralism of independent powers“61 nichts spezifisch Religiöses. Zu dieser qualitativen Pluralität gehört ferner die elementare Verschränkung von Sozialität und Temporalität. Denn die Glieder des Universums bestehen nicht abseits ihrer Erfassung durch andere. Erfassen – im Fall des Menschen: durch symbolisches Erkennen – und Realität korrelieren, indem beide Perspektiven sich zueinander verhalten. Anders gesagt: Sie sind im Fluss und das bedingt den Prozesscharakter aller Relationen und die Bestimmtheit ihrer Glieder. Zeit verändert Erkenntnis, wie diese sie qualifiziert. Das gilt insofern, als auch Zeit nicht perspektivenunabhängig ist und Wissen als Erkenntnis stets eine zeitliche Perspektive meint. Deshalb lässt sich behaupten: „Was jemals wirklich existiert, sind nicht Dinge, die schon geworden sind, sondern Dinge, die noch im Werden (in the making) begriffen sind.“62 Man kann sich dies mit Blick auf die Vergangenheit von Sachverhalten klarmachen. Denn diese lassen sich zumeist nie einfach feststellen oder erinnern. Beides, die Feststellung wie die Erinnerung, unterliegt selbst einem zeitlichen Verlauf, der sich ändern kann, z.B. in dem die daraus entstandene Gegenwart sich ändert. Es gilt dabei jedoch zu betonen, dass alle diese Bemerkungen von der Position des Menschen aus erfolgen. Einen anderen Zugang haben wir nicht. Das bedeutet aber weder, dass nur menschliche Perspektiven möglich wären, noch, dass es sich bei den einen oder anderen nicht um realistische Zugänge zur Realität – eben in perspektivischer Brechung – handeln würde. Schließlich verändert unsere Perspektive die Welt ebenso, wie sie als eine Perspektive Teil einer perspektivenreichen, eben pluralen und d.h. prinzipiell sozialen Realität ist. Als „Welt der menschlichen Erfahrung“ aber zeigt sich uns, dass ein „Mitsein[] ohne jedes Nebensein[] (…) ein[] Nebensein[] ohne jedes Wiesein[] (…) ein[] Wiesein[] ohne jede Aktivität (…) eine Aktivität ohne jede Absicht (…) eine Absicht ohne jedes Ich“63 nicht denkbar ist. Damit sind wir bei der dritten Implikation der Rede von der Sozialität des Universums. Ganz gleich welchen Perspektivenpluralismus wir auch immer bemühen, alle Erfassung und jeder Umgang mit Realität erfolgt in einer anthropologischen Modellierung, die selbst sozial im umfassenden Sinn ist. Denn als zu einer Vorstellung unseres Universums fähige Lebewesen sind wir selbst nur durch Aufnahme vieler Perspektiven möglich. Das aber heißt, wir sind sozial konstituiert. Ohne Widerständigkeit der äußeren Umwelt erwächst einem weder ein ‚Ich‘ noch bildet sich innerhalb der natürlichen Evolution eine distinkte Lebensform heraus. Noch die JAMES, Some Problems (Anm. 41), 219. JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 169. 63 JAMES, Eine Welt der reinen Erfahrung, in: Ders., Pragmatismus und radikaler Empirismus (Anm. 60), 31. 61 62
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§10 ‚Ein personales Universum‘
moralisch imprägnierte Leistung der Einbeziehung der Anderen in inklusivere Verhältnisse erfolgt nie ohne weitere Grenzsetzungen. Allgemein gesprochen: Distinktion und Relation sind Elemente einer grundlegenden sozialen Struktur, die sich an uns und an aller Realität im Werden und im Vergehen bemerkbar macht, ohne ihr deswegen vorausgelagert zu sein. Aber erst sie verhilft zu symbolischer Bestimmtheit. Die soziale Struktur betrifft den Bereich meiner persönlichen Erfahrung in gleichem Maße, wie sie Theorien über kosmische oder natürliche Evolution prägt. Verdankt sich erstere sozialen Wechselwirkungsprozessen, so basieren die letzteren darauf, eine Geschichte als sozialen Prozess rekonstruieren zu können, der ebenfalls durch das Eingehen unterschiedlicher Verbindungen seiner Glieder charakterisiert ist. Die Genese individuellen Selbstbewusstseins im inter-subjektiven Kontext und die Ausdifferenzierung des natürlichen Kosmos stellen nicht minder soziale und somit zeitliche Prozesse dar.64 Mit beiden Beispielen rühren wir allerdings an einer Besonderheit, die zu einem späteren Zeitpunkt noch von Relevanz sein wird: Sie sind Resultate von Interpretation, welche als basale Aktivität der Erfassung und Gestaltung von Perspektiven betrachtet werden kann.65 Damit wird das pluralistische Universum als ein soziales Interpretationsgeschehen fassbar. 2.3 Das ‚pluralistische Universum‘ als soziales Interpretationsgeschehen Unsere bisherigen Überlegungen zur Sozialität aller Realität, die zugleich die Konstellation des Universums beschreibt, zielte darauf, beide Größen als eine Art von community zu fassen. Das heißt: als eine Gemeinschaft vielfältiger Verbindungen (Relationen) von distinkten Gliedern. Dabei macht ihr temporaler Charakter aus, dass die pluralen Perspektiven und Glieder nicht in einem konstitutiven Bedingungsverhältnis stehen, sondern sich einem Prozess verdanken, der nur durch Interpretation vorläufig bestimmt werden kann. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit zu klären, was das heißen könnte: Das Universum stellt einen aktivischen Zeichenprozess mit irreduziblen Perspektiven und irreversiblen Abschnitten dar und ist als solches ein soziales Interpretationsgeschehen. Man kann sich das dahingehend erklären, dass ‚Interpretation‘ als Schema einer umfassenden Rekonstruktion all dessen fungieren kann, was als Realität
64 Eine prägnante Darstellung dieser Zusammenfassung gibt: R OYCE, JOSIAH, SelfConsciousness, Social Consciousness and Nature (1895), in: The Basic Writings of Josiah Royce, Volume 1: Culture, Philosophy, and Religion, hg. und mit einer neuen Einleitung von John J. McDermott, New York: Fordham Univ. Press 2005, 423–461. 65 Jedenfalls dann, wenn man unter ‚Interpretation‘ eine strukturelle, genauer: semiotisch rekonstruierbare, Eigenart lebendiger Prozesse begreift. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt.
2. Das ‚pluralistische Universum‘
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erkennbar ist. Der Horizont des Universums wird dann als umfassender Horizont, in dem Interpretationen vielgestaltig und plural stattfinden, gekennzeichnet: Leben besteht im Vollzug solcher Zeichen- und Interpretationsprozesse, von den einfachsten Formen bis zu den komplexesten Gestalten des Lebens. Aktiv an solchen Prozessen partizipieren zu können, also nicht nur Zeichenträger, Zeichenmedium oder Bezeichnetes, sondern Zeicheninterpret zu sein, unterscheidet Lebewesen von unbelebten Dingen und Pflanzen. Lebewesen, die ein bewusstes Leben führen (höhere Tiere), vermögen sich dazu in ein zeichenvermitteltes emotionales und basal kognitives Verhältnis zu setzen, also ansatzweise Zeichen als Zeichen zu gebrauchen und ihr Verhalten nicht nur durch artspezifische Dispositionen (Instinkte), sondern durch selbst Erlebtes und Erinnertes (belief) zu steuern. Potentiell selbstbewusstes Leben und damit Menschen aber zeichnet aus, dass sie sprachfähig sind, diese Prozesse in Gemeinschaft vollziehen können und sie so kreativ zu tradieren und kritisch zu gestalten vermögen.66
Im Anschluss an Meads Diktum, wonach Sozialität meint, mehrere ‚Dinge‘ gleichzeitig zu sein, geht es hier nun nicht darum, zu behaupten: alles sei schlicht Interpretation; wohl aber darum, Interpretation als einen vielfältig differenzierbaren Modus von Leben zu begreifen, über den sich auch begreifen lässt, was und wie alles sein kann. Noch vor aller Differenzierung der Arten von Interpretationsprozessen – in natürliche, kulturelle etc., lässt sich somit sagen, die Eigenart der Glieder, d.h. ihre Bestimmtheit in Relationen, bildet sich – zeichentheoretisch gefasst – in wechselseitigen Prozessen von Interpretation aus. Damit wird auf andere Weise das strukturelle Prinzip der Sozialität reformuliert. Denn im Anschluss an die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce lässt sich die Pluralität bzw. Perspektivität der Realität dadurch fassen, dass alles sowohl ‚Objekt‘, ‚Zeichen‘ und ‚Interpretant‘ einer jeweiligen Interpretation sein kann, wenn auch nicht in ein und demselben Interpretationsakt.67 Alles, was in der Praxis real erfahren wird, indem es symbolisch codiert begriffen wird, ist bereits Resultat einer Interpretation, die selbst wiederum auf vorangegangenen Interpretationen fußt und weitere provoziert. Dabei umgreift Interpretation sowohl Wahrnehmungsmuster als auch kategoriale Deuteschemata, erschöpft sich aber gerade nicht darin, jene aufeinander zu beziehen, sondern
66 D ALFERTH, INGOLF U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 10f. 67 Das, was zu interpretieren veranlasst, nennt Peirce Objekt; dasjenige, was zu interpretieren ist, stellt das Zeichen dar; der Interpretant hingegen ist dasjenige, wodurch das, was zu interpretieren ist, mit Blick auf den Anlass der Interpretation, sein Objekt, interpretiert wird. – Einen guten Überblick über die Grundkoordinaten seiner Zeichentheorie gibt Peirce in: PEIRCE, CHARLES S., What is a Sign? (1894), in: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, Bd. 2 (1893–1913), hg. v. Nathan Houser u.a., Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 1998, 4–10, sowie in: Ders., Excerpts from the Letters to Lady Welby (1906–1909), in: a.a.O., 479–483.
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zeigt auf, dass sie selbst bereits vermittelte Zeichenprozesse darstellen. An dieser Stelle kommen trotz aller Unterschiede in der Konzeption die Überlegungen von Peirce (und Royce) mit denjenigen Cassirers überein.68 Uns kommt es hier lediglich darauf an, dass der Zeichenprozess selbst eine intrinsische Sozialität aufweist, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, ihn im Fortgang unserer Überlegungen als eine Variante der Rekonstruktion von Realität im Sinne eines personalen Universums zu gebrauchen. Interpretationen erschöpfen sich nun aber nicht in Interpretationen. Dies gilt schon deswegen, weil das, was mit Peirce ‚Objekt‘ genannt wird, nicht unmittelbar durch den Zeichenprozess darstellbar ist, sondern weitere Zeichenprozesse nach sich zieht. Stärker noch wird dem Missverständnis, Interpretation wäre lediglich die logisch-epistemische Struktur aller Realität, dadurch vorgebeugt, dass es sich um einen aktiven und wechselseitigen Prozess handelt. Nicht das, was zu interpretieren ist, liegt bereits vor und bedarf dann nur noch seiner nachgängigen Deutung. Sondern es wird im Vorgang seiner Interpretation durch anderes selbst weiter bestimmt, verändert sich und provoziert neue Interpretationen, wie es weitere Reaktionen nach sich zieht. An dieser Stelle kommt es somit darauf an, die Temporalität dieses sozialen Prozesses erneut ins Spiel zu bringen. Mehr noch allerdings zeigt sich, dass Interpretieren einen grundlegend aktiven Vorgang meint. Auf allgemeinster Ebene wird damit das Paradigma des Handelns im Modell des Interpretierens sichtbar. Das gilt im Sinne der wechselseitigen Beeinflussung nicht nur für diejenigen Prozesse, die Dalferth als lebendige herausstellt und als organische fasst. Denn auch die nicht organische Natur kann als Zeichenprozess gelesen werden, und zwar als einer, der sozial strukturiert ist und wechselseitige Relationen mit einschließt, die sich gegenseitig fortbestimmen.69 Richtig ist aber durchaus, dass es zwischen den verschiedenen Gliedern und Relationen des Universums zu Aus diesem Grund haben wir in der Arbeit des Öfteren Zeichen und Symbol austauschbar verwendet. Denn Cassirers Begriff der symbolischen Darstellung folgt durchaus der Logik, ‚etwas wird durch etwas anderes als etwas‘ dargestellt. Deswegen ist der „geistige Grundakt der Repräsentation (…) niemals dadurch verstanden, daß man ihn in Teile zerlegt und ihn gewissermaßen in diese zerbricht“ (CASSIRER, ERNST, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], ECW, Bd. 13. Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, Hamburg: Meiner 2010, 361). Das müsste aber gelten, wollte man einen zweistelligen Symbol- bzw. Zeichenbegriff bei Cassirer unterstellen. Vgl. dazu auch: MOXTER, Kultur als Lebenswelt (Anm. 32), 135f.145f. 69 In diesem Sinne begreift Josiah Royce den Status natürlicher Realität, inklusive der sog. anorganischen Prozesse, weil folgt: „We ought not to speak of dead nature. We have only a right to speak of uncommunicative nature. Natural objects, if they are real at all, are prima facie simply other finite beings, who are, so to speak, not in our own social set, and who communicate to us, not their minds, but their presence“ (ROYCE, Self-Consciousness, in: Basic Writings I [Anm. 64], 448). – Nicht also die zeichenhaft begriffene Sozialität, sondern lediglich die Art des Zeichenprozesses differiert zwischen den verschiedenen Formen und Gestalten des Lebens und der Natur. 68
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signifikanten Stufungen bzw. Differenzen hinsichtlich der Formen des Interpretierens kommt. Einfacher gesagt: Sie nehmen mit zunehmendem Maße komplexere Züge an, bis zum Ort selbstbewussten Interpretierens, der als Ort humaner Lebensformen verstanden wird. Hier könnte man Personen als eine distinkte Form von Interpreten einführen. Dabei wäre allerdings zunächst klarzustellen, dass auch Menschen bzw. Personen als Relation aus Objekt, Zeichen und Interpretant zu begreifen wären.70 Denn selbst ihre reflexive Verfasstheit, um mit Dalferth zu sprechen, ließe sich wiederum triadisch darstellen. Sie wären dann nicht nur raumzeitliche Stellen, Körper oder natürliche Organismen, sondern biographische Geschichten, soziale Rollen und emotionale Bündel. Doch deutet bereits Dalferth eine weitere Eigenschaft an. Denn für ihn sind Personen nicht nur aktiv-reaktive Interpretationsprozesse, sondern können sich selbst als solche verstehen, da sie in spezifischerer, nämlich komplexerer Weise, kreativ und responsiv auf das Interpretationsgeschehen wirken können: es z.B. in Gang halten oder abbrechen und neu beginnen. In diesem permanenten, kreativen und regelhaften, stets implizit selbst-reflexiven Antwortvorgang könnte der Aufbau personaler Identität begründet liegen. Dann aber scheint es geboten, den allgemeinen Zeichenprozess, der als dreigliedriger von der Beschreibung der Aktivität biochemischer und kosmischer Prozesse bis hinauf zu kulturellen Formationen verwendet werden kann, von jenem strukturellen Moment abzuheben, das nicht in der triadischen Struktur des Zeichenprozesses aufgeht, sondern sich zu diesem in ein anderes Verhältnis setzt. John E. Smith hat deswegen vorgeschlagen, mit Blick auf diese Fälle, von denen noch nicht klar ist, ob sie sich nur auf Menschen beschränken, ein viertes Moment davon abzuheben, den Interpreten. When we consider an actual process of interpretation and not merely the logical structure exhibited in such interpretation as such, a forth term is introduced – the interpreter or the sign-reading agent who performs the task. The interpreter or the one who grasps signs as such and attempts to read them, must not be confused with the interpretant which is the interpretation given by the interpreter to the original sign.71
70 Eine umstrittene Frage der Peirce-Interpretation ist, ob dieser nicht Personen letztlich auch nur als komplexe Zeichenprozesse versteht und daher eine Theorie der Personalität, die nicht in einer solchen Charakterisierung aufgeht, nicht in seine Zeichentheorie integrieren kann. In der Frühphase scheint dies der Fall gewesen zu sein. Vgl. PEIRCE, CHARLES S., »Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen« (1868), in: Ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21976, 40–87, 79. – Zum Problem siehe: PAPE, HELMUT, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Charles S. Peirces Entwurf einer Spekulativen Grammatik des Seins, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 45–51.56. 71 SMITH, JOHN E., Signs, Selves, and Interpretation, in: Ders., America’s Philosophical Vision, Chicago/London: The Univ. of Chicago Press 1992, 173–90, 177.
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Smiths Ausführungen stehen im Horizont einer Royce’schen Rezeption von Peirces Zeichentheorie, die gegenüber letzterer daran festhält, dass das Verstehen von Interpretationen – selbst noch vom Interpretieren des Universums als ein umfassendes soziales Interpretationsgeschehen – aus der Perspektive eines spezifischen Welt- und Selbstumganges erfolgt, der ein genuin praktischer ist. Dann aber lässt sich das Interpretationsgeschehen, auch unter Erhalt seiner Sozialität im Sinne einer triadischen Struktur, genauer spezifizieren, nämlich als Interaktionsgemeinschaft.72 Am Menschen wird dies deutlich: Seine Formen der Interpretation verdanken sich dem handelnden Umgang mit Realität, werden symbolisch prägnant und halten Wirklichkeitserkenntnisse bereit, die aktiv Wirklichkeit für ihn verändern. Damit wird – wie schon mehrfach betont – weder die Sozialität und mit ihr die Pluralität der Realität und ihrer Perspektiven durchbrochen noch an der generellen Struktur der Zeichenprozesse etwas verändert; letzteres insofern, als sich der Interpret nicht einfach in die dreigliedrige Zeichenprozessstruktur als ein weiteres, viertes Moment (Glied) einfügen lässt. Dennoch wird derjenige Kontext spezifiziert, der als rein sozialer und pluraler noch nicht hinreichend bestimmt ist, nämlich der Fall des Aufkommens von Personalität. Dieser wird dadurch gekennzeichnet, dass die Interpretationsprozesse eine hermeneutische Qualität annehmen, indem sie nicht ohne (Rück-)Bezug auf den bzw. möglicherweise die Interpreten erfolgen, die jedoch nicht in ihnen aufgehen. Metaphysisch gesehen ist die Welt der Interpretation diejenige, in der wir – sofern wird überhaupt zu interpretieren vermögen – das Sein und das Innenleben unserer Mitmenschen kennenlernen sowie die Konstitution der zeitlichen Erfahrung mit ihrer sich endlos anhäufenden Aufeinanderfolge bedeutungsvoller Taten. In dieser [!; C.P.] Welt der Interpretation können selbstbewußte Wesen und Gemeinschaften existieren, kann Vergangenheit und Zukunft definiert werden und die Bereiche des Geistes einen Platz finden.73
72 In eine ähnliche Richtung wie die hier angestellten Vermutungen zielt die Absetzung Josiah Royces von Peirce bei Karl-Otto Apel. Vgl. APEL, KARL-OTTO, Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der Semiotik des Pragmatismus, in: Ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21981, 178–219, v.a. 199– 206.218f. – Apel verfolgt in diesem Aufsatz das Ziel einer sozialtheoretischen Umstellung der Peirceschen Semiotik, die es erlaubt, die hermeneutisch-praktischen Anliegen der Philosophie stärker in sie zu integrieren. „Es handelt sich – auf der Linie der Peirceschen Semiotik weitergedacht – um die Interpretationsgemeinschaft einer unbegrenzten Interaktionsgemeinschaft“ (a.a.O. 213). Auch den Aspekt, den wir hier in den Vordergrund stellen, ihn aber vom dreigliedrigen Zeichenprozess strukturell abheben, kennt Apel, und zwar insofern es bei ihm zum kritischen Selbstbewusstsein gehört, dass es als „Glied und Repräsentant der unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft“ die „unbegrenzte Gemeinschaft gegen sich selbst als empirisch-endliches Bewußtsein“ (a.a.O., 218) zur Geltung bringen kann. 73 R OYCE, JOSIAH, The Problem of Christianity (1913). With the Introduction by John E. Smith and a New Foreword and a revised and expanded Index by Frank M. Oppenheim,
3. Das ‚melioristische Universum‘
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Die abstrakten Überlegungen zur Sozialität und zum Perspektivenreichtum des Universums finden im religiösen Ausdrucksverhalten des Betens eine eindrückliche Konkretion. Das Gebet stellt selbst einen Akt hochgradiger Interpretation dar und ist dabei ein genuin hermeneutischer Prozess. Er setzt die Sozialität des Universums voraus, in dem die konkrete Situation des ‚In-der-Welt-Seins der Betenden mit der realen Gegenwart Gottes im Sinn einer umfassenderen Interaktions- als Interpretationsgemeinschaft verbunden ist. Dabei wird die empirische Lebenslage so interpretiert, dass sie nicht auf das fixiert bleibt, was sie vordergründig immer auch ‚ist‘, sondern es wird auch benannt, wie sie ‚sein könnte‘ und wie sie aus einer weiteren, anderen Perspektive – der idealen oder göttlichen – ‚sein sollte‘. Dadurch verändern sich die Glieder dieser Konstellation. Sie werden – als Gott, welthafte Situation, betendes Selbst – weiter- und fortbestimmt, mit offenem Ausgang, ohne abschließende Bestimmung. Jedes Gebet, besonders das als emphatisch ‚erhört‘ oder ‚unerhört‘ interpretierte Gebet, verändert sowohl den Betenden als auch dessen Verständnis von und Verhältnis zu Gott. Das gilt noch bevor irgendetwas über die Radikalität des Wandels und die Angemessenheit seiner Interpretation ausgesagt ist. Ein solches Verständnis des Betens aber setzt ein ‚pluralistisches Universum‘ voraus.
3. Das ‚melioristische Universum‘ im Zeichen von Kontingenz und Kreativität 3. Das ‚melioristische Universum‘
Mit dem Hinweis auf die Fähigkeit, Interpretationsprozesse anzustoßen, sie kreativ fort- und kritisch weiterzubestimmen, wird die Aufmerksamkeit auf das zurückgelenkt, was wir in § 9 unter dem Gesichtspunkt von Geschichte als Rahmen der Darstellung von Personalität verhandelt haben. Die personale Qualität der Zeit, wie wir sie als Erzählung rekonstruieren können, besteht im Wesentlichen aus zwei Momenten, die streng genommen nicht nebeneinander bestehen, sondern sich wechselseitig bedingen: ‚Kreativität‘ und ‚Kontingenz‘. Sie sind als Strukturelemente von personaler Zeit anzusehen, weil durch sie der Aufbau von personaler Identität als geschichtlicher Kontinuität verständlich gemacht werden kann. Darum ging es in den Ausführungen im vorangegangenen Paragraphen. In einem Wechselverhältnis stehen die beiden Begriffe, weil Kontingenz eine strukturelle Bedingung für Kreativität ist und weil umgekehrt Kreativität im allgemeinsten Sinn verstanden die Qualität von Kontingenz insofern darstellt, als eine abstrakte, d.h. bestimmungslose Kontingenz nicht vorgestellt werden kann. Damit ist keine umfassende Theorie von Zeit oder von Washington, D.C.: The Catholic Univ. of America Press 2001, 294. Die Übersetzung ist zitiert nach: APEL, Szientismus, in: Ders., Transformation 2 (Anm. 72), 203. – Die Hervorhebung stammt von mir, um anzudeuten, dass dies nicht die ausschließliche Perspektive auf die Welt, auf das Universum als Zeichenprozess sein muss.
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§10 ‚Ein personales Universum‘
Zeitlichkeit als Vollzug des Universums als Prozess angedacht, sondern lediglich eine Spezifizierung des allgemeinen Rahmens, der sich zeitlich ausprägt. Will man erneut eine Charakterisierung dieser Überlegungen vornehmen, so bietet sich – analog zur synechistischen Sozialität – die tychistische Betrachtung von Zeit als Geschichte an. Damit ist nicht behauptet, alles sei schlichtweg Zufall; geschweige denn steht eine existentialistische Betrachtung über den Menschen als Zufallsprodukt im Raum. Wiederum ist es eher ein methodischer Schritt, der uns dazu veranlasst. Es ist die durchaus triftige Umkehrung der Begründungslast hinsichtlich der üblichen Glieder von Zufall und Gesetzmäßigkeit. Tychistisch meint zunächst einmal nur das Zugeständnis der Tatsache: „Zufall (…) oder Unregelmäßigkeit – das heißt das Fehlen jeder Übereinstimmung verlangt meines Erachtens keine Erklärung.“74 Schon mit dieser Formulierung zeigt sich zudem, dass – sieht man vom Grenzfall absoluter Kontingenz ab75 – Kontingenz stets auf ein Anderes ihrer selbst bezogen bleibt, das aber nicht Notwendigkeit oder Gesetzlichkeit, sondern besser Kontinuität und Regel- bzw. Musterhaftigkeit genannt werden sollte. Dies kann schon deswegen nicht anders sein, weil das tychistische Universum, das im Folgenden unter personalen Gesichtspunkten als ein melioristisches verstanden werden soll, kein anderes Universum ist als das, was zuvor als sozial, pluralistisch, synechistisch gekennzeichnet wurde. Nicht anders verhält es sich dann im Übrigen mit der Kreativität. Auch sie kann, selbst wo sie als Autonomie und Spontaneität begriffen wird, nie ohne Folgen sein, die selbst nicht strikt spontan sind. Das gilt zumindest dann, wenn Kreativität nicht als Leerformel verstanden wird, sondern sie stets etwas Positives setzt, das sie nicht im gleichen Atemzug wiederum negieren kann.76
74 PEIRCE, C HARLES S., [Auszug aus:] Antwort auf die Nezessitaristen. Erwiderung auf Dr. Carus, in: Ders., Religionsphilosophische Schriften (Anm. 50), 218–233, 221. – Im Umkehrschluss bedeutet das, die Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten des Universums stellen das Explikationsbedürftige dar. Dazu siehe auch Peirces Ausführungen in: Ders., Die Architektonik von Theorie (1891), in: Ders., Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie. Mit einem Vorwort von Ilya Prigogine, hg. und eingeleitet von Helmut Pape, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21988, 141–158. 75 Aus dieser Grenzüberlegung entstammt die rationale Idee der creatio ex nihilo. 76 In eine ähnliche Richtung scheinen mir Jörg Dierkens Ausführungen zu Spontaneität und Ordnungsbildung zu gehen, wenn er schreibt: „Selbsttätigkeit geht mit Distanzierungen einher, die bis zum schroffen ‚Nein‘ reichen können. Dieses ‚Nein‘ lässt sich als Platzhalter von Freiheit wie als Nukleus von Regelbildung verstehen – etwa dann, wenn sich in einem ‚Nein‘ gegenüber Zumutungen von Anderen eigene Spontaneität artikuliert, die nicht von diesen Anderen stammen kann, aber sich selbst dementierte, wenn dieses ‚Nein‘ eodem actu von einem weiteren verneint würde. Insofern steht die Differenzierung von Freiheit im ‚Nein‘ zugleich für den Aufgang von regelhaftiger Kontinuität. Gleiches gilt für das ‚Nein‘ zu sich selbst“ (DIERKEN, JÖRG, Subjektivität, ihr (soziales) Anderes und der Gottesgedanke. Im Gespräch mit Dieter Henrich, in: Ders., Ganzheit [Anm. 31], 117–130, 123f.)
3. Das ‚melioristische Universum‘
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Schließlich zwingen auch die religions- und ritualtheoretischen Erörterungen zu einer spezifischen Auseinandersetzung mit den Aspekten von Kreativität und Kontingenz. Darauf verwies nicht nur die dreifache Leistung religiöser Kultursysteme, die Grenzen analytischer Einsichtsfähigkeit, moralischer Stärke und affektiver Leidensfähigkeit symbolisch zu bearbeiten. Mehr noch erwies sich das rituelle Handeln selbst als eine Praxis, in welcher die Nicht-Identität von symbolisch erfasster und interpretierter Realität mit dieser selbst zentrales Thema ist. Kurzum: Es geht um die ‚Wirk-lichkeit‘ der Wirklichkeit, die sich daran zeigt, dass sie sich unseren Beschreibungen verweigert und sich gegenüber den Interpretationen als widerständig erweist.77 Geht es somit bei alledem um die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ (Geertz), dann braucht es keiner weiteren Erörterung der Relevanz dieser Thematik für jede und auch für eine personale Gotteslehre. 3.1 Dimensionen der Kontingenz Auch wenn weiter oben festgestellt wurde, dass Kontingenz als grundlegender wie durchgängiger Zug von Realität nicht zwingend erklärungsbedürftig ist, so lassen sich doch verschiedene Dimensionen von Kontingenz unterscheiden. Diese Differenzierung erfolgt sogleich in genuin theologischem Interesse. Das heißt, es gilt die Dimensionen von Kontingenz auf ihre Relevanz für die Gotteslehre hin zu beleuchten. Kontingenz stellt dabei nicht nur ein leitendes Motiv neuzeitlicher Religionsphilosophie dar; sie ist auch ein Basismotiv der Tradition des Historismus, derer wir uns in dieser Arbeit verpflichtet wissen. Dazu gehört auch, dass die berühmten Worte von Ernst Troeltsch, wonach „alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges steht“ 78, sich nicht allein auf das engere Feld der Kultur- und Menschheitsgeschichte beziehen. Sie gelten schon bei Troeltsch dem Wissen um das Werden von Kosmos und Natur im Allgemeinen.79 Geschichte im Zeichen der Kontingenz wird dadurch zur Grundsignatur aller Wirklichkeit.
Vgl. MOXTER, MICHAEL, Riskierte Wirklichkeit. Warum braucht Religion Theologie?, in: ThLZ 128 (2003), 247–260, sowie: Ders., Wie stark ist der „schwache“ Realismus?, in: Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (Töpelmann Theologische Bibliothek 127), Berlin/New York: de Gruyter 2004, 119–134. 78 TROELTSCH, ERNST, Die Krisis des Historismus, in: Ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15 (= KGA 15), hg. v. Gangolf Hübinger, Berlin/New York: de Gruyter 2002, 437–455, 437. 79 Vgl. TROELTSCH, ERNST, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Teilband 1 (= KGA 16.1), hg. v. Friedrich W. Graf, Berlin/New York: de Gruyter 2008, 258–291. – Dazu auch die treffenden Ausführungen von: SCHIEMANN, GREGOR, Geschichte und Natur 77
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§10 ‚Ein personales Universum‘
Diese Beobachtung fußt allerdings selbst auf geschichtlichen Bedingungen. Allererst in der christlichen Tradition hat sich, wie Hans Blumenberg zu Recht bemerkt hat, ein umfassendes Verständnis von Kontingenz prägnant herausgebildet. Kontingenz bringt die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Sein gehaltenen Welt zum Ausdruck (…) die Welt ist kontingent als eine Wirklichkeit, die, weil sie indifferent zu ihrem Dasein ist, Grund und Recht zu ihrem Sein nicht in sich selbst trägt. Das Sein der Welt nimmt Gnadencharakter an.80
Prägte somit die Kontingenzdimension alle Aspekte der christlichen Welt- und Selbstinterpretation bis hinauf zum Gottesgedanken (besonders im Nominalismus), so bleibt noch in ihren neuzeitlichen Umbesetzungen die religionstheoretische Valenz erhalten. In diesen Rahmen muss sich auch die Frage nach der Personalität – Gottes und der Menschen – stellen lassen. Die prinzipielle Bedeutung und religiöse Valenz des Kontingenzthemas hat schon vor Hans Blumenberg Ernst Troeltsch (1865–1923) in einem klassisch gewordenen Lexikon-Artikel herausgearbeitet. Mit Blumenberg teilt er die These, dass „Kontingenz (…) eine neue Bedeutung durch die Verbindung mit dem jüdisch-christlichen Gottesbegriff des Theismus“81 erlangt hat. Doch auch unabhängig davon, spiegeln sich unter verschärften (neuzeitlichen) Bedingungen im Problem der Kontingenz „alle philosophischen Probleme“82. Weil Kontingenz nicht einfach meint, dass etwas nur zufällig (geworden) ist oder sein könnte, sondern sich stets nur an ihrem Anderen zeigt83, treten an ihr die Spannungen zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Faktischem und Begrifflichem, Zeit und Ewigkeit ebenso hervor, wie die Frage nach den Grenzen der Vernunft und ihrem Anderen. Dabei scheint eine restlose Sistierung der Probleme nicht in Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie, in: Friedrich W. Graf (Hg.), Ernst Troeltschs »Historismus«, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000, 123–134. 80 B LUMENBERG, H ANS, Art. Kontingenz, in: RGG 3 1959, 1793f. – Blumenbergs Diagnose fußt auf einer Rekonstruktion der theologie- und philosophiegeschichtlichen Stimmen. Dem widerspricht nicht, wie in § 9.1.2 ausgeführt, dass sich – religionsgeschichtlich wohl früher – der entscheidende Umbruch zur verschärften Kontingenzwahrnehmung einer an den Kategorien von Heil und Unheil ausgerichteten Geschichtsdeutung verdankt. 81 Der ursprünglich für die Encylopedia of Religion and Ethics (1911) verfasste Artikel Contingency wird in seiner deutschen Fassung im Folgenden zitiert nach: TROELTSCH, ERNST, Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz (1911), in: Ders., Gesammelte Schriften II (Anm. 5), 769–778, 772. 82 A.a.O., 777. 83 In diesem Sinne kann gelten: Kontingentes meint „das spezifisch Mögliche, das nicht faktisch ist“ (VOGT, PETER, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Mit einem Vorwort von Hans Joas, Berlin: de Gruyter 2011, 65). – Das gilt auch noch für die absolute Kontingenz der Welt, weil sie als These und Aussage nur dank des faktisch möglichen und sogar wirklichen Bestehens der Welt Sinn macht.
3. Das ‚melioristische Universum‘
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möglich, da dies nur Kontingenzleugnung bedeuten würde und selbst neue Kontingenzen nach sich zöge. Oder mit Troeltsch: „Die Ausgleiche sind unmöglich. Das wirkliche Leben besteht in der fortwährenden Verbindung.“84 Sechs Aspekte behandelt Troeltsch in seinem Artikel, um die volle Bedeutung des Begriffs der Kontingenz und seiner Dimensionen auszuloten. Wir werden ihm in dieser Skizze folgen, weil er nach wie vor einen guten Überblick über das Phänomen der Kontingenz als umfassenden Zug aller Realität bietet: Der erste Aspekt spricht von der Kontingenz der Welt als Gesamtheit aller erfassten Tatbestände, Sachverhalte und Ereignisse. Im Grunde reformuliert er den erwähnten tychistischen Aspekt des Universums, weil er die Faktizität der Ereignisse als jeder abschließenden Erklärung unmöglich erachtet. Das betrifft prinzipiell nicht nur die Gesamtheit des Faktischen, sondern auch alle seine einzelnen Glieder: Diese Tatsachen selbst sind irrational und zufällig. Daß es das oder jenes gibt, ist nicht zu begreifen. Und (…) [s]ollte man aber meinen aus der Tatsache der Weltgesamtheit das einzelne sämtlich begrifflich herleiten zu können (…) so wäre erst recht das Dasein der Welt selbst etwas Irrationales und Kontingentes. 85
Der zweite Aspekt, die Kontingenz der Ordnungen, knüpft an den ersten an. Er betrifft die durch ihn keineswegs obsolet gewordene Existenz von Strukturen, Ordnungen und als Gesetze beschreibbaren Regelmäßigkeiten. Diese sind für den Lebensvollzug und für das menschliche Handeln im Besonderen elementar. Doch auch sie lassen sich nicht abschließend fixieren. Noch ihre konkreten Ausformulierungen verweisen auf die perspektivische Brechung durch menschliches Interesse, was nicht bedeutet, sie gingen darin auf. Über die Pluralität der Gesetze (…) kommt man dazu (…) in erster Linie eine subjektive Bedeutung der Ordnung, Gestaltung und Uebersichtlichmachung der Wirklichkeit zuzuschreiben, die irgendwie (…) mit einer gesetzlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit selbst zusammenhängen muß, ohne daß man die Art dieses Zusammenhanges bestimmen könnte (…) [S]o bleibt doch die Tatsache, daß die Anwendung der die Welt ordnenden und als gesetzliche Einheit verstehenden Gesetze jedesmal von einem besonderen Interesse geleitet ist und (…) immer nur eine (…) ausgewählte Seite der Wirklichkeit. Es bleibt (…) in diesem unumgänglichen selektiven Herausgreifen und Isolieren ein Element der Kontingenz.86
TROELTSCH, Kontingenz, in: Ders., Gesammelte Schriften II (Anm. 5), 777. A.a.O., 773. 86 A.a.O., 774. – Eine noch sachgemäßere Sicht auf die Kontingenz der (natürlichen) Ordnungen steht im naturphilosophischen Denken des amerikanischen Pragmatismus bereit. Naturgesetze werden nicht mehr nach dem Modell strikt notwendiger Kausalitäten begriffen, sondern flexibler und den empirischen Einsichten angemessener als Regelmuster, die Typenbildung, Varianten und Abweichungen zugleich zulassen. Gesetzmäßigkeiten als regelhafte Strukturen nehmen den Charakter von Verhaltensgewohnheiten (‚habits‘) an. In dieser Hinsicht kommen diese Überlegungen denjenigen eines strikten Empirismus à la David Hume nahe. 84 85
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Der dritte Aspekt formuliert im Gedanken der irreduziblen Individualität die Konsequenzen mit Blick auf die Beschreibung der Wirklichkeit und ihrer Glieder positiv. Wirkliches ist immer auch Einzelnes, Individuelles, „etwas aus allgemeinen Gesetzen nicht restlos Verständliches (…) aus ihnen nicht resultierendes Besonderes und Unwiederholbares“87. Auch das gilt wiederum sowohl für Einzelnes, u.U. sogar für singuläre Sachverhalte und Ereignisse, als auch für den gesamten zeitlichen Prozess der Realität: „Ja, schließlich ist das Weltganze selbst und sein Ablauf nicht ein Exemplar eines allgemeinen Begriffes, sondern eine individuelle Einmaligkeit.“88 Individualität ist somit der positive Wesenszug einer kontingent verlaufenden Gesamtgeschichte des Universums. Sie ist nie nur Variation eines schon Gegebenen. Darum kann Troeltsch auch sagen: „Das Problem der Individuation ist eben darum identisch mit dem allgemeinen Sinne des Problems der Kontingenz.“89 Der vierte Aspekt verdeutlicht, warum Individualität kein schlichtes Resultat von Variationen sein kann. Denn damit würde das Faktum von Neuem unzureichend beleuchtet. Wirklich Neues sprengt die Rekonstruktion seiner Individualität dank der Variabilität von Konstellationen oder Mustern. Es hat stets etwas von einem Unvorhergesehenen bzw. noch nie Dagewesenen. So liegt hierin auch die Möglichkeit zu radikalem Wandel und geschichtlicher Dynamik, die sowohl qualitatives Wachstum wie unwiderruflichen Verfall mit sich führen können. [I]n dem damit anerkannten Gedanken der Neuentstehung von etwas, das im vorhergehenden nicht schon enthalten war, [steckt] ein Element der Kontingenz (…) Metaphysisch ausgedrückt ist es der Gedanke der Schöpfung und Setzung, der hier auf das einzelne ebenso angewendet wird wie (…) auf das Ganze der Welt.90
Die Entstehung des Neuen verweist auf den fünften Aspekt. Mit ihm ist die Kreativität des gesamten geschichtlichen Prozesses angesprochen. Das führt zur Frage nach dem Verhältnis von Kontingenz und Freiheit bzw. Kreativität. Freiheit impliziert zwar, wie Kontingenz, die Möglichkeit von Regelhaftigkeit und Ordnungsmustern. Aber sie besteht doch gerade in der Eigenschaft, in sie eingreifen zu können. Kreativität meint dann das Moment der Irritation, d.h. des Abbruchs und ggf. Neu(auf)baus. Deswegen schließt Freiheit „die absolute rationale Geschlossenheit der Natur aus, indem sie von der Gesetzlichkeit der Na-
Ebd. Ebd. 89 Aa.O., 775. 90 Ebd. – Damit gelingt es Troeltsch, die prinzipielle Kontingenz von Welt – oder mit Peirce gesprochen: den absoluten Zufall, für den die creatio ex nihilo steht, mit den natürlichen und historischen Kontingenzen zu verknüpfen. In beidem wird der Aspekt qualitativer Neuheit betont. 87 88
3. Das ‚melioristische Universum‘
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tur eine Elastizität verlangt, vermöge deren sie aus ihr auftauchen, in sie eindringen und sie sich dienstbar machen kann.“91 Dabei wird jedoch zugleich die prinzipielle Einbettung von Freiheit in die Natur anerkannt: Damit kommt aber auch von dieser Seite her in den Begriff der allgemeinen Naturgesetze etwas Kontingentes, eine Vorstellung des rein Tatsächlichen, aber nicht ein Begriff absoluter Geltung. Durchbrochene oder elastische Gesetze sind selbst etwas Kontingentes, gemessen am Ideal der allgemeinen Notwendigkeit.92
Der sechste Aspekt bezieht nun diesen zuletzt genannten Aspekt auf den Kontext der ethisch zu verantwortenden Geschichte. Freiheit – als kreative Zwecksetzung und Gestaltung der Realität durch Ideen und Modelle verstanden – vollzieht sich unter geschichtlichen Bedingungen und unterliegt dem Wandel der Zeit. Im Prinzip wiederholt sich das Verhältnis von Kontingenz und Regelhaftigkeit, nun aber unter ideellen Bedingungen. Denn die „Form der moralischen Ideen mag die unbedingte Notwendigkeit sein, ihr Inhalt ist abhängig von den tatsächlichen Beschaffenheiten des menschlichen Lebens.“93 Das macht den evaluativen Aspekt historisch-kultureller Kontingenz aus. Sie richtet sich an die Handelnden und macht aus dem Handeln eine ethische Aufgabe. Liegt in den Ideen der Freiheit, der absoluten Werte und Gültigkeiten, die letzte erlebbare Wurzel des Gesetzesgedankens und damit der unbedingten Notwendigkeit, so ist doch der Inhalt der ideellen Gesetzgebung selbst nicht als etwas Notwendiges zu erkennen. Wir kommen immer nur auf eine tatsächliche Herrschaft der so oder so verstandenen Ideen über die Seele, können aber diese Ideen selbst nicht inhaltlich aus einer absoluten Notwendigkeit ableiten.94
Hier ist der Ort, auch dem Bösen in seiner durch die menschliche Freiheit verursachten Form und Gestalt seinen Platz zu geben; so wie umgekehrt viele der Unregelmäßigkeiten des natürlichen Verlaufs in chaotische und nicht minder destruktive Gestalten und Ereignisse münden. Die sechs Aspekte verfugen sich zu einer Beschreibung von Welt, Natur und Geschichte, die das Universum als eine kontingente Konstellation verstehen lässt. Damit entsteht ein kohärentes Bild von Realität, das dem entspricht, wie es sich im kulturellen Handeln und Erkennen zeigt und entsprechend gestaltet wird. Zufalls- und Prozesscharakter, Individualität, Neuartigkeit (Novelität), Kreativität und Werthaftigkeit sind somit strukturelle Elemente jener Realität, die auch für eine wirklichkeitsgemäße Rede von der Personalität Gottes in Anschlag gebracht werden muss.
