Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit: Phänomenologisch-hermeneutische Untersuchungen nach Merleau-Ponty, Ricoeur und Waldenfels 9783495818220, 9783495488225


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit
2. Zur Rede von Gott
3. Die christliche Rede von Gott
4. Überblick über den Verlauf der Argumentation
1. Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus
1. Unterschiedliche Deutungen der paulinischen Rede von Gott
2. Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung
3. Die Rede von Gott als Auslegung von Texten
4. Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft
Exkurs – Der frühe Karl Barth
2. Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen
1. Bemerkungen zur theologischen Weltdeutung in der Patristik
2. Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter
3. Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften
1. Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen
2. Die Naturwissenschaften als Kritik der traditionellen Metaphysik
3. Die Naturwissenschaften als Grundlage für Weltanschauungen
4. Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie
4. Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins
1. Skeptische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivierung
2. Anmerkungen zum Begriff des Subjekts
3. Das Selbstbewusstsein in der Theologie: Friedrich Schleiermacher
4. Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: Ulrich Barth, Wilhelm Gräb
5. Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher
6. Zur Bedeutung des Individuums bei Ulrich Barth und Wilhelm Gräb
7. Zur Kritik des Begriffs des Individuums in der Theologie
5. Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit
1. Der philosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty
2. Die Phänomene des Leibes
3. Die Erscheinungsweisen des Leibes
4. Der Chiasmus als Schema
5. Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus
6. Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus
7. Der Chiasmus in genetischer Lesart: Zur Entstehung von Ordnung
8. Reentry: Die Verortung des Schemas des Chiasmus in der Erscheinungsweise Kulturg
9. Merleau-Ponty und der Gedanke der Inkarnation
10. Zur Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit
6. Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur
1. Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: eine Hermeneutik der Spannung
A. Das verletzte cogito: Zwischen Phänomenologie und Hermeneutik
B. Die Methodenvielfalt der hermeneutischen Untersuchungen Ricœurs
C. Spannungen in hermeneutisch erschlossenen Strukturen
2. Der theologische Denker Paul Ricœur: An den Grenzen der Hermeneutik
3. Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott
A. Zum Umgang mit dem Absoluten
B. Die Rede von Gott und die Vielfalt der Texte
C. Zu den Metaphern
D. Zu den Gleichnissen
E. Zu den Grenzausdrücken
4. Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott
A. Kontingenz der Rede von Gott nicht nur ein neuzeitliches Phänomen (mimēsis I)
B. Kontingenz in der Rede vom Kreuz (mimēsis II)
C. Kontingenz in der Wirkung der Rede von Gott (mimēsis III)
D. Kritik an Versuchen, die Kontingenz zu umgehen
E. Zu den Grenzen geschichtlicher Vermittlung
5. Kritische Bemerkungen zur Hermeneutik von Paul Ricœur
7. Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X
1. Die radikale Deutung der Erscheinungsweise X: Das Zentrum des Chiasmus
2. Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt
3. Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation
4. Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott
5. Die Rede von Gott als Quelle von Kritik
A. Die inhärente Kritik der Rede von Gott
B. Grenzen der Kritik im interreligiösen Dialog
C. Ist ein beliebiges Zeugnis möglich?
D. Problematische theologische Begriffe
8. Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X
1. Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels
A. Eine Phänomenologie der Responsivität
B. Phänomene im Übergang von Pathos zu Response
C. Die Sonderstellung des religiösen Pathos: die radikale responsive Differenz
D. Die Response als Erschließung der Erscheinungsweise X
E. Die Response als Hyperphänomen
2. Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe
A. Pathos und Response als Deutung der Fundamentaldifferenz
B. Grenzausdrücke als Response-Phänomene in der Rede von Gott
C. Das Reich Gottes ist nah und gegenwärtig
Das Reich Gottes ist gegenwärtig
Das Reich Gottes ist nah herbeigekommen
D. Das Reich Gottes als tragender Grund
Das Reich Gottes ist nicht hier oder da
Das Reich Gottes ist mitten unter euch
E. Gott im Himmel
Exkurs: Der Chiasmus als Deutung der Zwischenleiblichkeit
F. Gott als Vater
G. Einssein in Christus
9. Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen
1. Vor Gott ohne Gott: zur Erscheinungsweise Ding
2. Das Ganze der Welt und meiner Identität: zur Erscheinungsweise Gedanke
Literatur
Personenregister
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Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit: Phänomenologisch-hermeneutische Untersuchungen nach Merleau-Ponty, Ricoeur und Waldenfels
 9783495818220, 9783495488225

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FERMENTA PHILOSOPHICA

Frank Vogelsang

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit Phänomenologisch-hermeneutische Untersuchungen nach Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495818220

.

B

Frank Vogelsang Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

FERMENTA PHILOSOPHICA

A

https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott ist eine Weise, Wirklichkeit zu erschließen. Diese Aussage erscheint in einer Zeit verwunderlich, in der die Naturwissenschaften zu der maßgebenden Autorität der Wirklichkeitsdeutung avanciert sind. In weit verbreiteten Reaktionen auf deren Erfolg wird der Aussagebereich einer Rede von Gott eher auf ein unspezifisches Jenseits oder auf das subjektive Empfinden und moralische Handeln von Individuen eingeschränkt. Die phänomenologische Analyse weist aber auf, dass die Wirklichkeit, mit der der leiblich existierende Mensch immer schon verbunden ist, umfassender ist als das, was objektivierende Darstellungen zeigen können. Narrative Formen und metaphorische Ausdrücke erschließen Wirklichkeit in einer gegenüber den Naturwissenschaften eigenständigen Erscheinungsweise. Die Auslegung von Texten mittels hermeneutischer Methoden zeigt fragile und von Spannungen gekennzeichnete Ordnungen einer kontingenten geschichtlichen Wirklichkeit. Dazu gehört auch die christliche Rede von Gott, die an die Erzählungen des biblischen Kanons anknüpft. Darüber hinaus gibt es eine weitere Erscheinungsweise der Wirklichkeit mit nur indirekt beschreibbaren Phänomenen, die aber eine große Relevanz für das Wirklichkeitsverständnis hat. Die Rede von Gott erhöht mit Hilfe einer Vielzahl von Grenzausdrücken die Aufmerksamkeit für diese Phänomene. Einige Grenzausdrücke wie »Reich Gottes«, »Gott der Vater«, »In Christus sein« werden mit phänomenologischen Methoden interpretiert.

Der Autor: Dr. Frank Vogelsang, Diplom-Ingenieur und ev. Theologe, ist Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland. Er hat sich in Veröffentlichungen mit unterschiedlichen Aspekten des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaften beschäftigt. 2011 erschien von ihm »Offene Wirklichkeit. Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty« und 2014 »Identität in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels«, beide im Verlag Karl Alber.

https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Frank Vogelsang

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit Phänomenologisch-hermeneutische Untersuchungen nach Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48822-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81822-0

https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

11 11 17 22 28

Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus . . . . Unterschiedliche Deutungen der paulinischen Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rede von Gott als Auslegung von Texten . . . . . 4. Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der frühe Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . .

.

32

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32

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37 45

. .

49 54

2.

Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

1.

Bemerkungen zur theologischen Weltdeutung in der Patristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. 2. 3. 4.

Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit . . . . . Zur Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die christliche Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . Überblick über den Verlauf der Argumentation . . .

1.

1.

2.

3.

Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. 2.

Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen . . . . Die Naturwissenschaften als Kritik traditioneller Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

61 64

71 73 78

Inhalt

3. 4.

4. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Die Naturwissenschaften als Grundlage für Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins . . . . . Skeptische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zum Begriff des Subjekts . . . . . . . . . Das Selbstbewusstsein in der Theologie: Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: Ulrich Barth, Wilhelm Gräb . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung des Individuums bei Ulrich Barth und Wilhelm Gräb . . . . . . . . . . . . . Zur Kritik des Begriffs des Individuums in der Theologie .

5.

81 83 90 91 95 98 103 111 116 119

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit . . . . . . . Der philosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty . Die Phänomene des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweisen des Leibes . . . . . . . . . . . . Der Chiasmus als Schema . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus . . . . Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Chiasmus in genetischer Lesart: Zur Entstehung von Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Reentry: Die Verortung des Schemas des Chiasmus in der Erscheinungsweise Kulturg . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Merleau-Ponty und der Gedanke der Inkarnation . . . . 10. Zur Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit . . . . .

123 124 129 133 137 142

6.

168

1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur . Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung . . . . . . . . . . . . . A. Das verletzte cogito: Zwischen Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 156 158 160 164

169 170 6

https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Inhalt

B.

2. 3.

4.

5.

Die Methodenvielfalt der hermeneutischen Untersuchungen Ricœurs . . . . . . . . . . . . C. Spannungen in hermeneutisch erschlossenen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der theologische Denker Paul Ricœur: An den Grenzen der Hermeneutik . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott . . . . A. Zum Umgang mit dem Absoluten . . . . . . . . B. Die Rede von Gott und die Vielfalt der Texte . . C. Zu den Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zu den Gleichnissen . . . . . . . . . . . . . . . E. Zu den Grenzausdrücken . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur kontingenten Geschichte der Rede von Gott . . . A. Kontingenz der Rede von Gott nicht nur ein Kennzeichen der Neuzeit (mimēsis I) . . . . . . B. Kontingenz in der Rede vom Kreuz (mimēsis II) C. Kontingenz in der Wirkung der Rede von Gott (mimēsis III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Kritik an Versuchen, die Kontingenz zu umgehen E. Zu den Grenzen geschichtlicher Vermittlung . . Kritische Bemerkungen zur Hermeneutik von Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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176

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184

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186 188 191 196 199 201

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206

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216 222

. . . . . .

225 228 232

. .

236

7.

Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X . . . 240

1.

Die radikale Deutung der Erscheinungsweise X: Das Zentrum des Chiasmus . . . . . . . . . . . . Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt . . . . . . . . . Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation . . . Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott Die Rede von Gott als Quelle von Kritik . . . . . A. Die inhärente Kritik der Rede von Gott . . . B. Grenzen der Kritik im interreligiösen Dialog C. Ist ein beliebiges Zeugnis möglich? . . . . . D. Problematische theologische Begriffe . . . .

2. 3. 4. 5.

. . . .

248

. . . . . . . .

252 264 270 276 277 279 281 282

. . . . . . . .

. . . . . . . .

7 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

. . . . . . . .

Inhalt

8.

Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

1.

Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels A. Eine Phänomenologie der Responsivität . . . . . . B. Phänomene im Übergang von Pathos und Response C. Die Sonderstellung des religiösen Pathos: die radikale responsive Differenz . . . . . . . . . D. Die Response als Erschließung der Erscheinungsweise X . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Response als Hyperphänomen . . . . . . . . Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Pathos und Response als Deutung der Fundamentaldifferenz . . . . . . . . . . . . . . . B. Grenzausdrücke als Response-Phänomene in der Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das Reich Gottes ist nah und gegenwärtig . . . . D. Das Reich Gottes als tragender Grund . . . . . . . E. Gott im Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Chiasmus als Deutung der Zwischenleiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . F. Gott als Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Einssein in Christus . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

. . .

289 289 293

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295

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297 300

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302

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302

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306 308 321 330

. . .

333 339 343

9.

Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

1. 2.

Vor Gott ohne Gott: zur Erscheinungsweise Ding . . . . Das Ganze der Welt und meiner Identität: zur Erscheinungsweise Gedanke . . . . . . . . . . . . .

348 352

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

8 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Vorwort

Ist die Rede von Gott ein philosophisches Thema? Ich gehe in dieser Arbeit davon aus, dass sie es sogar sein muss, sofern man unter der Philosophie eine selbstkritische und argumentative Auseinandersetzung mit den Bedingungen menschlicher Erkenntnis versteht. Wer die Rede von Gott reflektieren will, muss diese Bedingungen beachten. Eine unvoreingenommene philosophische Reflexion der Rede von Gott als menschlicher Rede ist ein zentrales theologisches Anliegen. Hierbei werden die Grenzen des Aussagbaren thematisiert. Die leibphänomenologische Analyse der Wirklichkeit zeigt, dass die Grenzen des Aussagbaren nicht zugleich auch die Grenzen der Wirklichkeit sind. Die offene Wirklichkeit ist größer, als wir denken. Darüber zu reden, ist ein Wagnis, zu dem die Rede von Gott immer wieder neu einlädt. Hierbei zeigen sich Wege, Wirklichkeit neu zu entdecken. Am Anfang soll ein mehrfacher Dank stehen. Mein Dank gilt Prof. Dr. Bernhard Waldenfels, von dem ich wichtige Impulse für ein vertieftes Verständnis phänomenologischen Philosophierens erhalten habe. Dank möchte ich gegenüber einigen Gesprächspartnern aussprechen, mit denen ich in den letzten Jahren in einem fruchtbaren Austausch sein konnte. So möchte ich Prof. Dr. Johannes von Lüpke danken, mit dem ich über ein Jahrzehnt Tagungen zur »weisheitlichen Theologie« durchgeführt habe, immer entlang der Grenze zwischen dem Aussagbaren und dem nicht Aussagbaren. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Christian Link, Prof. Dr. Jürgen Hübner, Prof. Dr. Dirk Evers, Dr. Andreas Losch, PD Dr. Magnus Schlette und Dr. Thomas Kirchhoff, mit denen ich in unterschiedlichen Kontexten Grundfragen des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften diskutieren konnte, und Prof. Dr. Michael Welker, durch den ich an vier internationalen und interdisziplinären Arbeitsgruppen zum Verhältnis von Theologie und anderen Wissenschaften teilnehmen konnte. Dank sagen möchte ich weiterhin dem Alber-Verlag, seinem Leiter Lukas Trabert, der das Projekt der »Offenen Wirklichkeit« von Beginn an unterstützte, und Julia Pirschl, die auch das vor9 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Vorwort

liegende Buch umsichtig lektoriert hat. Wie schon in den Publikationen zuvor möchte ich auch hier meinen Freunden Dr. Thomas Ulrich und Dr. Christian Hoppe für die mir so wichtige Wegbegleitung danken. Last, not least gilt der Dank meiner Frau Gabriele, die mich darin bestärkte, in der freien Zeit wiederum an einem umfangreicheren Buchprojekt zu arbeiten, und die mir als Gesprächspartnerin immer wieder die Gelegenheit gab, das gerade Gedachte darauf hin zu überprüfen, ob es etwas Geschriebenes werden könnte.

10 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Einleitung

1.

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

Die Rede von Gott ist in unserer Zeit alles andere als leicht verständlich. Das ist allerdings sehr angemessen. Wenn die Rede von Gott wahrhaft Rede von Gott ist, dann ist sie immer und zu jeder Zeit alles andere als leicht verständlich. In Zeiten, in denen man sie als leicht verständlich auffasste, stand sie sich gewissermaßen selbst im Wege. Der Befund, dass etwas nicht leicht verständlich ist, heißt nicht zugleich, dass es unverständlich sein muss. Nun ist aber vielen Zeitgenossen die Rede von Gott nicht nur nicht leicht verständlich, sie ist geradezu unverständlich geworden. Worum geht es denn eigentlich in dieser Rede, so die zweifelnde Frage: Geht es um subjektive Befindlichkeiten, weltanschauliche Präferenzen, konservativ-traditionelle Bindungen? Die Rede von Gott ist nach verbreitetem Verständnis besonders deshalb in hohem Maße problematisch, weil sie sich offenkundig nicht auf diese Welt bezieht, sondern auf Gott, der von der Welt zu unterscheiden ist. Eine Differenz wie die zwischen Welt und Gott ist für die Rede in der Tat unvermeidbar, aber entscheidend ist die Frage, wie man sie näher bestimmt. Weist die Rede von Gott auf ein unbekanntes Jenseits, auf eine numinose Transzendenz? Legt man die klassische Dualität von »Gott« und »Welt« zugrunde, dann ist die »Welt« nach allgemeiner Auffassung heute weitgehend verstanden, die Existenz »Gottes« dagegen ein davon unabhängiges, zusätzliches Problem. Die Rede von Gott scheint überflüssig zu sein. Doch ist diese Unterscheidung zu einfach: In keiner religiösen Tradition ist die Differenz Gott – Welt mit der zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten gleichzusetzen. Einerseits ist es schwer zu bestimmen, worauf genau der Terminus »die Welt« referieren soll. Andererseits kann Gott nicht der ganz und gar Unbekannte sein, weil sonst jede Rede von Gott sinnlos würde. Ist also die Welt nicht einfach verstanden und die Rede von Gott nicht einfach unverständlich, dann stellt sich die Frage, wie sich beide aufeinander beziehen lassen. Es ist das Ziel dieser Arbeit, aufzuzeigen, dass die Rede von Gott eine Weise 11 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Einleitung

sein kann, genau die Welt zu erschließen, in der wir leben, und zwar paradoxerweise gerade dadurch, dass sie Rede von Gott ist. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist tatsächlich trotz all unseres detaillierten Wissens durch ein tiefgreifendes und vielschichtiges Geheimnis geprägt. Für eine Wirklichkeit, die geheimnisvoll ist, die nicht vollständig ausgeleuchtet werden kann, ist der Ausdruck »offene Wirklichkeit« angemessener als der einer »Welt«. Wir werden in dieser Arbeit die Wirklichkeit als offene Wirklichkeit interpretieren und damit zum Ausdruck bringen, dass es kein umfassendes und konsistentes Bild von der ganzen Wirklichkeit gibt. Dies ist unmittelbar damit verknüpft, dass wir uns auch selbst ein Geheimnis sind. Solche Feststellungen gelten auch dann, wenn wir berücksichtigen, dass wir unser Wissen über die Wirklichkeit in den letzten 400 Jahren dramatisch ausbauen konnten. Dieses Wissen ist verlässlich und so gibt es keinen Grund, die Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge, so wie sie von den Naturwissenschaften beschrieben werden, in Zweifel zu ziehen. Wer, in der Annahme, dass die Schwerkraft nicht wirklich verstanden sei, aus dem zweiten Stock eines Hauses springt, wird feststellen, dass das naturwissenschaftlich prognostizierte Ereignis eintreten wird: eine harte Landung in der Realität. Es geht nicht darum, etwas Geheimnisvolles zu insinuieren, wo es nicht notwendig ist, es geht vielmehr darum, das, was man wissen kann, von dem zu unterscheiden, für das wir nur Ahnungen, Intuitionen und undeutliche Bilder haben. Die Rede von der offenen Wirklichkeit zielt auf Unterscheidungen: Unser Wissen über die Wirklichkeit ist dank der naturwissenschaftlichen Forschung stark angewachsen und doch ist eben dieselbe Wirklichkeit in anderer Hinsicht unergründlich. Es geht nicht darum, die errungenen Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu problematisieren, aber es geht darum, auf das zu achten, was trotz aller Erkenntnisse nach wie vor im Halbdunkel liegt. Diese Unterscheidung steht in der Tradition einer Aufklärung, die auf eine selbstkritische Bewertung der eigenen Erkenntniskräfte drängt. Die wenig zu durchschauenden Bereiche der Wirklichkeit liegen, und das ist das zentrale Problem, nicht irgendwo am Rande des Universums, sie liegen vielmehr direkt an dem Ort, an dem wir uns befinden. Denn sie sind dadurch bedingt, dass wir selbst vollständig Teil der Wirklichkeit sind, die wir erkennen wollen. Die Begrenztheit unserer Erkenntnis ist nicht darin begründet, dass es etwas Fernes gibt, das wir nicht erreichen können. Ein solches Fernes wäre ja not12 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

wendigerweise spekulativ und seine Existenz könnte mit guten Gründen bestritten werden. Die Begrenztheit unseres Erkennens liegt im Gegenteil darin, dass uns manches einfach zu nah ist. Wir sind mit Haut und Haar, mit allem, was uns ausmacht – auch mit unserem Denkvermögen – Teil der zu betrachtenden Wirklichkeit. Auf die Spur der Einschränkungen unserer Erkenntnisfähigkeit kommen wir also erst, wenn wir berücksichtigen, wie wir selbst in ihr verortet sind. Auf diese Verortung weist der Ausdruck »leibliche Existenz«. Als immer schon Beteiligte verlieren wir die Kontrolle über relevante Erkenntnisbedingungen. Im Verlauf dieser Arbeit werden wir den Umgang mit diesen Bedingungen mit phänomenologischen und hermeneutischen Mitteln ausführlicher beschreiben. Wir können uns auf erstaunliche Weise von der uns umgebenden Wirklichkeit distanzieren, wir können Methoden entwickeln, mit der wir sie objektivierend betrachten. Aber wir können uns nicht aus ihr herauslösen. Alle distanzierenden Methoden zur Beschreibung der Wirklichkeit setzen immer schon etwas voraus, was sie ihrerseits nicht in den Blick nehmen können. Die Fähigkeit zur methodischen Distanzierung ist eine Tugend der Naturwissenschaften. Ihre methodische Ausdifferenzierung ermöglicht vielseitige und vielfältige Einblicke in die Strukturen der Wirklichkeit. Dennoch gilt auch: Manches bleibt uns hartnäckig verborgen und so kann es sein, dass wir in unserem persönlichen Leben immer wieder über das Verborgene stolpern. Es gibt eine Endlichkeit und dauerhafte Unabgeschlossenheit aller menschlichen Erkenntnis, es bleibt immer ein blinder Fleck mitten in der Wirklichkeit, in der wir leben. Das, was nah ist, muss nicht beruhigend sein. Verbundenheit darf nicht als Vertrautheit interpretiert werden, das rechte Verständnis dieser Situation lässt sich nicht aus dem Alltagsverständnis ableiten. Denn dort gilt die Regel, dass uns das vertrauter ist, mit dem wir mehr verbunden sind. Unsere Kultur hat darüber hinaus die Haltung, das Beunruhigende im Nahbereich zu ignorieren und es auf etwas Fernes zu projizieren. Tatsächlich ist es umgekehrt, wir können das genauer beschreiben, von dem wir uns zu distanzieren in der Lage sind. Doch das hebt die Zone des Nahen nicht auf, wir können uns selbst nicht mit Hilfe von Methoden aus der Wirklichkeit entlassen. Weil wir in das eingebunden sind, was wir betrachten wollen, zerplatzt aus fundamentalen Gründen der erkenntnistheoretische Traum einer verstandenen »Welt«. Jede Rede von einem Wirklichkeitsganzen, von »der Welt«, bleibt höchst ungesichert und wird, wenn 13 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Einleitung

man die einschränkenden Randbedingungen unserer Erkenntnisfähigkeit außer Acht lässt, schnell leichtsinnig oder gar ideologisch. Der Eindruck, mit den uns bekannten Ordnungen schon das Wichtigste erkannt zu haben, ist voreilig. Philosophische Reflexionen, aber auch Ausdrucksformen in der Kunst, der Musik oder der Religion weisen auf unsere existentielle Situation, auf die Brüche und Abgründe mitten in der von uns umgebenden Wirklichkeit. Die endlichen Ordnungen, innerhalb derer wir uns orientieren können, sind uns im Alltag eine große Hilfe, sie lösen Probleme, aber nicht ohne dass neue entstehen. Die Probleme der Menschheit mit naturwissenschaftlichen Mitteln lösen zu wollen, wirkt wie eine Sysiphos-Arbeit. Die offene Wirklichkeit zeigt sich vielgestaltiger als eine geschlossene Welt. Eine offene Wirklichkeit lädt zu Entdeckungen ein. Da es keine umfassende Ordnung gibt, gibt es auch kein umfassendes Wissen, vieles, auch Entscheidendes kann und muss immer wieder neu entdeckt werden. Es gibt hier nichts Bleibendes, ein für allemal Verstandenes. Das entwertet nicht die Erkenntnisse, die wir schon in den geordneteren Bereichen der Wirklichkeit gewinnen konnten, es öffnet aber einen weiten Raum zur Entdeckung von Neuem. Der Entdeckergeist und das Gefühl, dass sich Entscheidendes in der Wirklichkeit unserem Zugriff entzieht, waren und sind den großen naturwissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern eigen. Diese Offenheit hat eine Schattenseite, denn die Situation, die uns immer wieder neue Entdeckungen bietet, kann zugleich auch als eine fundamentale Bedrohung wahrgenommen werden. Es gibt in einer offenen Wirklichkeit keine letzten Sicherheiten, alle Ordnungen, die wir erkennen können, scheinen zu schweben, sie haben keinen festen Grund. Alles Leben ist gefährdetes Leben, alle Sinnerfahrung ist immer auch von einer um sich greifenden Sinnlosigkeit bedroht. Die Ordnungen, die wir zu entdecken und zu gestalten in der Lage sind, sind und bleiben endlich, immer wieder revidierbar durch neue Erkenntnisse. Das gilt auch für unser Wissen um fundamentale Verhältnisse unseres Universums. Die Alltagswelt und ebenfalls die naturwissenschaftlich beschriebene Welt können für einen oberflächlichen Blick in sich ruhend und gegründet erscheinen. Und doch bleibt auch hier eine Ahnung von einem letzten Unverfügbaren, das in der philosophischen Tradition das »Nichts« genannt wird. Metaphysisch verallgemeinert bleiben letzte Fragen, wie etwa diese: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? 14 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

Diese Erkenntnis setzt unseren Zugang zur Wirklichkeit im Ganzen in eine fundamentale Spannung. Die Vorstellung einer geheimnisvollen Wirklichkeit kann auf zweierlei Weise entwertet werden: Das Geheimnis kann auf alles übertragen werden, dann ist alles irgendwie ein Geheimnis. Oder es kann als jenseitige Größe aus der Wirklichkeit ausgeschlossen werden, dann kann man zunächst einmal unbehelligt leben und das Geheimnis scheinbar auf Abstand halten. Kraftvoll bleibt das Geheimnis nur, wenn wir erleben, dass wir mitten in unseren endlichen Ordnungen, mit unseren endlichen Möglichkeiten an Grenzen stoßen. Erst die Erfahrung einer Grenze, die wir erleben, an der wir uns reiben, die unsere Begrenztheit zeigt, lässt das Geheimnis präsent sein. In gewisser Weise gehören die Erfahrungen des eigenen Scheiterns und die Erkenntnis des Geheimnisses zusammen. Das hat eine weitreichende Konsequenz für den Umgang mit dem Geheimnis. Etwas erscheint uns erst dann wirklich als Geheimnis, wenn wir alles unternehmen, um es zu lüften! Eine voreilige und abgeklärte Klugheit, die schon vor jeder Anstrengung weiß, dass sie sich nicht lohnt, dass es nichts Neues unter der Sonne zu wissen gibt, die wird vielleicht eine These über die Wirklichkeit haben, aber diese These wird schnell dogmatisch und zu einer Besserwisserei. Wenn nun von einer Bescheidenheit die Rede ist, die selbstkritisch sein soll, ist damit nicht gemeint, dass man sich mit der Behauptung achselzuckend zurücklehnen könnte, die Wirklichkeit sei ja doch nicht zu erkennen. Mit Bescheidenheit ist eher die Haltung jener Forscherinnen und Forscher gemeint, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften versuchen, der Wirklichkeit ihre Geheimnisse abzuringen, und dann eine Ahnung davon bekommen, wie groß das Geheimnis ist, an dessen Aufhebung sie sich abmühen. Unser Unwissen über die Wirklichkeit wird erst dann sichtbar, wenn es von einer existentiellen Spannung begleitet ist, dieses Unwissen aufheben zu wollen. Die existentielle Spannung ist auch ein, wenn nicht sogar das entscheidende Kennzeichen der Rede von Gott. Die Rede von Gott kann nicht in einem selbstverständlichen, entspannten Ton geschehen, sondern sie ist immer geprägt von einer Spannung, die entsteht, wenn man sich an der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten abarbeitet. In einer offenen Wirklichkeit müssen wir lernen, mit dem Nichtwissen umzugehen. Sören Kierkegaard lässt seiner Schrift »Der Begriff Angst« eine Anspielung auf Sokrates vorangehen, die eine solche Haltung zum Ausdruck bringt: »(…) doch Sokrates bleibt, 15 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Einleitung

was er gewesen, der einfältige Weise, vermöge seiner absonderlichen Unterscheidung, die er selbst ausgesprochen und vollzogen hat, die erst der sonderliche Hamann zweitausend Jahre später bewundernd wiederholt hat: denn ›Sokrates ist dadurch groß gewesen, dass er unterschied zwischen dem was er verstand und was er nicht verstand‹.« 1 Wenn wir auf das ungebahnte Gelände der Wirklichkeit vordringen wollen, so bleibt uns kein anderer Weg, als es am eigenen Leibe zu versuchen. Wir müssen bei der Exploration der offenen Wirklichkeit immer dort ansetzen, wo wir gerade sind, bei unseren eigenen Erfahrungen. Wie aber sollte man ein solches Vorgehen allgemeinverbindlich demonstrieren und zwischen zwei Buchdeckeln konservieren können? Das geht tatsächlich nicht, vieles von dem, was in diesem Buch zu lesen ist, vor allem in den letzten Kapiteln wird erst dann sinnvoll, wenn die Leserinnen und Leser es als Anregung verstehen, das Gelesene am »eigenen Leibe« nachzuvollziehen. Der Status der Ausführungen ist die einer Mahnrede, weil sie zu etwas aufruft, das sie kraft des Arguments allein nicht erzeugen oder erzwingen kann. Diese Mahnrede wird von alters her als Protrepktik bezeichnet. Sie kann sich nicht direkt auf das Gemeinte beziehen, sondern ist zu einem Umweg gezwungen, sie ist gezwungenermaßen indirekte Rede. Wichtig ist, die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten zu bemerken. Das Gesagte wird mit den Mitteln einer ausdifferenzierten Technik ermöglicht, so hat das Buch Inhaltsverzeichnis, Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis. Doch das Gemeinte fügt sich eben diesen Ordnungen nicht. In wichtigen Passagen geht es um Verhältnisse, die sich weit von denen der Anmerkungsapparate und Literaturverzeichnisse entfernen. Dennoch sind die Hilfsmittel deshalb nicht obsolet. Denn es geht darum, immer wieder das Geordnete zu dem Nichtgeordneten in ein Verhältnis zu setzen. Diese Arbeit knüpft konzeptionell an zwei Veröffentlichungen an, die die Phänomene der offenen Wirklichkeit unter einer jeweils spezifischen Leitfrage bearbeitet haben. Die Untersuchung »Offene Wirklichkeit. Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty« 2 hat danach gefragt, welche Aussagen wir über die Wirklichkeit unter Berücksichtigung der Bedingungen unserer leiblichen Existenz machen können. Die zweite Untersuchung »Identität 1 2

Kierkegaard 1844 (2): 2 (Interpunktion wie im Original). Vgl. Vogelsang 2014 (1).

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Zur Rede von Gott

in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels« 3 fragte, welche Antworten unter den Bedingungen einer offenen Wirklichkeit auf die Frage »Wer bin ich?« möglich sind. Man kann die thematischen Schwerpunkte der vorliegenden und der beiden anderen Veröffentlichungen in einem systematischen Zusammenhang sehen, denn alle drei bewegen sich mit Hilfe leibphänomenologischer Methoden entlang fundamentaler Erkenntnisgrenzen. Die drei Themen korrespondieren mit den drei klassischen metaphysischen Themen, die den drei Klassen transzendentaler Ideen der Dialektik der reinen Vernunft bei Kant entsprechen: die Welt (Kosmologie), das denkende Subjekt (Psychologie) und das Wesen aller Wesen (Theologie). 4

2.

Zur Rede von Gott

Wir wollen danach fragen, inwieweit die Rede von Gott eine Weise sein kann, die offene Wirklichkeit zu erkunden. Die konzeptionellen Einschränkungen, die wir für die Erschließung der offenen Wirklichkeit benannt haben, werden durch die Rede von Gott nicht aufgehoben, sondern eher bestätigt. Diese Rede führt zu keiner Super-Ordnung und sie produziert auch keine Antworten auf Fragen, die die Bedingungen der offenen Wirklichkeit aufwerfen. Sie ist nicht die göttliche Antwort auf menschliche Fragen. Dennoch erleben die, die von Gott reden, ihre Rede als eine Antwort. Sie erleben sie als menschliche Antwort auf die erfahrene Zuwendung Gottes. Diese Unterscheidung zwischen einer Antwort auf eine Frage und einer antwortenden Erfahrung wird uns noch beschäftigen. Die Rede von Gott befähigt nicht zur Überwindung der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. In einer bestimmten Hinsicht ist sie eine Weise, diese Grenzen noch intensiver wahrzunehmen, und zugleich eine spezifische Weise, mit ihnen gewisser und getroster umzugehen. Dies kann im Kern nicht demonstriert, wohl aber bezeugt werden. Die Rede von Gott ist eine menschliche Rede, die mit allem existentiellen Ernst auf etwas weist, was sich ihr zugleich entzieht. Als menschliche Rede kann und muss sie sich in Beziehung setzen zu anderen menschlichen Redeformen und Diskursen, zu anderen mensch3 4

Vgl. Vogelsang 2014 (2). Vgl. Kant 1787 (1): 336.

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Einleitung

lichen Orientierungsversuchen in der offenen Wirklichkeit. Sie ist argumentativ nicht geschützt, sie hat keine besondere, allgemein ausweisbare Legitimation gegenüber anderen Reden. Ihr Anspruch, als Antwort auf die Zuwendung Gottes in einer spezifischen Weise über die menschlichen Ordnungen hinauszuweisen, macht ihren prekären Status deutlich. Gerade die Rede von Gott muss deshalb von der Erfahrung eines Geheimnisses begleitet sein. Auch hier gilt: Kraftvoll wird das Geheimnis erst, wenn man sich nicht zu frühzeitig mit ihm zufrieden gibt. Hier heißt das, dass diejenigen, die von Gott reden, trotz aller Schwierigkeiten stets versuchen, den adäquaten Ausdruck für die Erfahrungen zu finden, auch wenn jeder Ausdruck befragenswürdig ist. Die Rede von Gott strebt nach Erkenntnis, sie ist nicht in das Dunkle verliebt. Sie versucht, sich selbst transparent zu machen, und bedient sich dazu aller zur Verfügung stehenden Erkenntniskräfte. Es gilt: fides quaerens intellectum 5, der Glaube befragt den Verstand und zugleich ist er eine Quelle der Inspiration für den Verstand. Wer ernstlich von Gott redet, sieht mehr. Mit der Unterscheidung von Gott und »Gott« ist eine Differenz angezeigt, die in der Rede von Gott immer eine Rolle spielt. Denn als Rede unterliegt sie den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten menschlicher Reden. Dazu gehört auch der Gebrauch von Begriffen; ein solcher allgemeiner Begriff ist »Gott«. 6 In dieser Notation, in Anführungsstriche gesetzt, ist »Gott« ein Begriff, der sich als Teil einer allgemein bestimmbaren kulturellen und religiösen Kommunikation verstehen lässt, ein Begriff, der in bestimmten Kulturen zu bestimmten Anlässen verwendet wird. Das Wort »Gott« ist zunächst nichts weiter als ein spezifisches Wort, das kontextabhängig, also vor allem in religiösen Zusammenhängen gebraucht wird. Das sagt noch wenig darüber, was mit dem Begriff ausgesagt werden soll. Es gibt nun keine allgemeinen Unterscheidungskriterien, die die Rede von Gott von der Rede von »Gott« differenzieren könnten. Wie wir noch sehen werden, ist das existentielle Engagement der oder des Redenden von entscheidender Bedeutung, um Gott von »Gott« zu unterscheiden. Das ist zugleich eines der Hauptprobleme der Rede von Gott, denn dieses So der ursprüngliche Titel des Proslogion von Anselm von Canterbury, vgl. Dalferth 1992 (1): 56. 6 So kann man zwischen einem Gattungsbegriff »Gott« und dem Eigennamen Gott unterscheiden, vgl Pannenberg 1988: 78. 5

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Zur Rede von Gott

existentielle Engagement lässt sich nicht verallgemeinert darstellen. Üblicherweise bestimmen wir einen Gegenstand, indem wir lernen, allgemein verständlich darüber zu reden und ihn so unabhängig von unserer Beziehung zu ihm darzustellen. Doch es gibt auch andere Erfahrungen im menschlichen Leben, bei denen diese Strategie der Distanzierung nicht weit führt. Es ist offenkundig, dass erst jene Menschen wirklich von ästhetischen Erfahrungen reden können, die diese Erfahrungen auch gemacht haben. So wie die Rede über die Liebe in einer Erfahrung wurzelt, die zu dieser Rede führt, so verhält es sich auch mit der Erfahrung, die zu der Rede von Gott führt. Hier wie in vielen anderen Beispielen menschlichen Lebens ist die existentielle Erfahrung für eine »sachgemäße« Rede konstitutiv. Der Ausdruck »die Rede von Gott« signalisiert, dass diese Arbeit sich reflektierend zu dieser Rede verhält. Sie redet nicht einfach von Gott, sondern bedenkt die Bedingungen und die Folgen einer Rede von Gott. Doch lassen sich die Ebenen nicht so leicht voneinander trennen. Auch eine Rede über »die Rede von Gott« ist in gewisser Weise immer auch Rede von Gott, wenn sie nicht nur eine empirische Bestandsaufnahme der Weisen sein will, wie man über »Gott« redet. Die Rede von Gott impliziert immer eine Bezogenheit des oder der Redenden auf Gott. Das unterscheidet sie von der Rede über Gott. Eine Rede über Gott ist nach der obigen Unterscheidung immer eine Rede über »Gott«. Denn der Ausdruck »Rede über« meint eine Befassung mit dem Terminus in einer Weise, in der die Rede verallgemeinerbar ist und die nicht von der oder dem Redenden abhängig ist. Deshalb ist diese Rede oft nur in ungefähren und widersprüchlichen Aussagen möglich, weil sich Gott nicht definieren lässt. 7 In dem Fall der Rede über Gott bezieht sich der Ausdruck »Gott« auf etwas allgemein Beschreibbares, etwa die Eigenschaften, die man ihm in einer bestimmten religiösen Tradition zuspricht. Wiederum anders ist der Ausdruck »Rede zu Gott« zu werten. Dieser Ausdruck meint eine Zwiesprache zwischen dem oder der Redenden und Gott. Klassischerweise ist dies das Gebet, das durch eine direkte Anrede, durch ein »Du«, bestimmt ist. Wenn man nun den Grad des Beteiligtseins berücksichtigt, kann man sagen, dass die »Rede von Gott« sich irgendwo zwischen der »Das Reden über Gott ist in der Tat etwas, was die Sprachregeln sprengt und an dem die Sprachverantwortung zu scheitern droht; etwas, was nicht nur von außen her bestritten wird, sondern auch von innen her streitbar ist (…).« Ebeling 1987: 159.

7

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Einleitung

»Rede über Gott« und der »Rede zu Gott« befindet. Nun ist es naheliegend, dass diese Unterscheidungen nicht eindeutige kategoriale Trennungen zum Ausdruck bringen: Die »Rede von Gott« hat also immer etwas von der »Rede über Gott« und auch von der »Rede zu Gott«. Wenn wir von Gott reden, reden wir zugleich über die Wirklichkeit, in der wir leben. In der Rede von Gott geht es nicht um von der Außenwelt abgesonderte, innere und subjektive Erlebniszustände und es geht auch nicht um »Jenseitiges«. Diese zwei Interpretationen sind Versuche, die Rede von Gott mit einer Wirklichkeit zu vereinbaren, die scheinbar gut verstanden und vermessen ist. Doch auch wenn persönliche Betroffenheit und die Differenz zu den uns bekannten Ordnungen der Wirklichkeit unaufgebbare Aspekte einer Rede von Gott sind, so ist sie vor allem eine Aufforderung, auch die uns bekannte Wirklichkeit neu zu sehen. Was soll sie aber über die Wirklichkeit mitteilen können? Auf welche Weise kann sie in einer wissenschaftlich gedeuteten »Welt« einen Platz für sich beanspruchen? Erscheint hier Gott nicht eher als etwas Hinzukommendes, als ein zusätzliches Problem? Unter diesen Bedingungen wäre es in der Tat fragwürdig, sich auf Gott zu beziehen, um etwas über die Wirklichkeit zu erfahren. Doch ist die Rede von Gott für diejenigen, die an ihr teilhaben, zugleich eine Intensivierung und Neubewertung ihrer Erfahrungen mit der Wirklichkeit. Die Rede von Gott als Antwort auf die Zuwendung Gottes verstärkt die Aufmerksamkeit auf jene Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, für die wir nur ungenügend Worte haben. Die Rede von Gott ist nur aus einer existentiellen Verbundenheit heraus möglich. Es gibt keine distanzierte Rede von Gott, sie bezieht sich gerade auf jene Wirklichkeit, die nah ist und über die wir nur eingeschränkt kommunizieren können. Deshalb überschreitet sie die menschlichen Fähigkeiten der Artikulation und ist nur im Modus eines existentiellen Zeugnisses möglich. Setzt man jedoch die im Folgenden zu entfaltenden Erkenntnisbedingungen der offenen Wirklichkeit als gegeben voraus, dann zeigen sich in jeder existentiellen Position – sei sie theistisch, sei sie atheistisch, sei sie agnostisch – Phänomene der Wirklichkeit, die eine begriffliche Sprache nur indirekt und mit Mühe umschreiben kann. Diese Phänomene machen die unausweichliche Geheimnishaftigkeit der Wirklichkeit aus. Aber gerade diese schwer zu beschreibenden Phänomenbereiche sind es, in 20 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zur Rede von Gott

denen die Rede von Gott Wirklichkeit neu erschließen kann. Die Verbundenheit, die sie zur Voraussetzung hat, zeigt sich in der Lebenswelt. Die Erfahrungen mit Gott werden begleitet von einem existentiellen Staunen. Wir verstehen nicht nichts und doch verstehen wir Entscheidendes nicht. Die Rede von Gott ist unabgesichert, so wie ein Bekenntnis zur Liebe unabgesichert ist, sie kann fruchtbar sein und sie kann scheitern. Die Rede von Gott will gewagt werden. Sie ist ein Abenteuer, weil diejenige oder derjenige, die oder der sich darauf einlässt, die Bedingungen nicht kontrolliert. Entscheidend ist der Begriff der Unverfügbarkeit: Jede Rede von Gott ist außerstande, über ihre Voraussetzungen zu verfügen. 8 So wenig also durch die Verbundenheit eine vollständige Transparenz möglich ist, so wenig ist die Rede auf Zustände von Individuen zu begrenzen. Die elementare Verbundenheit, die in der Rede von Gott vorausgesetzt werden muss und die unseren Zugang zur Wirklichkeit ebenso wie zu anderen Menschen kennzeichnet, kann nicht als Frömmigkeit von vereinzelten Individuen beschrieben werden. Erst dadurch, dass wir mit der uns umgebenden Wirklichkeit und mit anderen Menschen verbunden sind, kann die Rede von Gott ihre wirlichkeitserschließende Wirkung entfalten. In dieser Arbeit steht die Rede von Gott im Mittelpunkt. Doch ist das nicht eine einseitige Verkürzung? Muss nicht das Handeln ebenso bedacht werden wie das Reden, sind nicht die Rede von Gott und ein entsprechendes Handeln engstens miteinander verbunden? Tatsächlich kann es hier keine grundsätzlichen Abgrenzungen geben. In der menschlichen Existenz sind Reden, Handeln und Wahrnehmen ohnehin unauflöslich miteinander verbunden. Jede dieser drei Medien der Vermittlung zwischen Leib und Wirklichkeit hat ihre Spezifika. Was über die eine Weise der Vermittlung gesagt wird, erschließt nicht zugleich die unterschiedlichen Akzente der anderen Formen. Christliche Rede von Gott war von Anbeginn an mit bestimmten Handlungen verbunden, der »Glaube« war und ist eng verflochten mit der »Lie-

Paul Ricœur interpretierend hält Wallace fest: »The recovery of the power of myth and symbol is possible only through a self-critical, always revisable, and never certain hermeneutical wager. By risking this wager, the interpreter advances, even realizes, the task of becoming an integrated self. The first naiveté of primordial openness to religious symbolism has long been lost to modern people, but a second naiveté of belief founded on the traces of the sacred in the world of the text is possible.« Wallace 1995: 2.

8

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Einleitung

be«. Da das Reden nicht von dem Handeln entkoppelt werden kann, ist der gegenseitige Einfluss groß. In dieser Arbeit liegt das Schwergewicht der Betrachtung auf dem Reden, dessen konzeptionelle Nähe zum Handeln etwa in dem philosophischen Ansatz von Paul Ricœur, auf den wir uns ausgiebig beziehen werden, eine erhebliche Rolle spielt.

3.

Die christliche Rede von Gott

Wenn die existentielle Gebundenheit in der Rede von Gott eine erhebliche Bedeutung hat, dann ist ein allgemeiner, religionsübergreifender Diskurs über »Gott« nur in sehr engen Grenzen möglich, denn kein Mensch kann existentiell an einen kulturell verallgemeinerten und unspezifischen Begriff »Gott« gebunden sein. Diese Arbeit nimmt Bezug auf die christliche Rede von Gott, also auf Gott, der sich in Jesus Christus offenbarte und von dem die biblischen Texte Zeugnis ablegen. Sie ist dementsprechend gegliedert, beginnt mit einer biblischen Betrachtung und nimmt in dem Folgenden immer wieder Bezug auf christliche Traditionen und Auslegungen biblischer Texte. Diese Bevorzugung ist durch die existentielle Bindung des Autors bedingt. Eine solche Bindung ist unumgänglich, wenn diese Arbeit nicht jene Erkenntnisvoraussetzungen vernachlässigen soll, die sie in dem bisherigen Argumentationsgang als notwendig erkannt hat. Man kann nicht neutral von Gott reden, wenn man nicht nur über »Gott« reden will, also über einen kulturellen Bestand des Gebrauchs dieses Begriffs. Doch muss man sehr genau darauf achten, was mit der Bindung an die christliche Tradition festgelegt ist und was nicht. Offenkundig festgelegt sind die Quellen, anhand derer eine Orientierung in der Rede von Gott möglich ist. Es sind dies die Texte des Alten und des Neuen Testaments und die der christlichen Tradition. Orientierung heißt nicht, dass alles Ausgesagte den Anspruch erheben kann, wahr zu sein, oder dass wahr und falsch klar unterschieden werden könnten. Damit ist auch nicht gesagt, dass kritische Argumente ausgeschlossen wären. Es geht um ein fundamentales Verhältnis von Glaube und Kritik, das nicht mit der Differenz religiös und philosophisch identisch ist, »denn die Philosophie ist nicht nur einfach kritisch, sie gehört auch zur Ordnung des Glaubens. Und der religiöse 22 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die christliche Rede von Gott

Glaube besitzt selbst eine innere kritische Dimension.« 9 Die phänomenologische Beschreibung unserer leiblichen Existenz, die für die Argumentation dieser Arbeit entscheidend ist, ist selbstkritisch angelegt. Sie kann deshalb jenem Wahrnehmungsglauben auf die Spur kommen, dem wir notwendigerweise immer folgen müssen, unabhängig von einem Glauben an Gott: »Die Philosophie ist der Wahrnehmungsglaube, der sich selbst befragt. Wie ein jeder Glaube ist er deshalb Glaube, weil er die Möglichkeit des Zweifels in sich enthält (…).« 10 Der Umgang mit der Religion erfordert eine innere Kritikfähigkeit, die die Differenzen nicht einebnet: »Es stellt sich am Ende die Frage, wie wir von fremden und also auch von religiösen Widerfahrnissen und Ansprüchen sprechen können, ohne sie der Macht der eigenen Rede zu unterwerfen, aber auch, ohne dass wir uns als Bauchredner einer fremden Stimme aufspielen (…).« 11 Mit diesen Zitaten sind die drei Philosophen zu Wort gekommen, auf die wir unsere Argumentation in der folgenden Untersuchung stützen werden. Während Paul Ricœur sich als reformierter Christ verstand und jenseits seiner philosophischen Arbeiten auch explizit theologische Beiträge verfasste, nehmen die beiden anderen, Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels, in ihren Schriften aus strikt philosophischer Perspektive direkt oder indirekt Bezug auf christliche und theologische Traditionen. Sie problematisieren alle das nur schwer auszutarierende Verhältnis von Glaube und Kritik, von Position und Negation. Eine christliche Position ist nicht immun gegenüber argumentativer Kritik. Umgekehrt aber hat auch eine säkulare Position nicht den Vorzug einer unbegrenzten Kritikfähigkeit, sondern lebt ihrerseits immer auch von unerkannten Voraussetzungen. Die christliche Rede von Gott partizipiert voll und ganz an der Unsicherheit jedes Versuchs einer umfassenden Darstellung der Wirklichkeit. Die schärfste Kritik an der christlichen Rede von Gott ist jene, die aus ihr selbst stammt. Die christliche Rede von Gott kennt von Beginn an die Unterscheidung zwischen jeder menschlichen Rede von Gott und Gott. Diese Differenz ist unaufgebbar, damit die menschliche Rede von Gott nicht zu einer Rede von »Gott« verflacht. So steht die christliche Rede von Gott von Beginn an unter einer eleRicœur 1995 (2): 190. Merleau-Ponty 1964: 139. 11 Waldenfels 2012: 410. 9

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Einleitung

mentaren Spannung zwischen dem, was sie sagen will und dem, was sie sagen kann. Der Theologe Karl Barth hat dieses konstitutive Dilemma auf den Punkt gebracht: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« 12 Die christliche Rede von Gott ist also von tiefgreifenden Spannungen durchzogen. Die Welt ist die unerlöste Welt, alle Kreatur ist bedroht und harrt in Hoffnung. Die Botschaft vom menschgewordenen Gott zeigt die Dinge dieser Welt vor dem Hintergrund des nahenden Reiches Gottes, vor dem Hintergrund des sich zuwendenden Gottes. So können sie neu erscheinen, als Teil einer neuen Schöpfung. Die spannungsvolle Rede von Gott operiert in den bestehenden Ordnungen der Wirklichkeit und stellt ihnen keine alternativen entgegen, aber sie macht deutlich, dass die Wirklichkeit sich in keiner der vorfindlichen Ordnungen erschöpft. Gottes Wirklichkeit steht immer in einer radikalen Differenz zu den bekannten Ordnungen. Deshalb kann man die religiöse Erfahrung, die mit der Rede von Gott einhergeht, als anfänglichen Vorschein einer anderen Wirklichkeit erleben. Die christliche Rede von Gott ist gerade durch ihre Spannungen vital und energisch. Dies kann man etwa an den Schriften des Paulus ablesen, der ein Ringen um die rechte Rede von Gott deutlich macht zwischen Tradition, Schriftauslegung und der Verkündigung des ungreifbaren Ereignisses der Offenbarung Gottes, zwischen verständlicher Sprache und der Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Die Rede von Gott entfaltet weiterhin ihre Kraft nur in einer Vielzahl unterschiedlicher Kon-Texte, in einer Vielzahl von Rede- und Lebensbezügen, von biblischen oder liturgischen Texten: »Das Wort ›Gott‹ sagt mehr als das Wort ›Sein‹, denn es setzt den ganzen Kontext der Erzählungen, Prophetien, Gesetze, Weisheitsschriften, Psalmen usw. voraus. Der Referent ›Gott‹ wird so durch die Konvergenz aller dieser partiellen Redeweisen angezielt.« 13 Die christliche Rede von Gott ist gebunden an die Mittel einer partikularen und historisch kontingenten Kommunikation, in der die Rede von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus im Mittelpunkt steht. Sie ist ein fragiles Geschehen, das auf konkrete Menschen angewiesen ist: So wie sie 12 13

Barth 1922(2): 199. Ricœur 1977 (2): 170.

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Die christliche Rede von Gott

immer nur von einem bestimmten Menschen gehört wird, so geht sie von bestimmten Menschen aus und wird durch bestimmte Menschen vermittelt. Diese Kommunikation lässt sich nicht fixieren, nicht objektivieren, sie ist in hohem Maße instabil, der Gefahr von Missverständnissen ausgesetzt und der Versuchung, sie in eine objektive Botschaft unabhängig von den an ihr beteiligten Menschen zu überführen. Auf diese Weise wird deutlich: Die Rede von Gott ist ein Abenteuer, das jenseits aller Ordnung garantierenden Systematiken und Weltbilder stattfindet. Sie erfordert den existentiellen Einsatz der Beteiligten und kann sich nicht auf systematisierende Absicherungen berufen. Die kommunikativen Risiken dieser Rede sind von den Autoren der Schriften des Neuen Testaments immer wieder klar benannt worden. Die Theologie als Reflexionsform der Rede von Gott hat angesichts dieser Situation die Aufgabe, auf einer ungesicherten Grundlage immer wieder neu die Fruchtbarkeit und Deutungskraft dieser Rede auszuweisen. Das Besondere der christlichen Rede von Gott ist, dass sie ihre Kraft der Wirklichkeitsdeutung gerade in den ungesicherten Verhältnissen entfaltet: Man kann getrost und gewiss sein trotz allen Ausgesetztseins, trotz aller Unsicherheit. Es ist zu unterscheiden zwischen einer durch Ordnungen herstellbaren Sicherheit, die in der christlichen Rede von Gott keinen Ort hat, und der Gewissheit, die die Kraft hat, sich als existentielle Erfahrung Fragen und Zweifeln zu stellen. Das leitende Interesse dieser Untersuchung zielt auf die Frage, inwieweit die Rede von Gott einen Beitrag zur Erschießung der Wirklichkeit leisten kann. Die Soziologen Pollack und Rosta kommen in einer neueren Untersuchung zur religiösen Kommunikation in modernen Gesellschaften zu folgendem Ergebnis: »Genau diese Gleichzeitigkeit von Transzendenz und Immanenz, von Unbestimmtheit und Bestimmtheit scheint durch die Sinnformen des Religiösen immer weniger transportiert werden zu können. Unanschauliche Transzendenzvorstellungen und konkretistische Versinnbildlichungen des Unbegreifbaren fallen immer stärker auseinander, so dass es zunehmend unwahrscheinlicher wird, dass das ganz Andere am Diesseitigen erscheint.« 14 Diese Formulierung der zentralen Herausforderung der Rede von Gott in unserer Zeit argumentiert mit der Differenz von »Immanenz« und »Transzendenz«, die wir unter den Bedingungen 14

Pollack, Rosta 2015: 477.

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Einleitung

der offenen Wirklichkeit reformulieren werden. Das Zitat bestätigt die Bedeutung des Wirklichkeitsbezugs der Rede von Gott. Wie kann es in einer Zeit, in der die Orientierungen innerhalb der »Immanenz« derart intensiv und umfassend geworden sind, noch Hinweise auf »Transzendenz« geben? Offenkundig gibt es gegenwärtig eine Krise der Rede von Gott. Die Rede von Gott entfaltet kaum noch Strahlkraft. Sie zeigt selten die ihr eigene existentielle Spannung, sie wirkt entspannt und routiniert. Von Gott zu reden wirkt altbacken und wenig aufregend. Von Gott reden meint, einer religiösen Tradition zu folgen, die scheinbar ihre besten Tage gesehen hat. Für Verzagte und Angefochtene mag sie ein Hafen in stürmischen Zeiten sein, ein Ort, von dem man zugleich die Verbesserung der Welt einklagen kann. Die Rede von Gott findet in genau definierten Räumen der kirchlichen Großorganisationen statt. Doch wird die Rede in diesen Organisationen von den Menschen ebenso selbstverständlich akzeptiert, wie sie außerhalb des institutionellen Zusammenhangs vermieden wird. Die Rede von Gott nimmt in dem institutionell abgesicherten Rahmen scheinbar Bezug auf Selbstverständliches. Es wird zu zeigen sein, dass es tatsächlich aber bei der Rede von Gott um ein Wagnis geht, dessen Gelingen oder Misslingen immer wieder vollständig neu auf dem Spiel steht, bei dem es keinen sicheren Bestand gibt, auf den man sich zurückziehen kann. Dietrich Bonhoeffer hat sich im Rahmen der Rede von Gott intensiv mit der Wirklichkeit befasst. Er hat darum gerungen, die Bedeutung der Rede von Gott für das Verständnis der Wirklichkeit auszuweisen. Von Soosten urteilt: »Es ist die Frage, wo sich die Wirklichkeit dessen, zu dem sich der christliche Glaube bekennt, in der Wirklichkeit der Welt zeigt und ihre Konkretion erfährt. Bonhoeffers Theologie ist von den Anfängen an von dem Bewusstsein getragen, dass die geglaubte Wahrheit eine in der Wirklichkeit der Welt konkrete sein muss. Hierin liegt das Leitmotiv, das er zeit seines Lebens verfolgen wird, und das umgekehrt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen wird.« 15 In seinen Entwürfen zu einer Ethik ist Bonhoeffer zu zentralen Formulierungen eines weitreichenden Wirklichkeitsverständnisses gekommen: »Sie (scil. Die Ethik, FV) meint dabei die Wirklichkeit Gottes als letzte Wirklichkeit außer und in allem Bestehenden, sie 15

von Soosten 1986: 307 f.

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Die christliche Rede von Gott

meint damit auch die Wirklichkeit der bestehenden Welt, die allein durch die Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit hat. (…) Der Ort, an dem die Frage nach der Wirklichkeit Gottes wie die nach der Wirklichkeit der Welt zugleich Beantwortung erfährt, ist allein bezeichnet durch den Namen: Jesus Christus.« 16 Dieser Name ist aber nicht die Antwort auf unsere Frage, es inhäriert dem Bezug auf den Namen Jesus Christus kein magischer Zauber, durch dessen Nennung wir allgemein verständliche Antworten erhielten. Er markiert eher das tiefste Geheimnis der Wirklichkeit. Jüngel weist auf den Vorgang der Inkarnation, das Geheimnis der Welt ist Gott nur deshalb, weil er zur Welt kommt. 17 Gerade weil Gott zur Welt gekommen ist, kann die Rede von Gott einen Beitrag zur Erschließung der Wirklichkeit leisten. Die Erkenntnisleistung der Rede von Gott hat eine spezifische Form, wie wir in den folgenden hermeneutischen und phänomenologischen Untersuchungen zeigen werden. Bonhoeffer anerkennt ohne Vorbehalt die Mündigkeit der Welt, die Erkenntnisleistung der Moderne: »Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten. Ein erbaulicher Naturwissenschaftler, Mediziner etc. ist ein Zwitter. Wo behält nun Gott noch Raum? (…) Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹.« 18 Bonhoeffer sucht nicht ein privatistisches Wirklichkeitsverständnis, das nur für fromme Seelen gälte, und doch geht es um eine existentiell erfahrene und so konkrete Wirklichkeit. Feil beschreibt die Haltung Bonhoeffers: »Gott war ihm konkrete Wirklichkeit und zugleich das Geheimnis, das uns nahe ist (…).« 19 Nur die nahe Wirklichkeit, die wir in Verbundenheit erleben, ist wirklich konkret, diese nahe Wirklichkeit kann die Rede von Gott ausleuchten. Wie das möglich sein kann, will diese Arbeit ausweisen.

16 17 18 19

Bonhoeffer 1949: 39. Vgl. Jüngel 1977: 518. Bonhoeffer 1951: 532 f. Feil 1971: 103.

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Einleitung

4.

Überblick über den Verlauf der Argumentation

Wie also kann die Rede von Gott unter den Bedingungen einer offenen Wirklichkeit beschrieben werden? Um mögliche Antworten dieser Frage skizzieren zu können, soll zunächst ein Blick zurück geworfen werden in die Geschichte der christlichen Rede von Gott. Diese Ausführungen sollen den Hintergrund der heutigen Diskussion um die Rede von Gott in knappen Skizzen ausleuchten. Die Motivation, die Betrachtung historischer Positionen in dieser Arbeit nicht auszulassen, ist darin begründet, dass sie helfen kann, aufbewahrte Erinnerungen und heutige Erwartungen an die Rede von Gott besser zu verstehen. Möglicherweise sind ja viele Beiträge in der heutigen Debatte von »Phantomschmerzen« bestimmt, das heißt, sie bringen eher einen immer noch deutlich verspürten Verlust zum Ausdruck und eine Sehnsucht nach einer Ordnung, in der Gott und Welt scheinbar zusammen gedacht werden konnte. Es ist hilfreich, wahrzunehmen, dass aktuelle Fragen nicht einer kurzfristigen Mode geschuldet sind, sondern in Variationen immer schon bestanden haben. Im ersten Kapitel stellen wir einige Beobachtungen zu dem ersten Korintherbrief des Paulus zusammen. Die Briefe des Paulus waren im Gegensatz zu späteren Deutungen keine dogmatischen Abhandlungen über eine jenseitige Wirklichkeit Gottes, sondern sehr diesseitsorientierte Versuche, dem Evangelium in allgemein verständlichen Worten gerecht zu werden. Dabei reflektiert Paulus zugleich entschieden die Grenzen, die jeder Interpretation der christlichen Rede von Gott auferlegt sind. Zwischen dem von ihm erfahrenen Auftrag und seinen menschlichen Möglichkeiten zeigt sich eine fundamentale Spannung. Das zweite Kapitel fragt danach, welche Wirklichkeitsdeutungen mit der Rede von Gott in der Zeit der frühen Kirche und im Spätmittelalter verbunden waren. Ein dominantes Charakteristikum beider Epochen ist die je unterschiedliche Rezeption griechischer Philosophie. Damit zeigt sich aus verschiedenen Gründen ein Bedürfnis, den Wirklichkeitsbezug der Rede von Gott mit umfassenden Ordnungen in Verbindung zu bringen. Die Aussagekraft, aber auch die Grenzen dieser Versuche sollen angedeutet werden, etwa anhand des spätmittelalterlichen Streits um nominalistische Positionen. Das dritte Kapitel schließt dann an die Herausforderungen der Gegenwart an, indem es sich auf den Einfluss der Naturwissenschaften konzentriert. War es in den vorangegangenen Epochen mehr oder 28 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Überblick über den Verlauf der Argumentation

minder gelungen, die biblisch fundierte Rede von Gott mit einer philosophisch abgesicherten Wirklichkeitsdeutung zu verbinden, so ist das im Zeitalter der Naturwissenschaften nicht mehr möglich. Die Wissenschaften erweisen sich als eine kritische Kraft gegen tradierte metaphysische Festlegungen. Allerdings können die Interpretationen naturwissenschaftlicher Erfolge etwa im Falle naturalistischer Ansätze ihrerseits zu dogmatischen Verengungen führen. Theologische Beiträge zum Dialog von Naturwissenschaften und Theologie plädieren deshalb grundsätzlich dafür, die Grenzen naturwissenschaftlicher Forschung in den Blick zu nehmen. Im vierten Kapitel wird mit einigen Vertretern der so genannten liberalen Theologie eine heute wirkmächtige Tradition vorgestellt. Der Begründer dieser Richtung, Friedrich Schleiermacher, suchte eine theologische Perspektive jenseits eines konservativen Beharrens auf dogmatischen Festlegungen und einem Ausweichen auf rationalistische und deistische Ansätze, in denen der Einfluss Gottes auf die Welt fast vollständig reduziert wird. Diese erzielte er über eine Verortung des Gottesbezugs in dem menschlichen Selbstbewusstsein. Der Ansatz war zugleich eine Grundlage dafür, der naturwissenschaftlichen Forschung gelassener gegenüber zu treten. Mit den Ansätzen von Ulrich Barth und Wilhelm Gräb werden aktuelle Positionen dieser theologischen Richtung beschrieben. Eine Frage, die kritisch diskutiert wird, ist, inwieweit solche Ansätze sich nicht notwendigerweise auf Erfahrungen individueller Menschen konzentrieren müssen. In den nun folgenden Kapiteln soll an die leibphänomenologische Beschreibung der offenen Wirklichkeit angeknüpft werden, die sich maßgeblich von den Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty herleitet. Das fünfte Kapitel fasst in einer kurzen Version zusammen, was in früheren Veröffentlichungen ausführlicher entfaltet wurde. Im Mittelpunkt steht die Herleitung und Ausdeutung des Schemas des Chiasmus, das in der weiteren Untersuchung eine Grundlage für die Frage bildet, inwieweit die Rede von Gott einen Beitrag zur Erschließung von Wirklichkeit leisten kann. Hauptsächliches Merkmal des Schemas ist die Unterscheidung zwischen mehreren Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, so dass solche Phänomene, die durch die naturwissenschaftliche Forschung erschlossen werden, ebenso dargestellt werden können wie solche Phänomene, für deren Erschließung es anderer, etwa hermeneutischer Methoden bedarf, oder solche Phänomene, für die nur indirekte, phänomenologische Beschreibungsformen etabliert werden können. 29 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Einleitung

Den Einstieg in eine detailiertere Interpretation der Rede von Gott liefert im sechsten Kapitel eine eingehendere Analyse der Erscheinungsweisen Kultur innerhalb des Schemas des Chiasmus. Dies geschieht mit Hilfe der hermeneutisch orientierten Philosophie von Paul Ricœur. Sowohl seine allgemeine Hermeneutik wie auch seine Beschäftigung mit biblischen Texten erweisen sich als eine entscheidende Hilfe für die Interpretation der Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur. Die Analysen zeigen, dass die Rede von Gott in ihrer Eigenschaft als Rede großen semantischen Spannungen ausgesetzt ist und in ihrer Eigenschaft als historisches Geschehen in gleich mehrfacher Hinsicht kontingent sind. Die Rede von Gott erscheint somit als ein fragiles Geschehen, das keine festen Absicherungen kennt. Sie weist durch Grenzausdrücke über die hermeneutisch zu deutenden Ordnungen der Erscheinungsweisen Kultur hinaus. Das darauf folgende siebte Kapitel geht den Verweisen, die die Grenzausdrücke setzen, nach und beschäftigt sich mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X. Dabei gerät das Zentrum des Chiasmus in den Blick: Mitten in dem Schema, das die Wirklichkeit interpretierend darstellt, befindet sich eine Leerstelle, die für menschliches Handeln, Wahrnehmen und Reden unerreichbar ist. Hier zeigt sich eine »Transzendenz«, die von der »Immanenz« nicht durch eine Grenze abgetrennt ist, sondern sie von innen durchdringt. Der phänomenologische Ansatz kann nur negative Bestimmungen anführen. Die christliche Rede von Gott bezeugt nun aber, dass Gott, der als »absolut« oder »unbedingt« beschrieben werden muss, sich zugleich in der Inkarnation erkennbar gemacht hat: Gott kommt zur Welt, dadurch ist die Rede von Gott überhaupt erst möglich. Es gibt durch die Inkarnation eine fundamentale Bewegung von etwas Unverstehbarem zu etwas Verstehbaren. Das achte Kapitel unternimmt eine detailliertere Interpretation der Phänomene der Erscheinungsweise X auf der Grundlage der phänomenologischen Theorie von Bernhard Waldenfels. Im Mittelpunkt steht hier, dass Phänomene dieser Erscheinungsweise, die mit der Rede von Gott verbunden sind, ihrerseits als responsives Eingehen auf das Pathos, auf die Zuwendung Gottes, verstanden werden können. Jene Phänomene also, auf die die oben erwähnten Grenzausdrücke weisen, sind nicht Gott zuzuschreiben, sondern einer menschlichen Antwort auf Gottes Zuwendung. Phänomenologische Einzelanalysen einiger Grenzausdrücke wie »Reich Gottes«, »Himmel«, »Gott, der Vater« und »Einssein in Christus« schließen sich an. In diesen Grenz30 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Überblick über den Verlauf der Argumentation

ausdrücken kann ein spezifischer Beitrag der Rede von Gott zur Deutung der Wirklichkeit deutlich werden. Die damit verbundenen Phänomene sind nicht Teil von uns verfügbaren Ordnungen, sondern müssen immer wieder indirekt und in Anspielungen neu erschlossen werden. Das folgende neunte Kapitel wirft dann einen kurzen Blick auf die im Chiasmus ausgewiesene Erscheinungsweise Gedanke bzw. die Erscheinungsweise Ding. Ihr Beitrag zur Rede von Gott ist äußerst reduziert. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit zeigt diese unter methodischen Vorgaben, so unter der Vorgabe, dass die Welt zu betrachten sei, als ob es Gott nicht gäbe. Ähnlich verhält es sich mit ausgebauten Theorien, Strukturen der Mathematik und der Logik. Dennoch stehen auch diese Phänomene in einer indirekten Weise mit der Rede von Gott in einem Zusammenhang, nämlich dann, wenn man der erforschten Welt einen Sinn zuspricht oder wenn man die Wirklichkeit als ein Ganzes betrachtet. Wir werden sehen, dass dies den Phänomenen der zu besprechenden Erscheinungsweisen selbst nicht inhärent ist, sondern den Phänomenen der Erscheinungsweise X zugeordnet werden muss.

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1. Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

1.

Unterschiedliche Deutungen der paulinischen Rede von Gott

Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Verhältnis der Rede von Gott zur Wirklichkeit: Inwieweit kann die Rede von Gott als eine Weise verstanden werden, Wirklichkeit zu erschließen? Für die christliche Rede von Gott ist die Beschäftigung mit biblischen Texten von großer Bedeutung. Hierauf werden wir im Verlauf der Arbeit immer wieder eingehen. Am Anfang stehen Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus. In den letzten Jahren ist dem in vielerlei Hinsicht umstrittenen Missionar zu Beginn der Geschichte des Christentums sowohl in der Theologie als auch erstaunlicherweise in der Philosophie wieder deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden. Paulus hatte ohne Zweifel in der Anfangsphase der christlichen Rede von Gott eine herausragende Stellung, weil er als erster diese Rede an alle Menschen gerichtet hat, einerlei, ob sie zum Volk Israel gehörten oder aus anderen Völkern stammten. Durch die drastische Ausweitung des Kreises der Angesprochenen war es notwendig, die Botschaft der Menschwerdung Gottes mit neuen Interpretationen und Begriffen zu vermitteln. Viele ungeahnte und völlig neue Probleme des Verständnisses stellten sich in den neu gegründeten Gemeinden, in denen Menschen ganz unterschiedlicher religiöser Herkünfte aufeinandertrafen und um die richtige Interpretation der Botschaft von dem menschgewordenen Gott rangen. Die Briefe des Paulus sind nicht Lehrabhandlungen, sondern situationsbezogene Schriften, die auf wechselnde, auf zu erwartende oder schon gestellte Fragen und Probleme der Adressaten eingehen. Paulus hat seine Theologie in der tagtäglichen Auseinandersetzung mit Problemen der noch sehr jungen Gemeinden entwickelt. Der sehr existentielle Ton der Briefe zeigt, dass das offenkundig nur unter Einsatz seiner ganzen Person möglich war. Die Briefe sind keine distanzierten Abhandlungen, sondern persönliche Zeugnisse eines Menschen, der sich ganz und gar seiner Berufung hingibt, die Offenbarung Gottes weiterzugeben, die er empfangen hat. Die 32 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Unterschiedliche Deutungen der paulinischen Rede von Gott

unverzichtbare Beteiligung, die Form und Inhalt der Briefe zum Ausdruck bringen, ist der Sache gemäß, auf die sie verweist. Wenn man zu der Einschätzung gelangt, dass die Form der Texte als Gelegenheitsbriefe und dass die Suche nach für die jeweilige Situation des Briefempfängers angemessenen Worte nicht zufällig sind, sondern eine Besonderheit zum Ausdruck bringen, die die Rede von Gott kennzeichnet, dann hat das weitreichende Folgen für eine Interpretation dieser Rede. Kann man dann erwarten, dass sich diese Rede, die sich hier, in den Anfängen, als ein Ringen um einen existentiellen und situativ adäquaten Ausdruck zeigt, zugleich als Fundament von umfassenden Theorien eignet, die in ausdifferenzierten philosophischen Systemen das Ganze der Wirklichkeit zu deuten beanspruchen? Es ist meiner Ansicht nach eine entscheidende hermeneutische Aufgabe, die sprachliche Not wahrzunehmen, die die Briefe des Paulus prägt. Darauf hat in einer besonderen, nämlich poetischen Weise der Essay »Korinthische Brocken« von Christian Lehnert aufmerksam gemacht. Lehnert zeichnet mit zum Teil drastischen Worten einen Apostel, der alles andere als seiner selbst gewiss war. »Ein Mensch hat sich verloren durch ein Ereignis, das wenige Jahre zurück liegt.« 1 Paulus, der vorbildliche Ausleger der christlichen Botschaft, zeigt sich als hilflose Existenz: »In der Lähmung, im stummen Kampf seiner Zunge brachte Paulus nach außen, was er erlebt hatte: den Einbruch des Christus. (…) Paulus stotterte, sprachlos im Offenen (…).« 2 Doch gerade so hat er nicht nur seinem Herausgefordertsein Ausdruck gegeben, sondern auch die Zugänge zu einer veränderten Wirklichkeit unter den Vorzeichen von Kreuz und Auferstehung bezeugt. Wie kann man die Texte des Paulus als einen Beitrag zu einer veränderten Sicht auf die Wirklichkeit verstehen? Zunächst werden wir in wenigen Worten die Positionen zweier Philosophen charakterisieren, die gerade die Wirklichkeit in der Botschaft des Paulus in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen und die zu sehr unterschiedlichen, geradezu diametralen Interpretationen kommen: Friedrich Nietzsche und Alain Badiou. Bekannt ist die Haltung von Nietzsche, der wie viele andere im 19. und frühen 20. Jahrhundert den guten, aber naiven Jesus von der durchtriebenen Gestalt des Theologen Paulus absetzte, dessen Lehre 1 2

Lehnert 2013: 7. Lehnert 2013: 9.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

das Christentum auf Abwege führte. Jesus gilt Nietzsche als ein besonderer Mensch mit einer einfachen Botschaft: »Die ›gute Botschaft‹ ist eben, dass es keine Gegensätze mehr gibt; das Himmelreich gehört den Kindern, der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube – er ist da, er ist von Anfang, er ist gleichsam eine ins Geistige zurücktretende Kindlichkeit.« 3 Die Mission Jesu war nach Auffassung Nietzsches sehr begrenzt: »(…) im Grunde gab es nur einen Christen und der starb am Kreuz.« 4 Doch dann wendete sich seiner Ansicht nach die Entwicklung abrupt ins Negative: »Der ›frohen Botschaft‹ folgte auf dem Fuße die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum ›frohen Botschafter‹, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses.« 5 Paulus wird von Nietzsche als ein Priester der Macht verstanden, der sich nicht an der Weltzugewandtheit des historischen Jesus orientierte, sondern eine eigene Botschaft auf seinen Tod und auf »die Lüge vom ›wiederauferstandenen‹ Jesus« 6 baute. Die Botschaft des Paulus wird zur Weltabkehr, denn nur so, durch Erfindung von transzendenten Welten, durch Erfindung von göttlichem Lohn und göttlicher Strafe, kann eine Machtbasis für seine Theologie geschaffen werden. Der Gestus des Paulus und damit der Gestus des Christentums als Religion weist über diese Wirklichkeit hinaus auf jenseitige Sphären: »Eine Religion, wie das Christentum, die sich an keinem Punkt mit der Wirklichkeit berührt, die sofort dahin fällt, sobald die Wirklichkeit auch nur an einem Punkte zu Rechte kommt, muss billiger Weise der ›Weisheit der Welt‹, will sagen, der Wissenschaft, todfeind sein (…).« 7 Statt sich der Welt zuzuwenden, predigte Paulus Nietzsche zufolge allein von der Unsterblichkeit, vom Jenseits. Immer wieder rekurriert Nietzsche auf die in diesem Sinne verstandene Religion als Gegenspielerin zur Wirklichkeitszuwendung des Menschen, zur Wissenschaft, für ihn die Wirklichkeitszuwendung par excellence. 8 Auf das Verhältnis der Rede von Gott zu den Wissenschaften, vor allem den Naturwissenschaften, werden wir später noch Nietzsche 1894: 1193. Nietzsche 1894: 1200. 5 Nietzsche 1894: 1204. 6 Nietzsche 1894: 1204. 7 Nietzsche 1894: 1212. 8 »Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze ›sittliche Weltordnung‹ ist erfunden gegen die Wissenschaft – gegen die Ablösung des Menschen vom Priester.« Nietzsche 1894: 1214. 3 4

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Unterschiedliche Deutungen der paulinischen Rede von Gott

eingehen. Entscheidend ist hier der vehemente Vorwurf, Paulus habe gerade die Abkehr von der Wirklichkeit gepredigt. Neben der Interpretation Nietzsches gibt es aber auch andere philosophische Deutungen, die das genaue Gegenteil belegen wollen: In der Theologie des Paulus zeigt sich geradezu eine besondere, eine existentiell gebundene Hinwendung zur Wirklichkeit. Paulus erscheint dann nicht als der Mensch, der Jenseitiges verkündet, sondern der unerwartet die ungeahnte Tiefe dieser Wirklichkeit durch den sich in seinem Sohn Jesus Christus offenbarenden Gott erlebt. Für diese Interpretation optiert Alain Badiou, der keine theologischen Ambitionen hat und sich selbst als einen unreligiösen Menschen bezeichnet: »Für mich gibt es hier keinerlei Transzendenz, nichts Heiliges; sein Werk (scil. das des Paulus, FV) steht mit jedem anderen, das mich persönlich berührt, ganz und gar auf einer Stufe.« 9 Badiou schätzt an Paulus, dass dieser in einzigartiger Weise den Gedanken des Universalismus in die Welt gebracht hat, und sieht darin auch den wahren Grund für die Ablehnung durch Nietzsche: »Das eigentliche Problem ist in Wirklichkeit, dass Nietzsche einen regelrechten Hass auf den Universalismus hegt.« 10 Die Entdeckung der Universalität als ein zentrales Charakteristikum von Wirklichkeit steht nach Badiou im Zentrum der Botschaft des Paulus. Es ist eine Universalität, die seiner Ansicht nach nur unter sehr spezifischen historischen Bedingungen entdeckt werden konnte: »Es geht darum, dass Paulus ergründen will, welches Gesetz ein jeder Identität beraubtes Subjekt strukturieren kann, ein Subjekt, das von einem Ereignis abhängt (…).« 11 Das Ereignis ist das Christus-Ereignis, die Auferstehung Christi. 12 Indem Paulus hierauf seine Identität gründet, zeigt sich für ihn zugleich eine voraussetzungslose Universalität, die sich gegenüber zwei Alternativen abgrenzt: »Letztlich handelt es sich darum, eine universale Singularität zugleich gegen die etablierten Abstraktionen (damals die juridischen, heute den ökonomischen) und gegen den kommunitären oder partikularistischen Anspruch zur Badiou 1977: 7. Badiou 1977: 78. Die Haltung von Nietzsche kommentiert er darüber hinaus süffisant gerade durch eine gestische Nähe: »Die Schärfe Nietzsches gegen Paulus erklärt sich nur daraus, dass er weit mehr als sein Gegner sein Rivale ist.« Ebenda. 11 Badiou 1977: 12. 12 Vgl. Badiou 1977: 22. Er hält fest, dass die Auferstehung reines Ereignis ist, »Eröffnung einer Epoche, Veränderung der Beziehung zwischen Möglichem und Unmöglichem.« Badiou 1977: 58. 9

10

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

Geltung zu bringen.« 13 Diese Allgemeinheit, diese Universalität ist aber nicht begrifflich verfügbar, sie lässt sich nicht in Theorien fixieren. Deshalb ist Paulus auf einen Diskurs der Schwachheit angewiesen, der sein ganzes existentielles Engagement erfordert: »Allein von seiner subjektiven Schwachheit hängt es ab, ob diese so prekäre Wahrheit fortfährt, sich zu entfalten oder nicht. Tatsächlich scheint er sie bloß in einem Tongefäß zu tragen, wenn er Tag für Tag mit Taktgefühl und Klugheit dem Imperativ nachkommt, nichts zu Bruch gehen zu lassen.« 14 Interessant ist an Badious Ansatz, dass er einen neuen Wirklichkeitszugang bei Paulus diagnostiziert, der nicht im Subjektiven verbleibt, der sogar in seinen politischen Konsequenzen gedeutet werden kann. Es ist von großer Bedeutung, dass die frohe Botschaft allen Menschen gesagt wird, weil sie in Christus alle eins sind (Gal 3,28). Die Universalität zeigt sich in einer Liebe, die sich in die Welt einschreibt, sie verändert. 15 Es ist erstaunlich, dass ein Philosoph, der für sich selbst alle religiösen Bindungen verneint, auf diese elementare Komponente in den Texten von Paulus aufmerksam wird. Viele theologische Interpretationen der Tradition sind daran vorbeigegangen. Die Universalität, die Paulus entdeckt, ist nach Badiou verbunden mit einer spezifischen Vorstellung von Wahrheit, nämlich einer »Wahrheit als universaler Singularität« 16. Christus ist nach Paulus unvergleichlich und der einzige Zugang zur Wahrheit. Damit stellt er alle gewohnten und tradierten Vorstellungen religiöser Wahrheit in Frage. Diese Beobachtung weist sicherlich auf eine wichtige Komponente des Wirklichkeitsverständnisses des Paulus. Doch ist bei Badiou der Gedanke der Universalität an die eines singulären »Christusereignisses« gebunden, das kaum in geschichtliche Prozesse eingelassen ist. Badiou tendiert deshalb dazu, Paulus auf eine Weise einseitig zu interpretieren, die zu Fehldeutungen Anlass geben kann. Er grenzt sich zwar von der Position der Gnosis ab und kritisiert etwa die Theologie des Marcion, 17 doch ist auch seine eigene Argumentation ganz auf einen voraussetzungslosen Neubeginn ausgerichtet, auf das Ereignis, das Paulus durch die Offenbarung Christi erlebt hat, so dass

13 14 15 16 17

Badiou 1977: 21 f. Badiou 1977: 69. Vgl. Badiou 1977: 110. Badiou 1977: 31. Vgl. Badiou 1977: 47 f.

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Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung

etwa das jüdische Gesetz nur noch in negativer Abgrenzung als partikularistische Einschränkung beschrieben werden kann. 18 Badiou erwähnt das in die Geschichte eingebundene Kreuz, doch nur um es dann schnell in eine allgemeine Dialektik von Tod und Auferstehung aufgehen zu lassen. 19 Er beschreibt die zentrale Aussageabsicht des Paulus allein gebunden an ein ahistorisches Christus-Ereignis. Damit kann er auf der einen Seite die Universalität der Botschaft herausarbeiten, die die Briefe des Paulus durchzieht, auf der anderen Seite aber ist er kaum in der Lage, die historisch-kontingenten Bedingungen, die für die paulinische Rede von Gott konstitutiv sind, in den Blick zu nehmen. Er konzentriert alles auf die Kategorie des Ereignisses, die ignoriert, dass Paulus sich und seine Botschaft wesentlich als eingebunden in eine kontinuierliche Geschichte mit Gott erlebt hat.

2.

Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung

Von zentraler Bedeutung in der Theologie des Paulus ist die Interpretation des Evangeliums als »Wort vom Kreuz«. Das Kreuz ist nicht ein Symbol für den Tod im Allgemeinen, sondern ein verdichteter Ausdruck eines einmaligen geschichtlichen Prozesses, in dem die Menschwerdung Gottes kulminiert (Phil 2,8). Es zeugt von einem Geschehen, das nicht durch menschliche Versuche, sich seiner über Theorien, Deutungen zu bemächtigen, eingefangen werden kann. Gegenüber der Gemeinde von Korinth, in der sich einzelne Missionare zu Autoritäten aufschwingen wollen, weil sie mit dem Anspruch auf Vollmacht das Evangelium interpretieren, hält Paulus fest: 20 »Das Gesetz ist dem ›Für alle‹ nicht angemessen, weil es immer staatliches Gesetz, Gesetz der Kontrolle über die Teile, partikulares Gesetz ist.« Badiou 1977: 102. Dieses negative Urteil gilt im strikten Sinne, auch wenn Badiou bezogen auf Paulus einschränken kann: »Sein Verhältnis zur jüdischen Partikularität ist wesentlich positiv.« Badiou 1977: 125. 19 Vgl. Badiou 1977: 89. 20 Paulus hat die zwei überlieferten Briefe an die Korinther in der Zeit, in der er in Ephesus weilte oder im unmittelbaren Anschluss daran geschrieben, also etwa zwischen 54 und 56 nach Christus (Wischmeyer urteilt Frühjahr 55, vgl. Wischmeyer 2006 (1): 138; vgl. ebenso Lindemann, 2000: 17). Die literarkritische Frage, ob die Briefe in ihrer jetzt vorliegenden Gestalt nicht eher aus unterschiedlichen Briefen zusammengesetzt sind, ist nicht nebensächlich, sondern mit der zentralen Frage eng verbunden, wie die Botschaft des Paulus zu deuten ist. Nach Schnelle werden durch 18

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

»Denn das Wort vom Kreuz (Ὁ λόγος γὰρ ὁ τοῦ σταυροῦ) ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben (Jes 29,14): ›Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.‹ Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind. Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, damit, wie geschrieben steht (Jer 9,22–23): ›Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!‹« 21 (1. Kor 1,18–31.) Die Rede von Gott ist nach Paulus zunächst und vor allem das Wort vom Kreuz. 22 Dieses Wort ist trotz seiner dominanten Widerdie Methoden der Literarkritik »oft überspitzte logische Anforderungen an den Text gestellt, ein textfremder Rationalismus präjudiziert die Erkenntnis (…). Trotz des überlegten Aufbaus und des hohen Reflexionsniveaus handelt es sich aber bei den Paulusbriefen um Gelegenheitsschreiben, nicht um stimmige (und sterile) Abhandlungen im neuzeitlichen Sinne.« (Schnelle 2011: 90.) Wenn man das Idealbild eines Autors anlegt, der eine in sich geschlossene und konsistente Botschaft zu verkünden hat, dann sind natürlich Abbrüche und abrupte Wechsel klare Indizien für die Versehrtheit des ursprünglichen Textes. Was aber, wenn die Botschaft des Paulus diesem Standard gar nicht genügen kann? 21 Übersetzung nach Luther in der revidierten Fassung von 1984. 22 Wolter weist darauf hin, dass der Ausdruck »Wort vom Kreuz« bei Paulus gleichbedeutend mit dem Wort »Evangelium« ist, vgl. Wolter 2011: 121.

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Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung

sinnigkeit die einzig angemessene Weise, sich auf Christus zu beziehen, nicht jedoch die Haltung des Rühmens, wie es einige Gruppen in Korinth zum Ausdruck bringen. »Das Christusgeschehen, das für jede menschliche Erwartung skandalon und moria (Ärgernis und Torheit, FV) ist, wird vom Glauben als Gottes dynamis und sophia (Kraft und Weisheit, FV) wahrgenommen: dieses Ineinander von Christologie und Theologie ist für die Argumentation von V. 18–25 von entscheidender Bedeutung.« 23 Das Wort vom Kreuz ist zunächst einmal eine deutliche Bestätigung des historischen Jesus. Gerade in diesem Geschehen zeigt sich Gott verbunden mit einem bestimmten Moment der menschlichen Geschichte. Das Wort vom Kreuz weist nicht auf Herrlichkeiten jenseits der Welt, sondern auf die reale Welt, wie wir sie kennen. Am Kreuz ist Gott erkennbar. Im Kreuzesgeschehen kulminiert die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes. Paulus ist das Kreuz so wichtig, dass er es jenem Hymnus, den er im Philipperbrief zitiert, hinzufügt: »Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.« (Phil 2,8). Das Wort vom Kreuz ist Grundlage der christlichen Rede von Gott überhaupt. Doch ist das Kreuz nun nicht ein verständliches Zeichen, unter dem Gott menschlichem Erkennen zugänglich wird. Die theologischen Ausleger des Wortes vom Kreuz sind sich einig, dass es zugleich eine Unterbrechung aller menschlichen Kompetenzansprüche kennzeichnet. 24 Es wird von Paulus ja gerade gegen die Ansprüche gesetzt, die manche Korinther Parteien erhoben haben (1. Kor 1,10–17). Die Torheit jener Predigt, die das Kreuz in den Mittelpunkt stellt, macht selig, nicht die Weisheit der Welt. »Das Kreuz bedeutet Krisis und Desillusionierung für alle selbstgewisse Weltweisheit des homo religiosus. (…) Als eschatologisches, auf Gottes souveräne Initiative zurückgehendes Geschehen aber ist das Kreuz nicht einfach die gradlinige Verlängerung der bisherigen Linien, sondern bewirkt radikal Neues.« 25 Das Wort vom Kreuz bewirkt die Bloßstellung der menschlichen Verhältnisse. Eine Rede von Gott, die sich hierauf bezieht, hat ein derartig fundamentales, alle Systematik negierendes Vorzeichen, Lindemann 2000: 48. Wolter kann ganz ähnlich zu Badiou formulieren: »Weil das ›Wort vom Kreuz‹ das christliche Wirklichkeitsverständnis von allen anderen Wirklichkeitsverständnissen trennt, macht es auch den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch bedeutungslos und begründet eine eigenständige christliche Identität, die über alle anderen Identitätszuschreibungen dominiert.« Wolter 2011: 123. 25 Schrage 1991: 190 f. 23 24

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

dass sie in keine systematische Theorie, auch in keine systematisierende »Kreuzestheologie« aufgehoben werden kann. »Ist der gekreuzigte Christus allein die heilsame Weisheit Gottes, dann ist jede eigene Weisheit ausgeschlossen.« 26 Diese fundamentale Einsicht wendet sich nicht nur gegen die Adressaten des Briefes, die korinthischen Parteien mit ihren weitreichenden Ansprüchen, sie wendet sich auch gegen alle vielfältigen späteren theologischen Versuche, der Rede von Gott eine zeitlose Form zu geben. Auch wenn die Zentralstellung des Kreuzes in der Geschichte der Theologie immer wieder neu betont worden ist, so wurde es dennoch nicht das gemeinsame Vorzeichen aller christlichen Theologie, sondern wurde immer wieder an den Rand gedrängt. »Vor allem aber hat es die Kreuzestheologie auch in der christlichen Theologie schwer gehabt, sich gegenüber philosophischen und religiösen Weltanschauungen zu behaupten, die sie zu bevormunden und ihre skandalösen polemischen Spitzen abzubrechen versuchten.« 27 Das Kreuz ist in gewisser Weise ein Warn- oder Verbotszeichen, das sich gegen die menschlichen Bestrebungen wendet, theologische Erkenntnisse in einer Form von Unmittelbarkeit finden oder sie zu einer allumfassenden Theorie formen zu wollen. Das Kreuz ist deshalb nicht nur eine Unterscheidung »ad extra«, also gegenüber den Menschen außerhalb der Gemeinde der Christinnen und Christen. Es ist vor allem auch eine Unterscheidung »ad intra« und steht für eine notwendige Selbstunterscheidung in jeder christlichen Rede von Gott: Die Differenz zwischen Mensch und Gott kann in einer menschlichen Rede trotz der Menschwerdung Gottes nicht überbrückt oder kaschiert werden. Das systematisierende Bemühen steht unter dem Zeichen des Kreuzes, es muss sich immer wieder darauf besinnen, was es nicht zu verstehen in der Lage ist, wenn es mit der »Sache mit Gott« angemessen umgehen möchte. Wir wüssten gerne, wie sich Gott und Welt zueinander verhalten, wie die Offenbarung in Christus in unser Wirklichkeitsverständnis einzufügen ist, welche konsistente Theorie sie auffangen kann. Doch ist die Überzeugung des Paulus hierzu eindeutig: Wenn die menschliche Weisheit als Wahrheit etabliert wird, dann wird zugleich das Kreuz als Gotteskraft unwirksam gemacht. Da hilft es auch nicht, einen Gestus der Bescheidenheit ein26 27

Schrage 1991: 188. Schrage 1991: 192 f.

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Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung

zuüben. Denn das Wort vom Kreuz steht auch gegen jede geflissentliche Gewohnheit, Mensch und Gott zu unterscheiden, sofern sich damit doch wieder eine »gute Ordnung« aufbauen lässt. Das Kreuz steht genau besehen auch gegen jede routinierte Bescheidenheit und Bigotterie. Gerade eine solche Selbstbescheidung kann ein verdecktes Rühmen im paulinischen Sinne beinhalten. Das Wort vom Kreuz ist nur dann kräftig, wenn die Unterscheidung zwischen Mensch und Gott immer wieder in der Rede von Gott aktualisiert wird. Man muss die Unmöglichkeit einer Systematisierbarkeit in jeder Rede aufs Neue erfahren können. Das Kreuz zeigt: Wenn es eine Weisheit gibt, so ist es die Weisheit Gottes, die man nur durch das Kreuz hindurch erfahren kann. Aber was bleibt? »Das ›Wort vom Kreuz‹ bezeichnet den Moment, in dem die Sprache verloschen ist, verstummt, und erst stammelnd entsteht, auf dem Grund des Unsagbaren. Es ist der pure Unsinn für die, die es einordnen wollen in ihr sprachliches Selbstverständnis. Anderen ist diese Sinnlosigkeit eine ›Gotteskraft‹ (…).« 28 Eine »theologia crucis« ist deshalb eine arbeitende Rede von Gott, eine um Worte ringende Rede, eine spannungsvolle Rede, die nicht den Eindruck erweckt, man könne sich bald oder in absehbarer Zeit zufrieden zurücklehnen. Das Ringen um die rechten Worte hebt jeden Tag neu an. Auch die Rede von der Auferstehung kann dieses Vorzeichen nicht beseitigen. Zwar lässt die Auferstehung das Kreuz in einem anderen Licht erscheinen, aber dennoch bleibt das Kreuz stehen. Paulus setzt Kreuz und Auferstehung nicht so in ein Verhältnis, dass das zweite die Auflösung der Unverständlichkeit des ersten wäre. Die Verkündigung des Gekreuzigten ist nicht ohne die Auferstehung zu verstehen, es geht ja schließlich um eine gute Botschaft, das eu-angelion, aber es bindet die Rede von der Auferstehung an das Geschehen am Kreuz. »Obgleich der Gekreuzigte der von Gott Auferweckte ist, bleibt er der Gekreuzigte. Der Kreuzeslogos verkündigt kein bloßes Faktum der Vergangenheit oder ein durch Ostern überholtes Durchgangsstadium, sondern den Gekreuzigten als den gegenwärtigen Christus. Das Gekreuzigtsein als Modus der Gegenwart des Erhöhten in dieser Welt und darum als Horizont der Christologie überhaupt ist damit aber zugleich die Desillusionierung und Kritik aller anderen Religiosität und ›Theologie‹ (…).« 29 Die Rede vom Kreuz hat weitreichende Konsequenzen für das christliche Wirklich28 29

Lehnert 2013: 71. Schrage 1991: 185.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

keitsverständnis: »Dass Christen ihr Heil auf einen Kreuzestod zurückführen oder dass sie einen am Kreuz Gestorbenen als ihren Kyrios bekennen, markiert darum in der Tat eine ›Fundamentaldifferenz‹ zwischen einem christlichen und einem nichtchristlichen Wirklichkeitsverständnis.« 30 Jedoch: Ist die christliche Rede von Gott nur durch eine Beschränkung der Erkenntnisfähigkeit gekennzeichnet? Bleibt jenseits dessen alles beim Alten? Dann hätte sie allein für persönliche Interpretationen eine Bedeutung, sie bliebe an ihre subjektiven Erfahrungen gebunden. Sie würde zur Sprachstörung derer, die von Gott reden, anderes bliebe unbehelligt. Tatsächlich aber erhebt die Rede von Gott als das Evangelium von Jesus Christus einen viel weiteren, umfassenden Anspruch auf Deutung der Wirklichkeit. Das zeigt sich am ehesten bei der Auferstehung: »Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm ›alle Feinde unter seine Füße legt‹ (Ps 110,1). Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn ›alles hat er unter seine Füße getan‹ (Ps 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem (πάντα ἐν πᾶσιν).« 31 (1. Kor 15,20–28) Mit der Thematisierung der Auferstehung, die in Korinth offenkundig umstritten war und um die es eine lebhafte Debatte gab, weist Paulus wiederum auf das Zentrum des Evangeliums. Was meint die Auferstehung? Aus den Versen hier wird deutlich: Mit der Auferstehung ist ein die Grundfeste sprengendes, weltumspannendes Geschehen gemeint. Es ist eine verbindliche Ansage an diese Welt. Sie wird zur alten Welt, inmitten derer aber durch die Auferstehung schon die 30 31

Wolter 2011: 126. Übersetzung nach Luther in der revidierten Fassung von 1984.

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Das Zentrum der Rede von Gott bei Paulus: Kreuz und Auferstehung

neue Welt anhebt. Die Auferstehung Christi ist der Beginn einer umfassenden Neuschöpfung. »Dass Paulus in diesen Versen ein kosmisches Geschehen beschreibt, kann man daran erkennen, dass er in V. 24–28 nicht weniger als zehnmal das komprehensive Adjektiv ›alles‹ verwendet. (…) Nur der Vater und der Sohn bleiben in dem hier beschriebenen kosmischen Geschehen als Akteure übrig.« 32 Paulus interpretiert die Auferstehung als Anbruch und Unterpfand des eschatologischen Heilshandelns Gottes, »das alle übrigen Endereignisse inauguriert, also auch die Auferweckung der Toten, ja diese streng genommen in sich schließt.« 33 Hier beginnt ein Prozess, der mit der Überwindung aller gottfeindlichen Kräfte aufhört an dessen Ende auch der Tod als herausragendes Kennzeichen der alten Welt besiegt sein wird. Die Auferstehung korrespondiert mit dem Tod Jesu am Kreuz, weil das Geschehen, das an dem einen, historisch genau bestimmbaren Ort beginnt, sich in der Auferstehung zu einem weltumspannenden Geschehen der Veränderung der ganzen Wirklichkeit ausweitet. Insofern ist die Auferstehung Ausdruck des unmittelbaren schöpferischen Handeln Gottes. Wenn Paulus die Rede von der Auferstehung Christi zu erläutern versucht, dann steht er vor einem Dilemma: Auf der einen Seite zielt die Rede von Gott auf grundlegend Neues, doch dieses Neue wird nur dadurch als Neues erkennbar, dass es sich auf Altes beziehen lässt. Paulus behilft sich im Falle der Auferstehung unter anderem mit einer so genannten Adam-Christus-Typologie. So wie Adam für die alte Schöpfung und damit auch für den Sündenfall steht, so steht Christus für die neue Schöpfung und die Botschaft der Versöhnung durch Gott. Diese Typologie ist der Versuch, etwas in Beziehung zu setzen, was nicht in einer Systematik darstellbar ist, und eröffnet somit eine bleibende Spannung zwischen dem Schon-Jetzt und dem Noch-Nicht: Schon jetzt sind wir in das Geschehen eingebunden, das mit der Auferstehung anhebt, schon jetzt gibt es also die neue Schöpfung und zugleich leben wir in der alten Schöpfung, herrschen noch Sehnen und Hoffen (Röm 8), das Noch-Nicht. Alte und neue Wirklichkeit durchdringen sich. Hiernach leben wir weder in der alten Schöpfung noch in der neuen, sondern in der alten, in der die neue schon anhebt. Dieser Wechsel wird zu einem fundamentalen Kennzeichen der christlichen Wirklichkeitsdeutung. Immer gab und gibt es 32 33

Wolter 2011: 225. Schrage 2001: 188.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

die Gefahr, das eine gegen das andere abzuwerten, etwa durch eine Hochschätzung der bestehenden Schöpfung, die die Hoffnung so ins Leere gehen lässt, und ebenso auf der anderen Seite durch einer Abwertung dieser Welt und eine Hoffnung, die sich allein auf ein künftiges Jenseits richtet. Die Wirklichkeitsauffassung, die sich aus der paulinischen Rede von Gott ergibt, hält die Spannung aufrecht. Günter Thomas fordert deshalb zu Recht: »Nur eine mutige und christologisch bestimmte Unterscheidung von ›mehr als einer Welt‹ zugunsten dieser Welt kann es der Theologie ermöglichen, angesichts des immensen Leidens der Schöpfung in natürlichen, kulturellen und sozialen Prozessen eine Sprachlosigkeit wie auch eine schleichende Dämonisiserung Gottes abzuwehren. Die Verheißung einer schöpferischen Neuzuwendung zu dieser Welt löst die Fragen und Probleme der Theodizee nicht auf, aber verortet sie in einem Horizont, der ermöglicht, Klage ernstzunehmen, Leiden anzuerkennen und zugleich Gott bei seiner Treue der Zuwendung zu behaften.« 34 Im zweiten Korintherbrief kann Paulus abrupt zwischen dem einen und dem anderen wechseln: Er sehnt sich, von dem sterblichen Leib befreit zu werden (2. Kor 5,4), um dann kurz darauf auszurufen: »Jetzt ist der Tag des Heils!« (2. Kor 6,2). Die Auferstehung ist Neubeginn und zugleich die Bestätigung der Verheißung. »Insofern scheint, auch wenn Paulus diese Problematik nicht reflektiert und für ihn das novum im Vordergrund steht, die Kategorie totaliter aliter für das Künftige weniger adäquat zu sein als die des aliter oder die einer Dialektik von nova creatura und renovatio, von Neuschöpfung und Identität (…).« 35 Deshalb entzieht sich auch das Geschehen der Auferstehung ähnlich wie die Rede vom Kreuz einer theoretischen Systematisierung. Das wird ebenfalls offenkundig, wenn Paulus im weiteren Verlauf des Textes versucht, deutlicher zu beschreiben, wie man sich denn die Auferstehung vorzustellen habe (1. Kor 15,35–49). Hier argumentiert er mit dem Begriff des Leibes: »Es wird gesät ein natürlicher Leib und es wird auferstehen ein geistlicher Leib.« 36 (1. Kor 15,44) Es ist eben eine grundlegende Schwierigkeit, sowohl die Kon-

Thomas 2009: 33. Schrage 2001: 284. 36 »Nach paulinischer Auffassung handelt es sich bei der Auferstehungsleiblichkeit vielmehr um eine Leiblichkeit, die jenseits von stofflichen Leiblichkeitsvorstellungen zu denken ist.« Wolter 2011: 211 f. 34 35

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Die Rede von Gott als Auslegung von Texten

tinuität des Geschehens zum Ausdruck zu bringen – die Auferstehung muss doch immer die je eigene Auferstehung sein, es muss die Möglichkeit geben, sich selbst in Kontinuität über die Zustände von Tod und Auferstehung zu denken – als auch die Diskontinuität – die Auferstehung ist etwas grundlegend Neues, das die Schöpferkraft Gottes zum Ausdruck bringt. Das zeigt sich auch an einer anderen Stelle im Römerbrief, einem Vers, der insofern große Bedeutung erlangte, als mit seiner Hilfe die »creatio ex nihilo« gerechtfertigt wurde. Paulus beschreibt Gott als den, »der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei.« (Röm 4,17) 37 In diesem Kontext steht der Leib jenseits aller Anschaulichkeit und begrifflichen Klarheit. Es scheint, dass auch für Paulus die Unterschiedenheit zwischen »natürlichem Leib« und »geistlichem Leib« gegenüber dem Gemeinsamen beider überwiegt. Auch die Interpretation der Auferstehung steht damit vor fundamentalen Einschränkungen des Verstehens. Begriffe und Anschauungen können die Auferstehung nicht wirklich zugänglich machen.

3.

Die Rede von Gott als Auslegung von Texten

Das Kreuz ist in dem dargestellten Sinne die Durchkreuzung aller umfassenden menschlichen Ordnungsversuche, aber es ist nicht das Ende der menschlichen Rede von Gott. Davon zeugt die von allen Schwierigkeiten unbeirrte Auslegung der Schriften der jüdischen Tradition durch Paulus, der in dieser Interpretation das Besondere der Offenbarung Gottes in Christus zum Ausdruck bringen will. Er bezieht sich auf ein Geschehen, das narrativ zum Ausdruck gebracht werden kann, auch wenn die Erzählung von ihm stark komprimiert wird wie in dem Philipper-Hymnus (Phil 2,5–11). Es geht also nicht um einen singulären Punkt, um ein »Ereignis« im Sinne Badious, sondern um ein Geschehen, das von Gott handelt (»Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein«; Phil 2,6), das das Leben Jesu erfasst (»sondern entäußerte sich selbst Wenn die Rede von der Schöpfung Gottes Handeln zum Ausdruck bringen soll, dann kann dieses Handeln nicht in eine den Menschen zugängliche Ordnung eingebunden sein. Bonhoeffer führt deshalb aus: »Es lassen sich also keinerlei Notwendigkeiten in Gott aufweisen, die zur Schöpfung führen könnten oder gar müssten, es ist schlechthin nichts, das die Schöpfung begründet. Die Schöpfung kommt aus dem Nichts.« Bonhoeffer 1933: 31.

37

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und als Mensch erkannt«; Phil 2,7), das im Tod Christi am Kreuz kulminiert (»er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz«; Phil 2,8) und in der Auferstehung bzw. Erhöhung seinen Abschluss findet (»darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist«; Phil 2,9). Die Offenbarung Gottes in Christus ist als erzählbare Geschichte eingebunden in eine Geschichte Gottes mit seinem Volk, die die Schriften der hebräischen Bibel bezeugen und in denen Paulus die Menschwerdung Gottes angekündigt findet. Die paulinische Interpretation der Offenbarung Gottes ist also nicht nur eine Absage an menschliche Vereinnahmung, sie ist zugleich eine Einladung zu Erzählungen und zur Deutung von Texten. Sie macht Paulus bei allen Sprachschwierigkeiten nicht völlig sprachlos, er verliert an keiner Stelle seine klare Einsicht darin, dass der Gott, der sich in Christus offenbart, zugleich der Gott Israels ist. »Als Pharisäer durchlief Paulus selbst eine Schultradition, die ihn zeitlebens prägte.« 38 Paulus kann sich das Neue nur deshalb zugänglich machen, weil er auf die alten Schriften vertraut und gerade darin Zutrauen zu der Wandlungskraft und -vollmacht des ihm schon vorher bekannten Gottes Israels findet. Paulus verliert selbst unter dem Eindruck des Neuen nicht den Bezug zu seiner Herkunft als Pharisäer (Phil 3,5). Er redet nicht in einem luftleeren Raum, obwohl die Botschaft seine Möglichkeiten der Interpretation überschreitet und sich einer letztgültigen Deutung entzieht. Paulus bedient sich bei der Interpretation der Schriften Israels derselben Auslegemethoden wie sie auch in der rabbinischen Literatur zu finden sind. 39 Die hebräische Bibel in der griechischen Fassung, der Septuaginta, die Paulus aus seiner Zeit als Pharisäer kennt, ist für ihn ein fester Bezugspunkt. Er hat keinen Zweifel, dass er nur dann Zugang zu dem Geschehen um Jesus Christus gewinnt, wenn er es mit der Hilfe der Texte der Septuaginta zu verstehen versucht. So nutzt er auch die zu seiner Zeit in pharisäischen Kreisen üblichen Interpretationsmethoden wie Allegorie oder Typologie. 40 Der jüdische Hintergrund ist vor allem von einer Reihe angelsächsischer Exegeten in den Vordergrund gehoben worden. 41 Auch die eschatologische Dimension 38 39 40 41

Schnelle 2003: 147. Vgl. Gnilka 1996: 189. Vgl. Schnelle 2003: 102. Vgl Frey 2006: 35 ff.

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Die Rede von Gott als Auslegung von Texten

der Botschaft bezieht Paulus auf ihm vorgegebene, traditionelle Denkmuster. 42 »Die Explikation der Offenbarung des Sohnes Gottes, die Paulus zuteil wurde, leistet dieser einerseits frei und ungebunden. Andererseits bindet er sich an Vorgegebenes. Es ist zunächst die graphe, die Schrift. Der Rückbezug auf die Schrift erfolgt nicht primär aus taktischen Gründen (…). Er erfolgt aus heilsgeschichtlicher Notwendigkeit. Es geht um die Selbigkeit Gottes. Paulus ist davon überzeugt, dass der Gott Israels, der in der Schrift sich geäußert hat, auch der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist (…).« 43 Deshalb greift er, um das Unbegreifliche des Evangeliums kommunizieren zu können, immer wieder auf die Erfahrungen zurück, die Israel mit Gott gemacht hat. »Das theologische Denken des Heidenapostels Paulus wurzelt in Grundüberzeugungen des hellenistischen Judentums seiner Zeit.« 44 Er deutet das grundlegend Neue gerade durch Bezug auf prophetische Worte. Selbst das Wort vom Kreuz wird durch ein abgewandeltes Wort aus dem Jesaja-Buch bekräftigt: »Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« 45 Das Neue, auch das grundlegend Neue, wird nur zugänglich durch vertraute Schriftworte der Septuaginta. Die christliche Rede von Gott, die Verkündigung der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, ist durch den Bezug auf die Schriften der hebräischen Bibel von Beginn an Textauslegung! So ist auch die christliche Interpretation der Wirklichkeit untrennbar verbunden mit Schriftauslegung. Diese gehört zu den konstitutiven Kennzeichen christlicher Theologie. »Die Schrift wird zum Zeugen für die Gegenwart.« 46 Die Rede von Gott ist verbunden mit einer Wertschätzung sowohl des geschriebenen wie auch des gesprochenen Wortes. Die Rede von Gott ist nie nur gesprochenes Wort, sondern immer auch geschriebenes Wort. Diese Erkenntnis gilt gleichfalls für die weitere Argumentation dieser Arbeit: Der Terminus »Rede von Gott« bezieht sich sowohl auf Redeakte als auch auf geschriebene Texte. Hier könVgl. Frey 2006: 40. Gnilka 1996: 186. 44 Schnelle 2003: 56. 45 So die Fassung nach 1. Kor 1,19. Ebenfalls in der revidierten Lutherübersetzung von 1984 heißt es bei Jesaja 29,14: »darum will ich auch hinfort mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs Wunderlichste und Seltsamste, dass die Weisheit seiner Weisen vergehe und der Verstand seiner Klugen sich verbergen müsse.« 46 Gnilka 1996: 189. 42 43

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

nen wir uns Paul Ricœur anschließen, der feststellt: »Ich ziehe den Schluss, dass Gegenstand der Hermeneutik nicht der ›Text‹ ist, sondern der Text als Rede oder die Rede als Text.« 47 Paulus ist sich bewusst, wie vollständig anders und fremd sich das Evangelium von der Menschwerdung Gottes in dieser Welt ausmacht. Er bezieht sich aber nicht nur auf die schriftlichen Zeugnisse der hebräischen Bibel, er berücksichtigt auch mündliche Traditionen der ersten christlichen Gemeinden, die sich offenkundig schon in seiner Zeit ausgebildet hatten. So bezieht er sich auf erste Bekenntnisbildungen und Überlieferungen wie die so genannten »Herrenworte« (1. Kor 7,10 f.; 9,14; 11,23 ff.) und authorisiert damit die Praxis der Gemeinde, zu taufen und das Herrenmahl zu feiern. Wenn man die Aufmerksamkeit auf die Einflüsse und Traditionen noch mehr weitet, zeigt sich, dass Paulus auch aus den Quellen der zeitgenössischen Kultur schöpft: »Eine weitere Dimension paulinischer Theologie liegt in ihrer Verwurzelung in vorgegebenen Größen: erstens in der γραφή, d. h. der ›Schrift‹ Israels, zweitens in den Denktraditionen des Judentums, drittens in den jungen Traditionen der christlichen Gemeinden und viertens in einem Stratum zeitgenössischer gemeinantiker Ethik.« 48 Paulus kann bei aller Rezeptionsbereitschaft aber nicht einfach auf die Weltanschauung seiner Zeit zurückgreifen. Gerade dieses verhindert ja sein Verständnis des Wortes vom Kreuz, das die Möglichkeiten menschlicher Weisheit in Frage stellt. Solchermaßen sensibilisiert gegenüber jeder Form des menschlichen Selbstruhms, ist Paulus auch skeptisch, seine eigenen Erfahrungen unter den damals verbreiteten weltanschaulichen Rahmenbedingungen zum Ausdruck bringen zu können. So hält er skeptische Distanz gegenüber zeitgenössischen Vorstellungen vom Aufbau der Welt mit ihren Schichten und mehreren Himmeln (vgl. 2. Kor 12). Die paulinische Rede von Gott bleibt in einer spannungsvollen Mittellage: Einerseits kann er auf anerkannte Methoden der Schriftauslegung zurückgreifen, andererseits muss er durch sie das Wort vom Kreuz und die Botschaft der Auferstehung zum Ausdruck zu bringen. Der Apostel Paulus hat kein Vorbild, es ist auch nicht erkennbar, dass er sich zunächst »in Ruhe« eine Theorie aneignete, vielmehr gilt: »Der Apostel konnte nicht an eine gängige Schriftauslegung anknüp47 48

Ricœur 1975 (1): 275. Wischmeyer 2006 (2): 285.

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Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft

fen, sondern erarbeitet sich die Schriftzitate in der jeweiligen aktuellen Situation.« 49 Paulus hat es mit einem historischen Geschehen zu tun, dessen direkter Zeuge er nicht mehr wurde, 50 und das doch seine Existenz bestimmt und das er in seinem Handeln und Reden bezeugt. »Vor allem aber ist er Schrifttheologe, der nicht ein spekulatives Bild der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Eschaton entwirft, sondern vom Christusgeschehen aus rückblickend die Schrift als Zeugnis göttlichen Handelns versteht.« 51

4.

Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft

Diese Beobachtungen zeigen, dass die Interpretation der Rede von Gott durch Paulus entgegen des Verdikts von Nietzsche und trotz aller inhärenten Schwierigkeiten auf das Zentrum unseres Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses zielt. Wolter sieht eine enge Verbindung von christlichem Glauben und der Wahrnehmung der Wirklichkeit: »Aus diesem Grunde bezeichnen wir den Glauben als eine Wirklichkeitsgewissheit.« 52 Der Glaube als christliche Haltung und zugleich als Wahrnehmung von Wirklichkeit ist nicht weltab- sondern weltzugewandt: »›Glauben‹ ist nach paulinischem Verständnis demnach mehr als nur ein punktuelles Für-wahr-Halten von Tatsachen, sondern die Konzeptualisierung einer bisher nicht gekannten neuen Wirklichkeit als Wirklichkeit Gottes, der gegenüber es sich bei der Alltagswelt oder anderen Wirklichkeitsannahmen (…) lediglich um Wirklichkeiten der σάρξ (scil. des Fleisches, FV) handelt (…), d. h. nicht um die von Gott geschaffene wahre Wirklichkeit, sondern um von Menschen konstruierte Wirklichkeiten.« 53 Das ist gerade die Besonderheit der Rede von der Inkarnation: Durch die geschichtlich sich Schnelle 2003: 104. Allerdings reklamiert Paulus ein »Sehen«, das ihn in eine Reihe mit den Aposteln stellt: »Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden.« (1. Kor 15,8) 51 Wiefel 2013: 87. 52 Wolter 2011: 86. Der Ausdruck »Wirklichkeitsgewissheit« für den christlichen Glauben ist ein sehr glücklicher Ausdruck, weil er das »subjektive« mit dem »objektiven« Moment verbindet. Allerdings knüpft Wolter im Weiteren diese Gewissheit an ein Verständnis von Wahrheit im Sinne einer Korrespondenztheorie (ebenda). Dies scheint mir in diesem Kontext nicht möglich zu sein. 53 Wolter 2011: 95. 49 50

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

vollziehende Inkarnation entsteht eine Spannung in dieser Wirklichkeit, in der wir leben, die durch ein quasi extraterrestisches und voraussetzungsloses »Ereignis« nicht entstanden wäre. Die Folge eines voraussetzungslosen »Ereignisses« wäre ein Bruch, die Geltung des Neuen als Ablösung des Alten. Doch ganz anders ist die christliche Erfahrung der Wirklichkeit. Durch die Inkarnation Gottes sind Altes und Neues miteinander in einer unauflöslichen spannungsvollen Verbundenheit verknüpft: In Christus erscheint Gott in dieser Welt als Mensch. Dadurch wird unser Selbst- und Wirklichkeitsverständnis mit einer inhärenten Spannung aufgeladen: Die Rede von Gott kann sich auf Worte und Traditionen berufen, die auf die Inkarnation hinweisen, und doch enthält sie eine Dimension, die sich nur ungenügend in Worte fassen lässt. Paulus berichtet von abgrundtief Neuem und ist zugleich eingebunden in eine geschichtliche Tradition. Es entsteht eine Spannung zwischen dem Altem, den überlieferten Ordnungen, und dem Neuen, das sich in seinem Kern jeder Ordnung entzieht und das das Alte in neuem Licht erscheinen lässt. Wir sind hineingezogen in die geschichtliche Bewegung, in die Gott sich seinerseits durch die Inkarnation hineinbegeben hat. Auch das völlig Neue der Auferstehung führt nicht zur Sprachlosigkeit, sondern wird innerhalb der Geschichte Gottes mit seinem Volk interpretiert. Die grundlegenden Verständnisschwierigkeiten, die für Paulus galten, gelten auch für uns heute. Die christliche Rede von Gott kann neue Möglichkeiten für das Selbst- und Weltverständnis eröffnen, aber sie kann dieses neue Verständnis nicht zu einem stabilen System ausbauen, denn dann wäre sofort die Spannung verleugnet, unter der die Botschaft von der Menschwerdung Gottes nur existieren kann. Deshalb ist es nicht möglich, dass sie Teil einer Geschichte von Siegern ist. Das Evangelium mag wenige oder auch viele Menschen erreichen, es bleibt dennoch im Kern eine ausgesetzte und ungesicherte Größe. Dieser Wandel der Wirklichkeitsauffassung mit all seinen Spannungen lässt auch das Selbstverständnis des Paulus nicht unberührt. Wir sehen heute Paulus als »Apostel« der Völker, als eine der herausragenden Gestalten der frühen Christenheit. Wenn er in dem Korintherbrief beginnt mit »Paulus, berufen als Apostel Christi Jesu« (1. Kor 1,1), dann denken wir uns eine gravitätische Rede, voller Selbstgewissheit in der Betonung, das das Apostolat als das Amt des herausragenden Kirchenvaters bestätigt. Doch das Apostolat ist kein Amt in einem allgemeinen Sinne, es ist eine existentielle Verpflichtung, die ganz und gar auf Christus bezogen und von ihm her be50 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft

gründet ist: »Allerdings ist die Existenz des Apostels nicht als solche repräsentativ, sondern nur aus und in ihrer Christus-Beziehung (vgl. 2. Kor 12,9 f.; Phil 3,7 f.).« 54 Lehnert hebt deshalb besonders die Fremdartigkeit dieser Selbstbezeichnung des Paulus hervor: »Ich bin nichts, was ihr kennt. Kein Prophet, kein Philosoph, kein Weiser, kein Lehrer, kein Jünger, keine Amtsperson und kein Funktionär, kein Repräsentant, kein Delegierter, kein Würdenträger. Paulus ist ›berufener Apostel Christi Jesu‹.« 55 Die Existenz des Paulus ist keine bürgerliche, er vermeidet sowohl institutionelle wie auch familiäre Einbindungen. Hier kann durchaus ein hellenistisch-philosophisches Vorbild zur Geltung kommen: »Wie die Kyniker praktizierte Paulus einen radikalen Lebensstil, unabhängig von familiären und wirtschaftlichen Verpflichtungen verstand er sich ausschließlich als Bote des Evangeliums.« 56 Man kann sich die persönlichen Konsequenzen, die sich für Paulus aus dem Auftrag ergeben, nicht radikal genug vorstellen. Es ist zwar so, dass er weiter in der alten Welt lebt, doch in großer Gebrochenheit. Nichts erscheint mehr selbstverständlich, auch hier kommt es zu einer Umwertung aller Werte: »Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.« (Phil 1,21) »Die Schau des Auferstandenen führt Paulus zur Preisgabe des bisherigen Ich, zu einer ›Entselbung‹, die als Negation Voraussetzung für das neue Sein in Christus ist.« 57 Zur Rede von Gott gehört notwendigerweise ein Mensch, der redet. Es gibt diese Rede nur im Vollzug des Redens. Es ist die immer wieder neu durchzuführende Interpretation des Damaskuserlebnisses, die die christliche Existenz des Paulus begleitet. »Die überwältigende Erfahrung des auferstandenen Jesus Christus prägt von nun an umfassend das Leben des Apostels, ohne auf theologische Lehrsätze reduziert werden zu können.« 58 Paulus ist eine Existenz im Übergang, im Niemandsland, dort, wo die Grenzen nicht klar verlaufen. »Wer in dem Christus lebt, haust ›dazwischen‹. Wie ein wacher scheuer Vogel verharrt er im Gras an jener unmöglichen Stelle, wo die Wirklichkeit auf ihr Spiegelbild trifft, im geschliffenen Gras der messianischen Zeit.« 59 Wie intensiv, ja geradezu körperlich Paulus in seiner Sprache den korinthischen Lesern gegen54 55 56 57 58 59

Schnelle 2013: 195. Lehnert 2013: 16. Schnelle 2003: 63. Schnelle 2003: 93. Schnelle 2003: 92. Lehnert 2013: 161.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

übertritt, ist noch über den weiten zeitlichen und kulturellen Abstand zu spüren. Die Autorenschaft des Paulus zeigt »ein andauerndes Ringen um Sprache, sie ist geprägt von Sprachnot. Unbeholfen, mal sprudelnd, mal stammelnd ist sein Griechisch.« 60 In diesem Zwielicht der existentiellen Veränderungen und Spannungen sieht Paulus aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinde, die sich um die Botschaft von Kreuz und Auferstehung sammelt. Die Bezeichnung ekklesia unterscheidet sich von der in der jüdischen Tradition üblichen synagoge. Die Gemeinde ist nicht nur eine soziale Form, eine Größe unter anderen, sie ist ein Medium für die neue Erfahrung der Wirklichkeit. »Das frühe Christentum holte seine Kraft aus der Alltäglichkeit, aus den einfachen Gebräuchen des Essens und Trinkens, des Waschens, der Geselligkeit. Es schuf keine Sonderwelten, sondern setzte das einfache Leben in einen neuen Zusammenhang.« 61 In diesem Zusammenhang erscheint Altvertrautes neu, bekommen die sozialen Umgangsformen eine neue Valenz. Eindrucksvoll beschreibt Paulus das in dem wiederholten os mē, dem »als ob nicht«: »Die Zeit ist kurz. Fortan sollten auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.« (1. Kor 7, 29 ff.). Diese Haltung ist unter dem Terminus »Naherwartung« rubriziert worden. Die theologische Zuordnungs- und Interpretationsversuche durch Begriffe wie »Naherwartung« sind aber in hohem Maße ambivalent, weil sie dazu neigen, die Differenzen und Spannungen als eine bestimmte kulturelle Erscheinung zu historisieren und mittels fachwissenschaftlicher Termini zu ordnen. Das Problem des Begriffes Naherwartung ist, dass er sich der dominanten Vorstellung einer linearen Zeit unterordnet: Demnach ist etwas »nah«, was in relativ kurzer Zeit folgt. Im Hinblick auf das, was eine kurze Zeit ist, kann man unterschiedlicher Meinung sein, sie ist auf jeden Fall eine in einer linearen Zeitmetrik messbare, einerlei ob sie wenige Tage, wenige Wochen oder einige Jahre umfasst. Paulus war dann nach dieser Vorstellung vor etwa 2000 Jahren der irrigen Annahme, dass diese Zeit bald ihr Ende haben würde. Heute, mit historischem Abstandwissen wir demnach, dass er irrte. Was aber, wenn Paulus sich auf 60 61

Lehnert 2013: 14. Lehnert 2013: 29.

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Das paulinische Selbstverständnis und das Verständnis christlicher Gemeinschaft

das grundlegende Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus bezieht, auf das alle menschlichen Ordnungen durchbrechende Geschehen von Kreuz und Auferstehung, und dadurch die bekannten Dinge und Ordnungen, auch die Verhältnisse von Zeit, in einem neuen Licht sieht? »Nein, ekklēsia ist nichts unter anderem, sie ist etwas anderes – eine plötzliche Veränderung, nichts, was man kennt.« 62 Hier entsteht etwas, hier formt sich eine Theologie des Evangeliums von Jesus Christus, die sich selbst sucht, die nie abgeschlossen sein wird. Gerade im ersten Brief an die Korinther steht die Gemeinde im Mittelpunkt: »Die in Jesus Christus begründete Einheit der Gemeinde angesichts ihrer faktischen Zerrissenheit; dieses große Thema bedenkt Paulus im 1. Korintherbrief.« 63 Die Einheit der Gemeinde liegt also Paulus am Herzen, er dringt deshalb immer wieder auf das zu achten, was »aufbaut«. Hierher gehört dann auch seine Unterscheidung von Reden in Zungen und von prophetischer Rede. So heißt es: »Ich wollte, dass ihr alle in Zungen reden könntet; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch reden könntet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, damit die Gemeinde dadurch erbaut werde. (…) Lasst es alles geschehen zur Erbauung.« (1. Kor 14,5.26) Das gemeindliche Leben war nie nur von der Rede von Gott allein bestimmt, sondern auch durch sakramentale und diakonische Handlungen. Diese hatten eine stabilisierende Funktion in der prekären Existenz der Gemeinschaft. Die Sakramente spielten schon für Paulus eine zentrale Rolle: »Paulus hat beide Handlungen, die Taufe als Grundlegung der Christusgemeinschaft und das Herrenmahl als deren ständige Vergegenwärtigung, bei seinem Eintritt in die Christenheit vorgefunden. Er hat sie in den neugegründeten Gemeinden eingeführt, so dass sie zum selbstverständlichen Gut auch der heidenchristlichen Kirche wurden.« 64 Die Rede von Gott ist nicht von den Kommunikationsvorgängen einer Gemeinschaft abstrahierbar. Es gibt nicht die Botschaft der Menschwerdung Gottes und dann noch davon getrennt deren Kommunikation in den Gemeinden. »So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber aus dem Wort Christi.« (Röm 10,17) Das Wort vom Kreuz, das alle menschliche Weisheit durchkreuzt, ist ein Wort 62 63 64

Lehnert 2013: 32. Schnelle 2011: 86. Wiefel 2013: 70.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

vom Kreuz. Das zeigt: Das Ringen, das in den Briefen des Paulus sichtbar wird, ist keine zufällige Mühsal. Es stammt aus dem grundlegenden Auftrag dessen, der Paulus zum Apostel berufen hat, der ihm das Evangelium anvertraut hat, es zu verkünden. Eine Theologie, die sich diese Haltung zu eigen macht, muss beides zum Ausdruck bringen können: ihr Bemühen um eine klare Begrifflichkeit und ihr Unvermögen, für die christliche Botschaft eine solche zu finden. Lehnert erweitert diese Diagnose auf die Situation der Gemeinde: »Die ekklēsia der Getauften ist ein Phänomen der Zwischenzeit (…). Ein Dämmern ruht über der Welt. Nur ein paar Steine liegen da, Spuren – man versucht, sie in Sprache zu übersetzen, es gelingt nicht. Das ist die Situation der Theologie.« 65 Gerade die Brüche, Wiederholungen und überraschenden Wendungen zeigen, wie Paulus um eine theologische Deutung der Geschehnisse ringt. Paulus doziert nicht. Er befindet sich mitten in einer lebhaften Auseinandersetzung, in deren Verlauf er erst seine eigene Position besser erschließen kann, die er nicht von Beginn an hat.

Exkurs – Der frühe Karl Barth Die Forderung, dass man die Rede von Gott nicht systematisieren dürfe, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Barth durch eine viel beachtete Auslegung des Römerbriefes wirkmächtig erhoben. In diesem Werk legte Barth einen Grundstein für das, was später »dialektische Theologie« genannt wurde. Dieser Ansatz geht von dem fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Gott aus: »Ein anderes ist und bleibt das, was Gott ist und tut, ein anderes das Sein und Tun des Menschen.« 66 Zwischen beiden Sphären liegt eine »Todeslinie«, zwischen beiden gibt es keine Vermittlung, die Rede von Gott durchdringt die Welt gewissermaßen senkrecht von oben. Die Einflüsse auf diese damals neue theologische Position kamen aus unterschiedlichen Quellen: aus der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards oder von Literaten wie Dostojewski. Nicht unwesentlich ist die Position auch beeinflusst durch das, wovon sie sich abgrenzen will: Bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die so genannte liberale Theologie maßgeblichen Einfluss auf die theologische 65 66

Lehnert 2013: 52. Barth 1922 (1): 86.

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Exkurs – Der frühe Karl Barth

Theoriebildung. Liberale Ansätze betonten die geschichtliche Vermittlung, in der das Evangelium steht, und die menschlichen Erkenntnisbedingungen, unter denen eine Rede von Gott nur möglich ist. Barth und andere Theologen widersprachen den Ansätzen ihrer Lehrergeneration, die sie nicht zuletzt auch durch ihre Unterstützung der deutschen Politik in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs diskreditiert sahen. Sie widersprachen einer Theologie, »die von den Gegebenheiten und Vorfindlichkeiten des Menschen und seiner Welt ausgeht; von ›Religion‹ oder ›religiösem Erlebnis‹, von ›Geschichte‹ oder ›Heilstatsachen‹.« 67 Scharf wendet sich Barth gegen alle Vermittlungskategorien wie das religiöse Erlebnis oder die Geschichte: »Das religiöse Erlebnis (…) ist in seiner Geschichtlichkeit, Dinglichkeit und Konkretheit immer der Verrat an Gott.« 68 Die Gegnerschaft kann durchaus kulturumfassende Gestalt annehmen. Die neue Theologie versteht sich als eine Abrechnung sowohl mit philosophischen Traditionen als auch mit naturwissenschaftlicher Welterklärung: »Die Welt ist ›heilig und verehrungswürdig‹ – zur Not auch abgesehen vom Schöpfer: Darüber sind die naturwissenschaftlich-historische und die philosophischtheologische Weltanschauung einiger als es aussieht.« 69 Christus dagegen ist die Zeitenwende, 70 das Gericht Gottes ist das Ende der Geschichte, so wie wir sie kennen. 71 Gott lässt sich nicht in die menschlichen Verhältnisse hinein vermitteln, die Geschichte ist bestimmt durch Gottesferne. »Vom Nutzen der Historie« kann Barth nur mit großer Ironie sprechen, die Historie ist Ausdruck von Krisis und Krankheit zum Tode. 72 So wie die menschliche Geschichte eindeutig von Gott unterschieden werden muss, so gilt das auch für Religion, die Barth nur als menschlichen Versuch der Bemächtigung Gottes wahrnehmen kann, Religion ist schlicht eine Form der »Überheblichkeit des Menschen« 73. Die menschlichen Verhältnisse werden angesichts der Offenbarung Gottes prekär und brüchig. Vor diesem Hintergrund betont Moltmann 1985: XV. Barth 1922 (1): 25. Kritische Aussagen zur Geschichte finden sich immer wieder; a. a. O. 33; 55; 59; 82 passim. 69 Barth 1922 (1): 28 70 Vgl. Barth 1922 (1): 44. 71 Vgl. Barth 1922 (1): 51. 72 Mit Anspielung auf das Werk von Kierkegaard, vgl. Barth 1922 (1): 123. 73 Barth 1922 (1): 223. 67 68

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

auch Barth die Sonder- und Apostel-Existenz des Paulus: »Gerade als Apostel ohne ein geordnetes Verhältnis zur menschlichen Gemeinschaft in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit, von daher gesehen vielmehr eine nur als Ausnahme mögliche, ja unmögliche Erscheinung.« 74 Doch steht das Persönliche des Apostels bei Barth erkennbar im Hintergrund, die Person verschwindet hinter der »Sache selbst«, der Heilsbotschaft. »Gott ist der unbekannte Gott. (…) Und so ist seine Kraft (…) die Krisis aller Kräfte, das ganz andere, an dem gemessen sie etwas sind und nichts (…).« 75 Der Kultus der Christengemeinde kann nur uneigentlich fassen, worauf er abzielt, er ist nur »Einschlagstrichter« oder »Hohlraum« für die Botschaft, wie Barth in einer fragwürdigen Metaphorik kurz nach dem Ersten Weltkrieg formuliert. Allen menschlichen Vermittlungsversuchen steht das Evangelium von Jesus Christus entgegen: »Gnade wird keine psychische Kraft in diesem Menschen, keine physische Kraft in dieser Natur, keine kosmische Kraft in dieser Welt. Sie ist und bleibt immer Gottes Kraft (…).« 76 Alles ist in diesem Ansatz darauf ausgerichtet, Differenzen zu betonen. Vermittlungen spielen so gut wie keine Rolle. Wenn aber doch eine menschlich nachvollziehbare Entwicklung konzediert werden muss, etwa bei der Taufe, wenn aus dem alten Menschen ein neuer Mensch wird, dann wird dieser »Vorgang« gleich wieder in Frage gestellt: »Und von dort aus wird (…) meine Identität mit einem unanschaulichen neuen Menschen gesetzt, vorausgesetzt, als Sinn und Bedingung des ganzen Vorgangs (der kein ›Vorgang‹ ist).« 77 Im Glauben stehen Diesseits und Jenseits senkrecht aufeinander, nur so kann der Glaube wahrhaft christlicher Glaube sein. Doch wenn man sich so entschieden gegen alle Vermittlung abzusetzen versucht, gerät man dann nicht automatisch in eine Unfähigkeit, über die eigene Position zu reflektieren? Dann muss man sich umgekehrt die Frage stellen, wie denn das Wort durch die theologische Arbeit überhaupt zugänglich werden sollte. Moltmann hat die entscheidende Frage gestellt: »Wie kommt man von der historischen Betrachtung der ›Wörter‹ zum Hören und Verkündigen des ›Wortes‹ ? – Wenn irgendwo, dann musste hier, wo Historiker und Prediger vor denselben Texten stehen, der Hiatus bewältigt wer74 75 76 77

Barth 1922 (1): 4. Barth 1922 (1): 11. Barth 1922 (1): 77. Barth 1922 (1): 179.

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Exkurs – Der frühe Karl Barth

den.« 78 Die Rede von Gott ist immer auch ein historisches Geschehen, sie ist zunächst und vor allem eine menschliche Rede. Zugleich ist sie eine Rede von Gott, doch genau dies gilt es zu problematisieren. Es reicht also nicht aus, den Bezug auf Gott gegen die menschliche Sphäre auszuspielen, um das Besondere der Rede von Gott hervorzuheben. Die Rede von Gott ist von Beginn an durch eine Vermittlung bestimmt, die das zu Vermittelnde aber nicht in einer neuen, den Menschen zugänglichen Ordnung aufgehen lässt. Eine Theologie »senkrecht von oben« kann keine Basis für eine Theologie sein, sondern nur die sich selbst von anderen menschlichen Reden isolierende Behauptung einer Sonderstellung der Rede von Gott. Dennoch weist der Ansatz von Barth in allen dialektischen Zuspitzungen auf einen Punkt, der auch heute wieder gehört werden muss: Die Rede von Gott ist nicht das Bekannte, sondern weist notwendigerweise, weil sie Rede von Gott ist, auf das Unbekannte. Aber sie ist es nicht deshalb, weil sie einer ganz anderen Dimension angehört als die menschliche Rede, sie ist es auf eine subtilere Weise. Sie ist es in, mit und unter den menschlichen Worten und auch den menschlichen Erfahrungen. Jene, die diese Worte und Erfahrungen als trivial, als schon verstanden ablegen, machen sich auf die Suche nach dem ganz Anderen. Doch vielleicht ist das ganz Andere immer schon da und es kommt eher darauf an, die Kunstfertigkeit zu entwickeln, das ganz Andere in dem ganz Gewöhnlichen zu entdecken! Hierzu, das soll der weitere Verlauf der Arbeit zeigen, können die hermeneutische und die phänomenologische Forschung einiges beitragen. Es ist verfrüht, zu meinen, wir kennten uns in der Welt schon aus, jetzt komme es darauf an, das ganz Andere kennen zu lernen. Die Heilsbotschaft wird bei Barth entschieden als etwas dargestellt, das in keine kulturelle Sphäre eingebunden werden kann. Darauf weist auch die Rede vom Kreuz und von der Auferstehung bei Paulus. Doch ebenso gilt auch, dass Paulus sehr wohl erbaulich sprechen wollte, dass er um verständliche Worte rang und dass er zugleich damit rechnete, sich in den menschlichen Verhältnissen mit den Mitteln der ihm vertrauten religiösen Tradition verständlich machen zu können. Der Ruf nach dem ganz Anderen Moltmann 1985: XVI. Barth selbst hat bekanntermaßen seine Position später deutlich revidiert, ohne aber die Erkenntnis Gottes aus einer sie ermöglichenden Ordnung abzuleiten: »Die ganze menschliche Unmöglichkeit, die uns hier vor Augen steht, dass Menschen reden sollen, was Gott redet – sie ist in Jesus Christus schon behoben.« Barth 1938: 837. In der Auferstehung wird die neue Möglichkeit des Menschen offenbar, die Möglichkeit zum menschlichen Zeugnis für Gott.

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Beobachtungen zur Rede von Gott bei Paulus

kommt aus einer völligen Unterschätzung der Untiefen des ganz gewöhnlichen Lebens. Auch hier kennen wir vieles, für das wir keine Worte haben, auch hier haben wir vieles nicht im Griff und nur weniges unter Kontrolle. Eine theologische Interpretation der Rede von Gott, die durch eine phänomenologische Arbeit unterstützt wird, wird auf das Andere im Nahen aufmerksam machen. Das »ganz Andere« ist viel näher als man denkt.

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2. Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

Die Position des Paulus lässt sich so umschreiben: Die Rede von dem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, ist notwendigerweise menschliche Rede und weist doch über all das hinaus, wozu eine menschliche Rede fähig ist. Das Wort vom Kreuz, aber auch die Rede von der Auferstehung sind nicht wohlverstandene und schlüssige Aussagen in einem theologischen System, sondern Hinweise auf ein Geschehen, das über das hinausgeht, was Worte zum Ausdruck bringen können. Kreuz und Auferstehung stehen nicht nur im Zentrum der Rede von Gott, sie erfordern zugleich auch eine neue Deutung der Wirklichkeit, in der wir leben. Das Kreuz, an dem der Sohn Gottes starb, gibt der menschlichen Geschichte ein neues Vorzeichen, die Auferstehung weist auf ein kosmisches Geschehen, das letztendlich alles Wirkliche erfasst und in die Veränderung zu Neuem einbezieht. So hat die christliche Rede von Gott eine fragile und von Spannungen durchzogene Darstellung der Wirklichkeit zur Folge. Da Gott aber in einem historischen Kontext zur Welt kam, Mensch wurde und an der menschlichen Geschichte teilhatte, bleiben die, die sich auf ihn beziehen, nicht sprachlos. Es ist möglich und notwendig, an die Traditionen der hebräischen Bibel und an die mündlichen Traditionen, die sich auf den historischen Jesus beziehen, anzuknüpfen. Die christliche Rede von Gott ist als Rede immer auch Textauslegung und von Beginn an auf die jüdischen Traditionen der Rede von Gott angewiesen. Nur auf diesem Wege kann Paulus der Botschaft von der Menschwerdung Gottes einen adäquaten Ausdruck geben, das Neue ist nicht das ganz Andere. Der möglichst adäquate Ausdruck bleibt allerdings immer unvollkommen, Entscheidendes lässt sich nur indirekt bezeichnen. Die Rede vom Kreuz und von der Auferstehung ermöglicht einen neuen Blick auf grundlegende Dimensionen unserer Wirklichkeit. Kreuz und Auferstehung entziehen sich letztlich dem interpretatorischen Zugriff, die Rede von Gott lässt als Deutung der Wirklichkeit nur fragile Ordnungen zu. Paulus zeigt, dass diese Schwierigkeiten und Einschränkungen nicht nur Begrenzungen sind, im Gegenteil es entstehen innovative Formen der Deutung. Doch jede Deutung ist 59 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

auch hinterfragbar, sie weist immer über sich selbst hinaus. In der Geschichte des Christentums führt die Botschaft von der Menschwerdung Gottes und der damit einhergehenden fragilen Wirklichkeitsdeutung zu einem immer wieder neu ansetzenden Interpretationsprozess, zu einer Geschichte von Abbrüchen, Neuanfängen, Korrekturen und Reformationen. Diese Geschichte ist einerseits von Versuchen bestimmt, diese missliche Situation hinter sich zu lassen, sich der Spannungen und Begrenzungen durch eindeutige Welt- und Gottesvorstellungen zu entledigen, und andererseits von immer neuen Anläufen, die so scheinbar gewonnenen Eindeutigkeiten in Frage zu stellen. Wenige Beobachtungen zu der langen Geschichte des Christentums seit den Briefen des Paulus sollen in diesem und im folgenden Kapitel darstellen, in welcher großen Bandbreite sich das Wirklichkeitsverständnis der christlichen Rede von Gott im Laufe der Zeit verändern konnte. Da sich die Wirklichkeitserfahrung, die mit der Rede von Gott verbunden wird, nicht in einer geschlossenen und begrifflich ausdifferenzierten Form darstellen lässt, war und ist die Deutung stark beeinflusst von den jeweils kulturell dominanten Strömungen. Versuche, eine stabile und begrifflich abgesicherte Beschreibung der Wirklichkeit im Kontext der Rede von Gott zu ermöglichen, werden letztendlich aber immer wieder von den Spannungen eingeholt, die die Rede von Gott von Anfang an prägen. Zunächst soll ein Blick auf die Kosmologie in der Patristik geworfen werden: Wie ließ sich die neue Rede von dem menschgewordenen Gott mit der überkommenen antiken Kosmologie verbinden? Besonders weitreichend für das Wirklichkeitsverständnis war weiterhin der Übergang vom Hochmittelalter zur Neuzeit, den wir in einem zweiten Schritt betrachten werden. Hans Blumenberg untersuchte diesen Epochenwandel unter der Fragestellung, inwieweit man entgegen der traditionellen These der Säkularisierung von einer Eigenständigkeit und einer auf sich selbst gründenden Legitimität der Neuzeit reden kann. Wie kam es zu dem epochalen Umbruch, nachdem es doch einigen theologischen Ansätzen im Mittelalter gelungen zu sein schien, eine stabile Verbindung von antiker Kosmologie und der christlichen Rede von Gott aufzubauen? Mit dem Beginn der Neuzeit folgte durch die Entwicklung der Naturwissenschaften eine Wirklichkeitsvorstellung sui generis. Christliche Beschreibungen der Wirklichkeit, seit der Antike gebunden an die metaphysischen Systeme der philosophischen Traditionen, gerieten angesichts des Erfolgs dieser neuen, methodisch geleiteten 60 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Bemerkungen zur theologischen Weltdeutung in der Patristik

Untersuchungen der Wirklichkeit in die Defensive. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Theologie vielfältige neue Ansätze jenseits der tradierten metaphysischen Systeme hervorgebracht, jedoch blieb auch hier eine eher defensive Haltung der Theologie in der Beschreibung der Wirklichkeit. Durch die Erfolge der Naturwissenschaften und durch den Aufbau einer wissenschaftlich-technischen Welt verlor eine Wirklichkeitsdeutung, die sich aus der metaphysisch gedeuteten Rede von Gott ableitet, an Plausibilität.

1.

Bemerkungen zur theologischen Weltdeutung in der Patristik

Im Verlaufe der frühchristlichen Missionierungsbewegungen entsteht eine zunehmende Auseinandersetzung mit der philosophischen und religiösen Umwelt. Durch die Versuche, deren Begrifflichkeiten und Deutungsmuster aufzunehmen, um die eigene Botschaft zum Ausdruck zu bringen, kommt es im Christentum der Spätantike immer wieder zu Deutungskonflikten. Christliche Theologen und Philosophen sehen sich angesichts der Einflüsse aus der kulturellen Umwelt gezwungen, die Rede von Gott gegenüber Fehlinterpretationen zu schützen. Schon sehr früh gibt es trinitarische Formeln, die Gott, den Vater, mit dem Schöpfer aller Dinge bzw. der ganzen Welt in Verbindung brachten. 1 Diese Formeln erfüllen auch die Aufgabe, den Kern der eigenen Rede sicherzustellen. Zugleich sind die frühen Theologen darauf bedacht, die Anschlussfähigkeit der christlichen Botschaft an die führenden philosophischen Lehren unter Beweis zu stellen. Es ist unumgänglich, die Rede von Gott mit den Wirklichkeitsdeutungen der führenden philosophischen Schulen in Beziehung zu setzen, denn nur so kann der spezifisch christliche Anspruch auf Deutung der Wirklichkeit als Schöpfung des sich in Christus offenbarenden Gottes gegenüber den anderen dominanten Weltdeutungen unterstrichen werden. Es folgt in einer extensiven Rezeption der griechischen Philosophie die Auseinandersetzung mit den antiken kosmologischen Theorien, die auch die Auslegung der tradierten Texte des Alten Testaments, vor allem natürlich des Buches Genesis beeinflussten: »Die christlichen Autoren betreiben in ihren Auslegungen des biblischen Schöpfungsberichts auf unterschiedliche Weise christ1

Etwa bei Justin, vgl. Kelly 1993: 75. Vgl. allgemein auch Wenz 2013: 86.

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Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

liche Naturphilosophie.« 2 Naturphilosophisch ist eine solche Auslegungsweise, weil sie die beobachtbaren Strukturen und Gesetze dieser Welt darstellt und an die kosmologischen Theorien der griechischen Philosophie anknüpft. Christlich sind die Auslegung, denn sie »führt zu der Erkenntnis der göttlichen Kraft und Weisheit in der Schöpfung und schafft dadurch ein Bewusstsein für die transzendente Ursache der Kosmosordnung.« 3 Zwangsläufig werden in der Folge der Rezeption philosophischer Schulen und der Notwendigkeit einer öffentlichen Apologie, der Verteidigung der christlichen Sichtweise gegen Angriffe anderer, die eigenen Begriffe geschärft und das Unterscheidungsvermögen gesteigert. Dabei erhöht sich der Grad der begrifflichen Ordnung, in der die Botschaft vom menschgewordenen Gott dargestellt werden kann. Die Rezeption der Terminologie griechischer Philosophie schafft neue Möglichkeiten einer theoretischen Grundlage der entstehenden christlichen Theologie. Für die Entwicklung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses wiederum ragt der Einfluss der Auslegung des Timaios-Dialogs von Platon klar hervor. 4 Doch die Adaption der Begrifflichkeit griechischer Philosophie ist nicht konfliktfrei: »The philosophy which at first seemed to recommend itself as the most apt to express the Christian kerygma was (in a loose sense) Platonism. (…) All of the thinkers in this early period were aware that there were crucial features of Christian doctrine which were at danger of distortion in this language as they found it in the schools.« 5 Charles Taylor führt einige zentrale Begriffe der jüdisch-christlichen Tradition an, die in Spannung zu der platonischen Tradition stehen, so der integrative Begriff des Herzens, die besondere jüdische Auffassung von Geschichte, die biographisch bedingte Individualität, die Kontingenz, die in dem jüdisch-christlichen Verständnis von Geschichte gegeben ist, die Rolle der Emotionen, schließlich die personale Verbundenheit. 6 Nichtsdestotrotz ist die platonische Tradition in der Spätantike dominant und damit eine Voraussetzung für christliche Denker. Weiterhin fällt auf, dass innerhalb des Kanons die AusKöckert 2009: 528. Köckert 2009: 529. 4 »Die kosmologische Debatte der Kaiserzeit und der beginnenden Spätantike wird maßgeblich durch die Diskussion um die Auslegung des platonischen Timaeus geprägt.« Köckert 2009: 4. 5 Taylor 2007: 275. 6 Vgl. Taylor 2007: 275 ff. 2 3

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Bemerkungen zur theologischen Weltdeutung in der Patristik

legung des Buches Genesis für die Wirklichkeitsdeutung eine Eigenständigkeit gegenüber christologischen Erwägungen erhält. Die Ausleger sind sehr an der Erklärung von Ordnungen interessiert. Köckert führt zu Basilius von Caesarea aus: »Ausführlich legt Basilius die Identität von Schöpfungsbefehl und Naturordnung in der Auslegung von Gen 1,11 dar. Die Übereinstimmung von Befehlswort und Naturprozess zeigt, dass der Schöpfungsbefehl zum Naturgesetz wurde (…).« 7 Ein christologischer Bezug ist durch die Auslegung des Johannes-Prologs gegeben, also durch eine Christologie, die ihrerseits zumeist ordnungsaffin ausgelegt wird: »Das universale Prinzip aus Gen 1,1 ist nach Joh 1,1–3 das göttliche Wort, in welchem und durch welches Gott Himmel und Erde, d. h. alle geschaffenen Dinge, geschaffen hat. (…) Während Christus als Weisheit gedacht wird, insofern er das geordnete System der göttlichen Gedanken ist, wird er als Wort gedacht, das den Vernunftwesen Anteil an diesen göttlichen Gedanken und Plänen gewährt.« 8 In der gelehrten Auseinandersetzung mit den Kosmologievorstellungen der philosophischen Traditionen konzentrieren sich die christlichen Theologen darauf, die Erklärung der beobachtbaren Ordnungen aus den biblischen Texten abzuleiten. »Das Christentum musste sich auf die Spielregeln der vorgegebenen und fortbestehenden Welt einrichten; es musste seine Diskussionsfähigkeit für seine hellenistische Umwelt und ihre drängenden Fragen nach der Stellung der neuen Lehre zum alten Kosmos erweisen. (…) Das Arrangement des Christentums mit der antiken Metaphysik führte in einen neuen Kosmoskonservatismus hinein.« 9 Die Rede von Kreuz und Auferstehung verliert durch die Deutung der Wirklichkeit als Kosmos an Brisanz. Die Wirklichkeit wird primär verstanden als die Schöpfung Gott, des Vaters, Christus wird in diesem Zusammenhang als präexistenter Schöpfungsmittler, als Weisheit oder als Logos gedeutet, der so als eine Bestätigung der geschöpflichen Ordnung gesehen wird. Es deutet sich eine Art AufteiKöckert 2009: 396. Köckert 2009: 243. So sagt Schubert in Bezug auf die frühen Apologeten: »Im Anschluss an stoische Vorstellungen deutet Justin den Logos nicht nur als Inkarnation des Wortes Gottes, sondern als ewige Weltvernunft. Diese ist insofern an der Schöpfung beteiligt, als sie den vernünftig geschaffenen Kosmos von Ewigkeit an durchwaltet (…).« Schubert 2012:191. 9 Blumenberg 1966: 144. Dies geschah nach der bekannten These von Blumenberg gerade in Abwehr gegen die gefährliche Systematisierung der christlichen Rede von Gott durch die Gnosis. 7 8

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Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

lung an, die sich entlang der ersten beiden Artikel des Bekenntnisses entwickelt. Der Artikel über Gott, den Vater, bezieht sich auf den geordneten Kosmos: »Die im ersten Artikel ihrer Frageformel enthaltene Hauptlehre war die schöpferische Vaterschaft Gottes, seine Majestät und transzendente Souveränität. Es möchte scheinen, dass ein solcher Glaube nicht eigentümlich christlich war (…).« 10 Der erste Artikel beinhaltet aber einen Verweis auf den zweiten über Christus, der die paradoxen Beschreibungen des Kreuzesgeschehens bewahrt. Die Perspektive des Paulus, der die Botschaft von Kreuz und Auferstehung als fundamentale Aussage über die vorfindliche Wirklichkeit deutet, ist für die mit dem ersten Artikel verbundene Darstellung der kosmischen Wirklichkeit jedoch weniger erkenntnisleitend. 11 Zugleich aber bleiben natürlich in der christlichen Theologie die christologischen Probleme von größter Bedeutung und zentralem Interesse: Die Debatten des vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts mit der Ausarbeitung einer umfassenden Trinitätslehre sind von weitreichenden ontologischen Fragestellungen geprägt. 12 Jedoch führt der hier angedeutete Sonderweg einer expliziten Schöpfungstheologie durch den Verknüpfung mit griechischer Philosophie zu Systembildungen, die langfristige Folgen für das Wirklichkeitsverständnis der Theologie hatte und die sich im Mittelalter und insbesondere in der frühen Neuzeit bemerkbar machten.

2.

Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter

Die Arbeiten der frühchristlichen Theologen sind durch eine enge Verbindung antiker Kosmosvorstellungen mit der christlichen Rede Kelly 1993: 140. Es geht hier um Tendenzen, um die Anschlussfähigkeit an philosophische Diskurse und sich verselbständigende weltanschauliche Implikationen. Unbeschadet davon gilt natürlich, dass jede theologische Reflexion einen trinitätstheologischen Bezug suchen muss, wie Wenz festhält: »Die Schöpfungslehre geht gemäß christlicher Lehre der Christologie und der Pneumatologie voraus, so wie das Zeugnis Israels von Gott der göttlichen Geistoffenbarung in Jesus Christus vorausgeht. Dennoch lässt sich die christliche Schöpfungslehre ohne christologische und pneumatologische Bezüge nicht angemessen erfassen.« Wenz 2013: 72. Ebenso gilt für die Patristik: »Die altkirchliche Schöpfungslehre nimmt daher aus innerer Konsequenz heraus fortschreitend trinitarische Gestalt an.« Wenz 2013: 98. Vgl. auch Link 1976: 153 ff. 12 Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 7.2. 10 11

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Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter

von Gott dem Schöpfer gekennzeichnet. Darin bewährt sich jene Eigenschaft der christlichen Rede von Gott, die auf eine begrifflich strukturierte Reflexion ihrer selbst drängt. An die Betonung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im Sinne patristischer Autoren knüpft auch die mittelalterliche Theologie an. Prägnant kommt sie in der Formel zur Geltung, die Anselm von Canterbury gefunden hat: »fides quaerens intellectum«. Der christliche Glaube, der sich in der Rede von Gott artikuliert, sucht aus inneren Gründen, aus Gründen der allgemeinen Mitteilbarkeit der Rede von Gott nach einer begrifflich generalisiserten Form, er sucht eine rationalisierende Weise der Selbstvergewisserung. »Fides quaerens intellectum« bedeutet in diesem Sinne nicht, dass die Rede von Gott nur in einer philosophisch reflektierten Form existieren kann. Der christliche Glaube ist keine höhere Form des Nachdenkens. Die Formel meint, dass der christliche Glaube stets danach strebt, sich allgemein verständlich zum Ausdruck zu bringen, und das heißt, dass er danach strebt, die herausragenden Denkvoraussetzungen und -standards seiner Zeit zu berücksichtigen, um den eigenen Impuls, der sich immer von allgemeinen Denkvoraussetzungen in kritischer Weise unterscheidet, zur Geltung zu bringen. Im Verlauf des Mittelalters entstehen auf diesem Weg durch die Rezeption antiker Philosophen weitreichende Systembildungen der Theologie. Doch sind diese Adaptionen nie unproblematisch: »Die antiken Autoren werden zuerst instrumental in Dienst genommen, um der Theologie ihre Argumentationsmittel zu verschaffen; aber sofort beginnt das heterogene Medium seinerseits normierend auf den theoretischen Anspruch einzuwirken.« 13 Einen vorläufigen Höhepunkt findet diese Entwicklung durch die Rezeption der Werke des Aristoteles besonders bei Thomas von Aquin, die den frühmittelalterlichen Einfluss des Augustinus zurückdrängt. Die Welt wird nun als ein erforschbares Kontinuum dargestellt, in Differenz zur Transzendenz Gottes, aber auch in einer steten Bezogenheit auf sie. In diesem Gedankengebäude weisen die Ordnungen der Welt über sich hinaus, sie sind nicht letztgültig geschlossen. 14 Die Philosophie als Erkenntnis Blumenberg 1966: 378. Blumenberg zitiert eine Kritik von Thomas von Aquin an dem Denken seiner Zeitgenossen: »Der Mensch begehrt Erkenntnis der Wahrheit über die Schöpfung, ohne sie bis zu ihrer Konsequenz durchzuführen, indem er sie auf die Erkenntnis Gottes bezieht.« Blumenberg 1966: 387. Thomas fordert diese Konsequenz ein, die Erkenntnis der Welt darf nicht im Weltlichen enden, sondern muss auf Gott weisen.

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Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

der Welt kann den Weg zu Gott bahnen, auch wenn sie ihn nicht ohne die theologische Offenbarung zu Ende gehen kann. Pesch unterscheidet im Sinne des Thomas von Aquin: »Selbstverständlich kennen wir Gott durch die Philosophie, aber nur als Seinsgrund, als principium der Welt, nicht jedoch als Ziel, finis, und das heißt, als Heil – und damit auch nicht den Weg dahin.« 15 Zugleich sieht Pesch aber auch Grund zur Kritik an Thomas: Er »identifiziert das Ergebnis einer metaphysischen Argumentation mit dem Gottesbild des christlichen Glaubens – obwohl doch gerade im Licht der methodologischen Einführung der Gottesbeweis Entscheidendes vom christlichen Gott noch gar nicht zeigt und zeigen kann: den Gott des Heils!« 16 Die Rede von Gott geht im Hochmittelalter mit einer systematisierenden Wirklichkeitsbeschreibung eine enge Verbindung ein, auch wenn im Letzten deutlich bleibt, dass etwas Entscheidendes der christlichen Rede von Gott nicht in den Wirklichkeitsvorstellungen aufgeht. 17 Den Höhepunkt dieses Ordnungsstrebens sieht Hans Blumenberg bei Siger von Brabant, der an die Theologie des Thomas anknüpft: »Damit hat Siger dem der scholastischen Summa innewohnenden Systemprinzip den klarsten und bestimmtesten Ausdruck gegeben (…). Das Prinzip der durchgehenden Rationalität einer endlichen Wirklichkeit schließt den Begriff einer durch keinen je erreichbaren Wissensbestand zu befriedigenden, wesenhaft unruhigen theoretischen Neugierde aus und entzieht ihrer Dämonisierung den Boden.« 18 Die Wirklichkeit erscheint als ein wohlgeordnetes Ganzes, das über sich hinaus auf Gott verweist. Blumenberg interessiert sich in der Studie »Legitimität der Neuzeit« insbesondere für den Übergang vom Spätmittelalter zur NeuPesch 1995: 131. Thomas unterscheidet zwischen der rationalen und suprarationalen Offenbarung: »Die Schöpfungslehre gehört entsprechend in den Zusammenhang natürlicher, nicht supranaturaler Theologie.« Wenz 2013: 135. Dadurch aber koppelt sich die Schöpfungslehre als Ausführung des ersten Artikels des Bekenntnisses noch weiter vom Übrigen ab: »Die Schöpfungslehre von Thomas ist als Metaphysik konzipiert, und theologische und philosophische Aussagen kommen in ihr tendentiell und mehr oder minder differenzlos überein.« Ebenda. 16 Pesch 1995: 132. 17 In diesen theologischen Ansätzen gehen nicht alle Aspekte der biblischen Rede von Gott in den Ordnungen auf: »Die Stabilität und Rationalität der Weltordnung, schien nach der Aristoteles-Rezeption so evident, dass die biblischen Vorstellungen vom Ende der Weltzeit schwer verständlich wurden: Kosmologie und Eschatologie traten in Konflikt.« Flasch 1986: 301. 18 Blumenberg 1966: 393. 15

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Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter

zeit. Er fragt, wie es möglich war, dass sich mit der Neuzeit eine gegenüber den mittelalterlichen Systemen völlig andere Wirklichkeitsauffassung etablieren konnte. Seine zentrale These besagt, dass sich die Wirklichkeitsauffassungen der Neuzeit nicht im Sinne der allgemeinen Säkularisierungsthese als Umwandlung christlicher Interpretationen deuten lassen, sondern eine Eigenständigkeit und damit auch eine von der christlichen Tradition unabhängige Legitimität haben. Wie kommt es angesichts der Systembildungen des Hochmittelalters zu jenem Epochenwandel, der letztlich ganz neue Wirklichkeitsvorstellungen durch die Naturwissenschaften möglich machte? Nach Blumenberg hat das gerade mit jener hochproblematischen Verknüpfung der Wirklichkeitsvorstellungen und der Rede von Gott zu tun. Hier bringt Blumenberg den Nominalismus ins Spiel, eine spätmittelalterliche theologische Richtung, die scharf trennt, was die bisher genannten theologischen Systeme in einen Zusammenhang darstellen: »Wilhelm von Ockham (…) trifft die elementare Feststellung, dass die Vernunft kaum zu dem ausreiche, was für das Heil notwendig ist.« 19 Die nominalistischen Positionen unterscheiden, was die theologischen Systeme des Hochmittelalters zusammenzudenken versucht haben, ordnende Vernunft und Glaube, Weltbeschreibung und Heil. Wenn man Vernunft und Glaube, Weltbeschreibung und Rede von Gott auf diese Weise trennt, ergibt sich zweierlei. Zunächst wird die Vernunft als weltliches Erkenntnisvermögen freigesetzt, dieser Schritt hilft, »die Kompetenz der Vernunft als Organ einer neuen, sich von der Tradition befreienden Wissenschaftlichkeit vorzubereiten« 20. Zum anderen aber wird die Rede von Gott verdunkelt, sie ist ja nun nicht mehr argumentativ einholbar, Gott erscheint als ein Numinoses, getrennt von der erforschbaren Welt. 21 »Der Nominalismus ist ein System höchster Beunruhigung des Menschen gegenüber der Welt – freilich mit der Absicht, ihn sein Heil gerade nicht in der Welt suchen zu lassen, ihn zur Verzweiflung an seinen diesseitigen Möglichkeiten und damit zur bedingungslosen Kapitulation des Glau-

Blumenberg 1966: 405. Ebenda. 21 Die völlig Trennung des Handeln Gottes von den Ordnungen der Welt, die der Mensch sich erschließen kann, hat dramatische Folgen: »Der Gott, der sich nicht selbst nötigt, der auf keine Konsequenz seiner Manifestation festgelegt werden kann, macht die Zeit zur Dimension schlechthinniger Ungewissheit.« Blumenberg 1966: 181. 19 20

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Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

bensaktes zu treiben (…).« 22 Die Wirklichkeit erscheint hier nicht mehr als eine Schöpfung mit einer kosmischen Ordnung. Woher stammt nun die Opposition gegen die hochmittelalterlichen Systembildungen? Blumenberg sieht die skizzierte Erscheinung des Nominalismus in einem engen Zusammenhang mit der spätantiken Gnosis. Danach ist deren Vorstellung eines malevolenten Gottes, des Demiurgen, der von den frühchristlichen Kirchenvätern heftig bekämpft wurde, in den theologischen Traditionen nur verdrängt, nicht aber überwunden worden. Die Vorläufer der neuzeitlichen Erkenntnis, die auf die Fähigkeiten der eigenen Vernunft als sicheren Ausgangspunkt setzen, haben nach Blumenberg hier ihre Wurzel. 23 Diese These von Blumenberg, der Nominalismus und damit die spätmittelalterliche Kritik an den Systembildungen des Hochmittelalters sei durch ein Wiederauftreten gnostischer Gedanken bestimmt, ist umfassend diskutiert und auch kritisiert worden. Pannenberg hat vor allem die zentrale Stellung des Theodizeeproblems in der Argumentation Blumenbergs in Frage gestellt. Denn diese hat nach Ansicht Pannenbergs eine ganz andere Stellung innerhalb der Theologie der frühen Kirche, aber auch des Mittelalters: »Die entscheidende Auseinandersetzung des Christentums mit dem Übel und dem Bösen in der Welt vollzog sich nicht durch eine Entlastung des Schöpfers von der Verantwortung für die Welt, sondern durch den Glauben an die Versöhnung der Welt durch den Gott, der die Last ihrer Schuld und ihres Elends auf sich selbst nimmt und so die Menschen von ihr befreit.« 24 Wenn es keine Residuen der spätantiken Gnosis waren, die die nominalistische Kritik an den Systembildungen eines Thomas von Aquin oder eines Siger von Brabant hervorbrachten, bleibt die Frage, warum sich hier nicht eine stabile Beschreibung der Welt innerhalb der christlichen Rede von Gott behaupten konnte. Die konstitutiven Spannungen in der christlichen Rede von Gott bei Paulus lassen eine andere Interpretation der spätmittelalterlichen Kontroverse zu. Hiernach ist das Pendel sozusagen in zwei gegensätzliche Extreme ausgeschlagen. Auf der einen Seite entstanden philosophische Systeme, die die Rede von Gott nahezu in die systematische Blumenberg 1966: 167. So taucht er in den Überlegungen des Descartes zu einem genius malignus wieder auf. Vgl. Blumenberg 1966: 208. 24 Pannenberg 1972: 119 f. Die Kritik an Blumenberg zielte aber auch auf andere Punkte seiner Position, vgl. hierzu in einer kurzen Zusammenfassung Barth 2003 (1): 133 f. 22 23

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Differenzen der theologischen Weltdeutung im Spätmittelalter

Darstellung des Weltganzen einbanden. Auf der anderen Seite und in Reaktion darauf formulierten nominalistische Positionen das radikale Gegenteil, in dem die Rede von Gott von allen weltlichen Ordnungen unabhängig zu werden drohte. Legt man diese These von den konstitutiven Spannungen der Wirklichkeitsbezüge in der Rede von Gott hier zugrunde, dann lässt sich die Abfolge der Theorien im Spätmittelalter plausibel machen, ohne auf antike Debatten um die Gnosis zurückverweisen zu müssen. Die eingangs gemachten Beobachtungen lassen erwarten, dass eine Einbindung der Rede von Gott in umfassende Ordnungen höchst instabil ist. Die Rede von Gott erschließt Wirklichkeit auf eine Weise, die einerseits aussagbar ist, die sich also auf Ordnungen bezieht, die aber andererseits nicht in eine umfassende Ordnung eingebunden werden kann. So entsteht eine ständige Unruhe, die durch kein System zu bändigen ist. Theologie als eine begriffliche Reflexion der Rede von Gott ist in diesem Sinne eine ständige und nicht endende Aufgabe. Tatsächlich hat es auch im Mittelalter immer wieder zum Teil eruptive Neuinterpretationen der Wirklichkeit gegeben, etwa in den Endzeiterwartungen eines Joachim von Fiore, in der Bewegung der Katharer, in dem Auftreten eines Franziskus von Assisi, 25 in den Ansätzen der Mystik und schließlich in der Reformation. Hier ist die nominalistische Infragestellung großer Systeme nur ein Beispiel von vielen. Die Versuche der metaphysischen Grundlegungen der christlichen Rede von Gott im Hochmittelalter stoßen an Grenzen, die sich offenkundig aus den Eigenschaften der Rede selbst ergeben. Man kann die Versuche einer metaphysischen Grundierung im Zusammenhang mit der Rede von Gott auch in Entwürfen der Frühen Neuzeit, im 17. und 18. Jahrhundert, feststellen; die Versuche, die Rede von Gott über metaphysische Systeme mit der Welt zu verbinden, sind nicht auf das Mittelalter beschränkt. Eberhard Jüngel hat eine verallgemeinernde Formel für den Gebrauch metaphysischer Ansätze in der Rede von Gott vorgeschlagen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Annahme der Existenz Gottes als notwendig für die Beschreibung der Verhältnisse der Welt kennzeichnen: »Mit der Be-

Ganz eindrucksvoll kann der Besucher von Assisi die Ambivalenz von Deutungsmacht und ungesichertem Neuanfang und der diese einholende Deutungsmacht in der Kathedrale Santa Maria degli Angeli betrachten, die die kleine ungesicherte Kirche des Franziskus, die Portiuncula, vereinnahmt und mit kirchlicher Bedeutung überhöht.