A.a.O., 776. Ebd. – Troeltsch wendet sich somit ebenfalls gegen das Dogma des Nezessitarismus (Peirce), ohne deswegen die Regelhaftigkeit natürlicher (und sozialer) Prozesse bestreiten zu müssen. 93 A.a.O., 777. 94 Ebd. 91 92
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3.2 Das Problem der Kontingenz und der Gottesgedanke Wir hatten oben behauptet, sollte sich Kontingenz als Grundzug aller Realität erweisen, so stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit der ‚Wirklichkeit‘. Zwar nicht in jeder Hinsicht, wohl aber in der einen, dass sie als zeitlich erstreckte und darin nicht festgelegte sich als Geschichte vollzieht. Das folgt aus der Dynamik, die die Heuristik der Kontingenzkategorie mit sich bringt. Zu ihr gehört, dass es keine trennscharfen Scheidungen zwischen den Bereichen der Natur und der Geschichte hinsichtlich ihres kontingenten Charakters gibt, und dass auch die Trennung zwischen empirischen und metaphysischen Aspekten der Kontingenzthematik nie restlos möglich ist. In diesem Sinne vollziehen sich Natur, Geschichte (Kultur) und die Welt in ihren Strukturen allesamt in kontingenten Prozessen.95 Weil jedoch Kontingenz nicht ohne ihr ‚Anderes‘ auftritt, muss auch daran festgehalten werden, dass in dieser kontingenten Realität sich Kontinuitäten ausbilden, die als natürliche Regelhaftigkeiten, soziale Gewohnheiten sowie kulturelle und individuelle Verhaltensmuster angesehen werden können.96 Aus dem Zusammenspiel von Kontingenz als Motor und Kontinuität als Muster zeitlicher Prozesse wird Zeit als Geschichte greifbar. Das wiederum hat Konsequenzen für den Gottesgedanken. Denn insofern religiöse Erfahrungen von Gott unter den Bedingungen einer so gefassten Realität gemacht, artikuliert und symbolisch geformt werden, gilt zwar, jede Rede von Gott steht ebenfalls im Zeichen von Kontingenz. Damit ist jedoch noch nicht darüber entschieden, welche Dimensionen von Kontingenz bzw. Bereiche von Realität dabei besonders betroffen sind. Unter monotheistischen Bedingungen spricht allerdings alles dafür, zu behaupten: Will die Theologie das Gottsein Gottes bedenken, so muß sie Gott als die nicht nur die menschliche Geschichte, sondern auch die Natur bestimmende Macht denken. Diese Forderung ergibt sich auch daraus, daß es in der menschlichen Geschichte selbst nur natürlich zugehen kann, so daß entweder Geschichte und Natur oder keine von beiden etwas mit Gott zu tun haben.97
Doch muss dies nicht heißen, Gott als die ‚alles bestimmende Wirklichkeit‘ (Bultmann) determiniere überall und in gleichem Maße die Geschichte von Welt, Natur und Mensch. Eingebettet in den gesamten kontingenten Prozess des Universums ist lediglich von Nöten, dass er sich auf alle Bereiche beziehen 95 Diese Unterscheidung greife ich auf von: V OGT, Kontingenz und Zufall (Anm. 83), 184–194. 96 Siehe dazu auch: H AMPE, M ICHAEL, Naturgesetz, Gewohnheit und Geschichte. Historisierung der Natur – Naturalisierung der Geschichte. Peirces Prozesstheorie, in: Ders., Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 124– 152. 97 PANNENBERG, W OLFHART, Kontingenz und Naturgesetz (1970), in: A.M. Klaus Müller/ders., Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1970, 33–80, 36.
3. Das ‚melioristische Universum‘
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kann und dies in durchaus unterschiedlicher Weise. In diesem Sinne haben die jüdisch-christlichen Theologien stets divergierende Umgangsweisen Gottes mit den Kontingenzen der Welt, der Natur und der Geschichte betont. Bereits die Qualifizierung Gottes als eines in der Geschichte Handelnden durch die kanonischen Zeugnisse folgt dieser Logik. Weniger die Allmacht als der kreative Umgang mit den Kontingenzen (‚Chaos‘, ‚Unfreiheit‘,‚Sünde‘, ‚Tod‘ etc.) ist hier der entscheidende Zug. Vom israelitischen Gottesverständnis her, das auch das Urchristentum geprägt hat, ist die Erfahrung der Wirklichkeit primär durch Kontingenz, und zwar durch Geschehenskontingenz charakterisiert: Immer wieder geschieht Neues und Unvorhergesehenes, das als Wirken des allmächtigen Gottes erfahren wird. Darum ist nicht nur dieses oder jenes einzelne, sondern alles Geschehen grundsätzlich wunderbar oder wunderhaft. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Verständnisses von Wirklichkeit ist es für die Israeliten und für die christlichen Erben der israelitischen Überlieferung sinnvoll zu beten.98
Mit den Stichworten von ‚Wunder‘ und ‚Gebet‘ sind exemplarisch religiöse Interpretationen und Praktiken von Kontingenz(bearbeitung) benannt. Ihre Verhandlung in dogmatischen Abhandlungen könnte gar als Testfall für die Sensibilitäten im Umgang mit der Kontingenzthematik dienlich sein.99 Hier aber ist ein anderes Moment von Belang: ‚Wunder‘ und ‚Gebet‘ stehen für das Kontinuum von Natur und Geschichte unter dem Aspekt von ‚Geschehenskontingenz‘ – oder: von Kreativität als Spontaneität im Prozess der Zeit. An diesen Beispielen macht sich somit eine religionstheoretische Grundstruktur fest, die am Ort der Gotteslehre ihr Korrelat in einem spezifischen Gottesgedanken erhält. Die religionstheoretische Valenz der Kontingenzthematik bekommt man nur über das Wechselspiel von Kontingenz und Kreativität zu fassen. „Religiös ist die Bedeutung des Kontingenzbegriffs, daß er die Lebendigkeit, Vielheit und Freiheit der Welt in Gott, ja die schöpferische Freiheit Gottes selbst enthält“100. Auf der Fluchtlinie dieser Einsicht liegt nun, dass am Ort der Gotteslehre, also in der Ausformulierung des Gottesgedankens, die Aspekte von Kontingenz und Kreativität ihr Eigenrecht erfahren müssen, und zwar auch dann, wenn es gilt, die Aspekte der Kontinuität und Regelhaftigkeit zu wahren. Auf der einen
A.a.O., 37. Ein gutes Beispiel für eine sensible Behandlung bietet: TROELTSCH, ERNST, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912. Mit einem Vorwort von Martha Troeltsch. Neudruck der Ausgabe München 1925, hg. v. Getrud von le Fort, Aalen: Scientia 1981, § 18, 266–278. – Zu Troeltschs materialer Dogmatik, die kontingenzsensibel einen theologischen Personalismus exponiert, siehe meinen Aufsatz: POLKE, CHRISTIAN. „Meine Glaubenslehre ist personalistisch von oben bis unten“ (E. Troeltsch). Religiöse Individualisierung als Umformungsfaktor der Dogmatik, in: Hermann Deuser/Saskia Wendel (Hg.), Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik (RPT 63), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 157–182. 100 TROELTSCH, Kontingenz, in: Gesammelte Schriften II (Anm. 5), 778. 98 99
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Seite heißt dies: „Ein absoluter Rationalismus mit der Konsequenz des Pantheismus ist ebenso unmöglich als ein absoluter Irrationalismus mit der Konsequenz der Zufälligkeit und Zusammenhangslosigkeit aller Dinge oder des Polytheismus.“101 Ersterer würde Kontingenz und Kreativität, wie sie religiös erfahren werden, komplett unterschlagen, letzterer würde sie verabsolutieren, so dass es zu keinem Moment der geschichtlichen Identifizierbarkeit mehr kommen kann. Für die Personalität Gottes bedarf es aber beider, sowohl der Wahrung der Momente von Kontingenz und Kreativität, als auch der Möglichkeit, Geschichte für Gott reklamieren zu können. Dennoch besteht nur scheinbar ein Patt zwischen Rationalismus und Irrationalismus bzw. Pantheismus und Pluralismus. Denn zur Eigenart eines kontingenzsensiblen Theismus, den Troeltsch als Spezifikum der jüdisch-christlichen Religionstraditionen ausmacht, gehört ein Moment, das sich noch innerhalb der Kontinuitäten bemerkbar macht, und das ist das Moment der Neuheit. In ihm erst kommt die Kreativität vollends zur Geltung, die sich geschichtlich zeigt und die der Kontingenz ihre Qualität gibt. Kann von daher der Pantheismus als Rationalismus strukturell als „eine wie vor Angst vor dem Neuen berührende Zusammenziehung des Religiösen auf Unwandelbarkeit hin“102 gewertet werden, so gilt umgekehrt: Die Freiheit Gottes kehrt in der Kreatur wieder. Dies bedeutet den Charakter des Neuen, nicht durch Voraufgeganges Bedingten und spricht sich aus im Gedanken der Wiedergeburt. Sie ist schöpferische Tat, nicht Konsequenz der Umstände oder bloße Umformung.103
Man kann diesen Gedankengang auch umkehren: Das Moment der Kreativität beinhaltet die Qualität der Evaluation, der Zwecksetzung, in sich. Das macht ihren potentiell personalen Charakter aus104 und verweist auf eine Sicht auf die Wirklichkeit, in der wir es mit Gott und Menschen zu tun bekommen und die sich durch das kontingente Ringen um Zwecksetzungen auszeichnet.105 Es geht um ein melioristisches Universum, worauf Troeltschs soteriologischer Gebrauch der Vokabel ‚Wiedergeburt‘ verweist.
101 A.a.O., 777. – Troeltsch sieht Spinoza und William James als die Protagonisten dieser beiden Extreme an und erblickt in Kant am ehesten den Versuch eines halbwegs stabilen Gleichgewichts. Neben Missverständnissen der James’schen Metaphysik wird man das in dieser Werkphase noch stark (neu)kantisch geprägtes Denken Troeltschs für dieses Urteil verantwortlich zeichnen müssen. 102 TROELTSCH, Glaubenslehre (Anm. 99), 182. 103 A.a.O., 180. 104 Vgl. dazu Troeltschs Zurückweisung der Kritiken am Modell eines personalistischteleologischen Gottesbegriffs, in: a.a.O., 176–180. 105 Deswegen gehört zu einem kontingenzsensiblen Theismus nicht nur seine „natursensible“ Seite, sondern auch das Bemühen um eine adäquate Rekonstruktion von Geschichtstheologie. Das richtet sich gegen Vorbehalte bei: VOGT, Kontingenz und Zufall (Anm. 83), 261, Fn. 199.
3. Das ‚melioristische Universum‘
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3.3 Qualitative Kontingenz und evaluative Kreativität: ein ‚melioristisches Universum‘ Die Entstehung von Neuem, die als Dynamik des geschichtlichen Prozesses angesehen werden kann, hängt an strukturellen Merkmalen von Kontingenz und Kreativität, wie sie unser Universum auszeichnen. Erst durch sie wird das Bild eines melioristischen Universums vervollständigt, was wiederum eine Grundlage für das Verstehen von Personalität darstellt. Die beiden Merkmale stellen qualitative Kontingenz und evaluative bzw. besser noch evaluierende Kreativität dar. Was ist darunter zu verstehen? Kontingenz und Kreativität werden als Aspekte der Realität in der Situation des Handelns fassbar. Sie treten entweder als konkrete Handlungsprobleme auf oder stellen den Modus dar, wie handelnd in der Situation agiert wird. Der erste Punkt betrifft die Kontingenz, der zweite die Kreativität. In beidem wird die konkrete Situation als prekäre und darin mit Möglichkeiten versehene offenkundig: Da uns die Wirklichkeit im Handeln erschlossen ist, stellt sich auch das Problem der Kontingenz als Handlungsproblem: als die Frage, wie unser Handeln und Erfahren mit jener Kombination aus Zufälligkeit und Regelhaftigkeit zurechtkommen kann, die das innere Verhältnis von Organismus und Umwelt prägt. Damit verschiebt sich der Akzent von Kontingenz als Zufall auf Kontingenz im Sinne des Möglichen.106
Die veränderte Erfassung der Kontingenz vom Zufall hin zur Möglichkeit, wie sie jeder konkreten Handlungssituation zu eigen ist, bringt es mit sich, dass Neues – im Gegenüber zum Kontinuierlichen – als möglich begreifbar wird. Darüber aber zeigt sich, dass jede bestimmte Kontingenz qualitativ geladen ist, da sie nur so als Möglichkeiten bereitstellend gedacht werden kann. Qualitativ meint ganz formal, dass jede Möglichkeit, die einer Handlungssituation inhäriert, nicht restlos aus den Kontextbedingungen, innerhalb derer sie auftritt, heroder abgeleitet werden kann. Qualitativ steht hier im Grunde zunächst nur für die Individualität jeder Situation als geschichtlicher. Damit aber ist noch nicht der Übergang zur Kreativität als Handlungsmodus gegeben. Denn: Kontingenz ist eine notwendige, wenngleich keine (…) hinreichende Bedingung von Freiheit. In einer Welt, die in allen ihren Konstituentien vollkommen dicht und exakt wäre, wäre für Freiheit kein Platz. Kontingenz gibt der Freiheit zwar Raum, füllt aber diesen Raum nicht aus. Freiheit ist eine Realität, wenn die Erkenntnis von Relationen, des stabilen Elements, mit dem ungewissen Element verbunden wird, in dem Erkennen, das Voraussicht möglich macht und absichtliche Vorbereitung auf wahrscheinliche Konsequenzen sichert.107
JUNG, MATTHIAS, Gewöhnliche Erfahrung, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 89. DEWEY, JOHN, Auf der Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln (1929). Aus dem Amerikan. von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 249f. 106 107
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Kontingenz sichert zunächst nur die Möglichkeit von Kreativität, verstanden als deren aktive Gestaltung. Letztere setzt die Erfassung der Möglichkeiten der Situation voraus und wird möglich durch deren Bewertung, die zugleich als Bestimmen ihrer jeweiligen Qualität verstanden werden kann. Würde man diese Bestimmung lediglich als Wiedergabe einer bereits bestimmten Qualität verstehen, würde man von vornherein die Kontingenz der Situation verfehlen und die Kreativität des Handelns als qualitative Erfassung, Bestimmung und damit Gestaltung einer Situation verleugnen. Im nächsten Abschnitt soll dieses Handeln als (symbolisches) Interpretieren (Bestimmen) der Qualität von Situationen profiliert werden. Hier soll es zunächst nur um den Punkt gehen, dass die Qualifizierung der Situation qua Evaluierung – und zwar noch im Fall der negativen Bewertung (als schuldhaft, böse, schrecklich etc.) – als Rahmen für das Auftreten von Ideen, Werten und Zwecken dient. Das aber bedeutet, jene treten nur innerhalb dieser Konstellationen auf. Sie liegen ihr weder zugrunde, was sie erneut der Kontingenz entziehen würde; noch dürfen sie als für den Handelnden bereits vorausgesetzt gedacht werden. Denn dann würde das Kreativitätsmoment entfallen, ohne das die Entstehung von Neuem nicht denkbar wäre. Handlungstheoretisch sind beide Punkte von entscheidender Bedeutung. Denn sie lenken auf eine Alternative zu den üblichen, am Stichwort ‚Intentionalität‘ orientierten, Verständnissen von Freiheit und Verantwortung hin. Darauf ist noch genauer einzugehen, insofern Freiheit und Verantwortung auch zentral für die Personalität sind. Zunächst jedoch geht es um den generellen Zug von Realität, wie er sich so aus dem Spannungsfeld von Kontingenz und Kreativität ergibt. Mit einem englischen Wort kann man von ‚purposiveness‘ reden. ‚Purpose‘ lässt sich generell mit vager Absichtlichkeit übersetzen. Das scheint für die obige Konstellation einer handelnd zu bewertenden Situation passend, da dadurch das Moment der Ausformung eines Zwecks oder einer Absicht im Handeln für den Handelnden präzise benannt werden kann. Jedoch gilt gleiches in abgestufter Form für alle nicht durch menschliches Handeln gesteuerten Abläufe und Ereignisse. Jede Situation kann ja als interaktiver Prozess verstanden werden, in dem fortlaufend etwas bestimmt wird und infolgedessen sich Muster und Zwecke ausbilden können. Dass dies sich nicht im Subjektiven erschöpft, sondern durchaus objektive Geltung erhält, liegt an den Konsequenzen, die daraus resultieren und die auf die weitere Ausgestaltung der Zwecke und Muster Einfluss nehmen. Zweck ist die beherrschende Kategorie alles wahrhaft Geschichtlichen – geschichtlich sowohl im Sinne des Geschehens wie im Sinne der Geschichtsschreibung –, da Handeln, das charakteristisch menschlich ist, durch Absicht gekennzeichnet ist. Indirekt ist Zweck eine legitime und notwendige Idee der Natur im ganzen. Denn der Mensch steht in Kontinuität mit
3. Das ‚melioristische Universum‘
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der Natur. Insofern natürliche Ereignisse in den intelligenten Künsten der Menschheit kulminieren, hat die Natur selbst eine Geschichte, eine Bewegung auf Konsequenzen hin.108
‚Purposiveness‘ ist damit ein Kennzeichen des gesamten geschichtlichen Prozesses des natürlich-kulturellen Kontinuums. Dennoch ist er in besonderer Weise mit den kulturellen Praktiken oder – wie Dewey sagen würde – mit den ‚intelligenten Künsten der Menschheit‘ verknüpft. Dadurch wird nämlich auf kontrollierte Weise Kontingenz bestimmt, bewertet und gestaltet, mit dem „Bemühen, die Stabilität des Sinns über die Instabilität der Ereignisse herrschen zu lassen“109. Damit wird vage Absichtlichkeit (‚purpose‘) zum Motor der Kontinuierung und somit für die Fortbestimmung von Sinn unabkömmlich. Sinnbestimmung folgt, wie wir bei Cassirer gesehen haben, der gleichen Logik. Mit ihr wird die Ausbildung von Regelhaftigkeiten und Mustern unter den Bedingungen ihrer praktischen Bewährung begriffen. Variation, Abbruch und Neuaufbau von Sinnsystemen werden durch die Dynamik von Kontingenz und Kreativität der symbolisch geformten und zu formenden Wirklichkeit gesteuert. Das macht Geschichte aus. Und insofern zeigt gerade der Blick auf die Kultur: „Die Eigenschaft des Daseins, die durch kulturelle Phänomene unterstrichen wird, ist das Prekäre und Gefährliche.“110 Auch insofern darf bei aller Betonung der positiven Aspekte von Kontingenz und Kreativität nie der Blick auf deren negative und destruktive Formen fehlen. Vor diesem Hintergrund wird nun die Rede vom melioristischen Universums verständlich. Denn was bisher für das generelle Geschehen von Realität, seine handelnde Erfassung und die Formen kultureller Bearbeitung gesagt wurde, gilt in gleichem Maße für die Religion als symbolischer Form, die Kontingenz in qualitativer Weise erfasst und kreativ bewertet. Die Suche nach stabilem Sinn wird hierbei im größtmöglichen Umfang thematisch; und zwar so, dass dessen Möglichkeit nicht prinzipiell ausgeschlossen, aber auch nicht ein für alle Mal 108 A.a.O., 246. – Das heißt nicht, dass man nicht zum Zwecke der Untersuchung der Natur von diesem Aspekt der Natur als Geschichte absehen könnte und sie bewusst als zweckfrei untersucht, wie Dewey gleich im Anschluss klarstellt (vgl. ebd.). Betrachtet man jedoch die Natur als ein kontingentes Geschehen, in dem individuelle Ereignisse in Kontinuitäten stehen, „sieht man, daß die Natur von Geschichten charakterisiert ist, von denen einige [sic!; C.P.] zur Existenz menschlicher Wesen und schließlich zu ihren intelligenten Tätigkeiten führen. Dieses Ergebnis verleiht, infolge der kumulativen Integration komplexer Interaktionen, den vorangehenden Prozessen eine zweckhafte Bedeutung. Alles hängt davon ab, ob wir isolierte Querschnitte durch den Naturverlauf legen oder ob wir den Verlauf der Ereignisse über die Zeitspanne verfolgen, die lang genug ist, um die Integration einer Vielzahl von Prozessen auf ein einheitliches Ergebnis hin zu enthüllen.“ (a.a.O., 247). 109 D EWEY, JOHN, Erfahrung und Natur (1925). Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, 63. 110 A.a.O., 56. – Sinn partizipiert an der Struktur aller Wirklichkeit. Er wird im Wechselspiel von Stabilem und Prekärem prägnant. Denn „der Wechsel gibt der Dauer Bedeutung, und Wiederkehr macht Neuheit möglich“ (a.a.O., 61).
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schon garantiert ist. Deswegen kann es weder eine radikal pessimistische noch eine absolut optimistische Sicht auf die Wirklichkeit geben. Genau darauf zielt die sprachliche Wendung des Meliorismus. Der Meliorismus betrachtet die Erlösung weder als notwendig, noch als unmöglich. Er betrachtet dieselbe vielmehr als eine Möglichkeit, die mehr und mehr zu einer Wahrscheinlichkeit wird, je zahlreicher die tatsächlich vorhandenen Bedingungen der Erlösung werden. 111
‚Melioristisch‘ kann also eine Position verstanden werden, die einerseits dem Faktum der Kontingenz und ihrer kreativen Gestaltbarkeit Rechnung trägt, die andererseits jedoch die Momente der Kontinuität, Diskontinutität und Geschichtlichkeit nicht unterschlägt, da der Prozess der ‚Erlösung‘ immer nur als eine Möglichkeit – diejenige der stetig im Werden begriffenen Zunahme bestimmter, nämlich positiver Qualitäten des Universums und seiner Glieder – begriffen wird. Meliorismus meint von daher nicht so sehr eine soteriologische Theorie als den Versuch, das Spezifikum von Religion als symbolischer Form der Wirklichkeitserkenntnis und -gestaltung zu betrachten. Unter dem Stichwort der ‚Erlösung‘ wird – ganz analog zu Troeltschs Rede von der ‚Wiedergeburt‘ – der Gesichtspunkt betrachtet, unter dem die Qualitäten der kontingenten Realität religiös bewertet werden, und zwar wiederum nicht abseits konkreter Situationen. Vorstellungen über ‚Wohl‘ und ‚Wehe‘, ‚Heil‘ und ‚Unheil‘ etc. werden somit auch immer erst in diesen Situationen prägnant. Das mag in Situationen, in denen radikal Böses oder übermäßiges Glück erlebt wird, sich besonders schnell einstellen. Dennoch liegt die spezifisch religiöse Haltung eher darin, konkrete Situationen mit dem umfassenderen geschichtlichen Kontext zu verknüpfen. Es geht, symbolisch gesprochen, um die Erlösung der Welt.112 Deswegen betrifft der Meliorismus nicht nur die Frage, wie unter diesen Bedingungen die menschliche Existenz verstanden, sondern es geht ebenso darum, wie die Rede von Gott dementsprechend präzisiert werden kann. Nicht ein spezifisches Gottesbild soll damit als notwendig behauptet werden. Wohl aber werden Bedingungen für einen kontingenzsensiblen und religiös qualifizierten, eben melioristischen Theismus formuliert. Dabei setzt dieser ein Verständnis von Realität voraus, die von pluralen Kräften durchzogen ist, die teils kooperativ, teils antagonistisch interagieren und dadurch Absichten und Zwecke ausbilden. Als ‚lebendige Hypothese‘ gefasst geht es um eine Welt,
JAMES, Pragmatismus (Anm. 53), 183. Darauf zielt William James mit der Feststellung: „Wenn Gott nur das meint, was in die Einheitserfahrung des religiösen Menschen eingeht, reicht er nicht zu einer brauchbaren Hypothese. Um das absolute Vertrauen und den absoluten Frieden des Gläubigen zu rechtfertigen, muss er in weitere kosmische Beziehungen treten“ (JAMES, WILLIAM, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur [1902]. Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk, übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut, Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1997, 494). 111 112
3. Das ‚melioristische Universum‘
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deren Vollkommenheit nur eine bedingte sein wird, wobei die Bedingung die ist, daß jeder, der mittut, sein Bestes tut (…) Ihre Sicherheit ist (…) nicht gewährleistet. Es ist ein wirkliches Abenteuer mit wirklicher Gefahr, aber der Sieg ist möglich. Die Welt ist eine Stätte für gemeinsame soziale Arbeit, die ehrlich getan werden muß (…) Habt ihr zu euch selbst und zu den anderen Mitarbeitern so viel Vertrauen, um die Gefahr auf euch zu nehmen?113
Zur prekären Kontingenz der Welt gehört das Wissen um die Bedeutsamkeit des eigenen Handelns, der Möglichkeiten seines Scheiterns und Versagens, das Bewusstsein destruktiver Realitäten sowie der Realisierung von Absichten und Zwecken zum Besseren und des Guten. Was scheinbar rein ethisch gefasst wird, hat seine religiöse Bedeutung darin, dass damit zugleich die Bedeutung der Geschichte expliziert wird: das „wirkliche Abenteuer“, von dem James im obigen Zitat schreibt. Unter der Voraussetzung, dass in der Geschichte auch Gott als stärkerer ‚primus inter pares‘ tätig sein kann, stellt diese das über alle Kontingenzen hindurch sich ausbildende Kontinuum einer absichts- und zweckvollen Kooperation dar. Dem wechselseitigen Vertrauen als Qualität kooperativen Verhaltens kommt hierbei eine zentrale Rolle zu.114 Dadurch gewinnt diese Konstellation einen eminent soteriologischen Zug. Der Erlösungsbegriff, der hier in Anschlag gebracht wird, muss notwendig formal bleiben. Denn es geht auf der theoretischen Ebene zunächst nicht um seine stets nötige geschichtliche Füllung durch Interpretation. Wohl aber weist noch ein dergestalt formal gehaltener Erlösungsbegriff bereits inhaltliche Qualifikationen auf. Mit ihm wird eine Auffassung von Zeit und Geschichte verstanden, die davon ausgeht, daß es „höhere Mächte gibt und (…) sie am Werke sind, die Welt in derjenigen idealen Richtung zu erlösen, die unsern Idealen entspricht.“115 Erlösung hat also etwas mit der bestimmten, nämlich idealen Bestimmung von Kontingenz zu tun. Aber sie verweist eben zum anderen auch darauf, dass es dazu der Mitarbeit aller Kräfte bedarf. Es geht um das Moment kreativer Gestaltungswilligkeit. Zum idealen oder werthaften Charakter kommt der kreative bzw. aktivierende Zug des melioristischen Universums. Dieser kennzeichnet das religiöse Grundverhältnis von Gott und Mensch: Wir Menschen und Gott haben etwas miteinander zu tun; indem wir uns selbst seinem Einfluss öffnen, erfüllt sich unsere eigentliche Bestimmung. Das Universum nimmt in den Teilen, die aus unserem persönlichen Wesen bestehen, eine echte Wendung zum Schlechteren
JAMES, Pragmatismus (Anm. 53), 186. Insofern gelingt es James durchaus, entgegen mancher Unterstellung, die Grundmotive protestantischer Rechtfertigungslehre zu reformulieren: Vertrauen ist die Basis gelingender Gottesbeziehung; die Bestimmung des Menschen liegt in seiner Berufung zum ‚cooperator Dei‘; und das Handeln unterliegt der ständigen Bedrohung durch Scheitern und Versagen. 115 A.a.O., 193. 113 114
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oder zum Besseren, je nach dem, wie jeder einzelne Gottes Forderungen erfüllt oder sich ihnen entzieht (…) Gott ist wirklich, weil er etwas Wirkliches hervorbringt.116
Die werthafte Ausrichtung und die kreative Gestaltung des Universums stehen unter der Bedingung der Zeit und machen deswegen Geschichte aus. Diese ist als ein risikoreicher Prozess zu verstehen, in dem die Bedeutung aller aktiven Glieder sich durch ihre Mitwirkung in der Ausbildung absichtsvoller Zwecke zeigt. Religiös ist diese Qualifizierung dadurch, dass sie unter der „Garantie für eine ideale Ordnung, die dauerhaft bestehen wird“117, steht. Auch dafür steht die dabei in Anspruch genommene Realität Gottes. Unter Garantie kann aber nichts gemeint sein, das dem kontingenten Kontext enthoben wäre. Anders gesagt: Die Realität Gottes muss selbst eine geschichtliche sein bzw. werden. Diese letzten Bemerkungen führen somit zurück zur geschichtstheologischen Rahmung der Rede von der Personalität Gottes. Das symbolische Medium, um Geschichte als Ort der Darstellung von Personalität zu rekonstruieren, ist die Erzählung. Durch die narrative Rekonstruktion stiften bzw. erschließen wir Ereignisse – über ihre bloße Kontingenz hinaus – ihre Bedeutung für uns und für diejenigen, von denen die Erzählung handelt. Werthafte Kontinuitäten sind somit Resultate kreativer Sinnbestimmung:
116 JAMES, Vielfalt (Anm. 112), 493. – Vor allem der letzte Satz, der im Grunde nicht angibt, worin die Kriterien für eine Unterscheidung zwischen nur vermeintlich gefühltem und echtem, d.h. real nicht im subjektiven Empfinden aufgehenden Wirken Gottes liegen könnten, hat stets Anstoß erregt. Er weist auf die Schwachstelle einer ausgearbeiteten, metaphysischen Grundlage von James’ Religions- und Wahrheitstheorie hin. Scharf urteilt in diesem Zusammenhang Hermann Deuser, der die deutschsprachige Theologie überhaupt erst wieder für das pragmatistische Denken sensibilisiert hat: „Auf die Rückfrage nach dem Status dieser religiösen Realität, wie sie pragmatistisch gerade als Vermittlungsform [zwischen Mystizismus und Szientismus; sc. C.P.] empfohlen werden muss, ergibt sich (…), dass W. James keine Realität selbst annehmen kann, sondern nur eine, die die empfindsamen Menschen eben brauchen. Und sofern wir diese Realität brauchen, um das Leben nicht verkümmern zu lassen, wird uns das eine Universum Gottes zum Postulat“ (DEUSER, HERMANN, Zum Religionsund Wahrheitsbegriff bei William James, in: Ders., Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (RPT 12), Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 187–201; 196). Nach Deuser verbleibt der Ansatz von James im Grunde auf der Ebene einer Bedeutungstheorie von Religion und kann somit nicht für den Realitätscharakter des in der Religion Erfahrenen (z.B. Göttlichen) argumentieren. Ob der von Deuser herausgestellte Nützlichkeitsaspekt (‚brauchen‘) allerdings den Punkt von James trifft, darf ebenso bezweifelt werden wie die eher kantische Lesart, wonach Gott zum ‚Postulat‘ wird. James hat sich in seinem späten Werk A Pluralistic Universe um eine metaphysische Ausarbeitung seiner Religions- und Wahrheitstheorie sehr wohl bemüht. Allerdings – darin folge ich Deuser – bedarf es einer stärker semiotisch entfalteten Theorie, um den sowohl der religiösen Erfahrung als auch dem Gottesglauben inhärenten Realitätsanspruch argumentativ (pragmatistisch) rechtfertigen zu können. Dafür steht in meinen Ausführungen das Werk von Josiah Royce, dessen späte Christentumstheorie selbst sich zentralen Einsichten von Charles Sanders Peirce verdankt. 117 JAMES, Vielfalt (Anm. 112), 494.
4. Handeln als interpretierendes Verantworten
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Jede Erzählung erkennt die Kontingenz in dem Maße an, wie sie Ereignisse erzählt, daß heißt etwas, das geschieht. Man kann in der Tat gleichermaßen davon sprechen, daß die Geschichte als erzählte Erzählung aus mannigfaltigen Ereignissen (made out) besteht und daß diese Ereignisse in eine einzige (…) Geschichte transformiert werden (made into).118
Unter melioristischen Gesichtspunkten zielt dann die Aufmerksamkeit für die so rekonstruierte Geschichte auf die darin ausgebildeten Absichten, Zwecke und Werte. Unter dem Aspekt der Erlösung wird Geschichte zur Heils- und Unheilsgeschichte.119 Diese aber lässt sich nicht ohne Akteure denken, die darin nicht aufgehen, sondern eigenständig für das Heil- oder Unheilwerden als Zeugen bürgen und einzustehen haben. Damit ist der Schritt vom melioristischen zum personalen Universum bereits vollzogen.
4. Handeln als interpretierendes Verantworten: Ein ‚personales Universum‘ 4. Handeln als interpretierendes Verantworten
Alle Ausführungen in dieser Arbeit beruhen auf der Grundannahme, dass es zum Spezifikum humaner Lebensform gehört, dass sie sich in der kontingenten Wirklichkeit auf kulturelle Weise über sich selbst und die Welt verständigen kann. Dies geschieht auf eminent soziale Weise. Jede symbolische Formung ist Teil einer umfassenden sozialen Praxis. Dies gilt selbstredend auch für die Formen religiöser Wirklichkeitserkenntnis. Erfahrungen, so eine weitere These in der Arbeit, entstammen stets Handlungskontexten, in dem Wirklichkeit symbolisch interpretiert und gestaltet, d.h. rekonstruiert wird. In diesem Sinne ist der Mensch stets ein „homo interpretans“120. Angesichts dieses Befundes soll im dritten Schritt der Explikation der These eines personalen Universums abschließend das Augenmerk auf die spezifisch personale Form des Handelns gerichtet werden. Dieses leitete implizit bereits alle vorangegangenen Überlegungen. Das kann auch nicht anders sein, da die 118
RICEOUR, PAUL, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen: Konkursbuch 1986,
11. Von daher besteht ein keineswegs nur negativer, sondern schon interner Zusammenhang zwischen theistischem Gottesgedanken und Theodizeeproblem. Dies gilt nicht nur für die Ebene praktischer Frömmigkeit, sondern – worauf die Rede von einem melioristischen Universum abzielte – in gleichem Maße für dessen theologische Rekonstruktion. Siehe dazu auch: TROELTSCH, ERNST, Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen (1894), in: Ders., Gesammelte Schriften II (Anm. 5), 227–327, v.a. 269–272. 120 Johann Michel hat in einer kürzlich erschienenen, meisterhaften Studie versucht, die verschiedenen hermeneutischen Perspektiven auf das Menschsein mit einer anthropologischen Auszeichnung des Interpretierens als genuinem Merkmal des humanen Lebensvollzugs aus pragmatistischer Sicht zu beleuchten. Vgl. MICHEL, JOHANN, Homo Interpretans. Towards a Transformation of Hermeneutics. Transl. by David Pellauer. Preface by Hans Joas, London/New York: Rowman&Littlefield 2019. 119
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handlungstheoretische Perspektive alle Ausführungen über Kultur und Ritual, Gebet und Geschichte geleitet hat; sind doch Beten und Erzählen selbst als symbolische Handlungen stets interpretativ. Allerdings wäre die Beschreibung des personalen Handelns als symbolisches Interpretieren noch zu unspezifisch. Der Rede von der Person ist bekanntlich ein ethischer Grundimpuls eigen, den es ebenfalls genauer zu bedenken gilt. Er kann allerdings nicht einfach als weiterer Aspekt von Interpretation additiv hinzugefügt werden, sondern muss, um eine echte strukturelle Bedingung von Personalität auszumachen, dieser von vornherein zu eigen sein. Das jedoch heißt, er ist als Modus jedes personalen Handlungsvollzugs als der eines Interpretierens auszuweisen. Im Grunde sind wir bereits an mindestens zwei Stellen in unseren Überlegungen auf das Erfordernis einer solchen Modifikation gestoßen. Zum einen am Ort der narrativ rekonstruierten Geschichte, genauer: bei der Differenz zwischen fiktiver und historischer Erzählung und infolgedessen beim Unterschied von narrativer und personaler Identität. In diesem Zusammenhang sind wir auf den Modus des Bezeugens gestoßen, der den Punkt der nicht restlosen Identität der geschichtlich Handelnden mit der Geschichte ihres Handelns (als Biographie) benannt hat. Zum anderen galt es bei der Betrachtung der Sozialität aller Realität, die als Interpretationsgeschehen gefasst wurde, auf unterschiedliche Formen des Interpretierens zu achten. Personales Interpretieren ist als selbst-reflexives zu verstehen, weswegen wir für diese Klasse von Interpretation die triadische Struktur zwar nicht erweitert haben, sie aber durch die Einführung der Figur des Interpreten präzisieren mussten. In beiden Fällen geht es somit um das Beachten einer reflexiven Differenz, die das Handeln als symbolisches Interpretieren prägt. Das ‚self-interpreting animal‘ (Ch. Taylor) wird erst dann klar erfasst, wenn dessen Fähigkeit zur Selbst- und Fremdbeurteilung eigener und fremder Interpretationen als eine Aufgabe an sich selbst und an andere begriffen wird. Das macht den ethischen Zug dieses Handlungsverständnisses aus. Personales Handeln steht unter dem Stichwort der Verantwortung, weil mit ihr jenes reflexive Moment eingeholt werden kann, ohne dabei die Differenz, an der es entsteht, sogleich einzuziehen. Ein personales Universum kennt somit Instanzen (‚powers‘), deren soziales Interagieren sich als interpretierendes Verantworten begreifen lassen muss.121
121 Das bedeutet jedoch nicht, Menschen als Personen nur unter diesen Bedingungen begreifen zu müssen. Im Gegenteil: Es kann um der konkreten Person willen notwendig sein, andere Perspektiven einzunehmen. Ein simples Beispiel ist immer noch die Tätigkeit des Chirurgen gegenüber seinem Patienten während der Operation. Hier dominiert nicht der unmittelbar personale Bezug zwischen Arzt und Patient, sondern der professionell am physischen Organismus orientierte.
4. Handeln als interpretierendes Verantworten
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4.1 Interpretieren als sozial-reflexives Handeln in der Zeit Alles Symbolisieren kann als Interpretieren aufgefasst werden. Das gilt nicht nur für den Akt des Interpretierens als symbolisches Handeln, es betrifft nicht weniger dessen jeweilige Resultate. Symbole sind Interpretamente. Beides liegt in der Tatsache begründet, dass der Mensch ein ‚animal symbolicum‘ ist, ein ‚homo articulans‘, der über Bestimmungen von ‚Außen‘ und ‚Innen‘, ‚Selbst‘ und ‚Umwelt‘, ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ etc. die Wirklichkeit formt. Dies geschieht unter Inanspruchnahme eines kulturell gewachsenen symbolischen Vokabulars und in sozialen Kontexten, die beide perspektivisch gebrochen sind. Deswegen deutete sich bereits weiter oben an, statt von der Zeichentheorie Peirces besser von deren sozialtheoretischer Variante in der Interpretationstheorie von Josiah Royce (1855–1916) auszugehen. Nach Karl-Otto Apel ist es eine Stärke der letzteren, dass für sie in der zeichenvermittelten Erkenntnis von etwas als etwas (…) in der Tat beides enthalten [ist]: Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt in der Weise einer Weltinterpretation und Vermittlung zwischen Subjekten in der Weise der Sprachinterpretation; beide Weisen zeichenvermittelter Erkenntnis sind aber schon im Ursprung komplementär in dem Sinne, daß sie einander ergänzen und auch ausschließen.122
Anders als bei Peirce wird bei Royce die Sozialität, d.h. ‚die Welt der Sozialbeziehungen‘ als ‚Schlüssel‘ für das Verstehen von zeichenhafter Interpretation und somit Erkenntnis herausgestellt.123 Die wechselseitige Bedingung von Sozialität und Interpretativität bildet die Grundstruktur seiner Theorie, die auch als Anthropologie zu verstehen ist: „I have called interpretation an essentially social cognitive process; and such, in fact, it is. Man is an animal that interprets; and therefore man lives in communities, and depends upon them for insight and for salvation.“124 Damit färbt die soziale Struktur des Interpretationsprozesses auch auf dessen Resultate ab. Anders gesagt: Alles, was interpretiert wird, wird durch die Interpretation in seiner sozialen Verfasstheit prägnant bestimmt. Dies betrifft allem voran die grundlegenden, konzeptionellen Begriffe, wie z.B. ‚Welt‘, ‚Zeit‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Geschichte‘. Damit verweist die Struktur
122 A PEL, Szientismus, in: Ders., Transformation II (Anm. 72), 201. – Was bei Apel „Sprachinterpretation“ heißt, kann hier im umfassenden Sinne als wechselseitige, d.h. intersubjektiv vollzogene Selbstinterpretation gefasst werden. 123 Damit kehre ich eine Formulierung von Apel um, der die Interpretationsstruktur als „Schlüssel für die Welt der Sozialbeziehungen“ (a.a.O., 205) sieht und letztere als „triadische Struktur der Traditionsvermittlung“ (a.a.O., 204) begreift. Das hat mit seinem Ansinnen zu tun, Royce als Vertreter einer „transzendentalhermeneutische[n] Interpretation der Semiotik“ (a.a.O., 201) zu rezipieren. 124 R OYCE, Problem (Anm. 73), 298. – Die Worte ‚insight‘ and ‚salvation‘ stehen hier stellvertretend für die Gesamtheit menschlicher Kulturtätigkeiten, die von lebensweltlichen Einsichten über wissenschaftliche Erkenntnisse bis zur religiösen Suche nach Heil reichen.
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der Interpretation auf die Struktur des Universums zurück, würden doch andernfalls Interpretationen ins Leere greifen. Die Bedeutung der Interpretation für den Umgang mit Wirklichkeit ergibt sich zudem, wenn man sie zu den Aspekten der Kontingenz und Kontinuität ins Verhältnis setzt. Durch ihre triadische Zeichenstruktur wird nämlich eine Regel oder Ordnung gestiftet, vermittelst derer es möglich wird, unter und in kontingenten Ereignissen Muster zu identifizieren, Kontinuitäten auszumachen. Anders gewendet: Es gibt keine punktuelle oder intuitive Interpretation. Sie vollzieht sich stets zeitlich. Aber auch hier ergibt sich aus der Umstellung von Peirce auf Royce eine weitreichende Modifikation. Denn an interpretation is a relation which not only involves three terms, but bring them into a determinate order. One of the three terms is the interpreter; a second term is the object – the person or the meaning or the text – which is interpreted; the third is the person to whom the interpretation is adressed.125
Jede regelhafte Ordnung, die durch eine Interpretation gesetzt wird und also als soziale Perspektive gelten kann, bleibt rückgebunden an die Tatsache, dass es aktive Zeichenverwender gibt. Das betrifft unsere lebensweltliche Praxis ebenso wie unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie kommen zwar nur durch die Verwendung bestimmter Zeichensysteme zustande, weswegen alle Einsichten (‚insights‘) Teil einer spezifischen symbolischen ‚Community of Interpretation‘ sind, der sie auch ihre Legitimitätskriterien verdanken. Doch ist damit der gesamte Prozess der Interpretation noch nicht erfasst. Denn vor allem die Frage, worin sich dessen Resultate praktisch bewähren, weist über die semiotische Interpretationsgemeinschaft hinaus. Diese wird umgriffen von der durch verschiedene Interpreten konstituierten Interpretations- als Interaktionsgemeinschaft, die noch einmal die Frage nach den Kriterien der Anwendung und Bewährung stellt. In diesem Kontext kann man bereits von einer strukturellen, sozialen Reflexivität sprechen. Am Beispiel illustriert: Wissenschaftliche Erkenntnisse oder religiöse Ansichten fußen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit wie ihrer Triftigkeit auf einer Community of Interpretation (Inquiry), in die sie eingebettet sind. Aber sie bleiben darüber hinaus auf eine Community of Interpreters bezogen, die sie in ihrem Handeln gebrauchen.126 125 A.a.O. 287. – Diese Stelle lässt sich in der Tat treffend mit Worten Apels interpretieren: „Während Peirce, entsprechend seiner Konzentration auf den experimentell vermittelten consensus omnium über Sachverhalte, den Menschen selbst als Zeichen in den überindividuellen Schlußprozeß hinein integrieren möchte, wird bei Royce umgekehrt der Mensch als Subjekt der Sinnintention an die Stelle des Zeichens in den semiotisch analysierten Interpretationsprozeß eingesetzt.“ (APEL, Szientismus, in: Ders., Transformation 2 [Anm. 72], 204). 126 Zur Verschränkung der als community of inquiry verstandenen (wissenschaftlichen) Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft mit der in ihr immer schon wirksamen sozialen Interaktionsgemeinschaft (der Wissenschaftler), siehe: ROYCE, JOSIAH, Metaphysics. His Philosophy 9 Course of 1915–1916, as stenographically recorded by Ralph W. Brown
4. Handeln als interpretierendes Verantworten
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Nun können beide Arten von Gemeinschaften nicht zur Deckung gebracht werden. Das wird auch daran deutlich, dass der Terminus ‚Interpret‘, so wie ihn Royce im oben angeführten Zitat verwendet, sich weder ohne Weiteres auf die auch bei ihm zu findende Triade von Objekt, Zeichen und Interpretant anwenden lässt, noch die Rolle der ‚Community of Interpreters‘ mittels der im Zitat aufgeführten Triade von Interpret, Objekt und Adressat allein bestimmt werden kann. Was im Anschluss an John E. Smiths Vorschlag im Folgenden unter ‚Interpret‘ verstanden wird, ist demnach etwas anderes, zielt aber auf das Differenzmoment zwischen einer ‚Community of Interpretation‘ (einem Zeichenprozess) und einer ‚Community of Interpreters‘ (einer Gemeinschaft von Zeichenverwendern). Bei alledem bedeutet diese Differenzierung keinen Ausstieg aus der triadischen Interpretationsstruktur an sich, da auch die Interpretengemeinschaft sich dank dieser Struktur (selbst) interpretieren kann. Insofern findet sich die „triadische Struktur der Zeicheninterpretation (…) wieder in der triadischen Struktur (…) der sie tragenden minimalen ‚Interpretationsgemeinschaft‘“127. Das selbstreflexive Moment, das den Interpreten zu eigen ist, kann, wie der nächste Abschnitt verdeutlichen soll, deswegen nicht einfach als vierte Stelle in der Zeichenrelation auftreten. Sonst könnte es kein reflexives Moment auf bzw. an dieser Relation sein.128 Vorläufig lässt sich vielleicht sagen: Es macht sich auf analoge Weise wie die Zeit in Interpretationsprozessen bemerkbar. Diese sind prinzipiell nicht abschließbar, wohl aber korrigierbar. Dadurch wird Zeit für jedes Interpretationsgeschehen in doppelter Hinsicht bedeutsam. Zeit ist selbst nur in der Gestalt von Interpretationen erfassbar. Das gilt allemal für Zeit als Geschichte verstanden, und zwar bezogen auf alle drei zeitlichen Dimensionen. Dabei werden Vergangenheit und Zukunft aus der Gegenwart heraus interpretierend rekonstruiert bzw. antizipiert, so wie diese nur durch die beiden anderen als Gegenwart erfasst werden kann. The most general distinctions of past, present, and future appear in a new light when considered with reference to the process of interpretation (…) For what we all mean by past time is a realm of events whose historical sense, whose records (…) we may now interpret, in so far our memory and the documents furnish us evidences for such interpretation. We may also observe that what we mean by future time is a realm of events we view as more or less under control of the present will of agents, so that it is worth while to give to ourselves (…) counsel regarding this future. 129
and complemented by notes from Bryon F. Underwood, hg. v. William E. Hocking/Richard Hocking/Frank M. Oppenheim, Albany: SUNY Press 1989, 26–30. 127 A PEL, Szientismus, in: Ders., Transformation 2 [Anm. 72], 205. 128 Das ist gegen die Interpretation von John E. Smith zu sagen. Vgl. SMITH, Signs, Selves, and Interpretation, in: Ders., Philosophical Vision (Anm. 71), 173–190, 177. – Im Übrigen lässt sich auch die Selbst-Bezeugung nicht über eine vierstellige Relation erfassen, sondern zeigt sich eben darin, dass sie sich in der dreistelligen Zeichenrelation als ein nicht in ihr aufgehendes kontingentes Moment erweist. 129 R OYCE, Problem (Anm. 73), 288.
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Man könnte diesbezüglich von einem Primat der Gegenwart sprechen, die den Anlass zur Rekonstruktion von Zeit und Geschichte gibt. Das ist aber nur richtig, weil auch umgekehrt gilt: Jede Gegenwart war einmal Zukunft und wird einmal Vergangenheit werden. Auch die Zeit ist eine soziale Größe und wird zudem unter dem Modell des in ihr verstrickten Interpreten verstanden. Die zeitlichen Dimensionen verschränken sich somit und zugleich verändert sich die Interpretation des Zeitprozesses, ohne dass er umkehrbar wäre: „And so, wherever the world’s process are recorded, wherever the records are preserved and wherever they influence in any way the future course of events, we may say that (…) the present potentially interprets the past to the future, and continues so to do ad infinitum.“130 Ohne dass damit die Irreduzibilität der Ereignisse und somit ihre Kontingenz infrage gestellt wäre, gilt, dass Geschichte sich aus jeder neuen gegenwärtigen Situation (als Perspektive) verändern kann. Als Geschichte betrachtet aber haftet sie an ihrem Muster, der Regel des zeitlichen Kontinuums. Und doch gilt: Wenn alles, was interpretiert werden kann, sich zeitlich erstreckt, ist der Prozess seiner Interpretationen prinzipiell unabschließbar. Daraus lässt sich eine Analogie zur Rolle des (personalen) Interpreten in der Interpretation bilden. So, wie der unendliche Prozess der Zeit es verhindert, dass irgendein Interpretationsobjekt endgültig bestimmt werden kann, so gehört es zur Struktur von Interpreten als spezifischen Zeichenverwendern, dass sie nie ganz in ihrem Inter-Agieren als Interpretieren zur Darstellung kommen. Die Unabgeschlossenheit, die sich zunächst nur zeitlich erstreckt131, wird am Ort des jeweiligen Interpretationsvollzugs nochmals überboten.132 4.2 Die Rolle des Interpreten in der Interpretation Die Analogie zur zeitlichen Struktur von Interpretation diente zunächst nur dazu, die Rolle des Interpreten in der Interpretation genauer zu fassen. Doch ist damit mehr als ein Veranschaulichungsbeispiel gegeben. Schließlich besteht ein inneres Verhältnis zwischen der Zeitlichkeit von Interpretationen und deren Initiatoren. Interpreten können sich selbst ebenfalls nur zeitlich interpretieren. Ihr Selbstverständnis ist selbst zeitlich, und zwar aufgrund der zeitlichen Struktur des Vollzugs ihres Selbstverstehens. When a man of conscious reflection goes on, a man may be said to interpret himself to himself (…) The interpretation in question still constitutes, therefore, a triadic relation. And there are three men present in and taking part in the interior conversation: the man of the past whose Ebd. Zur prinzipiellen Unendlichkeit des Interpretationsprozesses als eines gehaltvollen, selbstreflexiven Zeichenprozesses, vgl. SMITH, JOHN E., Royce’s Social Infinite. The Community of Interpretation. With a New Preface by the Author, Hamden (CT): Archon Books 1969, 64–108. 132 In etwas einfacherer Terminologie geht es hier um das Verhältnis von Zeit und Freiheit. 130 131
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promises, notes, records, old letters are interpreted; the present self who interprets them; and the future self to whom the interpretation is adressed. Through the present self the past is so interpreted that its counsel is conveyed to the future self.133
In einer ersten Hinsicht zeigt sich damit: Selbstverstehen ist ein besonderer Fall von Interpretation. Dabei bleibt die triadische Struktur ebenso erhalten, wie auch hier die Möglichkeit eines rein privativen Vorgangs ausgeschlossen bleibt. Selbstverstehen bedarf des Umwegs über Zeichen und ist damit von vornherein sozial und kommunitär veranlagt. So gesehen kann Selbstinterpretation nie als ein rein innerpsychisches Geschehen verstanden werden. In einer zweiten Hinsicht aber zeigt sich das Besondere an diesem Fall von Interpretation. Denn in ihr wird aus der Perspektive des gegenwärtigen Selbst das vergangene für sein zukünftiges interpretiert. Das ‚gegenwärtige Selbst‘ fungiert also als Interpret, jedoch nicht dergestalt, dass es sich in dieser Rolle erschöpfte, sondern so, dass es sich an einen Adressaten, sein ‚zukünftiges Selbst‘, richtet. Damit geht die Rolle des gegenwärtigen Selbst als Interpretationsinstanz bzw. als Interpret gerade nicht in seiner Zeichen- und Zeitstelle auf. Das gilt deswegen, weil die drei Interpretationsglieder, die über die zeitliche Differenz bestimmt werden, selbst diesen Zeichenprozess nicht in Gang setzen. Vielmehr verdanken sie sich einer kontingenten und darin eben spontanen Initiierung, die sich – je nach Situation und Kontext – auch als Reaktion herausstellen kann. So oder so aber ist dieser spontane Akt an keiner anderen Stelle als der des gegenwärtigen Selbsts zu verorten. Damit fügt er sich nicht restlos in die dreigliedrige Zeichenrelation ein, kann jedoch nur an ihr festgemacht werden. Mit dem ‚Interpreten‘ wird somit auf den kontingenten Vollzug des Reflexivwerdens in bestimmten Interpretationsakten abgezielt.134 „Freiheit bedeutet in diesem Konzept, sich von den vorgegebenen Mustern (…) zu distanzieren und sie anders fortsetzen zu können, statt sich lediglich nachahmend anzupassen.“135 Dieser kontingente Vollzug lässt sich noch etwas genauer bestimmen. Durch ihn wird der bereits weiter oben genannte Aspekt der vagen Absichtlichkeit oder der ‚purposiveness‘ weiter konturiert. Als Handeln ist Interpretieren ja der Umgang mit der qualitativen Kontingenz und ihrer kreativen Bearbeitung. Deshalb stellen Interpretationen stets auch Bewertungen einer Situation oder eines Kontexts dar. Im Vorgang des Interpretierens bedarf es dazu allerdings der Fo-
ROYCE, Problem (Anm. 73), 287f. Bei James und Mead wird dieser Zusammenhang durch die Differenz von ‚I‘ and ‚Me‘ ausgedrückt. Der Vorteil einer stärker an Royce angelegten Formulierung liegt darin, stärker auf das zeitliche, d.h. als Geschichte vollziehende Interpretationskontinuum als Ort dieser reflexiven Differenz abzuheben. Damit wird zugleich eine Stärke der Peirce’schen Semiotik produktiv aufgenommen. 135 H AMPE, M ICHAEL, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Berlin: Suhrkamp 2014, 306. 133 134
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kussierung auf eine bestimmte Facette oder einen bestimmten Aspekt der Situation. Darauf baut die Ausbildung einer Absicht, das Bewusstwerden eines Zweckes auf.136 Diese perspektivische Zuspitzung erfolgt spontan, in der Form selektiver Aufmerksamkeit, die natürlich auch gezielt von außen provoziert, aber eben nicht produziert werden kann. Deswegen kann man mit James sagen, die „Anstrengung der Aufmerksamkeit ist somit die wesentliche Erscheinung des Wollens“137, und sie trägt das Moment der Reflexivität schon in sich.138 Mithin geht es dabei um das Ausbilden von Absichten in und durch Interpretationen. ‚Wollen‘ zeigt sich nur am Ort der Interpretation und ist kein blinder vorgängiger Vollzug. Der Wille ist ein Wille zum Interpretieren oder schlicht: „The Will to Interpret“139. Das gilt besonders für den Fall des Selbstverstehens. Als ein solcher Wille zur Interpretation tritt er jedoch stets in einem sozialen Kontext auf. Seine innere kommunitäre Struktur, wie sie exemplarisch bei der Erfassung des zeitlichen Selbst deutlich wurde140, resultiert aus seiner Einbettung in ihm zeitlich vorausgehende wie nachfolgende Gemeinschaften von In-
136 Deswegen kommt dem Begriff des ‚purpose‘ eine doppelte Bedeutung zu: Einerseits kann er durchaus als eine konkrete Absicht, eine Zwecksetzung begriffen werden; andererseits, und das steht hier im Vordergrund, markiert er im Prozess selektiver Aufmerksamkeit den Ort der Perspektive, von der aus eine Situation handelnd bewertet wird. Von da aus erklärt sich, inwiefern er für die Ausbildung einer spezifischen personalen Identität – als perspektivischer Prozess des Umgangs mit der Welt – so entscheidend ist. Entsprechend gilt: „Purpose appears in a double-barrelled form: there is, first the purpose or goal of the specific thought and the habits associated with it, and second, there is the purpose of thought itself which is to produce habits of action. Purpose comes to function as a principle of selection or relevance, indicating what actually belongs to the meaning of a thought or what ‚counts‘ as a part of the thought in contrast with irrelevant associations“ (SMITH, JOHN E., Purpose and Thought. The Meaning of Pragmatism, Chicago: The Univ. of Chicago Press 1978, 26). 137 JAMES, W ILLIAM, Psychologie (1892), Übersetzt von Marie Dürr mit Anmerkungen bearbeitet von Ernst Dürr, Leipzig: Quelle & Meyer 1909, 451. 138 Im Phänomen der Aufmerksamkeit (attention) kommt erstmals das für alle weiteren Akte von Selbstbestimmung notwendige, basale Motiv der Differenzsetzung zur Geltung, nämlich auf dieses und nicht jenes sich zu konzentrieren und, späterhin, dieser und nicht jener sein zu wollen. Die Kontinuität, die hier von der physiologisch untersten Stufe bis hinauf zu höchsten Selbstbewusstseinsaktivitäten reicht, sollte jeder Reduzierung des Selbstbestimmungsmotivs auf kognitive Akte Schranken setzen. Zur Bedeutung für die personale Selbstentfaltung siehe die Überlegungen bei: ROYCE, JOSIAH, Outlines of Psychology. An Elementary Treatise with some Practical Applications (1903), New York/London: The Macmillan Publish 1906, v.a. 258–264.328–332.367–369. 139 So die berühmte Formulierung von Josiah Royce: vgl. R OYCE, Problem (Anm. 72), 297–319. – Royce will damit das voluntaristische Moment festhalten, ohne einem blinden Voluntarismus, den er bspw. bei Schopenhauer (vgl. a.a.O., 338.351–354) erkennt, zu folgen. 140 Vgl. a.a.O., 314: „The Will to Interpret undertakes to make of these three selves a community“.
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terpreten in diversen Interpretationsgemeinschaften („community of interpretation“141). Jedes individuelle Selbst, jeder Interpret kann seine individuelle Identität nur im Austausch mit anderen ebenfalls dazu fähigen Lebewesen, d.h. Interpreten, ausbilden. Der Weg zur Ausbildung individueller Identitäten führt über soziale Kooperationen. Dabei kommen wir immer schon von anderen, überkommenen Interpretationen her, stehen somit in geschichtlichen Zusammenhängen.142 In beidem – dem sozialen und historischen Kontext – treten Kontraste auf, die das einzelne Selbstbewusstsein zur kreativen Ausbildung seiner je individuellen Gestalt (Form) benötigt und ohne die es umgekehrt diese nicht anreichern und verändern kann. [T]he social environment that most awakens our self-consciousnes about our conduct does so by opposing us, by critizing us, or by otherwise standing in contrast with us. Our knowledge of our conduct, in all its higher grades, and our knowledge of ourselves as the authors or as the guides of our own conduct, our knowlege of how and why we do what we do, – all such more elaborate self-knowledge is, directly or indircectly, a social product, and a product of social contrasts and oppositions of one sort or another. Our fellows train us to all our higher grades of practical self-knowledge, and they do so by giving certain sorts of social trouble.143
Personen als Interpreten, darauf steuert diese Argumentation zu, treten im Schnittfeld von Individualität und Sozialität auf. Sie gibt es nur im Plural und sie werden nie abseits von Interpretationsprozessen sichtbar. Dennoch gehen sie darin nicht auf. Dies schon deswegen nicht, weil sie selbst stets kontingent neue Akzente setzen können. Darin sind sie initiativ und kreativ.144 Darüber hinaus aber auch deswegen nicht, da das, was in geschichtlicher Kontinuität ihre personale Identität ausmacht, sich nicht allein ihren eigenen Interpretationen verdankt. Es liegt in der Tatsache, dass es Interpreten nur im Plural gibt, dass diese sich handelnd wechselseitig interpretativ bestimmen. Insofern wird die Kontingenz der eigenen Freiheit durch die Kontingenz, durch andere bestimmt zu werden, noch gesteigert. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass Interpretationsprozesse mit Interpreten nur einen Teil jenes als Universum beschreibbaren, umfassenderen Interpretationsgeschehens darstellen. Streng genommen bilden sie noch
141 A.a.O., 315. – Royces Theorie kennt für alle materialen Interpretationsgemeinschaften (z.B. Staat, Familie, Religionsgemeinschaften etc.) eine gleiche formale Struktur (vgl. a.a.O., 315–319). Diese sind zugleich als Interpretengemeinschaften zu verstehen, wie wir unter § 10.4.1 gesehen haben. 142 Vgl. R OYCE, Problem [Anm. 73], 314: „For at any moment, in my life as interpreter, I am dependent upon the results of countless previous efforts to interpret. The whole past history of civilization has resultated in that form and degree of interpretation“. 143 A.a.O., 107. Vgl. auch: a.a.O., 265–271. 144 Zur Rolle der Kreativität im Interpretationsprozess bei Royce, vgl. SMITH, JOHN E., Creativity in Royce’s Philosophical Idealism, in: Ders., Philosophical Vision (Anm. 71), 153–172.
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§10 ‚Ein personales Universum‘
nicht einmal das Ganze einer konkreten Situation ab, selbst wenn diese als interpersonale Kommunikation begriffen wäre. Stets ist anderes mit im Spiel, das ebenfalls interpretiert werden muss und als Reaktion auf die Interpreten verstanden werden kann. Hierin zeigt sich unter interpretationstheoretischen Vorzeichen erneut das, was oben (vgl. § 10.2) als Sozialität aller Realität gefasst wurde. Umgekehrt lassen jedoch die spezifischen Differenzen zu anderen, etwa kausalen Interpretationsprozessen eine genauere Bestimmung der Eigenart jener Interpretationsprozesse mit (personalen) Interpreten zu. Ein erster Hinweis lässt sich schon anhand ihres Kontextes innerhalb einer Welt der Interpretation entnehmen: [T]he world of interpretation is the world in which, if indeed we are able to interpret at all, we learn to aknowledge the being and the inner life of our fellow-men; and to understand the constitution of temporal experience, with its endlessly accumulating sequence of significant deeds. In this world of interpretation, of whose most general structure we have now obtained a glimpse, selves and communities may exist, past and future can be defined, and the realms of the spirit may find a place which neither barren conception nor chaotic flow of interpenetrating perceptions could ever render significant.145
Als Hinweise können die Stichworte ‚selves‘, ‚communities‘ und ‚realms of spirit‘ dienen. Es geht damit um diejenigen Interpretationsprozesse, in deren Mittelpunkt die Interpreten in ihrer Eigenschaft stehen, Interpretationen anstoßen und sich zu ihnen reflexiv ins Verhältnis setzen zu können. Im Mittelpunkt stehen dann alle Verhältnisse von Interpreten zueinander und mit Blick auf ihre Ziel- und Zwecksetzungen (‚significant deeds‘). Im Grunde geht es um alle Formen der Kultur, von der Lebenswelt des Alltags bis hinauf zu Wissenschaft und Religion. Ihnen ist in besonderer Weise eigen, dass ihre ‚communities of interpretation‘ stets auch ‚communities of interpreters‘ sind. Das Wissen darum, das wiederum selbst nur durch Interpretation anschaulich wird, zwingt dazu, das Interpretieren in seiner strukturellen Reflexivität noch einmal anders zu fassen. Interpretieren als Verantworten zu begreifen meint das Wissen um die reflexive Struktur von Interpretation im Zusammenhang mit anderen Interpreten im Bewusstsein ihrer wechselseitigen Verbundenheit in einem größeren Zusammenhang. Verantwortung meint die Einholung der sozialen Reflexivität des Handelns als Interpretieren auf sich selbst. 4.3 Interpretieren als Verantworten: Ein ‚personales Universum‘ Wir hatten gesagt, dass zu einem personalen Interpreten gehört, dass er nicht in den Interpretationen, die er von sich selbst macht oder die andere ihm zuteilwerden lassen, aufgeht. Daran setzte das Moment der Reflexivität an. Noch als Fähigkeit der Rückbezüglichkeit auf sich selbst verdankt es sich bereits der Interaktion mit anderen Interpreten. Nur durch soziale Lernprozesse lässt sich – 145
ROYCE, Problem (Anm. 73), 294.
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auf direkte oder indirekte Weise – der reflexive Umgang mit sich selbst einüben. Dies allerdings stellt die Basis für jedes als Verantworten verstandene, wechselseitige Interpretieren dar. Das bedeutet: Soll das reflexive Moment in jedem Handeln unter Interpreten eingeholt werden, ist auf die doppelte Kontingenz zu achten, die dabei stets mitgesetzt ist. Sie betrifft sowohl die nie restlose Integration des Interpreten in seine Interpretationen einerseits, als auch die ebenfalls nicht abschließbare Integration der Interpretationen durch andere Interpreten andererseits. Diese doppelte Kontingenz wird jedoch nur durch und an den Interpretationen sichtbar, steht sie doch innerhalb eines Kontinuums von Interpretationen. Darum können wir noch darauf, also auf die doppelte Kontingenz, um die wir wissen, durch weiteres Handeln interpretierend reagieren. Diese sehr abstrakten Ausführungen werden klarer, wenn man auf das Feld der Handlungstheorie zurückkehrt, welches den Rahmen unserer Ausführungen bildet. An Josiah Royces Sozial- und Interpretationstheorie anknüpfend war es vor allem H. Richard Niebuhr (1894–1962), der Verantwortung als grundlegendes Moment einer interpretationstheoretischen Handlungstheorie herausgearbeitet hat. Für ihn gilt: All action (…) including what we rather indeterminately call moral action, is response to action upon us. We do not, however, call it the action of a self (…) unless it is response to interpreted action upon us. All action that go on within the sphere our bodies (…) are doubtless reactions, but they do not fall within the domain of self-actions if they are not accompanied and infused, as it were, with interpretation. 146
Um dem Moment der Verantwortung – als antwortende Reaktion verstanden – auf die Spur zu kommen, betont Niebuhr, dass man jeden Interpretations- als Interaktionsprozess und umgekehrt verstehen kann (und muss). Deswegen gilt ‚responsiveness‘ als Grundzug allen Wirklichkeitsgeschehens in Natur und Geschichte.147 Allerdings ist das Spezifikum des Interaktionsgeschehens unter Interpreten damit noch nicht hinreichend bestimmt. ‚Responsiveness‘ stellt nur 146 N IEBUHR, H. R ICHARD, The Responsible Self. An Essay in Christian Moral Philosophy (1963). Introduction by James M. Gustafson. Foreword by William Schweiker, Lousville (KT): Westminster John Knox Press 1999, 61. – Der Rekurs auf Niebuhr ist schon dadurch gerechtfertigt, dass mit ihm der wohl einzige bedeutende Theologe im 20. Jahrhundert benannt ist, der eine Synthese von historistischem und pragmatistischem Denken ernsthaft unternommen hat. Als Referenzgrößen dienten ihm dabei vor allem Ernst Troeltsch, George H. Mead und Josiah Royce. Mit Blick auf die beiden letztgenannten Denker ist die Interpretation von Joshua Daniel vorzüglich: Vgl. DANIEL, JOSHUA, Transforming Faith. Individual and Community in H. Richard Niebuhr, Eugene (OR): Pickwick Publications 2015. 147 Vgl. N IEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 61.63. – An dieser Stelle sei wenigstens vermerkt, dass die Frage, ob sich prinzipiell alles Realitäts- als Prozessgeschehen semiotisch begreifen bzw. interpretieren lässt, für meine Argumentation offen bleiben kann. Selbst wäre ich diesbezüglich – mit Niebuhr – zurückhaltend, wohingegen Peirce und Royce wenigstens ‚in the long run‘ diese Möglichkeit eher in Betracht ziehen.
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eine Grundbedingung für den Prozess verantwortlichen Interpretierens dar. Des Weiteren gehört nämlich das Spezifikum jener Form von Interpretation dazu, das sich in der Frage bekundet: mit Blick auf was, also worauf, zu antworten ist. Es geht darum, die ethische Frage ‚Was soll ich tun?‘ in die umfassendere Frage nach der Qualität der Handlungssituation einzubetten.148 Diese ist als soziale Situation prinzipiell durch mehrere Blickrichtungen geprägt, was formalisiert darauf hinausläuft, die (möglichen) Reaktionen auf die Handlung schemenhaft zu antizipieren. Hierfür fungieren kulturelle und soziale Deuteschemata – ‚schemes of interpretation‘ – als Hilfen zur Bestimmung von Erwartungen und Reaktionsweisen anderer. Nur so kann dem Aspekt der Zurechenbarkeit im Geschehen von Verantwortung vollends Rechnung getragen werden, da er bereits bestimmte, gültige Interpretationsschemata in Interpretationsgemeinschaften voraussetzt, durch die sich Interpreten in ihrer Identität ausbilden.149 Interpretierendes Verantworten vollzieht sich somit stets in Gemeinschaften von Interpreten: Personal responsibility implies the continuity of a self with a relatively consistent scheme of interpretations of what it is reacting to. By the same token it implies continuity in the community of agents to which response is being made. There could be no responsible self in an interaction in which the reaction to one’s response comes from a source wholly different from that whence the original action issued. The idea or pattern of responsibility (…) may summarily (…) be defined as the idea of an agent’s action as response to an action upon him in accordance with his interpretation of the latter action and with his expectation of response to his response; and all of this is in a continuing community of agents.150
Niebuhrs Verständnis von Personalität bzw. personaler Verantwortlichkeit erfolgt – ganz im Einklang mit Mead und Royce, auf die er sich hier bezieht – nicht durch die Angabe bestimmter, personaler Merkmale für bestimmte Instanzen. Er geht auch nicht typologisch vor, indem er bestimmte Grundkonstellationen des Menschseins klassifiziert. Letzteres ist im Dialogismus beispielsweise der Fall, der idealtypisch die Ich-Du-Beziehung von der Ich-Es-Beziehung abhebt.151 Vielmehr erfolgt die Rekonstruktion von Personalität handlungstheoretisch über die Hermeneutik des Vollzugs von interpretierendem Verantworten. Mit Niebuhr: „In our responsibilty we attempt to answer the question ‚What shall I Do?‘ by raising as prior question ‚What is going on?‘“ (a.a.O., 63). 149 Deswegen kann Zurechenbarkeit (accountability) nur kontextsensibel begriffen werden, also weder allein durch Rekurs auf moralische Autonomie noch durch den Verweis auf eine objektive Wertordnung. 150 A.a.O., 65. 151 Vgl. seine modifizierende Aufnahme von Buber: a.a.O., 72f., sowie: Ders., Faith on Earth. An Inquiry into the Structure of Human Faith, hg. v. Richard R. Niebuhr, New Haven/London: Yale Univ. Press 1989, 46–50. – Schon in einem früheren Aufsatz hat Niebuhr darüber hinaus klargestellt, dass die dreigliedrige Verantwortungssituation noch für das Phänomen des Gewissens als geltend gedacht werden muss: Vgl. NIEBUHR, H. RICHARD, The Ego-Alter Dialectic and the Conscience, in: Journal of Philosophy 42 (1945), 352–359. 148
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Jenes setzt stets schon eine Dreigliedrigkeit der Verantwortungssituation voraus, die auch zwischen zwei Interpreten eine dritte Größe voraussetzt, die das ‚Woraufhin‘ der Interpretation benennt. Mit ihr wird die Handlungssituation gefasst und die Interpretations- als Verantwortungsgemeinschaft qualifiziert: Responsiveness now becomes responsibility in the sense of accountability when response is made not to one being alone but to that being as related with the self to a third reality (…) My action takes place as responsive and responsible in the midst of these interpretations and anticipations from both nature and society.152
Durch die Struktur der Verantwortungssituation kann nunmehr die doppelte Kontingenz der Interpretationen, wie sie von personalen Interpreten erfasst wird, sichtbar gemacht werden. Zum einen deswegen, weil jede Situation in geschichtlicher Hinsicht prinzipiell als eine neue gelten kann. Entsprechend können neue Reaktionen und antizipierte Gegenreaktionen auftreten.153 Daher beruht die ethische Kriteriologie auf dem Kriterium je neuer Angemessenheit (‚fitting‘).154 Zum anderen hängt das situativ angemessene ‚Antworten auf…‘ daran, dass die wechselseitig antizipierten Antworten sich als Interpretationen der Situation einigermaßen passgenau entsprechen. In der dadurch gegebenen Unsicherheit, der prekären Lage, tritt zugleich die Bedeutung der Kreativität für das Gelingen solcher Situationsangemessenheit offen zu Tage. Damit verändert sich auch die Sicht darauf, wie eine Situation bewertet und entsprechend gestaltet wird. Die Bewertung hat nun nämlich der doppelten Kontingenz der Interpretationen durch die Interpreten so Rechnung zu tragen, dass beide sich in der Bewertung wiederfinden können. Für den Aspekt der ‚purposiveness‘ heißt dies, sie bekommt ihre inhaltliche, wertende und werthafte Bestimmtheit nur durch die Beachtung der wechselseitigen Perspektivität der wertenden Instanzen (Interpreten). Werthaftigkeit wird zur Qualität einer wechselseitigen Interpretation in ihrem zeitlichen Vollzug: „Wert ist vorhanden, wo immer ein Sein dem anderen gegenübertritt, wo inmitten vieler, voneinander abhängiger und aufeinander wirkender Existenzen ein Werden ist. Wert ist keine Funktion des Seins“155. Das betrifft jedoch nicht nur die Resultate einer Interpretation, durch die sich Absichten und Zweckmäßigkeiten ausbilden. Denn dieses wäre rein äußerlich. NIEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 82. Vgl. a.a.O., 104f. 154 Vgl. a.a.O., 60.97 passim. 155 N IEBUHR, H. R ICHARD, Radikaler Monotheismus. Theologie des Glaubens in einer pluralistischen Welt, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1965, 97. – Auf Niebuhrs relationale Theorie der Werte, die sich exakt in seine am Verantwortungsbegriff orientierte Handlungstheorie einfügt, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Eine vorzügliche Darstellung und kritische Analyse liegt vor bei: GRANT, C. DAVID, God The Center of Value. Value Theory in the Theology of H. Richard Niebuhr, Fort Worth (Tex.): Texas Christian Univ. PressUniv. Press 1984. 152 153
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Vielmehr sind die Interpreten selbst in ihrem Interpret-Sein betroffen. Das folgt aus der Tatsache des verantwortlichen Interpretierens, zu dem es gehört, durch die Struktur des Antwortens die eigene Perspektivität dem Anderen in einer Situation so interpretierend nahezubringen, dass er sie versteht, weil dieser bereits zuvor in die Interpretation mit seiner eigenen Perspektive Eingang gefunden hat. Deshalb ist generell gesprochen, ein Wert „das Gut-Sein eines Wesens für ein anderes in ihren Wechselbeziehungen, ihrem feindseligen wie hilfreichen Verhalten.“156 Wert wird damit jedoch nicht zu einer rein formalen Kategorie. Er stellt auch keinen Handlungsaspekt dar. Er bezieht sich vielmehr auf die Qualität einer Gemeinschaft, die von ihrer elementarsten Stufe an durch die Bezogenheit von antwortenden Interpreten auf ein Drittes besteht. Werte bilden sich demnach in der in Interpretationsprozessen zum Ausdruck kommenden, gemeinsamen Absichtlichkeit von Interpreten aus. Sie bilden das Handeln in Gemeinschaft ab, indem sie deren Gehalt qualifizieren und die konkrete Verantwortlichkeit ihr gegenüber zur Darstellung bringen. Darin liegt ihre identitäts- bzw. persönlichkeitsbildende Kraft.157 Das Durchhalten bestimmter Werte als Evaluationskriterien für das Handeln ist der Motor für die Ausbildung einer im engeren Sinne ethischen und verantwortungs- wie zurechnungsfähigen Person. So gesehen sind sie es, welche die Ausbildung meines Lebensplans ausmachen.158 Alles Werten und Interpretieren im Modus der Verantwortung unterliegt aber der Gefahr zu misslingen. Entweder, weil es einem nicht gelingt, die eigene Perspektive angemessen darzustellen, oder dadurch, dass die Perspektive des(r) Anderen bzw. der Situation nicht angemessen berücksichtigt wird. In beiden
NIEBUHR, Radikaler Monotheismus (Anm. 155), 96. In anderer Terminologie wird hier aufgenommen, was Charles Taylor so formuliert: „Unsere Identität ist daher durch bestimmte Wertungen definiert, die untrennbar mit uns als Handelnden verknüpft sind. Würden wir dieser Wertungen beraubt, so wären wir nicht länger wir selbst. Damit meinen wir (…), daß wir in diesem Fall insgesamt die Möglichkeit verlieren würden, ein Handelnder zu sein, der wertet. Unsere Existenz als Personen und damit unsere Fähigkeit, als Personen an bestimmten Wertungen festzuhalten, würde außerhalb des Horizonts dieser wesentlichen Wertungen unmöglich“ (TAYLOR, CHARLES, Was ist menschliches Handeln?, in: Ders., Negative Freiheit? Zur Kritk des neuzeitlichen Individualismus. Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt/M.: Suhrkamp 31999, 9–51, 37). – Taylors Theorie der Person konturiert sich ebenfalls über den Zusammenhang von Handeln als Interpretieren und Artikulieren sowie als Verantworten und Werten. 158 Vgl. die schöne Formulierung von Royce: „By this meaning of my life-plan, by this possesion of an ideal, by this Intent always to remain another than my fellows despite my divinely planned unity with them, – by this, and not by the possesion of any Soul-Substance, I am defined and created a Self.“ (ROYCE, JOSIAH, The World and the Individual, Bd. 2, Second Series: Nature, Man, and Moral Order (1901), New York: Dover Publish. 1959, 276). 156 157
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Fällen kommt die unhintergehbare Differenz zwischen den Handelnden und ihren Handlungen zum Ausdruck.159 Auch sie ist stets bezogen auf eine Sache, von woher sie als ‚angemessen‘ oder ‚nicht angemessen‘ bewertet werden kann. Umgekehrt zeigt sich in dieser Spannung, dass der Kern des interpretierenden Verantwortens in dem liegt, was Niebuhr160 mit Royce unter ‚loyality‘ fasst: Loyalty shall mean (…) The willing and practical and thoroughgoing devotion of a person to a cause. A man is a loyal man when, first, he has some cause to which he is loyal; when, secondly, he willingly and thoroughly devotes himself to this cause; and when, thirdly, he expresses his devotion in some sustained and practical way, by acting steadily in the service of his course.161
Loyalität meint die Angemessenheit von Interpretationen mit Blick auf mich und andere Interpreten gegenüber einer Sache, einem Wirklichkeitsaspekt. In ihr kommt der ethische Anspruch zur Geltung, der das Interpretieren zu einem Verantworten macht. Wenn Verantwortung bedeutet, die soziale Reflexivität des Handelns als Interpretieren auf sich selbst einzuholen, ist Loyalität die Art und Weise, mit der eine Passgenauigkeit (Kongruenz) zwischen einem Selbst und seinem Handeln konstituiert wird, über alle Kontingenz hinweg und für andere prinzipiell nachvollziehbar. Dies erst macht einen selbst für Andere zuverlässig, vertrauenswürdig und zurechnungsfähig. Genau hierin liegt die ethische Pointe des Verantwortungsbegriffs. Sie erstreckt sich aber nicht nur auf das Feld individueller Moral. Sie ist nicht minder erforderlich, wenn das Gesagte stimmt, für die Konstitution von Gemeinschaften; geht es darin doch um die Verpflichtung, als zuverlässiger Interpret in ihnen mitzuwirken.162 Vor allem aber kann der Akt des Bezeugens, wie er im vorangegangenen Paragraphen für das Offenhalten der personalen Identität gegenüber ihrer geschichtlichen
Diese Differenz kennt auch Niebuhr, indem er die „radical action by which I am“ von „finite actions that constitute the particular elements of (…) personal existence“ (NIEBUHR, Responsbile Self [Anm. 146], 112) unterscheidet. 160 Niebuhr übernimmt die inhaltliche Bestimmung des Loyalitätsgedankens von Royce, weswegen jener hier zitiert wird. Zu Niebuhr selbst, vgl. Ders., Faith (Anm. 151), 48–50. 161 R OYCE, JOSIAH, The Philosophy of Loyalty (1908). With a New Introduction by John J. McDermott, Nashville/London: Vanderbildt Univ. Press 1995, 9. – In Verbindung mit dem ‚Will to Interpret‘ wird ‚Loyalty‘ in Problem dann so definiert: „And loyalty (..) is a positive devotion of the Self to its cause, – a devotion as vigorous, as self-asserting, as articulate, as strenuuous“ (ROYCE, Problem [Anm. 73], 356). 162 Royce formuliert deswegen das Prinzip „Loyalty to Loyalty“ als meta-ethische Maxime. Vgl. ROYCE, Loyalty (Anm. 161), 48–69. – Analog zu Kants kategorischem Imperativ geht es hier nicht um ein formalistisches Gehorsamsprinzip, sondern um eine Metaregel, wie sie sich aus der Struktur des Verantwortens ergibt. Vgl. dazu: FOUST, MATTHEW A., Loyalty to Loyalty: Josiah Royce and the Genuine Moral Life, New York: Fordham Univ. Press 2012. So kommt bei Royce analog zu Kant die zwingend ethische Auszeichnung von Freiheit als Verantwortung in den Blick. 159
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Rekonstruktion angeführt wurde (vgl. § 9.5), als Beispiel für das ‚verantwortliche Selbst‘ als ‚loyales‘ dienen. Selbstbezeugen heißt sich, unter kontingenten Umständen frei zur Kontinuität des eigenen geschichtlichen Lebensvollzugs affirmativ, d.h. loyal zu verhalten (bzw. verhalten zu können). Was aus Darstellungsgründen hier auf die elementare Interpretationssituation bezogen war, gilt prinzipiell auch für alle sozialen Kontexte bis hinauf zur umfassendsten Konstellation, die wir das Universum genannt haben. Das interpretierende Verantworten zielt nicht nur auf interpersonale Kontexte, es betrifft auch die weiteren Zusammenhänge in Natur und Geschichte und ihr Gelingen. Insofern zielt die Absichtlichkeit eines personalen Universums, sein ‚purpose‘, auf eine agapistische Konstellation, in der die Interpreten und andere Interaktanten miteinander in loyalen Verhältnissen stehen, die für sie alle wechselseitig gut bzw. werthaft sind und in denen sie sich entfalten können. Liebe wird dann als „das kreativ, lebendigmachende, evolutionäre Prinzip des Universums“163 begriffen. Es sind unweigerlich religiöse Konnotationen, die damit anklingen. Inwiefern in einem dergestalt personalen Universum unter den Bedingungen von Pluralität, Meliorität und Responsibilität auch Gottes Sein als sein Personsein verstanden werden kann, ist im abschließenden Abschnitt zu klären.