25

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Die Rede von Gott in unterschiedlichen historischen Konstellationen

hauptung der weltlichen Notwendigkeit Gottes schien ja in der Tat bereits darüber entschieden zu sein, als was Gott zu denken sei. Der weltlich notwendige Gott wurde allemal begriffen als Gott der Herr. Und was ein Herr ist schien ebenfalls ausgemacht. Von Gottes Herrschaft war die Rede im Sinne einer Allmachtsausübung.« 26 Jüngel erläutert die weltliche Notwendigkeit zum Beispiel unter Rückgriff auf den Gebrauch des Satzes vom zureichenden Grund bei Leibniz, für den gilt: nihil est sine ratione. Aus der Aussage, dass nichts ohne Grund sei, folgt für die Bestimmung Gottes: »Gott sei der Name für die derniere raison des choses, die als solche das ›Etre necessaire‹ (›Ens necessarium‹), das schlechthin notwendige Seinende ist.« 27 Der letzte Grund aller angebbaren Gründe verweist auf das, was notwendig sein muss, damit überhaupt etwas ist. So wird Gott als notwendig für die Deutung der Dinge der Welt beschrieben, er wird, etwas despektierlich formuliert, zu einem Schlussstein eines Systems. Doch in klarer Opposition zu diesen Versuchen sieht Jüngel gerade in der weltlichen Nichtnotwendigkeit Gottes eine genuine theologische Erkenntnis. 28 Der Widerspruch gegen alle Versuche, die Rede von Gott an ein spezifisches Weltverstehen zu binden, darf andererseits nicht als Plädoyer einer völligen Lösung beider verstanden werden: »Die Theologie wird darauf zu bestehen haben, dass der als Nichtnotwendigkeit verstandene Gegensatz zu Notwendigkeit nicht durch Beliebigkeit abgedeckt wird.« 29 Ansonsten, so wird man folgern dürfen, wiederholt sich genau jener starke Gegensatz wie am Ausgang des Mittelalters zwischen den Ordnungen der Hochscholastik und ihrer völligen Infragestellung durch den Nominalismus. Jüngel findet als Alternative zu der Formel, die sich zugleich gegen Beliebigkeit und Notwendigkeit wendet: »Gott ist mehr als notwendig.« 30

26 27 28 29 30

Jüngel 1977: 25. Jüngel 1977: 36. Vgl. Jüngel 1977: 21. Jüngel 1977: 29. Jüngel 1977: 30.

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3. Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

Eine tiefgreifende Veränderung der Wirklichkeitsauffassung entsteht, als ab dem 17. Jahrhundert mit den Anfängen naturwissenschaftlicher Forschung eine systematische Erkundung der Wirklichkeit beginnt. Diese Anfänge sind vor allem mit den Namen Francis Bacon, Galileo Galilei und René Descartes verbunden. Alle drei einen die Betonung des methodischen Erkennens, der Gebrauch der Mathematik zur Beschreibung der Wirklichkeit und die Einsicht, dass sie sich als Vertreter einer neuen Zeit gegen die etablierten Traditionen wenden müssen. Der Wandel, der so einsetzt, ist nicht nur auf eine neue methodische Erforschung der Dinge der Welt begrenzt. Im Laufe der Zeit erfasst das neue Selbstverständnis in der Beschreibung der Wirklichkeit auch die großen traditionellen metaphysischen Themen, das Verständnis der Welt, das Verständnis der Seele und das Verständnis von Gott. Das ist in den Anfängen noch nicht offenkundig, aber schon angelegt, wie man etwa an dem Ansatz von René Descartes sehen kann. Seine Orientierung an dem durch Methoden geleiteten Erkennen ist eng mit einer neuen Fundierung von Philosophie verbunden. Philosophie ruht hier auf der Selbsterkenntnis der Vernunft: »Vernunft als letzte Instanz bedarf nicht der Legitimität dafür, sich selbst in Kraft zu setzen (…).« 1 Descartes’ methodischer Zweifel mündet in einer bis dahin nicht gekannten Auszeichnung der menschlichen Erkenntniskräfte: »Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden.« 2 In dem Denken, der res cogitans, findet Descartes den unerschütterlichen Grund, auf dem sukzessive die neue Entdeckung der Wirklichkeit ermöglicht wird. In welcher Weise aber kann Descartes – ist der sichere Grund erst einmal in dem eigenen Denken gefunden – auf die äußere Welt schließen, die sich doch radikal vom Denken unterscheidet? Auch Descartes kann nicht von der Annahme der Existenz Gottes lassen, sie dient ihm zur Absicherung seines Ansatzes. Der Schluss von der res cogitans auf die 1 2

Blumenberg 1966: 159. Descartes 1641: 47.

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

res extensa ist möglich, weil er auf Gott rekurriert, der sicherstellt, dass die äußere Welt keine Täuschung ist. Er führt Gott in klassischen metaphysischen Bestimmungen ein: »Es bleibt daher einzig die Vorstellung Gottes, bei der zu erwägen ist, ob sie etwas ist, das nicht aus mir selbst hervorgehen konnte. Unter dem Namen ›Gott‹ verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, allwissend und allmächtig ist (…).« 3 Die Existenz Gottes kommt innerhalb dieses Gedankengangs erst in einem zweiten Schritt ins Spiel, wenn es darum geht, die Erkenntnis der Welt durch die sich selbst setzende Vernunft sicher zu stellen. Schon in dieser Argumentation deutet sich an, welche tiefgreifenden Folgen dieser philosophische Neuansatz für die Rede von Gott in sich birgt. Mit seiner Argumentation geht Descartes auch über die nominalistische Sonderstellung Gottes hinaus: »Der Gott Descartes’ ist keine theologisch interpretierbare Gestalt des nominalistischen Deus absolutus mehr. Er ist ein rein ontologischer Titel. Als solcher hat er nur einen philosophisch ausweisbaren Sinn. Er begründet die Möglichkeit der Übereinstimmung (conformité) zwischen unserer begrifflichen Erkenntnis und dem in ihr gemeinten Sachverhalt.« 4 Schon bei Descartes zeichnet sich ab, was später im Rückblick als eine fundamentale Infragestellung der bis dahin gültigen, traditionellen Interpretationen der christlichen Rede von Gott zu erkennen ist: Die Verbundenheit der Wirklichkeitsauffassungen mit der Rede von Gott löst sich in der folgenden Zeit sukzessive auf. Descartes selbst hat großen Wert auf seine Rechtgläubigkeit gelegt, dennoch erscheint Gott von nun an in vielen philosophischen Argumentationen, vor allem in den neuzeitlichen metaphysischen Systemen als »ontologischer Titel«. Dalferth beschreibt diese neue Form metaphysischer Absicherung der Rede von Gott als Theismus: »Theismus, also der Glaube an die Existenz eines allmächtigen, allweisen und allguten Wesens, das die Welt erschaffen hat und erhält, ist seinem Ursprung nach kein gelebter religiöser Glaube, sondern eine philosophische Theorie, deren Anfänge in nicht allzuferne Vergangenheit zurückreichen.« 5 Hier ist aber kaum noch der Gott zu erkennen, von dem Paulus in seinem existentiellen Ringen um die rechten Worte gezeugt hat. Am Ende des Prozesses bleibt scheinbar eine Dichotomie: Entweder redet man von der Wirklichkeit, die im Zweifel methodisch im 3 4 5

Descartes 1641: 83. Link 1978: 174. Dalferth 2003: 257.

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Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen

Sinne der Naturwissenschaften interpretiert werden muss, oder man redet von Gott. Evers stellt nüchtern fest: »Die Naturwissenschaft ist so in einem auch von der Theologie anzuerkennenden positiven Sinn gottlos.« 6

1.

Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen

So offenkundig die neuen philosophischen Ansprüche schon bei Descartes sind, so haben sich die daraus ergebenden Folgen für die Rede von Gott doch erst in einem langwierigen, mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess herausgeschält. Es ist das Verdienst von Charles Taylor, die verschlungenen Wege in der groß angelegten Studie »A Secular Age« als einen gesamtkulturellen Prozess nachvollzogen zu haben. 7 Zu Beginn seiner Untersuchung stellt er eine einfache Frage: »Why was it virtually impossible not to believe in God in, say 1500 in our Western society, while in 2000 many of us find this not only easy, but even inescapable?« 8 Mit dieser Frage verändert er den Fokus der Aufmerksamkeit, dieser liegt nicht mehr auf den Erkenntnissen und Gedankengebäuden einiger Philosophen und Theologen, sondern weitet sich auf die kulturelle Entwicklung der Neuzeit. In der Einleitung haben wir schon festgestellt, dass gerade der Bezug der Rede von Gott auf die Wirklichkeit in unserer Zeit erheblich an Plausibilität mangelt. Dies liegt aber weniger daran, dass bestimmte Argumente eines philosophischen Ansatzes sich durchgesetzt hätten, als mehr daran, dass die kulturell dominanten Bilder von der Welt auf der einen und von Gott auf der anderen Seite eine Trennung nahe legen. Folgerichtig lässt Taylor jene üblichen Thesen von Säkularisierung außen vor, die den Wandel der Institutionen oder der philosophischen Systeme und Grundannahmen beschreiben. Auf keinen Fall geht es um die simple Ablösung eines Weltbildes, etwa des metaphysisch gestützten Glaubens an Gott im Mittelalter, durch ein anderes, etwa der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Welt, die den Glauben an Gott in Frage stellt: »My problem with this story is that it tells how one theory displaced another; whereas what I’m interested in is how our sense of things, our cosmic imaginary, in other words, our whole 6 7 8

Evers 2000: 394. Taylor 2007. Taylor 2007: 25.

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

background understanding and feel of the world has been transformed.« 9 Die Hintergrundannahmen bestehen aus popularisierten Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung, die diffuse, aber wirkungsvolle Bilder von der Welt zur Folge haben, den »cosmic imaginaries«. Diese imaginieren die Welt als einen objektiven Raum, der sich durch den Urknall etabliert hat und in dem alles Geschehen seinen Ort hat, wie etwa die Evolution der Lebensformen auf der Oberfläche des Planeten Erde und darin wiederum die Entstehung des Menschen und die Ausbildung seines komplexen Gehirns als Grundlage für alles Denken. Es besteht die Vermutung, dass sehr viele Zeitgenossen in diesen grundlegenden Bildern eine mehr oder minder endgültige Vorstellung von der Welt sehen. Taylor fragt gerade nach den allgemeinen Bedingungen solcher Weltvorstellung, die einen Glauben an Gott möglich machen oder auch erschweren. 10 Die Veränderungen in den letzten 400 Jahren, die Taylor aufzeigt, sind komplex. Zu diesem Wandel des Hintergrundverständnisses gehört zum Beispiel auch eine neue Haltung gegenüber der Welt. Sie strebt nach einer objektiven Erkenntnis, die Haltung ist nicht ehrfurchtsvoll oder gar anbetend, sondern nüchtern, sie prüft unvoreingenommen die Aussagen, nicht verzerrt durch Wunschdenken. Auch das ist schon in den Anfängen angelegt: Descartes hat seine philosophischen Annahmen über einen Weg kompromisslosen Zweifelns abgesichert. Dieser erfordert offenkundig Mut, da viele gewohnte Auffassungen erst einmal in Frage gestellt werden. Die Haltung korrespondiert mit einem bestimmten Selbstverständnis dessen, der die Wirklichkeit erforscht: »We can see from all this how much the appeal of scientific materialism is not so much the cogency of its detailed findings as that of the underlying epistemological stance, and that for ethical reasons. It is seen as a stance of maturity, of courage, of manliness, over against childish fears and sentimentality.« 11 Seit dem 19. Jahrhundert wird der Erkenntnisstandpunkt der nüchternen Objektivität gepriesen. Die Haltungen von Künstlern und Wissenschaftlern entwickeln Taylor 2007: 325. Vgl. Taylor 2007: 3. 11 Taylor 2007: 365. Die Nüchternheit ist zugleich mit der Hoffnung verbunden, Ordnung und Chaos bannen zu können: »Auf diese Weise hoffte man, das lebensbedrohliche Chaos in Natur und Kultur nach und nach bannen, die unvermeidlichen Gefahren des Lebens in berechenbare Risiken überführen und das Leben Schritt für Schritt vernünftig, planbar, technisch gestaltbar und verlässlich lebbar machen zu können.« Dalferth 2003: 336. 9

10

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Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen

sich zu Antipoden: »Künstler waren nun gehalten, ihre Subjektivität zum Ausdruck zu bringen, sogar zur Schau zu stellen, und gleichzeitig mahnte man Wissenschaftler, die ihre zu unterdrücken.« 12 In dieser Gegenüberstellung finden auch viele Theologen ihren Platz – auf der Seite der Künstler. Die Rede von Gott weicht auf das Terrain der Subjektivität aus, nachdem die objektive Beschreibung der Welt von den Wissenschaften vereinnahmt worden ist. Die popularisierten Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung finden einen Ort innerhalb eines spezifischen Rahmens der Interpretation der Welt, den Taylor »immanent frame« nennt. 13 Dieser Rahmen der Immanenz resultiert aus mehreren Faktoren: der modernen Wissenschaft, der Vorstellung vom Menschen als einem isolierten Selbst, der Bevorzugung einer instrumentellen Rationalität und der Vorstellung von der Zeit als einem einfachen Kontinuum. Doch ist mit der Bestimmung dieses Rahmens noch nicht das letzte Wort gesprochen, denn dieser lässt sich nach Taylor als offener oder auch als geschlossener Rahmen denken. An der Frage der Offenheit oder Geschlossenheit entscheidet sich, ob auch innerhalb des Rahmens noch eine Differenzierung zwischen Immanenz und Transzendenz möglich ist. Im Fall eines offenen Rahmens versucht man, die wissenschaftliche Ordnung der Welt ebenso zu berücksichtigen wie eine vage Intuition einer Transzendenz. 14 Nur im Fall der Annahme eines geschlossenen Rahmens schließt man jede Form von Transzendenz aus. Es entsteht dann die Vorstellung einer geschlossenen Welt (»Closed world structure« 15). Sie resultiert vor allem aus einer Bevorzugung einer unpersönlichen Sicht auf die Welt, die ihren Herkunftsort verleugnet, um umfassend objektiv zu sein, ein Blick aus dem Nirgendwo. Im Zeitalter der Naturwissenschaften hat sich die traditionelle Differenz von Transzendenz und Immanenz gravierend verändert. Denn das Transzendente wird aufgrund der Dominanz der naturwissenschaftlich beschriebenen Immanenz zu dem Supranaturalen, zu dem ganz Anderen, dem völlig Unbekannten, auf das nichts in der naturalen Ordnung der Welt weist. Wenn man sich auf diese Aufteilung einlässt, wird die Sphäre der Transzendenz, die man Gott vorbehalten Daston, Galison 2007: 39. Vgl. Taylor 2007: 539. 14 Den Gründungsvätern und -müttern der USA spricht Taylor zu: »(…) their very sense that there was something higher to aim at, some better and more moral way of life was indissolubly connected to God.« Taylor 2007: 544. 15 Taylor 2007: 551. 12 13

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

mag, aussagelos und unterliegt der Gefahr, irrelevant zu werden. 16 Die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz wird durch die methodisch bedingte Abgeschlossenheit naturwissenschaftlicher Theorien schärfer, sie gibt dem Ringen um eine angemessene Rede von Gott eine neue Dramatik. Die Neuzeit ist also wesentlich durch einen neuen methodisch orientierten Zugang zur Wirklichkeit geprägt. Die Versuche, die Rede von Gott mit den neuen Ordnungen der Welt in Beziehung zu setzen, ändern aufgrund der Kraft der Weltbeschreibungen das Gottesbild. Dalferth weist auf Besonderheiten des Theismus hin: »Seine Hochzeit erlebte der Theismus mit Newtons neuer Physik und Naturphilosophie und ihren theistischen Deutungen im 18. Jahrhundert: Gott wird als das einfachste, selbstevidente Grundprinzip verstanden, das zur Erklärung unserer komplexen Selbst- und Welterfahrung unabdingbar ist, als solches zum Kern aller historischen Religionen gehört und die gemeinsame Transzendenzorientierung (…) in Gestalt einer universalen Natur- und Vernunftreligion zum Ausdruck zu bringen gestattet.« 17 Diese theologischen Ansätze zeigen, warum der gravierende epistemologische Wandel in der Beschreibung der Wirklichkeit durch die aufkommenden Naturwissenschaften nicht zu einer sofortigen Abwendung von metaphysischen Ansätzen in der Rede von Gott führt. Zu attraktiv ist die Option, es könne möglich sein, die Rede von Gott mit den aktuellen Ordnungen der Welt zu verbinden. Hinzu kommt ein stark normatives Konzept von Vernunft, das als Basis sowohl für die Erkenntnis der Welt wie auch für So beschreibt noch kürzlich Wolfgang Huber die Differenz von Glauben und dem mit naturwissenschaftlichen Mitteln erworbene Wissen: »Dieses Erfahrungswissen ist an die Bedingungen von Raum und Zeit gebunden; der Glaube dagegen richtet sich auf die Wirklichkeit Gottes, die Raum und Zeit umgreift und übersteigt.« Huber 2008: 30. Huber differenziert klassisch nach den drei Personen Gottes gemäß des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Deshalb steht zu dem nicht im Widerspruch, dass er mit Jesu Verkündigung Gott selbst gekommen sieht und dadurch das Verhältnis von Gott und Wirklichkeit noch einmal ganz anders darstellen kann, vgl. Huber 2008: 97. Die Frage ist, ob das Nebeneinander zur Klärung dient. 17 Dalferth 2003: 333 f. Es gibt aber auch schon im 18. Jahrhundert deutliche Kritik gegenüber solchen Ansätzen einer philosophischen Theologie. In Bezug auf die Kritik von Lessing und Hamann stellt von Lüpke fest: »Überdies lässt die ideologisch vereinnahmte Vernunft den Gegenstand, dessen Wahrheit sie apologetisch zu beweisen sucht, unbegriffen. Das Produkt einer solchen verfehlten Theologie sind die bloßen ›Namenschristen‹, deren Leben dem widerspricht, was sie dem Begriff eines Christen nach sein müssten.« Von Lüpke 1989: 27. 16

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Objektive Erkenntnisse und subjektive Deutungen

die Erkenntnis Gottes gewertet wird. Die persönliche Motivation vieler Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts ist davon bestimmt, in ihrer Aufdeckung der Ordnungen der Welt gerade auch den Schöpfer all dieser Ordnungen preisen zu können. Doch sind die Versuche, hier nachhaltige Verbindungen aufzubauen, nicht von Dauer: »Im 17. und 18. Jahrhundert hatte der Theismus in gewisser Hinsicht eine Brückenfunktion zwischen (christlicher) Theologie, Aufklärungsphilosophie und den Naturwissenschaften. Die kann er heute nicht mehr einnehmen (…).« 18 Die Haltung einer methodisch objektivierenden Betrachtung, die in den naturwissenschaftlichen Forschungen nur partikulare und methodenrelative Einsichten ermöglicht, wird in der allgemeinen Rezeption der erfolgreichen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert generalisiert. Damit wird aber das Problem der eigenen Beteiligung an dieser »objektiv« beschriebenen Welt außer Acht gelassen, es kommt zu einer scheinbar objektiven Welt-Anschauung. Es entsteht der Eindruck, man könne das als Ganzes interpretierte Universum und seine Entwicklung erfassen. Das Universum gilt als ein objektiver Rahmen für jede partikulare Erkenntnis der Wirklichkeit. Objektivität wird zu einer bevorzugten Haltung des Welterkennens, nur wer objektiv erkennt, kann Wahres über die Wirklichkeit sagen. Taylor, der darauf Wert legt, den kulturellen Wandel auch in seinen antagonistischen Aspekten zu beschreiben, erkennt, dass sich zeitgleich divergente Umgangsformen mit der Wirklichkeit etablieren, denn die proklamierte objektive Weltsicht reicht tatsächlich im alltäglichen Leben zur Beschreibung der Erfahrungen nicht aus. Er stellt fest, dass die meisten Menschen trotz der dominanten kulturellen Vorgaben nach wie vor in einer vieldeutigen Situation leben, denn sie erkennen im alltäglichen Leben sehr wohl auch jene Bereiche der Wirklichkeit, die sich gerade dann zeigen, wenn man sich ihnen gegenüber nicht objektivierend verhält. Hierdurch entsteht eine grundlegende Ambivalenz: »The whole culture experiences cross pressures between the draw of the narratives of closed immanence on one side, and the sense of their inadequacy on the other (…).« 19 Der Einfluss der Naturwissenschaften auf die moderne Kultur und die Deutung der Wirklichkeit ist offenkundig stark, kann aber dennoch nicht die menschlichen Erfahrungen festlegen. Die unmittelbare Folge dieser Situation jen18 19

Dalferth 2003: 334. Taylor 2007: 595.

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

seits von Eindeutigkeiten ist zunächst einmal eine Verunsicherung. Taylor diagnostiziert die Ambivalenz gerade in religiösen Fragen, die die Folge eines Spannungsfeldes zweier sehr unterschiedlicher Grundmotive ist: des nüchternen Blicks auf die Welt im Sinne einer objektiven Weltbetrachtung und der alltäglichen Erfahrungen eines unmittelbaren Beteiligtseins. So bleiben hartnäckige Intuitionen, dass die naturwissenschaftlich beschriebene Wirklichkeit nicht alles sein kann, dass es Bereiche der Wirklichkeit gibt, die sich dem so definierten Rahmen der Immanenz entziehen. Die Unübersichtlichkeit führt zu der oft beschriebenen Bricolage der modernen Religiosität, die sich aus vielen Quellen speist. Eines ihrer besonderen Kennzeichen ist, dass sie kaum kulturelle Prägekraft entfalten kann, dass sie sich eher aufsplittert in je individuelle Weisen der Selbstgewisserung. 20

2.

Die Naturwissenschaften als Kritik der traditionellen Metaphysik

Diese Entwicklung macht deutlich, in welche Defensive die Rede von Gott angesichts der modernen naturwissenschaftlich orientierten Betrachtung der Welt geraten ist. Ist damit aber die Entwicklung der Naturwissenschaften für die Rede von Gott nur als Verlustgeschichte zu beschreiben? Wenn man die Anfänge der christlichen Rede bei Paulus mit den metaphysischen Systemen des Hochmittelalters oder der frühen Neuzeit vergleicht, wird man konzedieren müssen, dass schon auf diesem Wege problematische Veränderungen stattgefunden haben, denn die paulinische Rede von Gott lässt sich kaum in Systeme der Weltdeutung einbauen, wie es die metaphysischen Ansätze versuchen. Es ging viel von der kritischen Kraft der Rede von Gott dadurch verloren, dass sie in Weltdeutungssystemen eingebunden wurde. Die Naturwissenschaften haben nun aber nicht nur die Rede von Gott herausgefordert, vor allem und zuerst haben sie die philosophischen und metaphysischen Festlegungen kritisiert. Die mittelalterlichen, auf der griechischen Philosophie beruhenden metaphysischen Beschreibungen der Welt waren von Unterscheidungen geprägt. So differenzierte man unter Verweis auf Aristoteles zwischen der Physik der sublunaren und der superlunaren Sphäre. Die Dalferth nennt die rein individuellen Versuche, religiösen Ausdruck zu finden Cafeteria-Religion, vgl. Dalferth 1997 (3): 13.

20

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Die Naturwissenschaften als Kritik der traditionellen Metaphysik

sublunare Sphäre ist unsere alltägliche Welt, in der es zum Beispiel keine perfekten Kreisbewegungen gibt. Dagegen wurde die superlunare Sphäre als Ort idealer geometrischer Gebilde angesehen: Die Planeten laufen auf exakten Kreisbahnen, die beobachtbaren Abweichungen davon werden wiederum auf sich überlagernde exakte Kreise, den so genannten Epizyklen, zurückgeführt. Weiterhin unterschied man Bewegungen, die von Menschen intentional erzeugt werden von solchen, die sich natürlicherweise ergeben. Letztere finden nur dann statt, wenn die Dinge sich nicht an ihrem natürlichen Ort befinden, zu dem sie immer streben. Schließlich war man der Auffassung, dass die Existenz von Leben nicht einfach auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist, sondern direkt auf das Handeln des Schöpfers verweist. All diese traditionellen, metaphysisch abgesicherten Unterscheidungen erwiesen sich mit fortschreitender Forschung als hinfällig. Die erste Unterscheidung wurde schon fragwürdig, als Galilei sein Fernrohr auf den Mond richtete und erkannte, dass dieser keine glatte und ideale Oberfläche hat. Die Kalküle der Planetenbahnen nach Kepler erwiesen sich als genauer als alle zuvor verwendeten, doch gingen diese von elliptischen Bahnen der Planeten, nicht mehr von den idealen Kreisen der aristotelischen Physik aus. Newton stellte in seinem zentralen physikalischen Werk, der »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica«, Bewegungsgesetze auf, die unabhängig davon sind, ob Dinge einer natürlichen oder einer von Menschen verursachten Bewegung folgen. Die Unterscheidung schließlich zwischen den primären und den sekundären Ursachen, die die Lebensformen von physikalischen Vorgängen unterscheiden und die Vielfalt der Lebensformen als Ausdruck göttlichen Schöpferwillens erklären sollten, wurde durch die Entdeckungen Darwins ins Wanken gebracht. Seine Theorie bedurfte der primären, direkt von Gott gewirkten Ursache nicht mehr. Der naturwissenschaftliche Fortschritt lässt sich in der Summe beschreiben als die Ausgrenzung von falsifizierten Behauptungen. 21 Die Destruktion traditioneller Deutungen der Wirklichkeit kann aber auch als eine Befreiung aus unrechtmäßigen

Dagegen ist der Aufbau eines eigenen Weltbildes deutlich schwieriger. So konnte man etwa die Frage, ob sich die Sonne um die Erde drehe oder umgekehrt, mit der Newton’schen Physik zugunsten des Kopernikanischen Systems als beantwortet ansehen. Jedoch hat die relativistische Physik dieses Urteil wieder aufgehoben und beide Beschreibungsformen (Sonne dreht sich um die Erde, Erde dreht sich um die Sonne) als gleichwertig erkannt. Ob dies der letzte Stand der Wissenschaft ist?

21

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

Vereinnahmungen der Rede von Gott durch philosophisch-metaphysische Wirklichkeitsannahmen gewertet werden. Für die Theologie ist die fundamentale Kritik der Naturwissenschaften an den metaphysischen Systemen deshalb als Möglichkeit zur Herauslösung aus falschen Bindungen zu verstehen. Jüngel stellt fest: »Demgegenüber wage ich die Behauptung, dass die Entdeckung der weltlichen Nichtnotwendigkeit Gottes von der Theologie nicht nur auf genuin theologische Weise verarbeitet werden, sondern auch als eine genuin theologische Entdeckung identifiziert werden kann (…).« 22 Nur so ist es möglich, das paulinische Wort vom Kreuz in seiner Tragweite wieder wahrzunehmen. Ist es doch gerade der Gedanke vom Tode Gottes, der »Metaphysik und Christentum so voneinander Abschied zu nehmen zwingt, dass zwar nicht einfach eine metaphysikfreie, wohl aber eine sich der Metaphysik gegenüber frei verhaltende christliche Theologie möglich wird.« 23 Die metaphysischen Theorien können der konstitutiven Rolle des Wortes vom Kreuz für die Rede von Gott nicht gerecht werden. »Die bisherige Geschichte des abendländischen Christentums ist, was den Gottesbegriff anbetrifft, dieser Gefahr (scil. eines Diktats der Metaphysik, FV) zumindest in einer Hinsicht erlegen. Hat sie doch Gott in seinem Gottsein zu denken können gemeint, ohne ihn dabei zugleich als Gekreuzigten gedacht zu haben.« 24 Jüngel mahnt also, gerade in der Beurteilung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie die Rede vom Tode Gottes am Kreuz ernst zu nehmen. Es ist nur allzu offenkundig, dass metaphysische Systeme, die das Wesen Gottes und seine Existenz mit dem Sein oder der Vernunft in Beziehung setzen wollen, mit dieser Bindung an ein historisch kontingentes Geschehen kaum etwas anfangen können. Jüngel fordert deshalb gerade aus theologischen Gründen ein neues Verständnis für Kontingenz zu entwickeln: »Was kontingent geschieht, braucht also, nur weil es nicht notwendig ist, deshalb nicht auch schon weniger als notwendig, es braucht nicht beliebig zu sein. Es kann auch mehr als notwendig sein.« 25 Der Terminus »mehr als notwendig« kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass die Beschreibung der Rede von Gott auch jene Dimensionen der Wirklichkeit in den Blick nehmen muss, in denen strikte 22 23 24 25

Jüngel 1977: 21. Jüngel 1977: 61 f. Jüngel 1977: 50. Jüngel 1977: 30.

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Die Naturwissenschaften als Grundlage für Weltanschauungen

Ordnungsgefüge, die nach notwendig und nicht notwendig unterscheiden können, nicht existieren. Es bleibt festzuhalten, dass der Gebrauch der naturwissenschaftlichen Methoden zur Beschreibung der Wirklichkeit bei weitem nicht zu einer reinen Verlustgeschichte der Wirklichkeitsrelevanz der Rede von Gott geführt hat.

3.

Die Naturwissenschaften als Grundlage für Weltanschauungen

Der allgemeine kulturelle Einfluss der Naturwissenschaften mit seiner Kritik an metaphysischen Weltbildern ist zu unterscheiden von einem weitergehenden Anspruch, nämlich dem, die naturwissenschaftliche Erkenntnisform ihrerseits zur Weltanschauung auszuweiten. Der Schritt von der einen Position zu der anderen ist erheblich und in keiner Weise zwingend. Das naturwissenschaftliche Erkennen der Wirklichkeit ist ein methodisch gebundenes, das immer nur einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit in den Blick nimmt. Dies ist durch den konstitutiven Bezug naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf ihre Methoden bedingt. Deshalb ist diese immer partikular und methodenrelativ. Es gibt weder eine Naturwissenschaft für das Ganze der Wirklichkeit noch gibt es eine naturwissenschaftliche Methode, die dazu in der Lage wäre, sich auf das Ganze der Wirklichkeit zu beziehen. Aus diesem Grunde ist der Schritt naturalistischer Theorien, den berechtigten Deutungsanspruch der naturwissenschaftlichen Untersuchungen auf das Ganze der Wirklichkeit auszuweiten, höchst umstritten und letztendlich spekulativ. Dieser Übergang von partikularen Untersuchungen auf das Ganze der Wirklichkeit ist seinerseits in keiner naturwissenschaftlichen Theorie zu reformulieren, es ist ein philosophisches Argument, das sich mit philosophischen Mitteln rechtfertigen muss. 26 Als ein Beispiel für naturalistische orientierte Denker sollen einige Thesen von Daniel Dennett vorgestellt werden, weil dieser seine philosophischen Thesen zugleich als Grundlage dafür nimmt, die

So ist es ein kategorialer Irrtum, wenn etwa Hawking und Mlodinow einen Abschied von Theologie und Philosophie fordern, da die aufgrund der Erkenntnisse der Naturwissenschaften überflüssig geworden seien. »(…) doch die Philosophie ist tot. Sie hat mit den neueren Entwicklungen in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten.« Hawking, Mlodinow 2010: 11.

26

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

Wirklichkeitsbezogenheit der Rede von Gott zu bestreiten und diese Rede der Sinnlosigkeit zu bezichtigen. Dennett geht von der Annahme aus, dass die wissenschaftlichen Methoden die einzigen sind, die uns verlässlich über die Wirklichkeit Auskunft geben können. Das heißt nicht, dass es so etwas wie moralische Werte und andere menschlichen Erfahrungen nicht gäbe. Jedoch ist eine verlässliche Auskunft über sie allein über wissenschaftliche Untersuchungen möglich. 27 Das gilt auch für mentale Ereignisse: »The challenge is to construct a theory of mental events, using the data that scientific method permits. Such a theory will have to be constructed from the third-person point of view, since all science is constructed from that perspective.« 28 Die wissenschaftlichen Methoden bieten den einzig verlässlichen Weg zur Beschreibung der Wirklichkeit. Auf dieser Grundlage beurteilt Dennett nun Religionen und definiert: »Tentatively I propose to define religions as social systems whose participants avow belief in a supernatural agent or agents whose approval is to be sought.« 29 In dieser Definition findet sich Einiges von dem wieder, was oben in der kurzen Skizze der Wirklichkeitsauffassungen nach dem Aufkommen der Naturwissenschaften beschrieben wurde. Zunächst einmal wird der »Gegenstandsbereich« der Religionen eingegrenzt. Da per definitionem die Wissenschaften sich mit allem Natürlichen beschäftigen und Gott als »Objekt« religiöser Behauptungen nicht zu dem Bereich des Natürlichen gehört, muss, wenn es denn Gott wirklich gibt, Gott übernatürlich, »supranatural«, sein, ein übernatürlicher Agent, der aber in dieser Welt handelt. Religionen sind dann jene Glaubenssysteme, die die Existenz dieses supranatural wirkenden Agenten behaupten. Die Definition der Religion ist aufschlussreich für Dennetts eigene Position, diese kann als ein deutliches Beispiel für die »Closed World Structure« Taylors gewertet werden. Dennett beschreibt die Religion als ein natürliches, soziales Geschehen, was ihm ermöglicht, den Wahrheitsanspruch religiöser Aussagen mit wissenschaftlichen Mitteln zu dekonstruieren: »I might mean that religion is natural as opposed to supernatural, that it is a human phenomenon composed of events, organisms, objects, »Unlike the eliminative position, he grants the reality of consciousness, freedom, morality and so on; but he differentiates his view from dualism by claiming that mental and human phenomena can be explained by the scientific method.« Thompson 2009: 3. 28 Dennett 1993: 71. 29 Dennett 2006: 9. (Hervorhebung im Original) 27

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Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie

structures, patterns and the like that all obey the laws of physics or biology, and hence do not involve miracles.« 30 Sind diese Voraussetzungen erst einmal akzeptiert, erscheinen die Wirklichkeitsannahmen der Rede von Gott völlig unplausibel: Religionen sind vollständig als soziobiologische Phänomene beschreibbar, ihr Inhalt aber zielt ihren Verfechtern zufolge auf etwas, was ganz außerhalb des Natürlichen liegen soll. Die Position Dennetts ist in westlichen Gesellschaften sicherlich keine Mehrheitsposition, aber an der Gestalt seiner Argumentation kann man exemplarisch studieren, wieso viele Menschen heute der Rede von Gott skeptisch gegenüber stehen. In einer Zeit, in der die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit dominiert, in der technische Artefakte, die auf diesen Erkenntnissen beruhen, unseren Alltag erfolgreich gestalten, in einer solchen Zeit ist eine Rede von Gott kritischen und skeptischen Fragen gerade deshalb ausgesetzt, weil deren Wirklichkeitsbezug undeutlich geworden ist. Es ist außerordentlich schwierig, darüber Rechenschaft abzulegen, inwieweit die Rede von Gott auch in einer wissenschaftlich beschriebenen Welt Relevanz behalten kann.

4.

Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie

Der Einfluss der Naturwissenschaften auf die moderne Kultur führt nicht dazu, dass unsere Kultur auf die Eindeutigkeit objektiver Weltanschauung festgelegt wäre, Taylor hat mit dem Begriff der »cross pressures« darauf hingewiesen, dass für die meisten Zeitgenossen die wissenschaftliche Darstellung der Wirklichkeit nicht mit lebensweltlichen Erfahrungen in eins geht, dass vielmehr konfligierende Interpretationen bestehen bleiben. Jedoch bekommen alle nichtwissenschaftlichen Wirklichkeitszugänge den Status individueller, privater und letztlich subjektiver Meinungsäußerungen. Die unmittelbare Folge dieser Situation ist eine starke Verunsicherung der Rede von Gott, denn ihr eigener Anspruch lässt sich mit den Vorgaben der objektivieren Weltdarstellung nicht in Einklang bringen. Eberhard Jüngel bringt die aktuelle Situation der Theologie so auf den Punkt: »Einer ähnlichen peinlichen Berührtheit begegnet die Theologie heute im Hause der Wissenschaften, wenn sie Gott als ein allgemein be30

Dennett 2006: 25.

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

deutsames Wort verständlich zu machen und der Rede von ihm eine die Welt angehende Funktion zu geben unternimmt.« 31 Die Rede von Gott unterliegt scheinbar einem dramatischen Relevanzverlust, weil sie ihre Fähigkeit zur Deutung der Wirklichkeit unter den aktuellen Rahmenbedingungen kaum zum Ausdruck bringen kann. Wir leben alltäglich in einer durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und den Gebrauch technischer Artefakte bestimmten Welt. Die Theologie als Auslegung der Rede von Gott kann sich nicht davon distanzieren oder sich für nicht zuständig erklären, wenn sie den Anspruch aufrecht erhalten will, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, in der wir leben. Sie muss, um ihre eigene Sinnhaftigkeit unter Beweis zu stellen, plausibel machen, inwieweit sich die Rede von Gott auf Dimensionen, auf Bereiche der Wirklichkeit bezieht, die über das naturwissenschaftlich Beschreibbare hinausgehen und die auch das naturwissenschaftlich Verstandene in einem anderen Licht zeigen. Dalferth fordert verallgemeinernd: »Allerdings wird eine hermeneutische Theologie heute von hier aus andere Wege gehen müssen, wenn sie einen erhellenden Beitrag zu den zeitgenössischen Debatten von der Neurobiologie der Religion über die multimediale Konstruktion unserer Wirklichkeit (…) machen will.« 32 Ein erster Schritt ist, die Reichweite und innere Geschlossenheit der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt zu hinterfragen. In der angelsächsischen theologischen Diskussion überwiegen Versuche, durch eine genauere Analyse der naturwissenschaftlichen Aussagen etwa in der Quantentheorie oder in der Chaostheorie Unbestimmtheiten in einer nur prima facie kausal geschlossenen Welt zu finden. Eine umfassende Studie zu den Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie hat Ian Barbour vorgelegt. 33 Er plädiert für die Anwendung unterschiedlicher Modelle der Beschreibung der Wirklichkeit und Gottes, die er unter dem Titel eines kritischen Realismus zusammenfasst: »Dem kritischen Realismus zufolge sind alle Modelle partiell und beschränkt; keines liefert ein vollständiges oder angemessenes Bild der Realität.« 34 Der kritische Realismus ist so etwas wie eine basale philosophische Theorie, auf die sich alle Beteiligten des Dialogs in ähn31 32 33 34

Jüngel 1977: 1. Dalferth 2010: 170. Vgl. Barbour 2003. Barbour 2003: 457.

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Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie

licher Weise beziehen. Er lässt sich mit seinem Hinweis auf eine eingeschränkte Gültigkeit der Wirklichkeitszugänge als Brücke für den Dialog darstellen. 35 »Diese Sichtweise bewahrt die realitätsbezogene Absicht des Wissenschaftlers, erkennt aber zugleich an, dass Modelle und Theorien originäre menschliche Konstrukte sind.« 36 Die Versuche einer Koordination von Theologie und Naturwissenschaften sind von einer Bewegung geprägt, die ihren Ausgang bei den Naturwissenschaften nimmt: »In jedem Fall bleibt der Kritische Realismus eine Epistemologie, die in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften entwickelt und dann zur Religion über die Sozial- und Geisteswissenschaften transportiert wurde (…).« 37 Eine Erschwernis in der Darstellung des Dialogs zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften ist, dass die theologischen Ansätze ihren Schwerpunkt bei unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen setzen. 38 Unabhängig von dem disziplinären Hintergrund konzentrieren sich viele Beiträge auf die Frage, inwieweit Gott in dieser Welt handeln kann, ohne dass man unstatthafter Weise von einer physikalisch nicht begründbaren Einwirkung »von außen« in das physikalische Universum argumentieren muss. Beispielhaft ist hier etwa die NIODA Theorie von Robert Russell, 39 der zu zeigen versucht, dass man auch unter der Vorgabe einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt keine vollkommen kausal geschlossene Welt vorfindet, wie sie etwa Laplace postuliert hat. 40 In ähnlicher Weise argumentiert der Physiker und Theologe John Polkinghorne: »Als leibliche Wesen handeln Menschen zugleich energetisch und informationell. Demgegenüber mag man erwarten, dass Gott als reiner Vgl. Losch 2011: 135. Barbour 2003: 167. 37 Losch 2011: 155. 38 Arthur Peacocke etwa argumentiert vornehmlich in Hinsicht auf die Biologie, vgl. Peacocke 1993. John Polkinghorne dagegen vornehmlich in Hinsicht auf die Physik, vgl. Polkinghorne 1998. 39 NIODA: »non interventionist objective divine action«, Russell 2008: 112, also eine objektive Beschreibung des Handelns Gottes, die nicht auf die Annahme eines transzendenten Gottes, der in die natürlichen Abläufe der Welt von außen interveniert, zurückgreifen muss. In einem Vergleich sieht Russell seinen Ansatz als eine dritte Option neben liberalen Ansätzen, die die Naturgesetze aufrechterhalten, aber das Handeln Gottes nur als subjektive Erfahrung beschreiben können, und konservativen (evangelikalen) Ansätzen, die das Handeln Gottes in objektiver Weise beschreiben, aber so, dass er die Naturgesetze bricht. Vgl. Russell 2008: 123. 40 Vgl. Schmidt 2015: 145. 35 36

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Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

Geist allein durch die Eingabe von Informationen handelt. Der neue Aspekt dieser Darstellung liegt zusammengefasst darin, dass er die Idee einer absteigenden Kausalität verteidigt, die durch ›aktive Information‹ am Werk ist.« 41 Die angelsächsischen Autoren betonen die Notwendigkeit, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu akzeptieren, suchen aber nach Wegen, zugleich der Rede von Gott ihr Recht einzuräumen. Wogegen sich die Positionen vornehmlich wehren, ist eine weltanschauliche Aufladung naturwissenschaftlicher Ergebnisse. Jan Schmidt hat eine Vielzahl von Argumenten aus einer genaueren Betrachtung physikalischer Theorien gesammelt, um zu zeigen, dass die stabile, naturgesetzlich geregelte und prognostizierbare physikalische Welt nur als ein Grenzwert einer weit größeren Vielzahl von irregulären, nicht beschreibbaren Naturprozessen aufgefasst werden muss. Es gibt viele gute Gründe, eher von einer grundsätzlich instabilen Natur auszugehen, die nur begrenzt vorhersehbar ist. Die Hinweise auf die angemessene Interpretation der physikalischen Theorien sind hochinteressant. Schmidt resümiert: »Instabilität erwies sich als ergiebiger Kondensationspunkt, um zentrale Themen der Naturphilosophie miteinander zu verbinden. (…) Dass Selbstorganisation, Werden und Wachsen möglich ist, kann als zentraler Hinweis auf die Existenz von Instabilitäten angesehen werden.« 42 Offenkundig ist, dass auch bei genauer Berücksichtigung der wissenschaftlichen Methoden keine geschlossene Darstellung der physikalischen Wirklichkeit möglich ist. Schon eine genauere Analyse der naturwissenschaftlichen Ergebnisse zeigt eine offene Wirklichkeit, die sich geschlossenen Darstellungen entzieht. 43 Diese naturphilosophischen Relativierungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind starke Argumente gegen naturalistische Engführungen. Man muss allerdings fragen, inwieweit diese Erkenntnisse für eine bessere Darstellung des Wirklichkeitsbezugs der Rede von Gott verwendet werden können. In einer bestimmten Hinsicht haben die genannten Argumente einen ähnlichen Status wie der in dieser Arbeit später noch auszuarbeitende Hinweis auf eine offene Wirklichkeit. Sie begründen, dass die Rede von Gott auch unter BePolkinghorne 2000: 66. Schmidt 2015: 323 f. 43 Auf anderem Wege hat dies auch Heisenberg begründet. Vgl. Heisenberg 1942; Hierzu ausführlicher in Vogelsang 2014 (1): 411 ff. 41 42

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Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie

rücksichtigung der heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse einen Bezug zur Wirklichkeit haben kann, jedoch nicht, dass sie ihn auch hat. Die Hauptausrichtung dieser Argumentation zielt auf die Absicherung schon bestehender religiöser Argumente: Sie soll zeigen, dass die Rede von Gott der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt nicht grundsätzlich widerspricht. Sie zielt auf den Nachweis, dass es nicht möglich ist, die Vorstellung von Gott, der innerhalb des physikalischen Universums handelt, aus naturwissenschaftlichen Gründen abzulehnen. Zu einer Einschätzung dieser Debattenbeiträge kann man die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Begründungszusammenhang und Entdeckungszusammenhang zu Hilfe nehmen. Viele dieser Strategien zielen auf den Begründungszusammenhang: Wenn jemand ein religiöser Mensch ist, der mit seiner Rede von Gott nicht zugleich den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen will, kann er mit diesen Argumenten seinen Glauben an Gott verteidigen. Hat jemand die Rede von Gott als wahr erkannt, so kann er seine Einstellung mit den vorgebrachten Argumenten stützen. Doch helfen die vorgebrachten Argumente nur wenig, wenn es darum geht, zunächst einmal für die Plausibilität der Rede von Gott zu werben, denn sie sagen nichts darüber aus, wie, wann und unter welchen Umständen Gott in der Welt handelt, welchen lebensweltlichen Einfluss dieses Handeln hat. Es ist kaum möglich, jemanden, der zu der Rede von Gott keinen Zugang hat, durch die vorgebrachten Argumente zu überzeugen. Anders ist es, wenn man die Rede von Gott im Kontext eines Entdeckungszusammenhangs versteht. Sie weist dann darauf hin, dass es möglich ist, dass sich die Wirklichkeit auf neue Weise zeigt. Die Konsequenzen für den Wirklichkeitsbezug in der Rede von Gott sind in diesem Falle viel weitreichender. Die Rede beansprucht, Neues über die Wirklichkeit zu sagen, etwas, das über das naturwissenschaftlich Sagbare hinausgeht. Die Beobachtungen zu Kernaussagen des Paulus legen nah, dass dieses Neue und dieses Mehr nicht die Form naturwissenschaftlicher Wirklichkeitsbeschreibung haben kann. Es ist doch eher damit zu rechnen, dass durch die Rede von Kreuz und Auferstehung Dimensionen unserer Wirklichkeit berührt sind, für die wir auch heute keine rechten Worte haben und die sich nicht mit den methodisch gebundenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden lassen. Viele Ansätze des Dialogs konzentrieren sich auf den Begründungszusammenhang. Zudem kann man einen theologischen Vor87 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zur Deutung der Welt im Zeitalter der Naturwissenschaften

behalt gegen manche der genannten Ansätze hegen. In einigen Beiträgen zum Dialog wird ein Gottesbild vorausgesetzt, das m. E. problematisch ist. So stellt sich die Frage, ob es gerade theologisch sinnvoll und angemessen ist, Gott als einen transzendenten, in das physikalische Universum hinein wirkenden intentionalen Akteur vorzustellen. Weist nicht die Vorstellung eines intentionalen Akteurs mit der Bezeichnung »Gott«, der die Naturgesetze nicht bricht und doch unabhängig von ihnen handeln kann, auf einen in der Welt partikular von Ort zu Ort und Augenblick zu Augenblick unterschiedlich handelnden Gott? Wäre dann die Menschwerdung nur eine von vielen möglichen Interventionen? Eine solche Vorstellung lässt sich meiner Ansicht nach aber mit zentralen Anliegen neutestamentlicher Texte kaum vereinbaren. Bliebe dann nicht außerhalb der solchermaßen vorgestellten Interventionen Gottes an ausgewählten Orten, hier und dort, alles andere notwendigerweise beim Alten? Die Botschaft der Inkarnation Gottes in seinem Sohn Jesus Christus bezeugt doch das Handeln Gottes in dieser Welt unter den Bedingungen dieser Welt, aber auch mit einer Bedeutung für die ganze Welt, so dass Gott letzten Endes »sei alles in allem« (1. Kor 15,28)! Es muss also darum gehen, ein gegenüber den Naturwissenschaften und den objektivierenden Darstellungen erweitertes Verständnis von der Wirklichkeit zu gewinnen und zugleich die Fähigkeit zu steigern, den Beitrag der Rede von Gott für die Beschreibung dieser erweiterten Wirklichkeit darzustellen. 44 Möglicherweise ist es ja aussichtsreich, bei jenen Ambivalenzen anzusetzen, die Taylor mit dem Begriff »cross pressures« beschrieben hat. Einerseits zeigt sich uns die Wirklichkeit durch einen nüchternen, distanzierenden und methodisch geschulten Blick. Insofern haben die Bilder der Welt, wie Die Theologie »kann nur als der immer vorläufige Versuch verstanden werden, angesichts der weltlichen Erfahrungen so von der alles Seiende begründenden Gegenwart Gottes zu reden, dass orientierende Sinnperspektiven in den Grenzen und Bedingungen der Welt sich für den Menschen einstellen.« Evers 2000: 394 f. Hierzu ist eine andere Auffassung von Wirklichkeit notwendig. Link sagt mit einem Bezug auf die Theorien Viktor von Weizsäckers: »Was in diesem Entwurf geschieht und seine überzeugende Kraft ausmacht, ist dann dies: Hier wird nicht aus bestimmten Gesetzen oder Ergebnissen der Physik oder Biologie auf Gott geschlossen, auch nicht der Versuch gemacht, Erkenntnislücken zu schließen. (…) Er fragt nicht nach etwas außer ihm Liegendem, theoretisch Erschließbarem. Er erkennt die Vorgabe der Schöpfung an, und indem er das tut, (…) überschreitet er den Bereich der ihm möglichen Wahrnehmung und Gestaltung von Wirklichkeit auf ihre ermöglichende Bedingung hin.« Link 2012: 185 f. 44

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Anmerkungen zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie

sie in vielen populärwissenschaftlichen Publikationen angeboten werden, eine hohe Plausibilität. Andererseits bleiben alltagspraktische und lebensweltliche Intuitionen, die zeigen, dass die naturwissenschaftliche Beschreibung nicht alles sein kann, dass wir immer schon in Wirklichkeitsdimensionen leben, die durch diese Beschreibungen nicht angemessen erfasst werden. Wir sind tatsächlich in unserer Lebenswelt immer schon gezwungen, Unterscheidungen in der Wirklichkeit vorzunehmen, die jede Vorstellung einer geschlossenen Welt unterlaufen. Hier deuten sich jene Spannungen in der Rede von Gott an, die wir auch schon von Paulus her kennen.

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4. Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

Die zentrale Herausforderung für die Rede von Gott in der Gegenwart ist durch den Einfluss der naturwissenschaftlichen Forschung auf unser Welt- und Selbstbild gegeben. Im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich: Es geht hierbei nicht so sehr um die wissenschaftliche Forschung und ihre Resultate, sondern um das, was indirekt mit ihnen verbunden wird, es geht um eine spezifische Sicht auf die Welt. Zugleich gibt es aber gegenteilige Intuitionen von Verbundenheit, so dass sich die meisten Menschen in einer ambivalenten Situation befinden, von Taylor »cross pressures« genannt. Im Alltag vollziehen viele Zeitgenossen demnach immer wieder Unterscheidungen und Perspektivwechsel. Sie leben in einer Wirklichkeit, die sich wissenschaftlich beschreiben lässt, und zugleich beziehen sie sich auf Erfahrungen, die sich einem wissenschaftlichen Zugang entziehen. Es ist für eine umfassende Darstellung der Dimensionen ihrer Erfahrungen notwendig, innerhalb der Wirklichkeit eine Unterscheidung vorzunehmen. Offenkundig ist eine distanzierte Betrachtung mittels wissenschaftlicher Methoden ebenso möglich wie spezifische Erfahrungen des Beteiligtseins. Kann eine solche Unterscheidung jedoch einer philosophischen Reflexion genügen, beruht sie nicht vielmehr auf alltagspraktischen ad hoc Annahmen, die kritischen Rückfragen nicht standhalten? Wie sollte man gegenüber den naturwissenschaftlichen Beschreibungen Grenzen definieren, so dass deutlich wird, warum sie nicht das Ganze der Wirklichkeit mit ihren Methoden beschreiben? Die folgende Betrachtung soll zeigen, dass eine Unterscheidung in der Beschreibung der Wirklichkeit nicht nur möglich, sondern sogar für eine kritische philosophische Reflexion unumgänglich ist. Hierbei wollen wir uns auf zentrale Argumente des skeptischen Ansatzes von Thomas Nagel berufen. Er trifft eine Unterscheidung zwischen objektiven Darstellungen und subjektiver Beteiligung. Die alltägliche Anschauung argumentiert ähnlich und unterscheidet zwischen objektiver Darstellung und subjektiven Eindrücken. Allerdings gibt es erhebliche Differenzen zwischen der Position Nagels und der alltäglichen Anschauung. Wiederum anders 90 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Skeptische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivierung

sind solche Unterscheidungen, die sich aus erkenntnistheoretischen Quellen speisen und so zwischen Subjekt und Objekt differenzieren. Es ist deshalb notwendig, zunächst einmal die Terminologie Subjektivität, Objektivität, subjektiv, objektiv, Subjekt, Objekt präziser zu fassen. Dem schließt sich eine Darstellung theologischer Ansätze an, die durch einen Bezug auf das Selbstbewusstsein der Rede von Gott einen eigenständigen Status zu sichern versuchen.

1.

Skeptische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivierung

Die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt versucht, methodisch die Einflüsse des Beobachtenden auf das Beobachtete auszuschließen. Der Begriff der Lebenswelt weist dagegen auf die Bedeutung der Beteiligung des Beobachters am Beobachteten hin, diese ist gerade für den Zugang zur Lebenswelt konstitutiv. Doch wieso ist die eigene Beteiligung für die Beschreibung der Wirklichkeit wichtig, wieso kann man sie nicht vollständig eliminieren? Der Philosoph Thomas Nagel hat sich eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, ob es möglich ist, die Welt vollständig aus einer objektivierenden Perspektive betrachten zu können. Sein zentrales Argument zielt darauf, dass wir, die als endliche Menschen die Wirklichkeit betrachten, immer schon Teil jener Wirklichkeit sind, von der behauptet wird, man könne sie in Gänze objektiv beschreiben. Diese Vorstellung entsteht, wenn man selbstvergessen versucht, »die Welt« wie ein vor sich ausgebreitetes Areal zu betrachten. Der »kosmotheoros« 1, ein Betrachter, der die ganze Welt als Objekt ansieht, nimmt zugleich an, er könne die Welt im Überflug betrachten, habe selbst keinen Kontakt zu ihr bzw. könne diesen Kontakt vernachlässigen oder Einflüsse dieses Kontaktes kontrolliert korrigieren. Es ist offenkundig, dass diese Haltung der naturwissenschaftlichen Tugend einer distanzierten Beschreibung sehr nahe kommt. Anders jedoch als in den methodisch geleiteten Naturwissenschaften sollen hier nicht spezifische Aspekte der Wirklichkeit beschrieben werden, sondern die Wirklichkeit im Ganzen. Es ist nun schwierig zu sagen, was dem Versuch einer objektiven Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit entgeht, denn offenkundig gibt es nichts allgemein oder gar naturwissenschaftlich Be1

»κοσμοθωρός« Merleau-Ponty 1964: 32.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

schreibbares, von dem man sagen könnte, dass es sich diesem Blick entzieht. Es gibt keine Differenz, die mit objektivierenden Mitteln darstellbar wäre, da ansonsten die differenzierten Bereiche eo ipso wieder Teil der naturwissenschaftlich beschriebenen Wirklichkeit wären. Nagel weist aber auf einen anderen Aspekt hin: Ist erst einmal diese Haltung eingenommen, ist das so entstandene Bild von der Welt nicht in der Lage, über die eigene Existenz, also die des Beobachters, Rechenschaft abzulegen. Die Haltung des »kosmotheoros« charakterisiert er als einen »Blick von nirgendwo«. Zu dem Gedanken eines objektiven Standpunktes der Betrachtung »gelange ich, indem ich zunächst die Welt als eine Ganzheit einfange – gewissermaßen mit einem BLICK VON NIRGENDWO –, und in diesem Meer von Raum und Zeit ist TN (Abkürzung für: Thomas Nagel, FV) nur eine Person unter zahllosen anderen. Die Einnahme dieses unpersönlichen Standpunkts bringt in mir ein Gefühl der völligen Loslösung von TN hervor (…).« 2 Thomas Nagel betrachtet also die Welt, als gäbe es Thomas Nagel nur zufällig und als sei seine Existenz für die Betrachtung irrelevant. Doch das ist nicht der Fall. Tatsächlich ist es Thomas Nagel in keiner Weise egal, ob er Thomas Nagel ist oder nicht. Genau dieses wichtige Element von Wirklichkeit lässt sich aber nicht in einem objektiven Bild von der Welt darstellen, aufgrund der Objektivität gibt es dort keinen privilegierten oder bevorzugten Ort. Tatsächlich erkennt kein Mensch die Welt »rein objektiv«, von einem anonymen Standpunkt aus, sondern immer nur von dieser oder jener Stelle innerhalb der zu betrachtenden Welt. 3 Damit will Nagel auf keinen Fall die Bemühung um eine objektive Weltsicht diskreditieren: »Das Streben nach einer objektiven Weltbeschreibung, die uns nicht mehr in den Mittelpunkt stellt, ist getragen vom Realismus, und zwar vor allem auch dann, wenn wir nicht mehr davon ausgehen, dass einer solchen Beschreibung alles Wirkliche zugänglich sein kann.« 4 Es geht ihm also nicht darum, die kulturelle Errungenschaft einer objektiven Beschreibung der Wirklichkeit abzuwerten, sondern darum, diese Errungenschaft um das zu ergänzen, was sie nicht leisten kann. Nun ist es unmöglich, den Erkenntnisvorgang in zwei Schritte zu unterteilen: In einem ersten Schritt wird die objektive Welt beNagel 1986: 108. Dies ist auch der Grund, warum Merleau-Ponty die Entwicklung einer Intra-Ontologie fordert. Vgl. Merleau-Ponty 1964: 288. 4 Nagel 1986: 48. 2 3

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Skeptische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivierung

schrieben, in einem zweiten wird ein bestimmter Mensch, dessen Ort innerhalb der objektiven Welt fixiert ist, mit dem Betrachter identifiziert. Wir können nicht zunächst ein objektives Bild vom Ganzen der Wirklichkeit zeichnen und dann die subjektive Sicht als ein Korrektiv reintegrieren. 5 Das Problem ist, dass dieser bestimmte Mensch »Ich« bin, dass das Ich aber nicht in allgemeinen Beschreibungen aufgeht, sondern dass es mit weiteren Indizes beschrieben werden muss, um wirklich einIch zu sein, etwa mit einem »Hier« oder »Jetzt«. 6 Eine rein objektive Beschreibung der Welt hat aber für solche Indikatoren keinen Platz. »Es stellt sich deshalb die Kardinalfrage, ob die Elimination dieses eigentümlichen Gedankens der ersten Person zugunsten seiner impersonalen Wahrheitsbedingungen in unserer Weltbeschreibung nicht doch eine wesentliche Lücke hinterlässt.« 7 Es gelten letztendlich zwei Aussagen, die nebeneinander stehen und beide fundamental sind: »Also bin ich immer einerseits der logische Brennpunkt einer objektiven Auffassung der Welt und andererseits ein besonderes Wesen in dieser Welt, das in ihr keinerlei Schlüsselstellung hat.« 8 Es entsteht so eine konzeptionelle »Schaukel«: Entweder man versucht der Beobachter der Gesamtheit der objektiven Welt zu sein, oder man entscheidet sich, ein endlicher Mensch innerhalb der Welt zu sein, ein Exemplar einer Gattung. Das skeptische Argument Nagels ist nicht verbunden mit weitreichenden Spekulationen, wie eine erweiterte oder umfassende Sicht auf die Welt möglich sei. Es setzt ganz präzise bei der Existenz deroder desjenigen an, die oder der als Mensch in dieser Welt lebt und sich immer schon in Verbindungen vorfindet, die sie oder er nicht ignorieren kann. Die Folgerung daraus ist zunächst eine negative. Es wird deutlich, dass auch aus einem fundamentalen philosophischen Grund die moderne naturwissenschaftlich gestützte Sicht von der Welt keine abgeschlossenen und umfassenden Ordnungen präsentieVgl. Nagel 1986: 116. Diese Indexwörter sind über das verwendete Argument hinaus immer auch ein Hinweis auf die Irreduzibilität der Lebenswelt: »Hermeneutisch heißt das, dass sich Indexwörter ohne Beachtung ihrer konkreten Verwendung in Praxisvollzügen nicht verstehen lassen.« Dalferth 2003: 463. 7 Nagel 1986: 106. 8 Nagel 1986: 114. Letztlich rechnet Nagel damit, dass es zwei irreduzible Perspektiven geben wird: »Ich glaube, dass wir diese beiden Perspektiven nicht auf befriedigende Weise miteinander zu verbinden vermögen. Der objektive Standpunkt erzeugt hier eine Teilung im Selbst, die nie wieder verschwinden wird.« Nagel 1986: 152. 5 6

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

ren kann. Etwas Entscheidendes entgeht diesen durch methodische Erkenntnisakte erschlossenen Ordnungen. Es erweist sich als notwendig, eine Unterscheidung in die Beschreibung der Wirklichkeit einzuführen, die neben dem mit naturwissenschaftlichen Mitteln Geordneten auch etwas zur Kenntnis nimmt, was sich diesen Mitteln offenkundig entzieht. Die Ursache dafür, dass sich etwas ihnen entzieht, ist mit der Tatsache verbunden, dass wir selbst, die wir das objektive Bild von der Welt entwerfen, nicht in ausreichendem Maße in diesem Bild vorkommen. Die Bedingungen meiner leiblichen Existenz bleiben außen vor. Diese verweisen auch auf die Rolle der Lebenswelt. Durch die naturwissenschaftlichen Methoden gelingt es immer nur methoden- und gegenstandsrelativ sich von ihr zu distanzieren. Deshalb entsteht ein pragmatischer Selbstwiderspruch bei jenen, die sich eine strikt naturalistische Position zu eigen machen. Denn, wenn man in philosophischen Diskussionen eine naturalistische Beschreibung der Welt vertritt, diese für die wahre Beschreibung der Welt hält, ist man auch gezwungen, diese in seinem eigenen Lebenswandel zum Ausdruck zu bringen. Aber schon das Engagement für einen naturalistischen Standpunkt ließe sich kaum aus der eigenen Theorie über die Welt ableiten. In gewisser Weise müsste ein Mensch mit einer solchen Position in der Auseinandersetzung etwa mit religiösen Standpunkten eine kontemplative Haltung einnehmen. Denn alles, was in der Welt geschieht, müsste sich aus natürlichen Prozessen ableiten lassen, somit auch alle kulturellen Eigenarten. Religiöse Erscheinungen, irrationale Weltdarstellungen wären als Teil des umfassenden evolutionären Konzeptes nicht zu eliminieren. In allen kulturellen Erscheinungen, die die Verfechter der naturalistischen Position bekämpfen, sollten sie nichts anderes als ein übergreifendes evolutionäres Geschehen erkennen können, in das einzugreifen aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen sinnlos ist. 9 Entlang des Konfliktfeldes zwischen lebensweltlichen Bindungen naturalistischer Akteure und ihrer eigenen Weltbeschreibung lassen sich weitere Widersprüche konstruieren: So wäre der völlig unklare und nur unaufgeklärten Traditionen geschuldete Satz »Du, ich muss Dir gestehen: Ich liebe Dich!« auf einer Parkbank in einer Sommernacht für den Naturalisten zu ersetzen durch: »Du, ich muss Dir gestehen: In meinem Körper findet eine erhöhte Ausschüttung von Oxytocin, Vasopressin und Testosteron statt, während in manchen Gehirnarealen, vor allem im limbischen System, der Neurotransmitter Dopamin erhöht, der Neurotransmitter Serotonin dagegen verringert ist.« Der Erfolg einer solchen, exakten Aussage wird wahrscheinlich begrenzt sein, die Reproduktionswahrscheinlichkeit sinkt. Damit ist die naturalistische Theorie ihrerseits ein evolutionärer Nachteil und führt sich so ad absurdum.

9

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Anmerkungen zum Begriff des Subjekts

2.

Anmerkungen zum Begriff des Subjekts

Während es für naturalistische Theorien unbedeutend ist, Unterscheidungen in der Beschreibung der Wirklichkeit einzubringen, standen solche tatsächlich aber schon am Anfang des Weges der naturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere die Unterscheidung zwischen den zu erkennenden Dingen und dem Vermögen des Erkennens selbst. Das metaphysische Konzept von Descartes führte die folgenreiche und tiefgreifende Differenzierung zwischen res extensa und res cogitans in die Beschreibung der Wirklichkeit ein. So war die Möglichkeit, die ausgedehnten Dinge einer methodischen Analyse und einer mathematisch gestützten Beschreibung zugänglich zu machen, von Beginn an gekoppelt an die Beschreibung dessen, was nicht zu diesem Gegenstandsfeld gehört, der res cogitans. Für Descartes waren beide Bereiche, beide Substanzen klar und eindeutig zu erkennen: Bestimmte er die res extensa als das Betätigungsfeld der methodisch geleiteten Forschung, so legte er die res cogitans als jenen Bereich fest, den man über Introspektion, durch unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Denkprozesse erschließen kann. Die Diskussion um ein angemessenes Verständnis dieser res cogitans hat die europäische Philosophie seitdem intensiv beschäftigt. Über verschlungene und hoch komplexe Pfade philosophischer Diskussionen ist in den folgenden Jahrhunderten aus der Interpretation der res cogitans eine umfangreiche Debatte um das menschliche Bewusstsein bzw. um das Vernunftvermögen erwachsen. Die meisten philosophischen Ansätze des 17. und 18. Jahrhunderts betonen die Eigenständigkeit dieses Vermögens. Die Vernunft gehorcht eigenständigen Regeln, die man über reflexive Verfahren erschließen kann. Die auch selbstkritische Reflexion ist grundlegend, ist es doch schließlich das menschliche Erkenntnisvermögen, das erst die Bedingungen setzt, die überhaupt etwas erkennen lassen. Zur Kennzeichnung des Trägers des Erkenntnisvermögens hat sich der Begriff des »Subjekts« eingebürgert. Doch ist seine Verwendung heute nicht ohne Risiko, da er zu missverständlichen Identifizierungen Anlass gibt. Denn der Begriff wie auch seine Derivate »Subjektivität« und »subjektiv« sind sehr vieldeutig und werden unterschiedlich verwendet. Das erste Bedeutungsfeld lässt sich von dem Verständnis von Subjektivität herleiten: »Subjektivität« beschreibt im philosophischen Rahmen zunächst einmal das allgemeine Vermögen des Erkennens, eine »Denkform, die den selbstbezüglich entfalteten Anspruch 95 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

erhebt, in ihr müssten sich alle Gewissheitsansprüche fundieren lassen (…)« 10. Die Subjektivität ist dann eine spezifisch philosophische Beschreibung des Selbstbewusstseins des Menschen, jene Grundlage, auf der alles Erkennen aufbaut. Der Begriff »Subjekt« kennzeichnet dementsprechend das Wesen, dem die Fähigkeit zur Subjektivität zukommt. Die Regeln des Denkens sind notwendigerweise allgemein und einen alle Subjekte. Eine weitere Verwendung des Begriffes »Subjekt« verweist zweitens schlicht auf die grundlegende grammatikalische Form des Satzes. Dann ist das Subjekt durch seine syntaktische Position in einer Aussage bestimmt, dem Subjekt wird ein Prädikat zugewiesen. Das Adjektiv »subjektiv« kann aber auch drittens auf etwas ganz anderes hinweisen, was nur indirekt mit dem ersten in Verbindung steht. Dann meint dieses Adjektiv etwas, was nur individuell, das heißt, was sich von Mensch zu Mensch, von »Subjekt« zu »Subjekt« unterschiedlich manifestiert. »Subjektiv« ist das, was einem spezifischen Individuum im Gegensatz zu anderen zukommt oder es auszeichnet. In diesem Sinne hat der Begriff »Subjekt« in diesem Sinne ein ganz anderes Bedeutungsfeld als im erstgenannten Sinne. Das Wort »subjektiv« wird in diesem Fall als Gegensatz zu den Worten »Objektivität« und »objektiv« verstanden. Das Wort »subjektiv« kennzeichnet gerade jene Aussagen, die nicht verallgemeinerungsfähig sind. Der Begriff »Subjektivität« kann auch von dieser Bedeutung hergeleitet werden. Gerhardt definiert: »Wer etwas ›nur‹ subjektiv verstanden wissen will, nimmt den ursprünglich in jeder Äußerung angelegten Allgemeinheitsanspruch ausdrücklich zurück. ›Subjektivität‹ ist eine reservatio mentalis und insofern ein defizienter Modus, der den vom Wissen geforderten Status der Objektivität verfehlt.« 11 Diese Verwendung des Begriffs mag im Alltag eine Hilfestellung sein, die eigene Position vor der Forderung nach verallgemeinernder Begründung oder vor einem objektivierenden Nachweis zu schützen. »Aber die darin wirksame Entlastung ist die Kehrseite eines ermäßigten Anspruchs auf Allgemeinheit, Wahrheit und Verbindlichkeit.« 12 Die Rede von Gott wird nun unter den von Taylor analysierten

Dalferth 2003: 355. In einem ähnlichen, aber noch auf Religion erweiterten Sinn gebraucht Barth den Begriff: »Der absolute Einheitsgrund der Subjektivität wird vom religiösen Bewusstsein in Form der Gottesvorstellung exponiert.« Barth 2003 (2): 68. 11 Gerhardt 2012: 300. 12 Gerhardt 2012: 301. 10

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Anmerkungen zum Begriff des Subjekts

Bedingungen sehr oft in genau dem dritten Sinne als subjektiv beschrieben. Manche Menschen glauben an Gott und reden von ihm, andere tun es nicht. Die Aussagen sind dann folglich subjektiv, sie können keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Für eine theologische Reflexion kann es nicht ausreichen, die Rede von Gott auf den Status von Subjektivität in diesem Sinne zu reduzieren. Die folgenden Überlegungen einiger theologischer Autoren gehen deshalb nicht von diesem defizienten Modus von Subjektivität aus, sondern von einem erkenntnistheoretisch anspruchsvolleren Begriff, nämlich von dem erstgenannten Verständnis von Subjektivität. »Subjektivität ist selbst nichts subjektives. Jedes einzelne Subjekt ist ein Strukturvorkommen des allgemeinen Strukturtyps Subjektivität. Als transzendentales Prinzip ist Subjektivität eine allgemeine Verfasstheit, die allen endlichen Vernunftwesen zukommt.« 13 Die Theologen, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen, vollziehen eine Unterscheidung in der Beschreibung der Wirklichkeit, die sich auf die Differenzierung von (objektiver) Beschreibung der Wirklichkeit und der Subjektivität bzw. des Selbstbewusstseins als allgemeine Erkenntnisvoraussetzung, auf den »Hiatus von Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein und damit der grundsätzlichen Differenz von wissenschaftlicher Erklärung und religiöser Deutung« 14 einlässt. Es besteht also eine gewisse Nähe zu dem philosophischen Einwand gegen naturalistische Positionen, den wir bei Nagel kennengelernt haben. Die theologischen Positionen halten die Bezugnahme auf Subjektivität im Sinne einer allgemein bestimmbaren Instanz unseres Erkenntnisvermögens für unaufgebbar. Die Subjektivität dient diesen Ansätzen als Grundlage für die Beschreibung von Religion. Der Begriff der »Religion« unterscheidet sich von der hier präferierten »Rede von Gott«, dieser Unterschied soll aber in der folgenden Betrachtung nicht im Vordergrund stehen, da es hier vornehmlich um eine Darstellung der genannten Differenz von Selbstbewusstsein/Subjektivität und Objektivität und den sich in der Beschreibung von Wirklichkeit daraus ergebenden Folgerungen gehen soll.

13 14

Barth 2003 (2): 78. Barth 2003 (4): 422.

97 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

3.

Das Selbstbewusstsein in der Theologie: Friedrich Schleiermacher

Mit einer spezifischen Interpretation der Subjektivität bzw. des Selbstbewusstseins eröffnet sich eine Möglichkeit, die gesuchte Unterscheidung in der Wirklichkeit so zu gestalten, dass sie einerseits kompatibel ist mit den Ordnungen der Naturwissenschaften, aber andererseits eine Eigenständigkeit der Rede von Gott bewahrt. Die theologischen Ansätze, die sich hieran orientieren, verstehen sich als Vertreter einer neuzeitlichen Theologie, sie interpretieren den Bezug auf die Subjektivität und die sich damit verknüpfende Selbstdeutung als adäquate theologische Antwort für die Herausforderungen der Moderne. »Der Gesamtverlauf der Moderne und die innere Entwicklung des Protestantismus haben es mit sich gebracht, dass Fragen der Selbstdeutung des Menschen heute zunehmend den Schwerpunkt religiöser Deutungskultur bilden.« 15 Am Anfang dieser theologischen Richtung steht das Werk von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Ein neuer theologischer Ton, der im Weiteren außerordentlich einflussreich wurde, ist schon in der frühen Schrift »Über die Religion. Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern« aus dem Jahre 1799 zu hören. Der junge Schleiermacher zeigt sich hier insbesondere durch die romantische Bewegung beeinflusst, der er eine gewisse Zeit in Berlin angehörte. 16 Der Begriff des Selbstbewusstseins wird erst später für ihn leitend, jedoch sind wichtige Akzente seiner Theologie schon in dem frühen Werk angelegt. Der Zugang zur Religion, den Schleiermacher hier in den Mittelpunkt stellt, hebt unmittelbare Erfahrungsmomente in, mit und durch die Welt hervor: »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Form der Religion (…). Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden (…).« 17 Auch in einer anderen Formulierung zur Beschreibung von Religion greift Schleiermacher auf elementare Kontakte mit der Welt zurück. Wiederum bestätigt er einen für die Religion konstitutiven Bezug zur Welt: »Praxis

Barth 2003 (3): 25. Allerdings: »Schleiermacher verhielt sich in der Religionsschrift konservativer als seine frühromantischen Freunde. (…) Am nächsten fühlte er sich Novalis (…).« Nowak 2001: 100. 17 Schleiermacher 1799: 31. 15 16

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ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.« 18 Nun sind Universum und Unendliches hier nicht im Sinne quantifizierbarer Größen wie in Physik oder Mathematik gemeint. Sie sind im Gegensatz dazu Chiffren für eine Ganzheit, die über das gegenständliche physikalische Universum weit hinausgeht. 19 Religion ist in diesem Sinne also eine Art der »Wahrnehmung« von etwas eigentlich nicht Sinnlichem, nämlich des Ganzen der Wirklichkeit. Schleiermacher lehnt mit dieser neuen Interpretation von Religion die in seiner Zeit in der Theologie verbreitete Verbindung zur Metaphysik auf der einen oder zur Moral auf der anderen Seite ab und stellt fest, »dass Religion das Höchste ist in der Philosophie, und dass Metaphysik und Moral nur untergeordnete Abteilungen von ihr sind.« 20 Zugleich wendet er sich mit dieser Beschreibung von Religion auch gegen die zu seiner Zeit einflussreichen theologischen Strömungen des Supranaturalismus und des Rationalismus. Schleiermachers Ansatz bietet einen neuen Zugang: Die Verbindung zum Ganzen der Welt über die Anschauung ist konstitutiv für das religiöse Erleben. Dieser Bezug kann aber gerade wegen dieser spezifischen Bindung nicht in detaillierten Begriffen gefasst werden: »Ihr wisst, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demut. Religion war der mütterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde, in ihr atmet mein Geist, ehe er noch seine äußeren Gegenstände, Erfahrung und Wissenschaft gefunden hatte (…).« 21 Die Verbindung zur Welt, auf die die Religion zurückgreift, geht allen späteren Objektivierungen und Vergegenständlichungen voraus, sie ist nicht leicht in Worte zu fassen, kann nur poetisch umschrieben werden. Sie beruht nicht auf einer ausgrenzenden individuellen Erfahrung, sondern verweist auf die gemeinsame Situation der ganzen Menschheit. 22 So verbindet das Herzstück der religiösen Erfahrung den einzelnen Menschen mit dem Ganzen der Natur, des Universums und mit allen anderen Menschen. Die »Reden« kennen neben der hier genannten aber auch eine andere Bestimmung von Religion. Diese ist mit dem Begriff des Gefühls verSchleiermacher 1799: 30. Vgl. Redeker 1968: 55. 20 Schleiermacher 1799: 26. 21 Schleiermacher 1799: 8. 22 »Ihr selbst seid ein Kompendium der Menschheit, eure Persönlichkeit umfasst in einem gewissen Sinne die ganze menschliche Natur (…).« Schleiermacher 1799: 55. 18 19

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bunden. In den »Reden« ist auch das Gefühl nicht eine weltabgewandte Form der Innerlichkeit, sondern es ist mit der nach außen gerichteten Anschauung auf das Engste verbunden. »Anschauung ohne Gefühl ist nichts (…), Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts (…).« 23 Nur in dieser integrativen Sichtweise entsprechen sie der Sphäre der Religion. Reißt man sie beide auseinander, so endet man in einer kalten Anschauung durch Formeln, also in einer naturwissenschaftlich-nüchternen Beschreibung der Welt und in einer Religion der reinen Innerlichkeit, des reinen Gefühls. 24 So steht zu Beginn in der ersten Auflage der »Reden« ein höchst integratives und nach »außen« orientiertes Konzept von Religion: Religion hat es mit einer Anschauung der Wirklichkeit zu tun. Wir werden dieses Anliegen später in den phänomenologischen Analysen erneut aufnehmen. Jedoch ist Schleiermacher recht bald von dieser skizzierten Grundhaltung abgewichen. Schon in späteren Auflagen der »Reden« und in Schleiermachers theologischem Hauptwerk »Der christliche Glaube« hat der Begriff der Anschauung nicht mehr den Stellenwert wie in der ersten Auflage: »Bereits in der zweiten Auflage der ›Reden‹ und erst recht in der ›Glaubenslehre‹ hat Schleiermacher den Begriff der Anschauung fallen gelassen, vermutlich weil er sich von der intellektuellen Anschauung der idealistischen Spekulation deutlicher abgrenzen wollte.« 25 Tendenzen einer Betonung der Binnenbestimmung des Subjekts in Abgrenzung vom Außenkontakt finden sich auch schon in den »Reden«. So betont Schleiermacher, dass das Gemüt den Ort der Religion darstellt: »Darum ist es auch das Gemüt eigentlich, worauf die Religion hinsieht und woher sie Anschauungen der Welt nimmt; im inneren Leben bildet sich das Universum ab (…).« 26 Mit der Betonung der Eigenständigkeit des Gemüts unterstreicht er die Sonderstellung von Religion: »Schleiermacher also will die Eigenständigkeit, Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit der Religion gegenüber dem wissenschaftlichen Denken und dem sittlichen Schleiermacher 1799: 41. Hier klingt natürlich das berühmte Diktum von Kant an: »Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Kant 1787 (1): 98. 24 »Da hat der eine Anschauung der Welt und Formeln, welche sie ausdrücken sollen, und der andere hat Gefühle und innere Erfahrungen, wodurch er sie dokumentiert. (…) Ihr Toren und träges Herzens! wisst Ihr nicht, dass alles nur Zersetzungen des religiösen Sinnes sind (…)?« Schleiermacher 1799: 42 f. 25 Redeker 1968: 59. 26 Schleiermacher 1799: 49. 23

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Das Selbstbewusstsein in der Theologie: Friedrich Schleiermacher

Handeln begründen.« 27 Es ist das Gemüt, mit Hilfe dessen er resümierend die Zielsetzung der »Reden« beschreibt: »Dass sie (scil. die Religion, FV) aus dem Inneren jeder besseren Seele notwendig von selbst entspringt, dass ihr eine eigene Provinz im Gemüte angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht (…): das ist es, was ich behaupte und was ich ihr gerne sichern möchte (…).« 28 Ohne Zweifel kann die Betonung einer »Provinz im Gemüt« auch leichter genutzt werden, um das religiöse Erkennen gegenüber den modernen Ansprüchen wissenschaftlicher Welterkenntnis abzugrenzen. In seinem theologischen zentralen Werk »Der christliche Glaube« redet Schleiermacher nicht mehr von Religion, sondern stellt die Frömmigkeit bzw. die frommen Gemütszustände in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Die Frömmigkeit ist aber, und da kann er terminologisch an die früheren Ausführungen anknüpfen, als Ausformung eines Gefühls bestimmt: »Die Frömmigkeit an sich ist weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls.« 29 Das Gefühl wird nun nicht im Gemüt verankert, sondern im unmittelbaren Selbstbewusstsein: »Unter Gefühl verstehe ich das unmittelbare Selbstbewusstsein, wie es, wenn nicht ausschließend, doch vorzüglich einen Zeittheil erfüllt und wesentlich unter den bald stärker bald schwächer entgegengesezten Formen des angenehmen und unangenehmen vorkommt.« 30 Das fromme Selbstbewusstsein darzustellen, ist das zentrale Interesse des Werkes »Der christliche Glaube« und bestimmt auch seine Gliederung. Hier deutet sich die erste Form der Unterscheidung an, die wir oben als eine zwischen der Subjektivität und der objektiven Beschreibung der Wirklichkeit gekennzeichnet haben. Die Anschauung hat keine zentrale Bedeutung mehr, dagegen findet sich hier die Formel von der schlechthinnigen Abhängigkeit: »Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, dass wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, das heißt, dass wir uns abhängig fühlen von Gott.« 31 Die schlechthinnige Abhängigkeit darf nicht verwechselt werden mit einer sozialen Verbundenheit Redeker 1968: 53. Schleiermacher 1799: 20 f. 29 Schleiermacher 1821/22 (1): 26. 30 Ebenda. Cramer sieht hier eine Terminologie, die Mißverständnisse auslösen kann, weil der Gebrauch des Begriffes »Gefühl« den Anschein erweckt, dass dieses unabhängig von Wissen ist, vgl. Cramer 1985: 152 f. 31 Schleiermacher 1821/22 (1): 31. 27 28

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

oder dem Eingebundensein in die Welt der Dinge: »Die schlechthinnige Abhängigkeit betrifft nicht allein die abzählbaren Merkmale dieses Soseins, sondern darüber hinaus auch dessen impliziten Bezug auf die Totalität alles Bestimmbaren. Nur wenn dieser unendliche Verweisungszusammenhang der Bestimmtheit eines Subjekts miterfasst wird, erfasst dieses Subjekt wahrhaft sich selbst in seiner schlechthinnigen Abhängigkeit.« 32 Das fromme Selbstbewusstsein hat in einer bestimmten Hinsicht dieselbe Funktion wie das Gemüt in den »Reden«: Es vermag der Religion bzw. nun genauer dem christlichen Glauben einen Ort zu verschaffen, dem eine Eigenständigkeit zukommt, die nicht durch rationale oder wissenschaftliche Ordnungen erschlossen werden kann. Das Selbstbewusstsein ist allerdings in keiner Weise selbstgenügsam oder in sich ruhend. Nur deshalb bedarf es der Deutung und der Auslegung von Texten. Gräb stellt im Hinblick auf Schleiermacher fest: »Das Verstehen-Wollen und das VerstehenMüssen fremder Rede oder fremder Schrift entspringt ihm geradezu aus dem noch nicht Festgestelltsein dessen, woran die Vernunft mit sich selber ist.« 33 Diese wenigen Bemerkungen zu der sehr einflussreichen Neubestimmung von Religion bzw. von Glauben durch Schleiermacher zeigen deutlich, dass es ihm gelungen ist, eine Definition vorzulegen, die nicht auf Außerweltliches, Supranaturales rekurrieren muss und doch der Religion gegenüber der Deutungsmacht der Naturwissenschaften einen eigenen Bereich einräumt. Schleiermacher hat später die Naturwissenschaften als eine zentrale Herausforderung für die Rede von Gott benannt. Er stellt in einem Brief an Friedrich Lücke explizit die Frage: »Wenn Sie den gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaften betrachten, wie sie sich immer mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet, von der man vor noch nicht langer Zeit keine Ahnung hatte: was ahndet Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen, für unsere Theologie, sondern für unser evangelisches Barth 2003 (4): 420. Cramer geht sogar soweit, auch die Abhängigkeit »von Gott« zu problematisieren, es ist eine in gewisser Weise absolute Abhängigkeit, die kein wovon als Frage mehr zulässt, vgl. Cramer 1985: 136. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl setzt kein Wissen von Gott voraus, vgl. Dalferth 2003: 390. 33 Gräb 1985: 66. Schleiermacher hat die Grundregeln der Hermeneutik systematisierend zusammengestelllt. Für die religiöse Auslegung gilt, dass hier kein Fachwissen an erster Stelle steht: »Das Verstehen ist eine Kunst und doch kein elitäres Geschäft. Schleiermacher ermutigt uns vielmehr zur Ausübung dieser Kunst mit der gelegentlichen Bemerkung: ›Alle Menschen sind Künstler.‹« Gräb 1985: 71. 32

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Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: U. Barth, W. Gräb

Christentum?« 34 Aus dieser Sorge heraus formulierte er die berühmt gewordene Frage: »Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen; das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?« 35 Sein Ansatz ist auch von dem Interesse beeinflusst, für die Theologie eine Ausdrucksform zu finden, die ihre Eigenständigkeit gegenüber der immer dominanter werdenden Beschreibung der Welt durch die Naturwissenschaften garantiert: »Wie ich fest überzeugt bin, so glaube ich es auch darstellen zu müssen nach bestem Vermögen, dass jedes Dogma, das wirklich ein Element unseres christlichen Bewusstseins repräsentiert, auch so gefasst werden kann, dass es uns unverwickelt lässt mit der Wissenschaft.« 36

4.

Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: Ulrich Barth, Wilhelm Gräb

Mit seinem Ansatz hat Schleiermacher eine theologische Tradition begründet, die ihr Selbstverständnis aus der Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Neuzeit ableitet. Dadurch dass sie sich auf die Subjektivität des religiösen Menschen bzw. auf sein Selbstbewusstsein als jenen Ort konzentriert, von dem sich die Besonderheit religiösen Erlebens herleiten lässt, versucht sie, der Religion einen gegenüber den Wissenschaften eigenen Standpunkt zu sichern. Aktuelle Entwürfe dieser theologischen Richtung sind der systema-

Schleiermacher 1829: 145. Schleiermacher 1829: 146. 36 Schleiermacher 1829: 149. Die Sonderstellung des Religiösen durch eine Bestimmung des Gefühls greift Volker Gerhardt im Anschluss an Schleiermacher auch aus philosophischer Perspektive auf: »Der Glaube ist ein von der Vernunft getragenes Gefühl.« (Gerhardt 2012: 311) Weiterhin bestimmt er den Glauben als Bezug auf das Ganze, das so als sinnvoll erscheinen könne: »Er ist auf das Ganze eines Lebenszusammenhanges aus, möchte Anfang und Ende des Daseins versichert sehen und hält auch gegen Zweifel daran fest, dass der alles Handeln leitenden Sinn des Lebens einen Grund im Ganzen hat.« (Gerhardt 2012: 311 f.) Er geht von einem anspruchsvollen Begriff der Individualität aus, der gerade an die Existenz des Ganzen geknüpft ist. »Denn der alles umfassende und gleichsam abschließende Begriff der Unendlichkeit ist überall dort unverzichtbar, wo man sich genötigt sieht, in Allbegriffen in totalisierender Absicht zu denken. Und das ist in jeder wissenschaftlichen, ethischen und politischen Theorie der Fall.« (Gerhardt 2012: 305) So ist das Gefühl nur ein Beiwerk, das subjektiv zum Ausdruck bringt, was aber mit einer objektiven Analyse kongruent geht. (Vgl. ebenda) 34 35

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

tisch-theologische Ansatz von Ulrich Barth und der praktisch-theologische Ansatz von Wilhelm Gräb. Im Zentrum des Ansatzes bei Ulrich Barth steht der Begriff der Religion. Er bestimmt Religion zunächst als das Verhältnis des Menschen zu dem Unbedingten. Das Unbedingte ist unter Rückgriff auf den Gebrauch des Begriffs bei Tillich das, »was unbedingt angeht«. 37 Jede Form von Religion ist auf die eine oder andere Weise mit dem Unbedingten verknüpft: »Religion ist die Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten.« 38 Diese Erfahrungen sind in der Subjektivität zu verorten, es ist das Subjekt, das als Ort religiösen Erlebens verstanden werden muss: »Wo immer religiöse Vorstellungsgehalte (…) von einem Subjekt hervorgebracht oder angeeignet werden, manifestiert sich das Bewusstsein von ihnen in spezifischen Erfahrungen und Erlebnissen.« 39 Eine Abgrenzung gegenüber dem naturwissenschaftlich orientierten Anspruch auf Weltdeutung ist mit dem subjektivitätstheoretischen Ansatz gut zu begründen. Gegenüber den Naturwissenschaften reklamiert Barth, dass die Erkenntnisbedingungen der Naturwissenschaften nicht zum Gegenstand ihrer eigenen Betrachtung erhoben werden können. Sie bedürfen notwendigerweise für die eigenen Erkenntnisvollzüge der Logik, ohne diese ihrerseits empirisch begründen zu können: »Die überempirische Gültigkeit der logisch-semantischen Struktur der Sprache beruht nämlich (…) allein auf dem Sachverhalt, dass sie diejenigen formalen Wahrheitsbedingungen formuliert, denen jede sprachliche Bezugnahme auf Wirklichkeit genügen muss, die mit dem Anspruch auf Erkenntnis auftritt.« 40 Barth unterscheidet grundsätzlich: »Dementsprechend kann das Erkennen prinzipiell zwei verschiedene Richtungen einschlagen. Es kann einerseits jene Zeichenrelation als solche gleichsam ausblenden und sich mittels der Zeichen auf die Welt der Dinge beziehen, um sie in Bestimmtheit zu überführen. Ein Gegenstand wird bestimmt, indem die ihm zukommenden Eigenschaften und ihn betreffenden Relationen identifiziert und prädiziert werden. Das Erkennen kann sich andererseits aber auch auf die Welt der Zeichen selbst richten (…).« 41 Durch die Unterscheidung der Explikation

37 38 39 40 41

Vgl. Barth 2003 (3): 5. Barth 2003 (3): 10. Barth 2003 (3): 9. Barth 2003 (5): 453. Barth 2003 (2): 74.

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Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: U. Barth, W. Gräb

der Bedingungen von Erkenntnis und der Erkenntnis von Gegenständen, wird die Beschreibung der Wirklichkeit erweitert. Diese Differenzierung bietet die Basis für eine apodiktische Feststellung, zu der Barth am Ende einer umfassenden Diskussion des Verhältnisses von Naturwissenschaften und Theologie kommt: »Der aus der Aufklärung hervorgegangene kritische Neuprotestantismus beseitigt sämtliche Substitutions- und Konfliktmöglichkeiten zwischen Theologie und Physik durch die strikte Unterscheidung von wissenschaftlicher Erklärung und religiöser Sinndeutung.« 42 Barth sieht noch eine weitere Unterscheidung als notwendig an, um der Religion einen angemessenen Platz zuweisen zu können. Denn eine Verortung der Religion in der Subjektivität würde die Gefahr mit sich bringen, dass die Religion sich den allgemeinen Bedingungen der Subjektivität unterwirft. Deshalb unterscheidet Barth weiterhin zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten. Die gerade verwendete Formel »im Horizont der Idee des Unbedingten« signalisiert ein grundlegendes Problem jeder Darstellung der Religion bzw. der Rede von Gott. Auf der einen Seite muss das Unbedingte etwas sein, das sich den bekannten Ordnungen entzieht, nur so kann die Religion die Differenz von Gott und Welt begründen, nur so erscheint sie als eigenständige und nicht reduzierbare Größe. Auf der anderen Seite muss das Unbedingte aber auch mit den Erfahrungen und Praktiken in Verbindung stehen, die man in verallgemeinerbaren Beschreibungen als Religion identifizieren kann – nur so kann man ernstlich davon sprechen, dass sie Relevanz hat. Die Idee des Unbedingten ist nach Barth zunächst eine Vernunftidee, die in keiner positiv beschreibbaren Beziehung zur menschlichen Erfahrung steht. Das Unbedingte lässt sich, wenn überhaupt, dann »negativ auf die Erfahrungswelt beziehen und als dasjenige beschreiben, welches den Schranken, die für die Sphäre des Bedingten gelten, nicht unterliegt.« 43 So kommt dem Unbedingten, abgeleitet aus dem Kategorienschema Kants, »aktuale Unendlichkeit«, »reale Ganzheit«, »reine Zeitenthobenheit« und »absolute qualitative Notwendigkeit« zu. Nur über diese Abgrenzungen und negativen Bestimmungen lässt sich der Begriff des Unbedingten umschreiben. Er sprengt die kategorialen Ordnungen, in denen wir die Verhältnisse dieser Welt zu fassen suchen. Man kann ihn nicht den transzendentalen Ordnungen 42 43

Barth 2003 (4): 425 f. Barth 2003 (3): 11.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

des Selbstbewusstseins unterwerfen. So sichert Barth die Eigenständigkeit der Deutung religiöser Erfahrung gegenüber allen transzendentalen Ordnungen einer Subjektivität. 44 Das Unbedingte, auf das sich die religiöse Deutung bezieht, bestimmt Barth dann näher als die »Unbedingtheitsdimension von Sinn« 45. Hierdurch wird es möglich, das Unbedingte auf das Bedingte zu beziehen, Religion in den weiteren Raum der kulturellen Deutungsversuche einzubetten: »Religiöse Sinnbildungen sind Deutungswelten im eminenten Sinne.« 46 Durch den Bezug auf das Unbedingte ist die Einzigartigkeit religiöser Deutung gesichert, dadurch aber, dass sie Deutung von Sinnerfahrungen ist, gehört sie zugleich zu dem weiteren Prozess der Welt- und Selbstdeutung. So kommt den Deutungsprozessen der Unbedingtheitsdimension von Sinn eine Zwischenbestimmung zu, sie muss changieren zwischen den kulturellen Sinnerfahrungen und dem Unbedingten. Barth misst dem religiösen Bewusstsein eine Brückenfunktion zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten zu: »Das religiöse Bewusstsein hat seinen Standpunkt weder im Absoluten noch im Kontingenten, sondern im applikativen Bedeutungstransfer zwischen beiden.« 47 Beide Seiten sind in der religiösen Kommunikation notwendig miteinander verbunden, weder kann man sich auf das Unbedingte allein berufen, noch aber darf die Kommunikation in dem Bedingten aufgehen. Hier sind die Spannungen angelegt, die wir auch schon in der Rede von Gott bei Paulus gefunden haben und die uns in dieser Arbeit begleiten werden. Der Versuch, allein vom unbedingten Sinn zu reden, würde zu einer völlig willkürlichen Rede führen, denn unser Reden als endliche Menschen ist immer auch von unserer Bedingtheit bestimmt.

Schleiermacher hat sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen müssen, dass er die religiösen Erfahrungen im Selbstbewusstsein verorte und damit zu einem Teil der Sphäre des Menschlichen mache. Dagegen hat er etwa die alte Lehre des logos anapodeiktos bemüht, vgl. Redeker 1999: XXVI. Vgl. auch Schleiermacher 1829: 129. »Gott und Welt stehen für Schleiermacher daher in Korrelation, sind aber niemals identisch, und die schlechthinnige Abhängigkeit des religiösen Gefühls bezieht sich niemals auf die Welt, sondern ausschließlich auf Gott, als Grund und Grenze der Welt.« (Redeker 1999: XXVIII) Das Problem ist in der Tat gravierend: In der Reflexion der Rede von Gott muss man die Gott-Mensch-Differenz reflektieren, ohne das eigene Eingebundensein in die endlichen menschlichen Strukturen zu verleugnen. 45 Barth 2003 (3): 14. 46 Barth 2003 (2): 36. 47 Barth 2003 (3): 14. 44

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Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: U. Barth, W. Gräb

Die religiöse Sinndeutung muss stets beide Seiten dialektisch miteinander verbinden, das Bedingte und das Unbedingte. Doch wo findet diese Vermittlung statt? Die »Differenz von Endlichkeit, Gestücktheit, Zeitlichkeit, Kontingenz einerseits und Unendlichkeit, Ganzheit, Zeittranszendenz, Notwendigkeit andererseits fällt nun in eine Instanz, die sich trotz und gerade in der Betroffenheit durch jene Polaritäten als ein und dieselbe weiß, nämlich in das sich selbst beurteilende Subjekt.« 48 Die Deutung, der Barth eine herausragende Rolle zukommen lässt, geschieht über hermeneutische Verfahren. Auch hier steht er in der Tradition Schleiermachers, der einer der Begründer der modernen Hermeneutik ist. 49 Ihre besonderen Kennzeichen sind unter anderem, dass sie immer auch konstruktivistisch verfährt und aus der Deutung von Zeichen besteht. 50 Mit der Einführung des Begriffs der Deutung erkennt Barth an, dass es sub specie mundi keinen unmittelbaren Zugang zum Unbedingten gibt. Auch Sinnerfahrungen im religiösen Bereich müssen semantisch erschlossen werden: »Für die spezifische Sinnstiftungsleistung von Religion aber ist der zeichenhermeneutische Aspekt von Deutung ausschlaggebend. Religiöse Deutung besteht in der Auslegung des eigenen Welt- und Selbstumgangs nach deren religiöser Bedeutsamkeit.« 51 An den Gebrauch der Kategorie des Sinns knüpft Wilhelm Gräb an. Seiner Ansicht nach hat die Theologie die Aufgabe, Deutungsangebote für die individuelle Sinnsuche bereitzustellen. Dies gilt insbesondere für die Deutung des eigenen Lebenslaufs: »Sofern sich religiöse Erwartungen an die Kirche richten, geschieht dies in den Passagen und Übergängen im Lebenslauf.« 52 Gräb verallgemeinert die Sinnsuche und dementsprechend auch den Religionsbegriff weit über historisch tradierte Religionen hinaus. Der Mensch ist ganz allgemein einer Religion bedürftig, denn sie ist die Weiseeiner umfassenden Sinnerfahrung, die über die gesellschaftlichen Teilsysteme einer ausdifferenzierten Gesellschaft hinausgeht. Die Notwendigkeit der Suche nach Sinnerfahrungen ist nicht nur allgemein menschlich, Barth 2003 (3): 21. Allerdings stellt Nowak fest: »Die Forschung hat Schleiermachers Selbstbild als Pionier der Hermeneutik (dem Wilhelm Dilthey unkritisch folgte) nachhaltig korrigiert. Sie stellt klar, was Schleiermacher anderen Hermeneutikern verdankte.« Nowak 2001: 199 f. 50 Vgl. Barth 2003 (2): 73. 51 Barth 2003 (2): 75. 52 Gräb 2006: 67. 48 49

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sondern auch zeitinvariant: »Das religiöse Sinnverlangen der Menschen ist nicht verschwunden. Geschwunden ist allenfalls ihr Zutrauen dazu, dass sich in einer hochkomplexen, nach Funktionssystemen ausdifferenzierten Gesellschaft ein grundlegendes Daseinsverständnis und eine auch ethisch orientierende Lebensgewissheit überhaupt noch gewinnen und gesellschaftlich relevant kommunizieren lassen.« 53 Doch auch aus der modernen Gesellschaft »hat sich die Religion nicht verloren. Sie kann sich aus ihr auch nicht verlieren, denn auch in einer von diskursiven Rationalitätsparadigmen beherrschten Gesellschaft sind die Fragen nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben nur religiös, d. h. auf transzendente Sinninstanzen zu beantworten.« 54 Die religiöse Sinnsuche hat somit eine wichtige ergänzende Rolle in einer Zeit, in der die Beschreibung der Welt durch Ordnungen vorgenommen wird, die in keiner Weise mehr mit der Rede von Gott kompatibel sind. Die weite Bestimmung von Religion zeigt einen Wandel gegenüber dem Ansatz des späten Schleiermachers an. 55 Dieser hat seine theologische Arbeit ganz als kirchliche Funktion verstanden: »Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden Lehre.« 56 Gräb richtet dagegen angesichts einer immer schwächer werdenden kirchlichen Vermittlung religiöser Gehalte seine Aufmerksamkeit auf einen weiten Befund von Religiosität. »Es ist nicht mehr so, dass Menschen nach Maßgabe einer bestimmten Auffassung von Gott oder von dem Göttlichen religiös sind, sondern sie sind religiös, indem sie sich auf souveräne und eigenständige Weise zu den existentiellen Sinnfragen des Lebens verhalten (…).« 57 Die Grundlage für die Ausweitung der religiösen Betrachtung ist eine verallgemeinerbare Sinnsuche. Die weite Betrachtung hat nun aber auch Konsequenzen für die Deutung der Kommunikation in der Kirche. Die Predigt, die kirchliche Rede von Gott, muss sich dementsprechend als religiöse Rede, das heißt, als sinnstiftende Rede gestalten. Der moderne spirituelle Trend steht

Gräb 2006: 21 f. Gräb 2013: 17 f. 55 Schleiermacher hat durchaus im Einfluss der Frühromantik in den »Reden« einen weiten Religionsbegriff verwendet, auf den er aber später nicht mehr zurückgekommen ist. 56 Schleiermacher 1821/22 (1): 9. 57 Gräb 2013: 19. 53 54

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Neuere theologische Ansätze zum Selbstbewusstsein: U. Barth, W. Gräb

»dafür, dass die Menschen auf Religion ansprechbar und bereit sind, auf die Predigt zu hören, wenn diese ihnen hilft, sich über sich selbst und die eigene Sinnsuche klarer zu werden.« 58 Auch Gräb unterscheidet zwischen der naturwissenschaftlichen Darstellung der Welt und ihrer religiösen Erfahrbarkeit. »Diese Phänomene (scil. der Spiritualität, FV) spielen auf der weichen Oberfläche der nach wie vor harten Prozesse einer durch die wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Faktoren vorangetriebenen Gesellschaftsdynamik.« 59 Steht die Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften auf der einen Seite, so gibt es auf der anderen Seite neue Verbindungen, vor allem zu den verschiedenen Formen der Kunst: »Das religiöse Verhältnis der Menschen hat gewissermaßen Züge des Ästhetischen angenommen.« 60 Damit ist also jene Abgrenzungsleistung erbracht, die der Theologie eine Eigenständigkeit gegenüber der naturwissenschaftlichen Interpretation der Wirklichkeit sichert. Durch die Betonung der kulturellen Deutung bei Barth oder der Sinnerfahrungen bei Gräb ist Religion nur innerhalb von konkreten kulturellen Vermittlungen und lebensweltlichen Bindungen möglich. Der Religionsbegriff verbindet die transzendentale Analyse der Subjektivität mit dem historisch-faktischen Lebensvollzug eines jeden Menschen. Die Sinndeutung vermittelt Letztbegründung mit lebensweltlicher Erfahrung. Es »macht schlechterdings keinen Sinn mehr, Religion aus dem Bereich der Kultur zu isolieren und in einen prinzipiellen Gegensatz zu ihr zu stellen.« 61 Die Ansätze der liberalen Theologie haben darin eine Stärke, dass sie die lebensweltliche Situierung der Rede von Gott hervorheben. Dadurch sind sie sensibler für die zeitgenössischen Kommunikationsabbrüche, für das sich verändernde Selbstverständnis der Menschen. Sie dekretieren nicht dogmatisch, sondern machen aufmerksam auf die vielfältigen Veränderungen von Sinnerfahrungen, die sich im lebensweltlichen Kontext ergeben. Barth zeigt, dass die Lebenswelt nicht von den Erfahrungen mit dem Unbedingten unberührt bleibt, dass sie vielmehr von der Unbedingtheitsdimension und deren Deutung erfasst wird: »Gleichwohl bleibt es phänomenologisch richtig, dass die so verfasste religiöse Gewissheit sich immer an ge58 59 60 61

Gräb 2013: 22. Gräb 2006: 13 f. Gräb 2006: 24. Barth 2003 (3): 25.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

genständliche Sachverhalte heftet.« 62 Die Unbedingtheitsdimension strahlt in die von dem Subjekt wahrgenommene Welt aus und verändert diese: »Das Sein von Gewissheit legt sich aus als Gewissheit von Seiendem.« 63 Das Selbstverständnis des Individuums verändert sich durch die Erfahrung des Unbedingten: »Das humane Subjekt, das sich zunächst in lebensweltlichen Erfahrungsbezügen vorfindet und sich aus ihnen heraus versteht, tritt mit der religiösen Selbstidentifizierung unter eine neue Bestimmung seiner selbst.« 64 Die Ansätze der liberalen Theologie bewahren die Erkenntnis, dass sich entscheidende Anteile der Rede von Gott nicht in traditionellen Ordnungen auffangen lassen. Gerade in unserer Zeit ist ein gravierender Umbruch in der religiösen Kommunikation festzustellen. Die Unübersichtlichkeit des Mentalitätenwandels führt zu einer oft beschriebenen Bricolage, einer Religiosität, die sich aus vielen, oft zufällig miteinander verbundenen Quellen nährt. Eine der Folgen dieses Zugangs zur Religion ist, dass sie so stark individualisiert, dass sie kaum kulturelle Prägekraft entfalten kann, so dass sie eher zu einer je individuellen Selbstversicherung führt. Darauf geht etwa auch Gräb ein: »Die Menschen müssen sich in ihr vielmehr in der Verarbeitung riskanter Lebenserfahrungen gestärkt und zur zielgewissen Orientierung ihrer Lebensführung ermutigt finden (…).« 65 Hierzu sei es hilfreich, auch die Werke von Kunst, Literatur, Film und Musik einzubeziehen. In all diesen kulturellen Erzeugnissen können Sinnerfahrungen und Versicherungen von Sinn gefunden werden. Der theologische Blick erfasst unter der Prämisse einer grundlegenden menschlichen Sinnsuche das weite Feld der Kulturen. Jedoch geben die dargestellten theologischen Ansätze Anlass zu einigen kritischen Rückfragen. Nur kurz angedeutet werden soll der erheblich erschwerte Bezug auf historische Verhältnisse. Die Fähigkeit, die Welt im Sinne einer kontingenten Rede von Gott und ihrer Bindung an das einmalige geschichtliche Ereignis der Inkarnation zu deuten, sinkt durch den Ansatz bei den allgemeinen Bedingungen des Selbstbewusstseins erheblich. Die tatsächlichen und konkreten Sinnerfahrungen und -deutungen sind kulturrelativ, aber die Tatsache, dass Menschen im religiösen Verständnis nach Sinn suchen, ist stets 62 63 64 65

Barth 2003 (2): 83. Ebenda. Barth 2003 (3): 19. Gräb 2006: 27.

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Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher

gegeben. Allein die Manifestation und Ausprägung konkreter Sinnerfahrungen sind historisch bedingt. 66 Hier stellt sich die Frage, inwieweit diese theologischen Ansätze dem konstitutiven Stellenwert von Geschichte in der Rede von Gott aufgrund der Inkarnation gerecht werden können. Ein zweiter Grund zu Rückfragen soll hier genauer untersucht werden: Das Selbstbewusstsein ist zwar eine allgemeine Struktur, jedoch manifestiert sich diese allgemeine Struktur immer in konkreten Individuen. Inwieweit sind die theologischen Ansätze beim Selbstbewusstsein gebunden an die systematische Bevorzugung von Individuen als Träger der religiösen Deutung?

5.

Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher

Ist die Sonderstellung des Glaubens oder der Religion durch das Selbstbewusstsein bzw. durch die Subjektivität gewahrt, so hat sie zugleich ein weitreichendes Verständnis von Individualität zur Folge. Der junge Schleiermacher beschreibt in den »Reden« die Religion nicht von einem neutralen Punkt aus, nicht aus Sicht eines beobachtenden Religionsphilosophen, sondern er repräsentiert die Position eines von der Religion erfassten, begeisterten Menschen. Er tritt in die imaginäre Runde seiner Leser, unter denen er auch Skeptiker und Verächter der Religion identifiziert, die er von der wahren Bedeutung der Religion überzeugen möchte. Er inszeniert sich nicht als Repräsentant einer Institution oder Gemeinschaft, also etwa der Kirche, er wendet sich auch nicht an Mitglieder einer Gemeinschaft, sondern an die freien Geister, also an unabhängig denkende und empfindende Menschen. In diesem Kontext wird Religion zu einer Erfahrungsdimension einzelner Menschen. Die Gefühle, die mit der religiösen Dimension verknüpft sind, können und müssen sich individuieren. »Dieses Gefühl muss Jeden begleiten, der wirklich Religion hat. Jeder muss sich bewusst sein, dass die seinige nur ein Teil des Ganzen ist, dass es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affiBarth versucht, beide Anteile – die historische und lebensweltliche Vermittlung jedes konkreten Selbstbewusstseins und seine allgemeine Konstitution – im Begriff der »Selbstdeutung« zu vermitteln: »Eine Theorie des Selbstbewusstseins wird ihren Gegenstand somit nur dann adäquat zur Geltung bringen können, wenn sie die konstitutionsidealistische Funktion von Bewusstsein zur lebensweltlichen Ausgelegtheit von Subjektivität in eine konstruktive Beziehung setzt.« Barth 2003 (5): 456.

66

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

zieren, Ansichten gibt, die ebenso fromm sind und doch von seinigen gänzlich verschieden und aus anderen Elementen der Religion, Anschauung und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt.« 67 Die entscheidende Instanz für Religion ist der jeweilige religiöse Mensch, der seinen Erfahrungen nachspürt. Die Erfahrungen müssen in keiner Weise an historisch tradierte Formen der Religion gebunden sein: »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.« 68 Doch ist der einzelne Mensch in den »Reden« nicht isoliert, er ist eingebunden in die ihn umgebende Welt, die es etwa beim Anschauen des Universums erlebt. Hier wird die Anschauung des Universums durch die Selbstanschauung ergänzt, beide interpretieren sich gegenseitig. Der religiöse Mensch versteht sich nicht in Abgrenzung von der Welt, sondern gerade in der Zuwendung zu ihr. Auch ist der religiöse Mensch auf Gemeinschaft aus, weil er sich mitteilen möchte: »Religion ist nach Schleiermacher von Natur aus gesellig. Sie will sich mitteilen und sucht Ergänzung (…).« 69 Schleiermacher vertieft seinen Ansatz über den einzelnen Menschen in einer weiteren Schrift, den »Monologen«. Auch hier gilt, dass das Individuum sich gerade als Ort der Verbindung mit anderen Menschen erweist. 70 Der einzelne Mensch wird »die je eigentümliche Darstellung eines unendlichen Ganzen (Menschheit) im Medium der Individuation (Mensch).« 71 Redeker kommt zu dem Urteil: »Welcher neuer Ethos ergibt sich aus der Selbstanschauung? In ihr und durch sie vollzieht sich die Bildung des Selbstbewusstseins der Individualität. Die Individualität ist die eigenständige und originale Entdeckung der Lebensphilosophie Schleiermachers.« 72 Denn das Individuum ist der Ort, an dem sich die religiöse Erfahrung manifestiert. Das gilt auch für das Verständnis des frühen Schleiermachers, der ja den Bezug auf das Universum betont: Das »unendliche Universum gewinnt seine

Schleiermacher 1799: 35. Schleiermacher 1799: 68. 69 Graß 1985: 217. 70 »So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist; es ist mir klar geworden, dass jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente (…).« Schleiermacher 1800: 18; vgl. auch: Gräb 2012 (2): 267. 71 Nowak 2001: 117. 72 Redeker 1968: 80. 67 68

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Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher

vom Individuum spezifisch unterschiedliche Gestalt erst in der individualisierten Darstellung (…).« 73 In dem theologisch zentralen Werk »Der christliche Glaube« ist der Bezug auf die Kirche konstitutiv für die Entwicklung des frommen Selbstbewusstseins. Schleiermacher bezieht sich mit Nachdruck auf die kirchlichen Traditionen: »Das Bestreben, ein gemeinsames festzustellen, muss sich in der Glaubenslehre aussprechen durch Berufung auf die Bekenntnißschriften, und wo diese nicht ausreichen, auf die heilige Schrift und auf den Zusammenhang mit den anderen Theilen der Lehre.« 74 Das Selbstbewusstsein, in dem Schleiermacher das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit lokalisiert, ist das Selbstbewusstsein, das zugleich kirchlich gebunden ist. Die Möglichkeit und Eigenständigkeit einer frommen Erregung des Gemüts reflektiert Schleiermacher, indem er auf die allgemeinen Bedingungen des Selbstbewusstseins eingeht und transzendentalphilosophisch analysiert. Diese Bestimmung zielt zunächst nicht auf ein Individuum, sondern auf die Strukturen des allgemeinen menschlichen Selbstbewusstseins. Aber auch hier kommt dem Individuum eine wichtige Rolle zu, gerade für den Protestantismus steht der Einzelne in seinem Verhältnis zu Christus im Mittelpunkt. 75 Der Ort, an dem sich die Frömmigkeit je und je aktualisiert ist auch hier der einzelne Mensch. Dieser erlebt sich eingebunden in Gemeinschaften, in denen erst die Anlässe zur Erregung des frommen Gemüts geschaffen werden. Eine entscheidende Frage ist, welche Bestimmung das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum erfährt. Und hier zeigt sich doch in vielen Wendungen, dass Schleiermacher dem Individuum den Vorzug gibt, dass die Gemeinschaft von ihm als eine solche verstanden wird, in der sich die Individuen vereinen. 76 Der Ausgangspunkt ist der einzelne Mensch, zur Bestimmung der Gemeinschaft ist es notAlbrecht 1994:180. Schleiermacher 1821/22 (1): 103. 75 Vgl. Schleiermacher 1821/22 (1): 99. 76 Das Individuum ist nie ohne seinen Außenkontakt, jedoch ist es als religiöses zunächst und vor allem durch Selbstreflexion und das unmittelbare Selbstbewusstsein bestimmt: »Freilich bleibt dieses durch die eigene Reflexivität des unmittelbaren Selbstbewusstseins bzw. Gefühls geschaffene Für-uns-selbst-Sein verbunden mit unserem Für-andere-Sein in Gattungsleben und Weltgeschehen. Das in der Reflexivität des unmittelbaren Selbstbewusstseins gründende Für-uns-selbst-Sein umfasst unser gesamtes Sein-für-andere, fundiert und begleitet es also dauernd.« Herms 2003: 414. 73 74

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

wendig, »über die Betrachtung der frommen Erregungen in der einzelnen Seele hinaus zu gehen.« 77 In der späteren Fassung der »Glaubenslehre« schreibt Schleiermacher dazu deutlich: »Geleistet wird es (scil das Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit, FV) dadurch, dass alles Innere auch auf irgendeinem Punkt der Stärke oder Reife ein Äußeres wird, und als solches anderen wahrnehmbar. So das Gefühl als ein in sich abgeschlossenes Bestimmtsein des Gemütes will doch (…) nicht ausschließlich für sich sein.« 78 Die Gemeinschaft wird der Erfahrung des Einzelnen nachgeordnet, sie ist auch immer unvollkommen und von beschränkter Reichweite, da Individuen je unterschiedliche Gefühlsausprägungen haben. »Wenn behauptet wird, diese Gemeinschaft sei zunächst eine ungleichmäßige und fließende; so folgt dies aus dem eben Gesagten. (…) so haben auch eines jeden fromme Erregungen mehr Verwandtschaft mit denen der einen als mit denen der anderen (…).« 79 Schleiermacher schränkt aber diese Priorisierung des Individuums ein, wenn er anerkennt, dass auch das Individuum ja von Beginn seines Lebens an den Einflüssen von Gemeinschaften ausgesetzt ist. Es ist zu kurz gegriffen, den Austausch des frommen Selbstbewusstseins allein darauf zurückzuführen, dass man an das Verhältnis vereinzelter Menschen zueinander denkt. »Sehen wir aber auf den wirklichen Zustand des Menschen, so ergeben sich doch auch feststehende Verhältnisse in dieser fließenden und eben deshalb streng genommen unbegrenzten Gemeinschaft.« 80 Zudem ist est so, dass die Gemeinschaften keinen vollständigen Einfluss auf die in ihnen verbunden Menschen haben. Gemeinschaften vereinen Menschen, die sich bis zu einem bestimmten Grade ähneln. Dies erzwingt, da Schleiermacher ja die Eigenständigkeit der Gemeinschaft wichtig ist, eine terminologische Unterscheidung: »Sofern nun die Beschaffenheit der frommen Gemütszustände des Einzelnen nicht ganz in dem aufgeht, was als gleichmäßig in der Gemeinschaft anerkannt worden ist, pflegt man

Schleiermacher 1821/22 (1): 41. Schleiermacher 1830/31: Erster Band 42. Gräb formuliert bezogen auf Schleiermacher: »Dort, wo eine Gemeinde zu gemeinsamer gottesdienstlicher Feier zusammenkommt, geschieht der kommunikative Austausch bzw. die wechselseitige Darstellung dessen, was jeden einzelnen in seinem individuellen Gefühlsbewusstsein auf eine ihm selbst bedeutsam erschlossene Weise angeht.« Gräb 2012 (2): 276. 79 Schleiermacher 1830/31: Erster Band 43. 80 Schleiermacher 1830/31: Erster Band 44. 77 78

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Zur Bedeutung des Individuums bei Friedrich Schleiermacher

jenes rein Persönliche seinem Inhalt nach betrachtet die subjektive Religion zu nennen, das Gemeinsame aber die objektive.« 81 Ein weiterer Hinweis auf das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft findet man in einem ganz anderen systematischen Teil des Ansatzes. Schleiermacher hat sein Werk »Der christliche Glaube« mit einer starken Betonung der Christologie versehen. Nun wird die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde im Neuen Testament gerade auch durch den expliziten Bezug auf Christus beschrieben, sie ist sein Leib (1. Kor 12,27; Röm 12,5), die christliche Gemeinde existiert »in Christus« (Gal 3,28; Röm 6,11). Doch Schleiermacher akzentuiert auch in dieser Beschreibung von Religion die Rolle des Einzelnen. Einzelner und Gemeinschaft sind in Christo wechselseitig aufeinander bezogen, aber letztendlich ist bei Schleiermacher von dem vorgeordneten Einzelnen und seinem Bezug auf Christus die Rede: »Bei dieser vollkommenen Gegenseitigkeit (scil. von Einzelnem und Gemeinschaft, FV) nun rechtfertigt sich diese Stellung dadurch, dass doch ursprünglich Einzelne von Christo ergriffen wurden, und auch jetzt noch es immer eine durch die geistige Gegenwart im Wort vermittelte Wirkung Christi selbst ist, wodurch die Einzelnen in die Gemeinschaft des neuen Lebens aufgenommen werden (…).« 82 Es ist der Einzelne, der das Wort aufnimmt und so die geistige Gegenwart Christi im Wort erlebt. 83 Auch die Lehre der Kirche ist dementsprechend angelegt als Gemeinschaft von Menschen, die Gleiches teilen: »Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken.« 84 Schleiermacher 1830/31: Erster Band 46. Ein gewisses Eigenrecht des Überindividuellen sieht auch Gräb: »Soll eine religiöse Gemeinschaft Stabilität gewinnen, und damit im soziologischen Sinn des Begriffs zur Kirche werden, dann setzt dies das Bezogensein der Individuen auf solche transindividuellen Größen wie etwa eine gemeinsame Sprache oder gemeinsame Abstammungsverhältnisse voraus.« Gräb 2012 (2): 277. 82 Schleiermacher 1830/31: 2. Band 149. 83 »Dabei macht Schleiermacher nun allerdings im religiösen Gefühl auch diejenige Instanz im Menschen aus, die diese Aufgabe als lösbar erscheinen lässt. Denn das religiöse Gefühl erschließt dem einzelnen Menschen die eigene Gründung im unendlichen Ganzen der Wirklichkeit. In ihm hat jeder Mensch einen eigenen, individuellen Bezug auf den transzendenten Grund seiner Selbst- und Welterkenntnis.« Gräb 2012 (2): 272. 84 Schleiermacher 1830/31: 2. Band 215. Die Position Schleiermachers und seine Betonung der Individualität sind nicht singulär, sondern gehören in die Epoche. Charles 81

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

6.

Zur Bedeutung des Individuums bei Ulrich Barth und Wilhelm Gräb

Sehr ähnlich zu Schleiermacher kommt auch bei Barth und Gräb der Religiosität des Einzelnen eine besondere Bedeutung zu. Allerdings ist hier ein deutlicher Unterschied zwischen beiden zu verzeichnen: Während Barth versucht, im Rahmen einer allgemeinen Auslegung der Subjektivität zu bleiben, stellt Gräb gerade die individuelle Konkretion von Religiosität in den Mittelpunkt. Barth beschreibt, wie wir schon sahen, Religion im Kern als Selbstauslegung: »Im Horizont transzendentaler Erkenntnistheorie jedenfalls stellt die Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Realität des Göttlichen nichts anderes dar als ein bestimmtes Deutungsschema der Selbstauslegung religiöser Gewissheit.« 85 Dies verbleibt im Allgemeinen einer Subjektivität, weil individuelle Konkretionen in dem Deutungsschema zunächst nicht vorkommen. Ähnlich allgemein bezieht Barth das Bewusstsein dann auf das Gesamt der Wirklichkeit: »Aber in solchem Bewusstsein ist in der Regel immer auch das Wissen um eine Beziehung enthalten, die diese Instanz über jenes subjektive Verhältnis hinaus zum Gesamtbereich des Seienden, zur Wirklichkeit insgesamt unterhält. (…) Das religiöse Verhältnis zum Unbedingten schließt darum die religiöse Qualifizierung der Gesamtsphäre des Bedingten ein.« 86 Damit ist das Religiöse nicht auf eine Innensphäre restringiert: »Die Ausweitung des individuellen Abhängigkeitsgefühl zum Gefühl des in der Welt Seins bedeutet demnach, dass ›der Fromme sich selbst als einen Bestandteil der Welt und mit dieser zugleich als schlechthin abhängig setzt‹.« 87 Das Individuum ist nach Barth keine Insel, sondern von Beginn an in soziale Prozesse einbezogen. Barth rezipiert die die soziale Vermittlung sehr weitgehend betonenden Identitätstheorien von George Herbert Mead und von Paul Hofstätter. Das Ich ist nicht in irgendeiner Weise fraglos vorgegeben, sondern entsteht Taylor hat herausgearbeitet, dass zum Ende des 18. Jahrhunderts das Individuum, das sich selbst einen ihm eigenen Ausdruck verleiht, sich zu einer kulturellen Leitvorstellung etabliert hat: »Der Expressivismus ist die Grundlage eines neuen und umfassenderen Individuationsbegriffs, also der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, wonach jedes Individuum anders und etwas Ureigenes ist und durch seine Originalität darauf festgelegt wird, wie es leben sollte.« Taylor 1996: 653. 85 Barth 2003 (2): 84. 86 Barth 2003 (3): 9. 87 Barth 2003 (4): 420 f.

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Zur Bedeutung des Individuums bei U. Barth und W. Gräb

erst in sozialen Kontexten und Interaktionen. »Das konkrete Individuum ist nichts anderes als der Austragungsort und die Austragungsinstanz derjenigen Profilierungsmöglichkeiten, die sich aus den verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten (…) ergeben.« 88 Doch auch wenn der Einfluss von Gruppen und sozialen Prozessen groß ist, rekurriert Barth aufgrund seines transzendentalen Ansatzes letztlich auf das Selbst: »Woher das jeweilige Individuum allerdings seine innere Befähigung zur Selbstzuschreibung und Selbstunterscheidung bezieht, konnte Hofstätter ebenso wenig wie Mead darlegen. (…) Viel eher bestätigt sich, dass zwischen sozial vermittelter Ich-Identität und apriorischer Selbstbezüglichkeit (…) sachlich und methodisch strikt zu differenzieren ist.« 89 Allerdings sieht Barth die Notwendigkeit, jenseits der Bestimmung des allgemeinen Selbstverhältnisses das konkrete Individuum in den Blick zu nehmen. Die Selbstbezüglichkeit, die Subjektivität ist mit ihren apriorischen Strukturen eine überindividuelle Instanz, aber sie manifestiert sich in einem Individuum, »der Gesamtgehalt möglicher Letztbedingungsrelationen« zeigt sich »im unmittelbaren Selbstbewusstsein eines individuellen Subjekts.« 90 Damit ist die Deutungsleistung des Sinns im Horizont des Unbedingten immer eine Leistung, die einem Einzelnen zugeschrieben wird: »So basiert sozial vermittelte Ich-Identität letztlich auf dem Vermögen konkreter Selbstdeutung. Diesem Sachverhalt muss auch ein sozialpsychologisch anschlußfähiger Religionsbegriff Rechnung tragen.« 91 Auch Gräb erkennt die Verflochtenheit des Einzelnen in kulturelle und lebensweltliche Bezüge an, aber Religion ist dort, »wo die subjektiv verbindliche, individuelle Aneignung kulturell und gesellschaftlich kommunizierter, sinnorientierender Lebensdeutungen geschieht.« 92 Dies vollzieht sich individuell. Der Mensch wird geradezu erst durch die religiöse Erfahrung zu einem Individuum. Bezogen auf Augustinus hält Gräb fest: »Die christliche Erfahrung war für ihn zum anderen der Beleg dafür, dass der Mensch Individualität nicht einfach nur ist, sondern er zur Individualität dadurch wird, dass er sich und die ihm widerfahrende Welt in ihrem göttlichen Schöpfer-

88 89 90 91 92

Barth 2003 (2): 55. Barth 2003 (2): 56. Barth 2003 (4): 421. Barth 2003 (2): 62. Gräb 2006: 21.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

grund erfasst.« 93 Dementsprechend ist auch die Rede von Gott als religiöse Rede ganz auf das Individuum ausgerichtet: »Einer Predigt, die zur religiösen Rede wird, geht es um die existentielle Konkretion des christlichen Glaubens, darum, wie er menschliche Kontingenzerfahrungen deutet, Erfahrungen des Glücks wie der Not, elementare Sehnsüchte und Hoffnungen.« 94 Auch die Kirche ist in ihrer religiösen Valenz von der individuellen Deutung des Lebens zu verstehen. »Die Kirche kommt in den Blick als institutionalisierter Ort religiöser Deutungskultur, dann, wenn es um die Verarbeitung der eigenen Lebenszeit zu einer Geschichte geht, die mehr erzählt als die erinnerbare Summe der Einzelmomente (…).« 95 Die Kirche muss dementsprechend Hilfen zu einem Selbstverständnis der je besonderen Individualität geben, indem sie für die je eigenen Lebensläufe theologisch verantwortete Deutungsmuster bereitstellt. In diesem Kontext sei schließlich ein dritter Theologe der liberalen Richtung genannt, auch Falk Wagner urteilt ähnlich. Religion ist sozial vermittelt, aber maßgeblich durch das Individuum zu verantworten. »Diese spezifische Verfasstheit des religiösen Bewusstseins, als Individuum zugleich auf seine soziokulturelle Umwelt bezogen zu sein, wird durch die privatisierte Zugangsweise zu welchen Gestalten der Religion auch immer bestätigt.« 96 Das Verhältnis von Individuum und sozialer Vermittlung ist nicht eindeutig. Auch Wagner blendet die Gesellschaft und die bleibenden Widersprüche der funktionalen Anforderungen an das Individuum nicht aus: »Gleichwohl hat auch die Individualitätskultur ihren Ort innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft, so dass sie zugleich von den systemischen Mechanismen (…) durchdrungen und von ihnen abhängig ist«. 97 Dennoch kommt letztendlich dem Individuum die Schlüsselrolle in dem Verständnis der Religion zu: »Aufgrund des privatisierten Entscheidens ist den Individuen der Zugang zur Religion selbst zuzurechnen.« 98

Gräb 2012 (1): 134. Gräb 2013: 33 f. 95 Gräb 1993: 222 f. 96 Wagner 1993: 147. 97 Wagner 1993: 148. 98 Wagner 1993: 147. Wagner sieht das allerdings als eine der großen Herausforderungen der überkommenen Theologie an, vgl. Barth 2003 (2): 57. 93 94

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Zur Kritik des Begriffs des Individuums in der Theologie

7.

Zur Kritik des Begriffs des Individuums in der Theologie

Die liberale Theologie in der Folge des Ansatzes von Schleiermacher hat durch den Bezug auf das Selbstbewusstsein eine Unterscheidung in die Beschreibung der Wirklichkeit eingeführt, die der religiösen Kommunikation bzw. der Rede von Gott eine Eigenständigkeit und Irreduzibilität gegenüber der naturwissenschaftlichen Deutung garantiert. Die Rede von Gott verweist darüber hinaus auf die Unbedingtheitsdimension von Sinn: »Indem Religion die Unbedingtheitsdimension von Sinn thematisiert und die gesamte Lebensführung unter diese Perspektive rückt, repräsentiert sie eine in der conditio humana verwurzelte und diese über sich selbst verständigende Tiefenhermeneutik des Daseins.« 99 Die Tiefenhermeneutik des Daseins sucht den Wirklichkeitsbezug der Rede von Gott an einem ganz bestimmten Ort, nämlich bei dem konkreten Menschen, dessen Subjektivität einer allgemeinen Analyse zugänglich ist. Diese theologische Strategie, Religion als Kommunikation der Selbstdeutung aufzufassen, engt allerdings den sich in der religiösen Kommunikation konkretisierenden Wirklichkeitsbereich auf den einzelnen Menschen ein, unabhängig von der Betonung der Wichtigkeit sozialer Vermittlung im Prozess der Sinndeutung. Der individuelle Mensch wird in Unterscheidung zu anderen Menschen und in Unterscheidung zu der ihn umgebenden Wirklichkeit die zentrale Instanz der Bewährung religiöser Deutung. Der Ort der Manifestation religiöser Wirklichkeit ist zunächst und vor allem das Individuum.In Bezug auf Schleiermacher stellt Albrecht fest: »Im Individuumsbegriff findet die strukturelle, phänomenologisierte Form der Wirklichkeit der Bindung des Unendlichen an das Endliche ihren begrifflichen Ausdruck.« 100 Denn die Größe, von der sich das Eigenrecht der religiösen Deutung der Wirklichkeit ableitet, ist das Selbstbewusstsein, das sich in den unterschiedlichen Sinnerfahrungen und Sinndeutungen des je einzelnen Menschen äußert. Damit kommt, wenn auch auf einer anderen Ebene, nämlich der der Manifestation religiöser Erfahrungen und Deutungen, genau das andere, in der obigen Aufzählung dritte Verständnis von Subjektivität ins Spiel, gegen das sich die theologischen Ansätze zunächst abgrenzten, nämlich das der Subjektivität im Sinne der Nicht-Verallgemeinerbarkeit. Volker Gerhardt fragt: »›Subjekti99 100

Barth 2003 (3): 24. Albrecht 1994: 180.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

vität‹ ist durch den Mangel an Objektivität definiert. Was sollte sich aus ihrem defizienten Modus positiv begründen lassen – außer dass es diese oder jene subjektive Ansicht gibt?« 101 Die Frage ist, wie es möglich sein sollte, individuelle Deutungsleistungen von Sinn anders zu verstehen denn als subjektiv im defizienten Modus. Alle hier genannten Ansätze ignorieren nicht die soziale Vermittlung von Religion, aber es ist entscheidend, in welcher Reihenfolge Gemeinschaft und Individuum zueinander stehen: Ist es das religiöse Individuum, das sich sozial vermittelt in einer Gemeinschaft oder in der Kirche zum Ausdruck bringt, oder ist es der Ort der Gemeinschaft, der erst das Individuum zu dem macht, was es ist? Gräb geht in der Gewichtung am weitesten. Er sieht in der Individualisierung einen gesellschaftlichen Prozess, der durch die christliche Tradition sogar erst angestoßen worden ist, so dass »die modernen Individualisierungsprozesse ein Verständnis von Individualität voraussetzen und für sich selbst in Anspruch nehmen, das auf eine lange, durch das Christentum und seine Theologie geprägte Geschichte verweist.« 102 Diese theologischen Positionen haben aber meiner Ansicht nach aufgrund der Betonung des Individuums erhebliche Schwierigkeiten, sich von einem im pejorativen Sinne gemeinten »subjektiven« Religionsverständnis abzugrenzen. 103 Jeder Mensch ist anders und die Bedeutung von religiösen Erfahrungen entscheidet Gerhardt 2012: 301. Gräb 2012 (1): 134. 103 Hier ist also Subjektivität in dem dritten oben aufgeführten Sinne gemeint. Gerhardt weist das explizit zurück: »Ich aber behaupte, dass die Theologie nach Kant dieser Reduktion des Glaubens auf bloße Subjektivität entgegensteht, obgleich der äußere Eindruck das genaue Gegenteil zu besagen scheint.« Gerhardt 2012: 299. Jedoch ist seine Interpretation des Individuums sehr stark durch einen bestimmten Vernunftbegriff bestimmt, der sogar den Glauben trägt: »Wenn die menschliche Vernunft den Sinnhorizont nicht erschlossen und vergegenwärtigt hätte, wüssten wir nicht, worauf sich ein Glaube beziehen soll. Und wir wären nicht in der Lage zu sagen, was er uns bedeutet. Also ist es die Vernunft, die den Glauben trägt.« Gerhardt 2012: 312. Philosophisch mag die Position schlüssig zu entwickeln sein, die Frage aber ist, welchen Bezug diese dann zu den biblischen Schriften, etwa zum Wort vom Kreuz bei Paulus ausweisen kann. Nicht von ungefähr sieht Gerhardt ein Zentrum der christlichen, göttlichen Botschaft in der Selbstvorstellungsformel Gottes nach Ex 3,14: »Ich bin der immer Anwesende, der jederzeit Daseiende und in allem Gegenwärtige.« Gerhardt 2015: 288. Damit zeigt sich die zu der Konzentration auf die Bedingungen des Individuums reziproke Abwendung von der geschichtlichen Vermittlung. Die Botschaft Jesu ist nur eine Fortsetzung und Bestätigung der Selbstvorstellungsformel: »Für die christliche Lehre ist entscheidend, dass der ›Men101 102

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Zur Kritik des Begriffs des Individuums in der Theologie

sich unbeschadet aller sozialen Vermittlung an der Instanz des einzelnen, individuierten Menschen. Dies ist dadurch bedingt, dass die jeweilige religiöse Erfahrung sich als Aktualisierung eines allgemein bestimmten Selbstbewusstseins versteht. Das gilt auch, wenn diese Bestimmung des Selbstbewusstseins transzendental vorgenommen wird und in diesem Sinne strikt allgemein ist. Religiöse Erfahrungen sind an die Selbstdeutung gebunden und erst in ihrer individuellen Artikulation können sie nach außen, an andere religiösen Subjekte weitergegeben werden. Die Erfahrung des Unbedingten mag auf das Bedingte ausstrahlen, doch ist es das Selbstbewusstsein des je und je konkreten Menschen, an dem es anzutreffen ist und von dem es erst ausstrahlen kann. Menschen mit ähnlichen religiösen Erfahrungen vereinen sich dann zu religiösen Gemeinschaften, aber diese Gemeinschaften sind als Gemeinschaften die Summe ihrer Mitglieder und existieren nur so lange, als die Mitglieder der Gemeinschaft Gemeinsamkeiten entdecken. Die religiöse Erfahrung wird in diesem theoretischen Rahmen gerade unter Absehung der Außenkontakte konzipiert, in dem reflexiven Selbstverhältnis allein entscheidet sich die Erfahrung des Unbedingten. Damit wandert die Aufmerksamkeit, in der gängigen räumlichen Metaphorik gesprochen, von »außen« nach »innen«, vom »Außenverhältnis« zum »Binnenverhältnis«. Wir werden in dieser Arbeit eine andere Richtung einschlagen und dafür plädieren, dass es gerade die fundamentale Verbundenheit mit anderen Menschen wie auch mit der uns umgebenden Wirklichkeit ist, die als Ort religiöser Erfahrungen identifiziert werden muss. So werden wir in gewisser Weise an den frühen Schleiermacher anknüpfen, der die Anschauung und damit die Verbundenheit zur Welt betonte. 104 Es ist gerade nicht ein Selbstverhältnis, in dem die religiöse Erfahrung stattfindet, sondern ein »Außenkontakt« 105, eine Verbundenheit nicht mit diesem oder jenem, sondern eine mit einer schensohn‹ Jesus das Wort aus dem Dornbusch wiederholt und auf sich selbst zur Anwendung bringt.« Gerhardt 2015: 289. 104 Doch auch die Betonung der Verbundenheit durch den frühen Schleiermacher verhindert auch hier nicht eine gewisse Dominanz des Ansatzes beim Individuum. Albrecht urteilt: Das »unendliche Universum gewinnt seine vom Individuum spezifisch unterschiedliche Gestalt erst in der individualisierten Darstellung (…).«Albrecht 1994:180. 105 Dies ist sehr vorbehaltlich formuliert. Der Gebrauch der Metaphorik des »Außen« im Vergleich zum »Innen« wird bei dem neu einzuschlagenden Weg nicht weit tragen, denn er setzt eben jene Differenz voraus, gegen die sich der folgende Ansatz wendet.

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Religion als Ausdruck des Selbstbewusstseins

wirklichkeitskonstituierenden Bedeutung. Nicht die Rückwendung auf den Selbstbezug, sondern umgekehrt die Hinwendung zur Wirklichkeit macht dann religiöse Erfahrungen aus. Individuen sind nicht die Orte, an denen sich religiöse Erfahrungen konkretisieren. Dazu müssen wir zunächst den Faden bei der Herausforderung der naturwissenschaftlichen Deutung der Welt wieder aufgreifen und nach Alternativen zu einer Verankerung der Religiosität in der Subjektivität, in unserem Selbstverhältnis suchen. Denn, wenn es nicht das Selbstverhältnis ist, in dem die religiöse Erfahrung zu lokalisieren ist, so stellt sich erneut das Abgrenzungsproblem zu der naturwissenschaftlichen Deutung der Wirklichkeit. Man kann diese Betrachtung zur Rolle des Individuums in der Rede von Gott nicht abschließen, ohne auf eine wichtige Relativierung der Kritik an dem Begriff des Individuums aufmerksam zu machen. Die bisherige Betrachtung war eine religiöse bzw. theologische Binnenreflexion, die um eine weitere Perspektive ergänzt werden muss, nämlich um die gesellschaftlichen Schutzrechte Einzelner. Das Individuum spielt eine außerordentlich wichtige Rolle in der Frage der Religionsfreiheit und der religiösen Selbstbestimmung. Negative Religionsfreiheit erfordert, dass in einer Gesellschaft jeder Mensch in der Ausübung seiner Religion frei ist. Diese Freiheit sagt nichts darüber aus, aus welchen Gründen sich jemand für oder gegen eine Religion entscheidet. Es ist aber wichtig, dass die Entscheidung stets frei von äußeren Zwängen ist. Ein Konzept von Identität, das auf jenem leibphänomenologischen Ansatz aufbaut, den wir im Folgenden herleiten werden, spricht unter den Bedingungen einer objektiven Beschreibung des Menschen diesem negative Freiheit, also Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung zu. 106 Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch die Ausübung einer Religion. Die negative Religionsfreiheit ist eine wichtige Errungenschaft moderner Gesellschaften. Jedoch ist es eines, aus einer objektivierenden Darstellung heraus einzelnen Menschen das religiöse Selbstbestimmungsrecht zuzusprechen, und ein anderes, eine Religion aufgrund ihrer eigenen Grundlagen zu befragen. Letzteres haben wir hier getan und dabei wurde deutlich, dass in diesem Kontext der Bezug auf das Individuum mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

106

Vgl. Vogelsang 2014 (2): 292 ff.

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5. Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Das naturwissenschaftlich orientierte Weltbild ist eine zentrale Herausforderung für die Beantwortung der Frage nach der Wirklichkeitsrelevanz der Rede von Gott. Einerseits erhält die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit im Zweifelsfalle den Vorrang, andererseits empfinden viele aber auch ein Unbehagen gegenüber einer strikten Begrenzung der Weltbeschreibung auf objektivierende Methoden, weil es lebensweltliche Intuitionen gibt, die sich in die objektivierenden Beschreibungen nicht einfügen lassen. Charles Taylor hat diese Haltung mit dem Begriff »cross pressure« gekennzeichnet. Nagel rechnet damit, dass zwei irreduzible Perspektiven auf die Welt bestehen bleiben: »Ich glaube, dass wir diese beiden Perspektiven nicht auf befriedigende Weise miteinander zu verbinden vermögen. Der objektive Standpunkt erzeugt hier eine Teilung im Selbst, die nie wieder verschwinden wird.« 1 Zugleich aber formuliert Nagel die Forderung: »Wenn dieses Problem überhaupt einer Lösung zugeführt werden kann, muss sie formal von einer Struktur sein, welche die subjektive und die objektive Auffassung der Welt zusammenführt.« 2 Die Wirklichkeit lässt sich nicht in einer vollständigen und konsistenten Theorie erschließen. Doch darf diese Position nicht zu einer beliebigen Öffnung gegenüber divergenten Wirklichkeitsbeschreibungen führen, denn dann wäre der philosophische Erkenntnisanspruch der Deutung der Wirklichkeit aufgegeben. Wie kann dann aber die »Lösung« aussehen? Offenkundig muss es darum gehen, die objektive und die subjektive Auffassung der Welt so zueinander ins Verhältnis zu setzen, dass weder die eine Perspektive auf die andere reduziert, noch aber eine neue, eine dritte Perspektive an die Stelle der beiden anderen gesetzt wird. Das gesuchte Schema muss so etwas wie eine vorbehaltliche Struktur oder Ordnung anbieten, die beide Perspektiven zusammenbringt, ohne sie in eins zu zwängen und ohne sie in zusammenhanglose Perpektiven zerfallen 1 2

Nagel 1986: 152. Nagel 1986: 102.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

zu lassen. Als ein solches Schema werden wir in diesem Kapitel das Schema des Chiasmus vorschlagen, das wir in zwei Arbeiten aus dem leibphänomenologischen Ansatz von Maurice Merleau-Ponty abgeleitet haben. 3 Die Überlegungen dieses Kapitels wiederholen bis auf die Abschnitte sieben und acht Ergebnisse dieser Veröffentlichungen und können, sollten diese bekannt sein, übersprungen werden. Das Plädoyer gegen eine Reduzierung auf objektivierende Perspektiven darf aber nicht verstanden werden als eine Abwertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisleistungen. Der gesuchte Ansatz muss auch zeigen können, warum die Naturwissenschaften mit ihrer methodischen Betrachtung der Wirklichkeit so erfolgreich sind. Es kann also nicht darum gehen, einen alternativen Ansatz der Beschreibung der Wirklichkeit zu verfolgen, der sich als »Gegenentwurf« gegen die dominante Vorstellung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation versteht. Denn dann müsste man auch bereit sein, die wissenschaftlichen Erkenntnisse oder ihre technischen Artefakte im eigenen Leben gering zu schätzen. Doch eine solche Haltung wird ebenso wie die eines konsequenten Naturalismus schnell in einen praktischen Selbstwiderspruch geraten: Reden und Handeln widersprechen dann einander, in der Theorie achtet man die naturwissenschaftliche Denkweise gering, nutzt aber das Internet, um diese Botschaft zu verbreiten, und Flugzeuge, um auf internationalen Kongressen für die eigene Position zu werben. Ein Ansatz, der diejenigen Dimensionen der Wirklichkeit auszuleuchten hilft, die durch naturwissenschaftliche Methoden nicht erschlossen werden können, muss zugleich auch in der Lage sein, die naturwissenschaftlichen Methoden in ihrer Stärke zu beschreiben.

1.

Der philosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

Die Philosophie von Maurice Merleau-Ponty stellt die leibliche Existenz des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Der Philosoph ist an Verwerfungen interessiert, die verhindern, dass der Leib als ein in sich geschlossenes Ganzes erscheint. Der Leib gleicht eher einem Umschlagspunkt, einem »Scharnier« 4 zwischen Gegensätzlichem. Der Leib unterscheidet sich vom Körper auf signifikante 3 4

Vgl. Vogelsang 2014 (1); Vogelsang 2014 (2). Merleau-Ponty 1964: 263.

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Der philosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

Weise, die sich am einfachsten über den folgenden schlichten Selbstversuch deutlich machen lässt, den Merleau-Ponty von Husserl übernommen hat: Man ertaste mit den Fingern der rechten Hand die linke Hand. Die rechte Hand erschließt aktiv die Welt, sie ist dem erkundenden Subjekt zuzurechnen. Dagegen kann die linke Hand als Teil der Welt, als ein Objekt gedeutet werden. Der Leib ist nun exakt dadurch gekennzeichnet, dass er auf beiden Seiten dieser Unterscheidung zu finden ist. Die Merleau-Ponty’sche Beschreibung des Leibes weist auf die Unmöglichkeit seiner geschlossenen und konsistenten Darstellung: Wir sind in unserer leiblichen Existenz als die bestimmt, die die Dinge der Welt zu einem Objekt machen können, und zugleich als die, die der Welt konstitutiv zugehören. Diese Konzeption des Leibes entspricht offenkundig der zentralen Forderung von Thomas Nagel: Die subjektive und die objektive Auffassung der Welt werden hier zusammengeführt, zugleich wird seiner skeptischen Einschränkung Rechnung getragen, dass diese Zusammenführung nicht zu einer konsistenten neuen Sicht führt, sondern dass sowohl die subjektive wie auch die objektive Sichtweise irreduzibel sind. Bliebe es bei diesem problematisierenden Gebrauch des Begriffs Leib, wäre nicht viel gewonnen. Tatsächlich aber ist der so verstandene Leib für Merleau-Ponty ein Ausgangspunkt für eine vielseitige und hoch differenzierte phänomenologische Erschließung der Wirklichkeit. Frühe Versuche sind, das kritisiert er später selbst, noch durch eine schlechte Ambiguität im Wechsel zwischen Subjekt und Objekt geprägt. 5 Die späteren Schriften versuchen dagegen an einem nicht anschaulichen Punkt »zwischen« der fundamentalen Aufteilung anzusetzen. Das Problem ist, dass dieser Punkt eher einem hoch verdichteten Spannungsfeld gleicht als einem mathematisch zu bestimmenden, fixen Punkt. Schon gar nicht ist es ein »fundamentum inconcussum«, also ein unerschütterlicher Ausgangspunkt, den Descartes auf seinem Weg des methodischen Zweifels in der res cogitans zu finden gemeint hat. Erst ein solcher unerschütterlicher Ausgangpunkt beim Bewusstsein schuf für Descartes die metaphysische Grundlage für die methodische Forderung, »clare et distincte« erkennen zu wollen. Gegen die Descartes’sche Vorstellung einer Fundierung der Philosophie setzt Merleau-Ponty polemisch die Formel, dass es darum gehe, nur »implizite und konfuse« 6 zu erkennen. 5 6

Vgl. Merleau-Ponty 1973: 11. Merleau-Ponty 1945: 234.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Merleau-Ponty findet für den Leib die Formel »Zur-Welt-Sein« (être au monde) 7. Das »Zur-Welt-Sein« als Grundbezeichnung der leiblichen Existenz zeugt von einer fundamentalen und immer schon vorgängigen Verbundenheit oder Verschränkung. Wir können uns in unserer leiblichen Existenz nur dadurch angemessen wahrnehmen, dass wir uns immer schon mit der uns umgebenden Wirklichkeit, aber auch mit den uns umgebenden Menschen als grundlegend verbunden erkennen. Diese Ausdrücke »Verbundenheit« oder »Verschränkung« geben das Gemeinte nur unvollkommen wieder. Denn man kann nicht sagen, dass zunächst Leib und Welt als zwei Entitäten existieren und dass sie sich dann in einem zweiten Schritt aufeinander beziehen, also verbunden werden. Der Leib ist eher durch den Vorgang der Verbindung gekennzeichnet, er steht für den Vollzug der Verbindung in actu, außerhalb und unabhängig von dieser ist kein Leib. Der Vorgang der Verschränkung in diesem fundamentalen Sinne ist völlig unanschaulich. Wann auch immer wir über diese Verhältnisse reflektieren, sie sind immer schon präsent, die Tatsache, dass wir über sie reflektieren können, setzt die vorgängige Verschränkung voraus. Es gibt kein von der umgebenden Wirklichkeit zu isolierendes Ich, das erst einmal in einem imaginären Anfangsstadium für sich bestehend existierte. Wir können ein solches imaginieren, um uns in einer bestimmten Weise innerhalb der Wirklichkeit leichter orientieren zu können, doch eine genauere Betrachtung zeigt schnell, dass diese Vorstellung nichts als eine spekulative Projektion ist. In dieser philosophischen Argumentationsfigur ist eine fundamentale Kritik an jenem Individualismus begründet, den wir im vorangegangenen Kapitel kennengelernt haben. Dagegen geht die Relation in gewisser Weise der Existenz der Relate voran. 8 Erst aus der Verbundenheit erwachsen jene Anteile, die sich später dann als ein Gegenüber definieren können. Die Verbundenheit, um die es in dem Leib-Welt-Verhältnis geht, ist deshalb auch nicht mit jener »Unmittelbarkeit« zu verwechseln, mit der eine breite kulturelle TraMerleau-Ponty 1945: 103 et passim. In ganz ähnlicher Weise hat George Herbert Mead seine interaktionistische Theorie aufgebaut. Ihm ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das soziale Handeln den Akteuren vorangeht, die sich dann später die Aktionen als selbstbestimmtes Verhalten zuschreiben: »Das heißt also, dass wir das Verhalten des Individuums im Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe erklären, anstatt das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklären zu wollen.« Mead 1934: 45.

7 8

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Der philosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

dition in der Neuzeit gegen eine kalte objektivierende Weltsicht polemisiert. Denn nach dieser Auffassung sind objektivierende Weltsicht und unmittelbares, »ganzheitliches« Erkennen Antipoden. Es ist aber die interessante Folgerung des Merleau-Ponty’schen Ansatzes, dass die Verbundenheit des Leibes mit der Welt nicht die objektivierende Weltsicht ausschließt, sondern gerade erst möglich macht. Leiblich zu existieren, heißt also, durch eine fundamentale Verbundenheit bestimmt zu sein. Wie aber ist es möglich, diese Verschränkung, die immer schon da ist, zu beschreiben? Offenkundig ist das nicht so möglich, dass man sie zu isolieren versucht und sie dann zum Gegenstand der Erkenntnis erhebt. Eine solche Strategie würde genau das zerstören, was sie zu beschreiben versucht. Der späte Merleau-Ponty verortet den Ausgangspunkt seiner Überlegungen in dem schwer fassbaren Geschehen einer immer schon vorgängigen Verbundenheit und findet neue und gewagte Metaphern, die diese Situation ausleuchten sollen: So ist der Leib das »wilde Sein« 9 oder das »rohe Sein« 10, eben weil er sich nicht kategorial einfangen, sondern nur umschreiben lässt. Das, was evident ist, kann nur in einem dialektischen Wechselspiel von Gegensätzen beschrieben werden. In der Terminologie von Bernhard Waldenfels formuliert: So wie das Eigene nicht ohne das Fremde ist, so ist auch umgekehrt das Fremde nicht ohne das Eigene. 11 Das heißt, die Verbundenheit findet ihren Ausdruck in Phänomenen, die sich nur in dialektischen und begrifflich paradoxen Formeln oder nur in gewagten Metaphern beschreiben lassen. Hier liegt der Grund für die Aussage von Lévi-Strauss, der bezogen auf Merleau-Ponty feststellt: »Er lädt uns ein, uns kein festes Bild von uns selbst, der Welt und der zwischen uns und ihr bestehenden Bezüge zu machen.« 12 Die Merleau-Ponty’sche Definition des Leibes bedeutet, dass dieser nicht bei sich selbst bleibt oder sich reflexiv auf sich selbst besinnt, sondern nur so existiert, dass er auf die Welt ausgerichtet ist und dabei »sich selbst« überschreitet. Die Verbundenheit und VerMerleau-Ponty 1964: 161. Merleau-Ponty 1964: 133. 11 So heißt es einerseits: »Selbstentzug bedeutet, dass Momente des Fremden im Selbst, Momente der Fremdartigkeit innerhalb der jeweiligen Ordnung virulent sind.« Waldenfels 2006: 29. Es gibt Momente des Fremdbezugs im Selbstbezug. Und ebenso gibt es die Möglichkeit einer Responsivität, die nichts anderes ist als ein »Rückgang auf einen Selbstbezug im Fremdbezug.« Waldenfels 2006: 33. 12 Lévi-Strauss 1986: 35. 9

10

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

schränkung von »Leib« und »Welt« im Sinne der Terminologie Merleau-Pontys führen zu der Warnung, dass auch die Bestimmung der »Welt« nur so erfolgen darf, dass man den eigenen Leib nicht aus dem Blick verliert. Der Leib und seine Verbundenheit mit der Welt werden auch durch die Metapher des »Fleisches« beschrieben. Das »Fleisch« ist etwas Offenes und doch in sich Konsistentes, es gleicht eher der antiken Vorstellung der Elemente als einem absonderbaren Gegenstand. Erst die Vernachlässigung und Ignorierung dieser endlichen Ausgangslage durch den eigenen begrenzten Leib macht die Annahme des Naturalismus möglich, die Wirklichkeit sei so zu beschreiben, dass man ausschließlich objektivierende Methoden zulasse. Hierdurch fällt das konstitutive Eingebundensein des Beobachters in das zu Beobachtende weg. Deshalb ist es wichtig, in einer phänomenologischen Analyse der Wirklichkeit zunächst bei der Analyse des eigenen Leibes, also mitten im »Geschehen« zu beginnen. Die vorgängige Verbundenheit ist konstitutiv für die Bestimmung der Wirklichkeit wie auch für die Bestimmung der eigenen Identität und der Rede von Gott. Uns begegnet auch im letzteren Fall nicht etwas, was uns interessiert, es kommt nicht zu einem bestimmten Moment etwas Neues hinzu. Vielmehr beschreiben die Menschen, die von Gott reden, die Situation so, dass der Bezug auf Gott schon da war, bevor sie sich darüber klar zu werden begannen. Man kann also weder in der Frage nach der Wirklichkeit noch in der Frage nach dem eigenen Selbst noch in der Frage nach Gott einen Standpunkt einnehmen, der gegenüber der Beantwortung der gestellten Frage zunächst einmal neutral wäre. Wenn wir ernstlich von Gott reden, so doch nur so, dass wir uns immer schon von Gott angesprochen fühlen, dass wir schon durch andere Menschen in die Rede von Gott einbezogen sind. Die radikal verstandene Verbundenheit führt dazu, dass die Wirklichkeit sich eben nicht in einer umfassenden Ordnung darstellen lässt. Die weiteren Überlegungen werden zeigen, dass sie sich vielmehr in verschiedene, inkommensurable Erscheinungsweisen aufgliedert. So erweist sich die Wirklichkeit in der phänomenologischen Leibanalyse als eine offene Wirklichkeit. Sie ist, wenn wir unser Verbundensein berücksichtigen, gerade nicht ein geordnetes Ganzes, sondern eine nicht überschaubare und nicht reduzierbare Mannigfaltigkeit. Die mit uns verbundene Welt ist kein geheimnisloser Gegenstandsraum, in dem wir uns selbst lozieren könnten, wir, die wir auf die Welt hin ausgerichtet sind, können die geheimnisvol128 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Phänomene des Leibes

len Dimensionen nicht umgehen. In diesem Sinne gilt auch: Gott ist nicht deshalb geheimnisvoll, weil Gott so fern wäre. Vielmehr ist das Verhältnis deshalb undurchschaubar, gerade weil er so nah ist. Ein ferner Gott wäre äußerst uninteressant und nur Gegenstand von Spekulationen. Wir sind mit Gott immer schon in einer Beziehung, wenn wir wirklich von Gott zu reden beginnen. Der Leib wird in der Rede von Gott gerade so verstanden, dass er als Geschöpf von Gott her existiert und auf Gott hin ausgerichtet ist. In der Rede von Gott sind deshalb die drei genannten Fragekreise in besonderer Weise miteinander verwoben. Die Erkenntnis der Wirklichkeit und die Selbsterkenntnis werden innerhalb der Rede von Gott thematisiert: Die Wirklichkeit wird als Schöpfung Gottes verstanden und das eigene Selbst als Geschöpf Gottes. 13

2.

Die Phänomene des Leibes

Die phänomenologische Analyse beginnt mit der Bestimmung der Phänomene des eigenen Leibes. Wenn man die folgenden Gedanken nachvollziehen möchte, ist das nicht in einer Haltung möglich, in der man sich irgendeinen imaginären »Leib« gegenständlich vor Augen führt. Vielmehr ist eine Aufmerksamkeit notwendig, die sich auf den eigenen Leib einlässt, den man je und je erlebt, nur so zeigen sich die Phänomene in ihrer Unterschiedlichkeit und Mannigfaltigkeit. 14 Der eigene Leib erscheint in einer Vielfalt von Phänomenen. Solche Phänomene lassen sich leicht finden, es sind neben den Gedanken, die sich etwa beim Lesen dieses Textes bilden, Gefühle, die auftauchen und sich einen Ausdruck suchen, oder es sind die objektivierbaren Gliedmaßen des Körpers. Mein Fuß ruht auf einem Schemel, ich fühle eine leichte Behaglichkeit, ich denke an diesen Text. Aus diesen unterschiedlichen Phänomenen lässt sich kein geschlossenes Konzept des Leibes erstellen, das in der Lage wäre, die Phänomene aufeinander oder auf eine von ihnen unabhängige Größe zu reduzieren. Auch lassen sich die unterschiedlichen Phänomene nicht in einer Ordnung abbilden. Diese erste Bestimmung des Leibes als Summe unterschiedlicher Phänomene ist notwendigerweise sehr spröde, der Leib erweist Vgl. Dalferth 2003: 449. Die Aufforderung, stets von dem eigenen Leib aus zu argumentieren, ist eine ständige Mahnung im Sinne der klassischen Protreptik.

13 14

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

sich als nichts weiter als die Summe jener Phänomene, die den Index »mein« tragen. Der Leib hat durch diese Zurückhaltung gegenüber metaphysischen Annahmen die Eigenschaft, dass er sich weder der Logik einer beobachtenden Vernunft noch den Gesetzen einer beobachteten Welt fügt. Er partizipiert tatsächlich an beiden Ordnungen, er beobachtet und er gehört zur beobachteten Welt. Beides gilt uneingeschränkt, das Eine lässt sich deshalb nicht auf das Andere reduzieren. Der Leib ist nicht eigentlich ein Körper, der sekundär auch noch die Fähigkeit zu denken besitzt. Damit wären in der Diskussion um das Verhältnis von Körper und Bewusstsein Festlegungen getroffen, die andere Beschreibungsformen ausschließen. 15 Die Feststellung unterschiedlicher Phänomene ist nicht mit einer Annahme verbunden, ob und wie diese voneinander abgeleitet werden können. Die Aufzählung der Phänomene präjudiziert nichts, die Offenheit bei der Bestimmung des Leibes ist für die folgenden Betrachtungen von entscheidender Bedeutung. Es macht weiterhin keinen Sinn zu fragen, was sich »durch« die Phänomene zeigt oder wem sich die Phänomene zeigen. Beide Fragen sind in der traditionellen Zweiteilung zwischen Subjekt und Objekt üblich, die Fragen zielen auf die Bestimmung der jeweils einen oder anderen Seite. Die Phänomene selbst haben in dieser Sicht keine originäre Bedeutung, sie sind ein Schein, der sich entweder aus den empirischen Bedingungen der Dinge ableiten oder auf die transzendentalen Bestimmungen unseres Erkenntnisvermögens beziehen lässt. Das ist in diesem phänomenologischen Ansatz anders. Die Definition »Wirklich ist, was sich zeigt.« enthält sich einer solchen Zuordnung zwischen Subjekt und Objekt. Nur so ist es möglich, der Forderung Nagels nachzukommen, eine Struktur zu entwickeln, die sowohl die subjektive wie auch die objektive »Perspektive« möglich macht. Ein phänomenologischer Ansatz beginnt nicht bei irgendeiner als fundamental ausgewiesenen Größe (dem Geist, der Vernunft, der Materie), sondern bei dem, was sich zeigt: Das, was sich zeigt, ist ein Phänomen. Phänomene sind nicht Statthalter für die eigentliche Welt der Dinge, sie sind auch nicht subjektive und damit verzerrte Eindrücke einer eigentlich objektiv gegebenen Welt. Dem phänomenologischen Ansatz zu folgen, heißt, genau diese Rückschlüsse nicht zu ziehen, sondern zunächst bei dem zu bleiben, was sich zeigt, möglichst unabhängig von den Vorstellungen über den, dem es sich zeigt, und 15

Vgl. etwa Blackmore 2007.