5. Gott als ‚verantwortliches Selbst‘: Über Gottes Personsein in einem ‚personalen Universum‘ 5. Gott als ‚verantwortliches Selbst‘ Die folgenden Überlegungen bemühen sich nunmehr, den Gedanken der Personalität Gottes in seiner Bedeutung aus seiner Verortung innerhalb des skizzierten Rahmens eines personalen Universums als (metaphysische) Konstellation zu entfalten. Sie stehen unter der Überschrift, von Gott als einem ‚verantwortlichen Selbst‘ sprechen zu können. Mit dieser Leitmetapher164 soll an das Spezifikum personalen Handelns – das interpretierende Verantworten – erinnert und dieses in den Mittelpunkt gestellt werden. Von Gottes Personsein zu reden bedeutet, Gottes Realität als verantwortungsvolle Wirksamkeit (Kreativität) zu
163 PEIRCE, C HARLES S., [Evolution, Liebe, Synechismus] (1892), in: Ders., Religionsphilosophische Schriften (Anm. 50), 194–202.474–476, 475. – Den Agapismus als drittes Moment seiner evolutionären Metaphysik entfaltet Peirce in umfassender Weise in: PEIRCE, CHARLES S., Evolutionäre Liebe (1893), in: Ders., Naturordnung (Anm. 74), 235–263. 164 Der Ausdruck der Leitmetapher (‚root metaphor‘) stammt von Stephen Pepper (vgl. PEPPER, STEPHEN C. World Hypotheses. A Study in Evidence, Berkley: University of California Press 1961). Er wird von Niebuhr unter Rekurs auf Ernst Cassirer in seinen Überlegungen zur konzeptionellen Bestimmtheit ethischer Theorien herangezogen und dann auch christologisch konturiert. Ursprünglich als Earl Lectures vorgetragen, sind sie dem The Responsible Self als Appendix A beigefügt: vgl. NIEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 151–160.
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begreifen, die sich welthaft entfaltet und darin sozial verwoben ist und sich zeitlich erstreckt. Zur besseren Entfaltung dieses Gedankens bedienen wir uns noch einmal der drei Momente des pluralistischen, melioristischen und personalen Universums, die wir als Bedingungen der Pluralität, der Meliorität und der Responsibilität für die Rede von Gott auszeichnen können. Allein aus darstellungstechnischen Gründen wird in sachliche Gesichtspunkte aufgegliedert, was eigentlich zusammenzudenken ist. Das gilt umso mehr als den drei Bedingungen die Perspektiven des Strukturellen, Religions- und Christentumstheoretischen zugeordnet werden. Strictissime gesehen hätte noch diese Anordnung von ‚hinten‘ nach ‚vorne‘, d.h. ‚rückwärts‘ zu erfolgen. Um der leichteren Darstellung willen werden jedoch die strukturelle und die religionstheoretische Perspektive aus der sie umgreifenden und sie dergestalt prägenden christentumstheoretischen Perspektive herausgeschält. Inhaltlich sind erstere durch letztere stets schon mitbestimmt.165 Die Kennzeichnung der drei Perspektiven als strukturell, religionstheoretisch und christentumstheoretisch meint somit keine Zuordnung zu bestimmten theologiegeschichtlichen Positionen, sondern verdankt sich der Auszeichnung ihres Gehalts: ‚strukturell‘ bedeutet mit Blick auf die Struktur der mit der Kategorie des ‚Universums‘ eingenommenen Konstellation; ‚religionstheoretisch‘ bedeutet mit Blick auf das Spezifikum religiöser Wirklichkeitserkenntnis; und ‚christentumstheoretisch‘ bedeutet mit Blick auf die geschichtliche Gestalt der christlichen Religionstradition. Durch die einzelnen Perspektivierungen wird die pneumatologische Grundperspektive hoffentlich noch deutlicher zur Geltung gebracht, in der wir weiter oben unsere handlungstheoretische Gotteslehre verortet haben.166 Deren Triftigkeit muss sich nunmehr in den einzelnen Abschnitten erweisen. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen: Von Gottes Personsein in einem personalen Universum zu reden, heißt immer auch von unserem Personsein in eben diesem Universum zu sprechen. Insofern hatte Royce Recht mit seiner heuristischen Maxime: „Therefore, to (…) ‚belief 165 Wir bedienen uns hier also einer Anordnungsweise, für die Friedrich Schleiermacher zu Recht Berühmtheit erlangt hat. Er selbst gibt darüber im Zweiten Sendschreiben an Lücke Auskunft, wo er darüber spricht, dass er eigentlich die der Erlösungslehre vorangestellten Teile seiner Glaubenslehre (also Schöpfungs- und Sündenlehre) gerne in diese integriert hätte – wofür auch alle sachlichen Gründe sprächen, er es aber um der besseren Darstellung willen und zur leichteren Entfaltung der Argumentation unterlassen habe. Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH D.E., Über seine Glaubenslehre, an Herrn Dr. Lücke, Zweites Sendschreiben, zitiert nach: Schleiermacher Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl Barth, hg. v. Heinz Bolli, Hamburg/München: Siebenstern 1968, 140–175, 140–144. 166 In eine ähnliche Richtung, ebenfalls am Modell der ‚Interaktion‘ orientiert und durch Niebuhr beeinflusst, zielten schon die Überlegungen von Konrad Raiser in: RAISER, KONRAD, Identität und Sozialität. George Herbert Meads Theorie der Interaktion und ihre Bedeutung für die theologische Anthropologie, München: Kaiser & Grünewald 1971, 189–201, bes. 199–201.
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in a personal God‘ will give little aid to the understanding of what sort of belief is in question, so long as the idea of what constitutes a person remains as obscure as it usually does.“167 5.1 Personalität Gottes unter der Bedingung von Pluralität (die strukturelle Perspektive) Die strukturelle Perspektive setzt zunächst am ‚Universum‘ als Konstellation unserer sozialen Religionsphilosophie an. In struktureller Hinsicht wurde damit begrifflich gefasst, was wir die Sozialität aller Realität genannt haben. Diese meint sowohl die Pluralität von Gliedern und Instanzen der Realität als auch die Pluralität an Perspektiven auf diese und alle anderen Aspekte von Realität. Das ist es, was das Universum zu einem pluralistischen Universum machte. Ein pluralistisches Universum stellt ein offenes und prozessurales Gefüge an Relationen dar, d.h. alle seine Glieder können auf unterschiedliche Weise miteinander in Verbindung stehen. Deswegen ist Pluralität ein Grundzug von Sozialität und zwar dergestalt, dass damit keine bestimmte Relation als in sich notwendig erscheint – d.h. es gibt eine Pluralität an Relationen, die zeitgleich oder in verschiedenen Phasen auftreten können, beides aber so, dass es immerhin bestimmte Relationen geben muss – denn das pluralistische Universum ist eben kein ‚Multiversum‘. Trotz aller Unabgeschlossenheit kennzeichnet die Realität somit, dass sie als soziale in einem mehr oder minder gefassten Zusammenhang steht. Sie ist als ‚synechistisches Universum‘ ein Prozesskontinuum. Will man in dieser Konstellation sinnvoll von Gott sprechen, und zwar unter Beachtung der in der religiösen Praxis beanspruchten Realität, setzt dies zweierlei voraus: In negativer Hinsicht kann Gott in dieser Konstellation nicht als das Absolute, d.h. als diese Konstellation selbst, betrachtet werden. Wäre es anders und würde er als die alles inkludierende Realität begriffen werden, würde die Pluralität des Universums mit seinen Gliedern im letzten eingezogen werden. Die Folge wäre, Gott letztlich als differenzlosen Einheitspunkt begreifen zu müssen. Zu jedem personalen Theismus gehört daher die Abgrenzung gegenüber monistischen Vorstellungen des Göttlichen. Einfacher gesagt: Die Personalität Gottes setzt ein nicht differenzloses Gottesverständnis voraus, sie ist manifest anti-monistisch. In positiver Hinsicht gehört es nun dazu, Gott selbst als ‚Teil‘ bzw. ‚Glied‘ innerhalb der Konstellation des Universums zu begreifen, der mit anderen Gliedern in Relation stehen kann. Er ist eben nicht das Absolute (…), sondern selbst nur ein[] Teil des Universums (…), so kann seine Tätigkeit nicht völlig unähnlich derjenigen der anderen kleineren Teile des Universums angenommen werden – folglich auch nicht unserer eigenen menschlichen Tätigkeit.168
167 R OYCE, JOSIAH, Monotheism (1915), in: Ders., Basic Writings, Bd. I (Anm. 64), 403– 417, 407. 168 JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 206.
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Diese Tätigkeit kann auf verschiedene Weise gefasst werden. Jedenfalls aber ist eine Pluralität an Relationen auch hier anzunehmen. Wo auch immer aber eine Verbindung hergestellt wird, besteht die Möglichkeit wechselseitiger Interaktion. Das wiederum setzt in mindestens einer Hinsicht eine strukturelle Parallele oder ein analoges Interagieren zwischen Gott und den jeweiligen Gliedern voraus. Anders kämen die wechselseitige Interaktion und damit auch die dadurch zum Ausdruck gebrachte Relation nicht zustande. Handlungstheoretisch basiert das auf dem Verständnis: „All life has the character of responsiveness“169. Im Gebet als paradigmatischem rituellen Ausdruckshandeln des Glaubens an einen personalen Gott wird diese Konstellation in ebenso exemplarischer wie verdichteter Form in Anschlag gebracht und so Gottes Realität in Anspruch genommen. Insofern legt die strukturelle Perspektive jene Implikationen frei, die den Gebetsakt sinnvoll formen. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein personales Universum im Modell einer umfassenden Gemeinschaft verstehen. Eine ‚community of selves‘ zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Glieder (‚selves‘) so miteinander in Beziehung stehen, dass sie auf etwas gemeinsames, eine Sache oder Lage, bezogen sind. Ihre Sozialität besteht folglich nicht in einer Art losen Verbindung, für die erst noch klargemacht werden müsste, wie die jeweils unabhängig voneinander bestehenden Glieder überhaupt zu einem Verständnis füreinander kommen könnten.170 Dies ist im Prinzip immer schon dadurch mit (auf)gegeben, dass sie sich stets mit Blick auf etwas Drittes, auf eine Perspektive, in ein aktives Verhältnis zueinander setzen. Jede Gemeinschaft hat ihren Grund (‚cause‘), der sich nicht in ihren Gliedern erschöpft, sondern diese transzendiert: „[T]he cause transcends any community of selves. No matter how large the We-group of the loyal grows that which unites them in loyalty is always something beyond the community for the sake of which they are united in community.“171 Dies gilt auch noch für das Verstehen derjenigen Situationen, die für die Rede von der Personalität Gottes besonders einschlägig sind. Um den Punkt erneut am Beispiel des Betens zu veranschaulichen: Die individuelle oder kollektive Gebetsgemeinschaft ist als aus Gott und Mensch bzw. Menschen bestehend zu begreifen, und zwar stets unter Rekurs auf eine spezifische Situation, sei es diejenige des eigenen Lebens; sei es diejenige der Lage der Welt; sei es
169 N IEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 46. – Das ist die Grundlage für wechselseitige Interaktionen, ohne deswegen schon die spezifisch personale Form des interpretierenden Verantwortens annehmen zu müssen. 170 Personalität lässt sich nicht hinreichend aus der dialogischen Relation von ‚Ich‘ und ‚Du‘ verstehen. Die Positionen des dialogischen Personalismus unterschätzen häufig genug den Faktor, dass es zur wechselseitigen Anerkennung beider Glieder (als Personen) nur durch Rekurs auf ein Drittes, ein Medium oder einen gemeinsamen Bezugspunkt, kommen kann. 171 N IEBUHR, Faith (Anm. 151), 60.
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diejenige des Willens (bzw. Reiches) Gottes (vgl. Mt 6,33). Metaphorisch gesprochen könnte man von einem gemeinsamen ‚In-die-Welt-Verstricktsein‘ Gottes und der Menschen reden; aber freilich so, dass dabei die Distinktheit der Glieder, d.h. die Differenz der Position(en) und Perspektive(n) von Gott und Mensch gewahrt bleibt. Andernfalls stünde wiederum die Pluralität der Sichtweisen zur Disposition. Personen aber kann es ohnehin nur im Plural geben.172 Damit ist der Ort angezeigt, von dem aus die notwendige Unterscheidung von Gott und Mensch bzw. von Gott und Welt getroffen werden kann. Sie kann nicht darin bestehen, Gott als etwas zu bezeichnen, das primär außerhalb oder jenseits dieser Konstellation steht. Sie kann auch nicht dadurch erfolgen, dass Gott als der radikal Ganz-Andere gegenüber dem Menschen und der Welt gilt. Denn auf diese Weise wäre keine wechselseitige Interaktion mehr möglich.173 Diese aber kennzeichnet eine Gemeinschaft aus Interaktanten. Möglich ist somit nur eine nähere Qualifizierung der jeweiligen Reichweite und Intensität, mit der die Glieder an der Gemeinschaft (jeweils) aktiv partizipieren. Sieht man genauer hin, so zeigt sich: Diese formale Bestimmung stellt die funktionale Entsprechung zur ausformulierten Lehre von den göttlichen Eigenschaften dar. Denn dort wird – zumeist in Form des Superlativs – von Gottes Handeln ausgesagt, was in abgeschwächter Form menschenmöglich ist.174 Nicht so sehr die
172 Das gilt auch für Gott. Diese Einsicht kann gerade als Motor der Ausdifferenzierung hin zu einem trinitarischen Gottesgedanken verstanden werden. Allerdings setzt eine sinnvolle Rede von der Personalität Gottes nicht zwingend deren Fundierung in einer immanenten Trinitätslehre voraus. Der Weg, der hier beschritten wird, gelangt alternativ über die geschichtstheologische Entfaltung des Gedankens eines personalen Gottes zur trinitarischen Rekonstruktion des Gottesgedankens. 173 Noch einmal sei betont: ‚Wechselseitig‘ bedeutet keine Symmetrie weder der Glieder einer Interaktion noch von deren Qualität. Es kann also wechselseitige Relationsgefüge geben, die konstitutive Asymmetrien vorweisen. Hierunter zählt die klassisch-dogmatische Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf bzw. Schöpfung, wie sie für monotheistische Religionen konstitutiv ist. 174 Dies hatte bekanntlich schon Feuerbach gesehen, als er feststellte: „Das göttliche Wesen ist nichts andres als (…) das Wesen des Menschen, gereinigt, befreit von den Schranken des individuellen Menschen“ (FEUERBACH, LUDWIG, Das Wesen des Christentums [1841], Werke in 6 Bänden, Bd. 5, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 32). Man kann dem sogar zustimmen, ohne damit auch den Projektionsvorwurf, der dem Anthropomorphismus angeblich inhäriert, zu übernehmen. Letzterer folgt keineswegs zwingend aus der genannten Beobachtung. – Eine andere Lesart würde darauf zielen, dass „alle Attribute, die einem Gott vom Menschen zugeschrieben werden, durch eine Übersteigerung guter menschlicher Eigenschaften zustande kommen. Es sind Eigenschaften, in denen der Mensch seine eigene Grenze erkennt (…) Der dominierende Effekt dieser Selbstverkleinerung ist die Selbststeigerung des Menschen allein dadurch, dass er sich glauben macht, vom Höchsten wahrgenommen zu werden.“ (GERHARDT, Sinn des Sinns [Anm. 55], 219). Gerhardt ist kein Anhänger der Projektionstheorie. Die „»Anthropomorphie« des Göttlichen“ (a.a.O., 315) ist schlicht die religiöse Fassung der generellen Tatsache, dass „der Mensch sich die Dinge und Verhältnisse nach
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Probleme und Aporien konkreter Eigenschaften (wie z.B. der Allmacht, der Allwissenheit) sind hier von Belang, sondern ihre Rückführung auf den religiösen Kontext, dem sie – so überhaupt – entspringen. In struktureller Hinsicht lässt sich dieser Kontext als ein wechselseitiger Interaktionszusammenhang interpretieren, indem Gott und Mensch als in einer gemeinsamen Situation befindliche, agierende und reagierende Glieder vorgestellt werden, die diese Situation mit qualifizieren und sich so zugleich wechselseitig fortbestimmen. Das heißt: Sie bauen ihre Distinktheit über Differenzen aneinander und gegenüber der Welt auf sowie im Hinblick auf die unterschiedlichen Reichweiten ihrer Interaktionsmöglichkeiten. Nimmt man das Ernst, so wird verständlich, warum in James’ Fassung eines pluralistischen Universums, selbst Gott ein ‚endlicher‘ sein muss.175 Damit wird nicht seine Superiorität und Singularität in Frage gestellt; noch ist damit die absurde Behauptung gemeint, Gott könne als solcher sterben.176 Es geht vielmehr darum, dass in einem personalen Universum alle seine personalen Glieder ‚distinkte Selbste‘ und in diesem Sinne als ‚endlich‘ gedacht werden müssen. Dadurch wird aber nicht verunmöglicht, die qualitative Differenz zwischen Gott und Mensch bzw. den anderen nicht-menschlichen Gliedern in diesem Universum über den Gedanken der Sterblichkeit – und in diesem Sinne: über zeitliche Endlichkeit und perspektivische Individualität – näher zu bestimmen. Umgekehrt kann so auch an der Singularität Gottes festgehalten werden. Diese besagt, dass er als einziges Glied in diesem Universum hinsichtlich seiner Interaktionen und damit seiner zeitlichen Kontinuität alle anderen Glieder übertrifft.177 Seine ‚Endlichkeit‘ besteht lediglich, das aber zwingend, darin, nicht
seinem Selbstverständnis zurechtlegen muss, um sie überhaupt zu verstehen“ (a.a.O., 220). Das ist im Grunde auch Cassirers Position. 175 Vgl. JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 201f. – James leugnet damit nicht die prinzipielle Überlegenheit Gottes als ‚kosmisches Bewusstsein‘ (vgl. JAMES, Vielfalt [Anm. 112], 493–496.500–503), von der er an anderer Stelle in den Varieties spricht. 176 So aber in Verkennung der Bedeutung des englischen Worts ‚finite‘: H AMPE, M ICHAEL (zusammen mit KRÄMER, FELICITAS), Befreiende Erfahrungen. Religion bei William James, in: Ders., Erkenntnis und Praxis (Anm. 96), 254–291, 290. – Mit dem ‚finite God‘ ist bei James vielmehr die Tatsache gemeint, dass auch Gottes Realität im Werden ist und sich stets durch Neues prozesshaft weiter bestimmt. Das setzt Geschichte, Aktivität und eben einen sozialen Kontext voraus. Dazu siehe das vollständige Zitat in Anm. 179 dieses Paragraphens. – Zu diesem Verständnis von James’ finitem Theismus siehe meine Ausführungen in: POLKE, CHRISTIAN, Expressive Theism: Personalism, Pragmatism, and Religion, in: Hans Joas/Hermann Deuser/Magnus Schlette, The Varieties of Transcendence: Pragmatism and the Philosophy of Religion, Fordham Univ. PressUniv. Press: New York 2015, 54–72. 177 Wollte man das dogmatisch weiter entfalten, wäre hierzu der Ort die Lehre vom erhaltenden Handeln Gottes. Dieses wäre als aktives Erhalten der Sozialität des Universums in all seinen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu verstehen. Analog zu Schleiermacher lässt sich
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einfach ‚alles in allem‘178 zu sein, sondern stets in einer Umwelt von anderen Gliedern zu stehen: Da er von weiteren Zusammenhängen umgeben ist, in der Zeit existiert und gleich uns am Werke der Geschichte arbeitet, so steht er dem Menschlichen nicht fern, wie es bei dem geschichtslosen vollkommenen und zeitlosen Absoluten der Fall ist.179
5.2 Personalität Gottes unter der Bedingung von Meliorität (die religionstheoretische Perspektive) Damit sind wir bereits zur zweiten Perspektive auf die Personalität Gottes in einem personalen Universum übergegangen. Ist es doch die Geschichte, die als zeitlicher Prozess die Bedingung für die Entfaltung konkreter Personalität und die als rekonstruierte das Medium von personaler Identität als zeitliche Kontituität darstellt. Als zeitliches Kontinuum kann Geschichte dabei weder als spannungsfrei noch retardierend begriffen werden. Ihre Konturen verdankt sie vielmehr dem grundlegenden Aspekt der Kontingenz. Er steht dabei wesentlich für die Möglichkeit des Neuen, ohne die sich weder Freiheit als Kreativität identifizieren noch denken lässt. Darauf verwies die Rede vom ‚tychistischen Universum‘. Noch vor jeder religiösen Konnotation eines personalen Universums, etwa durch das Hinzudenken eines personalen Gottes, ist dieses wesentlich durch eine wertende Qualifizierung von Kontingenz und ihrer kreativen Gestaltung geprägt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Sinn bilden und prägnant formen lässt. Weil es in der Religion als symbolischer Form um das Bewussthalten dieser prinzipiellen Sinnstruktur des Menschseins geht, soll diese unter der Bedingung der Meliorität gefasste Perspektive der Personalität Gottes eine religionstheoretische genannt werden. Dabei zielt sie zwar schon durch ihren geschichtstheologischen Fokus auf die christentumstheoretische Explikation, aber sie bemüht sich doch darüber hinaus, ihre Ausführungen für einen weiteren Rahmen von Religion offen zu halten. Wenn James oben davon sprach, dass Gott „am Werk der Geschichte arbeitet“180, dann bringt er in seinen Worten einerseits diesen allgemeineren religiösen Kontext des Gottesgedankens zum Ausdruck, weil dieser stets im Sinne des melioristischen Universums soteriologisch aufgeladen ist, und kann doch andererseits nicht verbergen, wie durch die Erhaltungslehre die Singularität Gottes gegenüber allen einzelnen welthaften Gliedern wahren, nunmehr allerdings nicht im Rahmen der Schöpfungslehre, sondern im Rahmen der als creatio continua er- und gefassten Geschichte. 178 1 Kor 15,28 ist darum präzise als eschatologische Grenzbestimmung zu lesen. Es wird mithin keine Aussage über die Wirklichkeit Gottes in dieser Welt unter den Bedingungen der Geschichte getroffen. Auch darüber hinaus bleibt fraglich, ob die paulinische Bestimmung im Sinne eines neuzeitlichen eschatologischen Pantheismus (Monismus) hinreichend verstanden werden kann. 179 JAMES, Das pluralistische Universum (Anm. 40), 206. 180 Siehe erneut das vollständige Zitat von Anm. 179.
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stark noch bei ihm jene im Rahmen der Geschichte entfaltete Gotteslehre durchschlägt, die im biblischen Schrifttum bekanntlich bis zurück zur Schöpfung reicht. Mit anderen Worten: Es geht um den Zusammenhang zwischen einem soteriologisch gefassten Verständnis von Religion, einer theologischen Rekonstruktion von Zeit als Geschichte und der Explikation des personalen Gottesgedankens.181 Meliorismus, so hatten wir gesagt, ist die generelle These, wonach der Prozess der Wirklichkeit zu Besserem hin – formal als Erlösung gefasst182 – möglich, aber nicht notwendig ist. Diese Ansicht hat eine Reihe von Implikationen, die die Bedeutung von Zeit als Geschichte und der Rolle, die dabei Interpretation als deren kreativer Rekonstruktion spielt, erhellen kann. Wenn gilt, die Wende zum Guten steht nicht ein für alle Mal fest183, so unterliegt ihre Realisierung dem Prozess der Zeit. Meliorismus setzt ein emphatisches Verständnis von Geschichte voraus, denn nur so lässt sich die graduelle, sprunghafte oder wie auch immer zu beschreibende Wende zum Besseren denken. Näherhin sind diese geschichtlichen Prozesse als kontingente zu bezeichnen, da Kontingenz das Signum jener Form von Realität ist, die nicht statisch oder zyklisch fixiert werden, sondern nur dynamisch sich entfalten kann. Deswegen kamen wir über die Analyse des Kontingenzbegriffs zur These vom melioristischen Universum. Auf der anderen Seite bringt die These, wonach die Wende zum Besseren nicht notwendig, sehr wohl aber möglich ist, die Frage mit sich, unter welchen Bedingungen eine solche Option eintreten kann. Denn der Meliorismus kommt stets schon von der Einsicht her, dass die Geschichte vom Negativen mit durchdrungen ist und dass mit dem Fortdauern von dessen Phänomenen weiterhin gerechnet werden muss. Aber auch dann gilt: Die Bedingungen für die Wende zum Besseren können selbst nicht an und für sich feststehen, sondern ihre Realisierung ist ebenfalls als kontingent zu charakterisieren. Andernfalls gäbe es Einige Überlegungen zur systematischen Verbindung von formaler Geschichstheologie und personalem Theismus habe ich vorgetragen in: POLKE, CHRISTIAN, Mit dem Rücken zur Wand? Von Schwierigkeiten und der Unausweichlichkeit personaler Rede von Gott im Horizont der Geschichte, in: Michael Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte und Gott, XV. Europäischer Kongress für Theologie, (VWGTh), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, 780– 798. 182 ‚Erlösung‘ ist an dieser Stelle noch nicht christlich gefasst, sondern dient als eine Art Platzhalterbegriff für eine prinzipielle Werdeoption des Universums. Aus diesem Grund spreche ich variierend von ‚Erlösung‘, der ‚Wende zum Guten‘ oder der ‚Wendung zum Besseren‘. 183 ‚Melioristisch‘ ist eine Ansicht, wonach sich aus kontextsensiblen Differenzsetzungen von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ motivierende Ausrichtungen (Tendenzen) zum ‚Besseren‘ ergeben. Sie grenzt sich damit sowohl von optimistischer Erlösungsgewissheit (im Sinne von securitas) als auch von pesssimistischem Grundpathos ab. Beiden mangelt es an Kontingenzsensibilität. – Gegenüber der Fortschrittskategorie hat die Rede vom Meliorismus den Vorzug, sich als adverbial-wertende Perspektive deutlicher von vorschnellen Geschichtsteleologien oder Essentialismen abgrenzen zu können. 181
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keine Möglichkeit der Entwicklung oder auch nur der Entstehung von Neuem. Die Wende zum Besseren verdankt sich somit kreativen Prozessen, die nicht aus dem jeweils Vorangegegangenen restlos abgeleitet werden können. Darin sind sie spontan und können – in bestimmten Fällen – auch durch Eigeninitative in Gang gebracht werden. An diesem letzten Punkt setzt die Realität personaler Instanzen als wertender Interpreten an. Ist doch mit der Einsicht in die Kontingenzhaftigkeit aller Realität zugleich die Möglichkeit ihrer kreativen Gestaltung durch Bewertung und Selektivität gegeben.184 Geschichte als kontinuierlicher Prozess kreativer bzw. spontaner Kontingenzgestaltung erhält selbst eine werthafte Struktur, wenn sie als solche interpretierend rekonstruiert und gestaltet wird. Diese Option ist aber im Meliorismus immer schon impliziert, da nur so sinnvoll von der Wende zum Guten als einer Wende zum Besseren gesprochen werden kann. So fragil und instabil sie im historischen Einzelnen und Allgemeinen auch bleiben mag und muss, so sehr ist dabei immer mit einem zeitlichen Kontinuum zu rechnen, das den Hintergrund für die wertende Einschätzung zum oder gegen das Gute bzw. Bessere bildet.185 Setzt der Meliorismus somit ein Verständnis von Geschichte als zeitliches, durchaus irrevozibles Prozessgeschehen voraus, so muss sich damit keineswegs der Glaube an einen – gar personalen – Gott verbinden. Ohnehin kann es nicht die Aufgabe sein, einen Gottesgedanken fernab der gelebten, religiösen Praxis zu konstruieren. Wenn Religion jedoch, gemäß der Einsicht ihrer Entstehung aus dem Geist des Rituals, auf der emphatisch wahrgenommenen, symbolischen Bearbeitung von Kontingenz beruht, dann lässt sie sich als eine symbolische Form begreifen, die selbst das melioristische Universum zu fassen vermag, auf das sie konstruktiv zu reagieren bemüht ist. Diese Konstellation wirkt sich auf den in religiösen Praktiken zum Ausdruck gebrachten Gottesglauben aus. In formaler Hinsicht lässt er sich als symbolische Konstruktion der für die melioristische Weltsicht grundlegenden Spannung von Mächtigkeit (power) und Güte (value) beschreiben, der beide Momente kombiniert:
184 Dieser Aspekt wurde unter § 10.3.3 als ‚purpose‘, d.h. als situativ geprägte Ausbildung von vager Absichtlichkeit begriffen. 185 Meliorismus setzt demnach ein formales Verständnis von Entwicklung voraus, das aber nicht strikt teleologisch gefasst sein muss. Dies kann ganz analog zu ‚purpose‘ verstanden werden, dem ebenfalls eine teleologische Tendenz innewohnt, die sich allmählich, nämlich geschichtlich konkretisiert. – Ernst Troeltsch hat für eine kontingenzsensible, im Übrigen auch die Destruktivitäten stets im Auge behaltende, Einbeziehung des Entwicklungsbegriffs in die christliche Soteriologie optiert und diese freiheitstheoretisch skizziert: Vgl. TROELTSCH, Glaubenslehre (Anm. 99), 332–334. Deren Spitzensätze lauten von daher: „Es ist also dann eine Entwicklung, die nur durch Bruch und Erhebung hindurchgehen kann, weil sie in Kampf und in der Tat der Freiheit als Durchbrechung (…) ihren eigentlichen Sinn hat (…) Sünde und Erlösung sind somit nicht Aufhebungen, sondern E r f ü l l u n g e n d e s z u g r u n d e g e l e g t e n E n t w i c k l u n g s b e g r i f f s “ (a.a.O., 333).
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Whatever else deity may be in philosophical definition or practical worship it must be value. The word God is a value term like friend. Each of these symbols represents a combination of value and being. We would not use the word god at all if all we meant were designated by the word good, but neither would we use it if we meant only power. To say that God and faith belong together is to maintain that no power could be apprehended as God save as its value were made manifest. Now the goodness we expect of deity is both intrinsic and instrumental. The gods of human devotion are in part beings who are adored for their own sakes and in part to whom appeal is made for the protection and nurture of other intrinsic goods (…) If deity is one it needs to combine with power an admirable and a ministering goodness.186
Ein so rekonstruierter formaler Gottesgedanke, wie er religiösen Kontexten entspringt und sich historisch konkretisiert, steht selbst unter melioristischen Vorzeichen. Denn sowohl das Moment der ‚Mächtigkeit‘ als auch dasjenige der ‚Güte‘ oder ‚Werthaftigkeit‘ fungiert als relationale Größe in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch(en).187 Noch eine Kritik oder gar eine Umwertung aller Wertigkeiten basiert darauf, dass sie von beiden Seiten ausgestaltet werden muss.188 Die Sozialität des Universums, nach der in mindestens einer Hinsicht Gott und Menschen etwas gemein haben müssen, wird hier als der gemeinsame Auftrag zur Durchsetzung des Besseren in der Wertung der Realität und ihrer Wendung zum Guten hin verstanden. Darin kommt ein eminent ethischer Zug zum Tragen, der im nächsten Abschnitt noch etwas stärker konturiert werden soll. Aber der Übergang zu einer strikt personalen Auffassung von Gott und nicht nur einzelner göttlicher Wesen189 ist damit noch nicht abschließend erreicht. Er NIEBUHR, H. RICHARD, The Meaning of Revelation (1941). Introduction by Douglas F. Ottati, Louisville (KT): Westminster John Knox Press 2006, 98. – Nach Niebuhr hat jede Gotteslehre das spannungsvolle Verhältnis von Mächtigkeit (power) und Güte (value) auszuformulieren. Es wäre lohnend diese theologische Position mit derjenigen Paul Tillichs zu vergleichen, die das Grundmotiv ihrer Gotteslehre ebenfalls aus einer grundlegenden Spannung, nämlich der von ‚Sein‘ (being) und ‚Sinn‘ (meaning), gewinnt. 187 Auch Luthers existentiell gestimmte Explikation des Gottesgedankens in seiner Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus liegt auf dieser Fluchtlinie. Vgl. LUTHER, MARTIN, Der Große Katechismus (1529), in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburger Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 111992, 543–733, 560–572. 188 Deshalb gilt noch für jeden radikalen Monotheismus, der sich als Haltung gegen alle allzu menschlichen Verzweckungen Gottes richtet: Selbst hier darf der Bezug auf die menschliche Perspektive nicht einfach negiert werden. Anschaulich gesagt: „Nothing in man’s natural prayer is denied by t[his] radical faith; every part of it is reoriented and reorganized“ (NIEBUHR, H. RICHARD, Radical Monotheism and Western Culture. With Supplementary Essays [1960]. Foreword by James M. Gustafson, Louisville: Westminster John Knox Press 1993, 54). 189 Obwohl in dieser Arbeit die Personalität Gottes unter monotheistischen Vorzeichen stillschweigend im Hintergrund steht, dürfte es eher als Vorzug dieser graduellen Annäherung an die Figur des personalen Gottes gelten, dass sie keines radikalen Bruchs gegenüber nicht-monotheistischen Vorstellungen eines personalen Göttlichen bedarf. Die kulturellen 186
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setzt das Beschriebene voraus, bedarf aber einer stärker integrativen Sicht Gottes im Horizont der Geschichte. Wird jene als der umfassende zeitliche Prozess aller Realität begriffen, dann ist Gott innerhalb und mit Bezug auf diesen gesamten Kontext zu denken. Als wertend Handelnder steht er darin in Beziehung zu allen anderen Interaktanten, mit denen es möglich sein kann, eine wertende Sicht auf die Welt zu teilen und sie dementsprechend kreativ zu gestalten. Es ist diese geschichtstheologische Prämisse, die dem Glauben an den personalen Gott inhäriert. Mit anderen Worten: das ‚Absolute‘ kann nicht zeitlos gedacht werden. Es hat seine Geschichte, bestimmt sich darüber und bildet darin seine Absichten aus: Geht man (…) mit der prophetisch-christlichen Ideenwelt von der nie begrifflich erschöpfbaren, schaffenden Lebendigkeit des göttlichen Willens aus (…), dann schwindet freilich jede Möglichkeit einer Konstruktion des Gesamtgeschehens der Welt und unserer demgegenüber winzigen planetarischen Geschichte, aber wir gewinnen die Lebendigkeit, aus der heraus mit der inneren Beweglichkeit und Wandlung Gottes selber auch die Wandlung und Beweglichkeit der Wahrheit und des Ideals verständlich wird zusammen mit einer trotzdem verbleibenden Einstellung auf eine letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott weiß, wenn man sein Wissen Wissen nennen darf.190
Die jeweilige historische Rekonstruktion der Wahrheit und des Idealen ist diejenige Perspektive, aus der heraus das melioristische Universum als ein solches religiös gefasst wird. Geschichtstheologisch ist sie deswegen zu nennen, weil sie mit einem Handeln Gottes ‚in‘, ‚mit‘ und ‚unter‘ dem je eigenen Handeln in
Leistungen der ‚mosaischen Unterscheidung‘ (J. Assmann) erschöpfen sich keineswegs in der Entstehung der Idee göttlicher Personalität. – Umgekehrt gilt, was im Fortgang meiner Argumentation in diesem Kapitel noch erhärtet wird, dass der Glutkern des biblischen Monotheismus in dem begründet liegt, was Jan Assmann den „Monotheismus der Treue“ nennt. Von ihm gilt: „Es sind die Ideen des Bundes, der Treue, der Befreiung und Verheißung, die das Wesen (…) der biblischen Religion ausmachen und sich im Judentum wie im (vor allem protestantischen) Christentum bis heute ausprägen. Der partikulare Monotheismus der Treue und der universale Monotheismus der Wahrheit existieren in dem komplexen, vielstimmigen Kanon der biblischen Schriften nebeneinander, wobei der Monotheismus der Treue den Cantus firmus bildet“ (ASSMANN, JAN, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München: Beck 2015, 112f). Und es sind genau jene Momente des „Monotheismus der Treue“, die man mit ‚Bund‘, ‚Treue‘ und ‚Befreiung‘ verbindet, die den Glutkern auch der Vorstellung von der Personalität Gottes ausmachen. Vgl. dazu die Ausführungen in § 10.5.3. 190 TROELTSCH, Historismus, (Anm. 79), 377. Troeltsch richtet sich hier gegen jede absolute Geschichtslogik im Sinne Hegels und gegen jede transzendentaltheoretische Fassung von Geschichte, die allesamt eine monistische, d.h. a-historische Struktur aufweisen (vgl. a.a.O., 376). Demgegenüber gilt es am offenen, ‚purpose‘-bildenden Geschichtsprozess unter melioristischen Bedingungen festzuhalten. – Die Rede von den ‚Wandlungen Gottes‘ stammt von Ernst Barlach.