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Die Phänomene des Leibes

ebenso möglichst unabhängig von den Vorstellungen über das, was sich »durch die Erscheinung« zeigt. Die Konzepte, die auf ein Verursachendes rekurrieren wollen, gehen schon zu Beginn einer Analyse der Wirklichkeit weitreichende Festlegungen ein, die in hohem Maße spekulativ sind. Die phänomenologische Methode zeichnet sich dadurch aus, dass sie das von Husserl so genannte »Prinzip aller Prinzipien« berücksichtigt, »dass jede originär gegebene Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt (…).« 16 Wenn wir die Untersuchung beim eigenen Leib beginnen, berücksichtigen wir die Erkenntnis von Thomas Nagel, dass es nicht möglich ist, zunächst unter Absehung eines »Ich« eine Untersuchung von Gegenständen der Welt zu beginnen und dann nachträglich das »Ich« in das entstandene Bild von der Welt zu reintegrieren. Deshalb ist auch der Gebrauch des Adjektivs »mein« bei der Analyse des Leibes unumgänglich. Das Adjektiv »mein« verweist nicht auf eine definierbare Einheit des Leibes, sondern lediglich darauf, dass sich der eigene Leib in den auf diese Weise qualifizierten Phänomenen zeigt. Nicht erschließt sich das »mein« aus einer Definition des Leibes, sondern umgekehrt, der Leib wird nur verständlich, wenn man auf die Bedeutung des »mein« achtet. 17 Bei diesen Phänomenen ist das »Ich« präsent, allerdings nicht als unabhängige und definierte Größe, sondern implizit, indem das »Ich« bestimmte Phänomene indiziert. 18 Diese Phänomene sind nicht in der Hinsicht ursprünglich, dass sich in ihnen unvermittelt Wirklichkeit offenbart. Denn die Phänomene, in denen sich unser Leib zeigt, sind ohne Zweifel ihrerseits immer auch schon vermittelt, sie entspringen einer biographischen und kulturellen Entwicklung. Jeder Gedanke rekurriert auf ein Sprachvermögen, Gefühle sind kulturell beeinflusst, auch das Konzept der Husserl 1913: 43 f. (Hervorhebung im Original) So führen Alloa und Depraz aus: »Die Leiberfahrung zeitigt eine Erfahrung von Meinigkeit, die nicht etwa einem Ich aufgepfropft wäre, vielmehr erschließt sich das Ich, wie Husserl Ludwig Landgrebe gegenüber erklärt allererst aus der Meinigkeit: ›Die Entdeckung des mein geht der Entdeckung des Ich voraus.‹« Alloa, Depraz 2012: 16. 18 Ich kann als Index verstanden werden, vgl. Dalferth 2003: 381. Dieser Index ist nicht zu verwechseln mit der Bestimmung eines Individuums, also eines Menschen, der sich von anderen unterscheidet. 16 17

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

»Gliedmaßen« wird nicht in allen Kulturen gleich verstanden. Die Beschreibung jener Phänomene, die den Index »mein« erhalten, wird in dem hier vorliegenden Fall von einem Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorgenommen, der erwachsen und in der deutschen Sprache sozialisiert ist. Alle Phänomene sind eingebunden in das Deutungsgeflecht menschlicher Kulturen, es gibt keinen abstrakten Ausgangspunkt. Die Tatsache, dass sie kulturell bedingt sind, heißt aber nicht, dass sie allein als Ausprägung kultureller Prozesse verstanden werden können. Wenn ich mich etwa auf eine Waage stelle, um mein Gewicht festzustellen, so erscheint mein Körper als ein physikalisches Gewicht, das ich mit dem Messinstrument Waage bestimme. Der Körper erscheint als Gewicht. Es macht wenig Sinn zu sagen, dass die Kultur, in der ich lebe, den Leib als Körper erst konstituiert. Die Kultur ermöglicht durch wissenschaftliche und technische Methoden den Zugang zu objektivierten Phänomenen. Die objektivierten Phänomene haben eine Eigenständigkeit, sie zeigen sich neben anderen, nicht objektivierten Phänomenen. Der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Theorien lässt sich nicht auf die Kultur hin relativieren, in der sie entstanden sind, wissenschaftliche Aussagen über die Welt lassen sich ihrerseits nur durch wissenschaftliche Aussagen in Frage stellen. Die Kultur ist kein Kandidat für eine Letztinstanz, von der aus die Wirklichkeit betrachtet werden kann. Das, was für die Kultur gilt, gilt auch für die biographische Entwicklung: Das »mein«, das man mühelos einem Phänomen zuordnet, ist auch in dieser Perspektive nicht Folge eines unmittelbaren Zugangs zu einer Entität, sondern das Resultat und die Anerkennung einer lebenslangen Identitätsentwicklung. Eine Analyse der Identität kann ebenso wenig wie eine Analyse der Wirklichkeit an einem ausgezeichneten Punkt, an einem absoluten Anfangspunkt beginnen. 19 Eine vertiefende Untersuchung wird zeigen, dass die scheinbar einfache, prima facie vorgenommene Qualifizierung der Phänomene des Leibes durch das »mein« komplexen und untereinander hochdifferenten Verhältnissen entspringt. Diese Einschränkung gilt nicht nur für die phänomenologische, sondern auch für die hermeneutische Methode. Mattern bezieht sich auf das Ricœur’sche Verständnis der konkreten Reflexion, bei der die Reflexion als phänomenologisch-hermeneutischer Umweg zur Bestimmung des Selbst verstanden wird: »Es ist evident, dass das Selbst, das verstanden werden soll, in Ricœurs Konzeption einer konkreten Reflexion nicht der Ausgangspunkt der Reflexion, sondern allein deren Endpunkt sein kann.« Mattern 1996: 191.

19

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Ist aber dieses »mein« nicht eine fundamentale Schranke gegenüber den Ansprüchen, die eine Rede von Gott stellt? Ist es nicht gerade ihr Anliegen, von sich abzusehen und auf Gott zu weisen? Wie kann dann ein Ansatz, der bei den Phänomenen des eigenen Leibes ansetzt, Grundlage für eine Analyse der Rede von Gott sein? Neigt die Rede, die beim eigenen Leib ansetzt, nicht zu jenem Rühmen, das doch durch das Wort vom Kreuz unterbunden sein sollte? Tatsächlich sind die Verhältnisse gerade umgekehrt: Man kann nur so von Gott reden, indem man nie vergisst, wer die- oder derjenige ist, die oder der redet, und unter welchen Bedingungen diese Rede stattfindet. Nur so ist es möglich, kontinuierlich die Diskrepanz zu berücksichtigen, die zwangsläufig entsteht, wenn man von Gott redet. Das Rühmen, gegen das das Wort vom Kreuz steht, ist ja gerade durch eine Selbstvergessenheit der Ausgangslage des endlichen Menschen geprägt. Die Texte aus dem Korintherbrief zeigen, dass die Theologie des Paulus aus der persönlichen Beteiligung erwächst und das Wort vom Kreuz nur dann zur Geltung kommt, wenn es auch das je eigene Streben nach umfassender Erkenntnis durchkreuzt. Doch dazu muss eine Diskrepanz zwischen der eigenen Position und der Rede von Gott deutlich werden. Das Evangelium kommt nicht aus dem Nirgendwo und bricht in die menschliche Sprache ein, sondern ist getragen von einer geschichtlichen Rede, die immer auf ein konkretes und das heißt hier auch leibliches, kulturell-biographisch vermitteltes Geschehen weist. Nur so kann es Wort vom Kreuz werden: dadurch, dass es sich auf die konkreten leiblichen Vermittlungen bezieht und zugleich diese in Frage stellt.

3.

Die Erscheinungsweisen des Leibes

In dem ersten Schritt ging es darum, die unterschiedlichen Phänomene, in denen der Leib sich zeigt, zunächst einmal in ihrer Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit zu erkennen. Dabei lassen sich partikulare Ordnungen ausmachen, die Phänomene miteinander verbinden, sie stehen nicht wie Farbpartikel in einem Kaleidoskop unverbunden nebeneinander. Eine Beschränkung auf einzelne Phänomene allein, also auf das, was sich je und je zeigt, würde den damit verbundenen Ordnungen nicht gerecht, viele Phänomene zeigen sich nur in bestimmten Zusammenhängen. Gedanken tauchen nicht isoliert auf, sondern beziehen sich auf andere Gedanken, Gliedmaßen des Körpers 133 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

stehen zueinander und aber auch zu den Dingen im unmittelbaren Umfeld des Körpers in einer vielfältigen Beziehung. Die Ordnungen der Phänomene sind allerdings partikular, das heißt, sie beziehen sich jeweils auf eine begrenzte Erscheinungsweise und gehen nicht darüber hinaus. Es gibt keine Ordnung, die alle Phänomene der Wirklichkeit erfassen könnte, dies wird schon durch die Unterschiedlichkeit der Phänomene verhindert. Der Hinweis auf Ordnungen, in denen Phänomene innerhalb von »Erscheinungsweisen« zueinander stehen, führt nach der ersten einfachen Unterscheidung von Phänomenen zu einer leicht erweiterten Definition von Wirklichkeit. Es reicht nun nicht mehr zu sagen: »Wirklich ist, was sich zeigt.« Letztendlich sind es die Phänomene und ihre Verhältnisse zueinander, die die Wirklichkeit ausmachen, die in phänomenologischen Analysen genauer beschrieben werden müssen. Darauf weist Merleau-Ponty hin: »Es muss verständlich werden, das die ›Ansichten‹ (…) nicht Projektionen eines unzugänglichen Ansich auf bildschirmartige Körperlichkeiten sind, dass sie mit ihren lateralen Implikationen untereinander die Realität ausmachen, präzise: dass die Realität ihr gemeinsamer Gliederbau, ihr Kern und nicht etwas hinter ihnen ist (…). Das Reale ist zwischen ihnen, diesseits von ihnen.« 20 Viele Phänomene zeigen sich nur so, dass sie zu anderen Phänomenen in einer beschreibbaren Ordnung stehen. Die empirischen Untersuchungen der Physik sind genau darauf ausgerichtet, durch Reproduzierbarkeit und Variation diese Ordnungen auszuweisen. Für die Arbeit an mathematischen Theorien gilt unter anderen Bedingungen Ähnliches. Die Ordnungen, die für die Phänomene nachgewiesen werden können, gehen allerdings nicht über die unterschiedlichen Erscheinungsweisen hinaus: Ein physikalischer Versuch ist nicht in der Lage, mathematische Vermutungen zu beweisen oder zu widerlegen. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen den Erscheinungsweisen. Das Verhältnis von Gedanken und Neuronen ist trotz aller neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und einer langen Debatte in der sogenannten Philosophie des Geistes alles andere als geklärt. Die unterschiedlichen Phänomene, in denen sich der eigene Leib prima facie zeigt, lassen sich grob in drei Erscheinungsweisen zusammenfassen. Dies ist eine erste, heuristische Orientierung ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit, der Dreiteilung werden in unserer Untersuchung noch weitere Einteilungen folgen. So können erstens 20

Merleau-Ponty 1964: 287.

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Die Erscheinungsweisen des Leibes

Aussagen wie »Das Wetter ist schön!«, mathematische Formeln wie auch bildhafte Vorstellungen etwa von einem »Einhorn« einer einzelnen Erscheinungsweise, der »Erscheinungsweise Gedanke«, zugeordnet werden. Sie alle zeichnet aus, dass man für sie keine räumliche Bestimmung vornehmen kann, dass sie keine fest zugeordnete Ausdehnung haben und dass wir keinen anderen Zugang zu ihnen haben als in der Weise, dass sie als eigene Gedanken und Vorstellungen erscheinen. Der »Erscheinungsweise Körper« kann man zweitens all jene Phänomene zuordnen, in denen sich Dinge zeigen, wie etwa dem Gewicht des Körpers, seiner Größe, einzelner Gliedmaßen oder Organe. Diese Phänomene sind anders als die Phänomene der Erscheinungsweise Gedanke für unterschiedliche Menschen in gleicher Weise zugänglich. Drittens lassen sich neben den beiden zuerst genannten und leicht zu identifizierenden Phänomengruppen schwer kategorisierbare Phänomene einer behelfsweise so genannten »Erscheinungsweise X« zuordnen. Hierher gehören dann Gefühle wie Wut oder Zuneigung, aber auch Empfindungen wie Schwindel und Wärme. Doch ist diese Erscheinungsweise außerordentlich vielfältig, darüber hinaus – das kann hier nur angedeutet werden – gehören ihr auch fundamentale moralische Werte, Musikerleben und ästhetische Erfahrungen an. Offenkundig ist, dass für diese Phänomene keine klaren und allgemein bestimmbaren Ordnungen existieren. Die Heterogenität dieser Phänomene und die Schwierigkeit ihrer exakten Beschreibung begründet die Bezeichnung dieser Erscheinungsweise mit dem Platzhalterzeichen X. 21 Die Erscheinungsweisen vereinen einander ähnlich geartete Phänomene. Die Erscheinungsweisen selbst haben weitere Eigenschaften, so weisen sie unterschiedliche Grade der Ordnung auf. Die Erscheinungsweisen »Gedanke« und »Ding« sind durch einen hohen Ordnungsgrad ausgewiesen, die Erscheinungsweise X dagegen durch einen geringeren. Für den hier vertretenen phänomenologischen Ansatz ist es von großer Wichtigkeit, die Unterschiedenheit der PhänoSo zeigt sich die Dreiheit von Erscheinungsweise Gedanke, Erscheinungsweise Ding und Erscheinungsweise X. Eine solche dreiteilige Aufgliederung findet sich auch bei Marion. Dieser kennt die Unterscheidung von anschauungsarmen Phänomenen (zu denen Mathematik und Logik gehören) (vgl. Marion 1997: 222), gewöhnliche Phänomene (zu denen Technik und Phänomene der Physik gehören) (vgl. Marion 1997: 223) und gesättigte Phänomene (zu denen er die Beschreibungen des Fleisches zählt, die Sorge bei Heidegger, die Angst bei Kierkegaard usw.) (vgl. Marion 1997: 231).

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

mene und auch der Erscheinungsweisen zu betonen, um so fundamentale Unterscheidungsleistungen zu ermöglichen. Die beschriebenen Erscheinungsweisen sind nicht aufeinander reduzierbar. Die Erscheinungsweise X ist von besonderer Bedeutung, da sie diejenigen Phänomene der Wirklichkeit erfasst, die in unserer Kultur, die wie dargestellt stark durch eine Objektorientierung geprägt ist, eher als randständig wahrgenommen werden. Eine Folge davon ist, dass man im Falle einer Unsicherheit darüber, ob sich Wirklichkeit zeigt oder eine Täuschung vorliegt, stets geneigt ist, den objektivierbaren Beschreibungen von Wirklichkeit den Vorzug zu geben. 22 Das »Subjektive« hat dann nicht die Dignität einer eigenständigen Weise, wie Wirklichkeit sich zeigt, sondern nur die Rolle einer unzuverlässigen, weil privativ verkürzten Auffassung von der Wirklichkeit. Wenn wir jedoch dem bisher eingeschlagenen Weg folgen, so gibt es keinen Grund, eine Gruppe von Phänomenen für wirklicher zu halten als eine andere. Phänomene wie Gefühle und ästhetische Erfahrungen haben die gleiche Dignität wie jene Phänomene, die sich in einem regelgeleiteten und methodisch kontrollierten physikalischen Versuch zeigen. Natürlich gibt es Unterschiede, diese sind aber nicht durch die Dignität der Phänomene – manche zeigen Wirklichkeit, manche zeigen nur Eindrücke – sondern schlicht durch den Grad der Ordnungen bestimmt, der sich bei den Phänomenen der jeweiligen Erscheinungsweise feststellen lässt. Auf der Basis der Unterscheidung der drei Erscheinungsweisen ist nun eine vorläufige, erweiterte Definition des Leibes möglich. Der Leib ist bestimmt durch die Existenz mindestens dreier Erscheinungsweisen. Er ist so etwas wie die unanschauliche Summe dieser Erscheinungsweisen. Die so ausgezeichneten Erscheinungsweisen, »Erscheinungsweise Gedanke«, »Erscheinungsweise X« und »Erscheinungsweise Körper«, dürfen nun nicht mit unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dieselbe Sache verwechselt werden. So ist es auch misslich, pauschal einer 3.-Person-Perspektive eine 1.-Person-Perspektive gegenüberzustellen, wie dies sehr oft in der Philosophie des Geistes, in der Debatte um das Verhältnis von Gehirn und Geist, der Fall ist. Der Begriff der »Perspektive« hat den großen Auf der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Täuschung aus vielerlei Gründen basiert die Erkenntnistheorie Descartes, die Identifizierung möglicher Quellen der Täuschungen steht am Anfang seiner Untersuchung in der ersten Meditation, vgl. Descartes 1641: 31 ff.

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Der Chiasmus als Schema

Nachteil, dass er implizit eine alle anderen Perspektiven umfassende Bezugsgröße kennt, nämlich den metrischen Raum. Nur innerhalb eines definierten Raumes ist es sinnvoll, von unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dasselbe Ding zu sprechen. Eine solche umfassende Ordnung ist für den Leib gerade nicht existent.

4.

Der Chiasmus als Schema

Blieben wir bei dieser Beschreibung des Leibes durch Phänomene und Erscheinungsweisen, so ließe sich über den Leib nicht viel mehr sagen, als dass er sich in unterschiedlichen Erscheinungsweisen so oder auch anders zeigen kann. Zwar wären nach Einführung der Erscheinungsweisen die Partikel des Kaleidoskops »Leib« ein wenig mehr geordnet, aber dennoch wäre mit dieser minimalistischen Beschreibung des Leibes noch nicht viel erreicht. In einem weiteren Schritt soll deshalb ein Schema vorgeschlagen werden, das einen Mittelweg zwischen zwei Extremen sucht. Auf der einen Seite sollen die differenten Erscheinungsweisen des Leibes in einen engeren Zusammenhang gebracht werden, der hilft, die Existenz des Leibes besser beschreiben und so auch die Phänomene, in denen er sich zeigt, genauer qualifizieren zu können. Auf der anderen Seite muss vermieden werden, dass nun eine umfassende Ordnung etabliert wird, die alle Phänomene des Leibes erfasst und die zwangsläufig von weitreichenden metaphysischen oder spekulativen Aussagen über den Leib und die ihn umgebende Wirklichkeit begleitet wird. Das weitere methodische Vorgehen soll sich also vorsichtig übergeordneten Zusammenhängen annähern, ohne dadurch unnötige oder unhaltbare Festlegungen zu generieren. Das Schema soll die Unanschaulichkeit des Leibes und die Unfähigkeit, ihn begrifflich zu definieren oder anschaulich zu fixieren, erhalten und doch eine bestimmte Relation für die Erscheinungsweisen vorschlagen, die Zusammenhänge zwischen den Erscheinungsweisen erkennbar machen. Für die Herleitung des Schemas wollen wir auf eine der zentralen Metaphern zurückgreifen, die der späte Merleau-Ponty entwickelt hat, nämlich auf die Metapher des Chiasmus. Der Chiasmus wird hier durch eine geometrische Figur repräsentiert, in der zwei Größen miteinander verschränkt sind. Sie ist abgeleitet von dem griechischen Buchstaben Χ, der aus zwei sich überkreuzenden Linien besteht. Die Grundidee ist, den Leib, den wir bisher als unanschauliche 137 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Menge unterschiedlicher Phänomene gesehen haben, so auf die Verschränkung zweier metaphysischer Größen zurückzuführen, dass keine umfassende neue Ordnung entsteht. Das heißt, dass nun als Hilfsgröße eine hypothetische metaphysische Annahme eingeführt wird, die aber nicht den Status einer starken Annahme hat wie die des Naturalismus, alle Phänomene könnten letztlich auf die von der naturwissenschaftlichen Forschung eruierten zurückgeführt werden. Merleau-Ponty nutzt die Metapher des Chiasmus, um auf die wechselseitige Verflochtenheit von »Subjekt« und »Objekt«, von Berührendem und Berührtem, zu verweisen. 23 Merleau-Ponty wendet sie auf zwei unterschiedliche Verschränkungsverhältnisse an: Einmal beschreibt der Chiasmus die Verschränkung von Subjekt und Objekt, dann ist er eine Interpretation des »être au monde«, des »Zur-WeltSeins« des Leibes, das andere Mal beschreibt er die Verschränkung von Ich und Anderer, dann ist er eine Interpretation des Begriffs der »Zwischenleiblichkeit«. 24 Beide Male geht es um eine fundamentale Verschränkung, ohne die man sich selbst, den anderen Menschen oder die Welt nicht verstehen kann. Die Koexistenz dieser Größen entsteht nicht, indem man die eine der anderen additiv hinzufügt. Es gibt also nicht zunächst »die Welt«, »das Ich« oder »den Anderen«, alle drei sind späte, kulturell voraussetzungsreiche Abstraktionen aus einer wechselseitigen Verschränkung. Die Verbundenheit hat Priorität gegenüber der getrennten Existenz, letzteres entstammt ersterem. Beide Verwendungsformen, der Chiasmus als Schema für das Verhältnis des Leibes zur Welt wie auch der Chiasmus als Schema für das Verhältnis des Leibes zum Anderen, hängen eng miteinander zusammen, ohne wechselseitig ineinander aufzugehen. Man kann sie eher als gleichursprüngliche Dimensionen eines einheitlichen Feldes verstehen. 25 Auf das Schema des Chiasmus als »Zwischenleiblich»Dergleichen das Berühren-Berührtwerden. Diese Struktur existiert in einem einzigen Organ – das Fleisch meiner Finger = jeder Finger ist phänomenaler und objektiver Finger, Außen und Innen des Fingers im Verhältnis der Reziprozität, des Chiasmus, Aktivität und Passivität miteinander verkoppelt.« Merleau-Ponty 1964: 328. 24 »Wie der natürliche Mensch versetzen wir uns in uns und in die Dinge, in uns und in die Anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden.« Merleau-Ponty 1964: 209 (Merleau-Ponty nutzt ohne Bedeutungsunterschied sowohl die weibliche wie auch die männliche Form des Begriffes: Chiasmus, Chiasma). 25 Bezogen auf die Schrift »Phänomenologie der Wahrnehmung« von Merleau-Ponty hält Waldenfels fest: »Der erste Teil gruppiert sich um das Thema des Leibes, der zweite Teil befasst sich mit der Wahrnehmungswelt. Das Thema der Anderen ist auf mannigfache Weise mit den beiden übrigen Themen verflochten. Es handelt sich um 23

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Der Chiasmus als Schema

keit« soll an dieser Stelle nur hingewiesen werden, wir werden diesen Faden erst später wieder aufgreifen. Zunächst geht es um den Chiasmus, der das »Zur-Welt-Sein«, das »être au monde« des Leibes, repräsentiert. Dieses Schema hat den Charakter einer hypothetischen Größe, die analog zu dem regulativen Gebrauch der transzendentalen Ideen nach Kant eine vorläufige ordnende Funktion übernimmt. 26 Was sich letztlich »hinter« dem Chiasmus verbirgt, ist für den hier vertretenen phänomenologischen Ansatz eine müßige Frage, die zu keinem Ziel führt. Das Schema bewährt sich dann, wenn es hilft, die Phänomene besser zueinander in Beziehung zu setzen und qualifizieren zu können. Es wird sich also erst am Ende der Untersuchung herausstellen, ob es hilfreich ist, das Schema eingeführt zu haben. Der Chiasmus kann leichter anschaulich hergeleitet werden, wenn man zunächst von einer ständigen und wichtigen philosophischen Referenz der Arbeiten von Merleau-Ponty ausgeht, nämlich von René Descartes. Man kann den Unterschied zwischen der res cogitans und der res extensa, so wie sie Descartes etwa in den Meditationen entwickelt, in der folgenden Weise in einer Skizze darstellen (vgl. S. 140). 27 Eine solche graphische Umsetzung kann manche Aspekte eines philosophischen Entwurfes deutlich machen, aber man kann weder alle Details der Skizze in eine philosophische Bedeutung übertragen, noch alle philosophischen Gehalte in einer Skizze graphisch darstellen. Doch innerhalb der zu beachtenden Grenzen ist es möglich, dass die graphische Darstellung wichtige Hilfestellungen für ein erstes gleichursprüngliche Dimensionen eines einheitlichen Feldes, das strenge Nacheinander eines systematischen Aufbaus hätte hier keinen Platz.« Waldenfels 1987: 166. 26 Vgl. Kant 1787 (2): 564. Wir hatten das Schema an anderer Stelle in diesem Sinne eingeführt, vgl. ausführlicher Vogelsang 2014 (1): 176. 27 Vgl. Descartes 1641: 80. Es ist interessant, dass neuere Forschungen Bemühungen von Descartes entdecken, die simple Zweiteilung zu übersteigen. Cottingham z. B. spricht in diesem Zusammenhang von einem Trialismus, in dem neben den beiden Substanzen auch »confused sensations« eine Rolle spielen: »Such ›confused sensations‹, as Descartes call them, are, as we have seen, recalcitrant to straightforward classification as modes of thought or extension. They are not assignable to mind alone or to body alone, but simply arise mysteriously from the ›intermingling‹ and ›union‹ of the two (…).« Cottingham 2007: 129. Diese Beobachtung ist allerdings sehr interessant, weil sie im Grunde nur die Schritte bestätigt und schon bei Descartes angelegt sieht, die Merleau-Ponty vollzieht. Auch er weist auf das Konfuse, auf das, das sich aus einer Verschränkung ergibt. Insofern mag Descartes weniger als Gegner, sondern eher als Inspirator der Merleau-Ponty’schen Gedanken gelten.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Verständnis liefert. Die Skizze zu Descartes zeigt, dass nach dessen Vorstellung zwei deutlich zu unterscheidende Phänomenbereiche zu erwarten sind, die sich aus unterschiedlichen Substanzen herleiten: mit den Phänomenen, die der res cogitans zuzurechnen sind, und den Phänomenen, die der res extensa zugeordnet werden. Zwischenformen und Übergänge sind in diesem Schema nicht denkbar. Beide Phänomenbereiche sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen eine weitgehende Ordnung herrscht. Die Ordnung der res cogitans ist durch die Logik, die Mathematik etc. gegeben, die Ordnung der res extensa dagegen etwa durch Regelmäßigkeiten in naturwissenschaftlichen Experimenten. Merleau-Ponty verfolgt mit seinem leibphänomenologischen Ansatz das Ziel, diese strikte Zweiteilung aufzubrechen. Sein Interesse ist es, zu jenen vorgängigen Bereichen der Wirklichkeit vorzustoßen, die immer schon vorausgesetzt werden, die sich aber der Aufteilung in zwei Bereiche nicht fügen. Es ist die Kategorie des »Zwischen« 28, die auf die Sphäre zwischen Subjekt und Objekt deutet, die ihn besonders interessiert. Motiviert ist er zu diesem Schritt, weil seine Analyse des Leibes gezeigt hat, dass der Leib sich der Auf-

Das taucht sowohl auf als »Zwischenwelt«, »intermonde«, vgl. Merleau-Ponty 1964: 116, oder als »Zwischenleiblichkeit«, »intercorporéité«, vgl. Merleau-Ponty 1959: 256.

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Der Chiasmus als Schema

teilung der Wirklichkeit in verschiedene Substanzen nicht fügt, dass dieser vielmehr den unterschiedlichen getrennten Phänomenbereichen in gleicher Weise zugehört. Wir haben die Analyse der beiden sich berührenden Hände, die Merleau-Ponty von Husserl übernommen hat, angeführt, um zu zeigen, dass eine einfache und scheinbar klare Zweiteilung der Wirklichkeit, die sich unserer leiblichen Existenz erschließt, nicht gerecht wird. Hier gibt es keine klare Gegenüberstellung von res cogitans und res extensa; vielmehr wird deutlich, dass der Leib beiden Ordnungen angehört, er ist also in gewisser Weise zugleich Subjekt und Objekt. Doch damit fügt er sich nicht der von Descartes vorgeschlagenen Aufteilung der Wirklichkeit in zwei Substanzen. Wenn man nun das Schema des Chiasmus als Grundstruktur einführt, der gemäß die Wirklichkeit nicht als Gegenüberstellung zweier Größen verstanden wird, sondern als deren Verschränkung, dann wird auch die phänomenale Region zugänglich, die sich in dem Zwischenbereich befindet. Statt zweier sich statisch gegenüberstehender Blöcke werden die diametral sich gegenüber stehenden Größen zueinander »gekippt«, so dass sie die Form des griechischen Buchstaben Chi annehmen. Dadurch ergibt sich die folgende Skizze:

Die neue Skizze ist so zu lesen, dass alle Phänomene des Spektrums aus der Verschränkung von Bewusstsein* und Körper* stammen. Die Wirklichkeit des Leibes ist in all seinen Erscheinungsformen von 141 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

einer immer schon vorhandenen Verflechtung der beiden Grundgrößen geprägt. 29 Die Bedeutung der Größen Bewusstsein* bzw. Körper* ist notwendigerweise spekulativ, weil diese ja den Bereich der Phänomene überschreiten, in denen sich nach dem von uns gewählten Ansatz die Wirklichkeit zeigt. Die mit dem Asterisk versehenen Größen sind hypothetische Hilfsgrößen, sie stellen keine »eigentliche« oder »ursprüngliche« Wirklichkeit dar. Das Schema ist eine spekulative Heuristik, mit deren Hilfe man Phänomene einander zuordnen bzw. voneinander unterscheiden kann. Was auch immer sich als Leib zeigt, es zeigt sich immer nur als Verschränkung von Bewusstsein* und Körper*. Das »Zur-Welt-Sein« als grundlegende Bestimmung führt zu einer Auflösung des Gegenübers zweier Substanzen in dem Ansatz von Descartes.

5.

Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus

In einem ersten Schritt sahen wir, dass der Leib sich in unterschiedlichen Phänomenen zeigen kann: exemplarisch als »Gedanke«, »Gefühl« oder »Bein«. In einem weiteren Schritt konnten wir diese Phänomene unterschiedlichen Erscheinungsweisen zuordnen. Erscheinungsweisen vereinen Phänomene mit gleichen Charakteristika. So ließen sich die Erscheinungsweise des Leibes als Erscheinungsweise Gedanke, als Erscheinungsweise X und als Erscheinungsweise Körper unterscheiden. Nach der Einführung des Chiasmus als Schema geht es nun in einem weiteren Schritt darum, diese Erscheinungsweisen in dem Schema des Chiasmus zu verorten. Dabei ergibt sich die folgende Konfiguration (vgl. S. 143). Das Schema eröffnet aufgrund seiner Struktur der Verschränkung zweier Größen die Möglichkeit, Unterscheidungen zu treffen. Zwar entstammen alle Phänomene des Leibes ein und derselben Vermittlung der beiden hypothetische Größen Bewusstsein* und Körper*, jedoch kann man den Punkten entlang der unteren Achse einen In einer traditionellen Sprache zeigt das Schema der sich überkreuzenden Linien, dass Beobachter (Subjekt) und Beobachtetes (Objekt) nicht voneinander zu trennen sind. Gabriel formuliert in analoger Weise für den von ihm geprägten »Neuen Realismus«: »Der Neue Realismus unterstellt dagegen, dass es subjektive Wahrheiten gibt, also Wahrheiten, die nur zugänglich sind, wenn gewisse Registraturen im Spiel sind, die unser menschliches Subjekt oder auch verschiedene Formen menschlicher oder allgemeiner animalischer Subjektivität ermöglichen.« Gabriel 2013: 162 f.

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Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus

je unterschiedlichen Einfluss der beiden Größen zuweisen und dadurch Phänomene differenzieren. Am einfachsten ist die Zuordnung an den äußeren Rändern des Schemas. Analog zu einer graphischen Gegenüberstellung der Substanzen nach Descartes kann man das Schema so interpretieren, dass es ganz links einen Bereich gibt, in dem die Phänomene jene Charakteristika haben, wie sie von Descartes der res cogitans zugeschrieben worden sind. Dies ist innerhalb des Schemas dort der Fall, wo der Einfluss der Größe Bewusstsein* sehr groß, der Einfluss der Größe Körper* dagegen gering ist. Hier ist die Erscheinungsweise Gedanke zu verorten. Ebenso gibt es einen Bereich, in dem die Phänomene dem entsprechen, was Descartes als res extensa beschrieben hat. Dies ist im Schema am rechten Rand der Fall, wo der Einfluss der Größe Körper* sehr groß, der Einfluss der Größe Bewusstsein* dagegen klein ist. Hier ist die Erscheinungsweise Körper zu verorten. Damit wird durch das Schema des Chiasmus eine grundlegende Aussage des dualistischen Ansatzes von Descartes bestätigt, nämlich die, dass es sehr unterschiedliche, nicht aufeinander reduzierbare Phänomenbereiche gibt. Doch ist diese Unterscheidung in dem vorgeschlagenen Schema möglich, ohne einen Substanzdualismus, also die Existenz zweier voneinander getrennter Substanzen 143 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

annehmen zu müssen. Die Phänomene der Erscheinungsweise Gedanke sind jene, die Descartes über den Weg des methodischen Zweifels auszeichnet. Merleau-Ponty beschreitet einen gänzlich anderen Weg, der diese Phänomene nur als späten Ausdruck einer immer schon vorgängigen Verbundenheit deutet. »Weit davon entfernt, das zu enthüllen, was ich seit jeher gewesen bin, erklärt sich mein reflexiver Zugang zu einem universellen Geist aus der Verflochtenheit meines Lebens mit den anderen Leben, meines Leibes mit den sichtbaren Dingen (…).« 30 Mit der Zweiteilung ist das Spektrum der unterschiedlichen Phänomene in dem Schema in keiner Weise erschöpft. Der Chiasmus legt nahe, dass es weitere Erscheinungsweisen des Leibes gibt, die sich zwischen den Erscheinungsweisen an den Rändern befinden. In einer klassischen Auseinandersetzung zwischen monistischen und dualistischen Ansätzen werfen die letzteren den ersteren vor, eine unzulässige Reduktion vorzunehmen. Aufgrund der Differenziertheit des Schemas des Chiasmus zeigt sich nun, dass man auch den Vertretern dualistischer Ansätze den Vorwurf einer unzulässigen Reduktion machen kann. Die Phänomene der Erscheinungsweise X kann man der Mitte des Schemas zuweisen, jenem Bereich, wo sich beide Linien überkreuzen. Die Verortung in der Mitte des Schemas legt nahe, dass die Phänomene hier weder den Gedanken noch dem Körper zugewiesen werden können. Die Interpretation dieser Phänomene wird uns in dieser Untersuchung noch eingehend beschäftigen, denn es wird sich herausstellen, dass sie eine konstitutive Bedeutung für die Rede von Gott haben. Es sind die Phänomene der Erscheinungsweise X, bei denen in besonderer Weise die Verbundenheit bzw. das »Zur-WeltSein« des Leibes zum Ausdruck kommt. 31 Von der Betrachtung des Leibes aus können wir den Blick auf die Wirklichkeit im Ganzen weiten. Dieser Schritt ist allerdings eher formal, denn der Ansatz, dem wir gefolgt sind, legt nahe, dass die Phänomene der Wirklichkeit sich nicht grundlegend von den PhänomeMerleau-Ponty 1964: 73. Merleau-Ponty spricht nach Waldenfels »von einer Überkreuzung, die aus dem ontologischen Spätwerk als Chiasma, Chiasmus, Geflecht oder Verdoppelung bekannt ist.« Waldenfels 2010: 150. Genau diese Überkreuzung verdichtet sich in der Mitte des Schemas, in der Erscheinungsweise X und so charakterisiert Waldenfels zutreffend: »Die Kreuzung lässt sich nicht selbst wieder lokalisieren wie die Descartessche Zirbeldrüse (…).« Die Phänomene der Erscheinungsweise X sind nicht lokalisierbar in einem objektiven Raum.

30 31

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Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus

nen des Leibes unterscheiden können. Wenn der Leib, wie MerleauPonty immer wieder hervorhebt, nur so verstanden werden kann, dass er »Zur-Welt« ist, dann kann sich die Welt nicht unabhängig vom Leib zeigen, ebenso wenig wie die Welt unabhängig vom Leib zu finden ist. Innerhalb des Schemas muss deshalb lediglich die Größe Körper* durch Ding* ersetzt werden. Dies führt zu der folgenden Figur:

Das Schema als Verschränkung von Bewusstsein* und Ding* kann analog zu dem Schema der Verschränkung von Bewusstsein* und Körper* gelesen werden. Auf diese Weise ist es nun möglich, ein Schema für die Phänomene der Wirklichkeit zu bieten. Die Spannbreite der unterschiedlichen Phänomene, in denen der Leib erscheinen kann, ist so umfassend, dass sie alle Erscheinungsweisen der Wirklichkeit abdeckt. Durch die Ausweitung auf die Wirklichkeit kommt keine neue Erscheinungsweise hinzu. Ich kann meinen Körper als physikalisches Objekt betrachten, ebenso wie ich auch jedes beliebige andere Ding als physikalisches Objekt betrachten kann. Allerdings unterscheidet sich natürlich der Umfang der Phänomene, weil der Körper nur ein Element in einer viel größeren Zahl der Dinge 145 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

der Welt ist. Um den größeren Umfang dieser Erscheinungsweise für die Wirklichkeit deutlich zu machen, wird sie als »Erscheinungsweise Ding« bezeichnet. In den späteren Arbeiten von Merleau-Ponty findet sich der hier dargestellte Übergang der Betrachtung vom Leib auf die Wirklichkeit als Ausweitung der Betrachtung des Leibes auf die Metapher des »Fleisches«, welche die enge Verbindung von Leib und Welt anschaulich zum Ausdruck bringt. Diese kann mit den gleichen Charakteristika beschrieben werden wie der Leib und umfasst doch in einer spezifischen Weise die ganze Wirklichkeit: »Noch einmal: Das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt (…).« 32 Die hypothetischen Größen Bewusstsein* und Ding* sind durch drei »Medien« verbunden: Die Vermittlung geschieht entweder durch Wahrnehmen, durch Handeln oder durch Sprechen. Es handelt sich um die drei Formen menschlicher Aktivität, denen man üblicherweise Intentionalität zuweist. Diese drei Vermittlungsformen oder Medien kennen untereinander wechselseitige Übergänge und sind nicht eindeutig voneinander abgegrenzt. Das zeigen viele Untersuchungen der Sprachphilosophie, der Theorien des Handelns und des Wahrnehmens. Sprechen ist mit dem Handeln ebenso verbunden wie das Wahrnehmen mit dem Handeln oder auch mit Sprechen verbunden ist. Spezifische Weisen des Sprechens, des Handelns und des Wahrnehmens lassen je besondere Phänomene erscheinen. Das Schema des Chiasmus ist so allgemein, dass es keine der Vermittlungsformen bevorzugt. Diese Arbeit stellt die Rede von Gott in den Mittelpunkt der Betrachtung, insofern ist es naheliegend, die Aufmerksamkeit zunächst auf das Medium des Sprechens – was sowohl das Schreiben wie auch das Lesen beinhaltet – zu richten und jene Verfahren zu untersuchen, die dieses Medium in mündlichen Reden und geschriebenen Texten analysieren können. Doch sollen die anderen Vermittlungsformen, das Handeln wie auch das Wahrnehmen, deshalb nicht einfach ausgeschlossen werden. Wenn es etwa darum geht, Zeugnis für Gott abzulegen, spielt das Handeln eine zentrale Rolle. Die Predigt des Wortes Gottes war und ist immer verbunden mit einem diakonischen Handeln für die bedürftigen Nächsten. Das Schema des Chiasmus schließt diese Vermittlungsformen nicht aus, 32

Merleau-Ponty 1964: 191.

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Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus

Handeln und Wahrnehmen sind die beiden anderen grundlegenden Medien, die die im Chiasmus dargestellte Verschränkung vermitteln. Hier sind die Sympathien bei den Referenzphilosophen MerleauPonty und Ricœur unterschiedlich verteilt. Während Merleau-Ponty immer wieder die Wichtigkeit der Wahrnehmung unterstreicht, 33 betont Ricœur in vielen Untersuchungen die Bedeutung des Handelns. 34 Die menschliche Existenz ist durch alle drei Vermittlungsformen bestimmt. Es gibt deshalb gute Gründe, die drei Vermittlungsformen Sprechen, Handeln und Wahrnehmen auch in der Beschreibung der christlichen Existenz nicht voneinander zu trennen, sie vielmehr als eng aufeinander bezogene Formen der Vermittlung zu sehen. 35 Eine vollständige Untersuchung dieser Existenz in der offenen Wirklichkeit müsste alle drei Medien in eben dergleichen Weise berücksichtigen, auch wenn wir uns in dieser Arbeit vor allem auf die Rolle des Sprechens, auf die Rede von Gott konzentrieren. In der traditionellen Bewusstseinsphilosophie wird unter Intentionalität, die man den drei Medien zuweist, jene Art und Weise verstanden, wie sich das Bewusstsein auf Dinge in der Welt bezieht. Intentionalität in diesem voraussetzungsreichen Sinne – es muss ja eine Theorie der Dinge wie auch des Bewusstseins damit einhergehen – lässt sich für die drei Vermittlungsformen innerhalb des Chiasmus nicht etablieren. Dies gilt vor allem deshalb, weil die beiden Größen Bewusstsein* und Ding* nicht eigenständig, sozusagen »bevor« es Phänomene gibt, die sich in der Verschränkung zeigen, beschrieben werden könnten. MerleauPonty hat in Aufnahme einer Terminologie von Husserl in diesem Zusammenhang von einer fungierenden Intentionalität gesprochen. 36 Eine eingehendere Analyse des Schemas, die wir hier nur verkürzt wiedergeben können, zeigt schließlich, dass es gute Gründe gibt, die Zahl der Erscheinungsweisen zu erweitern. So gibt es zwei weitere ausgezeichnete Erscheinungsweisen, die jeweils zwischen den Erscheinungsweisen am Rand und der Erscheinungsweise X anzusiedeln sind. Diese sollen »Erscheinungsweisen Kultur« genannt werden. Ähnlich wie die bisher identifizierten Erscheinungsweisen durch einen je spezifischen methodischen Zugang des Leibes zur Welt

Vgl. etwa Merleau-Ponty 2003. Das Handeln spielt etwa eine große Rolle in der Untersuchung »Das Selbst als ein Anderer«, vgl. Ricœur 1990 (1). 35 Vgl. Vogelsang 2014 (1): 310. 36 Vgl. Merleau-Ponty 1945: 15. Vgl. auch Vogelsang 2014 (1): 313 ff. 33 34

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

beschrieben werden – physikalische Methoden stehen neben der Evidenz von Gedanken und dem Erleben von Gefühlen und Atmosphären –, so gilt das auch für die Erscheinungsweisen Kultur. Die Phänomene dieser Erscheinungsweisen erschließen sich, indem man die Methoden der Hermeneutik oder der Geschichtswissenschaft anwendet. 37

Nun ist auch hier, wie schon bei der Benennung der anderen Erscheinungsweisen, der Begriff »Kultur« lediglich ein Index. Er soll also nicht so verstanden werden, dass mit dieser Bezeichnung eine Definition von Kultur oder gar eine Bestimmung der Reichweite der Kultur einhergeht. Der Begriff der Kultur wird in dieser Arbeit immer wieder auch in einem anderen, weiteren Sinne gebraucht, etwa wenn von der naturwissenschaftlich geprägten Kultur der Neuzeit die Rede ist. Dann umfasst die Bezeichnung Kultur auch die Phänomene der Erscheinungsweise Ding. Ebenso gibt es viele kulturelle Artikulationsformen, die sich um eine Erschließung der Phänomene der Erscheinungsweise X bemühen, etwa Gefühle oder Atmosphären be37

Vgl. Vogelsang 2014 (1): 403 ff.; Vogelsang 2014 (2): 231 ff.

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Die Erscheinungsweisen innerhalb des Chiasmus

schreiben. Deshalb ist mit der Indizierung bestimmter Erscheinungsweisen mit dem Wort Kultur nicht gemeint, dass Phänomene anderer Erscheinungsweisen keinen Bezug zur Kultur hätten. Die »Erscheinungsweisen Kultur« müssen ihrerseits noch differenziert werden. Der Tatsache, dass diese Erscheinungsweisen an unterschiedlichen Seiten des Schemas angeordnet sind, ist durch eine Indizierung berücksichtigt: Die Erscheinungsweise Kulturg befindet sich zwischen der Erscheinungsweise Gedanke und der Erscheinungsweise X, die Erscheinungsweise Kulturd zwischen der Erscheinungsweise Ding und der Erscheinungsweise X. Es gibt zwei Argumente, die für eine Sonderstellung dieser Erscheinungsweisen gegenüber den schon eingeführten Erscheinungsweisen sprechen. Beide Argumente lassen sich aus den philosophischen Arbeiten von Paul Ricœur ableiten. Auf der einen Seite gibt es Methoden, die einen eigenständigen Zugang zu diesen Phänomenen ermöglichen. Das sind im Falle der Erscheinungsweise Kulturd historische Untersuchungen und im Falle der Erscheinungsweise Kulturg hermeneutische Untersuchungen. Die Differenzierung in fünf Erscheinungsweisen bewährt sich gerade dadurch, dass man je unterschiedliche Methoden ausweisen kann, durch die sich die jeweiligen Phänomene zeigen. Auch auf eine Betrachtung der Zeit, so wie sie Ricœur durchgeführt hat, kann sich eine Argumentation für die Eigenständigkeit der Erscheinungsweisen Kultur stützen. Die von Ricœur so genannte »menschliche Zeit« 38 zeigt sich in Prozeduren der Erscheinungsweise Kulturg, die geschichtliche Zusammenhänge der Erscheinungsweise Kulturd erschließen. 39 Zu einem vertieften Verständnis dieser Aufteilung ist also weiterhin die wechselseitige Beziehung beider Erscheinungsweisen Kultur von großer Bedeutung. Auch hier können wir uns auf eine Theorie von Ricœur, auf seine Lehre der dreifachen mimēsis beziehen. Für die Rede von Gott als Teil einer historisch überlieferten Tradition, die sich in Texten und Reden manifestiert, die wiederum hermeneutisch ausgelegt werden, ist die zentrale Bedeutung der Erscheinungsweisen Kultur offenkundig und soll im Folgenden eingehend analysiert werden.

Ricœur 1985: 163. Vgl. Vogelsang 2014 (2): 244 ff. Die Zeit, die sich über Erzählungen erschließt, erhält man gerade dann, wenn die Aporien der Zeit, ihre widersprüchlichen Formen von phänomenaler Zeit und physikalischer Zeit, nicht aufgelöst werden, sondern in ihrer Gegensätzlichkeit produktiv gemacht werden, vgl. Ricœur 1985: 417.

38 39

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

6.

Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus

Die Beschränkung Descartes’ auf die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus mittels der Annahme zweier unterschiedlicher Substanzen hat darin seine Folgerichtigkeit, dass Descartes der methodischen Regel folgt, nur darüber zu urteilen, was sich klar und deutlich zeigt. 40 Doch mit dieser zunächst vollkommen einleuchtenden Regel wird ein großer phänomenaler Bereich der Wirklichkeit marginalisiert, für den diese Maxime nicht im gleichen Maße anwendbar ist wie bei den Regeln der Logik oder den experimentellen Arrangements der Physik. 41 Übersehen wird der Bereich, in dem die Phänomene sich zueinander eher in regellosen, amorphen Verhältnissen befinden, die zudem einer gewissen Dynamik ausgesetzt sind. Merleau-Ponty wiederum hat genau auf diesen Wirklichkeitsbereich gezielt, als er in Abgrenzung zu Descartes formulierte: »Der Leib ist also kein Gegenstand. Aus demselben Grunde aber ist auch mein Bewusstsein des Leibes kein Denken, ich kann den Leib nicht auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, um eine klare Vorstellung von ihm zu gewinnen. Seine Einheit ist eine beständig nur implizite und konfuse.« 42 Man kann innerhalb des Schemas des Chiasmus die Distanz, den die beiden Linien Bewusstsein* und Ding* an einem bestimmten Punkt auf der horizontalen Linie zueinander haben, mit dem Grad der Ordnung jener Erscheinungsweise korrelieren: Je größer der Abstand der beiden Linien ist, desto höher ist der Grad der Ordnung der betreffenden Erscheinungsweise. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus weisen dementsprechend ausgeprägte Ord-

»Die erste besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, dass sie wahr ist: d. h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, dass ich keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln.« Descartes 1637: 31. 41 Dies hat schon in der Reaktion der Zeitgenossen eine wichtige Rolle gespielt, etwa in der Korrespondenz mit Elisabeth von Böhmen, die Descartes zur Abfassung einer weiteren Schrift veranlasst hat, der »Passions de l’âme«, vgl. Perler 2006: 28 f. 42 Merleau-Ponty 1945: 234. Vgl. auch Dalferth 2003: 37 Es gibt keine umfassende Ordnung, weil jede Ordnung den Standpunkt, von dem aus sie entsteht, nicht erfassen kann. Es gibt immer einen blinden Fleck, deshalb sind alle Ordnung und ist alles Ordnen perspektivisch. 40

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Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus

nungen auf. In der Erscheinungsweise Gedanke gelten die Regeln der Logik und der Syntax. Gedanken können etwa in Theorien in engmaschigen Bezügen existieren, die in hohem Maße geordnet sind. Gleiches gilt für die Phänomene der Erscheinungsweise Ding. Dies ist der Bereich der Wirklichkeit, den die Naturwissenschaften mit ihren hoch ausdifferenzierten Methoden beschreiben. Die Gegenstände der Physik erscheinen in genau bestimmbaren Zusammenhängen, die mit Hilfe einer ausdifferenzierten begrifflichen Sprache sowie der Mathematik wie auch präziser Handlungsanleitungen etwa in Experimenten erfasst werden können. In beiden Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus herrschen hochgradige Ordnungen, die durch fachsprachlich gestaltete Theorien wechselseitig aufeinander bezogen sind: Nur durch eine hoch ausdifferenzierte Begrifflichkeit und durch voraussetzungsreiche mathematische Formalismen können bestimmte Phänomene der Physik überhaupt erscheinen.

Allerdings existiert keine Erscheinungsweise im Chiasmus, die eine vollkommene Ordnung aufweist. Das Schema lässt sich so interpretieren, dass alle Ordnungen der Wirklichkeit defizient sein müssen, denn sie entstammen einem fundamentalen Verschränkungsverhältnis und sind nicht auf eine letzte Größe zurückführbar. Dies gilt auch 151 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

für die Ordnungen der äußeren Erscheinungsweisen. Wissenschaftliche Theorien als Strukturen der Erscheinungsweise Gedanke sind nach der Wissenschaftstheorie von Popper gerade darin ausgezeichnet, dass sie vorläufig und falsifizierbar sind. Sie können nicht abgeschlossen und vollständige Ordnungen sein, sie erstellen nur endliche hypothetische Ordnungen, die durch Falsifikation jederzeit verändert werden können. Es gibt auch keine logischen oder mathematischen Strukturen hinreichender Komplexität, die in sich geschlossen ist. Der Satz der Unvollständigkeit von Kurt Gödel zeigt, dass es immer Aussagen gibt, die man aufgrund der zugrunde gelegten Axiomatik nicht beweisen kann. Auch die Ordnungen der Erscheinungsweise Ding sind offenkundig nicht vollständig. Neuere Untersuchungen zeigen eine Natur, die von vielen Instabilitäten gekennzeichnet ist, die sich nur sehr begrenzt berechnen lassen. Die stabile Welt der klassischen Physik ist nur eine Approximation. Die theoretische Physik kennt gravierende Deutungsprobleme sowohl in der Quantenphysik wie auch in der Kosmologie. Das Schema zeigt weiterhin, dass der Streit um eine Dominanz entweder der naturwissenschaftlichen oder einer geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Wirklichkeitsdeutung nicht zielführend ist, der Modus des Erklärens steht neben dem Modus des Verstehens. Offenkundig können die durch diese grobe Zweiteilung ausgezeichneten Methoden je bestimmte Erscheinungsweisen der Wirklichkeit erschließen, sie sind aber auf die jeweiligen Erscheinungsweisen begrenzt und können mit ihrer Erkenntnisleistung keinen umfassenden Anspruch erheben. Der Streit, der seit dem Erstarken der Naturwissenschaften in vielen Diskussionen unserer Kultur latent schwelt, wird vor allem dadurch genährt, dass einige Positionen in diesem Streit eine nicht unerhebliche erkenntnistheoretische Verkürzung vornehmen. Die Naturwissenschaften zeigen dann, was »wirklich« geschieht, die Geisteswissenschaften beschäftigen sich dagegen mit den Eindrücken und deren Verarbeitung, die Menschen von den »tatsächlichen« Ereignissen haben. In einer solchen Deutung wird eine Erzählung, die sich auf historische Vorgänge bezieht, als erkenntnistheoretisch defizitär wahrgenommen. Ihr entspricht kein eigenständiges Gegenstandsgebiet, sie ist eine nur unvollkommene Rechenschaft über jene Vorgänge, die in einer naturwissenschaftlichen Analyse vollkommener beschrieben werden könnten. Der geschilderten Abwertung der Geisteswissenschaften sind philosophische Positionen entgegengetreten, die nun umgekehrt, in 152 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus

den schwer erschließbaren Erscheinungsweisen die Sphäre des »Eigentlichen« sehen und in den anderen, hochgeordneten Erscheinungsweisen nur eine Verflachung einer entpersönlichten Erkenntnisform, etwa des »man« wahrnehmen können. 43 Diese Auseinandersetzungen sind jedoch, das legt das Schema nahe, von beiden Seiten zu Unrecht geführt worden, denn tatsächlich haben beide ihre Stärken in der Erschließung bestimmter Erscheinungsweisen und Schwächen bei der Berücksichtigung anderer. Hermeneutische Methoden haben keinen geringeren Anspruch auf Wirklichkeitsdeutung als die neuesten naturwissenschaftlichen Forschungen, nur sind ihre Erkenntnisbedingungen verschieden, weil sie sich auf andere Erscheinungsweisen der Wirklichkeit beziehen. Diese Methoden zeigen Ordnungen mittlerer Reichweite, die zwischen den ausgeprägten Ordnungen der Naturwissenschaften in der Erscheinungsweise Ding und den geringen Ordnungen der Erscheinungsweise X anzusiedeln sind. In den Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus, der Erscheinungsweise X, ist der Ordnungsgrad gering. In einem ersten Zugang hatten wir in der Betrachtung des Leibes etwa Gefühle der Erscheinungsweise X hier verortet. Doch sind es weitaus mehr Phänomene, die in hohem Maße heterogen sind und sich nur darin gleichen, dass sie nicht in eine exakte begriffliche Sprache zu überführen und damit nicht in umfassendere Ordnungen aufzuheben sind. So gehören etwa Wert- und partikulare Sinnerfahrungen dazu, aber Prominent ist etwa die Theorie von Heidegger, der wiederum großen Einfluss auf eine Vielzahl von postmodernen Theorien hatte, die sich dadurch auszeichnen, dass ihnen zufolge die naturwissenschaftlichen Methoden für philosophische Probleme nur eine geringe Relevanz haben. Die menschliche Existenz kommt nach Heidegger nicht im Umgang mit den Dingen, schon gar nicht im technisch-wissenschaftlichen Umgang mit den Dingen zu sich selbst, sondern dann, wenn sie ihr Dasein als Sein zum Tode vergegenwärtigt. »Eigentliches Sein zum Tode kann vor der eigensten, unbezüglichen Möglichkeit nicht ausweichen und in dieser Flucht sie verdecken und für die Verständigkeit des Man umdeuten.« Heidegger 1927: 260. Hier spielen zweierlei Momente eine Rolle, die sich in dem Schema des Chiasmus identifzieren lassen. Auf der einen Seite gibt esdas »Eigentliche«, für das die Phänomene der Erscheinungsweise X stehen. Der Bezug auf den eigenen Tod wird durch die nicht objektivierbaren Phänomene dieser Erscheinungsweise repräsentiert. Auf der anderen Seite gibt es das gesellschaftliche und kulturell vermittelte »man«, das für die menschliche Fähigkeit zu einer aktiven (wissenschaftlichen) Gestaltung seines Lebens steht und so Sicherheit zu gewährleisten scheint. Die Betonung der Eigentlichkeit bei Heidegger gegen die soziale Vermittlung von Kultur, Technik und Wissenschaft lässt sich mit dem Schema jedoch nicht vereinbaren. Zur Kritik vgl. auch Ebeling 1991: 42 ff. 43

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

auch Erfahrungen mit Musik, die Wahrnehmung von Atmosphären und all jene Phänomene, die mit einem intensiven Erleben der Gegenwart verbunden sind. Diese Phänomene sind zwar nicht völlig ungeregelt, doch herrschen hier offenkundig ganz andere Verhältnisse als in den äußeren Erscheinungsweisen. Die Strukturen sind eher amorph, fließend und vieldeutig. Die Phänomene selbst sind von einer Dynamik geprägt. Weiterhin sind sie nicht klar voneinander abgetrennt, vielmehr gehen sie ineinander über, ohne klare Grenzen aufzuweisen. In der Erscheinungsweise X gibt es schließlich einen »Ort«, die genaue Mitte des Schemas des Chiasmus, wo nach unserer bisherigen Interpretation die sprachliche Vermittlung vollkommen zusammenbricht. Hierüber kann keinerlei Aussage mehr gemacht werden. Gerade diese Phänomene haben eine große Relevanz für das Verständnis der Rede von Gott, werfen aber erhebliche Probleme der Deutung auf. Das paulinische Wort vom Kreuz ist durch die Einsicht bestimmt, dass die Rede von Gott mit einem unaufhebbaren Geheimnis verbunden ist. Wenn wir eingangs festgestellt haben, dass das Geheimnis ein Signum der Wirklichkeit ist, in der wir leben, dann lässt sich dies nun dank der Differenzierungsfähigkeit des Schemas des Chiasmus in seiner Mitte »lokalisieren«. 44 Das Schema problematisiert nicht nur einen Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Wirklichkeit in einer konsistenten Theorie, es betont auch die Unmöglichkeit, einen direkten Zugang zu sich selbst zu finden, die eigene Identität zu bestimmen. Beide Themen sind eng miteinander verbunden, wenn wir nach Merleau-Ponty den Ausgangspunkt in dem »Zur-Welt-Sein« (être au monde) des Leibes zur Welt suchen. So wie es keinen Zugang zum Ganzen der Welt gibt, so gibt es auch keinen »ganzheitlichen« Zugang zu der eigenen leiblichen Existenz. Keine Erscheinungsweise zeigt so etwas wie den »Kern« der eigenen Existenz, die Pluralität der Erscheinungsweisen des Leibes kann nicht reduziert werden, die Erscheinungsweisen haben im Verhältnis zueinander keinen Vorzug. Die äußeren Erscheinungsweisen mögen stabile Bestimmungen ermöglichen, etwa die Identifizierung des eigenen Körpers durch einen DNA-Test. Doch ist das für die Beantwortung der Frage nach der eigenen Identität »Wer Auf die Problematik einer Formulierung wie dieser »Das Geheimnis lässt sich lokalisieren.« werden wir später noch ausführlich eingehen. Es ist deutlich, dass hier insbesondere gilt, dass diese Rede nur als indirekt, uneigentlich aufgefasst werden kann. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen ist hier konstitutiv.

44

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Das Verhältnis von Ordnung und Nicht-Ordnung im Schema des Chiasmus

bin ich?« von geringer Bedeutung. Die Erschließung der Erscheinungsweisen Kultur erweisen sich im Alltag als die wichtigste Bestimmung der eigenen Identität, wer sagen will, wer sie oder er ist, beginnt in der Regel zu erzählen. Ähnlich wie bei der Bestimmung der Wirklichkeit haben die Phänomene der Erscheinungsweise X einen bedeutenden Einfluss. Gerade starken Erfahrungen der eigenen Identität kann man sich oft nur über indirekte Anspielungen, über paradoxe Beschreibungen annähern. Darin kommt eine tiefgreifende Erkenntnis des Unverfügbaren zur Geltung, die Merleau-Ponty das »wilde Sein« nennt und die Waldenfels als »das Fremde« bestimmt. 45 Durch das Unverfügbare ist immer auch jene Sphäre bestimmt, die man Lebenswelt nennt. Diese besteht auch aus Phänomenen in Ordnungen mittlerer Reichweite, das zeigt unser technisierter und von kulturellen Standards geprägter Alltag, aber sie ist deshalb Lebenswelt, weil die gering geordneten Phänomene auch immer gegenwärtig und beteiligt sind. Dies führt dazu, dass es eine Bestimmung der Lebenswelt gerade durch Abgrenzung gegenüber den hoch geordneten Bereichen möglich ist. 46 In der Summe ist der Chiasmus als Schema der Wirklichkeit in der Lage, sehr unterschiedlich strukturierte Bereiche der Wirklichkeit miteinander in Beziehung zu setzen. Es ist von zentraler Bedeutung, dass im Rahmen des Schemas begrenzte Ordnungen von Nicht-Geordnetem in der Erscheinungsweise X unterschieden werden können. Es schafft so eine Möglichkeit, mit fundamentalen Spannungen umzugehen, denen wir in unserer endlichen leiblichen Existenz immer schon ausgesetzt sind. Das Schema bestätigt die Existenz endlicher Ordnungen und endlicher Sinnerfahrungen, zugleich verleugnet sie aber auch nicht ihr stetes Angefragtsein, ihr Bedrohtsein. »Es gibt

»Der Widerstand des Fremden rührt daher, dass es für das, was sich der Ordnung entzieht, kein Äquivalent gibt, auch kein moralisches. Fremdes bleibt für jede Ordnung ein Fremdkörper.« Waldenfels 2006: 33. 46 Dies weist ja auch genau auf den Zusammenhang, in dem Husserl den Begriff eingeführt hat, nämlich in der Abgrenzung zu den präzisen Ordnungen der Wissenschaften. So hält er den Anfängen der naturwissenschaftlichen Forschung vor, ihre Idealisierungen von der Lebenswelt abzukoppeln und nicht »die Besinnungen radikal durchzuführen bis zu dem letztlichen Zweck, dem die neue Naturwissenschaft mit der von ihr unabtrennbaren Geometrie, aus dem vorwissenschaftlichen Leben und seiner Umwelt hervorwachsend, von Anfang an dienen sollte, einem Zweck, der doch in diesem Leben selbst liegen und auf seine Lebenswelt bezogen sein musste.« Husserl 1936: 53 f. 45

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Ordnungen« 47, »es gibt Sinn« 48 sind zentrale Sätze der zugrunde liegenden Philosophie. Endliche Ordnungen existieren, ohne dass sie auf einen letzten Grund zurückgeführt werden könnten. Dennoch haben diese Ordnungen eine Eigenständigkeit, sie ermöglichen erst eine Orientierung in der Wirklichkeit. Ihre Leistungen wie auch ihre Grenzen können durch das Schema abgebildet werden.

7.

Der Chiasmus in genetischer Lesart: Zur Entstehung von Ordnung

Der Grad der Ordnung der Erscheinungsweisen nimmt von den Rändern des Schemas zur Mitte hin ab. Die Beschreibung als Verringerung von Ordnung zur Mitte hin ergibt sich, wenn man von dem Erkenntnisanspruch Descartes’ ausgeht, also von den äußeren Erscheinungsweisen, und dann sukzessive weitere Erscheinungsweisen zur Mitte hin hinzunimmt. Man kann aber das Schema auch in einer anderen Richtung lesen und die Erscheinungsweisen als Darstellung einer kontinuierlichen Ausweitung von Ordnung interpretieren. Die Ordnungen nehmen dann von der Mitte des Schemas her zu den Rändern hin kontinuierlich zu. Sowohl biographisch wie auch kulturgeschichtlich lässt sich eine Entwicklung nachvollziehen, in der es sukzessive gelingt, Phänomene der Wirklichkeit mit einem höheren Grad der Ordnung zu erschließen. 49 Solche Ordnungen sind vor allem durch eine begriffliche Sprache vermittelt, aber auch durch wiederholte, kulturell vermittelte Handlungen und Wahrnehmungsmuster. Durch kulturelle Techniken werden neue Formen sprachlicher Mitteilung möglich, etwa durch eine schriftliche Fixierung. Während die Phänomene der Erscheinungsweise X mit kurzen und rudimentären Sprachformen verbunden sind oder mit poetischen Beschreibungen, Metaphern und Bildern, die indirekt adressieren, erfordern die Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur schon deutlich umfangreichere Sprachformen, die sich in Texten und Erzählungen manifestieren. Mit Ricœur kann man diese Entwicklung zu komple-

Waldenfels 2006: 30. Merleau-Ponty 1964: 121. 49 Gerade zu der biographischen Entwicklung eines einzelnen Menschens gibt es eine Vielzahl von Beobachtungen, die Merleau-Ponty in seinen Vorlesungen zur Entwicklung des Kindes an der Sorbonne zusammengetragen hat, vgl. Merleau-Ponty 1994. 47 48

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Der Chiasmus in genetischer Lesart: Zur Entstehung von Ordnung

xer werdenden Ordnungen auch beschreiben als eine zunehmende Kon-Textualisierung. 50 Texte erweitern die Möglichkeiten des Ausdrucks, sie schaffen eine Distanzierung von dem Beschriebenen und zugleich eine zunehmende Verallgemeinerung der Darstellung. Während die Phänomene in der Mitte des Schemas in lockerer Koppelung zueinander existieren und an eine gedehnte Gegenwart gebunden sind, so dass es unmöglich ist, sie in dauerhaften Ordnungen zueinander in Beziehung zu setzen, so sind die Phänomene in den Erscheinungsweisen, die weiter außen liegen, in umfangreichere Ordnungen eingebunden. Naturwissenschaftliche Analysen der Wirklichkeit zeigen in den äußeren Erscheinungsweisen Zusammenhänge, die den Charakter von umfassenden Ordnungen annehmen, so genannten »Naturgesetzen«, die scheinbar unabhängig von jeder kulturellen Vermittlung sind. Es zeigt sich eine Welt der »Tatsachen«, für die es nahe liegt, unveränderliche Relationen, sogenannte »Naturgesetze«, anzunehmen. Wissenschaftliche Beschreibungen erscheinen als zuverlässige und dauerhafte Theorien über die Wirklichkeit. Jedoch gelten auch hier die Vorbehalte, dass sie keine vollständigen Ordnungen zeigen, ist die Wissenschaftsgeschichte doch von der Entstehung immer wieder neuer Theorien bestimmt. Der Eindruck einer geschlossenen wissenschaftlich beschriebenen Welt entsteht, wenn man nicht auf den Wissensgewinn achtet, sondern auf die Erfolge. Dazu gehören all die Entitäten, die das allgemeine populäre Wissen um die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit bevölkern: die Elementarteilchen, die neuronalen Strukturen des menschlichen Gehirns, die Disposition der Vererbung durch die genetischen Codes bis hin zu den Spuren der Entstehung des Universums. Mit den Erfolgen der Beschreibung der Wirklichkeit geht zudem eine kontinuierliche Ermächtigung durch technische Artefakte einher, die ganz neue Handlungsformen möglich macht und die wiederum auf die sozialen und kulturellen Strukturen einwirken. Mit Hilfe des Chiasmus kann man nun einerseits die Erfolge der Naturwissenschaften nachvollziehen, andererseits verweist das Schema auf eine grundlegende Begrenztheit der Beschreibung der Welt mit Hilfe naturwissenschaftlichen Methoden. Es gibt offenkundig weitere Erscheinungsweisen, die nicht durch die naturwissenschaftlichen Methoden erschlossen werden könnten. Im Sinne der genetischen Betrachtung ist die wissenschaftliche Erfor50

Vgl. Mattern 1996: 102.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

schung der Wirklichkeit eine unvergleichliche Errungenschaft und doch kann sie nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Die Erscheinungsweisen Kulturd und Kulturg liegen in einem Mittelbereich, sie sind durch Ordnungen von begrenzter Reichweite bestimmt. Der mittlere Bereich ist von großer Bedeutung, da er von beiden angrenzenden Erscheinungsweisen unterschieden ist, aber auch zu ihnen Kontakt hat und sie für ihn Randbedingungen darstellen. Waldenfels verbindet die Beschreibung dieser Erscheinungsweisen mit einer dynamischen Komponente, kulturelle Ordnungen sind immer in Bewegung: »Begreift man das Bedeutungsgeflecht kultureller und gesellschaftlicher Ordnung als Magma, so entzieht sich dieses der Alternative eines völlig ungeordneten Chaos ebenso wie der einer vollkommen organisierten Welt.« 51 Diese Dynamik ist von immer neuen Spannungen geprägt, kulturelle Formen versuchen auf Dauer zu stellen, was sich doch immer wieder in Bewegung setzt, was sich verändert. Interpretationen und Versuche, dauerhafte kulturelle Ordnungen und Deutungen zu etablieren, erweisen sich stets als vorläufig. Im Sinne der genetischen Auslegung des Schemas ist offenkundig, dass »frühere« Erscheinungsweisen nicht obsolet werden. Das heißt, dass die Welt, wie sie einem kleinen Kind erscheint, auch für den Erwachsensen noch präsent ist und in manchen Augenblicken auch bewusst wird, etwa beim Hören von Musik, bei starken Intuitionen, in intensiven Begegnungen mit anderen Menschen oder in religiösen Erlebnissen. Und auch in einer von Wissenschaft und Technik geprägten Welt werden Erzählungen nicht an Kraft oder Bedeutung verlieren. Ein Fortschritt in der Diskussion um eine angemessene Beschreibung der Wirklichkeit kann erst dann erfolgen, wenn man die Pluralität der Erscheinungsweisen anerkennt. Die Wirklichkeit ist damit in einem radikalen Sinne eine offene Wirklichkeit.

8.

Reentry: Die Verortung des Schemas des Chiasmus in der Erscheinungsweise Kulturg

Welchen Ort nimmt das Schema als Phänomen in demselben Schema selbst ein, welcher Erscheinungsweise gehört der Chiasmus als Figur zu? Hinweise darauf liefert eine Betrachtung der unterschiedlichen 51

Waldenfels 2002: 283.

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Reentry: Die Verortung des Schemas des Chiasmus

Grade der Ordnungen der Erscheinungsweisen. Die Phänomene der Erscheinungsweise Kulturg sind von einer fundamentalen Spannung gekennzeichnet. Sie weisen Ordnungen mittlerer Reichweite auf, die nie endgültig ausgedeutet werden können, zu deren Deutung man immer wieder neu ansetzen muss, Texte und Erzählungen haben keinen eindeutigen Sinn. Die menschliche Existenz bedarf sowohl der Dynamik der Nicht-Ordnung wie auch der Verlässlichkeit der Ordnung, sie ist weder in einer reinen Ordnung noch in einer völligen Nicht-Ordnung möglich. Das eine muss Korrektiv des anderen sein. Diese allgemeinen Beschreibungen der Erscheinungsweise Kulturg lassen sich auch auf das Schema des Chiasmus selbst übertragen. Offenkundig vermag das Schema eine gewisse Ordnung, eine Zuordnung der Phänomene zu leisten, ohne dass es aber selbst eine geschlossene Ordnung darstellt. Die Ordnungsleistung, die das Schema erbringt, ist durch die Existenz der Erscheinungsweise X begrenzt, für die der geringe Ordnungsgrad konstitutiv ist. Eine Darstellung der Wirklichkeit durch den Chiasmus, der die Erscheinungsweise X beinhaltet, kann deshalb letzten Endes keine Ordnung etablieren. Begrenzte Ordnungen sind nicht selbstgenügsam, sondern immer in Frage gestellt und durch einen Mangel ausgewiesen. Der Chiasmus ist der Versuch, Übergänge von der Nicht-Ordnung zur Ordnung zum Ausdruck zu bringen. So zeigt das Schema Bereiche relativ klarer Ordnungen, einen Bereich, in dem fast keine Ordnung existiert, und Zwischenbereiche, die zwischen Ordnung und Nicht-Ordnung eingespannt sind. Diese Übergänge von Ordnung zur Nicht-Ordnung leisten innerhalb des Chiasmus die Erscheinungsweisen Kultur. Folglich kann man schließen, dass der Chiasmus als Ordnungsstruktur selbst der Erscheinungsweise Kulturg zugehört. So repräsentiert der Chiasmus als Teil der Erscheinungsweise Kulturg mit seiner Gestalt selbst eine Spannung zwischen der NichtOrdnung der Erscheinungsweise X und den Ordnungen der äußeren Erscheinungsweisen. Dies bringt eine Interpretation des Schemas im Ganzen in eine nicht zu überwindende Schwebe. In ganz ähnlicher Weise hat nun Ricœur den Gebrauch von Metaphern beschrieben: Lebendige Metaphern sind von einer großen Spannung gekennzeichnet, die etwas erzeugen, das in dem Modus des »als ob« existiert. 52 Es gibt in der metaphorischen Aussage Widersprüche, die nur unter dem Verlust der Potenz der Metapher aufgehoben werden könnten. Der 52

Vgl. Ricœur 1975 (2): 248.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

Chiasmus ist in ähnlicher Weise durch Spannungen geprägt, die sich nicht auflösen lassen. Die Einsicht in die fundamentalen Spannungen bestimmter endlicher Ordnungen wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung als ein wichtiges Element der Deutung der Rede von Gott herausstellen. Diese Rede ist eine Weise, die Spannung zu steigern: Auf der einen Seite erhebt sie als Rede von Gott den Anspruch, verständlich zu sein und sich den allgemeinen sprachlichen Regeln zu fügen, auf der anderen Seite ist sie aber nur Rede von Gott, wenn es ihr möglich ist, einen Bezug zu etwas Absolutem herzustellen.

9.

Merleau-Ponty und der Gedanke der Inkarnation

Die leibphänomenologische, auf den Arbeiten von Merleau-Ponty basierende Darstellung der Wirklichkeit soll in der weiteren Untersuchung als Grundlage dazu dienen, die Wirklichkeitsrelevanz der Rede von Gott herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang muss eine Besonderheit erwähnt werden: Der Philosoph Merleau-Ponty hat in seinen Arbeiten immer wieder, wenn auch meistens en passant, auf einen zentralen Terminus der christlichen Rede von Gott Bezug genommen, nämlich auf den Begriff der Inkarnation. Mutmaßungen über persönliche Einflussgrößen auf Merleau-Ponty sollen hier nicht angestellt werden, 53 es ist aber offenkundig, dass er sich nicht als Christ verstand. Die Gedanken zu theologischen Begriffen wie dem der Inkarnation sind zu beiläufig und verstreut, so dass es schwer fiele, von hier aus eine zusammenhängende Position zur christlichen Rede von Gott abzuleiten. 54 Der leibphänomenologische Ansatz, den er entwickelte, machte es ihm aber dennoch möglich, die Bedeutung dieses zentralen Gedankens christlicher Theologie in einer hellsichtigen Weise auch für die philosophische Reflexion aufzubereiten. Entgegen einer Frömmigkeit, die die Wahrheit Gottes im InneEs gibt einige Hinweise darauf, dass die katholisch orientierte Mutter von MerleauPonty einen nicht geringen Einfluss auf den Sohn hatte. Vgl. Danzer 2003: 4. 54 Eine Ausnahme bietet der Text »Glaube und Aufrichtigkeit«, in dem MerleauPonty das Christentum in Form der katholischen Kirche nicht aus theologischem Interesse beschreibt, sondern aus aktuellem gesellschaftspolitischem, nämlich um zu klären, ob es eher fortschrittlich oder konservativ, eher revolutionär oder reaktionär sei. Den Gedanken der Inkarnation betont er dann, um den zumindest ideell gegebenen revolutionären Ansatz der christlichen Botschaft zu betonen. Vgl. MerleauPonty 1948: 235 ff. 53

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Merleau-Ponty und der Gedanke der Inkarnation

ren sucht, unterstreicht Merleau-Ponty die Bedeutung der Menschwerdung, durch die Gott Teil der äußeren Welt wird: »Die Leibwerdung Christi ändert alles. Nach der Leibwerdung Christi ist Gott im Äußeren gewesen. Man hat ihn gesehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort; er hat Erinnerungen, Worte hinterlassen, die weitergegeben werden. Von nun an ist der Weg des Menschen zu Gott nicht mehr die Reflexion, sondern der Kommentar und die Interpretation jener zwiespältigen Botschaft, deren Energie niemals erschöpft ist.« 55 Eine Rede von Gott, die von der Inkarnation ausgeht, verliert nach Merleau-Ponty ihren vertikalen Charakter, sie ist nicht mehr hierarchisch und ordnet dementsprechend Gott der Welt vor, sondern lässt Gott unter den Menschen sein. So kann er in einer etwas gewagten und eigenwilligen Kürze die Wirkung des Christentums so beschreiben, »dass seit mindestens zwanzig Jahrhunderten Europa und ein großer Teil der Welt auf die so genannte vertikale Transzendenz verzichtet haben; und man sollte auch nicht vergessen, dass das Christentum unter anderem in der Anerkennung eines Mysteriums in den Beziehungen des Menschen zu Gott besteht; denn gerade der christliche Gott will keine vertikale Beziehung der Unterordnung.« 56 Die Inkarnation ist seiner Ansicht nach Grundlage für eine geradezu revolutionäre Interpretation der christlichen Botschaft: »In der Linie der Leibwerdung Christi kann es (scil. das Christentum, FV) revolutionär sein. Die Vaterreligion jedoch ist konservativ.« 57 Unter Bezug auf Kierkegaard kann Merleau-Ponty schließlich sogar von einem a-theistischen Zug des Christentums reden: »Und wie Kierkegaard hervorhebt, kann niemand sich Christ nennen, der Glaube muss zum Unglauben werden. Es gibt einen Atheismus im Christentum, Religion des menschgewordenen Gottes, wo Christus von Gott verlassen stirbt.« 58 Da wir in dieser Arbeit die christliche Rede von Gott auf Grundlage der philosophischen Arbeiten von Merleau-Ponty interpretieren wollen, ist es sicherlich nicht uninteressant, dass er in diesen verstreuten Bemerkungen eine große Nähe seiner Philosophie zu der christlichen Vorstellung der Inkarnation sieht. Offenkundig sind die Grundgedanken der phänomenologischen Leibphilosophie von Mer55 56 57 58

Merleau-Ponty 1948: 239. Merleau-Ponty 1952: 97. Merleau-Ponty 1948: 243. Merleau-Ponty 1995: 194.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

leau-Ponty zumindest nicht inkompatibel mit einer christologisch fundierten Rede von Gott. Im Anschluss an den leibphänomenologischen Ansatz kann man etwa auf die konstitutiv begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen verweisen, die ja auch in dem paulinischen Wort vom Kreuz zum Ausdruck kommt. Die Rede von Gott kann an die Begrenzungen, die eine Leibphilosophie aufzeigt, anknüpfen. Sie sollte ein klares Verständnis von der fundamentalen Begrenzung jeder Wirklichkeitsbeschreibung haben, um nicht in falscher Prätention zu einer unbegründeten Welterklärung auszuholen. Wir können so die begründete Vermutung äußern, dass der leibphänomenologische Ansatz eine gute Basis darstellt, um die Rede von Gott unter den Bedingungen der Neuzeit noch einmal neu zu konturieren. Aber es sind eher die Grundlagen der menschlichen Existenz, die die Philosophie Merleau-Pontys aufzeigt, an die wir anknüpfen wollen, als an seine verstreuten expliziten Hinweise auf die Inkarnation. Denn es ist deutlich, dass die Rede von Gott über das hinausgeht, was leibphänomenologische Erwägungen zeigen können und dass sie nicht einfach nur eine Variante einer spezifischen philosophischen Option ist. Vonseiten der Theologie sind Versuche unternommen worden, die terminologische Nähe der Inkarnation und weiterer verstreuter Bemerkungen für eine theologische Adaption der Theorie von Merleau-Ponty zu nutzen. Christopher Ben Simpson hat eine Monographie vorgelegt, die das Verhältnis der Philosophie von Merleau-Ponty zur Theologie diskutiert. 59 Er hebt hervor, dass der Gedanke der Inkarnation für Merleau-Ponty auch aus der Perspektive seiner Philosophie eine große Bedeutung hat. Simpson plädiert für die Möglichkeit, eine konzeptionelle Verbindung der Philosophie von Merleau-Ponty zu der Theologie herzustellen: »We hope to see the ›and‹ in ›Merleau-Ponty and theology‹ as conjunctive, as bringing together to bring things in new light.« 60 Simpson bezieht sich auf den Gedanken der Inkarnation, um die grundlegenden Bedingungen der leiblichen Existenz des Menschen zu beschreiben: Menschen sind inkarnierte Wesen. 61 Simpson zufolge zeigt sich in dieser Interpretation Vgl. Simpson 2014. Simpson 2014: 91. 61 Merleau-Ponty greift immer wieder den Begriff der Inkarnation auf, manchmal auch mit expliziten Verweis auf die Offenbarung Gottes in Christus: vgl. MerleauPonty 1945: 108; 337; Merleau-Ponty 2003: 53 f.; Merleau-Ponty 1948: 130; 173 f.; 235 ff.; Merleau-Ponty 1964: 127; Merleau-Ponty 1995: 194 f. In Merleau-Ponty 1945: 249 setzt der Philosoph seine Auffassung des Leibes sogar in einen Zusammen59 60

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Merleau-Ponty und der Gedanke der Inkarnation

Merleau-Pontys der Einfluss der Philosophie Hegels: »At its most developed, Merleau-Ponty’s vision of Christianity seems to be a kind of Hegelian Christianity (…) in which that the transcendent becomes incarnate and dies on the cross and so becomes immanent.« 62 Jedoch ist fraglich, ob man direkt an dem Merleau-Ponty’schen Gedanken der Inkarnation ansetzen sollte, wenn es darum geht, seine Philosophie für die Theologie aufzuarbeiten. Aufgrund der nur verstreuten Bemerkungen zu theologischen Themen scheint mir die Gefahr einer Überfrachtung dieser durch eine theologische Interpretation sehr groß. Der Ansatz von Simpson ist zu sehr von dem Wunsch beseelt, genau die terminologische Verbindung Leib-Inkarnation zu betonen. Er folgt in seiner Darstellung immer demselben Muster: Nach der Erörterung wichtiger Aussagen der Philosophie Merleau-Pontys folgen ähnlich lautende der theologischen Tradition, insbesondere Texte der Patristik. Dieses Darstellungsmuster handelt Simpson in drei größeren thematischen Bereichen ab, der Interpretation der Materie, des Lebendigen und des Menschlichen. Er stellt probate Zitate von Merleau-Ponty voran und setzt diese dann mit Zitaten von Kirchenvätern in Beziehung. Es bleibt die Frage, inwieweit hier eine systematische wechselseitige Interpretation geschieht oder ob hier nicht eher assoziative Verknüpfungen vorliegen. Es werden zwar Parallelen aufgezeigt, doch wo ist das theologisch Weiterführende, welche philosophischen Einsichten lassen sich so gewinnen? Im Folgenden werden wir von der terminologischen Besonderheit der verstreuten theologischen Aussagen und Anspielungen auf theologische Begrifflichkeiten in den Schriften Merleau-Pontys absehen und uns vielmehr mit dem Schema des Chiasmus auf die grundlegenden philosophischen Aussagen des Ansatzes beziehen sowie danach fragen, inwieweit diese Aussagen eine Basis für eine Reinterpretation der Rede von Gott bieten können.

hang mit der katholischen Sakramentenlehre: »So wie das Sakrament das Wirken der Gnade nicht in sinnlicher Gestalt symbolisiert, sondern darüber hinaus die wirkliche Gegenwart Gottes ist, diese einem Stück des Raums einwohnen lässt und denen vermittelt, die das geweihte Brot essen, wenn sie innerlich darauf vorbereitet sind, ebenso hat das Sinnliche nicht allein motorische und lebensmäßige Bedeutung, sondern ist nichts anderes als eine je bestimmte Weise des Zur-Welt-seins, die sich von einem Punkte des Raumes her sich uns anbietet und die unser Leib annimmt und übernimmt, wenn er dessen fähig ist; Empfindung ist buchstäblich eine Kommunion.« 62 Simpson 2014: 91.