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der (gesamten) Geschichte rechnet.191 Das geschieht nicht in Form einer neutralen Feststellung über die Eigenart zeitlicher Abläufe und Ereignisse, sondern vollzieht sich jeweils im Kontext praktischer Handlungsanforderungen. In diesem Sinne wird die Rede von einem personalen Gott stets unter dem fragilen Versuch konkreter Interpretation von Geschichte einschlägig, zu der es gehört, dass sie eben nicht einfach an der jeweiligen Situation ablesbar ist192, sondern sich nur in Form einer spezifischen Bewertung im Vollzug bemerkbar macht. Sie ist das Resultat einer religiösen Geschichtsinterpretation unter melioristischem Vorzeichen. Noch einmal mit Troeltsch: Die Bildung der Maßstäbe (…) ist also Sache des Glaubens in dem tiefen und vollen Sinne des Wortes: die Betrachtung eines aus dem Leben herausgebildeten Gehaltes als Ausdruck und Offenbarung des göttlichen Lebensgrundes und der inneren Bewegung dieses Grundes auf einen uns unbekannten Gesamtsinn der Welt hin, die Ergreifung des aus der jeweiligen Lage erwachsenden Kulturideals als eines Repräsentanten des unerkennbaren Absoluten.193
In einem personalen Universum sind somit alle personalen Glieder in ihrer Identität als Personen durch ihre geschichtliche Kontinuität bestimmt, die sie im Rahmen des kontingenten Zeitprozesses kreativ (mit)gestalten können. Der Umfang, die Qualität und die Reichweite dieser Selbstgestaltung sind variabel und erfordern für Gott und Mensch unterschiedliche Qualifizierungen.194 Als
191 Vgl. zu dieser neuzeitgemäßen Rekonstruktion der geschichtstheologischen Struktur des christlichen Glaubens im Anschluss an Troeltsch: RENDTORFF, TRUTZ, Geschichte durch Geschichte überwinden. Beobachtungen zur methodischen Struktur des Historismus, in: Friedrich W. Graf (Hg.), »Geschichte durch Geschichte überwinden«. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien. Neue Folge 1), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 285–325, v.a. 313–320. 192 Plastisch ausgedrückt: Geschichtstheologie handelt von der ‚Gottmenschlichkeit‘, nicht von der ‚Gottmenschheit‘ der (Religions-)Geschichte. Vgl. dazu: TROELTSCH, ERNST, Die Selbstständigkeit der Religion (1895/6), in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1 (= KGA 1), hg. v. Christian Albrecht, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 364–535, 470–472 u.ö. – Auch diese Formel wendet sich explizit gegen Hegels Fassung der Geschichte als Vollzug der Selbstexplikation des Absoluten und ist somit als Verteidigung kontingenter Geschichtsrekonstruktion zu werten, vgl. a.a.O., 471. 193 TROELTSCH, Historismus, (Anm. 79), 368f. – Was Troeltsch unter ‚Maßstab‘ und ‚Kulturideal‘ versteht, wird in meiner Rekonstruktion unter dem Begriff des ‚purpose‘ verhandelt. Man beachte zudem, dass Troeltsch in dem Zitat den ‚Gesamtsinn‘ als einen nicht fixierten, sondern im Werden begriffenen versteht, an dem es konstruktiv mitzuarbeiten gilt. 194 Materialdogmatisch fortgeführt zielt die These vom melioristischen Universum zunächst auf die Explikation von Gottes permanent schöpferischem Handeln. Dieses steht permanent unter der Bedingung kreativen Neuschaffens, nicht erst und ausschließlich mit Blick auf das konkrete Werk der Erlösung, sondern anhebend mit der Schöpfung in allen Phasen und an allen Orten der Geschichte, d.h. in kosmischer Hinsicht, aber auch in der individuellen Biographie und der kollektiven Geschichte.
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kreative Instanz steht der Mensch nicht nur unter der Bedingung seiner Sterblichkeit, er ist darüber hinaus mit einer prinzipiellen Fehlbarkeit belastet, die ihn und andere an seiner Güte zweifeln lässt. Doch bezeugt selbst noch das kontrafaktische Bewusstsein, dass keine Handlung hätte so geschehen müssen, wie sie erfolgt ist, die prinzipiell melioristische Struktur des Universums. Anders gesagt oder christlich gesprochen: Noch in der Negativität von Sünde und Schuld macht sich jener Aspekt kund, der Gott und Menschen als ‚kreative Selbste‘, d.h. Handlungsinstanzen, verbindet: Freiheit.195 Eine religiöse Einstellung, die auf die Personalität von Gott und Mensch zielt, rechnet dabei mit Verantwortung: „Responsibilty affirms: “God is acting in all actions upon you. So respond to all actions upon you as to respond to his action.”“196 5.3 Personalität Gottes unter der Bedingung von Responsibilität (die christentumstheoretische Perspektive) Damit ist es nun möglich, die bislang getrennt betrachteten Perspektiven der Sozialität und Temporalität des Universums einzuholen in den vollen Begriff eines personalen Universums unter der Bedingung der Responsibilität. Hieran wird unser Verständnis der Personalität Gottes hoffentlich hinreichend fassbar. Gott als ‚verantwortliches Selbst‘ ist der symbolische Ausdruck für das, was ich in dieser Arbeit als ‚expressiven Theismus‘ verstehe. Die Eigenart von (personalen) Interpreten als Handelnde wurde weiter oben durch das Stichwort des interpretierenden Verantwortens gekennzeichnet. Mit ihm sollte auf die reflexive Struktur des Interpretationsprozesses rekurriert werden, die das Spezifikum personalen Identitätsvollzugs ausmacht. Das kann man sich daran klarmachen, dass dieses Interpretieren als verantwortliches zugleich ein verantwortetes ist. Beides – der allgemeine und der spezielle, d.h. personale Interpretationsvollzug – setzt Gemeinschaft voraus und bedarf der Zeit. Als verantwortetes Interpretieren ist ihm eine Reflexivität zu eigen, die darin besteht, dass es sich vor jeweils Anderem und Anderen mit Blick auf ein gemeinsames Drittes zu sich selbst verhalten kann. An anderer Stelle in dieser Arbeit haben wir dies als Modus des Zeugens bzw. Bezeugens beschrieben. Darin kommt Verantwortung strukturell zum Ausdruck. Denn im Zeugnis steht jemand für etwas vor jemand anderem so ein, dass er sich selbst darin bindet, d.h. sowohl für sich als auch für andere transparent wird (oder nicht). Anders als der Beweis ist das Zeugnis ein Vorgang, der sich nicht abtrennen lässt vom Faktor der Kontingenz und des persönlichen Einsatzes. Aufgrund seiner Treue zu dem im Zeugnis Bezeugten wird der Zeuge glaubwürdig, im Verrat an selbigem setzt er sich dem Risiko des Misstrauens aus. In beiden Fällen handelt es sich um den Vollzug Vgl. zu dieser gleichsam positiven Qualifizierung des Sündentheorems sub contrario: DIERKEN, JÖRG, Negativität im Selbstverhältnis. Warum Sünde gut ist, in: Ders., Ganzheit (Anm. 30), 173–189. 196 N IEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 126. 195
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von Verantwortung in Form der Selbst-Interpretation, allerdings mit divergierenden Konsequenzen in Bezug auf die Gemeinschaft(en), innerhalb derer sich Personen überhaupt ausbilden. Deswegen sprachen wir im Anschluss an Royce von Loyalität (loyality). Und aus dem gleichen Grund lässt sich das personale dann auch als ein ‚agapistisches Universum‘ kennzeichnen, indem keiner „den Satz vertreten [muß]: ‚Ich bin ganz und gar ich selbst und überhaupt nicht Du.‘“197 Die Personalität Gottes in diesem Zusammenhang zu explizieren, heißt nun aber, sich in einen spezifischen religiösen Kontext zu stellen, aus dem heraus sich sowohl die Struktur der Responsibilität als auch ihre konkrete Fassung ergibt. Dieser Zusammenhang ist ein christentumsgeschichtlicher, insofern er sich aus genuin christlichen Ideen speist, und er ist ein christentumstheoretischer, da er selbige als „doctrines of life“198 unter den gegenwärtigen Umständen und zugleich für diese Gegenwart rekonstruiert. Dieser doppelten Perspektivierung entspricht die Rekonstruktion des christlichen Gehalts der Personalität Gottes vor dem Hintergrund, das Christentum selbst als symbolische Form zu betrachten. Mit ‚Jesus Christus‘ hat diese eine radikale Metapher199, die nur in ihrer stetigen Fort- und Weiterbestimmung ihre Konturen erhält. In der Sprache der Dogmatik heißt das, die Gotteslehre kann sich nur über die Christologie und muss sich doch stets am Ort der Pneumatologie aufbauen. Die Frage, um die es nunmehr gehen muss, ist, ob die Rede vom ‚verantwortlichen Selbst‘ als Bestimmung der Personalität von Gott und Mensch sich konsequent im Nachvollzug der christlichen Lehre als „stichhaltige Einsicht in die Verfasstheit der Realität als solcher“200 ergibt. Es ist ein Verdienst der Christentumstheorie von Josiah Royce, einen solchen Versuch unternommen zu haben. Royce geht in seiner Schrift The Problem of Christianity (1913) von der Einsicht aus, dass das Christentum seine umfassende Bedeutung selbst einem anhaltenden Interpretationsprozess verdankt, der zwar mit der Verkündigung Jesu anhebt201, seine prinzipielle Bedeutung jedoch 197 PEIRCE, C HARLES S., Unsterblichkeit, Ders., Religionsphilosophische Schriften (Anm. 50), 205. – Peirce spricht von einer „gottlosen Metaphysik“ (ebd.), wollte man sich diesen Satz affirmativ zu eigen machen. 198 Diese doppelte Sichtweise lehnt sich an den Aufbau von Royces Problem-Schrift an, die im Folgenden genauer skizziert wird. Royce untergliedert seine Schrift in zwei Teile, die er mit „The Christian Doctrine of Life“ (vgl. ROYCE, Problem [Anm. 73], 57–226) und „The Real World and the Christian Ideas“ (vgl. a.a.O. 227–405) überschreibt. 199 Noch einmal im Rekurs auf Niebuhr: Vgl. N IEBUHR, Responsible Self [Anm. 146], 154–159; zum Bezug auf Cassirer, vgl. a.a.O., 151f. Siehe dazu auch Anm. 263 in § 9.5. 200 H ERMS, EILERT, Josiah Royce’s Beitrag zur Theorie des Christentums I. Beobachtungen und Erwägungen zu seinen Hibbert-Lectures über »The Problem of Christianity«, in: ThZ 36 (1980), 286–310, 293. 201 Vgl. hierzu die Würdigung der Verkündigung Jesu in: R OYCE, Problem (Anm. 73), z.B. 68–74.87–92.
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erst aus der interpretativen Sicht der nachösterlichen Gemeinde erhält. Erst mit ihr kommt die christliche Sicht auf die (Strukturen der) Realität voll zum Ausdruck und damit zur Geltung: Historically speaking, the Christian church first discovered the Christian ideas. The founder of Christianity, so far as we know what his teachings were, seems not to have defined them adequately. They first came to a relatively full statement through the religious life of the Pauline Churches; and the Pauline epistles contain their first, although still not quite complete, formulation (…) But the Pauline communities first were conscious of the essence of Christianity. 202
Was Royce hier über den paulinischen Anfangskontext der christlichen Sicht auf die Realität schreibt, ist paradigmatisch, insofern er das Christentum und seine Perspektive als einen andauernden Interpretationsprozess begreift, der sich damit bekanntlich nicht erschöpft, der aber stets das irdisch vollendete und eschatologisch (in der Auferstehung) beglaubigte Lebenszeugnis Jesu mit umgreift. Es sind drei Ideen, die nach ihm das Wesen des Christentums ausmachen. Über sie prägt sich auch das Verständnis von Gott und Mensch aus: universale Gemeinschaft (‚Beloved Community‘), Sünde (‚moral burden‘) und Versöhnung (‚atonement‘). Unschwer lässt sich dabei – schon mit Blick auf das Credo – ein pneumatologischer Schwerpunkt ausmachen. Vor allem aber zeigt die genauere Rekonstruktion dieser drei Ideen, die Royce vornimmt, dass er mittels ihrer eine metaphysische Explikation des Gemeinschaftsgedankens unternimmt, der ‚Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ umgreift.203 Dafür steht bei ihm der Ausdruck ‚universe‘, das als ‚community of interpretation‘ gefasst wird und in dem Gott und Menschen als Interpreten (‚interpreters‘) auftreten. The thesis of this book is that the essence of Christianity (…) depends upon regarding the being which the early Christian Church believed itself to represent, and the being which I call, in this book, the “Beloved Community,” as the true source, through loyalty, of the salvation of man. This doctrine I hold to be both empirically verifiable within the limits of our experience, and metaphysically defensible as an expression of the life and the spiritual significance of the whole universe.204
202 A.a.O., 43. Das richtet sich explizit gegen die liberal-theologische Reduktion der Wesensbestimmung des Christentums auf die Verkündigung Jesu. Royce denkt hierbei vor allem an Harnacks Schrift über Das Wesen des Christentums, vgl. a.a.O., 44. 203 In dieser Charakterisierung der Philosophie von Royce stimme ich mit Eilert Herms und Hermann Deuser überein, wenngleich ich deren Interpretationen und vor allem Kritiken an Royce nur bedingt teile. Vgl. neben dem bereits in Anm. 198 genannten Aufsatz von Herms dessen Fortsetzung in: HERMS, EILERT, Josiah Royce’s Beitrag zur Theorie des Christentums II, in: ThZ 36 (1980), 355–373, sowie die Ausführungen von: DEUSER, HERMANN, Ist Gemeinschaft ein metaphysischer Begriff?, in: Ders., Gottesinstinkt (Anm. 116), 215–233, 228–232. 204 R OYCE, Problem (Anm. 71), 45. – Man beachte, Royce setzt hier, wie durch das ganze Buch hindurch, die historischen Kirchen nicht mit der ‚Beloved Community‘ gleich. Vgl. hierzu auch seine Schlussbemerkungen: a.a.O., 404f.
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In seiner Christentumstheorie rekonstruiert Royce im Horizont seiner Theorie von Sozialität das religiöse (‚melioristische‘) Grundproblem – die Erlösung des Menschen, und zwar unter dem Aspekt der Loyalität: „loyalty (…) mean[s] the practically devoted love of an individual for a community.“205 In diesem Sinne ist das Christentum für ihn die paradigmatische „religion of loyalty“206. Vor diesem Hintergrund entfaltet er ein Verständnis von Personalität, das auf Gott und Mensch gleichermaßen zutrifft. Nur um diesen Aspekt kann es im Folgenden gehen.207 Loyalität steht in der Philosophie Royces für die Frage nach dem guten und gelingenden Leben und zugleich für den Sinn der Ausbildung personaler Identität. Sie ist damit das ethische Grundproblem schlechthin, das sich an allen Orten kulturellen Lebens für die Einzelnen stellt, die wiederum stets in sozialen Kontexten verortet bleiben.208 Das bildet den Kern der metaphysischen Theorie von Gemeinschaft, mit deren Hilfe er seine soziale Religionsphilosophie und Christentumstheorie entwirft. Loyalität kennzeichnet dabei die Struktur jenes allgemeinen Prozesses, durch den Individuen einander mit Blick auf einen gemeinsamen Sachverhalt oder eine Perspektive erkennen können. Das geschieht mittels Interpretation, in der genau jenes dreigliedrige Verhältnis zum Ausdruck kommt, welches wir bereits weiter oben beschrieben haben. Über die Vielzahl solcher Interpretationsprozesse, deren regelhafte und symbolische Struktur die Basis für verschiedene Interpretationsgemeinschaften bildet, konstituiert sich zeitlich dimensioniert die personale Identität des Selbst bzw. von Selbsten.209 In der Religion kommt das Problem der Loyalität auf prinzipielle Weise zur Sprache. In der religiösen Interpretation geht es um das Schicksal der eigenen Existenz im Zusammenhang aller anderen Dinge. Loyalität wird hier auf den universalen Kontext von Geschichte und Sozialität bezogen.210 Insofern steht A.a.O., 41. Vgl. die Überlegungen in: a.a.O., 37f.82–85.95–98 u.ö. 207 Für eine umfassende Darstellung der Christentumstheorie des späten Royce verweise ich auf die nach wie vor exzellente Rekonstruktion von: SMITH, Social Infinite (Anm. 131), 109–161. 208 Das wird exponiert in: R OYCE, Loyalty (Anm. 161), 3–24. 209 Zu Royces Theorie des menschlichen Selbst, siehe auch den Aufsatz von: SMITH, JOHN E., The Contemporary Significance of Royce’s Theory of the Self, in: Ders., Themes in American Philosophy. Purpose, Experience & Community, New York/Evanston/London: Harper&Row 1970, 109–212. – Randall E. Auxier hat Smiths Interpretation dahingehend kritisiert, dass in ihr nicht hinreichend zwischen individuellem und personalem Selbst differenziert wird. Letzteres baut sich nur über die aktive Partizipation an personalen Gemeinschaften auf. Auxier spricht hierbei von „nurturing“: AUXIER, RANDALL E., Time, Will, and Purpose. Living Ideas from the Philosophy of Josiah Royce, Chicago (Il.): Open Court 2013, 27f. 210 Vgl. die analoge Definition von: N IEBUHR, Responsible Self (Anm. 146), 109: „Our interpretation of the immediate depends on our sense of the ultimate community of interaction. So also the timefulness of our agency and of our historical interpretations are conditioned by our understanding of what lies at the limits of our time. In both cases something 205 206
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die Bewahrung der werthaft in Gang gebrachten Zwecke in Form von kulturellen, kollektiven und individuellen Lebensplänen, wie sie sich zeitlich ausbilden, auf dem Spiel. „Religion (…) is the interpretation both of the eternal and of the spirit of loyalty through emotion, and through a fitting activity of the imagination.“211 Religion ist selbst ein kulturelles Interpretationsgeschehen, in dem Interpreten als interpretierende Verantwortliche sich der eigenen Aktivität vergewissern, die sie im Kern auszeichnet. Der Gottesgedanke, der sich in dieser Fluchtlinie einstellt, steht für jene letzthinnige, ‚ewige‘ Loyalität, die sich im und mit dem Universum als umfassendem Interpretationsgeschehen erweisen muss und an der die endlichen Interpreten teilhaben müssen. Die symbolischen Texte einer Religion der Loyalität haben daher folgende Aspekte zu interpretieren: First, the rational unity and goodness of world-life; next, its true but invisible nearness to us, despite our ignorance; further, its fullness of meaning despite our barrenness of present experience; and yet more, its interest in our personal destiny as moral beings; and finally, the certainty that, through our factual human loyalty, we come, like Mose, face to face with the true will of the world, as a man speaks to his friend.212
In meinen Augen ließe sich der gesamte Bestand des christlichen Credos vor diesem Hintergrund rekonstruieren. Doch darum kann es hier nicht gehen. In The Problem of Christianity konzentriert sich Royce denn auch auf diejenigen Aspekte, die die Genese und Realisierung einer loyalen Einstellung zum Universum als sozial-geschichtlicher Konstellation beschreiben, unter der Perspektive, dass darin Menschen und Gott als Personen zur Geltung kommen. Die drei Ideen, auf die Royce seine Rekonstruktion des Christentums stützt, lassen sich somit als Aufbaumomente der Struktur interpretierenden Verantwortens lesen: Erstens kommt dieser aktive Vollzug von Interpreten dadurch in Gang, dass sie stets bereits in sozialen Gemeinschaften mit anderen Interpreten verortet sind und daran teilnehmen. Insofern ist noch vor jeder Qualifizierung jede so verstandene Gemeinschaft eine Interpretationsgemeinschaft von Interpreten. Letzteres muss deswegen gegeben sein, weil nur so die reflexive Struktur des Verantwortens gegeben ist. Einfacher ausgedrückt: In sozialen Umgebungen dieser Art lernen und praktizieren Menschen interpretierendes Verantworten, weil sie schon vor der eigenen Interpretation zum Antworten herausgefordert werden;
that we may call the religious element in our responses has come into view, meaning by the word, religion, in this connection man’s relation to what is ultimate for him – his ultimate society, his ultimate history.“ – Die Nähe zu Tillichs Formulierungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Niebuhr mit Royce um eine handlungs- und geschichtstheoretische Religionstheorie geht. 211 R OYCE, Loyalty (Anm. 161), 175. 212 A.a.O., 181.
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und weil sie dabei stets schon in eine werthafte Geschichte verstrickt sind, die sich aus Erinnerungen (memory) und Erwartungen (hope) speist: The concept of the community, as thus analyzed, stands in the closest relation to the whole nature of time process, and also involves recognizing to the full both the existence and the significance of individual selves. In what sense the individual selves constitute the community we can in general see, while we are prepared to find that, for the individual selves, it may well prove to be the case that a real community of memory or of hope is necessary to order to secure their significance.213
Zweitens erfordert die Praxis interpretierenden Verantwortens Zeit. Sie bedarf zudem der notwendigen Ausdifferenzierung von eigener Interpretationspraxis und derjenigen anderer. Das aber setzt die Ausbildung einer Eigenständigkeit voraus, die zwingend um ihrer Konturen willen sich von anderen abheben muss, auf die hin sie zu antworten hat. Die Bildung eigener Willensaktivität erfordert die Distanz und auch Abgrenzung zu Anderen und zu den Gemeinschaften, auf die sie doch fortwährend bezogen bleibt. Dadurch entsteht das Problem, dass sich interpretierendes Verantworten verfehlen kann, entweder, weil es seiner Verantwortung gegenüber sich selbst, oder aber gegenüber anderen nicht hinreichend gerecht wird. Die gezeitigten Folgen solcher ‚Disloyalität‘214 sind irrevozibel, weil zeitliche Abläufe nicht umkehrbar sind.215 Drittens steht dadurch der Erfolg verantwortlichen Interpretierens und damit der Erhalt der – personale Identitäten überhaupt ermöglichenden – Gemeinschaft(en) selbst in Frage. Deshalb kommt das interpretierende Verantworten erst dort zu seiner umfassenden Bedeutung, wo noch in der Reaktion auf diesen Verrat (‚betrayal‘) an der Gemeinschaft an dieser festgehalten wird. Es geht somit um stellvertretende Übernahme von Verantwortung, d.h. von anderen für andere, die den Bruch dadurch zu heilen vermag, dass sie ihn in das weitere Interpretationsgeschehen so einordnet, dass auch seine Folgen verheilen können. Das ermöglicht auch denjenigen, die durch ihr interpretierendes Verant-
A.a.O., 249. Dieser Anglizismus ist bewusst gewählt, weil es hier nicht um Illoyalität geht, sondern um das Verfehlen der eigentlichen Zielbestimmung von Loyalität, ohne deswegen ihre Struktur als ‚verantwortliches Interpretieren‘ zu negieren. 215 Vgl. dazu das Kapitel „Time and Guilt“ (R OYCE, Problem [Anm. 73], 143–163), in dem Royce von der „hell of the irrevocable“ (a.a.O., 162) spricht, weil es zur Eigenverantwortung der Person gehöre, dass ihre Taten sie ein für alle Mal, also endgültig, in ihrer (personalen) Identität mitbestimmen. – Das widerspricht im Übrigen dem Rechtfertigungsgedanken schon insofern nicht, als dass auch dieser zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚neuen Sein‘ des nunmehr gerechtfertigten Sünders keine absolute Diskontinuität vorsieht. Darüber hinaus wird damit bei Royce die klassische dogmatische Frage nach dem Zusammenhang von Rechtfertigung allein aus Glauben und dem eschatologischen Gericht, auch der Gerechtfertigten, nach den Werken, reformuliert. 213 214
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worten sich verfehlt haben, die Rückkehr in die Gemeinschaft und damit zugleich die Erneuerung ihrer eigenen Verantwortungsfähigkeit.216 Erst einer solchen ‚Community of Interpreters‘ gelingt es, über die Kontingenzen ihrer geschichtlichen Entfaltung hinweg sich dauerhaft so zu kontinuieren, dass in und mit ihr sich Personen als verantwortliche Interpreten ausbilden können. Sie setzt eine wechselseitige Verantwortungsübernahme um der gemeinsamen Sache willen voraus: the true community (…) depends for its genuine common life upon such coöperative activities that the individuals who participate in these common activities understand enough to be able, first, to direct their own deeds (…) secondly, to observe the deeds of their individual fellow workers, and thirdly to know that, without just this combination, this order, this interaction of the coworking selves (…) could not be accomplished by the community.217
Die strukturelle Rekonstruktion des personalen Handelns als interpretierendes Verantworten verdankt sich, wie schon mehrfach betont, einer konkreten historischen Interpretationsgemeinschaft und ihrer symbolischen Struktur: des Christentums. Insofern ist sie zumindest nicht vollständig von ihr abhebbar.218 Sie lässt sich nicht ohne Abstriche ‚säkular‘ übersetzen, da ihre soteriologische Perspektive und deren Realisierbarkeit ohne expliziten Rekurs auf die Realität Gottes fehlgehen. Die ‚beloved community of interpreters‘ stellt nämlich ebenso wenig wie andere Gemeinschaften eine bloße Summe ihrer Glieder dar. Schließlich bedarf das Leben einer Gemeinschaft eines ihre Glieder verbindenden Elements, das deren ‚Woraufhin‘ benennt. Man kann vom jeweiligen Geist (‚spirit‘) einer Gemeinschaft reden, der sich geschichtlich konkretisieren muss. Die ‚Beloved Community‘ ist durch jenen ‚Interpreter-Spirit‘219 gekennzeichnet, der es ihr ermöglicht, über die Interpretation des Geschicks Jesu von Naza-
An diese Motive knüpft Royce an, wenn er sich bemüht, die soteriologische Dimension des Stellvertretungsgedankens aus dem klassischen Gehalt christlicher Versöhnungslehre neu zu erschließen. 217 A.a.O., 264. 218 Dass das partiell sehr wohl geschehen kann, dokumentiert mit Blick auf Royce, aber nicht minder auf Peirce die Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels. In beiden Fällen bleiben jedoch diejenigen Aspekte der evolutionären Kosmologie (Peirce) bzw. universalen Gemeinschaft von Interpreten (Royce) unterbestimmt, die überhaupt erst zu ihrer Entfaltung geführt haben. Die Religions-, Christentums- und Gottesthematik ist also für das adäquate Verständnis dieser Pragmatisten ganz und gar unerlässlich. Es ist eben eines, historische und systematische Fragen voneinander zu unterscheiden; ein anderes jedoch, die ersteren nach erfolgter Theoriebildung für nebensächlich oder nicht mehr relevant zu erachten. 219 Der Ausdruck des „Interpreter-Spirit“ findet sich so bei Royce nicht, sondern geht auf eine treffende Formulierung von Frank M. Oppenheim zurück. Vgl. OPPENHEIM, FRANK M., Royce’s Mature Philosophy of Religion, Notre Dame: Univ. of Notre Dame Press 1997, 262f. – Royce kennt lediglich den Ausdruck „interpreting spirit“ (ROYCE, Problem [Anm. 73], 5), der der Sache nach jedoch das Gleiche meint. 216
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reth die Bedeutung von Gemeinschaft und eo ipso von Personalität zu verstehen. In diesem Sinne spricht Royce deshalb zu Recht vom „Logos-Spirit“220. Darüber hinaus verhilft der Geist auf diese Weise, die Rolle Gottes innerhalb dieses Geschehens präzise zu fassen. An dieser Stelle setzt die pneumatologisch gefasste Rede von der Personalität Gottes ein.221 Denn Gott ist – so versteht es die durch den ‚Logos-Spirit‘ orientierte Interpretationsgemeinschaft – im Leben Jesu von Nazareth selbst Welt bzw. Mensch geworden und hat sich selbst als verantwortungsvoll durch das stellvertretende Leiden („suffering servant“222) erwiesen. Auch in einer Theorie des Christentums steht das sog. ‚Problem des Bösen‘, das Misslingen von Gemeinschaft und damit von freier Personalität, im Zentrum. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es – wenn es eine Erlösung geben kann – diese mit Implikationen verbunden ist, die zum Gedanken der Personalität Gottes führen. Zur christlichen Interpretation des personalen Universums gehört es wesentlich, dass sie Gott selbst als verantwortlich interpretierend in dieser Realität verortet. Nur so kann er durch Überwindung des Verrats und des Schuldigwerdens an und innerhalb der Gemeinschaft diese heilen und restituieren. In der symbolischen Form christlicher Gemeinschaften und ihres Credos kommt das in der Rede von der Menschwerdung (‚incarnation‘) und Versöhnung (‚atonement‘)223 Gottes zur Sprache. Darin zeigt sich, wie von Gott geredet werden muss, nämlich als ‚Geist‘ und ‚Person‘: 220 A.a.O, 234f. – Dort wie schon im ersten Teil (vgl. a.a.O., 136–141) verweist Royce auf die Trinitätslehre, die er als Versuch begreift, das Selbstverständnis der christlichen Gemeinschaft (lehrhaft) so zu rekonstruieren, dass diese in ihrem Geist sich ihrer historischen Bestimmtheit vergewissert, die wiederum zur konkreten Artikulation des transzendent-personalen, gleichwohl einen Gottes (im Bekenntnis) führt. Nicht zufällig rekurriert Royce hier auf Troeltsch, der in eine ähnliche Deutung des Trinitätsdogmas zielt: vgl. TROELTSCH, ERNST, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Gesammelte Schriften, Bd.1, Tübingen: Mohr Siebeck 21922, 967–970. – Den entscheidenden Zug dieser Kontextualisierung des Trinitätsdogmas sehe ich weniger in seiner historischen Rückführung als in der metaphysisch zu veranschlagenden Pointe, nach der ein realitätshaltiger Gottesbegriff sich dadurch bewährt, dass er einer historischen Gemeinschaft ihr Handeln als Interpretieren vorstellig macht und sie damit kontinuiert und befördert. 221 Vgl. R OYCE, Problem (Anm. 73), 234: „[T]he article of the creed regarding the Holy Spirit is, I believe (…) in many respects, the really distinctive and therefore the capital article of the Christian creed, so far as that creed suggests a theory of the divine nature“. – Es ist augenfällig, dass Royce im Übergang von seiner christentumstheoretischen zur metaphysischen Explikation auf das Problem der Pneumatologie für seine metaphysische Theorie von Gemeinschaft zu sprechen kommt. 222 Vgl. a.a.O., 53.180–182. 223 Versöhnung kann es dabei nicht abseits der Gemeinschaft geben. Sie darf nicht als etwas von ‚außen‘ an sie herangetragenes gefasst werden, sondern muss innerhalb der Gemeinschaft und durch sie erlitten werden. Das gilt gerade dann, wenn sie von Gott her gestiftet wird. Darauf, d.h. auf der impliziten Theo-logie, basiert Royces Kritik an den liberaltheologisch-moralischen und den klassisch-orthodoxen Vorstellungen von Sühne und Versöhnung.
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[T]he truth about the incarnation and the atonement seems to me (…) First, God, (…) is indeed a spirit and a person; but he is not a being which exists in separation from the world, simply as its external creator. He expresses himself in the world224.
‚Geist‘ und ‚Person‘ stehen als Größen nicht einfach nebeneinander, sondern sind aufeinander bezogen: Im Geist realisiert sich jedes Personsein, auch dasjenige Gottes. So kann an der Differenz zwischen Gott und Mensch(en) als Personen festgehalten werden, ohne in die Gefahr eines harten, metaphysischen und theologisch (mit Blick auf den Gottesgedanken) desaströsen Dualismus zu geraten. Denn die pneumatologische Rahmung der personalen Gottesrede setzt die Absage an jede Welt- und Menschenlosigkeit Gottes voraus. Positiv kommt das dadurch zum Ausdruck, dass von Gott als demjenigen gesprochen werden kann, der sich innerhalb der Geschichte dadurch selbst artikuliert, dass er als versöhnende Macht des sozialen Universums auftritt. Darin kommt der ‚Geist‘ einer Religion der Loyalität zur vollen Geltung, die Gott und Menschen nicht ineinander fallen lässt, sondern in der Ausrichtung auf ein Gemeinsames – die ‚Beloved Community‘ – gleichermaßen als personale Interpreten fasst: In such an interpreter, and in his community, (…) in and through the life of one who, as interpreter, was at once servant to all and chief among all, expressing his will through all, yet, in his interpretations, regarding and loving the will of the least of these his bretheren. In him, the Community, the Individual, and the Absolute would be completely expressed, reconciled, and distinguished.225
Damit rückt nicht die ‚Gemeinschaft‘ an die Stelle Gottes226, sondern sie ist diejenige Qualität, die das Universum als Konstellation von Gott, Welt und Mensch als ein personales verstehen lässt. Das zeigt sich auch daran, dass es zur Ausbilung personaler Identität wesentlich gehört, ein Bewusstsein von der Vgl. a.a.O., 170–174. – Siehe dazu ebenfalls: ROYCE, JOSIAH, What is Vital in Christianity?, in: Harvard Theological Review 2 (1909), 408–445, 444f. Dieser Aufsatz bildet werkgeschichtlich ein wichtiges Bindeglied zwischen Royces Philosophy of Loyalty und Problem of Christianity. Eine gute Interpretation findet sich bei: KEGLEY, JACQUELYN A. K., Josiah Royce in Focus, Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 2008, 80–86. 224 R OYCE, What is Vital (Anm. 223), 438. Damit wird nicht die Differenz von Gott und Welt infrage gestellt, sehr wohl aber ihre Trennung. Aus dem gleichen Grund kann Gott aber auch nicht mit irgendeinem einzelnen Ereignis in der Welt identisch sein, vgl. a.a.O., 438f. 225 R OYCE, Problem (Anm. 73), 318f. 226 So in Verkennung der Grundkonstellation der Royce’schen Spätphilosophie die Ansicht von Eilert Herms. „Das thematische Gegenüber ‚Mensch–Gott‘, wird bei Royce zu dem thematischen Gegenüber ‚Individuum–Gemeinschaft‘“ (HERMS, Josiah Royce’s Beitrag I [Anm. 200], 295) und später noch einmal: „Immer fällt für Royce der Begriff des Absoluten und Gottes zusammen mit dem Begriff alles möglichen welthaften Seins“ (HERMS, Josiah Royce’s Beitrag II [Anm. 203], 367). Beide Zitate kursiv im Orginal. – Herms kommt zu dieser Einschätzung aufgrund seines transzendentaltheoretischen Gottesbegriffs, der Gott strictissime als aller endlichen Schöpfung vorausgehenden theistischen Schöpfer denkt. Vgl. auch a.a.O., 368.
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eigenen Geschichte in all ihren sozialen Bezügen zu entwickeln. Der Gedanke der Personalität Gottes bleibt solange abstrakt, als er sich nicht inhaltlich so bestimmen lässt, dass Gott als Glied einer ‚community of memory‘ und einer ‚community of hope‘227 gedacht wird. Die durch gemeinsame Interpretation erinnerte Vergangenheit und erwartete Zukunft bestimmen die Identität der Glieder dieser Gemeinschaft und somit diese selbst228, im christlichen Fall: das Geschick Jesu, seine Vor- und Nachgeschichte. Sie formen damit aber zugleich den ‚Geist‘ dieser Gemeinschaft als diejenige dritte ‚Realität‘, auf die hin ihre Glieder sich selbst und andere verstehen lernen. Und schließlich erwächst daraus ein geschichtlicher Maßstab, auf den hin und vor dem sich die Glieder eines personalen Universums wechselseitig verantwortlich zeigen müssen. In diesem Sinne gilt: „Loyalty involves an essentially new type of self-consciousness, – the consciousness of one who loves a community as a person.“229 Dieser Prozess ist nicht abschließbar. Nicht nur, da der zeitliche Prozess des Universums andauert, sondern auch, weil die Interpreten fortdauernd ihre gemeinsame Geschichte neu interpretieren. Ihr ‚Will to Interpret‘ ist auf kein einzelnes Moment fixierbar, sondern bleibt kreativ.230 Die durch die Kategorie des Universums gefasste Konstellation ist keine statische, sondern eine dramatische. In ihr artikuliert sich fortlaufend die Realität und ihr Sinn durch Interpretation, wobei es die Eigenart personaler Interpreten ausmacht, dass sie sich ihrer wechselseitigen Verbundenheit als Verantwortung für den Fortbestand und die Entwicklungsmöglichkeiten der Realität bewusst sind. So, wie sich Realität als problemhafte zeigt und dadurch neue Interpretationen anstößt, so wird sie durch jene verändert und nimmt eine neue Gestalt an:
227 Vgl. R OYCE, Problem (Anm. 73), 248f. – Für jede individuelle Erfahrung bedarf es eines solchen, mit Wertungen besetzten, sozialen und geschichtlichen Kontextes. Andernfalls würden Erfahrungen kaum je die nötige Bestimmtheit erhalten. Das ist das Hauptargument von Royces Kritik an William James und dessen individualistisch verengten Erfahrungsbegriff, vgl. a.a.O., 40–41.224. 228 Vgl. die treffende Zusammenfassung von John E. Smith: „A community is thus wellordered togetherness of distinct individuals who have come to regard as belonging to their own lives and history a common memory and a common hope. Bindung all together is the faith that every other member is related to the same third reality to which he or she is related and the members are related to each other in turn because of this common faith. The third reality is that of the Spirit, the living power uniting the many into a one while the members as such remain individually distinct“ (SMITH, JOHN E., William James and Josiah Royce, in: Nineteenth Century Religious Thought in the West, Bd. 2, hg. v. Ninian Smart u.a., Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 1985, 315–349, 341). 229 R OYCE, Problem (Anm. 73), 119. 230 Vgl. die prinzipielle Beschreibung der Situation kreativer Bestimmung des Willens: „[T]here is one, and but one, general and decisive attitude of the will which is the right attitude, when we stand in presence of the universe, and when we undertake to choose how we propose to bear ourselves towards the world“ (a.a.O., 349).