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Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

10. Zur Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit Nach den bisherigen Überlegungen gibt es gute Gründe für die Annahme, dass das Schema des Chiasmus für die nähere Bestimmung der Rede von Gott hilfreich ist. Erstens basiert es auf einer grundlegenden Verbundenheit und Verschränkung von Beobachter und Beobachtetem, von Redendem und dem Gegenstand der Rede. 63 Diese Verschränkung ist zum einen basal für die Darstellung der Wirklichkeit, Beobachter und Beobachtetes können nicht getrennt werden. Auch für die Beantwortung der Frage nach der eigenen Identität gelten dieselben Verhältnisse: Der Fragende kann nicht von dem Befragten getrennt werden. Nicht anders sind die Verhältnisse aber auch in der Rede von Gott. Wer auch immer ernstlich von Gott redet und nicht von »Gott«, also nur eine kulturell verbürgte Vokabel nutzt, kann das nur so tun, dass sie oder er schon vorlaufend existentiell mit Gott in einer Beziehung steht. Es gibt für Gott keine objektivierende Sprache. Weder im Verhältnis zur Welt noch im Verhältnis zur eigenen Identität noch im Verhältnis zu Gott kann man also zunächst den eigenen Standpunkt unabhängig von dem zu Beschreibenden finden, um sich dann Welt, Selbst oder Gott in einem objektivierenden, distanzierenden Sinne zuzuwenden. In den vorangegangenen Untersuchungen hat sich sowohl für die Bestimmung der Wirklichkeit als auch für die Bestimmung der eigenen Identität das Schema des Chiasmus durch sein Differenzierungsvermögen bewährt. Das Schema kann der Verbundenheit ebenso gerecht werden wie dem menschlichen Vermögen der Distanzierung. Wenn es aber gelingt, diese beiden Bestimmungen durch den Chiasmus genauer zu beschreiben, ist das ein Hinweis darauf, dass das Schema auch in der Interpretation der Rede von Gott eine wichtige Aufgabe übernehmen kann. Zweitens hat der Chiasmus gerade darin seine Stärke, dass er auf die Eigenständigkeit jener Erscheinungsweise aufmerksam macht, die durch einen geringen Grad der Ordnung geprägt ist, die Erscheinungsweise X. In dieser Erscheinungsweise, so ist die Erwartung,

Christian Link bezieht sich mit einer ganz ähnlichen Intention auf die Theorie von Viktor von Weizsäcker, vgl. Link 1997: 131 ff.; Link 2012: 172 ff. Von Weizsäcker fordert die Einführung des Subjekts in die Wissenschaft: »Weizsäcker spricht von der ›Einführung des Subjekts in den Gegenstand‹, von der ›Anerkennung des Subjekts im Objekt‹. Link 2012: 177.

63

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Zur Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

wird man die Begründung für das unausweichliche Ringen um eindeutige Aussagen suchen können, das offenkundig mit der Rede von Gott notwendigerweise verknüpft ist, wie die Beobachtungen zu einigen zentralen Aussagen von Paulus im zweiten Kapitel ergeben haben. Die Botschaft von Kreuz und Auferstehung lässt sich durch die Ordnungsschemata dieser Welt nicht erfassen. Wenn nun die Wirklichkeit nach dem Chiasmus eine Erscheinungsweise beinhaltet, die sich einem Ordnungsstreben grundlegend entzieht, so korrespondiert das mit einer Eigenschaft der Rede von Gott, die mit einer unausweichlichen Ineffabilität verbunden ist, welche als das »Unbedingte«, das »Letztgültige«, das »Geheimnis« oder die »Lücke« bestimmt werden kann. Drittens gibt es im Schema des Chiasmus Erscheinungsweisen, deren Phänomene einen mittleren Grad der Ordnung aufweisen. Auch hier lässt sich an Beobachtungen zu Paulus anknüpfen: Die Rede von Gott entzieht sich zwar in einer Hinsicht dem menschlichen Ordnungsstreben, zugleich ist sie aber doch in Worte gefasst und steht in einem durch Texte aufgespannten Interpretationszusammenhang. Die Rede von Kreuz und Auferstehung ist bei allen Schwierigkeiten einer allgemein verbindlichen Deutung eine Rede und das heißt, sie ist in der Form einer begrifflich verfassten Sprache gegeben, sie findet ihren Niederschlag in Texten. Texte aber weisen einen höheren Grad von Ordnung auf als die Phänomene der Erscheinungsweise X und sind von geringerer Ordnung als wissenschaftliche Theorien. Daraus folgt für die christliche Rede von Gott eine prekäre Existenz in einem Zwischenraum zwischen hoch geordneten und begrifflich strukturierten Theorien auf der einen und unbegreiflichen Erfahrungen auf der anderen Seite, zwischen apophantischer Präzision und apophatischem Schweigen, zwischen vollkommener Ordnung und absoluter Ordnungslosigkeit. Offenkundig geht es in der Rede von Gott nicht allein um Ordnungslosigkeit und das Verstummen jeder sprachlichen Vermittlung wie in mystischen Traditionen. Es geht aber auch nicht darum, »ewige« Ordnungen zu etablieren, in die dann das Evangelium von Kreuz und Auferstehung integriert werden könnten und die einen umfassenden Überblick über die ganze Wirklichkeit lieferten. Vielmehr geht es um ein vorsichtiges und immer riskantes Changieren zwischen vorbehaltlichen Ordnungen der Worte einerseits und andererseits dem, was sich ihnen fundamental entzieht. Da das Schema des Chiasmus in der Lage ist, die Übergänge zwischen Ordnungslosigkeit und umfassender Ordnung auszuwei165 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Darstellung einer offenen Wirklichkeit

sen, ist zu erwarten, dass mit seiner Hilfe die Rede von Gott interpretiert werden kann. Schließlich: Wir haben in den Bemerkungen zu den Naturwissenschaften schon festgestellt, dass diese die Wirklichkeit unter methodischen Vorgaben betrachten, die eine Kompatibilität mit der Rede von Gott von Beginn an in Frage stellen. Die Wirklichkeit kann offenkundig sehr erfolgreich in dem Modus »etsi deus non daretur«, als ob es Gott nicht gäbe, beschrieben werden. In welcher Beziehung steht die naturwissenschaftliche Forschung zu der Rede von Gott? Auch dies lässt sich innerhalb des Schemas des Chiasmus darstellen, weil die äußeren Erscheinungsweisen von einer hohen Ordnung geprägt sind und in ihnen eine größere Distanz zum Ausdruck kommen kann. Phänomene, die sich auf diese Weise zeigen, lassen sich prima facie nicht mit der Rede von Gott in Beziehung setzen. Doch diese Trennung wirft zugleich weitergehende Fragen auf: Sind diese Phänomene dann außerhalb des Geltungsbereichs der Rede von Gott? Dies würde ohne Zweifel grundlegenden Vorstellungen von Gott als dem Schöpfer von Himmel und Erde widersprechen. Es muss also eine Möglichkeit geben, auch diese Phänomene mit der Rede von Gott so »in Beziehung« zu setzen, dass weder die Rede von Gott Teil der objektivierenden Darstellung der Welt wird, noch die objektivierende Darstellung einen Sonderstatus jenseits des Geltungsbereichs der Rede von Gott erhält. In dem Schema des Chiasmus zeigt sich die Möglichkeit einer Interpretation dieses Problems, die auf die Phänomene der Erscheinungsweise X verweist. Zusammengefasst kann man aufgrund der Differenzierungsfähigkeit des Schemas die begründete Vermutung aussprechen, dass es einen hilfreichen heuristischen Rahmen bietet, um der Wirklichkeitsrelevanz der Rede von Gott auf die Spur zu kommen. Der Chiasmus bildet eine Grundlage für eine Interpretation der Rede von Gott, ohne seinerseits umfassende Ordnungen zu etablieren. Damit lässt sich auch eine Schwierigkeit umgehen, die in der Theologie zu einer langen und im 20. Jahrhundert intensiv geführten Diskussion darum geführt hat, auf welcher erkenntnistheoretischen Basis man Aussagen über Gott machen kann. Theologen wie Schleiermacher und, ihn heute deutend, Ulrich Barth haben über eine Interpretation des Selbstbewusstseins einen Ansatz entwickelt, um eine aus ihrer Sicht mit der Moderne kompatible Beschreibung der Rede von Gott zu finden. Demgegenüber haben Theologen wie Karl Barth das »Wort Gottes« zu einer letztgültigen Instanz erhoben, die darüber entscheidet, 166 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zur Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit

was von Gott gesagt werden kann und was nicht. Nur von dem »Wort Gottes« aus sei dann wahre Erkenntnis der Welt und des Menschen möglich, der Mensch müsse sich vor allem als Hörender verstehen, der erst durch das Hören des Wortes dazu in die Lage versetzt wird, auch von Gott zu reden. Durch diese unterschiedlichen Ansatzpunkte entstanden zwei gegensätzliche theologische Lager – ein Streit zwischen einer »Theologie von oben«, die beim Wort Gottes ansetzt, und einer »Theologie von unten«, die bei den Erkenntnisbedingungen des Menschen ansetzt. Beide Positionen implizieren aber in ihrer Argumentation, dass sie für die jeweilige Ausgangslage so etwas wie eine maßgebliche Ordnung postulieren können, entweder im Wort Gottes und seiner geschichtlichen Entfaltung oder in der reflexiven Bestimmung des neuzeitlichen Subjekts. Innerhalb des leibphänomenologisch begründeten Schemas des Chiasmus aber müssen beide Begründungen im Hinblick auf ihren jeweilig umfassenden Ordnungsanspruch kritisiert werden. Philosophische Ansätze wie auch die Theologie als Reflexionsform der Rede von Gott müssen unter diesen Bedingungen bescheidener argumentieren. Weder kann eine Theorie des Wortes Gottes noch eine transzendentale Analyse des Subjekts Grundlage für eine umfassende Ordnung zur Beschreibung der Wirklichkeit sein. Das Schema des Chiasmus bietet nur eine sehr vorläufige und unvollständige Ordnung, es ist ja selbst Teil der Erscheinungsweise Kulturg. Die Reflexion der Rede von Gott ist unter den Bedingungen der Erscheinungsweise Kulturg von unaufhebbaren Spannungen gekennzeichnet. So lautet die philosophische und auch theologische Grundfrage: Wie können wir mit der Einsicht in unsere begrenzte Erkenntnisfähigkeit umgehen, die aber gerade in ihrer Begrenztheit Erkenntnisfähigkeit ist und bleibt? Ebenso wie die säkularen Versuche einer Orientierung in der Wirklichkeit hat auch die Theologie nur vorbehaltliche Argumentationsmuster und muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass die Rede von Gott alle theologischen Denkversuche übersteigt, wenn sie denn wahrhaft Rede von Gott ist.

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6. Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

Die Darstellung der Wirklichkeit mit Hilfe des Schemas des Chiasmus legt nahe, dass eine detailliertere Untersuchung der Rede von Gott ein schrittweises und unterscheidendes Vorgehen erfordert, das die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Schemas in ihren jeweiligen Eigenarten berücksichtigt. Da Reden Teil der Erscheinungsweise Kulturg sind, ist vorgezeichnet, dass wir uns in der Beschäftigung mit der Rede von Gott zunächst den Erscheinungsweisen Kultur zuzuwenden haben. Hier sind die Erscheinungsweisen verortet, die sich durch hermeneutische Methoden (Erscheinungsweise Kulturg) und denen der Geschichtswissenschaften (Erscheinungsweise Kulturd) erschließen lassen. Stets aber bleibt die Spannung zu den Phänomenen, die sich diesen Methoden entziehen, einerseits den Phänomenen der Erscheinungsweise X, andererseits den Phänomenen der äußeren Erscheinungsweisen. Die Rede von Gott weist auf das Ganze 168 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

der Wirklichkeit. Der Anspruch der Rede von Gott ist umfassend, und so werden wir uns nach einer Beschäftigung mit den Phänomenen der Erscheinungsweisen Kultur in den folgenden Kapiteln auch mit den weiteren Erscheinungsweisen des Chiasmus befassen.

1.

Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

Die Bedingungen einer Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur wollen wir mit Hilfe der Theorie von Paul Ricœur untersuchen und dabei an seine Darstellung der hermeneutischen Methoden anknüpfen. In der Untersuchung »Identität in einer offenen Wirklichkeit« konnten die Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur sowohl mit der Ricœur’schen Theorie der Zeit als auch mit seiner Theorie der Hermeutik erschlossen werden. In einem ersten Schritt wollen wir nun die hermeneutischen Überlegungen Ricœurs in einer besonderen Hinsicht darstellen, die für die Rede von Gott eine weitreichende Bedeutung hat. In immer neuen Varianten hat Ricœur die Spannungen herausgearbeitet, die die Ordnungen von Texten und Erzählungen durchziehen. Schon die Lage der Erscheinungsweisen Kultur im Chiasmus legt diese Spannungen nahe, denn für diese Erscheinungsweisen existieren aufgrund der Mittellage zugleich zwei Randbedingungen: Auf der einen Seite schließen sich die Phänomene an, die sich einer sprachlichen Vermittlung weitgehend entziehen (Erscheinungsweise X), auf der anderen Seite stehen jene Phänomene, die mit ausdifferenzierten Methoden und hochgradigen Ordnungen verbunden sind (Erscheinungsweise Ding, Erscheinungsweise Gedanke). Die Erscheinungsweisen Kultur sind zwischen zwei Extreme eingespannt, ihre Beschreibung kann weder den Weg einer geschlossenen, in sich konsistenten Theorie noch den Weg der Konzentration auf sogenannte unmittelbare Erfahrungen wählen. Die Bedingungen einer allgemeinen Hermeneutik erfahren in der Rede von Gott eine Zuspitzung. Die Beobachtungen bei Paulus haben gezeigt, dass die Rede von Gott in besonderer Weise von Spannungen durchzogen ist, in Barth’scher Terminologie: Menschen sollen von Gott reden und können als Menschen nicht von Gott reden. Paulus bemüht sich, das, was alle Ordnungen sprengt, die Rede von Kreuz und Auferstehung, in den traditionellen Strukturen der Rede von dem Gott Israels zum Ausdruck zu bringen. Die Unterscheidungsleistung, die hier gefor169 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

dert wird, ist auch in der Darstellung liberaler theologischer Ansätze deutlich geworden, nicht nur als Abgrenzung zu den Naturwissenschaften, sondern auch als Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem.

A.

Das verletzte cogito: Zwischen Phänomenologie und Hermeneutik

Der hermeneutische Ansatz von Ricœur ist dadurch ausgezeichnet, dass er solche spannungsvollen Konstellationen nicht einebnet, sondern dass er das Gegensätzliche, das, was in den Ordnungen nicht aufgeht, bestehen lässt, um es für weitere Untersuchungen fruchtbar zu machen. Ricœur selbst hat die Frage gestellt, welchen Ertrag seine hermeneutischen Untersuchungen für die Interpretation der Rede von Gott haben. Dem wollen wir nach einer Darstellung der Spannungen in seiner allgemeinen Hermeneutik in einem zweiten Schritt nachgehen. Ricœurs Philosophie ist darauf ausgerichtet, heterogene Methoden in seine Untersuchungen aufzunehmen sowie unterschiedliche Strategien und Methoden mit ihren jeweiligen Stärken und Begrenzungen in die Überlegungen einzubeziehen. So wenig es die eine Methode philosophischen Erkennens gibt, so wenig gibt es eine endgültige Absicherung des Erkennens, einen unhinterfragbaren Anfangs- oder Endpunkt. Die kritische Haltung gegenüber jeder Vorstellung einer unmittelbaren Absicherung der eigenen Erkenntniskräfte erläutert Ricœur anhand einer Auseinandersetzung mit der Descartes’schen Lehre vom cogito. Letzterer sah in dem »cogito sum« und somit in der res cogitans eine unbezweifelbare Basis für die Entfaltung einer Philosophie, die auf sicherem Grund baut, ein »fundamentum inconcussum«. Ricœur lehnt dieses Ansinnen einer abgesicherten Philosophie ab und weist nach, dass auch Descartes nicht von der Setzung des cogito allein sein Projekt der Erkenntnis startet, sondern weitere Hilfsannahmen braucht. Descartes bedarf des Verweises auf einen wahrhaftigen Gott, um die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen als Teil der res cogitans über die von ihr völlig zu unterscheidende res extensa absichern zu können. 1 Doch ebenso wenig Ricœur resümiert seine kritischen Überlegungen zur Kraft des cogito-Arguments: »Eine Alternative scheint dann offenzustehen: Entweder hat das Cogito einen Begründungswert, aber es ist eine unfruchtbare Wahrheit, aus der nichts folgt (…) oder

1

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Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

wie Ricœur dem philosophischen Entwurf von Descartes folgt, ist er bereit, sich den radikalen Folgerungen Nietzsches anzuschließen, der den Zweifel des Descartes radikalisiert. Nietzsche bezweifelt nicht nur eine unerschütterliche Ausgangsbasis für die Philosophie, sondern auch die konstitutive Differenz von Wahrheit und Lüge. Ricœur entscheidet sich für einen Weg, der einen mittleren Weg zwischen einer Proklamation eines unmittelbaren Zugangs zur Wahrheit wie bei Descartes und einer Hinterfragung aller Sicherheit wie bei Nietzsche sucht. So formuliert er für den von ihm favorisierten Erkenntnisweg der Hermeneutik die programmatische Frage: »Inwiefern kann man von der hier ins Werk gesetzten Hermeneutik des Selbst sagen, dass sie einen epistemischen (…) Ort einnimmt, der jenseits der Alternative zwischen Cogito und Anti-Cogito angesiedelt wird?« 2 Es gibt aufgrund der endlichen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis keine Möglichkeit, über die Reflexion auf einen Punkt unmittelbarer Gewissheit zu stoßen. Die methodisch geleitete Erkenntnis kann nach Ricœur relative Sicherheiten gewährleisten, aber keine eindeutige Wahrheit garantieren. Es sind Umwege notwendig, über Symbole, über Texte, über die Analyse des Handelns, nur so ist ein Zugang zur Selbstvergewisserung möglich. 3 Statt eines selbstgewissen cogito als Grundlage für die Beschreibung des Selbst und der Welt zeigt Ricœur, dass unser Ausgangspunkt die Gestalt »eines kämpfenden und verletzten Cogito ist« 4. Das philosophische Selbstverständnis Ricœurs ist sowohl durch die Traditionen von Phänomenologie als auch durch die der Hermeneutik geprägt. Beide philosophischen Schulen betonen auf unterschiedliche Weise, dass es nicht möglich ist, einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit mit philosophischen Mitteln zu beschreiben und zu begründen, dass es keine unerschütterlichen Ausgangspunkte oder letztgültige Antworten geben kann. Phänomenologie und Hermeneutik stehen nach Ricœur in einem so engen Zusammenhang, dass

aber es ist die Idee der Vollkommenheit, die es in seinem Status als endliches Wesen begründet, und in diesem Fall verliert die erste Wahrheit die Gloriole des erstursprünglichen Grundes.« Ricœur 1990 (1): 20. 2 Ricœur 1990 (1): 26. 3 »Indem ich von einem Umweg über die Symbolik sprach, stellte ich eine Husserl und Descartes gemeinsame Voraussetzung in Frage, nämlich die der Unmittelbarkeit, der Transparenz und der Apodiktizität des Cogito.« Ricœur 1995 (1): 23. 4 Ricœur 1995 (1): 33.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

sie einander wechselseitig Voraussetzung sein können. 5 Beide Ansätze haben darin eine fundamentale Gemeinsamkeit, dass sie sich um die Bestimmung von Bedeutung bemühen, 6 beide sind aufeinander bezogen. 7 Es ist insbesondere die Aufgabe der Phänomenologie, auf das hinzuweisen, was einer sprachlichen Vermittlung vorgelagert ist, was schon da ist, bevor etwas zur Sprache kommt. Zur Charakterisierung der Phänomene ist die Intentionalität für Ricœur von größter Bedeutung, denn ein Phänomen ist seiner Ansicht nach immer dadurch gekennzeichnet, dass das Bewusstsein über sich selbst hinausweist, dass sich das Phänomen als ein Bewusstsein »von etwas« erweist. 8 Die Ricœur’sche Auffassung von Phänomenologie wendet sich gegen jede idealistische Interpretation und damit aus seiner Sicht auch gegen die Interpretation des Inaugurators phänomenologischer Forschung, Edmund Husserl. 9 Ricœurs Beschreibung der Phänomenologie lässt ihre Ausweitung auf die Methoden der Hermeneutik folgerichtig erscheinen, denn er interpretiert beide in einer anti-idealistischen Weise. 10 Zu Beginn des philosophischen Weges Ricœurs hatten nach eigenem Bekunden die Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty einen großen Einfluss. 11 Ricœurs Einsicht in die menschliche Unfähigkeit, durch Reflexion letzte Gewissheiten erlangen zu können, steht in einer großen Nähe zu dessen philosophischem Ansatz. Merleau-Ponty hat schon früh die Unmöglichkeit betont, mit Hilfe der phänomenologischen Reduktion zu einem reinen, nicht hinterfragbaren Ausgangspunkt zu gelangen. Im Gegenteil, um ein Verständnis der Welt und des Selbst zu erzielen, ist es geradezu notwendig, die nicht ein»(B)eyond the simple opposition there exists, between phenomenology and hermeneutics, a mutual belonging that it is important to make explicit.« Ricœur 1986(1): 23. 6 »(…) the central question of phenomenology must be recognized as a question about meaning. (…) The choice in favor of meaning is thus the most general presupposition of any hermeneutics.« Ricœur 1986(1): 36. 7 Vgl. Ricœur 1986(1): 23 f. 8 »The reference of the linguistic order back to the structure of experience (…) constitutes, in my view, the most important phenomenological presupposition of hermeneutics.« Ricœur 1986(1): 39. 9 Vgl. Ricœur 1986(1): 24 ff. 10 Im Rückblick auf die Entwicklung seiner Philosophie bezieht sich Ricœur auf zwei grundlegende Entscheidungen und hält für die zweite fest: »Die zweite Entscheidung enthielt im Kern das, was ich später die Einführung der Hermeneutik in die Phänomenologie nennen sollte.« Ricœur 1995 (1): 22. 11 Vgl. Ricœur 1995 (1): 15. 5

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Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

holbaren Voraussetzungen des Erkennens zu akzeptieren. So fordert Merleau-Ponty, »dass ein Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt notwendig ist, soll die Welt erblickt und ihr Paradox erfasst werden können, dieser Bruch aber nichts uns zu lehren hat als ihr unmotiviertes Entspringen. Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion.« 12 Doch gibt es auch klar erkennbare Akzentunterschiede zwischen den beiden Philosophen, wenn es darum geht, Folgerungen aus der Grundeinsicht abzuleiten. Während der späte Merleau-Ponty vor allem darum rang, eine Beschreibungsform für das zu finden, was wir immer schon voraussetzen, wenn wir über die Welt oder über uns Rechenschaft ablegen, und nicht vor kryptischen und gewagten Metaphern zurückschreckte, hat Ricœur sich stärker darum bemüht, auf methodisch abgesicherten Wegen das Gelände zu sondieren, darum wissend, dass er so nicht zu dem eigentlichen Ziel vordringen wird, dass alle Ergebnisse vorbehaltlich sind. Innerhalb des Schemas des Chiasmus lassen sich diese unterschiedlichen Akzentuierungen der beiden Philosophen verschiedenen Erscheinungsweisen zuordnen: Während der späte Merleau-Ponty eher den Phänomenen der Erscheinungsweise X einen angemessenen Ausdruck geben wollte, hat Ricœur die sprachliche Vermittlung und die hermeneutischen Methoden und damit die Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt.

B.

Die Methodenvielfalt der hermeneutischen Untersuchungen Ricœurs

Aus der Einsicht in die Notwendigkeit, methodisch geleitete Umwege zu gehen, resultiert die Ricœur’sche Sensibilität für die Eigenständigkeit und Irreduzibilität unterschiedlicher Erkenntnismethoden. Zu dem von ihm verwendeten Arsenal von Methoden gehören Ansätze der strukturalistischen Literaturtheorie, der analytischen Philosophie, der Geschichtswissenschaften, der Linguistik, der Semiotik, aber auch der Naturwissenschaften. Er kann sich etwa positiv auf die Psychoanalyse beziehen und berücksichtigt zugleich Positionen der Reflexionsphilosophie und der neueren Phänomenologie: »Die Anerkennung der Gleichberechtigung rivalisierender Interpretationen 12

Merleau-Ponty 1945: 11.

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schien mir zu einer wahrhaften Deontologie der Reflexion und der philosophischen Spekulation zu gehören. In meinen Augen reihte sich Freud in eine leicht zu identifizierende Tradition ein, eine Tradition der Hermeneutik des Verdachts, die Feuerbach, Marx und Nietzsche weiterführt. Ihr standen die von Jean Narbert veranschaulichte Reflexionsphilosophie, die von Merleau-Ponty bereicherte Phänomenologie sowie die von Gadamer veranschaulichte und auf brilliante Weise erneuerte Hermeneutik gegenüber (…).« 13 Diese Offenheit im Hinblick auf differente Methoden hat eine große Nähe zu dem hier vertretenen leibphilosophischen Ansatz, denn die Differenzierung der Erscheinungsweisen ist ja mit unterschiedlichen Methoden korreliert. Die Hermeneutik ist nach Ricœur die Theorie der regelgerechten Auslegung, insbesondere der Auslegung von Texten. 14 »Ich nehme hier an, dass das Hauptproblem der Hermeneutik jenes der Interpretation ist.« 15 Ricœur betont die Arbeit an den Texten, weil es deren Eigenart ist, außerhalb einer direkten Kommunikation zwischen Menschen in einer gewissen Eigenständigkeit zu existieren. Der Text hat seine große Bedeutung darin, dass er die Notwendigkeit methodischen Erkennens vor Augen führt und eine Sphäre jenseits von unmittelbaren Kommunikationsformen unterstreicht. Dadurch kann Ricœur der Vorstellung entgegentreten, Hermeneutik habe es mit dem Erkennen einer unmittelbaren Kommunikation zwischen Menschen zu tun. Ein besonderes Augenmerk legte Ricœur auf jene Methoden, die die Interpretation von Zeichen, Symbolen und Texten ermöglichen. 16 Texte sind weder einfach nur Teil eines unmittelbaren Geschehens zwischen Ich und Du noch sind sie Teil einer umfassenden Ordnung, die so etwas wie das »Land der Wahrheit« bilden könnte. Hier klingt wiederum die Mittellage der Erscheinungsweisen Kultur im Chiasmus an. Texte sind unerlässliche, aber begrenzte Hilfsmittel für das »bedürftige« und »verletzte« cogito. Das cogito ist in der Interpretation Ricœurs eine offene Größe, das menschliche Ricœur 1995 (1): 31. »Hermeneutics is the theory of the operations of understanding in their relation to the interpretation of texts.« Ricœur 1986(3): 51. 15 Ricœur 1972(2): 109. 16 »I can sum up these epistemological consequences in the following way: there is no self-understanding that is not mediated by signs, symbols and texts; in the last resort understanding coincides with the interpretation given to these mediating terms.« Ricœur 1986 (2): 15. 13 14

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Bewusstsein bleibt auf ein Außerhalb seiner selbst angewiesen. Auch die verwendeten Texte und sprachlichen Strukturen sind nicht selbstgenügsam und in sich abgeschlossen, vielmehr bieten sie als Umwege Hilfen zur Orientierung. 17 Sie bereiten im gelingenden Fall einen Weg zur Selbstfindung und zur Erkenntnis der Welt, es ist aber nicht garantiert, dass die Beschäftigung mit Texten zum Ziel führt. Jede philosophische Erkenntnis bleibt vorbehaltlich. Die Anwendung von Methoden garantiert in der Hermeneutik, dass Zugänge zur Welt und zum Selbst nur über Umwege möglich sind. 18 Schriftlich verfasste Texte haben als fixierte Sprachformen einen eigenen Status und sind in einem gewissen Umfang unabhängig von der Situation, in der sie entstanden sind, und von der Situation, in der sie rezipiert werden. Diese kulturellen Ausdrucksformen konstituieren in der Form der Verschriftlichung eine Eigenständigkeit sowohl gegenüber Ausdrucks- wie auch gegenüber Rezeptionswünschen, sie bieten einen Widerstand gegen ihre Vereinnahmung und zwingen so zu einer indirekten Erkenntnis. Die Hermeneutik steht vor einer besonderen Herausforderung, »weil es Texte, geschriebene Texte gibt, deren Autonomie besondere Schwierigkeiten hervorruft.« 19 Die Konzentration auf die Interpretation von Texten vollzieht Ricœur in bewusster Absetzung gegenüber einer eher existentialen Bestimmung der Hermeneutik, wie sie von Heidegger und Gadamer vorgenommen worden ist, und ebenso versucht er, sich von einer Engführung der Interpretation und des Verständnisses von Hermeneutik in der romantischen Tradition abzusetzen. 20 Die Form der Schrift ist ihm außerdem wichtig, weil er ihr einen Weltbegriff zuordnen kann. 21 Texte entfalten nach Ricœur eine Welt »This vehement insistence on preventing language from closing up on itself I have inherited from Heidegger’s Being and Time and from Gadamer’s Truth and Method.« Ricœur 1986 (2): 19. 18 Hier zeigen sich klare Unterschiede zu den theoretischen Ansätzen von Gadamer. So kann Ricœur kritisch in Richtung auf Gadamer fragen: »The question is to what extent the work deserves to be called Truth AND Method, or whether it ought not to be entitled instead Truth OR Method.« Ricœur 1986(3): 69. 19 Ricœur 1972(2): 109. 20 Der Kritikpunkt gegenüber Gadamer ist neben der Rolle von Methoden in dessen Theorie, dass dieser die Distanz der Texte etwa durch Effekte der Verfremdung nicht angemessen zum Ausdruck bringt: »This first modality of autonomy encourages us to recognize a positive significance in Verfremdung, a significance that cannot be reduced to the nuance of decline that Gadamer tends to give to it.« Ricœur 1986 (4): 80. 21 Vgl. Ricœur 1974 (2): 31 f.; Ricœur 1986 (4): 81 f. Diese Begründungsfigur scheint 17

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vor der Leserin, dem Leser; diese Welt ist nicht identisch mit der Welt dessen, der den Text verfasst hat. Die Welt des Textes hat so wie der Text selbst eine gewisse Eigenständigkeit. »Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Genau dies nenne ich Textwelt, die diesem einzigen Text eigene Welt.« 22 Zugleich aber bleibt der Text an der Kommunikationsform der Rede orientiert, Texte sind nach wie vor Teil der menschlichen Kommunikation und keine abgesonderten Artefakte. »Der Abstand, der sich zwischen einem Text einerseits und dem Autor, der ursprünglichen Situation und den ersten Hörern andererseits einstellt, vermag den Redecharakter nicht zu beseitigen, der Texte immer noch in der Sphäre der Sprache festhält.« 23 Ricœur resümiert daraus, wie schon zitiert, den Schluss, dass für die Hermeneutik der Text ebenso Gegenstand ist wie die Rede, da beide aufeinander verweisen. 24 Deshalb ist es statthaft, in den folgenden Überlegungen die Ausführungen von Ricœur zu Texten für einen allgemeineren Redebegriff zu verwenden, so auch für die Rede von Gott.

C.

Spannungen in hermeneutisch erschlossenen Strukturen

Der philosophische Ansatz Ricœurs identifiziert immer wieder neue Spannungsfelder, innerhalb derer sich der hermeneutische Prozess bewähren muss. Diese Spannungen sind konstitutiv, die Hermeneutik kann sie nicht mit ihren eigenen Mitteln auflösen und ein konsisRicœur allerdings nach seiner eingehenden Beschäftigung mit der Erzählung in den 80er Jahren zurückgestellt zu haben. Aus noch zu erläuternden Gründen ist sie für den hier vertretenen Ansatz problematisch, denn der Weltbegriff betont eine gewisse Abgeschlossenheit. 22 Ricœur 1974 (2): 32. 23 Ricœur 1975 (1): 275. 24 Vgl. Ricœur 1975 (1): 275. Hier gibt es offenkundig eine gewisse Akzentverschiebung in der Entwicklung der Argumentation von Ricœur im Verlauf seines Schaffens, da er in kurz zuvor erschienen Schriften eher die Differenz von Text und Rede hervorgehoben hat. So sieht er in »Philosophische und theologische Hermeneutik« beim »Übergang vom Wort zur Schrift entscheidende Veränderungen, die ihrerseits einen ersten Zugang zum hermeneutischen Problem bilden.« Ricœur 1974 (2): 28. Offenkundig hat Ricœur erkannt, dass die Eigenständigkeit von Texten nicht in der schriftlichen Form liegt, sondern in ihrer semantischen Struktur als Mythos. Dies prägt auch seine spätere Behandlung von Erzählungen. Vgl. Ricœur 1983: 104 ff.

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Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

tentes System schaffen, im Gegenteil, die Hermeneutik ist selbst durch spannungsvolle Verhältnisse geprägt. Während manche Strömungen der Hermeneutik, zu denen Ricœur auch die Arbeiten von Gadamer rechnet, ihre bewahrende Seite betonen und die Abhängigkeit von Traditionen in den Vordergrund stellen, gibt es andere Strömungen, die eher eine Hermeneutik des Verdachts bevorzugen, in der kritische Ansätze auf verschwiegene Interessen oder undurchschaubare Abhängigkeiten hinweisen. Er führt als Beispiele für die letztere Strömung erkenntniskritische Positionen an, wie sie Freud, Marx oder naturwissenschaftlich orientierte Autoren ausgearbeitet haben. Ricœur schließt nicht eine Seite zugunsten der jeweils anderen aus, sondern versucht, deren Unterschiede für eine hermeneutische Analyse fruchtbar zu machen, die sich an Differenzen abarbeitet. Der Konflikt unterschiedlicher Interpretationswege ist nicht nur durch Spezifika der jeweils verhandelten Themen beeinflusst, sondern offenbart die grundlegende Ausrichtung des Erkenntnisinteresses Ricœurs. Theissen hat als Zentrum des Ricœur’schen Anliegens den »hermeneutischen Konflikt« identifiziert. »Das Grundproblem von P. Ricœur ist der hermeneutische Konflikt zwischen reduktionistischem Erklären und einem den Sinn erhaltenden Verstehen.« 25 Theissen sieht in dieser Haltung eine adäquate Reaktion auf die gegenwärtigen Herausforderungen, er weist darauf hin, »dass der hermeneutische Konflikt zwischen reduktionistischem Erklären und bewahrendem Verstehen ein Zeichen unserer Zeit ist.« 26 Der hermeneutische Konflikt ist deshalb »ein Thema, dass das ganze Lebenswerk von P. Ricœur prägt.« 27 Die systematische Ausrichtung der Philosophie Ricœurs auf nicht auflösbare, methodisch begründete Spannungen sieht auch Mattern. Er urteilt: »Als dritter Weg zwischen der Konzeption eines totalitären Metadiskurses und der These einer radikalen, unüberbrückbaren Differenz unterschiedlicher Diskursarten vertritt er eine Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität der Diskurssphären (…).« 28 Die Methoden der Hermeneutik ermöglichen nach Ricœur nicht nur die Bestätigung einer vorgängigen Verbundenheit mit dem zu Untersuchenden, sondern auch die FähigTheissen 2013: 259. Theissen 2013: 258. Wir werden weiter unten sehen, dass gerade in der Interpretation theologischer Texte dieser Konflikt eine grundlegende Bedeutung hat, worauf auch Theissen hinweist, vgl. Theissen 2013: 272. 27 Theissen 2013: 263. 28 Mattern 1996: 216. 25 26

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

keit zur distanzierenden Kritik, bis hin zur Ideologiekritik. Rückblickend sagt Ricœur zu seiner Auffassung von Hermeneutik: »Die Ideologiekritik (…) schien mir das Moment der Distanzierung zu verstärken, das ich als dem eben erwähnten Moment der Zugehörigkeit zur Welt dialektisch entgegengesetzt betrachtete.« 29 Hermeneutik muss zweierlei zugleich gerecht werden: der Einsicht in die Verbundenheit und der Fähigkeit und Notwendigkeit zur Distanzierung. Die fundamentale Spannung, die die Hermeneutik von Ricœur bestimmt, kommt nicht nur in den grundsätzlichen Reflexionen des hermeneutischen Ansatzes, sondern an vielen Stellen der jeweiligen Einzelanalysen zum Ausdruck, von denen einige hier genannt werden sollen. Die Spannungen zehren von vorgegebenen, aber nicht aufeinander zu reduzierenden Ordnungen oder Beschreibungsweisen. Die Gegensätze, die sich je und je in der hermeneutischen Erschließung der Wirklichkeit zeigen, werden für neue Einsichten fruchtbar gemacht. Die folgenden Beispiele beziehen sich auf die Theorie der Zeit, die Theorie der Metapher und der Erzählung und der Analyse des Selbst. In »Zeit und Erzählung« entwickelt Ricœur eine Theorie der Zeit, die es ihm ermöglicht, unterschiedliche Zeitaspekte miteinander in Beziehung zu setzen, ohne ihre Unterschiedlichkeit deshalb aufzuheben. So findet er diametral entgegengesetzte Beschreibungen der Zeit in den Naturwissenschaften und in phänomenologischen Untersuchungen. Die Naturwissenschaften sind von einer methodischen Distanzierung geprägt, wohingegen phänomenologische Ansätze die Aufmerksamkeit auf das lenken, womit der Betrachter immer schon verbunden ist. Die Lösung Ricœurs für dieses Problem ist nicht, die eine Interpretation der anderen gegenüber vorzuziehen, 30 es geht auch nicht darum, den Konflikt durch eine dritte Form »aufzuheben«. Der Konflikt bleibt bestehen und evoziert auf diese Weise so etwas wie eine dritte Form der Zeit, die historische Zeit, die narrativen Prozeduren zugänglich ist: »Eine dritte Option, die sich aus dem Durcharbeiten der Aporien der Phänomenologie der Zeit ergibt, besteht in einem Nachdenken über die Stelle der historischen Zeit zwischen der phänomenologischen Zeit und der Zeit, die die Phänomenologie nicht zu konstituieren vermag, und die man die Zeit der Welt, Ricœur 1995 (1): 50. Dies wäre etwa die Haltung Heideggers, der die Zeit der Physik als vulgäre Zeit beschreibt. Dies wäre aber auch die Haltung mancher Vertreter des Naturalismus, die die phänomenologische Zeit als subjektiv und deshalb als irrelevant abtun würden.

29 30

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Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

die objektive oder vulgäre Zeit nennt.« 31 Die neue Zeit erscheint in einem »Zwischen«, das die Spannung zwischen den beiden anderen Formen der Zeit nicht aufhebt, sondern auf veränderte Weise zum Ausdruck bringt. Ricœur entwickelt eine Theorie der Metapher, die deren doppelte Referenz hervorhebt: Die Metapher entzieht sich einer klaren Einordnung, weil sie zugleich von zwei Referenzen unterschiedlicher Ordnungen bestimmt ist. Wenn der kämpfende Achill Löwe genannt wird, dann stoßen zwei Semantiken aufeinander: Auf der einen Seite steht im Satzkontext die Prädizierung des Menschen Achill, auf der anderen Seite ein Begriff, der nach lexikalischen Vorgaben auf eine Tierart anzuwenden ist. Dadurch entsteht eine Spannung, die sich zunächst einmal in der Semantik zeigt, das, worauf sich die Metapher bezieht, ist nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Auch Ricœurs Interpretation der Metapher zielt so auf eine »Theorie der Spannung« 32. Dabei ist entscheidend, dass ein Begriff gerade dadurch zu einer Metapher wird, dass er sich der semantischen Vorgabe des Satzes entzieht, sie unbestimmt transzendiert: »Metaphern der Spannung ergeben einen Sinn auf der Ebene des Satzes, weil sie die Bedeutung der Wörter verdrehen.« 33 Diese Operation hat nach Ricœur weitreichende Konsequenzen, nicht nur textimmanente, sondern auch ontologische: »(…) wir sagten, dass die verdoppelte Referenz bedeutet, dass die für die metaphorische Aussage charakteristische Spannung letztlich von der Kopula ist getragen wird. Sein-wie heißt sein und nicht sein.« 34 Diese Interpretation von Metaphern zielt auf die Anerkennung nicht auflösbarer Spannungen, die besonders in poetischen Textformen zum Ausdruck kommen: »Was die ›Spannungs‹Wahrheit der Dichtung zu denken gibt, das ist die ursprünglichste und verborgenste Dialektik: diejenige zwischen der Zugehörigkeitserfahrung in ihrer Gesamtheit und dem Distanzierungsvermögen, das den Raum des spekulativen Denkens eröffnet.« 35 Eine weitere grundlegende Spannung findet Ricœur in der Interpretation von Erzählungen. Er legt die Theorie des mythos des Aristoteles zugrunde, um die Bedingungen seiner Erzähltheorie entfalten

31 32 33 34 35

Ricœur 1985: 165. (Hervorhebung im Original) Ricœur 1975 (2): 239. Ricœur 1975 (1): 302. Ricœur 1975 (2): 290. Ricœur 1975 (2): 304.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

zu können. Der Ausgangspunkt ist jener mythos, der gerade in seiner tragischen Form eine große Strenge hat: »Die Definition des mythos als Zusammensetzung der Handlungen betont zunächst die Konsonanz, die durch drei Merkmale gekennzeichnet ist: Vollständigkeit, Totalität, entsprechender Umfang.« 36 Der mythos ist so von einer großen inneren Stringenz geprägt, es geht um überzeitliche Ordnungen, um »ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Akzidentiellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen.« 37 In dieser Schilderung läge eine klare Bevorzugung von Ordnungen, die Ricœur aber gleich wieder relativiert, indem er feststellt: »Das tragische Modell ist nicht bloß ein Modell der Konsonanz, sondern der dissonanten Konsonanz.« 38 Hier kommt wiederum eine konstitutive Spannung zum Vorschein: Eine Erzählung würde nur eine Ordnung bestätigen, aber nicht tragisch sein können, wenn sie allein von Konsonanz durch eine umfassende Ordnung bestimmt wäre. Allerdings gibt es hier eine Tendenz zur Auflösung der Spannung, nämlich die, dass der mythos, die Fabel, die dissonanten Ereignisse in die Ordnung der Erzählung einbezieht und so entkräftet: »Diese dissonanten Ereignisse will die Fabel notwendig und wahrscheinlich machen. Dadurch reinigt oder besser läutert sie sie.« 39 So streben Erzählungen zur Konsonanz, sie versuchen eine dauerhafte Ordnung zu etablieren. Nach Ricœur hat aber die Erkenntniskraft der Erzählungen »more kinship with practical wisdom or moral judgement than with theoretical reason.« 40 Die Rationalität von Erzählungen ist von geringerem Grade als die der wissenschaftlichen Theorien. Es ist offensichtlich, dass dieser Versuch der Etablierung von vorbehaltlichen Ordnungen durch Erzählungen ein kontinuierlicher und dauerhafter Prozess ist und unter menschlichen Verhältnissen nicht zum Abschluss gebracht werden kann. Wenn man die Theorie der dreifachen mimēsis von Ricœur hinzuzieht, auf die wir noch eingehen werden, wird deutlich, dass die Entwicklung von Erzählungen aus lebensweltlichen Handlungszusammenhängen immer wieder darauf ausgerichtet ist, Dissonanzen in dissonante

36 37 38 39 40

Ricœur 1983: 66. Ricœur 1983: 71. Ebenda. Ricœur 1983: 75. Ricœur 1982: 239.

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Zum philosophischen Ansatz von Paul Ricœur: Eine Hermeneutik der Spannung

Konsonanzen zu überführen und sie so mit bestehenden Ordnungen kompatibel zu machen. Als letztes Beispiel für eine Spannung in den hermeneutischen Einzelanalysen Ricœurs sei auf seine Untersuchung des Selbst hingewiesen. Hier interpretiert er einen wichtigen Zugang zum Selbst über die narrative Identität mit der Unterscheidung von Selbstheit (ipse) und Selbigkeit (idem). Zunächst knüpft er an die gerade erwähnte Erzähltheorie an: »Erinnern wir zunächst daran, was in Zeit und Erzählung auf der Ebene der Fabelkomposition unter Identität verstanden wurde. In einer dynamischen Sprache wird sie durch die Konkurrenz zwischen einer Konkordanzforderung und dem Eingeständnis der Diskordanzen, die bis zum Abschluss der Erzählung diese Identität gefährden, charakterisiert.« 41 Auch die Identität des Selbst ist nicht spannungsfrei, sondern stets gefährdet, die fundamentale Spannung kann in der Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit zum Ausdruck gebracht werden. Diese wird durch die Erzählung vermittelt, es gibt eine »Vermittlungsfunktion, die die narrative Identität der Figur (scil. der Erzählung, FV) zwischen den Polen der Selbigkeit und der Selbstheit ausübt (…).« 42 Die Identität des Selbst wird damit innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen Selbstheit und Selbigkeit bestimmt, zwischen ipse und idem, in dem die Erzählung so etwas wie eine narrative Identität generiert, die die Spannung nicht aufhebt, sie aber in eine neue, hermeneutisch zu interpretierende Form überführt. In allen genannten und hier nur kurz dargestellten Beispielen identifiziert Ricœur immer wieder grundlegende und nicht aufhebbare Spannungen und er interpretiert Texte und Erzählungen als Versuche, die Spannungen einerseits zu gestalten und andererseits produktiv zu nutzen, ohne sie aufzuheben. Diese Spannungen lassen sich gut mit der Lage der Erscheinungsweisen Kultur im Chiasmus korrelieren: Sie befinden sich in einer Mittellage des Schemas, auf der einen Seite abgegrenzt gegenüber den weitreichenden und konsistenten Ordnungen der Naturwissenschaften, der Mathematik, der Logik und wissenschaftlicher Theorien, auf der anderen Seite abgegrenzt gegenüber den kaum zu ordnenden Phänomenen der Erscheinungsweise X. Die angrenzenden Erscheinungsweisen üben deshalb einen antagonistischen Einfluss auf die Erscheinungsweisen Kultur aus, die 41 42

Ricœur 1990 (1): 174. Ricœur 1990 (1): 182.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

sich als Spannungen in den sich dort etablierenden Strukturen niederschlagen. Hermeneutische Methoden haben nach Ricœur gerade die Aufgabe, diese Spannungen herauszuarbeiten. Die Hermeneutik ist in diesem Sinne gerade keine Weise, homogene Interpretationen sicherzustellen, sondern neben den sich zeigenden Ordnungen zugleich auch auf die Momente hinzuweisen, die sich den Ordnungen entziehen. Dementsprechend weisen die Erscheinungsweisen Kultur nur fragile und begrenzte Ordnungen auf, die immer wieder neu interpretiert, immer wieder neu erzählt, immer wieder neu angeeignet werden müssen. Die Mittellage der Erscheinungsweise Kulturg kann man aber nicht nur durch Abgrenzung bestimmen. Ebenso ist es möglich, den Anschluss zu beiden Seiten zu betonen, das heißt sowohl zu der Seite der Erscheinungsweise X wie auch zu der Seite der Erscheinungsweise Gedanke. So ist es Ricœur zum einen wichtig, dass alle Arbeit an Texten und Reden zugleich auf etwas anderes jenseits der Texte weist, was nicht sprachlich verfasst ist, aber danach drängt, sprachlich ausgedrückt zu werden. »I confess willingly that these analyses continually presuppose the conviction that discourse never exists for its own sake (…), but that in all of its uses it seeks to bring into language an experience, a way of living in and of Being-inthe-world which precedes it and which demands to be said.« 43 Zum anderen ist an die große Offenheit Ricœurs zu erinnern, sich auch den Methoden des Strukturalismus 44 oder der analytischen Philosophie 45 zu öffnen. Das Schema des Chiasmus ist genau besehen seinerseits von den hier herausgearbeiteten Spannungen zwischen Ordnungen und Nicht-Ordnung geprägt. Dies ist auch zu erwarten, denn wir haben ja schon gezeigt, dass das Schema sich selbst als »reentry« in der Erscheinungsweise Kulturg enthält. Das Schema ist geprägt von der widersprüchlichen Absicht, einerseits Erscheinungsweisen klar voneinander zu differenzieren und andererseits sie dennoch über das Schema zueinander in Beziehung zu setzen, ohne damit eine übergeordnete feste Struktur oder ein umfassendes System zu etablieren. Damit teilt es die Eigenschaften der Erscheinungsweise Kulturg, der es zugehört. Auch hier zeigt sich die fundamentale Spannung zwischen Zugehörigkeit und Distanz, zwischen spracharmer »Unmittel43 44 45

Ricœur 1986 (2): 19 Vgl. Ricœur 1995 (1): 26 et passim. Vgl. Ricœur 1995 (1): 46.

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barkeit« und distanzierter Rationalität, die die Arbeiten von Ricœur und von Merleau-Ponty prägen. Die »Unmittelbarkeit« erinnert daran, dass menschliche Existenz zunächst einmal durch Verbundenheit mit der Wirklichkeit und mit anderen Menschen bestimmt ist, bevor sie in die Lage versetzt wird, sich auch distanzieren zu können. 46 Sie ist jedoch als menschliche Existenz zugleich von Distanzierung geprägt, eine Rückkehr in eine Unmittelbarkeit ist nur unter der Inkaufnahme eines Selbstwiderspruchs möglich. Ricœur sieht ähnlich wie auch schon Merleau-Ponty die Notwendigkeit, aus der Erkenntnis einer vorgängigen Verbundenheit weitreichende Konsequenzen zu ziehen: »Die Entdeckung des Vorrangs des In-der-Welt-Seins im Verhältnis zu jedem Begründungsvorhaben und jedem Versuch der Letztbegründung gewinnt seine ganze Kraft, wenn man daraus die positiven Konsequenzen für die Erkenntnistheorie der neuen Ontologie des Verstehens zieht.« 47 Die hermeneutische Reflexion zeigt, dass die existentielle Verbundenheit nicht die Notwendigkeit zur rationalen Auseinandersetzung mit Zeichen, Symbolen und Texten außer Kraft setzt. In Bezug auf die Selbsterkenntnis hält Ricœur fest: »Es gibt kein Verständnis von sich, das nicht durch Zeichen, Symbole und Texte vermittelt wird; das Verständnis von sich fällt in letzter Instanz mit der Interpretation zusammen, die auf diese vermittelnden Begriffe angewandt wird.« 48 Ricœur kann seine zentralen hermeneutischen Ausarbeitungen, die zu der Metapher und die zu der Erzählung, deshalb auch als einen Kampf an zwei Fronten beschreiben, einerseits in Abgrenzung gegen den Irrationalismus der Unmittelbarkeit und andererseits in Abgrenzung gegen die Forderungen einer strikten Rationalität. 49

Die Interpretation der Phänomene der Erscheinungsweise X mit Hilfe der Theorie von Bernhard Waldenfels wird weiter unten zeigen, dass »Unmittelbarkeit« in dem hier verwendeten Sinne nicht mit einem privilegierten Zugang zum Eigenen, zur Wahrheit verwechselt werden darf. Vielmehr gibt es Brüche, Risse und Verwerfungen, die die Phänomene in sich tragen, sie lassen sich nur aus einer Verflechtung von Eigenem und Fremden verstehen, sie können nicht für voreilige Identitätsbestimmungen vereinnahmt werden. 47 Ricœur 1987: 248. 48 Ebenda. 49 »In my analyses of narrative as well as in those of metaphor, I’m fighting on two fronts: On the one hand I cannot accept the irrationalism of immediate understanding (…). However, I’m equally unable to accept a rationalistic interpretation (…).« Ricœur 1986 (2): 18. 46

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

2.

Der theologische Denker Paul Ricœur: An den Grenzen der Hermeneutik

Ricœur hat seine philosophischen Erkenntnisse in separaten Veröffentlichungen immer wieder mit theologischen Reflexionen verbunden. Dies gilt insbesondere in der mittleren Phase seines Schaffens, in der er die Fragen der Hermeneutik in den Mittelpunkt stellte. »Getreu meiner Regel, kein Bekenntnis abzulegen, widmete ich in einem Dialog, der sich zwischen ›Herméneutique philosophique et herméneutique biblique‹ (…) einfügt, dem Verstehen des Glaubens ununterbrochen Aufmerksamkeit.« 50 Ricœur hat dabei seine Zugehörigkeit zu dem reformierten Christentum offen zum Ausdruck gebracht und seine christliche Verortung und ihren Bezug auf biblische Texte mit philosophischen Mitteln reflektiert. 51 Die biblische Hermeneutik ist für Ricœur ein Sonderfall der allgemeinen Hermeneutik, denn ein bestimmter und begrenzter Textbestand, der Kanon der biblischen Texte, erhält hier eine besondere Auszeichnung. Diese Sonderstellung lässt sich nicht mit philosophischen Mitteln rechtfertigen. Ricœur ist aber über diese Festlegung hinaus darauf bedacht, vor allem als Philosoph allein mit den Mitteln der Philosophie zu arbeiten. In seinen an theologischen Problemen orientierten Texten knüpft er deshalb an die Ergebnisse der allgemeinen hermeneutischen Arbeiten an. Ricœur versteht sich als exegetisch informierter Philosoph, seine philosophische Haltung der Betonung von Umwegen, der Unfähigkeit zu letztgültigen Erkenntnissen, prägt deshalb auch die theologischen Untersuchungen. 52 Ricœur 1995 (1): 36. Die Differenzen, um die es hier geht, sind sehr diffizil, Ricœur war eher ein Philosoph mit christlicher Orientierung als ein christlicher Philosoph. Vor allem zum Ende seines Lebens hat der Philosoph wieder stärker seine Zugehörigkeit zur christlichen Religion problematisisert: »Ich bin kein christlicher Philosoph, wie ein durchaus auch abfälliges, wenn nicht sogar diskriminierendes Gerücht behauptet. Ich bin schlicht ein Philosoph (…). Andererseits bin ich aber auch Christ, der sich in der Philosophie ausdrückt, so wie Rembrandt schlicht ein Maler war und andererseits ein Christ (…).« Ricœur 2011: 99. 52 Deutlich äußert sich Ricœur im Vorwort zu »Das Selbst als ein Anderer«: »Man bemerke, dass diese Askese des Arguments, die, wie ich glaube, mein gesamtes philosophisches Werk kennzeichnet, zu einem Typ der Philosophie führt, in dem die tatsächliche Nennung Gottes abwesend ist und in dem die Gottesfrage als philosophische Frage ihrerseits in einer Schwebe bleibt, die man agnostisch nennen mag (…).« Ricœur 1990 (1): 36. In dem Gespräch mit François Azouvi und Marc de Launay 50 51

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Der theologische Denker Paul Ricœur: An den Grenzen der Hermeneutik

Seine christliche Identität soll keinen Einfluss auf die allgemeine Überzeugungskraft seiner philosophischen Argumente haben. Er unterstreicht deshalb die Differenz, die sich seiner Ansicht nach zwischen der Theologie im engeren Sinne und seinen eigenen, sich philosophisch verstehenden Arbeiten auftut. Er äußert sich skeptisch gegenüber einem innertheologischen Diskurs, der mit zu großer Selbstverständlichkeit Offenbarungsinhalte für sich in Anspruch nimmt. Es ist möglich, philosophische Erkenntnisse in theologischen Fragehorizonten zu verwenden, nicht aber, theologische Einsichten, die sich auf besondere Quellen berufen, auf die Philosophie hin zu verallgemeinern. Ricœur versucht, den Eindruck zu vermeiden, er würde in den theologisch orientierten Texten aus einer Sonderquelle der Erkenntnis schöpfen, der jene Unmittelbarkeit zukommt, gegen die er sich in seinen philosophischen Schriften wehrt. Eine Skepsis hegt er auch gegenüber der seiner Ansicht nach geschlossenen Sprach- und Theoriebildung in der etablierten Theologie. Insofern sind seine theologischen Schriften immer eine Gratwanderung, in denen er seine Zugehörigkeit zur christlichen Tradition deutlich macht, ohne zusätzliche Erkenntnisquellen für sich reklamieren zu wollen, die ihn aus dem philosophischen Diskurs ausschließen. So wenig es direkte Zugänge zu der Welt oder zu dem eigenen Selbst gibt, so wenig gibt es einen direkten Zugang zu Gott oder eine allgemeine Ordnung, in die die Rede von Gott eingebunden werden könnte. Die Spannungen, die wir als ein Grundcharakteristikum der Ricœur’schen Hermeneutik kennengelernt haben, zeigen sich in theologischen Texten noch deutlicher. Sie erweitern sich zu einem Konflikt, der mit dem Selbstverständnis der Rede von Gott verbunden und deshalb nicht zu umgehen ist. 53 Hier spielen die von Ricœur so genannten Grenzausdrücke eine entscheidende Rolle. Wir werden diesen Terminus noch eingehender analysieren. Grenzausdrücke erhöhen und aktualisieren die Spannung, indem sie auf etwas weisen, was über das, was sie als Begriffe menschlicher Rede zum Ausdruck bringen können, hinausgeht. Grenzausdrücke haben in etwa die Rolle von Metaphern in säkularen Texten, nur dass sie sich nicht auf die Ebene eines Satzes beziehen, sondern auf die Ebene eines ganzen Texpräzisisert er die Unterscheidung, indem er verschiedene Typen von Theologie differenziert und seine Position insbesondere von der kerygmatischen Theologie unterscheidet, vgl. Ricœur 1995 (2): 196. 53 Vgl. Theissen 2013: 259.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

tes. Die Rede von Gott ist menschliche Rede und muss als solche behandelt werden, auch im Sinne einer Hermeneutik des Verdachts, die verschwiegene, durchaus weltliche Motive der Autoren zu identifizieren versucht. Um zu erkennen, dass sie zugleich Rede von Gott ist, ist ein elementares Vertrauen notwendig, denn ein Bezug auf Gott setzt ein existentielles Engagement, eine Beteiligung voraus. 54 Grenzausdrücke entfalten ihre Kraft, indem sie inmitten einer fragwürdigen Erzählung ein Zeichen unbedingten Vertrauens aufrichten. So stoßen in der Rede von Gott Vertrauen und Verdacht, Verbundenheit und Distanz direkt aufeinander, es entsteht eine existentielle Spannung. Diese lässt sich auch beschreiben als eine Spannung zwischen einer allgemein beschreibbaren menschlichen Religion und einem exklusiven Offenbarungsgeschehen, das Wahrheit für sich reklamiert. 55 In diesen zugespitzen und gegenüber säkularen Texten verschärften Konstellationen muss sich die theologische Hermeneutik bewähren. Die verschärften Spannungen betreffen die Rede von Gott als Rede, also als Phänomen innerhalb der Erscheinungsweise Kulturg, aber auch die Rede als historische Erscheinung. Im letzteren Fall führt die Spannung zur Einsicht in die Kontingenz des historischen Geschehens. Dadurch sind beide, sowohl die Erscheinungsweise Kulturg wie auch die Erscheinungsweise Kulturd, von tiefgreifenden Spannungslinien durchzogen. Im Folgenden werden wir die Erscheinungsweisen getrennt darstellen.

3.

Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

War schon die allgemeine Hermeneutik von den Spannungen zwischen den Ordnungen und demjenigen geprägt, was sich den Ordnungen entzieht, so erhöht sich diese Spannung in der Rede von Gott. Im Streitfall um die Triftigkeit der Rede von Gott muss sich die Theologie zwischen Extremen bewähren: die Theologie hat »ihre Wahrheit zu bewähren, indem sie die Funktion des Wortes Gottes innerhalb der Grenzen unserer Sprache secundum dicentem deum so verantwortet, dass sie einem positivistischen Verifikationsprinzip auf der einen Seite und einem verifikationslosen Offenbarungspositivismus auf der anderen Seite gleichermaßen widersteht.« Jüngel 1972: 100. 55 Nach Link entstammt alle Religion einer Transzendenzerfahrung, dennoch »bleibt eine unaufhebbare Spannung zwischen ihrem transzendenten ›Kern‹ und dem ›religiösen‹ Formen, in denen dieser Kern sich darstellt.« Link 2003: 201. 54

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

Hier soll etwas Absolutes zur Sprache kommen, das sich als Absolutes aber jeder sprachlichen Vermittlung entzieht. Denn die Rede von Gott ist als menschliche Rede Teil der Erscheinungsweisen Kultur und in keiner Weise von anderen menschlichen Reden unterschieden. Sie ist Rede von Gott, insofern diejenigen, die reden, in ihrer Rede davon Zeugnis ablegen, dass mit ihr Phänomene verbunden sind, die sich der Ordnung einer Rede zugleich entziehen. Es bleiben deshalb gravierende Defizite einer Bestimmung der Rede von Gott, wenn man sie allein unter den Regeln der Auslegung menschlicher Rede interpretiert. Sie ist untrennbar mit Phänomenen verbunden, die sich einer direkten sprachlichen Vermittlung entziehen. Wer in der Rede von Gott die Zuwendung Gottes erlebt, erfährt Unaussprechliches, bleibt aber nicht stumm. Von dieser Erfahrung legen Menschen in der Rede von Gott und in ihrem Handeln Zeugnis ab. In Texten, die dabei entstehen, können sie die Erfahrungen nicht direkt einfangen, sie beziehen sich darauf mit paradoxen Figuren, Metaphern, Grenzausdrücken und narrativen Beschreibungen. Der die menschliche Rede transzendierende Moment steht offenkundig gemäß des Schemas des Chiasmus in einem Zusammenhang mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X. Der Zusammenhang zeigt sich von Mal zu Mal, er lässt sich nicht in strenger Form verallgemeinern, ansonsten gäbe es ja einen kontrollierten Zugang zu jenen Phänomenen. Es ist für Ricœur unumgänglich, auch im Hinblick auf das Absoluten dieselbe intellektuelle Redlichkeit gelten zu lassen wie in den philosophischen Schriften. 56 Seine Position grenzt er zugleich gegen zwei Seiten ab. Auf der einen Seite widerspricht er der Annahme, menschliche Reflexion könne sich transparent in sich selbst gründen, auf der anderen Seite aber ebenso einer Vorstellung von religiöser Offenbarung, die ganz und gar von außen kommt und die die menschliche Erkenntnisfähigkeit einfach außer Kraft setzt. »Mehr als jede andere bekämpfe ich eine Darstellung des Problems, die einem Konzept von Vernunft, in dem diese angeblich Meisterin ihrer selbst und sich selbst transparent ist, ein autoritäres und undurchsichtiges Offenbarungskonzept gegenüberstellt. Deshalb wird meine Darstellung eine Schlacht an zwei Fronten bilden: Sie zielt auf die Gewinnung eines Offenbarungskonzeptes und eines Vernunftkonzeptes, die, ohne jemals zusammenzufallen, zumindest in eine lebendige Dialektik eintreten und gemeinsam so etwas wie eine Vernunft 56

Vgl. Ricœur 1977 (1): 41.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

des Glaubens erzeugen können.« 57 Auch in den theologisch orientierten Schriften zeigt sich also eine vermittelnde Position, um die Ricœur ringt: weder will er sich auf eine apophatische Position jenseits aller Diskurse einlassen, noch will er die Offenbarung vollständig in selbsttransparenten Artikulationsformen und Diskursen aufgehen lassen. Eine hermeneutische Analyse der Rede von Gott muss nach Ricœur darüber hinaus eine Abgrenzung gegenüber zwei umfassenden Ordnungsvorstellungen vornehmen, nämlich gegenüber ontotheologischen und transzendentalen Konzepten: »Es ist die Aufgabe einer philosophischen Hermeneutik, von dem doppelten Absoluten der ontotheologischen Spekulation und der transzendentalen Reflexion zurückzuführen zu den ursprünglicheren Weisen der Sprache, durch die die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ihre Erfahrung für sich selbst und für die anderen interpretiert haben.« 58 Die Hermeneutik im Sinne Ricœurs »erfordert die Entäußerung des menschlichen Selbst in seinem Willen zur Herrschaft, zur Selbstgefälligkeit und zur Autonomie (…).« 59 Es ist offenkundig, dass in diesem Zitat das paulinische Verständnis des Wortes vom Kreuz aufgenommen ist: Gerade in der Rede von Gott ist die Gefahr menschlicher Selbstbemächtigungsversuche groß und deshalb eine Abgrenzung ihnen gegenüber besonders wichtig: Das Wort vom Kreuz steht gegen jedes menschliche Rühmen und gegen jede Selbstermächtigung.

A.

Zum Umgang mit dem Absoluten

Ricœur hat eine zentrale Herausforderung einer Interpretation der Rede von Gott in dem Umstand gesehen, dass sie eine Identifikation historischer Zeugnisse mit dem Absoluten erfordert. So zitiert er zustimmend die skeptische Frage des Philosophen Jean Narbert: »Haben Ricœur 1977 (1): 41. Ricœur 1977 (2). 164. Christian Link hebt in anderem Kontext die Bedeutung des Katechumenats hervor. Es geht um die in der Gemeinde immer schon vorhandene Sprache und die immer schon vorhandene Erfahrung, um die sich die Theologie kümmern muss. So sagt er zu Beginn des Buches »Die Welt als Gleichnis«: »Der Glaube selbst treibt ›natürliche Theologie‹, indem er das Bekenntnis auf dem Feld der Erfahrung unter Beweis stellt. Diese Tradition wieder in ihr Recht zu setzen, ist das Ziel der folgenden Untersuchung.« Link 1976: 19. Das gleiche Ziel gilt auch für die phänomenologischen Überlegungen dieser Arbeit. 59 Ricœur 1977 (2): 164. 57 58

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

wir das Recht, einen Augenblick der Geschichte mit dem Merkmal der Absolutheit auszustatten?« 60 Wie kann man überhaupt in einer menschlichen Rede Bezug auf das Absolute nehmen? Die Rede von Gott ist eine menschliche Rede, aber zugleich ist sie Rede von Gott. Es fehlt Entscheidendes, wenn man nicht auf das aufmerksam wird, was über die menschliche Rede hinausweist. Doch wie soll man die Differenz zu anderen Formen menschlicher Rede bezeichnen? Wenn Ricœur seinem philosophisch verantworteten Standpunkt des indirekten Erkennens treu bleiben will, darf er nicht einfach eine Sondergröße einführen, die die allgemeinen menschlichen Erkenntnisbedingungen übersteigt und eine direkte Erkenntnisquelle darstellt. Auch der Bezug auf das Absolute ist nur indirekt möglich, etwa über das Zeugnis eines anderen Menschen: »Das Zeugnis gibt etwas zu interpretieren. Diese erste Dimension markiert den Aspekt der Manifestation des Zeugnisses. Das Absolute spricht sich hier und jetzt aus. Es gibt im Zeugnis eine Unmittelbarkeit des Absoluten, ohne die es nichts zu interpretieren gäbe. Diese Unmittelbarkeit wirkt als Ursprung (…).« 61 In diesem theologischen Text wagt sich Ricœur in seinen affirmativen Formulierungen über das »Absolute«, das »Unmittelbare«, den »Ursprung« weit hinaus und stellt seine sonst übliche Zurückhaltung gegenüber jeder Anknüpfung an ein Absolutes zurück. Doch auch hier tut er dies nur, indem er auf die Unumgänglichkeit historischer Vermittlung der Ausdrucksformen des Absoluten hinweist und zugleich die Aufgabe, beide Seiten des Geschehens zu vereinen, für unabschließbar erklärt: »Es bleibt ein – endlos kleiner werdender – Abstand bestehen zwischen dem reflektierenden Urteil, das in einem gänzlich innerlichen Vorgang die Kriterien des Göttlichen hervorbringt und dem historischen Urteil, das sich bemüht, in der Äußerlichkeit den Sinn der Zeugnisse zusammenzutragen, die sich ereignet haben.« 62 Das Absolute »gibt« es nach Ricœur also nur in der historisch vermittelten Form menschlicher Rede. Diese Verschränkung ist ein Spezifikum christlicher Theologie, auf das auch schon Merleau-Ponty aufmerksam gemacht hat, indem er den Inkarnationsgedanken aufgriff: »Das Absolute, dass er (scil Pascal, FV) jenseits unserer Erfahrung sucht, steckt schon in ihr. (…) Eigentlich hat schon das Christentum das abgesonderte Absolute durch das Abso60 61 62

Zitiert nach: Ricœur 1972 (1): 10. Ricœur 1972 (1): 31. Ricœur 1972 (1): 35.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

lute in den Menschen ersetzt.« 63 Das Absolute ist durch die Inkarnation in den Dimensionen menschlicher Existenz zugänglich, aber dort ist es nicht als Absolutes greifbar. Alle Aussagen über das Absolute müssen deshalb indirekte Aussagen sein. In den theologischen Schriften wirft Ricœur dementsprechend die Frage auf, wie das per se nicht Vermittelbare, das Absolute, mit den Ordnungen einer theologisch verantworteten Rede von Gott und das heißt mit einer geschichtlichen Offenbarung verbunden werden kann. Zwar ist die Rede von Gott nicht allein ein innersprachliches Geschehen, doch spielt der Prozess der Versprachlichung eine zentrale Rolle: »Aber die Voraussetzung des Hörens der christlichen Verkündigung ist nicht die, dass alles Sprache ist, sondern die, dass nur in einer Sprache religiöse Erfahrung sich artikuliert (…).« 64 Hier klingt jener zentrale Satz von Paulus aus dem Römerbrief an: »Der Glaube kommt aus der Predigt.« (Röm 10,17). In diesem Sinne ist die Rede von Gott nicht einfach nur Reflexion auf ein vorangegangenes ursprüngliches Geschehen, sondern in und durch die Rede von Gott aktualisiert sich das, wovon sie redet. In dieser Interpretation der christlichen Rede von Gott, in der Gegenüberstellung und Verbundenheit von Absolutem und historisch Relativem, wird offenkundig, dass die theologisch orientierten Arbeiten von Ricœur Spannungsmomente aufdecken, die diejenigen der philosophischen Hermeneutik noch deutlich übersteigen. 65 Sind schon die säkularen philosophischen und poetischen Texte durch die Spannung von Zugehörigkeit und Distanz bestimmt, so gilt das umso mehr für solche, die als Rede von Gott entstehen. 66 Hier kann sich die Spannung in der Interpretation der Texte zu einem Konflikt ausweiten: »Paul Ricœur hat ein Konzept angeboten, das diesem Ineinander von Glaube und Zweifel eine hermeneutische Tiefenschärfe gibt: das Merleau-Ponty 2003: 53 f. Ricœur 1977 (2): 155. 65 Da Ricœurs philosophische Arbeiten von Beginn an von Themen bestimmt sind, die auch einen theologischen Bezug haben, kann man durchaus die Vermutung anstellen, dass die philosophische Orientierung an Spannungslinien und -feldern auch durch die philosophisch-theologischen Reflexionen des christlichen Glaubens motiviert sind. 66 Hier gibt es allerdings die Besonderheit, dass nicht eine gleichberechtigte Polarität von Zugehörigkeit und Distanz erlebt wird, sondern eine Distanz, die sich nur unter der Vorgabe der Zugehörigkeit artikulieren kann. So sagt auch Ricœur: »Die Polarität von Zugehörigkeit und Kritik steht selbst unter dem Zeichen dieser ihr vorausgehenden Gabe.« Ricœur 1995 (2): 199. 63 64

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

Konzept eines Konflikts der Interpretationen, der sich nicht mehr von einer Position außerhalb dieses Konflikts entschärfen oder lösen lässt, der vielmehr im hermeneutischen Prozess immer wieder neu auszutragen ist.« 67Auf der einen Seite geht es hier um Texte, die sich auf das Absolute beziehen, sonst könnten diese Texte nicht Teil der Rede von Gott sein, auf der anderen Seite aber sind es menschliche Texte und müssen wie alle anderen menschlichen Texte mit einer kritischen Hermeneutik untersucht werden.

B.

Die Rede von Gott und die Vielfalt der Texte

Doch wie kommt das Absolute in den religiösen Texten zum Ausdruck? Welche begrifflichen Referenzen werden verwendet, um den Bezug zum Absoluten herzustellen? Da es keinen direkten in Texten artikulierbaren Weg zu der Offenbarung Gottes gibt, finden sich nach Ricœur vielfältige »Reflexionen« der Offenbarung Gottes in sehr unterschiedlichen Textgattungen. Er weist immer wieder darauf hin, dass keine privilegierte Textgattung isoliert werden kann, sondern vielfältige Texte und Textarten zusammen gesehen werden müssen, um sich auf Gott zu beziehen: »Die Nennung Gottes in den ursprünglichen Ausdrucksgestalten des Glaubens geschieht nicht einfach, sondern vielfältig. Oder vielmehr: Sie ist nicht einstimmig, sondern vielstimmig.« 68 Es muss deshalb das Ziel einer hermeneutischen Philosophie sein, sich auf dem Weg einer Interpretation der vielfältigen Artikulationsformen dem Zeugnis der Offenbarung religiöser Menschen zu nähern. 69 Die Offenbarung Gottes ist an Formen menschlicher Artikulation geknüpft, ohne dass man sie mit den Artikulationen identifizieren darf. Nun sind aber sprachliche Ausdrucksformen eingebunden in bestimmte historische, kulturelle Traditionen. Die unterschiedlichen Redeformen sind nicht als sekundäre Verkleidungen eines vorab BeWerbick 2009: 34. Ricœur 1977 (2): 165. Hoffmann bezieht den Begriff der Spannung auch auf diese Polyphonie, es sind »die zwischen den disparaten Gott-Nennungen entstehenden Spannungen von theologischer Bedeutung. Nur unter Missachtung dieser grundsätzlichen Polyphonie und ihrer kreativen Spannungen könnte man die Vorstellung von Offenbarung auf eine dieser Stimmen verengen (…).« Hoffmann 2009: 71. 69 »A hermeneutical philosophy, on the contrary, will try to get as close as possible to the most originary expressions of a community of faith (…).« Ricœur 1974 (1): 37. 67 68

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

stehenden zu verstehen, sondern sie sind unhintergehbare genuine Formen. 70 »Hinter« den unterschiedlichen Formen der biblischen Rede steht nicht die eine Offenbarung im Sinne eines Originals, so wie es eine romantische Hermeneutik nahe legen würde. Die Bedeutung der Vielfalt der Formen in der Rede von Gott kann man zugleich auch als ein Korrektiv gegenüber Auslegungen verstehen, die sich allein auf eine bestimmte Textform beschränken und nur hier Spuren der Offenbarung Gottes finden. »Statt eines monolithischen Begriffes der Offenbarung, der nur erreicht wird, indem man alle Diskurse auf die propositionale Ebene transferiert, begegnen wir einem pluralen, polysemischen, höchstens analog zu nennenden Konzept von Offenbarung (…).« 71 Auf diese Weise wird der Leser biblischer Texte aufmerksam auf die Vielfalt der Offenbarungszeugnisse und ihrer Gattungen. »(…) das ›Glaubensbekenntnis‹, das sich in den biblischen Texten ausdrückt, ist von den Formen der Rede nicht zu trennen.« 72 Deshalb muss man die Vielfalt der Diskurse in den biblischen Schriften ernst nehmen und darf sie nicht unter dem Primat einer bestimmten theologischen Theorie verkürzt darstellen. Die Vielfalt der Redeformen besteht aus prophetischer Rede, narrativer Rede, Gesetzestexten, Weisheitstexten und hymnischen Texten wie etwa den Texten des Psalters. All diese Formen haben Spezifika und Eigenarten, sich in je besonderer Form auf die Offenbarung Gottes zu beziehen. Die prophetische Rede steht auf erstem Blick der verbreiteten Vorstellung von Offenbarung am nächsten. Gott teilt seine Botschaft einem Propheten mit und dieser wiederum verkündet sie dem Volk. »Die Idee der Offenbarung scheint hier zusammenzufallen mit derjenigen eines doppelten Autors des Wortes und der Schrift.« 73 Doch genau diese scheinbare Identität von Gottes Wort und Wort des Pro»Ich will sagen, um es kurz zu machen, dass das Glaubensbekenntnis, das sich in den biblischen Texten ausdrückt, in unmittelbarer Weise durch die Diskursformen geprägt ist, in denen es sich ausdrückt.« Ricœur 1977 (1): 58. »The modes of discourse are more than means of classification – as the word ›genre‹ seems to say; they are means of production – by this I mean instruments for producing discourse as a work.« Ricœur 1974 (1): 38. 71 Ricœur 1977 (1): 43. 72 Ricœur 1974 (2): 37. Auch Dalferth weist auf die Vielfalt der lebensweltlichen Einbindung und hält fest, »dass es damit (…) keine lebensweltliche Perspektive oder Position gibt, in der Gott nicht auftreten und thematisiert werden könnte.« Dalferth 2003: 513. 73 Ricœur 1977 (1): 43. 70

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

pheten bzw. Wort der Bibel stellt für die theologische Auslegung nach Ricœur eine Gefahr dar, da so die Vielfalt der biblischen Formen der Offenbarung Gottes aus dem Blickfeld rücken und Eindeutigkeiten durch Identifizierungen behauptet werden. Das prophetische Wort wird zu der normativen Funktion aller Offenbarung und engt den Offenbarungsbegriff ein. Die Theologie kapriziert sich dann auf das eine autoritative Wort, das sie nolens volens zugleich auch für sich selbst reklamieren muss, denn nur, wer an der Offenbarung partizipiert, kann angemessen über die Offenbarung reden. Es droht eine problematische Engführung und Selbstimmunisierung der Auslegung der Rede von Gott. Ricœur spricht der narrativen Rede eine große Bedeutung für die Darstellung der Offenbarung in der Bibel zu. Dabei ist er von den Arbeiten von Gerhard von Rad beeinflusst: 74 »Der Begriff einer ›Theologie der geschichtlichen Überlieferungen‹ (…) drückt die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Glaubensbekenntnis und Bericht aus.« 75 Es geht in der Rede von Gott vor allem um geschichtliche Ereignisse. Jedoch sind es besondere Ereignisse: »Diese Ereignisse machen Epoche, weil sie eine doppelte Eigenschaft haben: Sie begründen Gemeinschaft und sie befreien aus einer großen Gefahr (…). Hier von Offenbarung zu sprechen heißt, diese Ereignisse als gegenüber dem normalen Gang der Geschichte transzendent zu qualifizieren.« 76 Daraus leitet Ricœur die Forderung nach einer größeren Bedeutung der historischen Ereignisse auch in der Theologie ab, die sich nicht zu schnell allein auf ein Wort im engeren Sinne, auf ein Wort, das von Gott ergeht, zurückziehen dürfe. 77 Nach Ricœur hat die Erkenntniskraft der Erzählungen »more kinship with practical wisdom or moral judgement than with theoretical reason.« 78 Die Rationalität von Erzählungen ist von geringerem Grade als in der wissenschaftlichen Theorie. Die Begriffe, die so gewonnen werden, so Ricœur unter Rückgriff auf Aristoteles, haben einen geringeren AllgemeinheitsVgl. Ricœur 1974 (2): 37. Ricœur 1974 (2): 38. 76 Ricœur 1977 (1): 46. 77 Vgl. Ricœur 1977 (1): 48. Link stellt fest: »Die Realgeschichte eines Volkes als Material und Interpretament des Gottesnamens, als Darstellungsraum seiner ›Bedeutung‹ : das ist ein Novum gegenüber der uns bekannten Religionsgeschichte und darf darum als Anweisung für den Versuch des theologischen Erkennens genommen werden.« Link 1997: 43. 78 Ricœur 1982: 239. 74 75

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grad: »(…) universals yielded by plots are not those of theoretical knowledge and science. They are universals of a ›lower‹ order appropriate to the configurational act at work in poetic compositions.« 79 Dem entspricht der gegenüber der Erscheinungsweise Gedanke geringere Ordnungsgrad der Phänomene der Erscheinungsweise Kulturg im Chiasmus. Erzählungen kommt in den biblischen Texten schon deshalb eine besondere Rolle zu, weil sie eng mit der Geschichte verbunden sind, von der sie zeugen. Doch auch bei der Auslegung narrativer Texte bleibt die Gefahr der Engführung, die sich dann zeigt, wenn alle biblischen Aussagen in ein Gesamtnarrativ eingeordnet werden. Dann gewinnen diese Texte eine gewisse Dominanz gegenüber anderen Textformen und in manchen Äußerungen Ricœurs scheint auch er dieser Sonderstellung narrativer Texte zu folgen. 80 Sehr grundlegend ist seine Bemerkung, »that it is precisely the narrative composition, the organising of events in the narrative, that is, the vehicle for, or, better, that forments the biblical interpretation.« 81 Diese Bevorzugung wird dann verständlicher, wenn man auf die Bedeutung der Geschichte für den Ansatz von Ricœur achtet. Die äußere Form der Verschriftlichung hat einen entscheidenden Beitrag zu der Fähigkeit geliefert, geschichtliche Räume auszuleuchten. Gerade in der, eine aktuelle Situation überdauernden Eigenständigkeit des Textes stellt sich die Eigenart von Geschichte in der menschlichen Kommunikation dar. 82 Der Kontext der Geschichte wird uns in der Behandlung der Erscheinungsweise Kulturd noch eingehender beschäftigen. Auch die anderen Formen biblischer Texte haben ihre Spezifika: Ricœur 1982: 240. So kann er etwa formulieren: »The ›confession of faith‹ that is expressed in the biblical documents is inseparable from the forms of the discourse, by which I mean the narrative structure (…).« Ricœur 1974 (1): 39. An anderer Stelle kann er von einem Primat der narrativen Struktur reden, Ricœur 1977 (2): 165. Wie ein Korrektiv wirkt dann eine spätere Formulierung, die sich auf die Vielfalt der biblischen Diskursformen bezieht: »Welchen dieser Diskurse sollte man als Referenzpunkt für das Nachdenken über die Offenbarung nehmen? Es kann legitim erscheinen, den prophetischen Diskurs als Richtschnur zu nehmen. Eben dieser ist es, der sich selbst als ›im Namen von …‹ verkündigend darstellt.« Ricœur 1977 (1): 43. 81 Ricœur 1990 (2): 182. 82 »In my view, the text is much more than a particular case of intersubjective communication: it is the paradigm of distanciation in communication. As such it displays a fundamental characteristic of the very historicity of human experience, namely, that it is communication in and through distance.« Ricœur 1986 (4): 72 f. 79 80

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

Gesetzestexte machen deutlich, dass das Verhältnis des Rezipienten zum biblischen Text jenseits der Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie liegt. Diese Texte weisen den Weg in die Identität der Leserin, des Lesers vor Gott, sie verbinden durch ihre Regelungen, was üblicherweise als getrennt und gegensätzlich wahrgenommen wird, die menschliche Gemeinschaft und die göttliche Sphäre. Gesetzestexte stehen weiterhin nicht isoliert, sondern sind eingebunden und bezogen auf historische Vorgänge, die für die Identität der Gemeinschaft, für die das Gesetz Geltung beansprucht, konstitutive Bedeutung haben. 83 Wiederum anders sind die Bedingungen bei der weisheitlichen Rede. Hier spielen die Ordnungen, die in der Welt zu finden sind, eine große Rolle. Anders als in den narrativen Texten ist hier aber von den andauernden Strukturen und Ordnungen, nicht von geschichtlichen Veränderungen die Rede. Die biblische Weisheit kennt eine Skepsis, weil sich immer wieder zeigt, dass Ordnungen, die man einmal als gültig anerkannt hat, nicht immer und überall Gültigkeit haben. Die weisheitlichen Texte heben deshalb in besonderer Weise das Geheimnis Gottes hervor. 84 Schließlich nennt Ricœur noch hymnische Texte, wie sie etwa im Psalter gesammelt worden sind. In dieser Form der Rede von Gott kommt die Personalität Gottes am stärksten zum Tragen und Gott erscheint als Gegenüber zum frommen Beterin, zum frommen Beter, als Du, zu dem eine intime Beziehung aufgebaut werden kann. Diese Texte wirken am intensivsten in den Alltag der frommen Menschen hinein, hier ist die Rede von Gott jederzeit in dem Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft applizierbar. In keiner der hier angeführten Formen der Rede von Gott lässt sich die Offenbarung letztgültig fassen. Keine Form der Rede von Gott lässt sich darüber hinaus in eine letztgültige Wissensordnung überführen. Vielmehr weisen alle Formen der Rede von Gott über sich selbst hinaus auf ein Geheimnis, das menschlicher Rede selbst nicht zugänglich ist: »Unter dieser Rücksicht ist die Idee des Geheimnisses [secret] ihre Grenzidee. Die Idee der Offenbarung ist eine dop-

Am Eindrücklichsten ist dies natürlich beim ersten Gebot: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.« (Ex 20,2.) »Der Dekalog ist das Gesetz eines befreiten Volkes. Einer solchen Idee ist das schlichte Konzept der Heteronomie fremd.« Ricœur 1977 (1): 50. 84 Vgl. Ricœur 1977 (1): 54. 83

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

pelgesichtige Idee. Der Gott, der sich zeigt, ist ein verborgener Gott (…).« 85 Die Unterschiedlichkeit der Rede von Gott muss theologisch ernst genommen werden und darf nicht auf ein begriffliches Zentrum hin reduziert werden: »Deswegen lässt sich das Wort ›Gott‹ nicht begreifen als ein philosophischer Begriff (…). Der Referent ›Gott‹ wird so durch die Konvergenz aller dieser partiellen Redeweisen angezielt.« 86 Der Begriff »Gott« weist auf etwas, was alle Formen der Rede von Gott letztendlich transzendiert. 87

C.