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the world of interpretation includes infinite series of acts of interpretation (…) every act of interpretation involves novelty (…) the one to whom every problem, every antithesis, every expression of mind, every tragedy of life, is a sign calling for interpretation, and in whose belief the world contains its own interpreter, both contemplates and shares in a world drama (…) Our will is always dramatic in its expressions.231
Vor dem Hintergrund dieser Konstellation gebraucht Royce dezidiert religiöse Metaphorik, um das Spezifikum personalen Lebens, d.h. von Interpreten, zu beschreiben: Es besteht als stetige ‚conversation‘, als andauerndes ‚colloquy‘ und ‚prayer‘ mit der Realität (‚universe‘).232 Insofern stellt Religion den umfassendsten Fall von Interpretationspraxis dar, in der sich das personale Universum als der umfassendste Verantwortungskontext zum Ausdruck bringt. Ihr ethischer Zug liegt dann darin, dem Willen zur Interpretation, den man – in abgestufter Form – als Charakteristikum allen Lebens fassen kann, seine soziale Herkunft bewusst zu machen, von der aus er sich individuell ausgebildet hat und zu der er sich um seiner und der Zukunft anderer willen aber auch in eigener Verantwortung – ‚Loyalität‘ – verhalten muss. Verantwortung als Einholung der sozialen Reflexivität des Handelns als Interpretieren seiner selbst führt von sich aus zu einem ethischen Imperativ, der der Struktur eines personalen Universums korrespondiert: You are not a mere extension by analogy of my own will to live (…) You are an example of the principle whose active recognition lies at the basis of my only reasonable view of the universe. As I treat you, so ought I deal with the universe. As I interpret the Universe, so, too, in principle, should I interpret you.233
Zu einem personalen Universum gehört somit das wechselseitige Anerkennen der Interpretationsaktivität der Interpreten und ihrer Folgen. Diese gehen nicht in ihren eigenen oder den fremden Interpretationen auf, so wenig dies für ihre Folgen gilt. Andernfalls bedürfte es keines solchen ethischen Imperativs, der dem verantwortlichen Interpretieren innewohnt. Er bringt normativ auf den Punkt, was den ‚Will to Interpret‘ stets auszeichnet: das Moment kontingenter Entscheidung. Dieser ist der Modus des Selbstvollzugs personaler Interpreten. ROYCE, Problem (Anm. 73), 350f. Vgl. auch: a.a.O., 337–339. Vgl. a.a.O., 289.292. (Hervorhebung von mir). Siehe dazu auch den Aufsatz von: RAPOSA, MICHAEL L., In the Presence of the Universe: Peirce, Royce, and Theology as Theosemiotic, in: HTR 103 (2010), 237–247. – Inzwischen hat Raposa sein Projekt einer im Geiste von Charles Sanders Peirce und Josiah Royce konzipierten Theosemiotik in monographischer Form detailliert ausgeführt, vgl. RAPOSA, MICHAEL L., Theosemiotic: Religion, Reading, and the Gift of Meaning, New York: Fordham Univ. Press 2020, insb. 227–258. 233 R OYCE, Problem (Anm. 73), 361. Zur Auslegung dieser Stelle, vgl. TUNSTALL, DWAYNE A., Yes, but not Quite. Encountering Josiah Royce’ Ethico-Religious Insight, New York: Fordham Univ. Press 2009, 77–81. – Es sei nochmals betont, dass die hier entwickelte Konzeption des personalen Universums nicht die einzige Perspektive auf die Realität ist. Sie ließe sich allerdings sehr wohl mit einer naturalistischen Perspektivierung des Evolutionsprozesses verbinden. 231 232
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Auf der einen Seite bestimmen diese sich in und durch ihn in der Gegenwart ihres Lebens. Pragmatistisch gesprochen drücken sie sich durch ihre Taten aus und werden für sich und andere erkennbar. Auf der anderen Seite machen sich personale Interpreten dadurch haftbar, gerade weil sie ihre Taten nicht mehr revozieren können. Sich dennoch zu ihnen weiterhin verhalten zu können, und zwar im Modus des Verantwortens, beruht selbst wiederum auf einem neuen Vollzug des ‚Will to Interpret‘: For deeds once done are irrevocabale; and every deed echoes throughout the universe. The past is unchanging. The expression of the will constitutes itself an actual life. The creative activity of the will is therefore no mere play with figments. It has the reality of a realm of deeds. And every deed has a value that extends throughtout the world of the will. Each act is to be judged in the light of the principle: “Inasmuch as ye have done it unto the least of these.”234
Durch den biblischen Verweis am Schluss des Zitats wird deutlich, dass diese Beurteilung nur in sozialen Zusammenhängen erfolgen kann. Sie erfolgt im und durch den Geist jener Gemeinschaft, in der sich Interpreten selbst artikulieren. Verantwortung wird dann zu einer doppelt dialektischen Angelegenheit: Sie zeigt sich in Gestalt der Treue (Loyalität) oder des Verrats (Disloyalität) gegenüber der Gemeinschaft und ihren Gliedern wie gegenüber dem eigenen Willen mit Blick auf die Verantwortung für die durch ihn und nicht anders in Gang gesetzten Taten. Eine Interpretation von Realität, die mit Gott als ‚Glied‘ des Universums rechnet, bringt es mit sich, dass auch dieser unter dem ethischen Anspruch der Loyalität zu sich selbst, der Gemeinschaft und ihres Geistes steht235: den Geist der ‚community‘, deren personale Glieder als verantwortliche Selbste zu begreifen sind, der Geist, in dem Gott als ein ‚verantwortliches
234 R OYCE, Problem (Anm. 73), 349f. – Auf diesen Seiten (vgl. a.a.O., 348–350) bekennt sich Royce zum Pragmatismus, der davon ausgeht, dass die Realität bestimmte Wertigkeiten real mit sich führt, die es aktiv herauszuarbeiten gilt. Das richtet sich gegen den pragmatischen Fiktionalismus Vaihingers. Jedoch trennt ihn seiner Meinung nach von anderen Pragmatisten, vor allem von James, dass es eine ‚absolute‘, d.h. richtige Einstellung zur aktiven, nämlich interpretativen Erfassung der Wirklichkeit gibt, nämlich ‚loyalty‘ zu Sachverhalten, Personen und Ereignissen, wie sie sich uns problemhaft (an)zeigen. Deswegen nennt er seine Philosophie auch „absolute voluntarism“ (a.a.O., 349). 235 Vom Standpunkt der Pneumatologie aus wird die Theodizee-Frage somit prinzipiell. Sie stellt nicht einfach ein (Sonder-)Problem der Soteriologie und Ethik dar. Vielmehr kommt in ihr auf existentiell eindrückliche wie bedrängende Weise zur Sprache, was Personen grundsätzlich auszeichnet: die Dialektik von Präsenz (Offenbarung) und Entzogenheit (Verborgenheit) ihrer selbst, und zwar vornehmlich ihres Handelns unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Verantwortlichkeit. – An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, dass es insbesondere dieses prinzipiell gefasste ‚problem of evil‘ ist, das Royces ‚ethischen‘ Theismus von demjenigen Peirces (‚aesthetic theism‘) unterscheidet. Vgl. POLKE, CHRISTIAN, Royce and Peirce – Two Models of a Personal Divine?, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society. A Quarterly Journal in American Philosophy, Bd. 54 (2018), 532–545.
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Selbst‘236, als eine Person begriffen wird. So gesehen gilt: „Not the Self, not the Logos, not the One, and not the Many, but the Community will be the ruling category of such a philosophy.“237 Mit Hilfe von Royces Christentumstheorie, die er als metaphysische Theorie der ‚community‘ entfaltet hat, lassen sich paradigmatisch die Bedingungen darlegen, unter denen es weiterhin Sinn macht, so von Gottes Personsein zu reden, wie es auch den christlichen Symbolpraktiken und -traditionen entspricht. Das deckt sich im Übrigen ganz mit dem Anspruch dieses Denkers an sein Unterfangen: Our doctrine of the world as a community, as the social life of the universe endlessly revealing the divine, – never wholly at any one time, but in the world’s process, expresses in the metaphysics of the community what you grasped through an intuition of faith.238
Zugleich verhilft Royces Ansatz dazu, auf exemplarische Weise die Implikationen der Rede von der Personalität Gottes explizit zu machen. Wir sind ihnen durch den Nachvollzug des Peirce’schen Dreischritts von einem pluralistischen, gleichwohl synechistischen, über ein melioristisches, darin tychistisches, zu einem personalen, d.h. agapistischen Universum gefolgt. Auf ganz ähnliche Weise finden sich die sachlichen Momente dieser Triade auch bei Royce ausgedrückt: [T]he world of interpretation (…) is throughout essentially social, as is also our own human world. It is essentially historical, as is any world involving a time process. It is essentially teleological as is every world wherein we can justly speak (…) of a process involving true development (…) this world has the structure of a community.239
Die Pointe dieser personalen Welt der Interpretation haben wir dabei in einem Doppelten zu rekonstruieren versucht: Zum einen lässt sich Personalität nur durch die Interpretation von Zeitgeschehnissen als verantwortete und darin werthaft besetzte erfassen – das ist der historische und teleologische Aspekt; zum anderen lässt sie sich nur als eine Pluralität von als Verantwortungsträger gefassten Interpreten verstehen – das ist der essentiell soziale Aspekt. Von Gottes Personsein kann dann nur so gesprochen werden, dass er nicht welt- noch
236 Die Formel von Gott als ‚verantwortlichem Selbst‘ verdanke ich der Interpretation der Theologie H.R. Niebuhrs und ihrer sozialphilosophischen Fundamente durch Donald E. Fadner. Auch für Royce ließe sich behaupten, was für Niebuhr gilt: Gottes allwirksames Handeln kann nur als je zeitlich konkretes erinnert, erhofft bzw. als gegenwärtig interpretiert werden, das dann zur Reaktion herausfordert. Für die religiöse Interpretation kann dies nur als ein wechselseitiges Verantwortungsgeschehen begriffen werden. Vgl. FADNER, DONALD E., The Responsible God: A Study of the Christian Philosophy of H. Richard Niebuhr, Missoula (MT): Scholars Press for AAR 1975, v.a. 226–245. 237 R OYCE, Problem (Anm. 73), 344. 238 A.a.O., 383. 239 A.a.O., 382.
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menschenlos gedacht, weder zeit- noch geschichtslos begriffen und stets in Interaktion mit der Welt und den Menschen stehend verstanden wird. Seine Transzendenz ist strictissme eine mundan ‚immanente Transzendenz‘, wenn man so will. Positiv formuliert: Gottes und der Menschen Personsein kommt darin zum Ausdruck, dass sie als verantwortliche Interpreten auf ein dadurch in Gang gebrachtes Ziel hin wirken240, welches in der Sprache der christlichen Tradition ‚Reich Gottes‘ genannt wird und den Inbegriff der mit Sinn und Bedeutung erfüllten Geschichte (als Gemeinschaft) darstellt. Damit kommt die Absichtlichkeit des Universums, die Werthaftigkeit der Welt zum Abschluss, die sich dem sozialen Interagieren in wechselseitiger Verantwortung von Gott und Menschen als Personen verdankt.241 Oder anders: Das Universum „als (…) ein großes Symbol für Gottes Absicht (…), das seine Schlußfolgerungen als lebendige Realitäten ausarbeitet“242, zu lesen, heißt zu begreifen, Gottes singuläres Personsein ist mit unserem individuellen Personsein ein Personsein im Werden. And, if, in ideal, we aim to conceive the divine nature, how better can we conceive it than in the form of the Community of Interpretation, and above all in the form of the Interpreter, who interprets all to all, and each individual to the world, and the world of spirits to each individual. In such an interpreter, and in his community, the problem of the One and the Many would find its ideally expression and solution (…) and if then the Community of Interpretation is conceived as inclusive of all individuals; and as unified by the common hope of the far-off event of complete mutual understanding; and, finally, if love for this community is awakened, – then indeed this love is able to grasp, in ideal, the meaning of the Church Universal, of the Communion of Saints, and of God the Interpreter.243
240 Dogmatisch gesprochen findet die Lehre vom Handeln Gottes erst durch die Bestimmung seines erlösenden Wirkens ihren Abschluss. Die handlungstheoretische Gotteslehre wird damit soteriologisch zugespitzt, so wie ihre soteriologische Pointe sich trinitarisch rekonstruieren lässt. 241 Randall E. Auxier hat deswegen zu Recht seine Rekonstruktion der Philosophie von Royce unter den Titel Time, Will, and Purpose gestellt: „But at the level of purpose – or idealization – we discover more than human individuality, and more than social will: in their unification, we discover the unfolding of (…) personhood (…) or more accurately, the development and growth of the personal mode of existence, which only happens (…) when the social will and the wills of finite individuals come to be unified under an ideal – a purpose“ (AUXIER, Time [Anm. 209], 251f). 242 PEIRCE, C HARLES S., Vorlesungen über Pragmatismus. Mit Einleitung und Anmerkungen neu hg. v. Elisabeth Walther, Hamburg: Meiner 1991, 78. 243 R OYCE, Problem (Anm. 73), 318f.
§ 11 Schlussbetrachtung: Expressiver Theismus und personalistische Religiosität Am Ende unserer Überlegungen zum Sinn personaler Rede von Gott soll keine weitere Zusammenfassung der wesentlichen Schritte der Argumentation stehen. Vielmehr soll in theoriebedingter Absicht zunächst das offene Problem des Theismus-Begriffs behandelt werden, um schließlich den expressiven Theismus auf seinen lebensweltlichen Bezug hin zu erläutern. Der Grundgedanke, der meine Ausführungen geleitet hat, besteht darin, dass der Mensch sich selbst und seine Welt nur über den artikulierten Ausdruck verständlich machen kann. Dabei ist dieses In-der-Welt-Involviert-Sein stets symbolisch-kulturell geprägt, vor allem aber vollzieht es sich stets im Modus des Handelns, das Bedeutungen ausformt und prägt. Das aber meint: Alle religiösen Vorstellungen – inklusive derjenigen über die ‚Existenz‘ und ‚Natur‘ des Göttlichen – müssen sich sowohl hinsichtlich ihrer Genese als auch ihrer Geltung an denjenigen Kontext zurückbinden lassen, an dem sich Realität symbolisch codiert und interpretativ erschließt: die handelnde Situation des ErfahrungenMachens. Expressiv ist der Glaube an einen personalen Gott deswegen, weil er sich in bestimmten, symbolischen Ausdruckshandlungen bzw. Praktiken (Beten) und Vorstellungswelten (erzählte Geschichte) zur Darstellung und Sprache bringt, die der ‚personalistischen Religiosität‘1 ihr Gepräge geben und diese damit von anderen Gestalten abhebt. Dabei war die Aufnahme des Theismus-Begriffs zunächst ideengeschichtlichen Gründen geschuldet. Zugleich aber stellte er sich immer mehr als hilfreiches Differenzkriterium heraus, das sowohl die personalistische Religiosität als auch die philosophisch-theologischen Positionen profiliert, die die Realität des Göttlichen, wie sie sich in den genannten religiösen Erfahrungen und ihren symbolischen Artikulationen einstellt, in doppelter Differenz zur Welt und den endlichen Subjekten betrachten.2 ‚Theismus‘ meint also zunächst gar keine spezifische dogmatische Position. Vielmehr hat sich dieser 1 ‚Personalistisch‘ nenne ich eine Gestalt von Religiosität dann, wenn die Kategorie der ‚Person‘ die religiöse Grundhaltung der Gläubigen prägt und maßgeblich für ihr Gottes- und Selbstverständnis ist. 2 Man könnte auch von einer angenommenen doppelten Autonomie des Göttlichen sowohl gegenüber der Realität der religiösen Symbolisierung als auch gegenüber den symbolisierenden Subjekten sprechen.
1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus
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Begriff allmählich inhaltlich gefüllt, und zwar angesichts der impliziten Frageperspektive, die unsere Ausführungen mit William James teilten: „Was würden wir verlieren, wenn wir Gott als Hypothese fallen lassen würden“3? Diese Frage sollte man nicht als melancholisch getönte Anleitung zur Aufarbeitung existentieller Verlusterfahrungen verstehen, so als hätte die systematische Theologie damit geschichtsphilosophische Spätfolgen einer unaufhaltbar voranschreitenden Säkularisierung zu bearbeiten. Die Frage zielt eher auf einen systematischen Punkt: Lässt sich das, was unter ‚Gott‘ in den symbolischen Formen der Religion gefasst wird, als eine in dem Sinne eigenständige, da partiell widerständige Realität begreifen? Von hier aus versteht sich das offensive Festhalten am Begriff des Theismus, den es unter neuzeitlichen Problemstellungen nochmals genauer zu konturieren gilt.
1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus 1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus
Wer in der Gegenwart religionsphilosophische und systematisch-theologische Überlegungen unter affirmativer Verwendung des Theismus-Begriffs anstellt, hat mit Gegenwind und nachhaltiger Kritik zu rechnen. So vielschichtig dieser philosophische Terminus ist, so viele Missverständnisse produziert er.4 Das erklärt zumindest teilweise die weitgehende Reserviertheit, die man ihm – sieht man einmal von der Tradition analytischer Religionsphilosophie ab – entgegenbringt. Vor allem Vorstellungen einer welttranszendenten Gottheit, die mit ihm vorschnell assoziiert werden, gelten als unkritisch, vorneuzeitlich und denkwidersprüchlich. Von daher muss eine Theologie, die den Gedanken der Personalität Gottes als einen sinnvollen geltendmachen und ihn unter den Titel des Expressiven Theismus stellen will, sich mit der Problemgeschichte des TheismusBegriffs auseinandersetzen. Das durchaus richtige Argument allein, es gäbe bislang keine semantische Alternative zur Theismus-Vokabel, der es gelänge, eine entsprechende begriffliche Prägnanz herzustellen, dürfte kaum ausreichen.
3 JAMES, W ILLIAM, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, übersetzt von Wilhelm Jerusalem. Mit einer Einleitung (PhB 297), hg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 21994, 60f. 4 Für einen ersten Überblick: D IERSE, U LRICH, Art. Theismus, HWPh 10 (1998), 1054– 1059. – Stellvertretend für viele kritische Stimmen verweise ich nur auf die problematisierenden Ausführungen, die Ingolf Dalferth in seiner Religionsphilosophie unter dem Titel „Aufstieg und Fall des philosophischen Theismus“ gegeben hat, vgl. DALFERTH, INGOLF U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 257–335.
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§ 11 Schlussbetrachtung
Es kann nicht darum gehen – schon gar nicht in Schlussüberlegungen – auch nur in groben Zügen eine Begriffs- und Ideengeschichte5 der Kategorie des ‚Theismus‘6 zu skizzieren. Lediglich an ein paar maßgebliche Etappen innerhalb der Problemgeschichte, in der sich seine Bedeutung herausbildete, soll hier erinnert werden. Von Problemgeschichte kann in diesem Zusammenhang auch deswegen gesprochen werden, weil ‚Theismus‘ ein Kontrastbegriff bzw. eine Kontrastkategorie darstellt. Das zeigt sich vor allem daran, dass es zu seiner Konturierung stets eines Gegenübers bedarf. Doch anders als man meinen könnte, war es zunächst weniger der Atheismus7 und schon gar nicht die später in der Theologie prominent gewordene Position des ‚A-Theismus‘8, welche das kontrastive Gegenüber zum Theismus bildete, als vielmehr der Deismus. Im Zeitalter der Aufklärungsphilosophie lässt sich das besonders eindrücklich bei Kant nachweisen. Dieser unterschied den Deisten vom Theisten bekanntlich dadurch, dass im Deismus Gott lediglich als die ‚Weltursache‘ gedacht werde, wohingegen einen ‚lebendigen Gott‘ zu glauben allein die Position des Theismus ausmacht.9 Über die Triftigkeit dieser Unterscheidung mag man streiten, worum es Kant aber geht, ist die grundsätzlich andere Perspektive auf die Wirklichkeit, die sich im Gefolge der beiden Positionen einstellt und die in der Unterscheidung des ‚transzendentalen‘ vom ‚natürlichen‘ Theologen nicht aufgeht. Nimmt man die Stellung des Deismus ein, so lässt sich daraus relativ zwanglos die natürliche, soziale und geschichtliche Welt als einheitliches, un-
Einen guten Überblick über die Genese der hier in Frage kommenden Entwicklung bietet: ROHLS, JAN, Subjekt, Trinität und Persönlichkeit Gottes. Von der Reformation zur Weimarer Klassik, in: NZSTh 30 (1988), 40–71. 6 Ich spreche sowohl von Begriff als auch von Kategorie, weil es für beides in der Geschichte der Theologie und Philosophie Beispiele gibt. Zu einer Kategorie wird ‚Theismus‘ natürlich erst, wenn er ein leitendes Element in einem philosophischen oder theologischen System bzw. einer Argumentationskette bildet. 7 Eine leicht andere Zuspitzung der Kontrastkonstellationen gibt: D ALFERTH, Wirklichkeit (Anm. 4), v.a. 257–280. – Dalferths Darstellung zielt vornehmlich auf die Dekonstruktion der rationalen Religion und ihres Theismus, sowie deren Nachfolger in der Tradition analytischer Religionsphilosophie. Im Unterschied dazu stehen hier stärker die religionskulturellen Seiten des Theismus im Vordergrund, weswegen ich mir die These Dalferths, wonach Atheismus und Theismus sich stets „parasitär auf ein religiöses oder theologisches Gottesverständnis“ (a.a.O., 259) beziehen, in dieser Schärfe so nicht zu eigen machen kann. 8 Gedacht ist natürlich an die Theismuskritik der sog. ‚Gott-ist-tot‘-Theologie, die noch die trinitätstheologischen Neuansätze: MOLTMANN, JÜRGEN, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München: Kaiser 1972 und: JÜNGEL, EBERHARD, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr Siebeck 1977, nachhaltig beeinflusst hat. 9 Vgl. K ANT, IMMANUEL, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. III, Berlin: de Gruyter 1968, B 659–661, 420f. 5
1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus
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persönliches, darum aber auch durch das menschliche Subjekt planbares, Ordnungsgefüge10 verstehen. Beim Theismus hingegen verändert sich diese Rationalisier- und Planbarkeit zumindest für den Bereich der die moralische Autonomie bedingenden Freiheitssphäre. In ihr entfaltet sich der Mensch als Person unter nicht weiter ableitbaren Bedingungen und mit tiefgreifenden Ambivalenzen, was eine veränderte Einstellung zur Frage nach den Bedingungen der Realisierung von Moral mit sich bringt und anders nach dem Sinn der Geschichte fragen lässt. Im Unterschied zum Deismus und den Ideen einer ‚natürlichen Religion‘ ziehen theistische Ansätze eine differenzierte „geschichtsphilosophische[] Betrachtung“ nach sich.11 Eine weitere folgenreiche Kontrastierung erfolgte ebenfalls zu Zeiten Kants durch die Opposition zum Pantheismus. Hier steht weniger die Frage nach der prinzipiellen Aktivität Gottes (in der Welt), die von beiden Seiten geteilt wird, als dessen Stellung zu ihr im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Was sich an der Spinozarezeption im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entzündete, war die Frage, ob Gott und die Welt nicht darin ineinander aufgehen, insofern der Gottesgedanke die differenzlose Einheit der Wirklichkeit repräsentierte. Nicht die schlichte Identifizierung Gottes mit der Welt, sondern die These ihres indifferenten Einheitsgrundes, der letztlich auch alleinursächlich Wirkung in der Welt zeitigt, wird in den (meisten) pantheistischen Konzeptionen behauptet.12 Deswegen ist es vor allem der monistische Systemgedanke, der den Pantheismus im Ringen um die Personalität Gottes zu einem Gegner erster Güte werden ließ. Es ist von daher nur konsequent, dass es im nachkantischen Idealismus nicht an Versuchen gefehlt hat, die Wahrheitsmomente beider Seiten, des Theismus wie des Pantheismus, zu integrieren. Vor allem bei Hegel und Schelling geschieht dies in Form einer trinitarischen Theorie des Absoluten, mittels derer sowohl am Systemgedanken festgehalten als auch der Gottesgedanke als ein in sich selbst ausdifferenzierendes Absolutes begriffen wird. Damit steht zugleich das Problem der Denkbarkeit der Personalität bzw. ‚Persönlichkeit‘ Gottes im 10 Dazu siehe TAYLOR, C HARLES, Ein säkulares Zeitalter. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, v.a. 460–503. 11 TROELTSCH, ERNST, Das Historische in Kants Religionsphilosophie (1904), in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionswissenschaft (1903–1912), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Teilband 2 (= KGA 6.2), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 864– 1355, 1060. – Es ist Troeltschs Verdienst, in dieser großen Studie die systematischen Implikationen und Zusammenhänge von Kants Moral-, Religions- und Geschichtsphilosophie wieder freigelegt zu haben, die aufgrund der starken Fokussierung auf die drei Kritiken weitgehend außer Acht gelassen wurden. 12 Gerade für Spinozas Philosophie ist die alles entscheidende kategoriale Differenz diejenige der Perspektiven auf und von natura naturans und natura naturata. Zum Gedankengang oben siehe: SPINOZA, BARUCH DE, Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Übersetzung, Anmerkung und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottlaender, Hamburg: Meiner 1976, I. Teil, Lehrsätze 17–18, 21–25.
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§ 11 Schlussbetrachtung
Raum, weil durch sie seine Unabhängigkeit von der endlichen Welt und seine doch nur darin zu denkende Realität gleichermaßen gefasst werden soll.13 Ob man solche Versuche schon als panentheistisch zu werten hat, bliebe zu diskutieren.14 Hier ist allein wichtig, dass der Begriff des ‚Theismus‘ einem stetigen Formwandel, gerade auch auf konzeptioneller Ebene, unterliegt. Zudem teilen die idealistischen Denker mit den pantheistischen Stimmen die scharfe Kritik an traditionellen Ansichten der kirchlichen Dogmatik, vor allem die Gotteslehre betreffend. Derart unter Druck geraten formte sich unter den Anhängern der traditionellen Lehre eine eher restaurative Richtung aus. So wurden teilweise bereits überwunden geglaubte Ansichten über die infallible Autorität der Schrift erneuert; über die Figur subjektiver Erweckung an einem extern nicht mehr kritisierbaren Offenbarungsglauben festgehalten; und das Ganze allzu oft verbunden mit der bloßen Apologie biblischen Wunderglaubens und klassisch heilsgeschichtlicher Konzeptionen. Infolgedessen trat ein neuer Gegensatz auf, der zunächst vornehmlich den theologischen Rationalismus betraf, doch zunehmend auch theistische Positionen außerhalb dieser Schulrichtung in Frontstellung zu supranaturalistisch verfahrenden Richtungen der christlichen Dogmatik brachte.15 Wo an der Personalität Gottes mit der Entschiedenheit einer als extramundan und übervernünftig gedachten Realität festgehalten wurde, die sich dem Menschen allein auf wundersame Weise in der Geschichte offenbart, verschwammen diese Differenzen zwischen Theismus und Supranaturalismus allerdings dann schon wieder. Beide Begriffe wurden weitestgehend synonym gebraucht, sehr zum Schaden jeder Denkbewegung, die an der Sinnhaftigkeit des Gedankens der Personalität Gottes festhalten wollte, ohne dabei Positionen zu übernehmen, die sich schon aufgrund ihres Rekurses auf traditionelle Autoritäten und Denkmuster in einen erklärten Gegensatz zum wissenschaftlichen Stand der Zeit brachten.16 Daran änderte auch nichts, dass im 19. Jahrhundert der Theismus in Gestalt des spekulativen Theismus eine kurze Blütezeit erlebte, und zwar explizit mit
13 Es sei hier nur auf Hegels Problemlösungsversuch und seine Darstellung verwiesen bei: WAGNER, FALK, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, Gütersloh: Güterlsoher Verlagshaus 1971, v.a. 200–285. 14 Auch Hegels Religionsphilosophie hat immer wieder den Verdacht des Pantheismus auf sich gezogen. Vgl. die kritische Betrachtung dieses Vorwurfs bei: a.a.O., 282–286. 15 Vgl. die nach wie vor gute Darstellung bei: H IRSCH, EMANUEL, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. V, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1954, 5–7.22–26.70–144. 16 Dabei gilt für die Religionsphilosophie vom 18. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, dass sie veritable Denker kennt, deren Theismus stets mit dezidierter Kritik an supranaturalistischen Denkfiguren einhergeht. Kant, Troeltsch und James sind nur einige von ihnen.
1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus
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dem Interesse des Festhaltens an der Personalität Gottes.17 Denn die damit einhergehenden Debatten standen schon ganz im Bann eines aufsteigenden Atheismus, der unter naturalistischem Vorzeichen eine veritable Alternative für breitere Gesellschaftsschichten wurde. Dies war u.a. eine Konsequenz des Erfolgs des naturwissenschaftlichen Paradigmas und seiner praktischen Anwendbarkeit in Technik und gesellschaftlicher Organisation. Unter Naturalismus darf man die mit metaphysischem Anspruch versehene Sichtweise verstehen, wonach die gesamte Realität sich prinzipiell durch Naturwissenschaften beschreiben und auf ihre Gesetze hin analysieren lässt, und zwar dergestalt, dass alle anderen qualitativen Wirklichkeitsbeschreibungen zu Epiphänomenen erklärt werden.18 Von nun an standen sich ‚Theismus‘ und ‚Atheismus‘ nicht mehr nur als philosophisch-theologische Systemansätze, sondern als soziokulturelle und lebensweltliche Mentalitäten gegenüber. Wurde bis dahin unter ‚Theismus‘ das Festhalten an der Realität eines personalen Gottes in philosophisch-theologischer Absicht verstanden, so rückt nunmehr durch die neuen Frontstellungen eine andere Grundbedeutung in den Vordergrund, die sehr viel allgemeiner das prinzipielle Festhalten am Sinn des Gottesglaubens überhaupt bedeutete. ‚Theismus‘ und ‚Atheismus‘ wurden so zu Abbreviaturen für grundsätzlich gegenläufige Lebenshaltungen und Weltansichten, die sich zwar auch als philosophisch oder theologisch versierte metaphysische Theorien ausformen konnten, nun aber zuvorderst viel eher eine grundsätzliche Lebenseinstellung charakterisierten, die nicht mehr ausschließlich Sache der intellektuellen Eliten war. Spätestens damit reicherten sich die Begriffe auch in soziokultureller Hinsicht an.19
17 Vgl. H IRSCH, Geschichte, Bd. V (Anm. 15), 274–281. – Zu Recht verweist Hirsch auf Hermann Lotze, der den Theismus unter Verabschiedung des spekulativen Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Beeinflusst wurden von ihm Albrecht Ritschl, aber eben auch Ernst Troeltsch, William James und Josiah Royce. Letzterer gehörte noch zu seinen Hörern während eines Deutschlandaufenthaltes in den 1870er Jahren. 18 Schon Jacobi hat im sog. ‚Streit um die Göttlichen Dinge‘ gegen Schellings Bemühen die Unmöglichkeit einer philosophischen Systemintegration von Theismus und Naturalismus vertreten. Im Theismusstreit deuten sich all jene tragischen Frontstellungen der folgenden Jahrzehnte an, die philosophisch als Theismus-Naturalismus-Streitigkeiten und lebensweltlich als Science/Religion-Debatten bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Siehe dazu: ARNDT, ANDREAS/JAESCHKE, WALTER, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München: Beck 2012, 527– 531, sowie meine Rekonstruktion der Debatte in: POLKE, CHRISTIAN, Von göttlichen Dingen. Jacobi und das Problem von Theismus und Naturalismus, in: Christian Danz/Jürgen Stolzeberg/Violetta L. Waibel (Hg.), Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811– 1821), Hamburg: Meiner 2018, 7–30. 19 Das ist ein entscheidender Unterschied zum 16. oder auch 17. Jahrhundert, in denen ‚Theismus‘ und ‚Atheismus‘ zwar sowohl als Abbreviaturen für Glaubensüberzeugungen als
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§ 11 Schlussbetrachtung
Im Zuge des historisierenden Denkens gerieten die metaphysischen und philosophischen Systeme schließlich unter die Kritik der historischen Vernunft. Das Neue an dieser Entwicklung ist, dass die in idealtypischer Weise verwendeten Termini von ‚Theismus‘, ‚Atheismus‘ und ‚Naturalismus‘ zwar weiterhin als systematische Positionen fungierten, fortan aber ausschließlich als eine von mehreren möglichen Gesamtperspektiven auf die Wirklichkeit erachtet wurden. Diese Wandlung ist keineswegs trivial, denn sie verdankt sich der Einsicht, dass jedes metaphysische Modell und jede philosophische Theorie sich in geschichtlichen Prozessen herausbildet und keineswegs allein auf die intellektuellen Herausforderungen beschränkt bleibt, die sich mit jenen verbanden. Eine Philosophie, eine Metaphysik und eine Theologie stellt somit stets den Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung mit ihren letzten Fragen dar und erhält nur vor diesem Hintergrund ihre mögliche, aber keinesfalls universal zwingende Plausibilität. Es ist dieser Umstand gewesen, der Wilhelm Dilthey seine ‚Philosophie der Philosophie‘ als eine (idealtypische) Theorie von Weltanschauungen konzipieren ließ. Mag der Begriff der ‚Weltanschauung‘ auch problematisch sein20, worum es geht, ist die nicht nur kognitive, sondern ebenso emotive und voluntative Basis der praktischen Lebensform und Lebensgestaltung, die sich noch in spezialisierter Weise als Metaphysik, Philosophie und Theologie artikulieren lässt. Insofern gilt: „Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens.“21 Nimmt man diesen Statuswandel metaphysischer Theorien ernst, dann kann eine Rehabilitierung des Theismus sich nicht ausschließlich als Explikation ei-
auch für Theorien bekannt, diese aber ganz und gar an den kognitiven Gehalten und Positionen ausgerichtet waren. 20 Vgl. SCHNÄDELBACH, H ERBERT, Der Blick aufs Ganze. Zur Optik der Weltanschauung, in: Ders., Philosophie in der modernen Kultur. Vorträge und Abhandlungen 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 150–162. Schnädelbach kritisiert vor allem die den Begriff charakterisierende optische Metaphorik, die allzu leicht einer Verengung auf rein visuelle Aspekte des Weltverhältnisses das Wort redet und erinnert deswegen an die holistischen Züge eines praktischen und emotional gestimmten Weltverhältnisses als Ursprung von Weltanschauung (vgl. a.a.O., 160f). Zweifelhaft bleibt hingegen seine Prognose eines Absterbens von Weltanschauungen in diesem Sinne. – Zur Problematik siehe ebenfalls: MOXTER, MICHAEL, Art. III/1. Weltanschauung. Dogmatisch und Philosophisch, in: TRE 35 (2003), 544–555. 21 D ILTHEY, W ILHELM, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911), in: Ders., Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart: Teubner 41968, 73–118, 86. – Dilthey spricht von „Lebenswürdigungen und Willensleistungen“ (ebd.), wenn er auf die emotiven und voluntativen Aspekte bzw. Leistungen von Weltanschauungen zu sprechen kommt. Für ihn stellen Kunst (vor allem die Dichtung), Religion und Philosophie gleichermaßen, allerdings nicht zwingend voneinander unabhängige, Generatoren bzw. kulturelle Gestalten von Weltanschauung dar.
1. Plädoyer für eine Rehabilitierung des Theismus
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ner logisch kohärenten und wissenschaftlich anschlussfähigen Theorie erfolgen.22 Die konkreten theistischen Positionen lassen sich wie die ihrer (naturalistischen, atheistischen etc.) Gegenpositionen nicht ohne genealogischen Rekurs auf ihre soziokulturellen Kontexte verstehen. Das gilt auch für die Prüfung ihrer Argumente und Argumentationen, die bekanntlich diesen Zusammenhängen entstammen. Charles Taylor hat genau dies im Blick, wenn er in seiner monumentalen Darstellung des Aufstiegs der säkularen Option neben dem exklusiven Naturalismus und Humanismus auch den Theismus als eine von mehreren möglichen Modellen umfassender Lebenseinstellung und Wirklichkeitsinterpretation kennzeichnet.23 Während die beiden ersten Positionen letztlich von der Annahme ausgehen, „daß der naiven Anerkennung des Transzendenten beziehungsweise von über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Zielen ein Ende gemacht“24 werden muss, artikuliert sich die letzte Position, die des ‚Theismus‘, ungefähr so: Menschen, die an einen personalen Gott glauben, haben oft oder typischerweise das Gefühl, daß die Fülle zu ihnen kommt, daß sie etwas ist, das sie entgegennehmen und das ihnen überdies im Rahmen einer Art persönlicher Beziehung zuteil wird – das sie von einem anderen Wesen empfangen, das lieben und schenken kann. Die Annäherung an die Fülle beinhaltet unter anderem eine Praxis der Verehrung und des Gebets (sowie der Barmherzigkeit und des Gebens).25
Jede dieser idealtypischen Positionen, die sich bekanntlich eher vermischen, als dass sie in Reinform auftreten, impliziert prinzipielle Einstellungen zu ethischen und politischen Fragen, dem Gelingen des menschlichen Lebens sowie der Stellung des Menschen zur Natur und im Universum. Dieses Bündel an Ideen und Idealen macht den Kern von Weltbildern, Lebenseinstellungen und Mentalitäten aus, die wir als ‚Theismus‘, ‚Naturalismus‘, ‚Atheismus‘ etc. deklarieren. Sie unterscheiden sich von rein philosophischen Theorien dadurch, dass sie nicht allein an logischer Stringenz ausgerichtet und auf argumentativer 22 Kritisch gewendet: Genau darin verfehlen die analytischen Verteidiger des Theismus als einer religionsphilosophischen Position ihr Ziel, da sie sich mit einem a-historischen Vernunftverständnis ausschließlich auf die Apologie metaphysischer oder dogmatischer Theorieansätze konzentrieren. Unter Bedingungen einer historisch situierten Vernunft und der Einsicht des Gewordenseins auch ihrer Argumentationsfiguren können solche Versuche, jedenfalls in dem von ihnen selbst postulierten Überzeugungsanspruch, nur scheitern. 23 Vgl. die knappe Beschreibung des Aufrisses in: TAYLOR, Säkulares Zeitalter (Anm. 10), 37. – Zur Konzeption dieser Ideen- und Mentalitätsgeschichte bei Taylor, siehe: SCHLETTE, MAGNUS, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt/M./New York: Campus 2013, 73–104.161–181. 24 TAYLOR, Säkulares Zeitalter (Anm. 10), 46. – Die rapide Abnahme der kulturellen Selbstverständlichkeit des Theismus und damit die Umkehr der Beweislast stellen für Taylor die eigentliche Signatur des säkularen Zeitalters dar. Es geht um den radikalen Bedeutungswandel von Weltbildern und Mentalitäten, die unser Handeln implizit oder explizit immer schon leiten. 25 A.a.O., 24.
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§ 11 Schlussbetrachtung
Kohärenz aufgebaut sind, sich dafür allerdings stärker (auch) an empirischem Faktenwissen orientieren können. Dass insbesondere ein recht verstandener Theismus von diesen Prämissen ausgeht, hat schon Wilhelm Dilthey gesehen, wenn er bemerkte: Nun entziehen sich aber Erfahrungen des Willens in der Person einer allgemeingültigen Darstellung, welche für jeden anderen Intellekt zwingend und verbindlich wäre (…) verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menschlichen Willens in der Burgfreiheit der Person. Hierin hat keine Metaphysik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Protest der hierin klaren religiösen Erfahrung zu kämpfen gehabt26.
Angesichts dieser kontrastreichen Problemkonstellationen kann man nur dann am Begriff des Theismus festhalten, wenn es gelingt, die mit ihnen verbundenen Fragestellungen bei der Explikation des eigenen Ansatzes zu berücksichtigen. Das aber heißt: Der Theismus muss sich einen Blick für die geschichtliche Entfaltung des Gottesgedankens bewahren (gegen den Deismus), ohne dabei einem Offenbarungspositivismus oder autoritär gestützten Irrationalismus zu verfallen (gegen den Supranaturalismus); er hat an der qualitativen Differenz von Gott und Welt festzuhalten (gegen den Monismus), aber die Realität Gottes nicht abseits der Weltwirklichkeit zu behaupten (mit dem Pantheismus). Angesichts des Plausibilitätsverlusts von Letztbegründungsversuchen und abschließenden Wirklichkeitsbeschreibungen hat er sich in gesunder Distanz zum Systemdenken zu halten (gegen das Systemdenken). Und schließlich kommt ihm im christlichen Kontext notwendig die Aufgabe zu, das trinitarische Moment im Gottesgedanken zu integrieren. Mehr als alles andere muss die Tatsache ernstgenommen werden, dass es nicht mehr um die Verteidigung eines metaphysischen oder dogmatischen Systems geht, sondern um die möglichst umfangreiche, kategoriale Explikation einer geschichtlich gewordenen und lebensweltlich verorteten Lebenseinstellung und Weltansicht. Deshalb stellt der ‚Naturalismus‘, nicht als wissenschaftliche Methode, sondern als ebenfalls geschichtlich gewordene und die Lebenswelt prägende Weltansicht die eigentliche Kontrastfolie für eine Verteidigung des Theismus dar.27 Zusammen mit den anderen vorgenommenen Kontrastfolien DILTHEY, WILHELM, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band (1883), Gesammelte Schriften, Bd. I, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 81979, 385. Aus dem Kontext der Stelle wird deutlich, inwiefern auch die Idee einer „persönlichen Gottheit“ (ebd.) sich dieser inhärent metaphysikskeptischen, eben religiösen Haltung verdankt, wie sie sich im Leben durch Erfahrungen einstellen kann. – Dass Diltheys eigene Position entgegen der landläufigen Ansicht einer deutlichen Präferenz zu pantheistischen Ansichten differenzierter zu beschreiben ist, zeigt eindrücklich: PLAUL, CONSTANTIN, Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys. Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage (BHTh 188), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 299–353. 27 Vgl. als Beispiel für einen historisch sensiblen, analytischen Zugriff auf das Problem: TETENS, HOLM, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart: Reclam 2015, 26
2. Expressiver Theismus
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bildet dies den Hintergrund, vor dem sich theistische Ansätze – auch die eines expressiven Theismus – zu plausibilisieren haben. Mit der Historisierung metaphysischer Konzeptionen ist jedenfalls auch der Theismus zu einer Chiffre für kognitiv sehr wohl fassbare, gleichwohl aber emotiv grundierte und darin voluntativ geformte Perspektiven auf die Wirklichkeit und das eigene Leben geworden. Oder einfacher ausgedrückt: Als eine religiöse Option, die der personalistischen Religiosität, wird sie zugleich eine weltanschauliche Position – nämlich die des expressiven Theismus.