Zu den Metaphern

Die hermeneutisch zu identifizierende Spannung wirkt sich aber auch in einzelnen literarischen Formen aus. Zwei Formen werden hier ausführlicher vorgestellt, sie erzeugen beide jene spannungsreiche Offenheit, die für die Rede von Gott notwendig ist: Metaphern und Gleichnisse. Beide sind eng miteinander verbunden, so dass Ricœur vorgeschlagen hat, »die Gattung der Gleichnisrede als Verbindung einer Erzählung mit einem metaphorischen Prozess zu definieren.« 88 Die Metapher interpretiert Ricœur in deutlicher Unterscheidung zur Tradition der Rhetorik. Dort ist eine Metapher ein ungewöhnlicher Gebrauch eines Wortes in einer ihm fremden Umgebung, der darauf zielt, Aufmerksamkeit zu erregen und ästhetische Wirkungen zu entfalten. Die Rhetorik also isoliert zunächst den Begriff und nimmt nur sekundär den ungewöhnlichen Gebrauch in den Blick. Ricœur betrachtet dagegen die Metapher gerade in dem semantischen Umfeld des Satzes ihrer Verwendung: »Die Metapher präsentiert sich als Gegenstand einer Semantik des Satzes, noch bevor sie sich auf eine Ricœur 1977 (1): 60. Ricœur 1977 (2): 170. 87 Michael Welker fordert eine Theologie, die das biblische Zeugnis nicht auf einen systematischen Nenner zu bringen versucht, sondern der Pluralität der Zeugnisse gerecht werden will: »Es handelt sich also um bewusst ›pluralistische‹ Ansätze, die die verschiedenartigen biblischen Überlieferungen mit ihren unterschiedlichen ›Sitzen im Leben‹, mit ihren kontinuierlichen und diskontinuierlichen, miteinander verträglichen und miteinander nicht direkt vermittelbaren Erfahrungen Gottes und Erwartungen an Gott ernst nehmen. (…) Sie sind an diesen Differenzen theologisch brennend interessiert, um eine spannungsreiche Typologie des Fragens nach Gott und des Redens von Gott zu gewinnen, die zu permanenter Selbstkritik und zu schöpferischer Rekonstruktion veranlasst.« Welker 1990: 13. 88 Ricœur 1975 (1): 282. 85 86

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

Semantik des Wortes bezieht.« 89 Die Aufmerksamkeit geht durch den Ansatz, der von Beginn an Fragen der Semantik in den Mittelpunkt stellt, von dem einzelnen Wort zur metaphorischen Aussage über. Die metaphorische Aussage wiederum ist von einer Spannung geprägt, weil das als Metapher verwendete Wort ein neues Gefüge erzeugt, ein neues Syntagma. 90 Ricœur konzentriert sich zunächst auf die Semantik, erst in einem zweiten Schritt zielt er darüber hinaus auch auf den Wirklichkeitsbezug der metaphorischen Aussage. Denn ist es eine besondere Eigenschaft von literarischen Texten, dass sie die gewöhnliche Referenz der Sprache, also den Bezug zur Welt, zunächst suspendieren können: »Trifft es zu, das wörtlicher und metaphorischer Sinn sich in einer Interpretation unterscheiden und artikulieren, so wird aufgrund der Suspension der erstgradigen Bedeutung eine Bedeutung zweiten Grades, die eigentlich metaphorische, gleichfalls in einer Interpretation freigesetzt.« 91 Der Text ist der Ort, an dem die Suspension stattfinden kann als Voraussetzung dafür, dass sich die metaphorische Aussage in ihrer Eigenständigkeit entfaltet. Hier entsteht zunächst einmal so etwas wie eine »gespaltene Bedeutung« 92. In einem zweiten Schritt kann sich dann darüber hinaus eine neue Sicht der Wirklichkeit bzw. ein veränderter Zugang zur Wirklichkeit auftun. 93 In der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Terminologie heißt das, dass in der Verschiebung des Sinns durch die Metapher innerhalb eines Textes, also einer Ordnungsstruktur innerhalb der Erscheinungsweise Kulturg, eine poetische Spannung entsteht, die neue Wirklichkeitszugänge möglich macht und im gelingenden Fall über die Erscheinungsweise Kulturg auf Phänomene der Erscheinungsweise X weisen kann. Ricœur weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Gefühls, das sich einer Subjekt-Objekt-Unterscheidung nicht fügt. Das dichterische Gefühl spricht in seinen metaphorischen Ausdrücken die Ungeschiedenheit von Innen und Außen

Ricœur 1975 (1): 285. Vgl. Ricœur 1975 (2): 133. 91 Ricœur 1975 (2): 216. 92 Ricœur 1975 (1): 292. 93 Jüngel führt dazu aus: »Metaphorische Rede präzisiert, indem sie mit der Dialektik von Vertrautheit und Verfremdung arbeitet. Sie verfremdet sowohl einen Sachverhalt als auch einen Sprachgebrauch (…). Zugleich geht sie aber davon aus, dass die Verfremdung als solche in die vertraute Welt eingeholt wird, so dass es zu einer Erweiterung der vertrauten Welt kommt.« Jüngel 1974: 154. 89 90

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

aus. 94 In gewisser Weise erzeugt der Gebrauch der Metapher eine Spannung, die bewirkt, dass konventionelle Ordnungen der alltäglichen Dinge durchbrochen werden. Die Metapher bewirkt eine kurzzeitige Freiheit von der etablierten Ordnung der Erscheinungsweisen Kultur. Diese Freiheit ist die Voraussetzung dafür, dass Phänomene aufscheinen können, die der Erscheinungsweise X zugehören, Phänomene, die sich keiner Ordnung fügen, die in der herkömmlichen Lesart weder dem »Subjekt« noch dem »Objekt« zugeordnet werden können. 95 In dem Gebrauch der Metapher ist offenkundig ein Weg gefunden, der einen, wenn auch indirekten und nie zwangsläufigen Zugang zu den Phänomenen der Erscheinungsweise X eröffnen kann. Es gibt keine festen Regeln, nach denen Worte als Metaphern funktioneren, denn sonst erwiese sich der Zugang zu den Phänomenen der Erscheinungsweise X als beherrschbar und sie wären entgegen den Vorgaben des Chiasmus Teil einer umfassenderen Ordnung. Ricœur hebt diesen Umstand wiederum metaphorisch hervor, indem er von der »Lebendigkeit« der Metapher redet. Diese Lebendigkeit ist nicht in Regeln zu fassen, sie entfaltet sich gerade da, wo der begriffs- und regelorientierte Verstand scheitert. Im Anschluss an die Terminologie von Kant hält er fest: »Wo aber der Verstand scheitert, verfügt die Einbildungskraft noch über das Vermögen, die Idee ›darzustellen‹. Diese ›Darstellung‹ der Idee durch die Einbildungskraft zwingt das begriffliche Denken dazu, mehr zu denken.« 96 In der Rede von Gott haben Metaphern einen prominenten Ort. Alle Attribuierungen Gottes und alle Prädikate Gottes müssen als Metaphern gelesen und verstanden werden. Die Interpretation der Metapher durch Ricœur eröffnet ein weites Feld für die Analysen der metaphorischen Wirkung der Worte, die man für Gott findet. Ricœur hat sich allerdings in der Interpretation einzelner Metaphern zurückgehalten, vermutlich auch deshalb, weil hier die Freiheitsgrade der Deutung sehr groß und die Möglichkeiten der Assoziationen zahlreich sind. Er hat sich deshalb gerade in den theologisch orientierten Texten stärker auf die Interpretation größerer Texteinheiten konzentriert, da diese einen präziseren Umgang mit Metaphern und metaphorischen Prozessen ermöglichen. Sein besonderes Augenmerk galt deshalb den Gleichnissen.

94 95 96

Vgl. Ricœur 1975 (2): 238, vgl. auch Ricœur 1975 (2): 244. Vgl. Vogelsang 2014 (1): 316. Ricœur 1975 (2): 284.

198 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

D.

Zu den Gleichnissen

Gleichnisse verbinden eine metaphorische Qualität mit der Form der Erzählung: »Wir hatten das Gleichnis vorläufig als die Redeform definiert, in der auf eine narrative Form ein metaphorischer Prozess angewandt wird.« 97 Allerdings gibt es auch Unterschiede zwischen beiden literarischen Formen, die beachtet werden müssen. Die Metapher fungiert auf der Ebene des Satzes, das Gleichnis auf der Ebene der Komposition einer ganzen Erzählung, die Metapher erzeugt ihre Spannung eher im Augenblick, das Gleichnis bezieht sich auf eine bestimmte Zeitspanne. 98 Das Gleichnis ist darüber hinaus in der Lage, als Erzählung einen komplexeren Rahmen aufzubauen. Es kann so eine Spannung zwischen der Erzählung und der alltäglichen Lebenswirklichkeit erzeugen. Auch in dem Bezug auf die Wirklichkeit unterscheiden sich Gleichnisse von Metaphern. Das Gleichnis kann aufgrund seiner inneren Komplexität noch mehr als die Metapher wie ein wissenschaftliches Modell verstanden werden, durch das ein Angebot besteht, die scheinbar bekannte Wirklichkeit neu zu beschreiben. 99 Die Fiktion der Erzählung ermöglicht, die scheinbar bekannte Wirklichkeit neu zu interpretieren, sie neu zu sehen. »Gleichnisse sind Modelle des Redens von Gott, genauer: Sie bieten uns Modelle an, den Glauben an diesen Gott jenseits aller überlieferten religiösen Symbolsysteme lebensweltlich plausibel zu artikulieren.« 100 Doch woher kommt das Neue? Die innovative Kraft erhält das Gleichnis aus dem metaphorischen Prozess, das heißt, aus der Fähigkeit, die geschlossene narrative Struktur aufzubrechen. 101 Dieser metaphorische Prozess ist nun aber nicht in einzelnen Elementen der Erzählung angelegt, sondern in dem dargestellten Handlungsgefüge selbst. Doch reicht die Erzählungsstruktur allein nicht aus, um aus einer Erzählung über alltägliche Dinge ein Gleichnis werden zu lassen. Um die Kraft der Gleichnisse, bestehende alltägliche Bezüge aufheben zu können, besser zu beschreiben, verweist Ricœur auf die Bedeutung von Elementen der Extravaganz, von Grenzausdrücken, die etwas Außergewöhnliches ins Spiel bringen: »Könnte man nicht sagen, dass

Ricœur 1975 (1): 298. Vgl. Ricœur 1975 (1): 302 f. 99 Vgl. Ricœur 1975 (1): 304. Vgl. auch Link 2003: 76. 100 Link 2003: 74. 101 Vgl. Ricœur 1975 (1): 312. 97 98

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

durch diese Dimension der Extravaganz die Offenheit des metaphorischen Prozesses von der Geschlossenheit der Erzählform entbunden wird?« 102 Durch die Grenzausdrücke kommt etwas in der Alltagswelt Undefiniertes ins Spiel, was das Gleichnis als eine Form der Überschreitung ausweist: »Diese Formen (scil. der Gleichnisse, FV) als solche machen noch nicht religiöse Rede aus, wohl aber das, was ich vorläufig als ›Überschreitung‹ bezeichne und wodurch jene Formen der Rede über ihre unmittelbare Bedeutung hinaus auf das Ganz Andere weisen.« 103 Für die biblischen Texte gilt, dass sich insbesondere die Rede vom Reich Gottes als Bezugspunkt aller Grenzausdrücke und damit der Gleichnisse anbietet. Das Gleichnis macht so mit Hilfe der Verbindung von Erzählung und Grenzausdrücken das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen deutlich. Worum es hier geht, ist auf der Ebene der philosophischen Reflexion als Paradox zu beschreiben: »Aber welcher Zug im Erzählgerüst hat vor allem anderen metaphorische Qualität? Ich behaupte: die Extravaganz, die Paradoxie, die Hyperbel.« 104 Wiederum stoßen wir auf eine elementare Spannung, die zu erzeugen für die Rede von Gott notwendig ist. Doch hat diese Spannung keine Augenblicksexistenz und punktuelle Wirkung wie bei den Metaphern, sondern sie lässt den scheinbar gewohnten Alltag in seiner Komplexität neu sehen: »Die Spannung ist vollständig da angesiedelt, wo es um die Betrachtung der Wirklichkeit geht, nämlich zwischen dem in der Fiktion erschlossenen Einblick und unserer gewöhnlichen Sicht der Dinge.« 105 Gerade in dem, was nicht aufgeht, liegt das Spezifikum religiöser Rede im Sinne der Offenbarung: »Wenn ›offenbaren‹ und ›verbildlichen‹ konstrastiert werden müssen, scheint mir die Funktion des besonderen qualifizierenden Moments religiöser Rede im Gegenteil darin zu liegen, den von uns angestrebten Entwurf einer Ganzheit unserer Existenz zu durchkreuzen – einen Entwurf, den Paulus mit dem Akt des ›Selbstruhms‹ oder mit dem der ›Werkgerechtigkeit‹ gleichsetzt.« 106 Damit knüpft Ricœur bei einem zentralen Moment seiner Gleichnisinterpretation an das Wort vom Kreuz an. Die Rede vom Kreuz setzt die Fähigkeit zur eigenständigen Weltinterpretation außer Kraft, um so Raum zu gewinnen für

102 103 104 105 106

Ricœur 1975 (1): 309. Ricœur 1975 (1): 317. Ricœur 1975 (1): 336. Ricœur 1975 (1): 305. Ricœur 1975 (1): 336.

200 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

die auf neue Weise wirklichkeitserschließende Rede von Gott. Die Zielrichtung dieser Interpretation der Gleichnisse von Ricœur weist auf jene Phänomene der Wirklichkeit, für die es keine angemessene sprachliche Form gibt und für die wir innerhalb des Schemas des Chiasmus die Erscheinungsweise X identifiziert haben. Ricœur kann in der Summe das Gleichnis wie folgt definieren: »Das erzählende Gleichnis basiert auf einer Verbindung, die sich aus den Komponenten einer narrativen Form, eines metaphorischen Prozesses und eines besonderen ›qualifizierenden Momentes‹ (qualifier) zusammensetzt.« 107 Obwohl Ricœur die Bedeutung der Vielfalt der Textformen in der Rede von Gott deutlich herausarbeitet, so haben die Gleichnisse doch bei ihm eine hervorgehobene Stellung. In den Gleichnissen vereinen sich zentrale Elemente der Rede von Gott. Gleichnisse stehen auch im Mittelpunkt der Predigt des historischen Jesus, die Ricœur zum Vorbild für die Rede von Gott nimmt. So fasst er zusammen: »Wenn der Fall des Gleichnisses exemplarisch ist, so deswegen, weil es narrative Struktur, metaphorischen Prozess und Grenzausdruck vereinigt. Dadurch stellt es eine Kurzfassung der Nennung Gottes dar.« 108

E.

Zu den Grenzausdrücken

Die Interpretation der Gleichnisse durch Ricœur zeigt, welche Bedeutung jenen Elementen der biblischen Rede von Gott zukommt, die er als Extravaganz, Grenzausdrücke oder »qualifier« beschreibt. Sie sind es, die die Kraft der Rede von Gott tragen, Wirklichkeit neu zu beschreiben. Die Interpretation der Grenzausdrücke ist bei Ricœur eng verbunden mit seiner Deutung der Metapher: Metaphern weisen über die sie umgebenden Ordnungen hinaus, und zugleich bedürfen sie der Ordnungen, um als Metaphern wirken zu können. Metaphern transzendieren Ordnungen, indem sie sich zugleich auf sie beziehen. Grenzausdrücke als Begriffe innerhalb einer religiösen Sprache sind ebenso Teil einer Ordnung, nämlich der Rede von Gott, und zugleich transzendieren sie diese Ordnung. Das geschieht nun aber in einer gegenüber der allgemeinen Metapher gesteigerten Weise. »Jetzt soll gezeigt werden, dass nicht so sehr die metaphorische Funktion als 107 108

Ricœur 1975 (1): 248. Ricœur 1977 (2): 173.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

solche religiöse Sprache konstituiert, sondern eher eine bestimmte Intensivierung der metaphorischen Funktion (…).« 109 Haben Metaphern die Eigenschaft, Spannungen zum Ausdruck zu bringen, zwischen der Ordnung der Rede einerseits und dem, was sich der Ordnung der Rede entzieht andererseits, so tun dies Grenzausdrücke in einer noch stärkeren Weise. Sie sind auf eine schwer zu bestimmende Art ungewöhnlich, denn sie passen nicht nur nicht in die spezielle Ordnung, die eine Rede zugänglich macht, – würden aber in anderen Redeordnungen durchaus ihren Platz finden– sondern sie passen vielmehr auch in keine andere Ordnung. Sie haben, so führt Ricœur im Anschluss an die »model-qualifier« Struktur von Ramsey aus, die Funktion, »uns einen logischen Skandal zu präsentieren, eine Modalität also, die Logik überhaupt zum Schweigen bringt.« 110 Worte werden außer-ordentlich, wenn sie zu Grenzausdrücken werden. Sie sind mit Erfahrungen verbunden, die ihrerseits die bekannten Ordnungen transzendieren, Grenzausdrücke beziehen sich auf Grenzerfahrungen. Sie haben etwas, was menschlicher Rede als solcher nicht eigen ist, ohne dass das Besondere direkt zu fassen wäre. Sie haben eine Qualität, die zu so etwas führt, was das ganz Andere genannt werden kann, weil sie eine grundlegende Überschreitung bezeichnen. 111 Die Gegenläufigkeit gegen alle Ordnung, die Grenzausdrücke in Gang setzen, übersteigt die Wirkung poetischer Metaphern. Grenzausdrücke lassen sich in Ordnungsvorstellungen von Korrespondenzen nicht mehr einfügen: »The paradoxical universe of the parable, the proverb, and the eschatological saying, on the contrary, is a ›burst‹ or ›exploded‹ universe.« 112 Der Begriff des Grenzausdrucks wird von Ricœur variiert durch verwandte Begriffe, durch den der »Extravaganz« oder des »enigmatischen Ausdrucks«. Das Besondere religiöser Rede bestimmt Ricœur als »Extravaganz« von Metaphern, eine Auszeichnung, die andeutet, dass der Gebrauch von Metaphern in religiösen Texten von einer sehr weitgehenden Offenheit geprägt ist: »Könnte man nicht sagen, dass diese Dimension der Extravaganz die Offenheit des metaphorischen Prozesses von der Geschlossenheit der Erzählform befreit?« 113 In spä-

109 110 111 112 113

Ricœur 1975 (1): 317. Ricœur 1975 (1): 331. Vgl. Ricœur 1975 (1): 317. Ricœur 1978: 60. Ricœur 1974 (3): 69.

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

teren Texten ersetzt Ricœur den Begriff Grenzausdruck (limit-expression) zum Beispiel durch den Begriff »geheimnisvoller Ausdruck« (enigma-expression). 114 In jeder der Bezeichnungsformen wird wiederum deutlich, dass die Rede von Gott auf konstitutive Weise von Ausdrücken geprägt ist, die menschliche Ordnungen überschreiten. Das Überschießende, Transzendierende, das die Grenzausdrücke in der Rede von Gott ausweist, die ja immer auch menschliche Rede ist und damit auf menschliche Ordnungen angewiesen, lässt sich in dem Schema des Chiasmus mit dem Verhältnis der Erscheinungsweise Kulturg und der Erscheinungsweise X in Verbindung setzen. Gerade weil es nicht möglich ist, über die Phänomene der Erscheinungsweise X in einer allgemeineren Form Rechenschaft abzulegen, weil diese Phänomene die verfügbaren Ordnungen überschreiten, ist auch die Beziehung von Grenzausdrücken mit diesen Phänomenen nicht allgemein beschreibbar. Und doch ist die Funktion der Grenzausdrücke in der Rede von Gott auch nicht völlig willkürlich. Die Rede von Gott ist nicht beliebig und enthält nicht einfach freie semantische Valenzen. Die Einbindung der Grenzausdrücke in Gleichnisse und Erzählungen, in Gesetzestexte und weisheitliche Texte zeigt, dass es zwar einerseits keine Ordnung gibt, die sie fasst, dass es aber andererseits Kontexte gibt, auf die diejenigen immer wieder Bezug nehmen, die von Gott zu reden. Ricœur nennt als herausgehobenen Grenzausdruck den des »Reiches Gottes«: »Ich schlage vor, die Wendung ›Reich Gottes‹ als Grenzausdruck zu bezeichnen, kraft dessen die verschiedenen in religiöser Sprache beanspruchten Redeformen ›modifiziert‹ werden und eben deshalb in einem letzten Punkt zusammenlaufen, der zu ihrem gemeinsamen Ort der Begegnung mit dem Unendlichen wird.« 115 Ähnlich zu der Pluralität der Formen der Rede von Gott in biblischen Texten findet sich auch hier eine Pluralität der Nennungen zentraler Grenzausdrücke wie der des »Reiches Gottes«, die nicht reduziert werden darf, damit die Grenzausdrücke ihre Kraft entfalten können. Vgl. Ricœur 1981: 164, vgl. aber auch die Anmerkung Ricœur 1981: 165. Ricœur 1975 (1): 318. Den Ausdruck des Reich Gottes wertet Ricœur als so etwas wie das Integral aller Grenzausdrücke: »Das Symbol ›Reich Gottes‹ kann als der gemeinsame Bezugspunkt dieser verschiedenen Redesorten und somit auch ihrer Funktionsweise als Grenzausdrücke angesehen werden. Das ›Reich Gottes‹ ist gewissermaßen – etwas gewagt formuliert – der Grenz-Bezug jener Grenzausdrücke.« Ricœur 1975 (1): 332. 114 115

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

Bei aller Betonung dieses transzendierenden Effektes kann Ricœur aber die Funktion der je einzelnen Grenzausdrücke auch relativieren, da sie nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in dem Verbund von komplexen Textstrukturen zur Geltung kommen. Hätten die Grenzausdrücke als solche, als Worte oder zusammengesetzte Ausdrücke, die Fähigkeit, religiöse Valenzen zu tragen, so wäre die Ebene des Textes entwertet, die aber für Ricœur eine zentrale Rolle spielt. »Man könnte also die unter dem Druck der Nennung Gottes vor sich gehende Wandlung der dichterischen Sprache in religiöse Sprache nicht auf das bloße Spiel der Grenzausdrücke zurückführen. Das Gesamt der Modelle und ihrer Modifikatoren ist der Ort dieser Wandlung.« 116 So bleibt der Ausdruck »Grenzausdruck« eher ein Hinweis auf einen Vorgang, der nicht nur bestimmte Worte, sondern gerade die Texte betrifft, in denen diese Worte anzutreffen sind. Letztendlich sind es nicht singuläre, schwer zu greifende Ausdrücke allein, die einen religiösen Text auszeichnen. Eher ist es ein Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Faktoren, die ein religiöses Transzendieren ermöglichen. Die Art und Weise, wie sich die Rede von Gott indirekt auf das Absolute bezieht, muss letztendlich unbestimmt bleiben. Gerade weil Ricœur die methodische Vermittlung durch hermeneutische Verfahren betont, erkennt er zugleich, dass gerade der Umgang mit religiösen Texten nicht bei den geläufigen Formen der Interpretation stehen bleiben kann. Denn die religiösen Erfahrungen bringen eine genuine Transzendenzerfahrung zum Ausdruck, sie sind Grenz-Erfahrungen, die seltsam wirken, weil sie auf das Ganze der menschlichen Existenz zielen. »Die durch religiöse Sprache zuwege gebrachte Einsicht ist ›seltsam‹ (odd), weil die Beanspruchung ›total‹ ist und dies in zweifacher Hinsicht: Sie verpflichtet meine Existenz in ihrer Ganzheit und zielt, weil es sich um eine Betroffenheit durch religiöse Sprache handelt, auf das Ganze des menschlichen Lebens.« 117 Mit Hilfe des Schemas des Chiasmus kann man gut zeigen, dass es für die Interpretation der Grenzausdrücke keine vollständigen Abbrüche gibt, sondern kontinuierliche Annäherung aus Ordnungen heraus auf das, was sich diesen Ordnungen selbst entzieht. Denn das Schema kennt keine Abbrüche oder festen Zäsuren. So sind vielfältige Annäherungen an die Mitte des Schemas denkbar, ohne dass da116 117

Ricœur 1977 (2): 179 Ricœur 1975 (1): 335.

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Die Erscheinungsweise Kulturg: Hermeneutische Analysen der Rede von Gott

raus eine Ordnung entstünde. Der Ricœur’sche Terminus GrenzAusdruck weist darauf hin, dass es durchaus Sinn macht, sich dem Gemeinten von den Ordnungen her bis zu einer bestimmten Grenze anzunähern. Grenzausdrücke markieren die Nähe zum Unbenennbaren, was plausibel macht, dass es bei diesen Ausdrücken einen immer noch, wenn auch verschwindenden semantischen Gehalt gibt. Die Annäherungen sind im Übrigen keine an Gott selbst. Wir werden weiter unten sehen, dass die Rede von Gott immer nur als menschliche Antwort auf eine Erfahrung mit Gott gewertet werden kann. Auch die Grenzausdrücke verweisen auf menschliche Antworten, nicht direkt auf das, worauf sie antworten. Doch transportiert diese Antwort immer auch einen Verweis auf das, was sie selbst übersteigt. Die Rede von Gott versucht so Unmögliches und kann sich mit verständlichen Annäherungen nicht zufrieden geben. Sofern die Rede von Gott wirklich Rede von Gott ist, bleibt immer etwas unabgegolten. Deshalb hat Ricœur auch betont, dass es einen Unterschied zwischen poetischen Metaphern und den Grenzausdrücken der Rede von Gott gibt. Während Metaphern und poetische Texte trotz aller transzendierenden Tendenz noch innerhalb des Umkreises weltlicher Ordnungen bleiben, ist die Rede von Gott als eine Rede von etwas Absolutem darauf angewiesen, auch darüber hinaus zu weisen. Dort ist aber keinerlei Vermittlung mehr möglich. Hier kommen die Grenzausdrücke zur Wirkung: »limit-expressions that bring about a rupturing of ordinary speech.« 118 Es zeichnet die Grenzaudrücke gerade aus, dass sie immer über sich selbst hinaus zu weisen versuchen: »Wenn wir jetzt das, was vom Unnennbaren Namen gesagt wurde (…) und diese Art der durch den konzentrierten Gebrauch der Überzogenheit, der Hyperbel, des Paradoxes vollzogenen Überschreitung der gewöhnlichen Formen des Gleichnisses, des Sprichworts, der eschatologischen Proklamation zusammennehmen, dann zeichnet sich eine neue Kategorie ab, die man Grenzausdrücke nennen kann.« 119 Ricœur weist damit letzten Endes auf die Grenzen einer hermeutischen Interpretation der Rede von Gott hin. Es bleibt die Frage, ob nicht hier phänomenologische Beschreibungsformen in der Weise, wie Merleau-Ponty und Waldenfels sie erarbeitet haben, weiterhelfen können. Gibt es nicht jenseits der Interpretation von Texten weitere 118 119

Ricœur 1978: 60. Ricœur 1977 (2): 173.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

Möglichkeiten, sich den Erfahrungen mit dem Absoluten zu nähern? Auch diese Methoden werden indirekt sein müssen und nicht umhinkommen, paradoxe Beschreibungen zu nutzen. Man kann etwa mit Bernhard Waldenfels davon sprechen, dass sich mit bestimmten Phänomenen auch mehr zeigen kann, als sie zeigen. Dafür hat er das Wort der Hyperphänomene geprägt. Diese Hyperphänomene definiert er wie folgt: »Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist.« 120 Die phänomenologische Forschung kann Verfahren anbieten, die sie in anderen Kontexten erprobt hat, etwa in der Interpretation der Malerei, die plausibel machen können, warum biblische Grenzausdrücke adäquate Weisen der Annäherungen an elementare Erfahrungen, an Grenzerfahrungen sind. In dem folgenden Kapitel soll dieser Weg weiter verfolgt werden.

4.

Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

Nun gilt es, in einem weiteren Schritt die hermeneutische Analyse der Erscheinungsweise Kulturg mit den geschichtlichen Prozessen, so wie sie sich in der Erscheinungsweise Kulturd zeigen, in Beziehung zu setzen. Zwischen den Erscheinungsweisen Kulturg und Kulturd gibt es einen engen Zusammenhang, den wir mit Hilfe der Theorie der dreifachen mimēsis von Paul Ricœur beschreiben können. Die Erscheinungsweisen sind über einen wechselseitigen Bezug miteinander verbunden ähnlich wie die äußeren Erscheinungsweisen Gedanke und Ding. 121 Die Sprache ist das vermittelnde Medium, das die beiden korrespondierenden Erscheinungsweisen miteinander korreliert. Durch die Sprache entstehen Ordnungsstrukturen, die sowohl die Erscheinungsweise Kulturg konfigurieren wie auch die Erscheinungsweise Kulturd erschließen. Die historische und biographische Entwicklung, die Entwicklung einer sozialen Gemeinschaft und ihre kulturell geprägten Symbole entstehen in einem wechselseitigen Prozess. Erfahrungen, Handlungen und Wahrnehmungen werden in sozialen Interaktionen sprachlich artikuliert und in wiederkehrenden Formeln, Erzählungen und Beschreibungen oder poetischen Texten zum Ausdruck gebracht. Diese Artikulationen wiederum wirken auf 120 121

Waldenfels 2012: 9. Vgl. Vogelsang 2014 (1): 263 ff.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

die aktuelle Gestalt und die Handlungen der Gemeinschaften ebenso zurück wie auf die Interpretation ihrer eigenen Geschichte. 122 In dem bisherigen Gedankengang haben wir die Sprachformen der Erscheinungsweise Kulturg mit hermeneutischen Methoden untersucht. Sie weisen partikulare und begrenzte Ordnungen auf. Wir haben in den Strukturen, die sich dabei zeigen, dem Ansatz von Ricœur folgend, Spannungen identifiziert, denn sie vermitteln aufgrund ihrer begrifflichen Struktur und aufgrund umfangreicher Darstellungen in Form von Texten und Erzählungen ein Streben nach einer umfassenden Ordnung (Konsonanz) und nach Eindeutigkeit mit dem, was sich aber nicht ordnen lässt. Eine ähnliche Situation gilt ebenso, das zeigt die Symmetrie des Schemas des Chiasmus, für die Erscheinungsweise Kulturd. Auch sie ist eingespannt zwischen den relativ umfassenden Ordnungen der Erscheinungsweise Ding und den geringen Ordnungen der Erscheinungsweise X. So ist es nahe liegend, auch hier ein Äquivalent zu jenen Spannungen zu suchen, die wir für die Texte und Reden der Erscheinungsweise Kulturg nachweisen konnten. Das Äquivalent in der Erscheinungsweise Kulturd ist die Kontingenz, die allen historisch gewachsenen Strukturen und Ordnungen anhaftet. Historische Abläufe wirken zufällig, weil man sie nicht eindeutig aus einer Super-Ordnung ableiten kann, sie hätten auch anders stattfinden können. Die historischen Phänomene sind einerseits nicht einzubinden in strenge, nach Gesetzen ablaufende Prozesse, in denen sich die Phänomene der Erscheinungsweise Ding zeigen, sie sind allerdings andererseits auch nicht völlig ungebunden. Die Eigenschaft der Kontingenz betrifft auch die Rede von Gott, weil diese immer auch eine historisch-kulturelle Erscheinung ist. Sie ist Teil der Kommunikation zwischen Menschen in jeweils spezifisch historischen Situationen. Die kommunizierenden Menschen sind auf 122 Hier und im Folgenden werden die Ausdrücke »geschichtlich« und »historisch« ohne systematischen Unterschied genutzt. Damit soll die Diskussion um die beiden Begriffe nicht ignoriert werden. Es gibt eine terminologische Differenzierung, der gemäß sich ein historischer Prozess sich auf objektivierbare Daten bezieht, dagegen für einen geschichtlichen Prozess die eigene Beteiligung konstitutiv ist. Der Chiasmus stützt diese Differenzierung: »Geschichtliches« zeigt sich dann eher in der Nähe zu der Erscheinungsweise X, »Historisches« eher in der Nähe zu der Erscheinungsweise Ding. Jedoch ist die Unterscheidung innerhalb der Erscheinungsweise Kultur eine Frage der Akzentuierung. In gewisser Weise bestätigt diese Differenzierung zwischen Historie und Geschichte jene Spannung, der auch die Phänomene der Erscheinungsweise Kulturd unterworfen sind. Zur Unterscheidung von Geschichte und Historie vgl. auch Hiller 2009: 376 f.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

vielfältige Weise in die ihnen vorgegebenen lebensweltlichen und kulturellen Strukturen eingebunden. Die Art und Weise, wie die Rede als historisches Geschehen Menschen miteinander verbindet, lässt sich in der Erscheinungsweise Kulturd darstellen. Die Rede als Rede von Gott lässt sich auch als historischer Vorgang nicht kontrollieren und in ihrer historischen Entwicklung vorhersagen. Anders steht es mit der Rede von Gott als menschlicher Rede, das heißt als kulturelle Erscheinung. Hier kann man kultursoziologische Untersuchungen anstellen und Abschätzungen zu der Entwicklung von Standards (Bekenntnisse) oder zu der Ausbreitung der Rede (Mission) vornehmen. 123 Ähnlich zu der hermeneutischen Untersuchung der Rede erhöht auch die Rede von Gott als historisches Ereignis die Spannungen gegenüber einer säkularen Entwicklung. Sie unterliegt gleich in mehrfacher Hinsicht der Einschränkung der Kontingenz. Wie lässt sich die Theorie der dreifachen mimēsis auf die Rede von Gott anwenden, wie lässt sich das Verhältnis der beiden Erscheinungsweisen Kultur zueinander darstellen? Diese Theorie fragt nach dem Zusammenhang von Texten und der Welt sowohl des Textproduzenten wie auch des Textrezipienten. Ricœur schlägt mit dieser Theorie die Brücke zwischen den drei Größen »Welt des Produzenten«, »Welt des Textes«, »Welt des Rezipienten«, indem er auf Ähnlichkeiten der Zeitauffassung aufmerksam macht. 124 In einem vorbereitenden Schritt führt er eine Analyse des Verhältnisses jener Zeit durch, die die spezifische Zeitform historischer Prozesse etabliert. Diese Zeit ist sowohl von der phänomenologischen Zeit, der gedehnten Gegenwart, wie auch von der physikalischen Zeit, der linearen Reihung von Zeitpunkten, zu unterscheiden. So ergibt sich »die Stelle der historischen Zeit zwischen der phänomenologischen Zeit und der Zeit, die die Phänomenologie nicht zu konstituieren vermag und die man die Zeit der Welt, die objektive oder vulgäre Zeit nennt.« 125 Diese Analyse der historischen Zeit stimmt mit der ZwiDie Unterscheidung zwischen der Rede von Gott und der Rede von »Gott« an dieser Stelle entspricht in etwa der klassischen theologischen Unterscheidung zwischen der ecclesia visibilis und der ecclesia invisibilis. 124 Wir können diese Fragestellung gut übernehmen, obwohl der Begriff der »Welt« sich als schwierig erwiesen hat. Dann geht es im Prozess der dreifachen mimēsis statt um Welten eher um den Zusammenhang von drei immer begrenzten Ordnungstrukturen. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zum Begriff der Welt im Ansatz von Ricœur im fünften Abschnitt dieses Kapitels. 125 Ricœur1985: 165. (Hervorhebung im Original) 123

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

schenlage der Erscheinungsweise Kulturd zwischen der Erscheinungsweise Ding und der Erscheinungsweise X überein. 126 Nun stellt Ricœur in einem zweiten Schritt ein enges Verhältnis zwischen der erzählten Zeit, also einer Eigenschaft der Texte als Texte (im Chiasmus in der Erscheinungsweise Kulturg), und der historischen Zeit (im Chiasmus in der Erscheinungsweise Kulturd) fest. Er folgt dabei der Hypothese, »dass zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht (…).« 127 Diese Erfahrung von Zeit, die mit der der Erzählung korrespondiert, erschließt sich für Ricœur als die im engeren Sinne menschliche Zeit. 128 Die enge Korrespondenz zwischen der historischen Zeit und der erzählten Zeit erlaubt Ricœur dann in einem dritten Schritt jenen Brückenschlag zwischen der Welt des Textproduzenten bzw. der Welt des Textrezipienten und der Welt des Textes mit Hilfe der Theorie der dreifachen mimēsis. Die Ausgangssituation ist die Lebenswelt, in der die Rede von Gott ergeht. Diese Rede manifestiert sich in Erzählungen, in alltäglichen religiösen Praktiken, in Liturgien, in Gebeten, in dem Lesen von Texten. 129 Der im christlichen Sinne glaubende Mensch erlebt die Welt in einer bestimmten Weise, nämlich so, dass alles, was sich zeigt, sich auf dem Hintergrund der Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus darstellt. Diese Situation, in der sich lebensweltVgl. Vogelsang 2014 (2): 244 ff. Ricœur 1983: 87. 128 Ricœur erschließt die menschliche Zeit, indem er die Fiktion in das Verhältnis von Text und historischer Welt einbezieht: »Aus diesen innigen Austauschbeziehungen zwischen Historisierung der Fiktionserzählung und Fiktionalisierung der historischen Erzählung entsteht das, was man die menschliche Zeit nennt, die letztlich nichts anderes ist als die erzählte Zeit.« Ricœur 1985: 163. Der Ausdruck »Fiktion« ist gerade im Verhältnis zur Rede von Gott sicherlich eine besondere Herausforderung. Jedoch wird durch ihn zum Ausdruck gebracht, dass es eben keine schon vorgegebene Ordnung gibt, innerhalb derer sich die Rede nur einzufügen habe. Die Rede von Gott ist nicht einfach Teil einer objektiven und geordneten Welt. Theologisch wird diese Offenheit und Ungebundenheit der Rede von Gott mit dem Bezug auf den heiligen Geist aufgearbeitet. Hier konkretisiert sich die Erkenntnis, dass die Rede von Gott nicht festgelegt, sondern immer wieder der aktualisierenden Artikulation bedürftig ist, die Rede von Gott ist theologisch gedeutet von der Wirkung des heiligen Geistes abhängig. Die begrenzte Einsicht in die Verhältnisse macht es möglich, dass Außenstehende nichts als Fiktion zu erkennen in der Lage sind. 129 Dies gilt auch für die ersten Christen. Wir sahen ja schon, dass diese sich von Beginn an auf biblische Texte bezogen und berufen haben. Schon am Beginn des Christentums stand die Auslegung von Texten. 126 127

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

liche Redeformen und Handlungspraktiken vermischen, entspricht der mimēsis I in der Nomenklatur von Paul Ricœur. Sie beschreibt eine historische Vermittlung kulturell-lebensweltlicher Muster. Ricœur legt besonderes Gewicht darauf, dass gerade auch die lebensweltlichen Handlungen durch ihre inhärente Struktur eine Anschlussfähigkeit zur Erzählbarkeit aufweisen: »Wenn es zutrifft, dass die Fabel eine Handlungsnachahmung ist, wird zunächst eine vorgängige Kompetenz erfordert: die Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen; eine Semantik der Handlung erläutert diese erste Kompetenz.« 130 Die Verortung von mimēsis I im Schema des Chiasmus ist die Erscheinungsweise Kulturd. Hier zeigen sich die Phänomene, die sich aus der Vermittlung historischer Handlungen und sozialer Arrangements ergeben. Solchermaßen in die historische Vermittlung der Rede von Gott eingebunden, interpretieren Akteure ihre Handlungen, nehmen die Sinnverweise ihrer kulturellen Umgebung auf und verbinden sie mit eigenen Erfahrungen: Sie reden von Gott. Die Rede bzw. der Text, die nun entstehen, entspricht der mimēsis II. Der Text wird zwischen zwei lebensweltlichen Verortungen lokalisiert, zwischen der des Produzenten und der des Rezipienten: »Indem ich die mimēsis II zwischen eine frühere und spätere Stufe der mimēsis stelle, versuche ich sie nicht nur zu lokalisieren und zu umrahmen. Ich möchte vielmehr ihre Vermittlungsfunktion zwischen dem Vorher und dem Nachher der Konfiguration besser verstehen.« 131 Diese Vermittlungsfunktion nimmt die Erzählung gleich in mehrfacher Hinsicht wahr: Sie vermittelt einzelne Ereignisse mit der Mannigfaltigkeit einer immer umfassenderen Geschichte, sie vereinigt heterogene Anteile wie Akteure, Umstände, Aussagen und sie vermittelt durch die Strukturierungsleistung der erzählten Zeit. 132 Die Rede bzw. der Text gewinnt nach Ricœur eine gewisse Unabhängigkeit von der Lebenssituation des Redenden bzw. Schreibenden. Keine Rede, kein Text ist ohne Fiktion, ohne Auslassungen, ohne die Setzung bestimmter Präferenzen in der Darstellung. Dies haben schon die Bedingungen der nur partikularen und unvollständigen Ordnungen der Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur zur Folge. Die historische Entwicklung ist allen, die darin involviert sind, nur in Ansätzen transparent. Entspre130 131 132

Ricœur 1983: 90. Ricœur 1983: 105. Vgl. Ricœur 1983: 105 ff.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

chend unvollständig und ergänzungsbedürftig ist, was Grundlage für die Rede ist, was Text werden kann. Doch trotz aller möglicher Verschiebungen, Ergänzungen und Zusätze entsteht eine Rede, ein Text, mit der sich die Autorin, der Autor identifizieren kann: »Auch die Fabelkomposition erzeugt eine gemischte Verständlichkeit (…), die aus dem besteht, was wir schon die Pointe, das Thema, den ›Gedanken‹ der erzählenden Geschichte nannten und aus der anschaulichen Darstellung der Umstände, Charaktere, Episoden (…).« 133 Nach Ricœur entsteht in ein und demselben Schritt mit der Eigenständigkeit der Rede, des Textes eine Struktur, die sich von der Welt des Produzenten der Rede, des Textes unterscheidet. 134 Sie führt zur Begründung der Eigenständigkeit des mythos, des Zusammenhangs einer Erzählung. Dies nennt Ricœur mimēsis II. In dem Chiasmus ist die Eigenständigkeit gewährleistet durch die Unterscheidung der Strukturen der Erscheinungsweise Kulturg von denen der Erscheinungsweise Kulturd. In dem dritten Schritt schließlich wird die Rede als Rede gehört bzw. der Text als Text gelesen. Im gelingenden Fall erreicht die Rede von Gott als Rede oder als Text die Empfängerin, den Empfänger so, dass in dem Vollzug der Rezeption die Grenzausdrücke ihre Kraft entfalten und die Rede von Gott die Wirklichkeit für die Rezipientin, für den Rezipienten neu erschließt. Mit einer klassischen Metapher formuliert hört sie oder er die Worte und »beherzigt« sie, die Worte gehen »zu Herzen«. Die Worte verändern nicht nur das Selbstverständnis des hörenden bzw. lesenden Menschen. Sie haben auch die Fähigkeit, grundlegende Elemente der Deutung der eigenen Identität oder der Wirklichkeit zu verschieben, sie eröffnen einen anderen Deutungsraum. Die Rezeption des Textes findet nun aber unter anderen Bedingungen statt als seine Produktion, dies entspricht nach Ricœur der mimēsis III: »Der Akt des Lesens ist somit der Operator, der mimēsis III mit mimēsis II verknüpft. Er ist der letzte Träger der Refiguration, der Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel.« 135 Der Mensch, der die Rede hört, den Text liest, ist gegenüber der Produktion des Textes in eine andere historisch kontingente leRicœur 1983: 110 Es entsteht so etwas wie eine Welt des Textes: »The world of the text is therefore not the world of everyday language. In this sense it constitutes a new sort of distanciation that could be called a distanciation of the real from itself.« Ricœur 1986 (4): 83. 135 Ricœur 1983: 122. 133 134

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

bensweltliche Situation eingebunden. Ricœur beschreibt das so, dass die Hörerin der Rede, dass der Leser des Textes sich im Verstehensprozess vor der Rede, dem Text befindet. 136 Die Wirkung der Worte verändert die lebensweltlichen Phänomene, die sich zeigen, der Rezipient kann die eigene Lebenswelt mit anderen Augen sehen. Auch hier ändert sich durch die Rede von Gott der Hintergrund der Phänomene durch eine unverfügbare Wirkung. Dann zeigen sich die scheinbar vertrauten Phänomene vor dem Hintergrund der Zuwendung Gottes. Die Veränderungen, die ein Text bewirken kann, betreffen nicht nur die Wahrnehmungen der eigenen Identität oder der Wirklichkeit, sondern auch Handlungen. Ebenso wie Ricœur in mimēsis I die Welt der Handlungen wichtig ist, von der aus die Produktion eines Textes startet, so gilt das auch für die Applikation: Ricœur betont jenseits der hermeneutischen Interpretation der Texte auch immer wieder die Praxis, die Handlungen bis hin zur Politik. »Die Weite der Welt des Textes erfordert eine gleiche Weite auf seiten der applicatio, die ebenso sehr politische Praxis wie Arbeit des Denkens und der Sprache sein wird.« 137 Dieses durch die Lehre von der dreifachen mimēsis dargestellte Modell der Verortung, der Formung und der Wirkung der Rede von Gott setzt sich deutlich von zwei alternativen Modellen religiöser Kommunikation ab. Einerseits unterscheidet es sich von der Vorstellung, es gäbe eine Botschaft, die für den Produzenten wie auch für den Rezipienten dieselbe wäre und die genau dadurch dieselbe ist, dass sie in einer Theorie durch eindeutige Begriffe fixiert werden könnte. Eine solche Vorstellung lässt sich aber in keiner Weise mit den von uns in der Aufnahme der Theorie von Ricœur analysiserten Erscheinungsweisen Kultur vereinbaren. Denn dort herrschen keine eindeutigen Ordnungen, sondern nur begrenzte und fragile Ordnungen, die immer auslegungs- und aktualisierungsbedürftig sind, die auf eine immer neue Aneignung angewiesen sind. Die Vorstellung einer eindeutigen religiösen Kommunikation geht von der irrigen Annahme aus, die Rede von Gott ließe sich in vorgegebenen Ordnungen beschreiben. Dadurch sei sie fixierbar und böte die Möglichkeit

136 »Ultimately, what I appropriate is a proposed world. The latter is not behind the text, as a hidden intention would be, but in front of it, as that which the work unfolds, discovers, reveals. Henceforth, to understand is to understand oneself in front of the text.« Ricœur 1986 (4): 84. 137 Ricœur 1977 (2): 181.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

einer Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Damit aber wäre die Rede von Gott zugleich in der Verfügung der redenden Menschen, sei es nun die endgültige theologische Theorie oder das kirchliche Lehramt. Alte Missionsvorstellungen, evangelikale Verengungen der Interpretation der Rede von Gott und auch eindeutige Unterscheidungen in historischen Bekenntnissen zehren von dieser Annahme. 138 Das vorgeschlagene Modell behauptet nun auch nicht das Gegenteil, es ist also nicht alles unverfügbar oder intransparent. Schon gar nicht ist die Rede von Gott beliebig. Man kann mit Fug und Recht um bessere Weisen der Rede von Gott streiten und sich gegenüber schlechteren abgrenzen. Hier spielen die historischen Gemeinschaften, von denen die Rede von Gott getragen wird, eine wichtige Rolle. 139 Die Rede von Gott ist als Rede Teil der Erscheinungsweisen Kultur und kann nur unter den hier gegebenen Bedingungen beurteilt werden. Die Gemeinschaft, die die Rede von Gott trägt, ist nicht durch ein Lehramt ausgezeichnet, sondern als lebendige Erzählgemeinschaft. Neben der sozialen Gemeinschaft hat der biblische Kanon, die verbindliche Festlegung von normativen Texten, eine große Bedeutung, so kann der Bezug auf biblische Texte kontrovers diskutiert werden. Dennoch ist es entscheidend, dass die Rede von Gott als Rede von Gott nie mit diesen Festlegungen identifiziert werden kann. Andererseits unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Modell der Rede von Gott von der Vorstellung einer unmittelbaren Weitergabe zwischen zwei Menschen als einem Geschehen zwischen Ich und Du. Eine solche Interpretation lässt sich nicht mit den Bedingungen der Erscheinungsweisen Kultur vereinbaren. Denn im Falle einer un138 So unterscheidet etwa die Confessio Augustana, das erste Bekenntnis der lutherischen Kirchen, im Anschluss an viele Artikel: »Derhalben werden verworfen alle Ketzereien …« (»Damnant omnes haereses …«) (Vgl. Bekenntnischriften: 51 et passim). Wenn auch die zugrunde liegende Haltung eindeutiger Unterscheidungen zwischen wahr und falsch fragwürdig ist, so kann über scharfe historische Abgrenzungen nicht leichthin der Stab gebrochen werden. Die Interpretation der Rede von Gott mag auch in bestimmten historischen Situationen eindeutige Abgrenzungen notwendig machen, etwa bei der Barmer Theologischen Erklärung, aber auch diese ist situativ eingebunden. 139 Der Bezug auf die Gemeinschaft ist der Religion nicht nur äußerlich, sondern konstituiert sie geradezu: »Zum einen ist Religion als gelebte Religion nicht nur private Religiosität (…), sondern gemeinschaftliche Lebenspraxis, also keine soziale Veräußerlichung der für das Eigentliche gehaltenen religiösen Innerlichkeit, sondern eher umgekehrt dasjenige, ohne die es kein individuelles religiöses Leben und Bewusstsein geben könnte.« Dalferth 2003: 92.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

mittelbaren Kommunikation wäre dieser kommunikative Akt unverfügbar und nicht verallgemeinerbar, man könnte eine Rede von Gott durch keine Kriterien von dritter Seite beurteilen. Doch das entspricht offenkundig nicht der Wirklichkeit der christlichen Rede von Gott. Wir können auf eine zweitausendjährige Geschichte zurückblicken und die Situationen, in denen die Rede gelang, und die Situationen, in denen sie misslang, sind nicht völlig willkürlich verteilt. Es gibt Bedingungen, etwa ein Verständnis für die eigene Situation wie auch für die Situation der Rezipienten, wie die Fähigkeit der zwischenmenschlichen Zuwendung und der Empathie, die die Wirkmächtigkeit der Rede von Gott befördern. Der Vorgang der dreifachen mimēsis kennt aufgrund der partikularen Ordnungen immer auch die Fähigkeit zur Refiguration, die Verhältnisse in den Erscheinungsweisen Kultur sind nicht festgefügt. So ist eine Veränderung möglich zwischen der mimēsis I, jener lebensweltlichen Basis aller Erzählungen, und der mimēsis III, der Wirkung, die die Erzählungen in dem historisch-sozialen Gefüge hinterlassen: »Innerhalb unseres Schemas der dreifachen mimetischen Relation zwischen dem Bereich der Erzählung und dem Bereich der Handlung und des Lebens, entspricht dieses Refigurationsvermögen dem dritten und letzten Moment der mimēsis.« 140 Die Refiguration folgt keiner vorgegebenen Regel, es ist möglich und auch notwendig, Elemente der Fiktion zur Hilfe zu nehmen, um historische Prozesse beschreiben zu können und so das Selbstverständnis der historischen Akteure zu beeinflussen. »Unter Überkreuzung von Geschichte und Fiktion verstehen wir die sowohl ontologische als auch epistemologische Fundamentalstruktur, aufgrund derer Geschichte und Fiktion ihre je eigene Intentionalität nur dadurch konkretisieren können, dass sie Anleihen bei der Intentionalität des jeweils anderen narrativen Modus machen.« 141 Hier zeigt sich, dass Texte und Erzählungen in der Lage sind, historische und soziale Wirklichkeit zu verändern, denn diese existieren ja nicht in einem abgeschlossenen und an sich bestehenden Zustand, sondern sind nur so zugänglich, dass sie sich mit vielfältigen Formen sprachlicher Artikulation in einem wechselseitigen Austausch befinden. Die »Welt« des Textes, so Ricœur und die bewohnte »Welt« beeinflussen sich gegenseitig. 142 Der Umgang 140 141 142

Ricœur 1985: 7. Ricœur 1985: 295. »In effect, what is to be interpreted in a text, is a proposed world, a world that I

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

mit den begrenzten und jederzeit anfragbaren Ordnungen sowohl im Bezug auf die historischen Ereignisse wie auch im Hinblick auf die Aussagekraft der Texte ist für die Theologie von jeher eine Herausforderung gewesen. Die Schwachheit der Rede von Gott, ihre Unfähigkeit, über die Bedingungen ihres Gelingens selbst verfügen zu können, findet in der theologischen Reflexion ihren Ausdruck in der Einsicht des notwendigen Beistandes des heiligen Geistes. Aus menschlicher Perspektive ist die Rede von Gott immer umstritten, so dass die Berufung auf den heiligen Geist zwar die Möglichkeit einer Selbstdistanzierung schafft, dass sie aber nicht dazu dienen darf, die eigene Rede vor Kritik zu immunisieren. Es gilt stets, auch für die eigene Rede, die Geister recht zu unterscheiden (1. Kor 12, 10). Die Rede von Gott ist in der theologischen Reflexion ein Geschehen, das für die beteiligten Menschen notwendigerweise nur partiell transparent sein kann. Mit der Theorie von der dreifachen mimēsis nach Ricœur ist ein Zugang zu der historischen Dimension der Rede gewonnen und einen Zusammenhang hergestellt zwischen der Semantik der Texte und ihren historischen Produktions- bzw. Rezeptionsverhältnissen. Diese sind wie die hermeneutisch zu interpretierenden Texte dadurch geprägt, dass sie nicht in umfassende Ordnungen eingebunden werden können. Auch die Erscheinungsweise Kulturd ist durch konstitutive Spannungen geprägt: Es gibt historische Regelmäßigkeiten, es gibt die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen Vorgängen in der Geschichte herzustellen. Aber zugleich bleiben Unsicherheiten und Kenntnislücken sowie eine derart große Zahl von Einflüssen, dass diese in keiner umfassenden Theorie der Geschichte aufgehoben werden könnten. Die Spannungen lassen sich in der Erscheinungsweise Kulturd als Formen von Kontingenz beschreiben. Zwar gibt es historische Ordnungen, aber diese sind niemals so umfassend, dass aus ihnen die Sinnhaftigkeit ihrer Teile abgeleitet werden kann. Alles, was man historisch beschreibt, steht unter einem Vorbehalt, dass es auch anders dargestellt werden kann, alles, was sich historisch entwickelt, unterliegt einer Spannung, nichts ist in einer letztgültigen sinngebenden Ordnung aufgehoben. Die Rede von Gott ist sogar in might inhabit and wherein I might project my ownmost possibilities.« Ricœur 1974 (1): 43. Es ist offenkundig, dass im Konzept einer offenen Wirklichkeit mit der Differenzierung von Erscheinungsweisen eher von partikularen Möglichkeiten, die sich zeigen, geredet werden müsste, statt von einer »Welt«.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

mehrfacher Hinsicht als kontingent beschreibbar. Dies wollen wir an den einzelnen Stufen der dreifachen mimēsis nachvollziehen.

A.

Kontingenz der Rede von Gott nicht nur ein neuzeitliches Phänomen (mimēsis I)

Das Bewusstsein, dass alles, was geschieht, auf zufällige historische Prozesse hin relativiert werden kann, ist in gewisser Weise Signum der Neuzeit. 143 Warum sind die Bedingungen der Welt so, wie sie sind? Da keine Verankerung in übergeordneten metaphysischen Theorien mehr möglich ist, werden alle Aussagen über das Selbst, die Wirklichkeit und auch Gott zu historisch relativen Erscheinungen, deren Wahrheitsgehalt jederzeit in Frage gestellt werden kann. Ist der Zweifel gegenüber bestimmten traditionellen Darstellungen erst einmal gesetzt, so macht er selbst vor nahen und lebensweltlichen Gewissheiten nicht mehr halt. Sogar sehr existentielle Erfahrungen von Geburt und Tod nahestehender Menschen und der eigene Lebenslauf können unter dem Vorzeichen einer überall waltenden Kontingenz gesehen werden: Es hätte auch anders kommen können. Über allem, was geschieht, lastet zudem eine gewisse Drohung: Das, was möglicherweise nun als sinnvoll erscheint, kann sich im weiteren Verlauf der Dinge doch gerade als sinnlos erweisen. Die neuzeitliche Sichtweise ist nicht nur eine Belastung für die Rede von Gott oder für religiöse Rede, sondern für alle Versuche, umfassendere Sinnordnungen zu etablieren, und damit für alle menschlichen Orientierungsversuche. Im 20. Jahrhundert sind gerade aufgrund der um sich greifenden Unsicherheit des neuzeitlichen Menschen Religionen als Versuch ver143 Manche Positionen versuchen auch die Ergebnisse der Naturwissenschaften als eine kontingente kulturelle Erscheinung zu beschreiben. Doch ist ein solcher Relativisimus und Konstruktivismus nach dem Schema des Chiasmus nicht zu begründen. Hilfreich ist es, in dieser Auseinandersetzung zwischen dem Entdeckungszusammenhang und dem Begründungszusammenhang zu unterscheiden. Während der Entdeckungszusammenhang ohne Zweifel historisch kontingent ist, gilt das in wesentlich geringerem Maße für den Begründungszusammenhang. Der Chiasmus unterscheidet deshalb die Erscheinungsweisen Ding und Gedanke von den kulturellen Erscheinungsweisen. Erfahrungen von wissenschaftlichen und technischen Großprojekten (wie etwa dem CERN) zeigen, dass Menschen unterschiedlichster Kulturen in der Wissenschaft zusammen arbeiten können. Das wäre nicht zu begründen, wenn ihre Arbeit auf den jeweiligen kulturellen Hintergrund hin relativiert werden müsste.

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standen worden, eine stabilisierende Orientierung zu geben. Religion ermöglicht hiernach Kontingenzbewältigung. Doch ist diese Vorstellung nicht nur in einer Zeit obsolet, in der immer mehr Menschen deutlich machen, dass sie für ihre je persönliche Kontingenzbewältigung keine Religion brauchen. Die Vorstellung der Kompensation des Ordnungsverlustes ist auch aufgrund der dargestellten Bedingungen der Rede von Gott grundfalsch. Diese Bedingungen, so wie wir sie bei Paulus beobachtet und nun mit Hilfe der Analyse der offenen Wirklichkeit für die aktuelle Diskussion aufbereitet haben, zeigen, dass die Rede von Gott keinen Zugang zu einer umfassenden Ordnung bietet, sondern eher selbst eine Ursache dafür ist, die Ordnungen, die uns Menschen zugänglich sind, zu relativieren. »Weder erklärt Gott für uns alles andere noch erklärt Gott sich selbst, (…) weder das eine noch das andere könnte unsere Situation nach dem Zerbrechen der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten stabilisieren.« 144 Auch aus philosophischen Erwägungen heraus, opponiert Dalferth, wie wir hier leicht nachvollziehen können, gegen die aus sehr unterschiedlichen Gründen gemachten Versuche etwa von Leibniz oder Blumenberg, die Rede von Gott mit umfassenden Ordnungen der Welt in Beziehung zu setzen: »Man wird den Zusammenhang von Gott und Welt dann aber auch philosophisch anders verstehen müssen als es Leibniz oder Blumenberg tun: Er ist kein Zusammenhang in der Welt, sondern ein Zusammenhang, der die Welt zu dem Ort macht, an dem Gott seinen Zusammenhang mit ihr zeigt.« 145 Diesem Hinweis Dalferths werden wir später folgen: Die Rede von Gott sichert keinen sinnstiftenden Zusammenhang, kann aber einen solchen Zusammenhang zeigen. Die Problematisierung der historischen Positionen als kontingent ist kein kulturgeschichtlicher »Betriebsunfall« und auch nicht durch eine neue Theorie revidierbar, sondern sie entspricht genau besehen dem endlichen Erkenntnisvermögen des Menschen. 146 Jedoch ist es entscheidend, wie man mit dieser Erkenntnis umgeht. Weder ermächtigt die fehlende Rückversicherung dazu, alles Mögliche zu Dalferth 1997 (1): 175. Ebenda. Den Begriff des »Zusammenhangs« kann allerdings genau die Vorstellungen wecken, gegen die sich Dalferth abgrenzt. Wir werden später sehen, inwieweit man mit phänomenologischen Mitteln, etwa der Differenz von Figur und Grund das Gemeinte beschreiben kann. 146 Die Neuzeit ist geprägt von der Einsicht in die weltliche Nichtnotwendigkeit Gottes, vgl. Jüngel 1977: 21. 144 145

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behaupten, noch ist sie eine geeignete Begründung dafür, jede Festlegung zu vermeiden. Auch wenn wir unsere Lebenserfahrungen – dazu können auch Gotteserfahrungen gehören – als historisch kontingent erfahren, kommen wir nicht umhin, uns je und je festzulegen, unseren Erfahrungen einen möglichst angemessenen Ausdruck zu geben. Dies ist der innere Sinn von Zeugenschaft. Durch die existentielle Bindung des Zeugen wird das zu Bezeugende gegenüber anderen Menschen verbürgt. Die Festlegung kann man allerdings nicht als freie Wahl interpretieren, in gewisser Weise sind wir sogar immer schon festgelegt, dies gilt für kulturelle Vorgaben, in denen wir uns wiederfinden, ebenso wie für religiöse Vorgaben. Weder lässt sich also die Kontingenz durch neuzeitliche Selbstgründungsversuche der Vernunft umgehen, noch durch eine Rückkehr in alte metaphysische Strukturen: »Gottvertrauen ist kein Ersatz für die zerbrochenen Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt, sondern wie diese von Selbstverständlichkeitsverlust und Kontingenzpotentierung geprägt (…).« 147 Dalferth geht an dieser Stelle sogar noch einen Schritt weiter, indem er für die Rede von Gott nicht nur die Kontingenz als unumgängliche Vorgabe akzeptiert, sondern sie geradezu einfordert: »Wer den Indikator ›Gott‹ in den lebensweltlichen Vollzügen gelebten Glaubens gebraucht, markiert nicht nur die Welt, in der wir uns mit unseren Indexsystemen (z. B. Ich, Du, hier, jetzt oder auch Gott, FV) orientieren, als kontingent, sondern bezeichnet gerade diese Kontingenzen unseres Lebens und unserer Welt als den Ort der Gegenwart Gottes: Gott ist in ihnen, nicht jenseits oder hinter ihnen zu finden.« 148 Wenn man, Dalferth folgend, Gott als Indexwort interpretiert, ihn also nicht als überzeitliches Sein oder als das Sein schlechthin oder in einer anderen metaphysischen Form beschreibt, sondern ihn inmitten der geschichtlichen Verhältnisse zu lokalisieren versucht, dann bestätigt man die kontingenten Verhältnisse. Es ist deshalb im Interesse des eigentümlichen Status der biblischen Rede von Gott, dass sie nicht in vorgegebene oder behauptete Super-Ordnungen eingebunden wird. Nur so kann die Rede von Gott wirklich auch das Wort vom Kreuz sein. Alle uns Menschen zugängliche Ordnungen, insbesondere die durch die modernen Wissenschaften identifizierten, genügen nicht, um den in der Bibel bezeugten

147 148

Dalferth 1997 (1): 175. Dalferth 2003: 469.

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Gott einzubinden. 149 Wir sahen: Paulus konnte nicht auf ein Reservoir zugreifen, dass seiner Rede Eindeutigkeit verliehen hätte. Auch seine Rede von Gott war von Zweifeln und Korrekturen, von ständigen Veränderungen und von Artikulationsnot geprägt. Die Worte, in denen die Rede von Gott sich zum Ausdruck bringt, sind von dem Risiko einer Festlegung gekennzeichnet, die auch anders stattfinden kann. In dieser Hinsicht sind alle Menschen, die von Gott reden, Zeitgenossen der ersten Zeugen. Ricœur thematisiert die Rede von Gott in Bezug auf den Redenden mit dem Begriff des Zeugnisses. Der Begriff des Zeugnisses verbindet zweierlei: Es gibt einerseits in der Rede von Gott bei aller Begrenztheit und Relativität eine Referenz auf einen mitteilbaren Sachverhalt, andererseits ist die Existenz des redenden Menschen für das Zeugnis konstitutiv. Das Zeugnis kann nur verstanden werden, wenn man auch auf den redenden Menschen, die Zeugin, den Zeugen sieht, wenn man es immer auch als indirekten Hinweis auf eine bestimmte existentielle Bindung begreift. 150 Schlette sagt mit Bezug auf Paulus: »Folgen wir Paulus in 1. Kor 2, 4, dann beruht die Überzeugungskraft also nicht allein auf dem propositionalen Gehalt des Verkündigten, sondern auf der Art und Weise seiner Verkündigung durch den Modus der Bezeugung, darauf, mit seiner ganzen Person für die Berufung einzustehen.« 151 Diese Ausweitung des Blicks auf die Existenz der Zeugen ist notwendig, gerade weil das, was bezeugt wird, sich nicht hinreichend ausdrücken lässt: »Das philosophische Problem des Zeugnisses ist das Problem des Zeugnisses vom Absoluten (…).« 152 Dieses kann nur in einer Philosophie auftauchen, die weder eine völlige Transparenz der Erkenntnisbedingungen behauptet, noch das Absolute völlig ausgrenzt. 153 Der Begriff des 149 So erscheint es auch fatal, wenn mit theologischen ad hoc-Thesen etwa Gott mit der so genannten Urknall-Theorie in einen Zusammenhang gestellt wird oder auch wenn bei der Diskussion um den Status embryonaler Stammzellen Gott mit einem bestimmten biologisch beschreibbaren Zustand der Zellen (Verschmelzung der Vorkerne im Vorgang der Befruchtung) identifiziert wird. 150 Das Wort »Zeugnis« steht in den deutschen Übersetzungen der Texte von Ricœur für zwei französische Worte, »témoignage« und »attestation«, die ihrerseits aber unterschiedliche Konnotationen haben. Jedoch hat erst in den späten Texten, ab »Das Selbst als ein Anderer« das erstere größere Bedeutung erlangt. Vgl. Hoffmann 2008: 118. 151 Schlette 2013: 390 f. 152 Ricœur 1972 (1): 7. 153 Offenkundig besteht eine große Nähe zwischen dem Begriff des Absoluten, auf

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Zeugnisses führt nach Ricœur folgende Aspekte mit sich: 154 Auf der einen Seite gibt es einen empirischen Bezug, das Zeugnis handelt immer von etwas Bestimmten, wobei dieser durchaus strittig ist, denn wie in einem Gerichtsverfahren gibt es einen Widerstreit.Auf der anderen Seite gehören notwendig eine Zeugin, ein Zeuge dazu, ohne die ein Zeugnis nicht möglich ist. 155 Der Bezug auf die Geschichte ist für das Verständnis des Zeugnisses unumgänglich. Gäbe es direkte Zugänge zu einer »ewigen Wahrheit«, dann wäre das Zeugnis ein Hinweis auf ein Wissensdefizit, aber nicht auf einen ernst zu nehmenden Streit um die Wahrheit selbst. Doch wenn die Wahrheit gar nicht anders als in seiner geschichtlichen Vermittlung zu erfassen ist, wenn es in ein komplexes Verhältnis zur Geschichte tritt, dann bedarf es notwendigerweise der Zeugen. Ricœur formuliert pointiert: »Es gibt folglich überhaupt keinen Zeugen des Absoluten, der nicht Zeuge historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinnes, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre.« 156 Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen einem religiösen Zeugen und einem Zeugen vor einem Gericht. Denn für den religiösen Zeugen hat eine in definierten Begriffen beschreibbare Empirie nicht denselben Stellenwert wie für den Zeugen eines juristischen Prozesses. In dieser Auseinandersetzung existiert eine für alle im Streit befindlichen Parteien gemeinsame Ordnung, auf die sie sich beziehen können. Anders bei einem religiösen Zeugnis: Dort wirft der Begriff eines Zeugen des Absoluten die Frage auf: »Ist es möglich, (…) dass die Philosophie der absoluten Reflexion in völlig kontingenten Ereignissen oder Akten die Bezeugung findet (…)?« 157 Das Zeugnis als Zeugnis des Absoluten unterliegt einer gegenüber dem weltlichen Zeugnis ungleich schärferen Kontingenz, es hätte auch in anderen Worten, mit anderen Extravaganzen, mit anderen Grenzausdrücken beschrieben werden können. das sich Ricœur immer wieder bezieht und dem des Unbedingten, der bei Barth und Gräb eine große Bedeutung hat. 154 Auch Schlette weist auf die Mehrdimensionalität des religiösen Zeugnisses, das Zeugnis wird von dem Zeugen angeeignet, der Sachgehalt wird bezeugend artikuliert und an bezeugend an die Mitmenschen adressiert. Vgl. Schlette 2013: 392. 155 Vgl. Ricœur 1972 (1): 11 ff. 156 Ricœur 1972 (1): 21. Dieser Satz wird bei Hoffmann in Hoffmann 2009 gleich zweimal zitiert, S. 78 und S. 80, dort aber mit der kritischen Spitze gegen eine rein textimmanente Interpretation der Offenbarung. Hoffmann fordert wie beim Zeugnis die empirische Komponente. 157 Ricœur 1972 (1): 30.

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Menschliches Erkennen ist als endliches Erkennen auf historische Vermittlung angewiesen und damit immer auch kontingent: »Es ist genau die Funktion der Kategorie des Zeugnisses (…), die Festung des Bewusstseins noch etwas weitergehend zu demontieren. Sie führt in die Dimension historischer Kontingenz ein, die derjenigen der Welt des Textes fehlt, die absichtlich unhistorisch oder transhistorisch ist.« 158 Doch wenn die historische Vermittlung zu den allgemein menschlichen Erkenntnisbedingungen gehört, muss man dann noch kategorial zwischen philosophischem und religiösem bzw. theologischem Erkennen unterscheiden? Nun ist aber offenkundig der philosophische Diskurs dadurch ungebundener, dass er sich zwar auf Autoritäten bezieht, aber keine Autorität so ausgezeichnet ist, dass sie nicht auch in Frage gestellt werden kann. 159 Die Einwilligung, einer kontigenten historischen Quelle weitreichende Autorität zuzubilligen, unterscheidet und trennt tatsächlich den theologischen von dem philosophischen Diskurs. Die Autorität der Rede von Gott führt zu historisch gewachsenen Gemeinschaften und einem historisch sich ausbildenden Kanon, zur exklusiven Sammlung normativer Schriften. »Darin liegt das nichtphilosophische Moment, in dieser Anerkennung der Autorität der kanonischen Texte, die würdig sind, die kerygmatischen Interpretationen der bekennenden Theologie zu leiten.« 160 In der Rede von Gott findet eine Bindung statt, über die man nicht vollständig Rechenschaft ablegen kann, die man im Zeugnis nur bejahen kann, wenn denn das Zeugnis wahrhaft Zeugnis sein will. Es lässt sich dabei innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur kein Kriterium finden, dass eine Entscheidung für einen Kanon autoritativer Texte absichert. Ricœur formuliert: »Sich als Hörer zu bekennen heißt, als Beginn des Spiels mit dem Vorsatz zu brechen, der manchem – und vielleicht jedem Philosophen – lieb ist, das Gespräch ohne Voraussetzung zu beginnen.« 161 In dem Ausdruck »sich als Hörer bekennen« sind zwei Momente miteinander eng verbunden. Das erste Moment hebt die Erfahrung des Bestimmtseins hervor. Der Hörer ist Ricœur 1977 (1): 75. Karl Jaspers hat nach Ricœur aus philosophischer Sicht genau dagegen aufbegehrt: »Ihm zufolge müsste der ›philosophische Glaube‹ das Willkürliche ausmerzen, das darin besteht, diesen oder jenen Moment der spirituellen Geschichte der Menschheit zu bevorzugen.« Ebenda. 159 Jüngel paraphrasiert diese Haltung: »Amicus mihi Plato, amici mihi omnes illi doctores, magis amica veritas.« Jüngel 1977: 249. 160 Ricœur 1995 (2): 196. 161 Ricœur 1977 (2): 153. 158

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hier nicht jemand, der in Distanz geht und skeptisch beobachtet, sondern jemand, der sich eingebunden und bestimmt weiß durch das, was er hört. Das zweite Moment deutet auf die Art und Weise hin, wie dieses Eingebundensein artikuliert werden kann: Es ist nur als Bekenntnis und damit als existentielles Zeugnis unter kontingenten Bedingungen möglich. So bleibt das in einem allgemeinen Diskurs Anstößige, dass Angehörige einer bestimmten Religion einem bestimmten Kanon von Textenden Vorzug geben. Ricœur findet dafür eine schöne Formulierung, wenn er sagt, dass die Grundlage dafür »ein Zufall ist, der durch eine beständige Wahl in ein Schicksal verwandelt wird.« 162 Beides gehört zusammen, der äußere Zufall, der die historische Kontingenz in der Rede von Gott zum Ausdruck bringt, und die eigene Wahl und Bestätigung dieses Zufalls.

B.

Kontingenz in der Rede vom Kreuz (mimēsis II)

Nichts macht eine geschichtliche Lokalisierung Gottes inmitten von kontingenten Vorgängen offensichtlicher als die Rede vom Tode Jesu Christi am Kreuz. Deshalb ist diese Rede nach Paulus eine Torheit und ein Ärgernis. Sollte Gott sich so wortwörtlich in den Verlauf der Menschheitsgeschichte hinein »fixieren« lassen? Diese Diskussion um Kontingenz ist im Gegensatz zu der neuzeitlichen Betrachtung keine von außen an die christliche Rede von Gott herangetragene, sie findet ihre Begründung vielmehr in deren eigenen zentralen Aussagen. Jede christliche Rede von Gott weist auf diesen kontingenten, aus keinem übergeordneten Sinngeschehen heraus ableitbaren historischen Ort. Zwar haben schon die ersten Christinnen und Christen dieses Geschehen nur verstehen können, wenn sie es auf die jüdische Tradition und auf die Interpretation der Texte der hebräischen Bibel bezogen, doch gibt es hier keine eindeutigen Ableitungen. Man kann etwa die so genannten Gottesknechtlieder des Propheten Jesaja (Jes 42,1–4; Jes 49,1–6; Jes 50,4–9; Jes 52,13–53,12) auf Jesus Christus beziehen, man muss es aber nicht. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist trotz der nachträglichen Deutung dieser Texte auch innerhalb der biblischen Erzähltraditionen historisch kontingent. Durch die Interpretation der Rede von Gott mittels der metaphysischen Kategorien der griechischen Philosphie entstand eine Dif162

Ricœur 1995 (2): 198.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

ferenz zu der paulinischen Botschaft vom Kreuz, die von Paulus als Torheit im Hinblick auf griechische Erkenntnisstandards bezeichnet wird. 163 Die christliche Theologie integrierte die Rede von Gott am Kreuz in eine umfassendere, philosophisch reflektierte Theorie von Gott, der Welt und dem Menschen. Der Tod am Kreuz und damit Gottes letztgültige Identifizierung mit unseren menschlichen Verhältnissen geschah jedoch zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, mit einem bestimmten Menschen. Diese Konkretheit in der Rede von Gott ist deshalb anstößig, sie ist nicht in allgemeine überzeitliche Theorien aufzuheben. »Theologische Reflexion auf Gottes ›Geschichte‹ muss sich zentral an ihrem Verständnis des den Geschichtsbezug des christlichen Glaubens orientierenden Ereignisses von Kreuz und Auferstehung messen lassen.« 164 Die christliche Rede von Gott wird durch die Inkarnation historisch konkret und damit in ihrem Kern kontingent. Kierkegaard hat dies das weltgeschichtliche Notabene der christlichen Botschaft genannt: »Das Geschichtliche, dass der Gott in menschlicher Gestalt gewesen ist, ist die Hauptsache (…). Selbst wenn die gleichzeitige Generation nichts anderes hinterlassen hätte als die Worte: ›Wir haben geglaubt, dass der Gott anno soundso sich gezeigt hat in der Gestalt eines geringen Knechts, unter uns gelebt und gelehrt hat und alsdann gestorben ist.‹ – das ist mehr als genug.« 165 Diese mit großer Ironie von Kierkegaard formulierte Beiläufigkeit der Offenbarung Gottes in der Weltgeschichte betont ihre unumgängliche Kontingenz. Nun ist diese Kontingenz im Zentrum der christlichen Botschaft unabhängig von allen Erkenntnissen und vom Verlauf der neuzeitlichen Philosophie, man darf die Kontingenz der Botschaft nicht als Ausdruck modernen Denkens verstehen. Doch es ist das moderne Denken, das half, diese Kontingenz wiederzuentdecken. Eberhard Jüngel nennt deshalb auch einen doppelten Grund für die Kontingenz der Rede von Gott, eine doppelte Notwendigkeit, Gottes Einheit mit der Vergänglichkeit zu denken, »einerseits als sachliche Nötigung durch die christologische Auslegung der biblischen Überlieferung, andererseits als eine aus der neuzeitlichen Metaphysik erwachsende 163 »Offenbarung (…) ist kontingentes Geschehen, das in seiner Positivität nur zu bejahen oder zu verneinen, d. h. als Wirklichkeit zu nehmen ist, nicht aber aus Spekulationen über die menschliche Existenz an sich erhoben werden kann (…).« Bonhoeffer 1931: 76. 164 Hiller 2009: 376. 165 Kierkegaard 1844 (1): 100 f.

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Konsequenz geschichtlichen Bewusstseins.« 166 Die moderne Entdeckung der Kontingenz ist, so verstanden, keine Einschränkung, sondern vielmehr eine Stärkung der Rede von Gott. Gott offenbart sich so, dass er zugleich zum Ausdruck bringt, dass er sub specie mundi gerade nicht selbstverständlich ist. Die Entdeckung der Kontingenz erzwingt weitreichende Konsequenzen für die Methoden der Theologie. »Offenbarung gibt es daher nur in und durch Sprach- und Interpretationsprozesse, nicht ohne diese, und es gibt sie so nur in Gestalt bestimmter, nicht irgendwelcher Interpretationen. Jede bestimmte Interpretation aber könnte auch anders sein, und deshalb ist Offenbarung stets umstritten.« 167 Die Anerkennung der Kontingenz hilft, diejenige Wirklichkeitserschließung, die den Erscheinungsweisen Kultur eigen ist, noch einmal neu ins rechte Licht zu setzen: die Narration. Um der Kontingenz der Offenbarung gerecht zu werden, erhält die Narration einen Vorzug gegenüber einer dogmatischen, deduktiv abgeleiteten Aussage. »Insofern die Trinitätslehre dabei wesentlich auf ein geschichtliches Ereignis Bezug nimmt, hat sie einen nicht aufhebbaren Kontingenzbezug. Der nötigt sie, ihre argumentative Rekonstruktion der Selbstverständlichkeit Gottes im Denken nicht nur ausschließlich oder vorzüglich in den theoretischen Modi von Begriff, Urteil und Schluss durchzuführen, sondern sich immer auch narrativer Darstellungsmittel zu bedienen (…).« 168 Die theologische Reflexion darf sich um ihrer eigenen Botschaft willen nicht selbst in einem scheinbar umfassenden und konsistenten System abschließen. Sie muss stets ihren prekären Status zum Ausdruck bringen. Dies ist kein Zeichen von Kleinmut, sondern ein schlichtes Zeugnis davon, dass sie an ein kontingentes Geschehen gebunden ist. Um der Botschaft vom Kreuz willen darf sie nicht nur darstellen wollen, dass Gott existiert, sondern ebenso, dass es immer umstritten ist, ob er existiert. 169 Es geht im Zentrum der christlichen Rede von Gott darum, Gottes Einheit mit der Vergänglichkeit zu denken. 170 Deshalb ist jeder Versuch einer ontotheologischen Bestimmung, also der Herleitung der Existenz Gottes aus einer bestimmten Seinslehre, verstellt, die

166 167 168 169 170

Jüngel 1977: 250. Dalferth 1997 (2): 5. Dalferth 1992 (2): 241. »Schein der Nichtselbstverständlichkeit sub contrario« Dalferth 1992 (2): 242. Vgl. Jüngel 1977: 248 ff.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

Theologie kann die historische Offenbarung Gottes nicht in eine umfassende Seinsordnung einholen. »Und doch sind alle dogmatischen Urteile in der Theologie auf historische Erkenntnis zurückbezogen. Denn Gott hat sich im Medium geschichtlicher Ereignisse offenbart. Und der Glaube an Gott ist selber allemal ein geschichtliches Ereignis, das als solches historischer Erkenntnis zugänglich ist.« 171 Unter den Bedingungen des hier vorgeschlagenen Schemas des Chiasmus heißt das, anzuerkennen, dass die Offenbarung Gottes sich nur unter der Beteiligung der Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur denken lässt. So zeigt sich, »worin die Pointe eines theologisch adäquaten Umgangs mit der Selbstverständlichkeit Gottes besteht: in der argumentativen Einweisung in die Situation, in der Gott sich selbst verständlich macht.« 172

C.