2. Expressiver Theismus: Religiöse Option und weltanschauliche Position 2. Expressiver Theismus
Die doppelte Kennzeichnung des expressiven Theismus als religiöse Option und als weltanschauliche Position will auf Folgendes hinaus: Der Glaube an den personalen Gott ist zunächst eine religiöse Haltung des eigenen Lebens gegenüber der Wirklichkeit im umfassendsten Sinn. Unter gegenwärtigen Bedingungen, zu denen nicht nur ein religiöser Pluralismus, sondern auch die begründete Vermutung gehört, dass wir zu keiner einheitlichen Rahmentheorie für die Wirklichkeit (als ‚theory of everything‘) mehr imstande sind – also unter Bedingungen der endlichen, situativen und somit historischen Vernunft –, ist sie dann allerdings eine Option unter mehreren. Das kennzeichnet die faktische Lage und formuliert zugleich eine kulturanthropologische These. Bei letzterer geht es nicht um die Behauptung, religiöse Überzeugungen würden sich einer Wahl der Individuen verdanken. Die Rede von der Option stützt sich eher auf William James, der mit Bezug auf den Glauben und seine Überzeugungsgehalte davon sprach, dass sie nur dann anerkannt oder in Zweifel gezogen werden können, wenn sie sich als ‚living options‘ erwiesen haben. Das heißt, sie müssen das Leben derjenigen, die von ihnen überzeugt sind oder an ihnen zweifeln, auf eine Weise betreffen, dass sie zu ihnen Stellung nehmen müssen. Sie können nicht anders, als irgendwie darauf zu reagieren. Andernfalls wären es nach James nur ‚tote Hypothesen‘. Eine lebendige Option weist daher drei Merkmale auf:
7–15. – Die Unterscheidung zwischen einem Naturalismus als Metaphysik und Naturalismus als einer sinnvollen Methode perspektivischer Wirklichkeitserkenntnis ist fundamental. Schließlich kann es sehr wohl vernünftig sein, Naturalismus und Theismus miteinander zu verbinden, und zwar dann, wenn man die in § 10.2 stark gemachte Pluralität von Wissenschaftsperspektiven bedenkt. Dies setzt allerdings die Preisgabe des Zwangs zu einem einheitlichen, abschließenden Beschreibungssystem voraus. Zu zwei prominenten Versuchen einer komplementären Position von Naturalismus und Theismus, nämlich denjenigen von Mark Johnston und Hilary Putnam, siehe: SCHLETTE, MAGNUS, Between Naturalism and Theism: Johnston and Putnam on the Reality of God, in: EPJR 6 (2014), 19–35.
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§ 11 Schlussbetrachtung
Das Maximum an Lebendigkeit an einer Hypothese bedeutet Bereitsein zum unwiderruflichen Handeln. Und eben dies heißt, praktisch gesehen, Glaube; aber eine gewisse Tendenz zum Glauben ist schon überall da vorhanden, wo überhaupt das Gewilltsein zu handeln vorliegt (…) für unsere Zwecke dürfen wir eine Option eine echte nennen, wenn sie der zwanghaften, lebendigen und einschneidenden Art angehört.28
Was zunächst unter Absehung des besonderen Falls religiöser Glaubens- und Lebenseinstellungen formuliert ist, trifft sehr wohl auch und sogar in besonderem Maße auf diese zu. Der expressive Theismus als lebendige religiöse Option, d.h. als Glauben an einen personalen Gott, provoziert diejenigen, die von ihm überzeugt sind, zu einem diese Option zum Ausdruck bringenden Handeln. Das darf man sich nun allerdings nicht so vorstellen, als würde die prüfende Reflexionstätigkeit dem einer Option bzw. Überzeugung gemäßen Handeln vorausgehen. Im Gegenteil. Denn die Grundannahme von James wie der anderen klassischen Pragmatisten läuft dem geradewegs entgegen. Nach ihr wird im Handeln allererst das Ausbilden, Bewähren und ebenso das Bezweifeln von Überzeugungen möglich. Insofern wurzelt der expressive Theismus entscheidend in seiner Artikulation durch religiöse Praktiken. Dabei muss nicht – und ist in dieser Arbeit auch nicht behauptet worden – das Gebet im Vordergrund stehen. Aber soweit es beim expressiven Theismus wesentlich um den Glauben an einen personalen Gott geht, beruht er auf einer personalen oder personalistischen Religiosität. Genau dies ist jedenfalls für die christliche Religionskultur einschlägig. Denn schon ihr religiös-theologischer Grundbegriff, mit dem sie die Einstellung und Haltung des Menschen Gott gegenüber auf optimale Weise zum Ausdruck bringt, stellt eine von Grund auf personale Kategorie dar, nämlich die des Glaubens. Glauben meint nun aber keine bestimmte (einzelne) Handlung, sondern bezeichnet auf umfassendste Weise gleichsam die Lebensform des Christenmenschen. Mit ihm kommt die christliche Religion als gelebte zu ihrem Begriff. So lässt sich mit Luther sagen: „fides autem facit personam“29. Auf dieser Grundformel beruhte in dieser Arbeit noch unsere metaphysische Explikation des expressiven Theismus, vorgetragen in der These von einem ‚personalen Universum‘. Dort wurde mit dem Begriff der ‚Loyalität‘ versucht zu bestimmen, was Glauben ausmacht. Beide Begriffe umfassen sowohl das Moment des Vertrauens als auch den Aspekt der Treue.30 Und deswegen kann 28 JAMES, W ILLIAM, Der Wille zum Glauben (1896), in: Ders., Essays über Glaube und Ethik. Ausgewählt von Ralph B. Perry und übersetzt von Wilhelm Flöttmann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1948, 40–67, 41. – Zum Rahmen dieses ‚Will to Believe‘ und der Interpretation dieses Ansatzes siehe: SEIBERT, CHRISTOPH, Religion im Denken von William James (RPT 40), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 143–178. 29 Vgl. LUTHER, M ARTIN, Die Zirkulardisputation de veste nuptiali (1537), in: Weimarer Ausgabe, Bd. 39/I, Weimar: Böhlau (1926) 1964, 282,16. 30 Zu dieser Doppelstruktur des Glaubens vgl. die Analysen von: N IEBUHR, H. R ICHARD, Faith on Earth. An Inquiry into the Structure of Human Faith, hg. v. Richard R. Niebuhr, New Haven/London: Yale Univ. Press 1989, 46–50.56–62.
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auch Glauben als eine Tätigkeit im Modus des Verantwortens aufgefasst werden. Dies gilt in gleichem Maße für Gott wie für den Menschen. In „Oh Gott, du frommer Gott…“ (EG 495,1), wie es im Kirchenlied heißt, spricht sich dies auf exemplarische Weise aus. Denn Frömmigkeit bedeutet im altdeutschen Sprachgebrauch Treue. Diese wechselseitige Treue erfolgt nicht ort- und zeitlos. Ihr sozialer und geschichtlicher Kontext ist klassisch gesprochen die ‚Welt‘, in der Gott und Mensch sich begegnen und zu deren Heilwerden bzw. Gestaltung sie beitragen. Unter Welt wird das Woraufhin des Handelns von Gott und Mensch verstanden, in die und zu der Gott und Mensch selbst gehören, ohne in ihr aufzugehen. Deswegen gehört zum Glauben als Vertrauen und Treue zugleich das ethische Moment des Verantwortens, das sich nicht zuletzt in Weltgestaltung ausdrückt. Aus diesem Grund spreche ich von personalistischer Religiosität, zu deren Kennzeichen u.a. gehört, sich sowohl gegen Formen mystischer Weltflucht als auch gegen religiöse Subjektivismen31 zu richten, die am Moment der Innerlichkeit ausgerichtet sind. Personaler Glaube muss welthaltig bleiben, wenn er sich als personaler vollziehen und verstehen will, und der darin sich einstellende Glaube an den personalen Gott kann ebenfalls nicht ohne welthafte Gegenwart Gottes (wie der Glaubenden) gedacht werden. So oder so impliziert der Umstand, dass es in der Welt von Gott und Mensch zu reden gilt, dass jede religiöse Option sich auch als eine weltanschauliche Position explizieren lassen kann. Damit sind wir beim zweiten Teil der oben genannten doppelten Definition des expressiven Theismus. Im Gegensatz zu seiner heute meist üblichen Verwendung als Alternative oder Opposition zu Religion wird der Terminus ‚Weltanschauung‘ hier zur Kennzeichnung der umfassenden Relevanz von religiösen Lebensformen verwendet. Das heißt, Weltanschauung meint die aus einer grundsätzlichen Einstellung zum Leben entstammende positionelle Sicht aufs Ganze. In diesem Sinne stellen Weltanschauungen Antwortversuche auf die Frage dar: „Wie lässt sich in das eigene individuelle Leben die vollständige Anerkennung der eigenen Beziehung zum Universum im Ganzen einbringen?“32 Dabei wird dieser Ausgriff aufs ‚Ganze‘, auf den umfassenden Horizont, von einer spezifischen religiösen Position her unternommen. Als Weltanschauung lässt sich dann das explizieren, was vom Kern der religiösen Haltung ausgehend von den weiteren sozialen, kulturellen, historischen und kosmischen Komponenten des menschlichen Daseins interpretierend ausgesagt werden kann. Dass hierbei vor allem die Dimensionen der Kontingenz besondere Beachtung verdienen (vgl. § 10.3.1), bedarf nach dem bisher
31 Diese können auch unter Gestalt des Personalismus auftreten, und zwar immer dann, wenn unter der Reduktion von Welt ein bipolares ‚Ich-Du‘-Modell zur Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung in Anschlag gebracht wird. 32 N AGEL, THOMAS, Säkulare Philosophie und religiöse Einstellung, in: DZPh 61 (2013), 339–352, 341.
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Entfalteten keiner weiteren Begründung. Allerdings muss sich die als weltanschauliche Position entfaltete (religiöse) Metaphysik bewusst bleiben, dass sie sich einer lebendigen Option verdankt, die allenfalls eine von mehreren möglichen darstellt. Sie kann von daher keinen Anspruch auf Letztbeschreibung oder gar Letztbegründung erheben. Diese historisch bedingte Relativität negiert jedoch nicht von vornherein ihre Geltungsansprüche, da sie ohnehin nicht auf eine rein epistemische Weltanschauung mit ausschließlich propositionalen Wahrheitsansprüchen reduziert werden kann. Deswegen kann man sagen: „In Weltanschauungen geht es um die Bedeutung des Ganzen, und um Wahrheit nur als deren unselbständigen Teil.“33 Die Unselbständigkeit ist darin gegeben, dass religiöse Überzeugungen Interpretationen der Realität in Praxiszusammenhängen darstellen. D.h., sie fordern das aktive, also interpretierende Involviert-Sein der Interpreten. Aus diesem Grund lassen sich ohne diesen lebensweltlichen Bezug, d.h. ohne Fundierung in einer religiös lebendigen Option, auch keine (universalen) Geltungsansprüche erheben.34 Eine weltanschauliche Position kann der expressive Theismus damit nur insoweit werden, als er bereits eine religiöse Option darstellt. Mit dem Topos der ‚Personalität Gottes‘ ist auf Theorieebene anvisiert, was sich in einem personalen Glauben an Gott expressiv zur Sprache bringt. Deswegen ist auf der Differenz von theoretischer Explikation und argumentativer Rechtfertigung auf der einen Seite und religiöser Artikulation und Darstellung auf der anderen Seite zu beharren. Insofern ist der expressive Theismus eine theologische Position. In der Entfaltung seines systematisch-theologischen Gehalts hat sich zudem die Spannung aus religiöser Option und weltanschaulicher Position wiederholt, da der Hermeneutik der religiösen Praktiken und Symbolsprachen eine kritische Analyse ihres metaphysischen Gehalts samt des Versuchs einer Generalisierung zur Seite gestellt wurde, deren Triftigkeit sich allerdings am Ort religiöser Formung von Wirklichkeit erneut unter Beweis zu stellen hat. Gerhard Ebeling hat dieses spannungsreiche Wechselspiel von religiöser Artikulation, ihrer Interpretation und theoretischen Explikation wie folgt ausgedrückt: Die Abkehr von der metaphysischen Fundierung der klassischen Gotteslehre vollzieht sich keineswegs als Preisgabe der ontologischen Besinnung auf das Reden vom Sein Gottes, nimmt vielmehr diese Besinnung auf eine neue Weise in Angriff (…) Das Reden von Gott JUNG, MATTHIAS, Gewöhnliche Erfahrung, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 197. Zu diesem Aspekt siehe auch die Ausführungen von Jung: a.a.O., 196–203. – Jung nennt Weltanschauungen „Optionen“ und grundiert sie in der Generalisierung des qualitativen Erlebens der eigenen Lebenssituation qua symbolischer Deutung (vgl. a.a.O., 186–196). Dass ich stattdessen stärker auf deren Positionalität abhebe, liegt daran, dass der hier operationalisierte Begriff der Weltanschauung stärker auf die theoretische Explikation einer als lebendige Option begriffenen religiösen Welteinstellung zielt. – Unabhängig davon halten sowohl Jung als auch ich daran fest, dass die Möglichkeit universaler Geltungs- als Wahrheitsansprüche nicht schon durch deren stets kontextuelle Verwurzelung in partikularen Religions- und Weltanschauungstraditionen konterkariert wird. 33 34
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geht nun nicht, wie bei der metaphysischen Orientierung vom Unumstrittensein Gottes aus, sondern gerade von seinem Strittigsein (…) Das Reden über Gott hat seinen Erfahrungsgrund im Reden zu Gott. Deshalb muß das Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre gelten. In ihm wird Gott das Sein zugesprochen als ein Gegenübersein, als ein Zusammensein mit dem Menschen und der Welt sowie als sein Tätigsein.35
Es ist diese Verortung in der religiösen Praxis und zugleich die Rückführung auf sie, die eine Frage, wie sie sich im Anschluss an unsere These vom personalen Universum mit einiger Wahrscheinlichkeit stellt, beantworten lässt, nämlich ob es nicht stimmiger wäre, meine Rekonstruktion der Personalität Gottes in einem panentheistischen Modell zu skizzieren. Dies ist durchaus berechtigt, insofern meine soziale Gotteslehre davon ausgeht, dass Gott wesentlich als in der Welt handelnd involviert zu denken sei, aber dennoch nicht darin aufgeht, sondern sie und alles andere bleibend transzendiert. Es ist nicht so sehr die Tatsache, dass der synthetisierende Terminus ‚Pan-en-theismus‘ leicht in die Gefahr gerät, zu einer allzu simplen, kaum klärenden Kompromissformel zu werden, die gegen eine solche Titulierung spricht. Meine Bedenken sind eher grundsätzlicher Art. Denn mit dem Ausdruck ‚Panentheismus‘ gerät man erneut leicht ins Fahrwasser einer umfassenden metaphysischen Theorie. Es waren immerhin nicht die schlechtesten Vertreter des Panentheismus, die sehr wohl den Anspruch besaßen, das Verhältnis von Gott und Welt durch ein inklusives Modell umfassend zu beschreiben.36 Im Sinne einer deskriptiv-explikativen religiösen Metaphysik scheint mir dieser Anspruch aber sowohl unnötig als auch 35 EBELING, GERHARD, Zu meiner ‚Dogmatik des christlichen Glaubens‘ (1980), in: Ders., Wort und Glaube, Bd. IV. Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen: Mohr Siebeck 1995, 476–491, 490f. – In dieser Selbstauskunft besteht Ebeling genau auf jenes Zusammenspiel von Hermeneutik und Metaphysik – bei ihm Ontologie genannt, das auch für unsere Ausführungen zentral ist. 36 Erneut ließe sich die Eschatologie als Prüfstein verstehen, an der endgültig offenkundig wird, ob man für eine monistische oder differenztheoretische Modellierung votiert. Dazu nochmals zwei Beispiele aus der jüngeren Dogmatik: Eilert Herms, dessen Gotteslehre selbst einem panentheistischen Modell bei gleichzeitig starker Gewichtung theistischer Motive insofern folgt, als die geschaffene Realität nur in der Realität des schaffenden, personalen Schöpfers ihre Seinsmöglichkeit wie -wirklichkeit hat, muss, um der Wahrung geschöpflich personaler Freiheit im Eschaton willen, seine Eschatologie mit dem paradoxen Satz beschließen: „Gott wartet unbegrenzt auf die Abdankung des Trotzes“ (HERMS, EILERT, Systematische Theologie: Das Wesen des Christentums. In Wahrheit und aus Gnade leben, Bd. 1 §§ 1– 59, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 1168). Paradox ist dies deswegen, weil wenige Zeilen zuvor negiert wird, dass die „Unseligkeit ewig sein müßte oder wäre“ (ebd.). Zur panentheistischen Entfaltung der immanent-trinitarischen Gotteslehre, siehe a.a.O., 637–666, sowie zu ihrer dann nochmals inkarnationstheologisch konturierten Intensivierung: a.a.O., 778– 822. – Etwas anders liegen die Dinge bei Joachim Ringleben. Seine trinitarisch-absolutheitstheoretische Gotteslehre findet ihren expliziten Abschluss erst in der eschatologischen Explikation, und zwar dergestalt, dass er sich darum bemüht, in einer Auslegung von 1 Kor 15,28 – durchaus analog zu Überlegungen von Wolfhart Pannenberg – das ewige Leben als die abschließende Selbstverwirklichung Gottes als „absoluter Subjektivität“ (RINGLEBEN,
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überzogen. Unnötig, weil er zur argumentativen Plausibilisierung der metaphysischen Implikationen, wie sie der jeweiligen religiösen Praxis zu eigen sind, nichts wesentlich Neues bereithält, da deren Explikation entweder auf pantheistischen oder theistischen Prämissen gründet.37 Überzogen, da mit dem Terminus Panentheismus auf ein Programm rekurriert wird, ein metaphysisches System zu extrapolieren, welches sich grundsätzlich und von der religiösen Praxis abgehoben rechtfertigen ließe. Es war nicht zuletzt dies der Grund, warum wir bei der Einführung der Kategorie des ‚Universum‘ darauf insistiert haben, dass mit ihr eine modellhafte Konstellation benannt werden soll, aber nachgerade kein weiterer, davon abzuhebender Aspekt der Realität. Demgegenüber sollte mit Hilfe der metaphysischen Überlegungen von Royce der Überstieg in eine Meta-Theorie vermieden und die Wahrheitsmomente, die durch Kritik an klassisch theistischen bzw. pantheistischen Positionen zur Ausformulierung eines Panentheismus geführt haben, integriert werden. So kann Gott in einem personalen Universum nicht abseits des zeitlichen Prozesses welthaften Geschehens gedacht werden, doch geht er als dessen wesentlicher Interpret nicht in ihm auf, andernfalls würde es keinen Sinn machen, von JOACHIM, Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff (DoMo 23), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 960) zu begreifen: „Als das alles, das er in allem ist, durchdringt Gott die versöhnte und erlöste Welt mit sich selber, und ist in ihr endgültig bei sich – als dem Ort seines Lebens“ (a.a.O., 960). Deswegen sind am Ende auch alle Dualismen überwunden(vgl. a.a.O., 962). Ob aber trotz des Insistierens auf der Unterschiedenheit der erlösten Geschöpfe von ihrem Schöpfer jenen noch irgendeine Eigenart, wie sie ihr individuelles Personsein kennzeichnet, zukommen kann, darf doch gefragt werden. – Demgegenüber muss eine an der unwiderruflichen Individualität personaler Subjekte, und zwar sowohl mit Blick auf Gott als auch auf die Menschen, in Zeit und Ewigkeit festhaltende Eschatologie, sowohl die community-Struktur wie die bleibend prekäre Handlungsmacht der involvierten Instanzen berücksichtigen. Gewiss, auch dies birgt zugegebenermaßen massive Proleme. Um wenigstens einen Hinweis zu geben, wie eine solche, an einer bleibenden Entwicklung und Transformation personaler Identitäten, sowohl Gottes wie der Menschen, festhaltende Eschatologie aussehen könnte, verweise ich auf: FONTINELL, EUGENE, Self, God, and Immortality. A Jamesian Investigation, New York: Fordham Univ. Press 2000, bes. 132–161.200–217. Fontinell bezieht sich dabei auch auf Josiah Royce (vgl. a.a.O., 284, Fn. 48) und dessen christlicher Idee einer, gegenüber dem buddhistischen Ideal herausgehobenen, alle umfassenden ‚community of all mankind‘. Deren ‚eschatologisches‘ Leben realisiert sich in „a complete and conscious personal membership in a beloved community (…) as one endlessly creative and conscious human spirit whose life is to be lived upon its own level (…) and there (…) is to be, in ideal and meaning, no end“ (ROYCE, JOSIAH, The Problem of Christianity [1913]. With the Introduction by John E. Smith and a New Foreword and a revised and expanded Index by Frank M. Oppenheim, Washington D.C.: The Catholic University of America Press, 2001, 195). 37 Ingolf Dalferth hat darauf aufmerksam gemacht, dass der wohl prominenteste Versuch einer panentheistischen Theologie, die sich zugleich als eine soziale Gotteslehre versteht, nämlich die von Charles Hartshorne, nicht zufällig in der (Selbst-)Charakterisierung zwischen „New Pantheism“ und „Neo-Classical Theism“ schwankt. Vgl. DALFERTH, Wirklichkeit (Anm. 4), 262.
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ihm als einem ‚verantwortlichen Gott‘ zu sprechen.38 Es darf an dieser Stelle noch einmal daran erinnert werden, dass sich mit dieser Formel auch Fragen der Theodizee verbinden, die allerdings programmatisch wachgehalten werden müssen, um nicht – wie in den meisten panentheistischen Modellen – vorschnell einer mehr theoretischen Antwort zugeführt zu werden. Auch vor diesem Hintergrund muss ein zeitgemäßer Theismus die Wunde offenhalten oder darf sie jedenfalls nicht leichtfertig schließen wollen, die sich in ihrer ganzen Dramatik und Schärfe allererst im Bewusstsein eines sich bleibend geschichtlich entfaltenden Göttlichen in einer prekären Welt ausbildet. Die Formel vom ‚verantwortlichen Gott‘ als Explikationsmodell der Personalität Gottes macht schließlich darauf aufmerksam, dass selbst noch die theologische Terminologie angewiesen bleibt auf eine konkrete Symbolwelt, in diesem Fall der biblischen Texte und der christlichen Tradition. Diese bleibt zwar polyphon. Doch was in der Sprache der Theologie – keineswegs als Verlegenheitslösung – ‚verantwortlicher Gott‘ genannt wird, kann im Duktus der biblischen Sprachwelt mit Fug und Recht „covenanting God“39 heißen. Insofern Verantwortung bedeutet, Versprechen eingehen und halten zu können, liegt eine Verbindung zum (biblischen) Bundesgedanken nahe. Für ein personales Universum würde das heißen: „Promise or covenant is the ordering principle.“40 *** Theologie ist kritisch-konstruktive Arbeit am christlichen Symbolvokabular. Als solche nimmt sie Teil an den symbolischen Formungsprozessen, die zu einer lebendigen Religionstradition gehören. Insbesondere als Dogmatik hat sie sich an der Polyphonie der christlichen Symbolwelten abzuarbeiten. Dabei beschränkt sie sich nicht auf vorgegebene Symbole und Metaphern, sondern ist um die Fortbestimmung ihres Sinns durch Variation und Modifikation bemüht. Insofern stellt ‚Prägnanzmodifikation‘ nicht nur einen Aspekt der Evolution re-
38 Die Skepsis gegenüber Vermittlungsnomenklaturen, als der u.a. der Terminus ‚Panentheismus‘ bisweilen fungiert, teilen im Übrigen auch neuere prozesstheologische Ansätze. Trotz des Bemühens, die Wahrheitsmomente, welche zu diesem Terminus geführt haben, unter einer anderen Terminologie zu integrieren, votiert daher bspw. David Griffin dafür, eher von einem ‚naturalistischen Theismus‘ zu sprechen. Vgl. GRIFFIN, DAVID R., Reenchantment without Supranaturalism. A Process Philosophy of Religion, Ithaca (NY)/London: Cornell Univ. Press 2001, 169–204. 39 Mit dieser Formel fasst James Fowler die Theologie von H. Richard Niebuhr, die sich zu einer Theologie der Personalität Gottes entwickelt, zusammen. Vgl. FOWLER, JAMES W., To See the Kingdom. The Theological Vision of H. Richard Niebuhr, Boston/London: Univ. of America Press 1974, v.a. 139f.193–196. 40 N IEBUHR, H. R ICHARD, The Idea of Covenant and American Democracy, in: Church History 23 (1954), 126–135, 131.
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ligiöser Symbolwelten dar, sondern benennt präzise eine Aufgabe der Dogmatik. Als solche „kommt [sie] durch Kontinuierungsprozesse zustande, in denen neue Zeichen als Interpretanten die Bedeutung des Zeichenzusammenhanges ändern, zu dem sie gehören.“41 In dem dergestalt mitinitiierten Prozess einer Rekonstruktion und Neubestimmung des Sinns der Rede von der Personalität Gottes lag die Aufgabe dieser Arbeit. Mit der Figur eines ‚verantwortlichen Gottes‘ sollte der Vorschlag unterbreitet werden, den Sinn personaler Rede von Gott darin zu sehen, dass Menschen sich in ihren religiösen Praxisvollzügen und – weit darüber hinaus – in ihrem Alltag als in einen umfassenden Interpretations- und darin eben Verantwortungszusammenhang gestellt wissen. Dergestalt verortet werden sie für sich und andere, und letztlich vor Gott zu Personen. Insoweit wollten die vorangestellten Ausführungen auch der Prägnanzmodifikation dienen: Mit Hilfe der Rede vom ‚verantwortlichen Gott‘ könnte die Bedeutung traditionell personaler Metaphern, Bilder und Symbole für Gott, wie ‚Vater‘, ‚Herr‘, ‚Freund‘ etc. neu für die Gegenwart erschlossen werden. Das aber heißt, sie möchte diese nicht ersetzen. Ohnehin finden alle religiösen Symbole ihre Bewährung am lebenspraktischen Ort der religiösen Interpretation: Als Interpretationsmuster müssen sie Menschen in ihrem situativen Welt- und Selbstumgang orientieren und motivieren können. Demgegenüber kann die systematische Theologie lediglich darum bemüht sein, solche Re-Interpretationen im Lichte des gegenwärtigen Wissenstands und in Kohärenz mit anderen Symbolelementen zu evaluieren42 und sie mit Blick auf die Facetten und Phänomene der Lebensgegenwart hermeneutisch zu erschließen. Dass dabei Fragen offenbleiben, neue Probleme entstehen und an anderen Stellen Grenzen des eigenen Bemühens auftreten, sollte den nicht sonderlich überraschen, der die These vom ‚expressiven Theismus‘ als Resultat einer Religionsphilosophie und Dogmatik der christlichen Glaubenstradition im Horizont von Pragmatismus und Historismus begreift. So negiert die Rede vom ‚personalen Universum‘ auch nicht, die Wirklichkeit in einer anderen als der personalen Perspektive fassbar und beschreibbar zu machen. Im Gegenteil, ohne komplementäre, sachliche und anders nicht-personale Symbolisierungen und Kategorisierungen würde der Blick auf den „dramatischen Reichtum der konkreten Welt“ (W. James) einseitig und verstellt. In diesem Sinne ließe sich der expressive als personaler Theismus auch mit einem nicht-reduktionistischen 41 M OXTER, M ICHAEL, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 389. 42 An mehreren Stellen, insbesondere im letzten Abschnitt der Schlussüberlegungen wurde immerhin versucht, die Eschatologie als eine Grenzreflexion von Konsistenzbestimmungen der Gotteslehre kritisch ins Gespräch zu bringen (vgl. Anm. 36). In der Tat liegen hier, wie im Übrigen auch in einer kosmologisch entfalteten Schöpfungslehre die größten Schwierigkeiten für eine kohärente Fortbestimmung der Personalität Gottes unter denjenigen Vorzeichen, wie sie in dieser Arbeit vorgeschlagen wurden.
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Naturalismus vermitteln.43 Das zu zeigen, bedürfte allerdings einer weiteren umfänglichen Studie. So oder so muss sich auch der vorliegende Vorschlag, den Sinn personaler Rede von Gott zu verteidigen, daran messen lassen, ob seine Argumentationsstränge einigermaßen kohärent zusammenlaufen. Daran hängt letztlich die Rechtfertigung des expressiven Theismus als eine auch gegenwärtig weiterhin mögliche weltanschauliche Position. Dass daraus freilich je und je wieder eine lebendige religiöse Option werden kann, liegt, was dem Theologen wie dem Autor zum Trost gereichen mag, gerade nicht mehr in seiner Verfügungsgewalt.
43 Dass sich auch theistische Weltanschauungen mit einem methodologischen und von daher nicht-reduktionistischen Naturalismus vertragen können, ist eine der überzeugenden Thesen von Matthias Jung: vgl. JUNG, MATHIAS, Science, Humanism, and Religion. The Quest for Orientation, New York: Palgrave Macmillan 2019, v.a. 81–106. – Eine andere Form der Einbeziehung nicht-humaner, naturaler und materieller Dimensionen und Perspektiven auf die Realität findet sich bspw. in Paul Tillichs ‚Theologie des Anorganischen‘. Siehe dazu: DEUSER, HERMANN, Naturalistische Motive in Tillichs Geist-Theologie, in: Ders., Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 123–147.
Literaturverzeichnis Die Kurztitel im Text werden im Literaturverzeichnis durch Kursivsetzung angezeigt.
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Namensregister Amor, Ch. J. 258 Apel, K.-O. 20, 431–433, 451, 452f, 482 Apfelbacher, K.-E. 27 Arendt, H. 335–339, 341, 344, 361 Arens, E. 396 Arndt, A. 14, 495 Aristoteles 359, 361 Asad, T. 158, 166, 168, 184 Assmann, J. 327, 329f, 383, 385, 473f Austin, J. L. 186 Auxier, R. E. 479, 489 Bahr, P. 184 Barbour, I. G. 384f, 386 Barth, K. 249, 393, 399f Barth, U. 206, 291, 420 Bast, R. A. 66 Becker, R. 60f, 140 Bell, C. 166–168 Bellah, R.N. 33, 147, 152, 153, 175, 231f, 236, 237, 239–242, 244, 246, 326 Benedict, R. 288 Bengtsson, J. O. 15 Benjamin, W. 390 Berlin, I. 46 Bermes, Ch. 86 Bernstein, R. 214, 216 Bloch, M. 351 Blum, E. 369 Blumenberg, H. 139, 222, 317, 334, 370, 374, 436 Blumer, H. 171 Boyer, P. 36, 241–243, 245, 325 Bongardt, M. 102, 401 Brandt, S. 172 Breckman, W. 15, 221 Brightman, E.S. 297f Brümmer, V. 262f
Brueggemann, W. 327 Buber, M. 460 Bultmann, R. 258f, 318, 440 Burke, K. 175 Burkard, F.-P. 156 Bush, St.S. 158 Carnap, R. 229 Casper, B. 266–268 Cassirer, E. viii, 33–41, 46–141, 142f, 146, 151, 156, 171, 174, 193, 197, 204, 212, 214, 217, 219, 220, 227, 238–240, 260, 261, 287, 328, 343, 354, 357, 358, 371, 400, 401, 417– 419, 425, 430, 445, 464, 469, 477, Cassirer, T. 113, 117 Castoriadis, C. 211 Claudius, M. 12 Cohen, H. 94f, 105, 107, 136, 380, 424 Collins, R. 165, 169–171 Cordes, M. 293 Coulanges, F. de 165 Croce, P. J. 15 Dalferth, I. U. 207, 209, 429, 430f, 491f, 504 Daniel, J. 459 Danz, Ch. viii, 10 Darwin, Ch. 18, 133 Davidson, D. 146, 229 Descartes, R. 4 Deuser, H. 188, 231, 276, 448, 478, 507 Dewey, J. 20, 40, 88, 138, 197, 203, 214f, 216–218, 220, 286, 364f, 443, 445 Dierken, J. 186, 245, 409, 416, 418, 434, 476 Dierse, U. 491
542
Namensregister
Dilthey, W. 20, 23, 26, 88, 210, 299, 496, 498 Donald, M. 33, 76–78, 238–240, 242 Douglas, M. 145 Dupré, W. 95 Durkheim, É. 34, 40, 95, 144, 146–155, 159, 163, 164f, 168–174, 177, 182, 188–191, 194f, 197, 236, 247, 276, 278, 281, 282 Dux, G. 36, 242–246, 325
Großhans, H.-P. 292f
Fadner, D. E. 488 Falkenburg, B. 86 Ferber, Ch. 362 Feuerbach, L. 89, 105, 240f, 243, 245, 468 Fichte, J.G. 8, 10, 12, 13, 111, 250, 307 Fischer, J. 51, 395 Fontinell, E. 504 Fournier, M. 282 Foust, M.A. 463 Fowler, J. 505 Franklin, B. 85 Frazer, J.G. 277–279 Freud, S. 163, 171, 172, 240f Friedman, M. 51 Fugger, D. 167
Härle, W. 263 Habermas, J. 18, 23, 78f, 131, 149, 176, 179, 234, 352, 396, 407 Hamann, J.G. 12, 46 Hampe, M. 212f, 440, 455, 469 Hardy, A. 276 Harnack, A. von 478 Hart, K. 177 Hartenstein, F. 325, 328f, 371, 377, 381 Hartshorne, Ch. 235. 504 Hartung, G. 52, 365 Harvey, V.A. 245 Hatzfeld, H. 150 Hegel, G. W. F. 14, 56, 70f, 75f, 78, 99, 126, 129, 254, 393, 409, 474f, 493f Heidegger, M. 51, 115, 266f Heiler, F. 263–266, 309, 316 Henrich, D. 2, 6, 8, 256f, 434 Herder, J.G. 10, 45, 46, 51 Herms, E. 228, 477f, 484, 503 Herrmann, W. 305 Hirsch, E. 290, 494f Hocking, W.E. 319 Hoffmann, V. 383, 394, 401f Hubert, H. 282 Hume, D. 9, 60, 161, 437 Humboldt, W. von 46, 66f, 80, 126f, 129 Husserl, E. 70, 119, 266 Hutt, Ch. 364
Geertz, C. 35, 144, 155–164, 167–169, 182–185, 190f, 196, 199f, 220, 234, 281, 340, 358, 375, 435 Gerhardt, V. 84, 124, 130, 217, 367, 424f, 468, Gese, H. 377f Giovanni, G. di 4 Goethe, J.W. von 3f, 117, 135, 309 Goffman, E. 169f Goodman, N. 68 Gräb, W. 155, 237 Graf, F.W. 14, 27 Grant, C.D. 461 Greifenstein, J. 252 Greisch, J. 395 Griffin, D.R. 505
Jäger, Ch. 20 Jacobi, F. H. viii, 1–16, 124f, 223, 293, 392, 495 James, W. viii, 8, 15, 16f, 21–30, 40, 149, 154, 204, 205, 212f, 218, 229– 231, 288, 289f, 296–305, 312, 319, 414, 419–424, 426f, 442, 446, 447f, 455, 456, 466, 469f, 485, 487, 491, 494f, 499f, 507 Jeremias, J. 382 Joas, H. 18, 131, 149, 154, 171, 189, 194, 205, 213, 236, 301, 366 Johnston, M. 499 Jones, R. A. 151, 278 Jung, M. 21, 23, 33, 72, 137, 210, 218f, 299, 443, 502, 507
Ebeling, G. 36, 290, 291, 304–312, 313, 316, 386, 400, 502f Essen, G. 10
Namensregister Jüngel, E. 386, 492 Kant, I. viii, 7, 8, 14, 28, 47f, 51, 60, 67, 129, 130, 135, 136, 210, 231, 248, 250–252, 255f, 299, 407, 442, 463, 492f, 494 Karsenti, B. 154 Kegley, J. A. K. 484 Keller, H. 52, 72 Kierkegaard, S. 271 Kippenberg, H. G. 23 Klein, A. 403 Knöbl, W. 171 Köhler, W. 52 Köpping, K.-P. 220 Kobusch, Th. 1, 228, Koch, O. 6 Koselleck, R. 3, 348f, 351, 356, 366 Krämer, F. 25, 469 Krech, V. 23 Kreiner, A. 2 Kreis, G. 67, Kripke, S.A. 375, 376 Krois, J. M. 48f, 88, 113 Krüger, H.-P. 129 Kumoll, K. 155f LaCocque, A. 377, 378 Lamberth, D. C. 25, 420 Lang, B. 326 Langer, S. K. 53, 126, 184f Leuenberger, M. 324, 377 Leibniz, G.W. 4 Lessing, G.E. 3f, 5, 8, 10 Lévi-Strauss, C. 190, 344 Lévinas, E. 266f Liebsch, B. 397 Lienhardt, G. 191f Lindbeck, G. A. 208 Lonergan, B. 205, 207f Löwith, K. 245 Lotter, M.-S. 177–179 Lübbe, H. 199f Luhmann, N. 145, 203 Lukes, St. 148, 193 Luther, M. 264, 305, 309, 473, 500 MacIntyre, A. 347f, 363 Marett, R.R. 96, 278–281
543
Markschies, Ch. 325 Mauss, M. 148, 191–193, 197f, 220, 223, 236, 281–286, 316f Mead, G. H. 34, 40, 54, 126, 131–134, 171, 197, 198f, 353f, 357, 425, 429, 455, 459, 460, 465 Mendelssohn, M. 10 Meuter, N. 46 Meyer, Th. 95 Meyer-Blanck, M. 289 Michel, J. 340, 449 Moebius, St. 284 Moltmann, J. 492 Momigliano, A. 371 Montaigne, M. de 144 Moxter, M. 65, 75, 77, 109, 111f, 122, 255, 295, 319, 323, 362, 416, 419, 430, 435, 496, 506, Müller, M. 155 Nagl, L. 231 Nagel, Th. 299 Newton, I. 4 Neville, R. C. 188, 276, 407 Nicol, M. 237 Niebuhr, H.R. viii, 40, 381, 400f, 459– 463, 464f, 467, 473, 476f, 479f, 488, 500, 505 Nietzsche, F. 34, 241 Noë, A. 242 Nonnenmacher, B. 251 Oppenheim, F.M. 482 Orth, St. 362 Osthövener, C.-D. 291, 293 Otto, R. 150, 180, 205 Paetzold, H. 106 Paul, J. 6 Pannenberg, W. 2, 30, 145, 312, 393, 402, 440, 503 Pape, H. 431 Parsons, T. 149, 155, 169, 171–175, 185, 199 Peacock, J.L. 173 Peirce, Ch.S. 20, 22, 40, 49, 174, 187, 231, 343, 407, 418, 423, 429–432, 434, 438f, 448, 451f, 455, 459, 464, 477, 482, 486f, 488, 489
544
Namensregister
Pepper, St. 464 Perler, D. 1 Phillips, D Z. 36, 259, 269–273, 315 Pickering, W. S. F. 147, 155, 284 Plaul, C. 210, 498 Plessner, H. 34, 46f Polanyi, M. 22, 196 Polke, Ch. 6, 10, 13, 95, 143, 149, 175, 176, 188, 254, 298, 336, 346, 366, 441, 469, 471, 487, 495 Proudfoot, W. 15, 205, 412–415 Putnam, H. 39, 67, 130, 270, 499 Pye, M. 264 Quine, W.V.O. 230, 276, 286 Rad, G. von 332, 372, 383, 385 Rahner, K. 205 Raiser, K. 465 Raposa, M. L. 486 Rappaport, R. A. 35, 175–181, 187, 190 Rawls, A. W. 153 Recki, B. 55, 83, 88, 130, 139 Rendtorff, T. 418, 475 Richter, C. 57 Ricœur, P. viii, 37f, 40, 234, 315, 326, 335, 340–345, 351, 353, 355–357, 358–363, 365, 369f, 373f, 375, 381– 386, 387–391, 392–395, 397f, 401, 404 Riesebrodt, M. 278f Ringleben, J. 309, 503 Robertson Smith, W. 165 Römer, Th. 324 Rohls, J. 492 Rohs, P. 8 Rorty, R. 347 Royce, J. viii, 39f, 414, 428, 430, 432, 448, 451–460, 462, 463, 465f, 477– 489, 495, 504 Sandkaulen, B. 6, 10, 12f Sass, H. von 259f, 263, 269, 271, 309 Schäfer, R. 248f, 250, 256 Schaeffler, R. 403 Schapp, W. 334 Scheler, M. 114, 260f, 295 Schelling, F.W.J. 9f, 89, 493, 495 Schick, St. 7
Schiemann, G. 435 Schleiermacher, F. D. E. 28, 201, 204– 206, 250, 252–256, 276, 280, 289– 297, 302, 304f, 309, 312, 420f, 465, 469 Schlette, M. 210, 396, 497, 499 Schmid, K. 323f, 384 Schnädelbach, H. 496 Schneider, H.J. 287 Schopenhauer, A. 456 Schramm, M. 48 Schüler, S. 241f Schütz, A. 159 Schwemmer, O. 113, 119, 121, 128, 130 Schwöbel, Ch. 418 Searle, J.R. 186 Seibert, Ch. 16, 24, 197, 296, 301, 500 Seligman, A. B. 184, 200f, 202 Simmel, G. 49, 114–116, 135, 398 Smend, R. 332, 382 Smith, J.E. 217, 431f, 453, 454, 456f, 479, 485 Smith, J.Z. 196 Spaemann, R. 200 Spalding, J.J. 11, 298 Spinoza, B. de 3–7, 12, 442, 493 Spranger, E. 366 Staal, F. 179 Stark, Th. 97, 106, Stoellger, Ph. 376, 378, 381 Stump, E. 257–259 Sturma, D. 353 Sundermeier, Th. 148 Swinburne R. 2, 262 Tambiah, St. J. 186 Tanner, K. 15 Taylor, Ch. 4f, 46, 220, 287, 343, 450, 462, 493, 497 Tetens, H. 498 Thomä, D. 322, 391 Thomas von Aquin 411 Thomas, G. 150, 176 Thörner, K. 297, 299, 303 Tillich, P. 84, 205, 218, 221f, 238, 249, 320, 328, 334, 410–414, 473, 480, 507 Timm, H. 4 Tomasello, M. 54, 78, 133
Namensregister Track, J. 274f Troeltsch, E. viii, 5, 17f, 20, 23, 25–30, 34, 40, 48, 205, 235, 248, 263, 352, 364, 366f, 393, 408, 435–439, 441, 442, 446, 449, 459, 472, 474, 475, 483, 493–495 Tugendhat, E. 45, 256f, 264 Tunstall, D.A. 486 Turner, V. 187, 190 Uexküll, J. von 54 Uffenheimer, B. 327 Ullrich, S. 113, 120, 123 Usener, H. 80, 81f, 96 Vaihinger, H. 487 Voegelin, E. 234, 330–333, 368, 371 Vogl, Th. 55, 97 Vogt, P. 436, 440, 442
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Wagner, F. 494 Weber, M. 147, 156, 160, 163 Weil, S. 266 Weller, R. P. 200 Wenz, G. 312 Wenzel, H. 172 White, H. 346 Whitehead, A.N. 407, 423 Wildman, W. J. 238 Willaschek, M. 230 Wimmer, R. 251 Winch, P. 316 Witte, M. 385 Wittgenstein, L. 207, 232, 259, 261, 268, 269, 270, 273, 277, 286f, 288, 373 Wundt, W. 89, 133 Wuthnow R. 196, 314f, 316
Sachregister Agapismus 464, 476f, 488f Ambivalenz(en) 135–139, 181, 195, 200–202, 390–392 Anthropologie 33, 35f, 140f, 144–146, 228, 305–311 – Kulturanthropologie 47–54, 54–62, 74–77, 93–97, 174–180, 240–242 – philosophische 54–62, 112–120, 174–180 Anthropomorphismus 61f, 140, 238, 240–246, 293f, 310, 325–329, 383, 468f Artikulation 33f, 47, 57, 97, 128, 133, 137, 140f, 172f, 184, 203–209, 209– 214, 317, 344, 354, 358, 388, 415, 490, 502f Atheismus 3f, 10–12, 290, 298f, 411, 492f, 495–499 Ausdruck 33f, 45–47, 50, 57–62, 67–69, 73–78, 93–101, 112, 116–121, 137, 140f, 181, 184, 186, 233f, 236, 247f, 402–405, 467, 502f Basisphänomen(e) 49, 112f, 117–121 Bedeutung 70, 71–76, 79–83, 109–112, 114–117, 122–125, 128–133, 140, 156f, 161–164, 170–174, 176–181, 187, 192f, 215–219, 229–236, 268– 271, 273f, 342f, 359, 385, 406–408 Bedeutungswandel 78, 85, 90, 102–108, 109, 206, 215f, 219–223, 326f, 327, 497 Begriff 1f, 6f, 9–11, 13–15, 55f, 59, 62– 66, 70f, 75, 80–83, 95f, 189f, 232, 242, 304, 328, 368, 376, 420–422, 426, 490–492 Beten (siehe auch Gebet) – als religiöse Praxis 261–272, 276– 281, 300–304
– als sozialer Akt 281–285, 285–289 Bibel 234, 320–329, 367–374, 381–386 Bild 11, 70, 71, 99–101, 102–107, 109– 111, 116, 327–329 Biographie 104f, 219, 234, 338, 344f, 366, 403, 418, 475 Böse (siehe Theodizee) Bund 310, 323, 327, 329, 331–334, 473f, 505 Christentum, christlich 37f, 41, 228, 237, 259, 403, 410, 416, 441, 474, 476–483, 485, 488f, 500f, 505, 506, Christologie 198, 228, 311, 399–401, 477f Common Sense 10, 22, 158f, 162f, 196, 219f, 222, 235 Conditio Humana 45–47, 142f, 144–146 Darstellung 37f, 73–78, 97, 102–106, 108–112, 234f, 320–323, 338–340, 346f, 350–352, 352–358, 361, 362, 389–392, 403, 407, 430, 502 Deismus 4f, 492f, 498 Deuteronomistisch 323, 326, 329 Differenz 6–8, 46, 73f, 109, 112, 116f, 150, 190, 217f, 228, 230f, 254f, 286f, 290–294, 315f, 418, 460, 468, 484, 491, 493, 498, 503f – ~holismus 20f, 58–60, 116, 240 Dogmatik 227–237, 248f, 368, 385f, 409, 489f, 505–507 Drama, dramatisch 95f, 104f, 192, 193, 338f, 344, 361, 372, 383, 485f Endlichkeit 12, 22, 179, 267, 306, 398, 411, 432, 469f, 480, 490, 499 Erfahrung 7, 21, 25, 30, 34–36, 92, 104, 143, 151–155, 162–164, 179–181,
Sachregister 203–209, 209–213, 213–218, 249, 274f, 285f, 300–303, 311f, 330–332, 344, 388, 426–428, 485, – ~skontrolle 188–194 – ~sraum 200–203, 310, 350–352, 355–357 – religiöse 180f, 203–207, 208, 212, 216–219, 295–304, 312 Erinnerung 58, 62, 336, 353–357, 363– 367, 370f, 453, 480f, 485 Erlösung 391f, 446–449, 470–476, 478f, 482f Erwartung 353–357, 361, 363–367, 390f, 480f Erzählung (Narration) 38, 140, 234f, 321f, 334f, 337–340, 343-345, 346– 348, 350–352, 353–362, 368–374, 381, 386, 389–392, 395, 397, 433, 448f Eschatologie 412, 416, 470, 478, 481, 503f, 506 Ethos 107, 144, 150, 159–162, 194–199, 219–223, 247, 323 Evolution 14, 18, 20f, 33, 36, 73–78, 79–83, 131–135, 175–181, 238–246, 282f, 426–428, 464, 482, 486, 505f Expressivismus, expressiv 33, 46f, 57, 119, 128, 140f, 171–174, 184f, 203– 207, 235f, 288, 490 Faktizität 196, 322, 334, 347–350, 360, 362f, 365f, 371–374 – historische 322, 334, 345, 347–350, 371–374, 394 Fiktion, Fiktionalität 322, 334, 344, 347f, 360, 362, 365–367, 371–374, 389f Freiheit 7–10, 13f, 16, 51, 54, 73, 84– 88, 101, 105–109, 136, 137–139, 192, 256, 258, 336, 339, 344, 398f, 401f, 404, 434, 436, 438f, 441f, 443f, 455, 460, 463, 470, 472, 475f, 493, 498, 503f Gebet 36f, 106, 233, 247–319, 321f, 402–405, 433, 441, 450, 467f, 473, 486, 497, 503 – Bittgebet 250–255, 256–261, 313– 319
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Geist (spirit) 2, 12f, 20f, 33, 36, 48f, 50, 66–69, 73–78, 78f, 99, 112–117, 122–125, 127–131, 131–136, 140f, 184, 189, 239, 287, 297f, 400f, 415– 419, 432, 482–489 – Logos-Spirit 482–489 – objektiver 48f, 76, 78f, 89–93, 126f – sozialer 131–135 Gemeinschaft (community) 34f, 39f, 87f, 120, 140, 146–155, 247, 264f, 283– 286, 316–319, 380, 389, 413–415, 428–433, 451–454, 456–458, 459– 464, 466–468, 476–489 Geschichte 37f, 61, 135–139, 147–149, 234f, 237, 243f, 320–323, 327f, 329– 334, 343–345, 346–367, 368–374, 378–381, 387, 392–394, 397–405, 419, 433f, 435, 439–442, 447–449, 453f, 470–476, 480f, 493 Geschichten (siehe Erzählung) Geschichtlichkeit 22, 205f, 266f, 337– 340, 363–367, 374, 419, 447 Geschichtstheologie 37f, 323, 327, 329– 334, 339, 347, 371–374, 379, 381f, 393, 404, 407, 442, 448f, 470-476 Glaube (siehe auch Vertrauen) 9–12, 19, 29, 57, 125, 136, 155, 161–163, 168, 221f, 230, 231, 235f, 247f, 252–254, 257, 259f, 264, 296, 300f, 304f, 311, 315f, 356, 381f, 393, 394, 397, 399, 416, 418, 447, 473, 475, 481, 485, 492, 494, 495, 499–502 Gott 1–16, 102–108, 220–223, 227–237, 240–245, 248–255, 255–275, 289– 311, 311–319, 320–322, 322–334, 367–392, 392–405, 409–419, 420– 425, 436, 438–449, 464–489, 490– 507 – christlicher 202f, 228, 231f, 399– 402, 436, 441, 474, 476–489, 501, 505f – ~esbild 102–106, 180f, 198, 249, 256, 258, 324–329, 384–387, 403, 446f – Eigenschaftes G.s 230, 262, 276, 289–296, 299, 303f, 307–311, 379– 381, 468f
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Sachregister
– geschichtlicher 37f, 233f, 329–334, 360–376, 379–381, 383–386, 393, 397–403, 439–442, 446–449 – personaler 1–13, 16, 36–40, 102– 108, 198f, 202f, 220–223, 227–229, 233-237, 241f, 243f, 247–255, 256f, 259f, 261–266, 273–275, 279f, 293f, 296–303, 305–311, 320–322, 323– 329, 374–381, 381–386, 386–392, 392– 405, 411–415, 415–419, 419f, 422–425, 441f, 464–489, 497f, 503f, 505–507 – trinitarischer 227f, 388, 468, 477– 489 Gotteslehre – Lehre von den Eigenschaften G. 233, 257f, 262f, 289–295, 300, 303, 304f, 307f, 310f, 385f, 468f – pragmatistische 245f, 296–305, 412– 415, 415–419, 464–489 – soziale 413–415, 503, 504 Grammatik 207f, 270–275, 342 – ontologische 271–277, 286–288, 314 Grund (cause), Gründe/(Letzt-)Begründung 6–12, 15, 19, 32, 55, 61, 124, 192–194, 209, 407, 412, 426, 467, 475, 493, 498, 502 Habitualisierung 134, 188, 191, 215f, 232, 235, 388f Handeln, Handlung 7–14, 20, 21f, 33f, 36f, 38, 47, 83–88, 104–107, 119, 123, 126–131, 131–135, 142f, 164– 175, 182–185, 185–188, 196f, 203f, 213–218, 241–243, 272–275, 280– 286, 286–289, 291, 295, 296, 297– 299, 312–319, 334–340, 340–345, 348–352, 358–362, 363, 381–392, 415–419, 424f, 443f, 448, 455f, 458– 464, 462, 469f, 475, 489, 500 – rituelles (siehe Ritual) – soziales (siehe social act) – ~swelt 16, 170f, 182, 196, 361f, 387, 391–393, 424f – Raum von Handlungen 12, 14, 16, 185, 243, 332, 336, 340–345, 386, 394, 415–419 Handlungsgegenwart 13, 313f, 335, 337, 357, 365, 388
Handlungstheorie 41, 52f, 233f, 335, 340–345, 356f, 360, 415–419, 459– 464 Hermeneutik 17, 24–26, 41f, 54–57, 61f, 157f, 209f, 220f, 227–237, 261, 272f, 314, 334f, 340–345, 347, 368–374, 376, 381–385, 393f, 404f, 416, 460f, 502 Historie, historisch 61f, 147f, 329–334, 344, 347–358, 360–362, 362–367, 368–374, 394, 398 Historiogenesis 234, 329–334, 345, 368 Historismus 17–23, 25–30, 37f, 40f, 62, 125–127, 135–139, 204, 209f, 213– 217, 230, 366f, 435f, 506 Humanität 11, 13f, 51f, 106f, 121, 139, 146, 335f Ideal, Idealbildung 114–117, 142, 146– 155, 164f, 169, 171, 182, 194–199, 219–221, 303, 389, 433, 447–449, 473–476, 489, 497 Idealismus 6, 11, 13, 18, 89, 299, 411f, 420–423, 493f, – symbolischer 113, 122–125 Identität 38, 63f, 99, 105, 134f, 165, 234, 321f, 337–340, 343–345, 367f, 374–377, 386–392, 392–405, 431, 433, 450, 457f, 462, 470, 479 – narrative 337–340, 386–392 – personale 386–392, 392–405, 470, 479 Individualität 4, 8, 16, 104f, 136, 193, 221, 235, 321, 335, 349, 374, 396, 424, 438, 443, 457, 469f Interaktion (siehe auch Handeln) 14, 35, 126, 131–133, 169–171, 182, 325, 418, 432, 445, 465, 467–470, 489 – rituelle 168–175 – soziale 171, 241, 419, 431–433, 452f, 458f Interpretation 39f, 156, 160, 171, 174, 208, 213, 218, 222f, 235, 312, 319, 342f, 347, 363, 373, 389, 393f, 398f, 413–415, 428–433, 450–464, 475, 476–489, 497, 502f, 506 – community of 40, 452f, 456f, 478, 489 – will to interpret 456f, 463, 486–488
Sachregister Interpretationsprozess (siehe Zeichenprozess) Interpreten 235, 364, 431f, 450, 452– 454, 454–464, 472, 476, 478, 480– 489, 502 – community of 452f, 480–482 Interpretieren (siehe Interpretation) – symbolisches 450 – verantwortendes 458–464, 481 Inter-Subjektivität (siehe auch Sozialität) 13, 23, 58, 61f, 70, 78f, 121, 126f, 129, 131, 132, 134f, 185f, 206f, 235f, 288f, 425f, 428, 451 Institution(alisierung) 25, 87f, 145, 162, 198f, 235f Jesus Christus 214, 317, 399–402, 477f, 483f Judentum, jüdisch(-christlich) 37, 94f, 107, 244, 264, 309f, 316f, 320f, 346, 372f, 377, 403, 436, 440f, 442 Kanon, kanonisch 37, 177, 187, 234, 317, 321–323, 326, 328f, 331, 333f, 367–374, 377, 381–386, 441 – ~e Endredaktion 322f, 328 Kognitiv 76f, 79–83, 171–174, 176, 188–194, 240–245, 247, 277f, 285, 287f, 298, 301, 355f, 385, 395f, 429, 456, 495f Kollektiv(bewusstsein) 146–155, 165, 168–171, 181–191, 200–203, 281– 286, 355–357 Konfiguration 314, 321, 334, 345, 351, 353, 386–392 Kontinuum 20f, 46, 240, 244, 300, 327, 330–332, 403f, 423–425, 426, 445, 447, 454, 455, 459, 466f, 470 Kontingenz 15, 19f, 22, 34, 40, 48, 126, 135–139, 159f, 199-203, 208–213, 216–218, 235, 255, 270f, 289, 295f, 318, 330, 332, 338, 339, 352, 359, 362–367, 374–376, 390–392, 399, 401–404, 419, 433–449, 452, 456f, 459, 461f, 470–476, 502 – bearbeitung 160, 190, 199–203, 396f, 438f, 445f – empathische 190, 199–203 – historische 135–139, 209f, 362–367,
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396f, 399, 401–404, 438f, 439–443 – qualitative 144, 209–214, 216–218, 443–449, 455 Kontrafaktizität, kontrafaktisch 199, 201, 255, 295, 372f, 391f, 476 Kosmos 56, 58, 82, 93, 107, 140, 162, 331, 428, 435, 475, 482, 506 Kreativität 116, 128, 134f, 136f, 138, 201, 207–209, 213, 396f, 419, 423, 441f, 433–435, 438f, 443–449, 457, 461, 464f, 470, 475, 487 Kultur 20–22, 33f, 36, 45–62, 66f, 69– 79, 79–88, 90, 108–110, 113–117, 120, 121, 123, 125–131, 135–139, 139–141, 142–146, 155–164, 174, 182f, 217, 238–240, 242–246, 286, 359, 389, 429–432, 444f, 451, 475, 496 – als objektiver Geist 20f, 29f, 55–57, 69–73, 78f, 85–87, 89–92, 122–125, 126f, 242 Kulturphilosophie 49–54, 57, 65f, 123, 125–127 Kulturtheorie 48–62, 113, 119, 129, 140f, 174, 206, 245f Leben 10–13, 45–47, 69f, 112–117, 117–121, 122–125, 129f, 170f, 173, 305f, 311, 429–431 Lebensform(en) 15f, 22, 39, 45f, 78f, 89–93, 98–100, 101–108, 157, 159, 207f, 232f, 247, 257, 259f, 268–271, 272f, 274, 286–289, 439f, 449, 500f Lebenswelt (siehe auch Common Sense) 10, 15f, 21–23, 49, 83, 89–93, 133f, 152, 158f, 163, 181f, 191, 200, 220, 222 Liturgie 173, 176f, 180, 202f, 231f, 237, 289, 320, 323, 403f Loyalität (loyalty) 39, 323, 463f, 467, 476f, 478–482, 484–488, 500f Macht, Mächtigkeit 42, 96f, 149f, 153f, 158, 164, 165–168, 200, 243, 257f, 279, 280, 287, 292, 298–301, 306, 324, 399, 401f, 411, 420, 423– 425, 427, 440f, 450, 472–474, 484, 485, 503f Mana 96, 97, 153f, 279
550
Sachregister
Meliorismus, melioristisch 38, 419, 433f, 442, 443–449, 470–476, 479, 488 Mensch (siehe auch Anthropologie) 22, 33f, 39, 45–54, 55–57, 69–73, 85, 90, 102–108, 113–117, 125–127, 129f, 131–135, 139–142, 144–146, 147– 149, 151, 156, 162f, 163f, 170, 175– 179, 214, 238–242, 266–268, 273, 276f, 297f, 305f, 308–313, 317f, 321, 327, 331, 334–340, 343, 346–348, 351, 355–358, 391f, 395f, 401f, 411f, 416, 424, 427, 429, 431f, 444f, 447, 449, 450, 451, 452, 462, 468f, 470, 473, 475f, 478f, 480f, 483f, 488f, 490, 497f, 500–502 – als ‚betendes Tier‘ 144, 276f – animal symbolicum 33, 47–54, 78f, 120, 125–128, 140f, 157, 451 – homo articulans 33f, 45–47, 125– 127, 140f, 451 Metapher 54, 83, 189, 222, 259, 320f, 324–329, 368, 376, 384f, 464, 477, 506 Metaphysik 1–4, 6f, 12f, 27–29, 36, 38– 40, 112f, 117–125, 204, 231, 242, 259, 264f, 286–288, 289, 290, 294– 296, 407f, 414f, 448, 464–466, 478f, 488f, 491–499, 502–505 – hypothetische 20, 38f, 231, 407f – der symbolischen Formen 49, 112f, 115, 117–121, 123, 132, 486f Mimesis 77, 358–362 Monismus 3f, 7, 14f, 242, 244, 246, 254, 293f, 310, 412f, 414, 422, 424, 466, 470, 474, 493f, 498, 503f Monotheismus 102–108, 111, 150, 227f, 241, 243f, 266, 309f, 323–327, 330, 332f, 380, 385, 412, 423f, 473f Moral, moralisch 94f, 107, 121, 146– 155, 169f, 174, 194–199, 201f, 222f, 250–252, 327, 439, 493 Mythos 74f, 78–93, 94–108, 108–112, 138f, 140f, 142, 146, 151, 190f, 234, 276f, 282f, 320f, 334, 344f, 355f, 361, 367f, 368–374 Mythospekulation 329–334, 368
Name 80f, 105, 193, 223, 274, 288, 317, 321, 328, 367f, 374–381, 383, 385f, 387, 389, 402f – Eigenname 105, 274, 375f, 376 – Gottes 374, 376–379, 380f, 383, 387, 402f Natur 7, 10f, 20f, 48, 56–62, 69–73, 116f, 217, 243f, 286, 430f, 434, 435, 437, 438–442, 444f, 459, 461 Naturalismus 13f, 15, 18, 170, 230, 238, 240–246, 299f, 486, 495–498, 499, 505, 507 Naturwissenschaft 4–6, 15f, 18f, 57–61, 62–66, 92f, 243–245, 298, 495 Neuheit (Novelität) 135–139, 207–213, 342, 365, 438f, 442–444, 445, 461, 471f, 485f Offenbarung (Manifestation) 38, 71, 307, 321f, 331–334, 339, 370, 377– 381, 382, 392–394, 397–402, 475, 487 Ontologie, ontologisch 49, 113, 118f, 230f, 238, 250f, 267, 272–275, 276f, 281, 285, 286–289, 301f, 304, 308– 310, 313f, 319, 327, 330, 332, 354, 376, 411f, 414, 422f, 502f Ordnung (als Regel, Konstellation, Modell) 4f, 53f, 63f, 66, 72, 81f, 90, 104, 139, 153, 163, 165f, 169, 176– 181, 195, 197, 210–213, 236, 287, 309, 330–333, 355, 364f, 369, 408, 422f, 434, 437f, 452f Orientierung 46, 74f, 83, 85, 90, 153, 159, 178f, 269f, 273, 355–357, 361, 363, 375, 387 Pantheismus 3–6, 10, 254, 293f, 421, 441, 493f, 498 Panentheismus 494, 503–505 Performanz, performativ 35, 37, 166, 171, 177–181, 185–188, 202, 217f, 234, 245, 281, 285, 313–317, 417f Person, Personsein, Personalität (siehe auch Gott, personaler; Identität, personale; Selbst) 1–16, 21f, 37–40, 59f, 88, 98f, 102–108, 119–121, 173, 189,
Sachregister 192f, 197f, 202f, 219–223, 233–236, 241f, 256f, 335–340, 352–357, 365– 367, 374, 375, 386–392, 392–399, 401f, 406f, 414f, 417–419, 431f. 443–445, 449f, 454–464, 464–470, 475f, 476f, 479–489, 493f, 498, 500f, 503f Personalismus 15f, 37, 154, 235f, 297, 322–329, 334, 382f, 406f, 420, 441, 467, 491f, 501 – biblischer 322–329 – dialogischer 460f, 467, 501 Perspektive(n) 1, 7–9, 15f, 21f, 24, 30, 55f, 59f, 68, 82, 119–121, 132f, 144, 162–164, 167f, 217–219, 287, 302, 340f, 354, 364, 404f, 409, 424–427, 432f, 449, 450, 456, 465f, 468, 475, 486, 492, 496, 499, 506f – Wirklichkeits- 15f, 55f, 82, 228, 245f, 301f, 404f, 406–409, 426f, 428, 432f, 466, 492, 496, 506f Prekär 34, 126, 134–139, 178, 182, 189f, 192, 200f, 210–213, 217, 222f, 352, 359f, 362–367, 391f, 394–397, 397, 422, 443, 445–449, 461, 506 – ~e Wirklichkeit (Geschichte) 135– 139, 210–213, 217, 233f, 362–367, 391f, 443, 445–449, 506 Phänomenologie 90, 91, 99, 119, 123, 211, 263–268 Physiognomie 72f, 80, 93f, 94–101, 108, 305 Pluralität 21f, 62, 68f, 75f, 77f, 168, 200, 207, 211, 234, 244, 296, 335– 340, 372, 385f, 408, 419f, 422f, 424, 425–433, 446f, 457, 466–470, 488 Pluralismus 21, 31, 201f, 319, 420, 427f, 439f, 442, 488, 499 Pneumatologie 39f, 409f, 415–419, 477f, 482–489 Pragmatismus 13f, 17–23, 29–31, 32, 34, 38, 40–42, 45, 125–131, 155, 188f, 197, 204, 209f, 212–219, 229– 232, 245f, 276, 319, 353f, 407, 409f, 412–415, 425, 432, 437, 448, 459, 488f, 506f Praxis (soziale) (siehe auch Religion als kollektive Praxis; Ritual; social act) 16, 21–23, 33f, 66f, 88, 113, 119,
551
120f, 126, 128f, 148, 168–175, 281– 286, 288f, 388f, 395f, 429f, 449f, 452 – Kultur als 33f, 66f, 88, 113, 120f Problem(lösung) 1–3, 17–23, 34f, 56, 79, 83f, 86–88, 134f, 158–160, 178, 188–190, 197, 202f, 214–216, 222f, 229, 365, 371, 444, 485f, 487 Purpose (vage Absichtlichkeit) 8, 297, 444f, 455–457, 461–464, 472, 475, 489 Reaktion(en/-sfähigkeit) 50, 52, 58, 130, 132–134, 183, 185, 189, 213f, 215, 217, 219, 288, 295, 300, 302f, 314– 319, 337, 349, 455, 459–461, 488 Realismus 9, 22, 67, 119f, 122–125, 130, 203, 208f, 209–219, 229f, 230, 274, 287, 288, 298f, 313, 425 – interner 67, 119f, 130 Realität (Wirklichkeit, Wirklichkeitserkenntnis) 4, 9f, 12–16, 17, 19–21, 22, 25, 28, 29f, 34, 36–39, 48, 54–56, 58–66, 66–69, 72f, 78f, 81f, 83, 85, 90, 94, 98, 100f, 116, 119–121, 122– 125, 129–131, 136, 138f, 140f, 146, 150f, 154f, 155, 159–161, 170f, 177f, 181–185, 194f, 198–203, 208–219, 222, 228–231, 233–237, 238, 239, 240, 241f, 245f, 247f, 260, 263, 270– 275, 285–289, 292, 294f, 299, 301– 303, 307, 312, 315, 318, 321, 328f, 333, 339, 344f, 352–357, 379, 384– 386, 396–399, 401f, 404, 414, 418, 419, 420–433, 435–440, 443–449, 451, 459, 464f, 466, 469, 470, 472, 477f, 482f, 485f, 486, 487–489, 490f, 493–495, 496, 498, 502f, 503, 507 Reihenbildung 63–66, 69, 122f Rekonstruktion 24f, 41f, 216–218, 222, 228f, 236f, 248, 290, 328, 358–367, 369, 373, 389–391, 403, 448, 471 Religion 15f, 23–31, 33-37, 45f, 71, 93– 112, 136, 140f, 142–164, 175–181, 184f, 194f, 199f, 200, 203–209, 217f, 228, 233, 238–246, 247, 260f, 263– 265, 276–286, 291, 296, 299, 300f, 303f, 312, 314, 413, 445f, 470f, 479f, 486, 496 – als kollektive Praxis 146–155
552
Sachregister
– als kulturelles System 155–164 – als Selbstbewusstsein der Kultur 108–112, 217 – als symbolische Form 93f, 101–112, 145, 445f, 479f Religionsgeschichte 23, 28f, 57, 80, 102–104, 106, 109, 142, 147f, 190, 220, 263–265, 272, 279, 282, 323– 325, 326–328, 332, 377, 403, 436 Religionskritik 33, 35, 36, 60, 140f, 144f, 146, 238–246 Religionsphilosophie 1f, 5, 23–31, 32, 56, 94, 111f, 143, 231, 232, 250–252, 257–260, 261, 273–275, 409–415, 420, 466, 479, 491–494, 506 – analytische 2, 257f, 261–263, 491, 492 – empirisch gesättigte 23–31, 143, 232 – historistisch-pragmatistische 18–23, 23–31, 143, 232 Religionstheorie 105, 144–164, 171, 180, 188, 189, 199, 203–209, 213– 218, 247, 420, 448, 465, 470–476, 479 Religiosität (personalistische) 11–13, 24f, 26f, 142f, 143, 145, 145, 175, 205f, 247, 265, 300f, 303, 313, 489f, 499–501 Repräsentation 64, 67f, 72f, 75, 76, 121– 125, 132, 153, 236, 238–240, 363, 430 Ritual (Ritus, Kultus) 34f, 87, 97, 99f, 106, 139–142, 143, 151–155, 159, 161–164, 164–181, 181–203, 216218, 247f, 260, 274f, 277–279, 283f, 320, 343, 473 Ritualisierung 143, 165–167, 167, 175, 185–188 Ritualtheorie(n) 35, 151–155, 174–181, 181–188, 188, 198–203, 276–280 Routinierung 86, 187f, 191, 195, 215f Sakral 83, 96f, 102, 150–154, 159, 165, 170, 176, 178–181, 190, 194f, 284, 285f, 288 Selbst (siehe auch Person) 4–10, 12, 14– 16, 20, 39f, 45–49, 51f, 61f, 77–79, 85, 93f, 98f, 105f, 123–125, 131– 135, 152, 173f, 210, 211f, 216f, 233f,
266–268, 270f, 296f, 301–303, 312, 315, 321f, 344f, 347, 376–378, 388f, 392–397, 401, 409–415, 416–419, 421, 429, 433, 450f, 452, 454–458, 463f, 468f, 469, 475–477, 479, 487f, 490 Selbstbewusstsein 77, 102–104, 107, 124, 126, 157, 204–206, 290f, 296, 429, 432, 456, 457, 485 Semiotik (siehe auch Zeichenprozess) 157, 174, 187, 209, 231, 432, 451453, 455, 486 Singularität (Einzigkeit) 227f, 235, 309f, 349f, 374, 380f, 424, 469f Sinn, sinnhaft 30, 47, 49, 51f, 56, 65–67, 69–73, 78, 85, 94, 96, 109f, 110f, 111f, 114–118, 124, 136, 146, 156– 161, 172–174, 176–179, 181, 185, 187f, 199f, 201–203, 211f, 216–218, 229, 231, 287, 334f, 337, 340–345, 348f, 352, 358–361, 362–367, 373f, 385f, 393f, 397–399, 409, 411, 425f, 445, 475, 489 – ~konstitution 179, 340–345 Sinnlichkeit 67, 69–73, 110f, 112–118 Situation/Situativität 21–23, 34, 37, 53f, 74, 76, 81, 83, 92, 94, 100f, 132f, 137f, 164, 166, 168–171, 172, 181f, 189f, 192, 199–203, 208, 213–218, 222, 229, 235, 267f, 274f, 286–288, 305–307, 310f, 315, 315–318, 352, 357, 361, 365, 371, 379, 386, 388, 396, 433, 443f, 454, 456, 460–464, 467, 490, 499f, 502 506 Social Act (soziales Handeln) 157, 168– 175, 281–286 Soteriologie (siehe auch Erlösung) 447f, 470–473, 480–482, 487, 489 Sozialität 39, 128, 151–154, 169–171, 177, 186f, 302f, 355, 374, 378–380, 414f, 419–433, 451–454, 456–58, 460, 465, 466–470, 478–485, 487– 489 Sozialwissenschaften (Sozialtheorie) 146f, 157f, 163f, 171f, 234 Sprache/Sprechen 45, 54, 66f, 71, 75, 78–85, 87, 104f, 121, 126–131, 177– 181, 186, 192, 207, 210–213, 232, 252, 266, 268–271, 272, 279, 282,
Sachregister 286–288, 306–311, 314, 335–337, 342f, 344f, 348f Subjektivität 10, 65, 89f, 128, 131, 144, 204–207, 244, 245f, 252, 256, 291, 294f, 409, 434, 503f Sünde, Schuld 107, 136, 318, 391f, 441, 444, 446, 472, 476, 478, 481, 483 Supranaturalismus 5, 8, 238, 257, 494, 498 Symbol, symbolisch 22, 32f, 48–54, 57f, 62–66, 69–73, 78f, 80–83, 94–101, 104, 108–112, 114–118, 120, 122– 127, 131–134, 139–141, 146, 153– 155, 156–164, 167f, 169–175, 181– 186, 189–191, 194, 201–204, 206, 208–222, 234–237, 238–240, 241, 242, 245f, 247, 248, 260, 261, 272f, 274, 287–289, 312, 316, 320f, 328– 331, 333, 340, 342f, 355–360, 363, 368–370, 383f, 411f, 414f, 416–418, 425, 427f, 430, 449–451, 489, 490f, 502, 505–507 – symbolische Form(en) 33, 48f, 54– 62, 62–69, 73–78, 89f, 93f, 112, 127–131, 137–139, 146, 188f, 191– 193, 287, 352, 367, 401, 406, 408, 445f – symbolische Formung 33, 85f, 88f, 91f, 98, 100f, 117, 128, 134–138, 140, 146f, 194f, 203f, 211–213, 217f, 401, 449 – symbolische Funktion(en) 33, 36, 73–78, 116f, 140, 239f – symbolisches Handeln 142f, 152f, 156, 165, 168–175, 176–178, 188, 201–203, 216, 275, 279f, 283, 406, 418, 444, 451 – symbolische Prägnanz 33, 48, 49, 69–73, 74, 82, 112f, 182, 189, 216f, 275, 304, 416f, 506 – symbolische Tätigkeit (symbolic action) 168–175, 191f, 335 – symbolisches Vokabular 34f, 37, 182, 201f, 205–207, 210–213, 214– 216, 219–223, 242, 272, 284f, 308, 315, 324–326, 413, 451, 505 Synechismus 423, 434, 466, 488 System(denken) 3f, 5f, 12, 13f, 65, 75, 412, 493–499, 503f
553
Tabu 97, 150f, 162, 194 Taxonomie 35, 222, 227–237, 321, 324– 329, 406 Technik(en) 15, 18, 76–78, 78f, 83–88, 130, 188f, 238f, 283 Teleologie, teleologisch 75, 85, 185, 196f, 244, 265f, 285, 296–299, 352, 356f, 357, 363, 442, 471, 472, 488f Text 234, 334f, 339–345, 348–350, 374, 387f, 392, 393, 396, Theismus 2f, 5, 8f, 10f, 32, 40, 93, 108, 227f, 235–237, 248–263, 289f, 296– 304, 309, 400, 406–408, 412, 413, 436, 442, 446, 466, 469, 471, 487, 490–505 – definitorischer 2, 262 – expressiver 33, 40, 46, 93, 108, 141, 172, 219–223, 233, 235–237, 238, 406–408, 476, 399–505, 507 – personaler 249–251, 256, 269, 289, 295, 296–304, 466, 471, 507 – (doppelte) Krise des 248–255, 255– 260, 289, 305, 309 Theodizee (das Böse) 104, 136, 258, 295, 329, 439, 444–446, 449, 483, 487, 488, 505 Theologie 1, 5, 9f, 14f, 19, 23–31, 35– 38, 41f, 110f, 143, 193, 205, 209, 218, 222, 227–237, 240, 248–250, 261, 289, 407f, 409–415, 416, 440f, 491–496, 505–507 Transzendenz 8f, 102–104, 112, 115, 117, 150, 180f, 186–188, 195f, 217, 267f, 292f, 323, 326f, 332f, 368, 372f, 380f, 386, 417f, 424f, 489 – immanente 65, 109, 489 Transzendierung 77, 93, 101–108, 152, 201, 266 Trinität, trinitarisch 2, 37, 227f, 249, 307, 310f, 311, 388, 416, 468, 493, 498, 503f Tychismus 434, 437, 470, 488 Universum 4f, 19, 38f, 120, 139, 233, 263, 300, 303, 414, 419–425, 432f, 437–439, 448, 452, 457f, 488f, 501 – als Konstellation 414f, 419–425 – melioristisches 38, 433–435, 442, 443–449, 470–476
554
Sachregister
– pluralistisches 38, 419f, 425–428, 428–433, 466–470 – personales 38, 233, 235, 327, 406– 408, 449f, 458–464, 464–466, 476– 489, 503–505 Unmittelbarkeit 115, 204, 206–209, 209–214, 301, 308 – vermittelte 212, 393 Ursache/Urheber(schaft) 6–13, 56f, 107, 241, 250, 292, 359, 375, 388, 492f Verantworten 39f, 338, 391f, 420, 439, 449f, 458–464, 476f, 480–482, 487– 489, 501 – Interpretieren als 39f, 367, 419, 449f, 458–464, 467, 476f, 480–482, 487– 489 – als Rechenschaft abgeben 195f, 338, 394–397 Verantwortung, verantwortlich 13, 21f, 37, 39f, 42, 45f, 107, 136, 195f, 223, 266f, 273, 306, 310, 317–319, 322, 334, 336–338, 344, 367, 389, 391f, 394–397, 399–401, 401, 419, 460– 463, 467, 481, 487 – als Responsibilität 476–489 – ~er/s Gott/Selbst 40, 322, 419, 464– 466, 476–489, 505f – ~szusammenhänge/konstellation 235, 317–319, 394–397 Verhalten 20, 39, 52, 130–132, 169, 189, 196, 210, 213f, 297, 429, 437 Verrat 391, 395, 476, 481, 483, 487 Versprechen 338, 356, 391, 396, 505 Vertrauen/Treue (siehe auch Glaube) 182, 252f, 262, 380, 381, 391f, 395– 397, 446, 447, 463f, 472f, 473f, 476f, 485, 487f, 499–501 Wahrnehmung 19f, 58–60, 69–73, 93, 94–98, 125, 133, 136, 184, 298, 373, 429 Welt 3–5, 19f, 39f, 58, 63, 90, 114f, 120f, 209–213, 228, 235, 253–255,
290–295, 300–303, 308–310, 317, 397f 409, 415, 420–425, 432f, 458, 467f, 469f, 484–486, 488f, 493, 499, 501, 503f – als Ort (Kontext) 290–295, 300–303, 308–310, 325, 379f, 409–411, 419, 493f, 501 Weltsicht 69, 93–101, 150, 161f, 248, 330, 346, 371f Weltanschauung 13f, 19, 32, 40, 122, 159f, 230, 298–300, 496–499, 501– 504, 507 Wert, Werthaftigkeit (evaluativ) 25–29, 39, 53f, 56, 71, 73, 93, 96f, 135, 137, 148–155, 170–174, 178f, 182, 192f, 193–198, 201f, 220f, 223, 228, 235, 236, 246, 257f, 281, 283, 317–319, 352f, 356, 356f, 365, 387, 389f, 439, 443–449, 455–457, 460, 461–464, 471, 472–476, 479f, 485, 487, 488f Wirklichkeit (siehe Realität) Zeichen 49, 52f, 53, 64, 66–68, 72, 74, 81, 85, 92f, 108f, 112, 155, 173f, 187, 210–214, 343, 418, 429, 431, 451–455, 485f, 506 Zeichenprozess 174, 347, 417–419, 428– 433, 451f, 453, 454, 455, 457f, 459, 462, 476–478, 477f Zeit 7f, 38, 65f, 219, 234f, 266f, 306, 323, 327–332, 346–358, 363–367, 369–373, 419, 427f, 436–439, 440f, 451–458, 469–476, 481, 488f, 503f – historische 352–358 – kalendarische 355 – personale 433f, 451–458 Zeugnis 9, 38, 321f, 338, 344, 349f, 351, 360f, 366, 391f, 392–402, 476 – Bezeugen 234f, 322, 392f, 395f, 395– 398, 402, 450, 463f, 476 – Selbstzeugnis 234, 400 Zweck 84, 88, 130, 135, 168, 194–197, 285, 297, 299, 337f, 352, 439, 442, 444–449, 456, 458, 461f, 480
Bibelstellenregister Genesis 3,9 Exodus 3,6 3,14ff. 3,14
1–2 Chronik
383
2 Chronik 36
383
Nehemia 8
383
Matthäus 6,9–13 6,9 6,33
320 317 468
Markus 14,36 par.
318
Lukas 11,2–4
320
Johannes 6,35 8,12 11,25f. 14,6
377 377 377 377
318
15,2
377 332 376, 377, 378, 379, 380, 381, 402 403
2 Könige (2 Kön)
383
Psalter 78 94,9 105 106 118 135 136
403 328 403 403 403 403 403
Proverbia 8
323.385
Jesaja 44,6ff. 45,1–7 45,5ff. 45,5f.
368 324 368 324
Apostelgeschichte (Act) 17,23 4 Apokalypse (Apk) 22
383