Kontingenz in der Wirkung der Rede von Gott (mimēsis III)

Neben der neuzeitlichen kulturellen Voraussetzung und der inhärenten Kontingenz der Botschaft selbst gibt es noch einen dritten Bereich, in dem Kontingenz für die Beschreibung der Rede von Gott notwendig ist: ihre Rezeption. Die Geschichte der Rezeption der christlichen Rede von Gott ist zugleich die Geschichte der christlichen Gemeinde. Das Christentum war von Anfang an durch die Exegese von Texten geprägt, es ging und es geht um die Deutung von Texten, die wiederum neue Texte der Interpretation entstehen lassen: zunächst die Texte des Kanons des Neuen Testaments, dann im weiteren Verlauf Verdichtungen in Form von Bekenntnissen, ebenso in immer wieder neuen theologischen Interpretationen. 173 Diese Texte und ihre Deutungen waren und sind immer gebunden an soziale Strukturen, Interpretationsgemeinschaften der Deutung der christlichen Botschaft. Die Evangelien zeigen, dass auch die Begegnungen mit dem historischen Jesus nicht ohne Ambivalenzen waren, dass die meisten Menschen und auch viele seiner eigenen Jünger ihn missverstanden, erst der durch die Rezeption der Texte der hebräischen Bibel geschulte Rückblick konnte mehr Klarheit verschaffen. So interpretiert Paulus die Septuaginta, um die Botschaft des menschgewordenen Gottes bes171 172 173

Jüngel 2003: 215. Dalferth, 1992: 243. Vgl. Ricœur 1974 (2): 35.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

ser verstehen und besser mitteilen zu können. Seine Auslegung aber verändert zugleich auch das Verständnis der überlieferten Texte. Die kontinuierliche Deutung von Texten entstammt einer historischen Entwicklung und wirkt auf eine historische Entwicklung. Der Textbestand selbst ändert sich, ein gegenüber der hebräischen Bibel erweiterter Kanon entsteht. Jede dieser Wirkungen, die die Rede von Gott auslöst, kann aber im Nachhinein als historisch kontingent wahrgenommen werden. Die Geschichte der Rede von Gott ist keine eindeutige Siegergeschichte. Kontingente Prozesse können nicht in starre begriffliche Schemata gepresst werden, aber man kann sie nacherzählen. Der göttliche Heilsplan ist unauflöslich mit der Wankelmütigkeit und Gebrochenheit menschlicher Handlungen verbunden: »(…) we might say that a theology that confronts the inevitability of the divine plan with the refraktory nature of human actions as passions is a theology that engenders narrative (…).« 174 Diese Bedingungen der christlichen Rede von Gott überträgt Ricœur auch auf die Bedingungen anderer Religionen. Gerade weil sich sub conditione humana Religionen nie direkt auf ewige Wahrheit berufen können, sondern sich immer nur unter spezifischen historischen Bedingungen artikulieren, muss man davon Abstand nehmen, »eine Phänomenologie des religiösen Phänomens in seiner unteilbaren Universalität zu entwerfen (…).« 175 Die Geschichte wird zu dem unumgänglichen Rahmen der Vermittlung von Religion: »Zu der sprachlichen Vermittlung gesellt sich eine kulturelle und historische Vermittlung hinzu, von der jene nur ein simples Abbild ist.« 176 Die neuzeitliche Skepsis gegenüber partikularen Überlieferungen und die Unmöglichkeit, dieser Skepsis eine unmittelbare Offenbarungsquelle entgegen zu setzen, sind große Herausforderungen für die Rede von Gott, denn warum sollte man sich der einen, etwa der christlichen, und nicht der anderen religiösen Tradition anschließen? Die christliche Rede von Gott erreicht den Rezipienten zunächst einmal als historisch vermittelte menschliche Rede und ist nur wenig unterscheidbar von anderen Redeweisen. »Aber werde ich es ertragen, dass der Gedanke, der auf das, was umfassend und notwendig ist, zielt, sich auf zufällige Weise sich mit einmaligen Ereignissen und

174 175 176

Ricœur 1990 (2): 182. Ricœur 1993: 89. Ricœur 1993: 88.

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partikularen Texten, die sich darauf beziehen, verbindet?« 177 Zugleich fügt jede Rezeption weitere Charakteristika hinzu, verändert Akzente der Deutung. Die Bekenntnisbildungen in der Alten Kirche, die theologischen Auslegungen des Hochmittelalters, die Impulse der Reformation, die Einflüsse der Aufklärung und nicht zuletzt auch die neue, naturwissenschaftlich geformte Sicht auf die Welt haben die Rezeption der Texte verändert. Man kann schwerlich auch nur eine dieser Entwicklungen aus dem Selbstverständnis und der Botschaft der ersten Christen direkt ableiten. Die Kirchengeschichte ist eine Geschichte historischer Innovationen in der Deutung der Rede von Gott, die keiner eindeutigen Ordnung entspringt. Die Darstellung des Wechselverhältnisses von Erscheinungsweise Kulturg und Erscheinungsweise Kulturd durch die dreifache mimēsis kann eine der großen Herausforderungen des christlichen Glaubens heute deutlich machen. Eine lebendige Rede von Gott bedarf des ständigen Wechselspiels von historischen Vorgaben, erzählerischen Weiterentwicklungen und verändernden Rezeptionen. Ohne dieses Wechselspiel erstarrt die Rede von Gott zur Konvention. In diesem Sinne hat Ricœur eine pointierte Kritik an der Starre von Glaubensaussagen gerichtet, die in den Lebensvollzügen der Gemeinschaft der Glaubenden keinen Ort mehr finden. Glaubensaussagen werden nicht als eine andere Form der Gebetssprache interpretiert, 178 sondern als Lehraussagen, als Teil eines Lehrkorpus verstanden. »Die Lehre einer Bekenntnisgemeinschaft verliert das Verständnis für den historischen Charakter ihrer Interpretationen und begibt sich unter die Vormundschaft der starren Aussagen des Lehramtes. Das Glaubensbekenntnis verliert seinerseits die Flexibilität und Beweglichkeit der lebendigen Verkündigung (…).« 179 Hier nimmt Ricœur eine wegweisende Gewichtung vor: »Es ist nicht meine Intention, die Spezifität der dogmatischen Arbeit zu leugnen, weder auf der kirchlichen noch auf der wissenschaftlich-theologischen Ebene; ich betone nur ihren abgeleiteten und untergeordneten Charakter.« 180 In unserer Zeit scheint es vordringlich, nicht an der Konsistenz und Stringenz von theologischer Argumentation zu arbeiten, sondern vor allem erst

Ricœur 1977 (2): 154. (Hervorhebung im Original) Nach Ricœur gibt es eine »Ebene des Glaubensbekenntnisses, wo die lex credendi nicht von der lex orandi getrennt ist (…).« Ricœur 1977 (1): 41 f. 179 Ricœur 1977 (1): 42. 180 Ebenda. 177 178

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

einmal die Relevanz einer theologischen Rede und auch der Rede von Gott in unserem Alltag nachzuweisen. Deshalb muss das größere Gewicht auf die Fähigkeit gelegt werden, die Rede von Gott in unseren Lebensvollzügen aufzuspüren und ihre Aussagekraft zu stärken. In der wissenschaftlichen Theologie findet das darin seinen Reflex, dass in den letzten Jahrzehnten eher die praktische Theologie Impulsgeber des theologischen Diskurses war als die systematische Theologie.

D.

Kritik an Versuchen, die Kontingenz zu umgehen

Der Anreiz, die historische und damit kontingente Vermittlung der Rede von Gott zu umgehen, ist nicht gering. Philosophische Ansätze, die die Rede von Gott zu adaptieren versuchen, sind oft dadurch ausgezeichnet, dass sie sich gar nicht erst auf die historische Vermittlung der Rede von Gott einlassen. Die Bindung an partikulare Traditionen ist mit dem philosophischen Anspruch auf möglichst umfassende Allgemeinheit des Arguments nicht zu begründen. Viele philosophische Versuche einer Reflexion Gottes setzen dadurch charakteristische Akzente. Holm Tetens hat eine philosophische Interpretation der Rede von Gott vorgelegt, 181 in der er eine rationale Begründung anstrebt: »Dieses Buch offeriert einen Versuch über rationale Theologie. Theologie verdient nur dann rational genannt zu werden, vermag sie die ›Sache mit Gott‹ mit vernünftigen Überlegungen auszufechten.« 182 Seine eigene Position formuliert Tetens in Anlehnung an christliche Traditionen, indem er auf das apostolische Glaubensbekenntnis Bezug nimmt, jedoch – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – den zweiten auf Jesus Christus bezogenen Artikel des Bekenntnisses komplett auslässt. 183 Gott erscheint als Schöpfer der Welt und auch als ihr Erlöser. Die Erlösung wird aber nicht mit einer historischen Tat in Verbindung gebracht, sondern als Lösung der Theodizee-Problematik. 184 Diese Verkürzung ist angeTetens 2015. Tetens 2015: 7 f. 183 Vgl. Tetens 2015: 10. 184 Vgl. Tetens 2015: 59 ff. Überhaupt wird bis hin zur Überwindung des Todes immer von Gott dem Schöpfer aus argumentiert: »Gott will unbedingt, dass seine Schöpfung am Ende gut wird.« Tetens 2015: 71. In gewisser Weise behandelt Tetens einen Gott, der ausschließlich ein Pendant zur Welterklärung ist. Eine vollständige Welterklärung bedarf des schöpferischen und erlösenden Gottes. 181 182

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

sichts der ausgeführten konstitutiven Bindung der Rede von Gott an kontingente geschichtliche Wahrheiten nicht zufällig. Der Streit um die historische Vermittlung von religiösen »Wahrheiten« ist alt, schon Lessing hat 1777 formuliert: »Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstrieret werden. Das ist: Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.« 185 Ohne Zweifel hat Lessing darin Recht, dass historisch kontingente Aussagen nicht Grundlage eines allgemeinen Beweises werden können. Aber er hat Unrecht, wenn er eine solche Beweisfähigkeit von einer christlichen Rede von Gott fordert. Man sieht an den aktuellen Versuchen einer rationalen Theologie, dass der Konflikt im Umgang mit der historischen Vermittlung der Rede von Gott bis heute nicht ausgestanden ist. Wenn man ein auf allgemeine Rationalität und Begründbarkeit basierendes Verständnis von Wahrheit voraussetzt und dieses auch auf religiöse Aussagen anwendet, dann scheint es in der Tat schlechterdings unmöglich, eine allein historisch verbürgte Aussage als wahre Aussage über die Welt, über Gott anzuerkennen. Offenkundig ist dieses, allein auf einer allgemeinen Argumentation basierendes Wahrheitsverständnis für die christliche Rede von Gott nicht angemessen, denn diese Rede ist in vielfacher Weise an kontingente Bedingungen gebunden und weist auf Phänomene in der menschlichen Existenz, die sich jeder Vermittlung und Einbindung in Ordnungen entziehen. Im Chiasmus ist ein Konzept rationaler Begründung mit seinem Anspruch auf Allgemeinheit in der Erscheinungsweise Gedanke zu verorten. Die Konzentration auf eine Rationalität, die geschichtliche Vermittlung und existentielle Bindung ausschließt, verhindert aber gerade jene Erscheinungsweisen, die sich hier als zentral für ein Verständnis der Rede von Gott darstellen. 186 185 Lessing 1777: 12 (Kursives im Original gesperrt gedruckt). Von Lüpke weist auf den engen Zusammenhang dieses Arguments mit der Philosophie Leibniz’, der wiederum in den Traditionen einer rationalen Theologie bis heute eine zentrale Rolle spielt: So »konnte Lessing von Leibniz lernen. Dass die Gegenüberstellung von ›zufäligen Geschichtswahrheiten‹ und ›notwendigen Vernunftswahrheiten‹ in der Leibnizschen Unterscheidung von ›verités contingentes ou de fait‹ und ›verités necessaires‹ oder ›verités de raisonnement‹ präfiguriert ist, weiß man in der LessingForschung seit langem.« Von Lüpke 1989: 82. 186 Dies gilt auch für philosophische Ansätze, die die Nähe zur Theologie suchen, vgl. Gerhardt 2015.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

In metaphysischen und rationalistischen Ansätzen ist die Tendenz zur Beseitigung historischer Kontingenz offenkundig. Sie nehmen die biblischen Texte oft nur als Ausgangspunkt für eine eigenständige und von dem historischen Geschehen abkoppelbare Darstellung. Die Tendenz, die Kontingenz in der Rede von Gott abzubauen oder zu umgehen, ist über diese Ansätze hinaus aber noch viel weiter verbreitet. Denn auch jene Versuche, umfassende weltgeschichtliche Narrative für die Rede von Gott zu identifizieren, weisen die Neigung auf, anstößige Zufällige der biblischen Überlieferung zu minimieren. 187 Ricœur warnt etwa vor der leichtfertigen Einbindung in ein umfassendes Narrativ der Heilsgeschichte: »Furthermore, this ›Christian pattern‹ tends to abolish the peripeties, dangers, failures, and horrors of history for the sake of a consoling overview provided by the providential schema of this grandiose narrative. Concordance finally conquers discordance.« 188 Hier drängt die Erzählung auf eine umfassende Ordnung, sie tendiert dazu, eine Super-Ordnung zu bilden, die eine umfassende Sinnstruktur etabliert. Dagegen bekräftigt Ricœur seine Forderung, die Kontingenz auch derjenigen Symbole anzuerkennen, auf denen sich der biblische Glaube gründet: »Die Bezugnahme des biblischen Glaubens auf ein kulturell gesehen kontingentes Symbolnetz bewirkt, dass dieser Glaube seine eigene Ungeschütztheit auf sich nehmen muss, die ihn im besten Fall zu einem zum Schicksal gewordenen Zufall macht. (…) Die Abhängigkeit des Selbst von einem Wort, das es seiner Selbstherrlichkeit beraubt, und zugleich seinen Existenzmut fördert, befreit den biblischen Glauben von der Versuchung, die ich hier als kryptophilosophisch bezeichne, nunmehr die Leerstelle der Letztbegründung besetzen zu wollen.« 189 Die Rede von Gott hat konstitutiv mit jenen Phänomenen zu tun, die sich jeder Ordnung entziehen und damit auch dem Versuch einer Systematisierung. Deshalb muss das Unaufrechenbare, das Querstehende der Traditionen der Rede von Gott bewahrt werden. Es ist gerade ein Kennzeichen der Neuzeit, die Herausforderung der geschichtlichen Kontingenz für alle menschlichen Sinnerfahrun-

187 Allgemein hält Ricœur für die Rolle der Fabel, des mythos fest: »Andererseits muss eine Geschichte mehr sein als die Aufzählung von Ereignissen in einer Reihenfolge, sie muss sie zu einer intelligiblen Totalität gestalten (…).« Ricœur 1983: 106. 188 Ricœur 1982: 238. 189 Ricœur 1990 (1): 37.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

gen zu betonen. Es ist in dieser Hinsicht erstaunlich, dass gerade jene theologischen Ansätze, die sich mit Nachdruck auf die Neuzeit und ihre Erkenntnisbedingungen beziehen, der Kontingenz für den eigenen theologischen Ansatz nur geringe Beachtung schenken. Tillich etwa hält für die Geschichte, die er im engeren Sinne als menschliche Geschichte fasst, apodiktisch fest: »Ob es so etwas wie Weltgeschichte gibt oder nicht, die geschichtlichen Vorgänge innerhalb der geschichtlichen Menschheit haben ein inneres Ziel. Sie bewegen sich in einer bestimmten Richtung, und sie gehen auf Erfüllung zu, ob sie diese erreichen oder nicht.« 190 Die Beschreibung des menschlichen Ausgesetztseins ist bei Tillich existenzphilosophisch begründet, nicht aber durch die spezifischen Bedingungen der menschlichen Geschichte. Auch Ulrich Barth weist auf die allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Existenz, wenn er die auf die Bedingungen des religiösen Bewusstseins rekurriert: »Die kontingenzverarbeitende Kraft des religiösen Bewusstseins ist erst dort zureichend zur Geltung gebracht, wo die seiner Deutungstätigkeit eigene Notwendigkeitsperspektive mit in Rechnung gestellt wird.« 191 Hier wird die kritische Infragestellung der kontingenten Geschichte durch einen Rekurs auf allgemeine Strukturen der Subjektivität relativiert. Allgemeine überhistorische Eigenschaften und Strukturvoraussetzungen der Religion stehen im Mittelpunkt der Betrachtung: »Religion ist die Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten. Eine derartige Fassung des Religionsbegriffs (…) hat ihren Vorzug vor allem darin, dass sie sich gegenüber den traditionellen Einteilungen (…) noch weitgehend neutral verhält.« 192 Dalferth paraphrasiert diesen Versuch einer Absicherung in allgemein gültigen Verhältnissen: »Denn während inhaltlich orientierte Begründungen durch die Besonderheiten des jeweiligen religiösen Glaubens eingeschränkt seien, besitze das, was sich in der subjektivitätstheoretischen Denkform begründen lässt, für alle Gültigkeit (…)« 193 Dieser Bezug auf allgemeine VerhältTillich 1987: 349. Barth 2003: 17. 192 Barth 2003: 10. 193 Dalferth 2003: 341. Barth relativiert in Hinsicht auf die historische Genese, doch behauptet zugleich die Allgemeingültigkeit: »Nun hat zwar der hier gewählte methodische Zugang zur Religion in Form ihrer transzendentalen Genetisierung einen bestimmten kulturellen und ideengeschichtlichen Ort, doch muss dies der Allgemeinheit des rekonstruierten Bewusstseinsphänomens per se noch keinen Abbruch tun.« Barth 2003 (2): 71. 190 191

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

nisse schafft scheinbar eine Grundlage, um den kontingenten Bedingungen spezifischer religiöser Traditionen zu entgehen. Doch setzt dieser Ansatz voraus, dass es überhaupt einen Zugang zu den behaupteten allgemeinen subjektivitätstheoretischen Bedingungen gibt. Dies zu bezweifeln, gehört zu den Grundüberlegungen des hier vertretenen, der Philosophie von Merleau-Ponty verpflichteten Ansatzes. Die leibphänomenologische Analyse durch das Schema des Chiasmus setzt statt einer Subjektivität eine offene Wirklichkeit, die unterschiedliche, nicht aufeinander reduzierbare Erscheinungsweisen kennt.

E.

Zu den Grenzen geschichtlicher Vermittlung

Die bisherigen Überlegungen zeigen, wie wichtig die geschichtliche Vermittlung für die christliche Rede von Gott ist. Doch zugleich gibt es auch eine fundamentale Relativierung dieser Vermittlung. Auch wenn aus den genannten Gründen eine Beteiligung der Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur für die christliche Rede von Gott unumgänglich ist, so ist sie für die Rede von Gott nicht hinreichend. Eine Darstellung, die sich ausschließlich aus den Verhältnissen der Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur ergibt, lässt zentrale Aspekte aus. Die Rede von Gott ist auch durch andere Phänomene bestimmt, auf die Grenzausdrücke und Metaphern hindeuten. Diese weisen über die Rede als Rede hinaus bzw. kommen von woanders her. Wir werden dies in der Analyse der Phänomene der Erscheinungsweise X, die sich außerhalb einer geschichtlichen Vermittlung zeigen, genauer beschreiben. Dem Bezug auf Phänomene der Erscheinungsweise X wohnt zugleich ein großes Potential für eine inhärente Kritik gegenüber allen historischen Festlegungen inne. Die christliche Rede von Gott hat ein inneres kritisches Potential, das jede historisch kontingente Festlegung nicht im Namen einer unmittelbaren Offenbarung, wohl aber im Hinblick auf eine ständig zu vollziehende Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch in Frage zu stellen in der Lage ist. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn man die christliche Rede von Gott als eine Kraft der Befreiung aus historischen Bindungen verstehen kann. Die Rede von Gott, die Teil von geschichtlichen Traditionen ist, entfaltet zugleich eine kritische Kraft gegen jede historische Konkretion dieser Vermittlung, sowohl gegenüber der eigenen religiösen Tradition wie auch gegenüber gesellschaft232 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

lichen Verhältnissen, in denen sie entsteht. Impulse, die von hier aus wirken, verändern religiöse und gesellschaftliche Traditionen und damit den Lauf der Geschichte. Beispiele für solche Impulse aus nicht geschichtlichen Quellen gab es und gibt es immer wieder. So konnte Franz von Assisi die Armut Christi und damit die Zuwendung zu den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen neu entdecken, Luther hingegen die freie Gnade durch das vergebende Wort und damit eine Distanz zu den Gebräuchen und Ordnungen der jahrtausendealten Traditionen der Kirche. Eine christliche Rede von Gott kann nicht grundsätzlich aus der historisch kontingenten Vermittlung aussteigen, sie kann aber die tradierten historischen Festlegungen im Namen Gottes immer wieder in Frage stellen. Hier kann man auch die particula veri des Hinweises auf den Universalismus finden, von der Badiou in der Auslegung der Theologie von Paulus redet. Dieser Universalismus der christlichen Botschaft hat ein anarchisches Moment, es lässt sich nicht auf historische Partikularitäten oder Genealogien festlegen. Die Rede von Gott hat, weil sie immer auch über die Formen der ihr eigenen Vermittlung hinausweist, ein inhärent kritisches Moment. Kritik und Befreiung sind aber nicht einfach eine Negation geschichtlicher Vermittlung. Aus den befreienden Impulsen entstehen neue, wenn auch veränderte historische Ordnungen. Das kritische Moment ist sowohl destruktiv wie zugleich »erbaulich«. So konnte ein Franziskus um die Anerkennung einer regulierten Lebensform seiner Anhänger bitten, Luther sah sich gezwungen, neue, wenn auch rudimentäre Kirchenordnungen zu entwerfen. In der klassischen theologischen Sprache formuliert, ist der Glaube verbunden mit der tätigen Liebe. Die Liebe wiederum bindet die Menschen in neuen Strukturen aneinander. Dadurch geschieht eine Lokalisierung der eigenen Identität in der Gemeinde, die Suche der Identität wird zu einem historisch-hermeneutischen Prozess der christlichen Rede von Gott ausgeweitet. Die Menschen sind verbunden als Gemeinde, sie sind zusammen in der Rede von Gott, in der Feier der Sakramente, in der Fürsorge füreinander und für andere Menschen in Not. Die konstitutive Rolle der Phänomene der Erscheinungsweise X in der Rede von Gott – das wird das Thema des folgenden Kapitels sein – hat nicht nur weitreichende Konsequenzen für historisch-kulturelle Festlegungen, sie hat auch Konsequenzen für die Bewertung der hermeneutischen Auslegung. In der Neuzeit ist es zu einem Standard geworden, die Differenz der Weltbilder zu betonen, die zwischen den Autoren der biblischen Schriften und uns heutigen, »modernen« 233 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

Menschen besteht. Im Allgemeinen wird der Abstand als eine große Herausforderung für die Theologie gesehen, weil so eine erhebliche Übersetzungsleistung notwendig wird. Ohne Zweifel gibt es gravierende Unterschiede, schon die wenigen Beobachtungen zu der Entwicklung der kosmologischen Vorstellungen der christlichen Rede von Gott haben die Differenzen deutlich werden lassen. Hiernach steht letztendlich ein mythologisch bestimmtes Weltbild der Autoren der biblischen Texte einem naturwissenschaftlich orientierten Weltverständnis gegenüber. Diese Differenz weist scheinbar auf eine eindeutige Verlustgeschichte: Offenkundig war es mit einem mythologischen Weltbild einfacher, von Gott zu reden, als dies mit den Vorgaben der modernen Wissenschaften der Fall ist. Innerhalb des Schemas des Chiasmus zeigt sich diese Differenz in den Ordnungen, auf die sich die Alltagswelt bezieht. Die Ordnungen der äußeren Erscheinungsweisen setzen Randbedingungen für die Akzeptanz von Redeformen in den Erscheinungsweisen Kultur. Wir können jene Erzählungen nicht als historische Darstellungen akzeptieren, in denen naturgesetzliche Zusammenhänge durchbrochen werden. Doch wird die Bedeutung dieser offenkundigen Hindernisse stark relativiert, wenn man nicht das Verhältnis der biblischen Erzählungen zu den äußeren Erscheinungsweisen in den Mittelpunkt stellt, sondern wenn man sie vielmehr auf die Phänomene der Erscheinungsweise X bezieht. Wenn das letztere der Fall ist, dann erweisen sich diese Differenzen in Hinsicht auf die äußeren Erscheinungsweisen als bei weitem nicht so gravierend und einflussreich. Denn in dem Verhältnis zu den Phänomenen der Erscheinungsweise X steht die geschichtliche und kulturelle Entwicklung der Rede von Gott nicht im Vordergrund, diese Rede ist geschichtlich bestimmt und weist doch über geschichtliche Bindungen hinaus. Wenn die entscheidenden Schwierigkeiten, die sich zeigen, wenn man von Gott reden will, im Zusammenhang mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X stehen, dann waren diese Schwierigkeiten zu biblischen Zeiten nicht viel anders als für uns heute. 194 Paulus rang offenkundig um Worte und bezeugte, dass das, was er zum Ausdruck bringen will, sein Vermögen übersteigt.

194 So kommt Kierkegaard vor einem anderen theoretischen Hintergrund zu dem Schluss: »Es gibt keinen Jünger zweiter Hand. Aufs Wesentliche gesehen sind der erste und der letzte einander gleich, nur dass die spätere Generation die Veranlassung im Bericht der gleichzeitigen hat, indessen die gleichzeitige sie hat in ihrer unmittelbaren Gleichzeitigkeit.« Kierkegaard 1844 (1): 101 f.

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Die Erscheinungsweise Kulturd: Zur Geschichte der Rede von Gott

Nicht anders ist es für uns heute. Wenn wir diese Schwierigkeiten des angemessenen Ausdrucks mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X in Beziehung setzen, dann wird offenkundig, dass diese weitgehend unabhängig davon sind, welches Weltbild für uns gültig ist, im Schema des Chiasmus: mit welchen Methoden wir uns in den äußeren Erscheinungsweisen orientieren. Diese Interpretation des Chiasmus legt nahe, dass die Phänomene der Erscheinungsweise X durch kulturelle Veränderungen kaum beeinflusst sind. Dies relativiert ganz erheblich die neuzeitliche Vorstellung einer Hermeneutik, die Altes und heute Unverständliches vergangener Jahrhunderte für die heutige Weltsicht zugänglich machen muss. Natürlich gibt es erhebliche Diskrepanzen zwischen vielen Vorstellungen über die Wirklichkeit in der Zeit Jesu und in unserer Zeit. Jedoch ist zu fragen, ob das Augenmerk nicht vielmehr auf einem Bereich liegen sollte, den weder mythische Weltkonstruktionen noch moderne Sprachen und Auffassungen gut ausleuchten können. 195 In der Rede von Gott sind wir in entscheidender Weise Zeitgenossen der biblischen Autoren. Eine Hermeneutik der Rede von Gott kann sich nicht auf geschlossene Ordnungen, auch nicht auf ein Universum von Korrespondenzen innerhalb eines mythologischen Weltbildes einlassen. Wie Ricœur feststellt: »One does not become a disciple, in other words without uprooting oneself. This uprooting cannot finally 195 Bultmann betont ähnlich wie Kierkegaard, dass es im Entscheidenden der Rede von Gott um unhistorische, existentielle Verhältnisse geht, bei Bultmann wird es das »Christusgeschehen« genannt. Dieses Christusgeschehen wird in der Verkündigung präsent, es kann nicht von der Verkündigung getrennt werden: »Christus der Gekreuzigte und Auferstandene begegnet uns im Wort der Verkündigung, nirgends anders (…).« Bultmann 1941: 61. Das Christusgeschehen ist nicht gebunden an Weltbilder oder historische Plausibilitäten, es ist allein an den Vorgang der Verkündigung geknüpft. So stehen dann geschlossene Weltbilder, also mythsche bzw. moderne Weltbilder, dem Christusgeschehen gegenüber. Das Christusgeschehen ist unabhängig von beiden. Deshalb muss man sich von allen Weltbildern, von den modernen wie von den mythischen lösen. Dies ist durchaus analog zu der hier vorgeschlagenen Rolle der Erscheinungsweise X für die Rede von Gott. »Kann die christliche Verkündigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen?« Bultmann 1941: 14. Die Kritik an neutestamentlichen Mythen ist eine solche, »die aus dem Selbstverständnis des modernen Menschen erwächst.« Bultmann 1941: 17. Erst wenn man ganz von den Weltbildfragen lässt, kann das Christusgeschehen deutlich werden. Wir werden aber später sehen, dass nur aus der Rede heraus, die durch Metaphern und Grenzausdrücke bestimmt ist, es möglich ist, die Phänomene der Erscheinungsweise X zu erreichen. Deshalb darf man die Möglichkeiten auch mythologischer Rede, welche nicht zuletzt metaphorische Rede ist, nicht unterschätzen.

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

fail to shake up what we call the logic of meaning of the sacred universe and its system of correspondences.« 196 So wie die biblischen Zeitgenossen deshalb um rechte Worte gerungen haben, um zum Ausdruck zu bringen, was die Menschwerdung Gottes bedeutet, wie Kreuz und Auferstehung in angemessene Darstellung gebracht werden können, so ringen auch wir heute. Und es ist gemäß dem Schema des Chiasmus auch gar nicht denkbar, dass es dereinst eine Kulturstufe des Menschen geben könne, die die Verhältnisse grundlegend ändert.

5.

Kritische Bemerkungen zur Hermeneutik von Paul Ricœur

Die Zurückhaltung Ricœurs gegenüber einer weitergehenden Interpretation der Phänomene, auf die die Grenzausdrücke weisen, ist gut begründet, jedoch kann man fragen, ob die spezifischen Voraussetzungen, die ihn hier zu einer so strengen Zurückhaltung veranlassen, zwingend sind. Es gibt konzeptionelle Differenzen zwischen den Ansätzen von Ricœur und dem von Merleau-Ponty und damit auch zu dem hier vorgeschlagenen Schema des Chiasmus, unbeschadet der Tatsache, dass letzterer auf den ersteren gerade in der Anfangsphase seines Wirkens einen großen Einfluss ausgeübt hat. Meiner Ansicht nach werfen vor allem die Begriffe des »Selbst« und der »Welt« in dem Ansatz von Ricœur Fragen auf. 197 Beide Begriffe korrespondieren miteinander: »Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen.« 198 Texte bieten Möglichkeiten, zu sich selbst zu finden. Die Verknüpfung einer Vorstellung von »Welt« mit einem Text spielt für Ricœur vor allem deshalb eine bedeutende Rolle, weil auf diese Weise die Eigenständigkeit des Textes, seine UnRicœur 1978: 57. Vgl. Vogelsang 2014 (2): 133 ff. 198 Ricœur 1974 (2): 32. Waldenfels diagnostiziert eine unzureichende Auseinandersetzung mit Levinas bei Ricœur. Fremdheit sei bei Ricœur nur relative Fremdheit, ähnlich wie im griechischen Denken. Seine Bedenken lassen sich auch gut auf den problematischen Weltbegriff beziehen: »Wo eine einzige Ordnung am Horizont steht, und sei sie noch so unbestimmt und verborgen, obsiegt letzten Endes das Gemeinsame. (…) Was mir fremd ist, ist nicht nur anders als ich selbst; es entzieht sich mir, indem es mich in Anspruch nimmt.« Waldenfels 1995: 300 f. (Hervorhebung im Original) 196 197

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Kritische Bemerkungen zur Hermeneutik von Paul Ricœur

abhängigkeit von dem Autor und der Entstehungssituation gewährleistet werden kann: »Was ich mir schließlich aneigne, ist ein Entwurf von Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt.« 199 Mit dem Entwurf einer »Welt« innerhalb eines Textes verbindet Ricœur die Möglichkeit des Verstehens des eigenen Selbst, denn das Selbst ist maßgeblich durch den eigenen Weltentwurf geprägt. Texte entfalten eine Welt, in der sich der Leser orientieren kann und die eine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegen über der Welt des Lesers (und des Schreibers) bewahrt. Der starke Weltbegriff, den Ricœur so den Texten attestiert, ist eng mit einem prägnanten Selbstbegriff verbunden, der immer wieder in den Texten von Ricœur zum Vorschein kommt. Dadurch ist es nahe liegend, sowohl die Welt wie auch das Selbst als umfassende, wenn auch problematische Entitäten aufzufassen. Den Ausgang nimmt dieses schwierige Verhältnis von Selbst und Welt offenkundig bei einer bestimmten Auffassung des Selbst. An anderer Stelle haben wir gezeigt, dass Ricœurs Begriff des Selbst nicht in hinreichender Weise den Anderen einbezieht. 200 Bei aller Kritik an den Traditionen, die über Unmittelbarkeit oder vollständige Transparenz das Selbst erschließen wollen, und bei aller Einsicht in das Spannungsvolle, das auch das Selbst konstituiert (idem-ipse), gebraucht auch Ricœur weiterhin einen zu voraussetzungsreichen Begriff des Selbst. Dadurch ist stets die Gefahr von Missverständnissen gegeben. Ein Missverständnis kann darin bestehen, dass das Selbst zu einer zentrierten Größe wird, die zunächst auf eigenständige Weise in Unabhängigkeit von anderem bestimmt werden kann. Dann drohen zum Beispiel Texte lediglich zu zusätzlichen peripheren Impulsen zu werden, die nichts Substantielles zur Selbstfindung beitragen können. Gerade deshalb scheint Ricœur umso mehr die Notwendigkeit zu sehen, die Texte Ricœur 1974 (2): 33. Und das gilt, obwohl der Titel seines zentralen Werks »Das Selbst als ein Anderer« eine andere Ausrichtung nahe legt. Vgl. Vogelsang 2014 (2): 146. Ähnlich argumentiert auch Schlette in Hinsicht auf den Vorgang der Selbstbezeugung: »Die Selbstbezeugung ist als solche nicht nur, wie Ricœur durch seine kritische Auseinandersetzung mit Heidegger plausibilisiert hat, auf den Anderen angewiesen (…); die Selbstbezeugung ist als Bezeugung meiner selbst nur dadurch, dass in ihr das Andere meiner selbst, nämlich spirituelle Erlebnisse leiblicher, ästhetischer, erotischer, intellektueller, sittlicher oder zwischenmenschlicher Art bezeugt wird (…).« Schlette 2013: 407. 199 200

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Zur Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur

gegenüber seinem starken Verständnis des »Selbst« aufwerten zu müssen. Denn es ist ihm wichtig, dass die Texte einen tragenden Beitrag zur Selbstfindung leisten. Er wertet die Texte mit Hilfe des Weltbegriffs auf. Im Folgenden wollen wir prüfen, ob nicht Ricœurs Anliegen innerhalb des Konzeptes einer grundlegend offenen Wirklichkeit, die auf umfassende Strukturen von Welt und Selbst verzichtet, auf eine Weise berücksichtigt werden kann, die keine so weitreichenden Abgrenzungen notwendig macht. Leib und Wirklichkeit in dem hier vertretenen Ansatz sind nicht gegeneinander geschlossen, gerade dies bietet aber die Möglichkeit, beide zueinander in ein differenzierteres Verhältnis zu setzen. Innerhalb einer offenen Wirklichkeit ermöglichen Texte als Strukturen der Erscheinungsweise Kulturg Zugänge zu partikularen Ordnungen, deren Deutungsanspruch geringer ist als der einer umfassenden »Welt«. Dadurch sinkt aber auch das Potential für ein Missverständnis in einer religiösen Rede von Gott. Denn Ricœur vermeidet erkennbar den Terminus »Welt« in theologisch orientierten Texten. Hier ist eher von den Grenzausdrücken die Rede, die gerade keine Ordnungen schaffen, sondern Ordnungen transzendieren. Die Vermeidung des Begriffs der Welt ist nachvollziehbar, weil er eine Vorstellung von Geschlossenheit und innerer Konsistenz mit sich führt. Wenn biblische Texte eine geschlossene »Welt« hervorbrächten, wäre die Gefahr einer heteronomen Deutung der Rezeption biblischer Texte groß. Dem Lesenden bleibt nur die Akzeptanz der auch ohne ihn existierenden »Welt« des biblischen Textes. Dagegen betont Ricœur in den religiösen Texten immer wieder die Unterschiedlichkeit der Redeweisen von Gott, die sich gerade nicht in einem geschlossenen Weltbild zusammenfassen lassen. Es ist nicht nur die Begrenztheit der Ordnungen eines Textes, auf die das Schema des Chiasmus hinweist, sondern auch auf die besondere Rolle der Erscheinungsweise X. Diese Phänomene entziehen sich Ordnungen und können in kein Weltkonzept aufgenommen werden. Es ist ja das Interesse Ricœurs, in den Texten der Rede von Gott das Transzendierende auszuweisen. Das steht ohne Zweifel in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der Vorstellung, eben dieselben Texte könnten Welten vorgeben, in denen die Rezipierenden wohnen. Der Umgang mit ihr zeigt Wege auf, die über diejenigen von Paul Ricœur hinausgehen, ohne seinen hier referierten Analysen zu widersprechen. Auffällig ist weiterhin an den Interpretationen biblischer Texte 238 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Kritische Bemerkungen zur Hermeneutik von Paul Ricœur

durch Ricœur, dass er eine gewisse Skepsis gegenüber einer Betonung der Rolle Jesu Christi hegt: »Ich zögere nicht zu sagen, dass ich mit allen meinen Kräften dieser Verlagerung des Akzentes von Gott auf Jesus Christus, der der Ersetzung des einen durch die andere gleich käme, widerstehe.« 201 Natürlich hat Ricœur darin recht, dass der Bezug auf Christus keine Ersetzung einer allgemeinen Rede von Gott darstellen kann. Erkennbar ist dennoch, dass Ricœur im Unterschied zu Merleau-Ponty, obwohl letzterer sich doch in keiner vergleichbaren Weise um theologische Fragen gekümmert hat, nur selten auf die Inkarnation selbst, die Offenbarung Gottes in Christus, Bezug nimmt: »Es gehört zu den Eigenarten der biblischen Studien Ricœurs, sich vor allem auf die Textwelt der Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft Israels zu beziehen, um von dort her den christologischen Horizont mehr fragend und andeutend als klärend ins Spiel zu bringen.« 202 Christus als Verkünder wird von Ricœur eingereiht in die Tradition der Propheten: »Ich halte fest, dass das, was Jesus verkündet, das Reich Gottes ist, das sich in der Nennung Gottes durch die Propheten, die Eschatologen und die Apokalyptiker einreiht.« 203 Möglicherweise hat an dieser theologischen Akzentuierung auch die philosophische Theorie Ricœurs einen gewissen Anteil. Die Betonung der Vielfalt der religiösen Texte und ihre Eigenständigkeit lassen sich nicht so leicht mit dem singulären Geschehen der Inkarnation vereinbaren. Diese theoretische Grundlage verhindert ohne Zweifel jenen Fehler, den etwa Badiou begeht, wenn er von einem singulären Christus-Ereignis spricht. Ricœur betont dagegen zu Recht die Einbindung Christi in die Reihe der alttestamentlichen Zeugnisse. Mit dem Hinweis auf die Grenzausdrücke hat Ricœur aber selbst einen Weg markiert, der über die Interpretationen einer Welt in den Texten hinausgeht.

201 202 203

Ricœur 1977 (2): 174. Hiller 2009: 209. Ricœur 1977 (2): 174.

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7. Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

In dem vorangegangenen Kapitel haben wir die Rede von Gott innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur untersucht. Die hermeneutischen und theologischen Arbeiten von Paul Ricœur bieten eine Grundlage, um die Rede von Gott in diesen Erscheinungsweisen zu interpretieren. Sowohl die hermeneutische Untersuchung der Rede wie auch die historischen Vorgänge, in die sie eingebettet ist, zeigen begrenzte Ordnungen, die von Spannungen geprägt sind. Metaphern und Grenzausdrücke weisen über diese Ordnungen hinaus, die Momente, die die Ordnungen transzendieren, werden wir im Folgenden mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X in Verbindung bringen. Es geht also nun darum, die Erscheinungsweise X »näher zu betrachten«. Dieses Vorhaben erweist sich aber als inhärent paradox, denn eine »nähere Betrachtung« bedarf eines Instrumentariums, bedarf bestimmender Methoden und präziser Begriffe, doch diese sind 240 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

per definitionem für die Phänomene der Erscheinungsweise X nicht existent. Die Untersuchung der Rede von Gott in den Erscheinungsweisen Kultur steht vor deutlich einfacheren Aufgaben, weil die Erscheinungsweisen selbst durch jene Methoden bestimmt sind, die auch in der Untersuchung der Erscheinungsweise zur Anwendung kommen. Die Rede von Gott kann in diesen Erscheinungsweisen als Beispiel einer Rede behandelt werden, sie ist eine bestimmte, mit besonderem Anspruch versehene menschliche Rede, ihre Analyse geschieht mit den Methoden der Hermeneutik. Auch der Versuch, die Phänomene der Erscheinungsweise X zu erschließen, geschieht aus der Erscheinungsweise Kulturg heraus. Was auch immer wir im Folgenden formulieren, niemals beschäftigen wir uns direkt mit dem, worüber wir reden. Der Umgang mit jenen Phänomenen ist, wenn man die genetische Lesart des Schemas des Chiasmus berücksichtigt, in gewisser Weise immer ein Blick »zurück«. Bernhard Waldenfels hat diese Möglichkeit der indirekten Beschreibung wie folgt dargestellt: »Ordnungen, die unter kontingenten Umständen entstehen und fortbestehen, weisen nicht nur über sich hinaus auf das, was die Grenzen der Ordnung überschreitet, sie weisen auch hinter sich zurück auf einen Zustand der Unordnung, der im Prozess der Ordnung vorausgesetzt, aber nie aufgehoben wird.« 1 Trotz aller Schwierigkeiten der Mitteilung ist es möglich, sich in indirekter Weise auf die Phänomene zu beziehen, sich ihnen sozusagen lateral zu nähern. Das belegen insbesondere die phänomenologischen Analysen von Waldenfels und Merleau-Ponty. Die Kunst besteht darin, Begriffe so zu nutzen, dass sie sich nicht zu fixen Kategorien verhärten, aber auch nicht beliebig werden. Der Umgang mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X ist vor allem in unserer Zeit außerordentlich schwierig, weil um ihre Deutung eine zum Teil auch ideologische Auseinandersetzung stattfindet, es droht sowohl eine Überbewertung dieser Phänomene wie auch eine Unterschätzung. Die Situation lässt sich gut mit dem grundlegenden Konflikt beschreiben, den Charles Taylor für die Neuzeit diagnostiziert. Hiernach gibt es zwei grundlegende Quellen der Identität. Die eine Quelle ist der nüchterne Blick auf die Welt, ähnlich dem der für die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden erforderlich ist. Hier kommt es für die Forschenden darauf an, Distanzen zum Forschungsgegenstand zu schaffen und sich nicht »subjekti1

Waldenfels 2002: 273.

241 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

ven« Einflüssen auszusetzen. Die andere Quelle ist die Erfahrung von tief empfundenen Intuitionen, von genialen Eingebungen, von starker Verbundenheit, von künstlerischem Schaffen. Die Wahl zwischen diesen Haltungen wird deshalb schnell weltanschaulich aufgeladen, weil sie mit dem jeweiligen Selbstverständnis engstens verbunden ist: »(…) was aus dieser weitläufigen Darstellung der Entwicklung der neuzeitlichen Identität hoffentlich hervorgeht, ist das Ausmaß, in dem sie alles durchdringt, uns einhüllt und uns in sie verstrickt, nämlich in ein Gefühl des Selbst, das sowohl durch die Kräfte der desengagierten Vernunft als auch durch die der schöpferischen Phantasie bestimmt wird (…).« 2 Folgt man dem Konzept der desengagierten, nüchternen Vernunft und der damit einhergehenden instrumentellen Bemächtigung der Welt, dann liegt es auf der einen Seite nahe, die Phänomene der Erscheinungsweise X als irrationale Störungen zu verwerfen. Sie gelten dann als unselbständige und vordergründige Täuschungen, die mit Hilfe eines rationalen Wirklichkeitskonzeptes reformuliert und entkräftet werden können. Auf der anderen Seite steht die romantische Wertschätzung jener Wirklichkeitserfahrungen, die sich nicht erhellen lassen, sondern im Halbdunkel verbleiben, die von »Unmittelbarkeit« und »Authentizität« bestimmt sind. Hier werden gerade die Phänomene der Erscheinungsweise X nicht nur betont, sondern als das »Eigentliche« des Lebens gewertet. Nach der ersten Vorstellung werden Ordnungen nicht nur als Ausgangspunkt zur Betrachtung der Phänomene der Erscheinungsweise X herangezogen, sie gelten als deren Fundament. Die Wirklichkeit besteht aus dem naturwissenschaftlich Beschreibbaren, an dessen Oberfläche sich Phänomene zeigen, die der Erscheinungsweise X angehören und die als »subjektiv« eingeschätzt werden. Dagegen dreht der Ansatz Merleau-Pontys durch den Verweis auf die immer schon vorgängige Verbundenheit des Leibes mit der Welt dieses Verhältnis geradezu um: Das von ihm so genannte »wilde Sein« oder »rohe Sein« ist immer schon da und alle Ordnungen entspringen ihm. Nicht Ordnungen bilden »die Grundschicht« der Wirklichkeit, sondern das Ungefügte; nicht subjektive Eindrücke sind an der Oberfläche zu finden, sondern die immer nur begrenzten Ordnungen. Die Verbundenheit weist auf »ein Universum des rohen Seins und der Koexistenz, in das wir immer schon verschlagen sind, seit wir sprechen und denken; und dieses Universum selbst lässt grundsätzlich kein objektivierendes 2

Taylor 1996: 868.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

oder reflexives Vorgehen der Approximation zu (…).« 3 So entsteht in gewisser Weise Ordnung aus Unordnung. Der biblische Schöpfungsmythos bringt diesen Gedanken zum Ausdruck, wenn er davon spricht, dass am Anfang tohuwabohu herrschte (Gen 1,1: Die Erde war »wüst und leer«.). Bernhard Waldenfels verweist ebenfalls auf dieses Moment der Entstehung von Ordnung: »Wenn wir das, was unterhalb der Schwelle liegt, als Chaos bezeichnen, so bedeutet dies kein schlichtes Grau in Grau, keine bloße Ordnungslosigkeit und schon gar keine Ordnungswidrigkeit, sondern das Woraus der Ordnung (…).« 4 In diesem Sinne zeigt sich in den Phänomenen der Erscheinungsweise X in besonderem Maße die immer schon bestehende Verbundenheit unseres Leibes mit der Wirklichkeit. Sie liegt, dies zeigten auch die obigen genetischen Interpretationen, der Entwicklung des Chiasmus im Ganzen zugrunde. Diese Gewichtung, der Vorrang des »rohen Seins«, kommt in dem Schema des Chiasmus so zum Ausdruck, dass sich die Erscheinungsweise X in der Mitte des Schemas befindet. In einer genetischen Auslegung kann diese Erscheinungsweise als zeitlich vorrangig gedeutet werden. 5 Das Nichtgeordnete ist primär und aus ihm enstehen erst die Ordnungen. So sind wir »umgeben von einem Horizont des rohen Seins und des rohen Geistes, aus dem die konstruierten Gegenstände und Bedeutungen auftauchen (…).« 6 Das Nichtgeordnete ist nicht Ausnahme, nicht hinzukommende Störung, auch kein Oberflächenphänomen, sondern Ursprung der Ordnung, es ist das je und je Gegenwärtige. Gemäß der zweiten Vorstellung herrscht das reziproke Missverständnis der Phänomene der Erscheinungsweise X vor. Auch hierzu gibt es eine lange Tradition, die Taylor in der Epoche der Romantik beginnen lässt. Hiernach ist das Ich eines jedes Menschen in seinem »Innern« zu verorten, dieses Ich bringt sich in jedem individuellen Leben zum Ausdruck. Wenn dies glückt und äußere Einflüsse gering sind, das Ich nicht beschränkt wird, dann entwickelt sich ein authenMerleau-Ponty 1964: 137. Waldenfels 2002: 276. 5 Allerdings darf auch diese Auslegung nur als indirekte Andeutung verstanden werden, eine exakte Durchführung ist innerhalb des Schemas gerade nicht möglich. Würde man versuchen, die genetische Ableitung präzise zu fassen, würde dem Schema ein Zeitmaß übergestülpt, das es automatisch zu einer festen Ordnung werden ließe, und damit wären die Voraussetzungen verloren, unter denen das Schema eingeführt wurde. Es ist aber keine Super-Ordnung. 6 Merleau-Ponty 1964: 132 f. 3 4

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

tisches Selbst. Das Selbst findet seinen Ausdruck durch eine Bewegung von innen nach außen. Diese Vorstellung ist deshalb geprägt von der Hochschätzung einer Innerlichkeit: »Es ist eine innere Regung oder Überzeugung, die uns sagt, wie wichtig unsere eigene natürliche Erfüllung ist sowie unsere Anteilnahme an den Erfüllungen der Mitgeschöpfe. Dies ist die Stimme der Natur in unserem Innern.« 7 In der populären Kultur gibt es für diese Haltung eine Vielzahl von Beispielen, stets wird eine Außenbindung als oberflächlich und nichtssagend abgewertet, wohingegen Achtsamkeit auf die innere Stimme eine hohe Wertschätzung genießt. Gott zu erfahren, bedeutet dann, eine innere Erfahrung zu machen, die von äußeren Einflüssen wie von etablierten Religionen, rituellen Prozessen, moralischen Vorgaben von Gemeinschaften und anderem zu unterscheiden ist. Mit der Vorstellung des Inneren ist auch eine bestimmte Vorstellung des Ausdrucks verbunden. Der innere Zustand muss sich im äußeren Handeln niederschlagen: »Sofern es eine innere Stimme oder eine innere Regung ist, durch die wir Zugang zur Natur haben, gelangen wir nur durch die Artikulierung dessen, was wir in unserem Innern vorfinden, zur vollständigen Erkenntnis der Natur. (…) Diese Anschauung habe ich an anderer Stelle als »Expressivismus« bezeichnet.« 8 Sprachliche Äußerungen sind Ausdruck eines vorsprachlichen Zustandes, der sich in den sprachlichen überführen lässt. Der vorsprachliche Zustand erfordert, ja er erzwingt nach dieser Vorstellung geradezu einen bestimmten Ausdruck. Es ist die Eingebung des Genies, der es eine bestimmte Form geben muss. Die Vorstellung eines Kerns oder des Eigentlichen ist zugleich verbunden mit der Abwertung von anderen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. Wenn es gelingt, der Phänomene der Erscheinungsweise X habhaft zu werden, so verlieren alle anderen Phänomene an Bedeutung. Mit der Vorstellung eines Kerns der Botschaft in der Rede von Gott geht also notwendigerweise eine Wertung einher, eine Aufwertung der Phänomene der Erscheinungsweise X und eine Abwertung aller kulturellen Vermittlung und menschlicher Strukturen. Das Ursprüngliche, das Unmittelbare tritt in den Vordergrund und wird zu dem Orientierungspunkt, den zu folgen notwendig ist, wenn man Lebensfülle erleben möchte. Mit dem Ansatz von Merleau-Ponty lässt sich diese Bevorzugung der Phänomene der Erscheinungsweise X nicht rechtfertigen. 7 8

Taylor 1996: 643. Taylor 1996: 651.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

Die Worte der Rede von Gott sind nicht direkt abgeleitet aus ursprünglichen Erfahrungen, der sprachliche Ausdruck ist keine sekundäre Form. Wir haben zuvor gegenüber einer Abwertung der Phänomene der Erscheinungsweise X als subjektives Erleben in Anlehnung an Merleau-Ponty die gewichtete Interpretion mit einem »Früher« und »Später« vorgeschlagen. Doch darf das nicht im Umkehrschluss dazu führen, nun alles aus den Phänomenen der Erscheinungsweise X ableiten zu wollen. Manche Formulierungen von Merleau-Ponty könnten allerdings so interpretiert werden, wenn sie nicht im Kontext des gesamten philosophischen Ansatzes gewertet werden. 9 Die leibphänomenologische Methode zeigt, dass die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit ein- und demselben Verschränkungsvorgang entstammen. Die Phänomene der Erscheinungsweise X repräsentieren nicht das »Ursprüngliche« oder das »Eigentliche«, den »Kern« dessen, worum es in der Rede von Gott geht. Sie sind kein unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeitund zur eigenen Identität und sie repräsentieren auch keinen unmittelbaren Zugang zu Gott. Eine räumliche Zuordnung dieser Phänomene zu einem »Innern« ist in der Erscheinungsweise X schon aus dem Grunde nicht möglich, weil es in ihr keine übergreifende Ordnung gibt, auch nicht die des Raums. In gewisser Weise kommt der Ausdruck aus dem Nirgendwo: »Das Paradox des Ausdrucks entspricht einer Übersetzung ohne vorgegebenen Urtext; was zum Ausdruck kommt, ist nirgends anders zu fassen, als in der Ausdruckstätigkeit selbst.« 10 Insofern sind die Ausdrücke der Erscheinungsweise Kultur in wahrem Wortsinn an-archisch, sie haben keinen definierten Anfangspunkt, es gibt kein Inneres einer Person, einer leiblichen Existenz, das sich nur zum Ausdruck bringen müsste. Dies betont die Wichtigkeit und Eigenständigkeit der kulturellen Vermittlung. Es bleiben nur die Möglichkeiten von indirekten Vermittlungen. Merleau-Ponty spricht auch von lateralen Zugängen. Paul Ricœur betont die Notwendigkeit der Vermittlung der Rede von Gott durch Texte. Alle einseitigen Betonungen bestimmter Erscheinungsweisen gegen andere sind ideologisch motiviert. Deshalb sind beide Interpretationen der Phänomene der Erscheinungsweise X irreführend, weder »Mit dem ersten Sehen, mit dem ersten Kontakt, der ersten Lust findet eine Initiation statt (…) Eröffnung einer Dimension, die fortan nie wieder verschlossen werden kann (…).« Merleau-Ponty 1964: 198. 10 Waldenfels 2010: 145. 9

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

sind sie der einzige Zugang zu wahren Erfahrungen noch sind sie nur »subjektive Verzerrungen« in einer objektiven, geordneten Welt. Diese Fehleinschätzungen übertragen sich auch auf Interpretationen der Rede von Gott. Dann geht es um mystische Momente, sprachlose Offenbarungen, einmalige und ewige Gewissheiten. Deren sprachliche Form ist nur eine bedeutungslose äußere Hülle, Ausdruck einer Konvention, die niemals die eigentlichen religiösen Erfahrungen tragen kann. Oder es steht die nüchterne Arbeit an dem Textbestand etwa der biblischen Texte oder der kirchlichen Traditionen im Vordergrund. Es gilt dann die Devise: Ein aufgeklärter, durch die wissenschaftlichen Methoden disziplinierter Anspruch muss auch die Rede von Gott durchwalten, Unmittelbarkeitserfahrungen haben hier keinen Ort. Diese waren in der Vergangenheit vielmehr immer wieder Quelle falscher mythologischer Deutungen der Welt, die den heutigen wissenschaftlichen Standards nicht genügen. Die Schwierigkeit, sich den Phänomenen der Erscheinungsweise X mit Hilfe von Begriffen zu nähern, bedeutet nun nicht, dass es schwierig oder kulturell voraussetzungvoll wäre, dass sich diese Phänomene überhaupt zeigen. Im Wortsinne ist es »kinderleicht«, diese Phänomene sind immer schon Teil der Wirklichkeit, in der wir leben, sie zeigen sich Kindern ebenso wie gelehrten Erwachsenen, geistig eingeschränkten Menschen ebenso wie Wahrnehmungskünstlern. In dieser allgemeinen Zugänglichkeit unterscheiden sie sich von den Phänomenen der äußeren Erscheinungsweisen im Chiasmus, die in der Tat kulturelle Techniken voraussetzen, etwa den Umgang mit exakten Sprachen und diversen Technologien und Handlungsvorschriften. Doch erleichtert das einfache und durch keine Methoden vermittelte Sich-Zeigen dieser Phänomene nicht die Aufgabe, andere Menschen auf sie aufmerksam zu machen oder sie im Rahmen dieser Arbeit über den Wirklichkeitsbezug der Rede von Gott darzustellen. Viel einfacher ist es, auf etwas aufzumerken, was sich zuvor nicht zeigte, aber mit einem Mal da ist, als auf etwas, was immer schon da war und sich nie besonders zeigte. 11 In ihrer ständigen »Präsenz« besteht die eigentliche Schwierigkeit. Auch in den vorangegangenen Untersuchungen, »Offene Wirklichkeit« und zur »Identität in einer offenen Wirklichkeit«, spielten Übertragen auf die Rede von Gott kann man so deutlich machen, dass nicht die Ferne Gottes das eigentliche Problem darstellt, vielmehr seine Nähe! Vgl. auch Jüngel 1977: 385.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

die Phänomene der Erscheinungsweise X eine wichtige Rolle. Sie waren ein unbestreitbarer Beleg für die Notwendigkeit einer umfassenderen Beschreibung der Wirklichkeit jenseits der etablierten und von Ordnungen geprägten Erscheinungsweisen Gedanke und Ding. Sie wiesen in der Frage nach der Identität auf jene Antworten, die sich nur in paradoxen Beschreibungen fassen lassen. In beiden Untersuchungen haben wir die Erscheinungsweise X als eine Erweiterung, als eine Ergänzung zu den anderen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit notiert. Ein solches additives Vorgehen ist nun, in der Betrachtung der Rede von Gott, nicht mehr möglich. Die über die Rede hinausgehenden Phänomene der Erscheinungsweise X sind notwendig, um mit existentiellem Ernst von Gott zu reden. Ohne sie ist die Rede von Gott nur eine Rede von »Gott«, das heißt, sie ist nur eine Rede, die innerhalb einer bestimmten kulturellen Tradition die Vokabel »Gott« anwendet. Schon die Beobachtungen zu den biblischen Texten haben gezeigt, dass diese von einer konstitutiven Unfähigkeit geprägt sind, als Rede vollständig Rechenschaft über Gott zu geben. Gerade das Spannungsverhältnis, das wir mit Hilfe der Analysen von Ricœur für die Rede von Gott innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur diagnostiziert haben, würde bei einer solchen Verwendung in sich zusammenfallen. Insofern sind die Analysen der Erscheinungsweise X von entscheidender Bedeutung für die Rede von Gott. Dies gilt auch für die folgende Unterscheidung, die im ersten Abschnitt auf das »Zentrum des Chiasmus« aufmerksam macht, für das es nach den Regeln des Schemas keine Vermittlung mehr gibt. Worüber reden wir dann? Mit dem Hinweis auf das Absolute, das in keiner Weise Vermittelte ist das unauflösbare Geheimnis jeder Rede von Gott angedeutet. Der zweite Abschnitt stellt theologische begriffliche Strategien im Umgang mit dem Absoluten vor. Wir können von Gott reden, weil Gott sich selbst durch die Menschwerdung, durch die Inkarnation zu erkennen gegeben hat. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels hat deshalb eine zentrale Stellung innerhalb dieser Untersuchung. Die Inkarnation ist Grundlage für die Rede von Gott in all ihren Facetten, in all den mit der Rede verbundenen Phänomenen in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Im vierten Abschnitt wird auf die notwendige existentielle Beteiligung hingewiesen. Der fünfte Abschnitt macht deutlich, dass, gerade weil das Absolute nicht einordenbar ist, es als Quelle unterschiedlicher Formen der Kritik an menschlichen Verhältnissen und Festlegungen erscheint.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

1.

Die radikale Deutung der Erscheinungsweise X: Das Zentrum des Chiasmus

In der nun folgenden Analyse reicht es nicht mehr aus, summarisch von der Erscheinungsweise X zu reden, denn diese umfasst Heterogenes. Alle Phänomene dieser Erscheinungsweise sind zwar gegenüber den Phänomenen anderer Erscheinungsweisen von einem Mangel an Ordnungen bestimmt, dennoch gibt es auch innerhalb der Erscheinungsweise X bezüglich des Grads der Ordnung noch erhebliche Unterschiede. Die Erscheinungsweise X ist strukturidentisch mit dem ganzen Schema des Chiasmus, insofern kann man auch innerhalb dieser Erscheinungsweise deutliche Unterschiede zwischen den Phänomenen ausmachen. An den äußeren Rändern der Erscheinungsweise X kann man kulturell voraussetzungsreiche Gefühle wie etwa die Scham verorten oder auch ästhetische Erfahrungen, die eng mit kulturellen Fähigkeiten verbunden sind, zum Beispiel dem Sehen von Bildern oder dem Hören komplexer Musik. Hier sind noch gewisse Ordnungen vonnöten, die erst diese Gefühle oder differenzierten ästhetischen Erfahrungen möglich machen. Gefühle sind nicht so stark in Ordnungen eingebunden wie etwa Gedanken oder physikalisch beschreibbare Dinge, doch auch sie gehorchen noch Regelmäßigkeiten, sie sind durch die Biographie und durch das kulturelle Umfeld determiniert. Die Phänomene der Propriozeption, das heißt, der Eigenwahrnehmung des Körpers unter Absehung von all dem, was die fünf Sinne vermitteln, die Hermann Schmitz in seinem phänomenologischen Ansatz so stark auszeichnet, befindet sich dem gegenüber schon wesentlich näher am Zentrum. 12 Aber auch für diese Phänomene gibt es noch eine rudimentäre Räumlichkeit, die Schmitz skizziert. 13 Ganz anders ist es dagegen, wenn man das Zentrum des Chiasmus selbst betrachtet, also jene »Phänomene«, die in keiner Weise mehr vermittelt sind. Das Zentrum, der exakte Ort der Überschneidung der beiden Linien von Bewusstsein* und Ding*, ist nach den Regeln, die wir aus dem Schema abgeleitet haben, vollkommen unbe»Leiblich ist, was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen.« Schmitz 2009: 35. Eine grundlegendere Auseinandersetzung und Kritik an der Position von Schmitz findet sich in Vogelsang 2014 (2): 192 ff. 13 »In flächenlosen Räumen gibt es (…) dynamisches Volumen mit Bewegungssuggestionen und Richtungen, die nicht umkehrbar sind (…).« Schmitz 2009: 75. 12

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Die radikale Deutung der Erscheinungsweise X: Das Zentrum des Chiasmus

stimmbar. Das Zentrum des Chiasmus soll im Folgenden durch den kleinen Buchstaben x symbolisiert werden. 14 Die folgende Skizze verortet x in dem Schema des Chiasmus:

Die Bedeutung des Zentrums des Chiasmus ist nicht marginal, sie hat weitreichende Auswirkungen auf die Interpretation des gesamten Schemas. Gerade weil es auch solche »Phänomene« ausweist, die sich keinerlei Ordnung fügen, sind alle Ordnungen innerhalb des Schemas, auch die in den äußeren Erscheinungsweisen, begrenzt. Die Existenz des Zentrums verhindert, dass das Schema sich jemals zu einer Super-Ordnung entwickeln könnte. In gewisser Weise vernichtet es die Hoffnung auf die Entdeckung eines fundamentum inconcussum, eines Fundaments, auf dem die Wirklichkeit aufruht. Das Schema führt nicht auf einen uns verfügbaren oder kontrollierbaren Die Notationsform begründet sich nicht nur durch eine gewisse Stringenz (das Chi für das Schema, das große X für die Erscheinungsweise X, das kleine x für das Zentrum des Chiasmus), sondern ist auch gut anschlussfähig an die Notation, die Jüngel gewählt hat, wenn er den Übergang von der Transzendenz zur Immanenz durch die Inkarnation mit x ! a notiert, vgl. Jüngel 1977: 390. Diese Vorstellung wird in der weiteren Argumentation eine wichtige Rolle spielen.

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letzten Grund. Die Vorstellung »den Dingen auf den Grund gehen zu können«, ist durch die Anlage des Chiasmus verhindert. Damit wird einem klassischen Erkenntnisanspruch der Metaphysik fundamental widersprochen. Die »Phänomene« x negieren nicht die partikularen Ordnungen, die das Schema des Chiasmus erschließt. Sie verhindern jedoch, dass diese als fest gegründet wahrgenommen werden können. Im Gegenteil, in diesem Schema scheinen die je begrenzten Ordnungen der Wirklichkeit eher zu schweben. Die »Phänomene« x unmittelbar im Zentrum des Chiasmus stellen allerdings vor nicht geringe Deutungsprobleme. Sie können nur in negierenden oder paradoxen Aussagen bestimmt werden: Sie haben keine allgemeine Form, sie lassen sich nicht verorten, für sie gibt es kein Gesetz und keinen allgemeinen Ausdruck. 15 Konsequenterweise muss auch die Behandlung von x eine paradoxe Form annehmen, die Vorstellung eines allgemeinen Ausdrucks wird zugleich negiert. Die grundlegenden Schwierigkeiten der Deutung von x innerhalb des Schemas des Chiasmus zeigen, dass dieses selbst an eine innere Grenze stößt. Die Schwierigkeiten kann man gleich in mehreren Variationen beschreiben. Können wir im Falle von x überhaupt noch von »Phänomenen« reden? Ein Phänomen, so sagten wir in einer Minimaldefinition, ist das, was sich zeigt. Doch inwieweit kann man angesichts der Folgerungen für das Zentrum des Chiasmus noch von etwas reden, das sich zeigt? Möglicherweise muss man auf den Begriff des »Phänomens« im Zentrum des Chiasmus verzichten. Wir werden in Ermangelung eines besseren Terminus das Wort weiter nutzen, jedoch durch Anführungsstriche die Differenz anzeigen. Die erkannte Unbestimmbarkeit der Mitte des Schemas steht weiterhin in einem unmittelbaren Widerspruch zu der Verortung im Schema. Denn in der Aussage »Y ist im Zentrum des Chiasmus« ist »im Zentrum des Chiasmus« natürlich eine Eigenschaft von Y. Auf jeden Teil des allgemein darstellbaren Schemas kann man zeigen, etwa, wenn man es vor sich auf ein Blatt Papier zeichnet. So kann man auch von einem »Ort« reden, etwa dem Zentrum des Chiasmus, man kann Phänomene dort »verorten«. Doch führt diese konkretistische Ausdrucksform in die Irre. Auch das Schema kann nur indirekt auf diese »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus aufmerksam machen. Ebenso gilt: Etwas, was sich jeder Bestimmung entzieht, kann nicht Element einer Hier ist offenkundig eine große Nähe zur Bestimmung des Unbedingten, wie es Ulrich Barth vorgenommen hat, vgl. Kap. 4.4.

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Die radikale Deutung der Erscheinungsweise X: Das Zentrum des Chiasmus

Menge sein, denn jede Zugehörigkeit zu einer Menge ist eine Eigenschaft ihrer Elemente. Deshalb können die »Phänomene« x im Zentrum des Chiasmus im eigentlichen Sinne auch nicht »Teil« der Erscheinungsweise X sein. Es ist offenkundig, dass Erscheinungsweise X nur durch die äußere Einbindung in die allgemeine Form des Chiasmus als wohlgefügte Menge erscheinen kann. Wenn wir den Ausdruck »Erscheinungsweise X« verwenden, meinen wir damit zunächst einmal nur einen Teil des Schemas des Chiasmus. Innerhalb dieses Schemas ist die Erscheinungsweise X gut definiert, sie lässt sich in Abgrenzung von mehr oder weniger präzisen Erscheinungsweisen bestimmen und kann einem exakten Ort innerhalb des Schemas zugeordnet werden. Es ist offenkundig, dass die Deutung des Schemas an dieser Stelle immer wieder in selbstwidersprüchlichen Bestimmungen endet. Verwerflich wäre das aber nur, wenn solche Paradoxa grundsätzlich zu vermeiden wären. Das ist aber aufgrund unserer Erkenntnissituation nicht der Fall: Wir versuchen, etwas zu erkennen und präzise zu beschreiben, mit dem wir konstitutiv verbunden sind. Man kann es geradezu als eine Leistung des Chiasmus ansehen, den Paradoxien in der Beschreibung der Wirklichkeit nicht auszuweichen und sie zugleich nicht pandemisch werden zu lassen, sondern ihnen gegenüber die Eigenständigkeit partikularer Ordnungen nachweisen zu können. Für den Gebrauch des Schemas spricht auch, dass es bis zum Zentrum kontinuierliche Veränderungen im Grad der Vermittlung gibt. So existiert keine feste Grenze, das Unvermittelbare, das Unbedingte, das Absolute ist nicht jenseits einer imaginären Grenze der Welt, sondern mitten in der Wirklichkeit, wenn auch unerreichbar. Der Ausdruck »Erscheinungsweise X« hat in etwa dieselbe semantische Funktion wie der Begriff »Grenzausdruck« bei Ricœur. In beiden Fällen handelt es sich um Ausdrücke der Erscheinungsweise Kulturg, die einen indirekten konzeptionellen Bezug zu den Phänomenen herstellen, die man nicht abbilden und in umfassendere Ordnungen und Strukturen aufheben kann. Zwischen der Funktion des Ausdrucks »Erscheinungsweise X« innerhalb des Schemas des Chiasmus und dem, worauf er nur indirekt, nur unvollkommen hinweisen kann, besteht eine fundamentale, nicht aufhebbare Differenz. Dies ist notwendigerweise eine Quelle ständiger Kritik an den verwendeten Allgemeinbegriffen. Die Rede von der »Erscheinungsweise X« wie auch vom »Zentrum des Chiasmus« muss man als eine Heuristik verstehen, die indirekt auf bestimmte Phänomene aufmerksam macht. Die251 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

se Begriffe machen nur Sinn im Rahmen einer Mahnrede, die auf etwas verweist, was sie selbst als Rede nicht einlösen kann. Der Ausdruck »Erscheinungsweise X« ist eine Strategie innerhalb der Erscheinungsweise Kulturg, sich auf nicht zu ordnende und allgemein nicht ausdrückbare Phänomene möglichst allgemein und stringent zu beziehen, aber nicht notwendigerweise angemessen für das, auf das er weisen soll. Die Eignung ermisst sich vor allem an der Fruchtbarkeit des Ansatzes, also an der Frage, ob es tatsächlich gelingt, auf jene Phänomene aufmerksam zu werden, die nicht direkt adressiert werden können. Ein Bezug auf etwas Unbeschreibbares ist in der neueren Philosophie allerdings nichts Ungewöhnliches. Gerade solche Ansätze, die besonderen Wert auf die Beschreibbarkeit der Wirklichkeit legen, bekräftigen die Unfähigkeit, eine umfassende Ordnung ausweisen zu können. Der frühe Wittgenstein hat mit großem Rigorismus versucht, unverstehbare Aussagen und Begriffe zu meiden, aber auch der daraus resultierende minutiöse Versuch des »Tractatus logicophilosophicus« endet schließlich mit dem unvermeidbaren Satz: »7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« 16 Ob man nun das Unbeschreibbare mit »Wovon man nicht sprechen kann«, »Geheimnis«, »Grenzausdruck«, das »Fremde«, das »Unsichtbare« oder »Zentrum des Chiasmus« bezeichnet, ist letztendlich nicht entscheidend. Offenkundig ist, dass es immer ein Anderes der Ordnung gibt, wenn man selbstkritisch über die Wirklichkeit, in der man leiblich existiert, Rechenschaft ablegen will. Die Begründung für die Unvermeidbarkeit ergibt sich aus dem leibphänomenologischen Ansatz, wir sind auf uns nicht mehr nachvollziehbare Weise mit dem verbunden, was wir zugleich zu erkunden beabsichtigen.

2.

Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt

Die christliche Rede von Gott ist geprägt von der Differenz zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Sagbaren. Wir sahen das in den ersten Zeugnissen dieser Rede, in dem Ringen des Paulus um die rechten Worte. Paulus hat pointiert zum Ausdruck gebracht, dass dieses Ringen in der Rede von Gott kein partikulares Unvermögen ist, sondern 16

Wittgenstein 1922: 85.

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Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt

zum Kern des Selbstverständnisses der Rede gehört: Er charakterisiert die christliche Rede von Gott als das Wort vom Kreuz. Wenn man von Gott redet, versucht man stets, mehr zu sagen als menschenmöglich ist, es ist mit dem Bezug auf Gott zugleich eine Fundamentaldifferenz gesetzt. Diese Differenz bestätigt sich gegenüber allen weltlichen und menschlichen Verhältnissen. Die Betonung der Differenz zwischen Gott und Schöpfung und auch zwischen Gott und Mensch durchzieht alle biblischen Texte. Gott ist es, der Himmel und Erde ebenso geschaffen hat (Gen 1,1 ff.) wie auch den Menschen (Gen 1,27), sein schöpferisches Handeln setzt die Existenz- und Erkenntnisbedingungen von Welt und Mensch. Gott offenbart sich stets so, dass zugleich die Differenz zwischen dem Offenbarer und dem Menschen betont wird, etwa mit Hinweis auf die Heiligkeit des Ortes der Epiphanien (Ex 3,5 oder Jes 6,3). Wer Gott zu nahe tritt, verliert sein Leben, Gottes Angesicht kann niemand schauen (Ex 33,20). Gott erweist sich, wem er will, und macht diese Unverfügbarkeit auch mit seiner Selbstbeschreibung deutlich: »Ich werde sein, der ich sein werde.« (Ex 3,14). Die Reden Gottes an Hiob sind eine einzige Bebilderung der unerreichbaren Größe Gottes (Hiob 38 ff.). Die Welt ist ein ständiges Vergehen, dagegen aber bleibt das Wort, das Gott spricht (Jes 40,8). Die Betonung der Unterscheidung setzt sich im Neuen Testament fort. Nach Aussage der synoptischen Evangelisten können die Menschen in der Regel Jesus nicht als den Christus, als den Sohn Gottes erkennen, es gibt vielfache Missverständnisse. Johannes bringt das im Prolog des Evangeliums auf den Punkt: »Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht ergriffen.« (Joh 1,5) Die Schwierigkeiten, die Paulus für die Rede von Gott diagnostiziert, haben wir schon dargestellt, die Differenz von Gottes Weisheit und menschlicher Weisheit beschreibt er mit der Predigt vom Kreuz. Für den philosophisch informierten Griechen ist diese Botschaft eine schlichte Torheit, sie lässt sich nicht mit den üblichen Standards der philosophischen Weltinterpretation harmonisieren. »Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist (…).« (1. Kor 2,7). 17 Die Differenz zwischen Gott und Mensch, zwischen Gott und Welt steht auch im Mittelpunkt der frühen christlichen Theologie Eine Rede von Gott, die sich als Weisheit versteht, wäre dann eine solche, die genau diese Unterscheidung immer wieder aktualisiert und damit den Geheimnischarakter jeder Rede von Gott deutlich macht. Vgl. von Lüpke 1989: 175.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

und der Versuche, die Menschwerdung Gottes mit Hilfe der Begrifflichkeit griechischer Philosophie zu erfassen. Die wenigen Beobachtungen zu der patristischen Theologie oder der mittelalterlichen Theologie haben gezeigt, dass dort kein vollständiger Abbruch zwischen Gott und Welt gedacht wurde. Die Differenz muss in diesen Ansätzen also nicht als eine solche zwischen einer geordneten Welt und einer nicht aussagbaren Transzendenz bestimmt werden. Die Herausforderung für die Deutung des Verhältnisses von Gott und Welt wird erst dann sichtbar, wenn man bedenkt, dass die Rede von Gott zugleich die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes bezeugen soll. Gerade sie ist ja die Mitte des Evangeliums. Aber beide Momente zusammen, Gottes unergründliches Geheimnis, seine Transzendenz sowie Gottes Offenbarung in dem Menschen Jesus, lassen sich in kein rationales, konsistentes Ordnungssystem fassen. Deshalb bleibt in der christlichen Rede von Gott eine Spannung, die eine Quelle einer steten inhärenten Selbstkritik darstellt und in dem vierten und fünften nachchristlichen Jahrhundert zu weitreichenden theologischen Auseinandersetzungen auf mehreren Konzilen geführt hat. Die Positionen, die später als orthodox bezeichnet wurden, haben die Spannungen nicht aufgelöst, sondern in neu entwickelter Begrifflichkeit zu wahren versucht. In dem Konzil von Nicäa stand die Beschreibung des Verhältnisses von Gott und Christus im Vordergrund, 18 im Konzil von Chalcedon als eines der letzten altkirchlichen Bekenntnisbildungen fand die Formel der vier Adjektive mit den »alpha privativa« Aufnahme, die die Konsequenz dieses Verhältnisses für die Beschreibung Christi formulierte: Christus ist wahrhafter Gott und wahrhafter Mensch, seine beiden Naturen, die menschliche und die göttliche, sind unvermischt und unverändert und zugleich ungeteilt und ungetrennt. 19 Nicht nur die Deutung der Person Christi war durch die Notwendigkeit, Gottes Geheimnis und Transzendenz zu wahren, vor Hier findet das Konzil im Ergebnis zu der folgenden Formulierung, um die Natur Christi zu bestimmen, die zugleich die Verbundenheit und die Differenz zu Gott zum Ausdruck bringt: »γεννηθέντα ού ποίηθέντα, ἐκ τῆς οὐσίας τοῦ πατρός, ὁμοούσιον τῷ πατρί« Vgl. Heussi 1981: 96. 19 »ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως, ἀδιαιρέτως, ἀχωρίστως« Vgl. Heussi 1981: 138. Ebeling sieht unter Verweis auf Luther hier eine Verbindung zur Kreuzestheologie: »Wenn in dieser Weise am Unterscheiden festgehalten wird und damit an der unabgeschwächten Wahrheit dessen, was hier vereint wird: wahrer Gott und wahrer Mensch, dann entspricht dem altkirchlichen Dogma in Luthers Sicht notwendig die Kreuzestheologie.« Ebeling 1995: 431. 18

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Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt

erhebliche Herausforderungen gestellt, das galt ebenso für das Verständnis der Schöpfung. Wenn die Schöpfung wie bei einem Handwerker als die Umformung von etwas Bestehendem gedeutet wird, sind das Geheimnis und die Transzendenz Gottes gefährdet. Dann ließe sich sein Handeln unter den Bedingungen einer schon vorher existierenden Welt darstellen. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist der Topos der creatio ex nihilo eingeführt worden. Gott schuf die Welt aus dem Nichts. 20 Nur so kann die Transzendenz Gottes gewahrt bleiben, Gott selbst ist der absolute Ursprung der Welt. In den letzten Jahrhunderten wurde in theistischen Systemen die Differenz zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Sagbaren ontologisch gedeutet als Differenz von Immanenz und Transzendenz. 21 Der Begriff »Gott« korrespondiert auf diese Weise mit dem Begriff der »Welt« und ist gerade durch die Differenz bestimmt. Diese neuzeitliche Fassung der Differenz bedroht aber zugleich den Anspruch, dass es in der Rede von Gott immer auch um eine Orientierung in der Wirklichkeit geht, in der wir leben. Gott als der Nicht-Aussagbare wird aus der bekannten Welt verbannt. Während die menschliche Rede von Gott unter den Bedingungen dieser Welt stattfindet, in der Immanenz, ist Gott selbst der Welt gegenüber transzendent, unterscheidet sich so von allen Festlegungen, zu denen die menschliche Welt- und Selbsterkenntnis fähig ist. Angesichts der vorangeschrittenen physikalischen und kosmologischen Untersuchungen wird der Bezug auf Gott immer unverständlicher: Wo sollte die Grenze der physikalisch beschriebenen Welt sein? Wie sollte man sich die Transzendenz jenseits der Welt vorstellen? Ist das »außerhalb des physikalischen Universums« ein religiös sinnvoller Topos? Wie sollte es zu Wechselwirkungen zwischen beiden kommen? Die Frage ist nun, wie man unter den Bedingungen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Wirklichkeit diese UnterDer klassische biblische Bezug ist Röm 4,17, der wiederum Bezug auf die Auferstehung nimmt: »vor Gott, (…) der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei.« Wiederum zeigt sich die Relevanz der Auferstehungsbotschaft für die Deutung der Wirklichkeit. Wenz weist darauf hin, dass auch diese Formel noch Fehldeutungen zulässt und präzisiert: nihil pure negativum, vgl. Wenz 2013: 96. 21 Dalferth definiert diese Differenz als ein Kennzeichen des klassisch theistischen Gottesbegriffs: »Gott ist weder mit der Welt insgesamt noch mit ihrem Ordnungsprinzip gleichzusetzen, sondern ihr gegenüber transzendent und als ihr personales Gegenüber so von ihr unterschieden, dass er ihr nicht nur als Schöpfer und Erhalter gegenübersteht, sondern frei in ihr handelt und deshalb Adressat von Gottesdienst und Gebet sein kann.« Dalferth 2003: 274. 20

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scheidung zwischen Transzendenz und Immanenz reformulieren kann. In einer offenen Wirklichkeit ist es ohne Sinn, von einer Transzendenz als einem fundamentalen »Über … hinaus« zu reden, denn diese Redeweise setzt die Vorstellung einer festen Grenze voraus, die man transzendieren kann. Doch genau diese feste Grenze zwischen zwei voneinander unterschiedenen Bereichen lässt sich unter den Bedingungen einer offenen Wirklichkeit nicht denken. Dennoch ist die Unterscheidung elementar, Gott ist nicht einfach Teil der uns zugänglichen Wirklichkeit, wie es die Dinge sind, die uns umgeben. Wir haben auch schon durch den Terminus »Grenzausdruck« bei Ricœur einen Hinweis auf so etwas wie eine Grenze aufgenommen. Unter den Bedingungen einer offenen Wirklichkeit ist zwar keine Grenze mehr zwischen zwei Bereichen denkbar, wohl aber eine approximative Annäherung an etwas, das man letztendlich nicht erreichen kann: Dies ist das Zentrum des Chiasmus. Statt von einer festen Grenze kann man vielleicht eher von einem Grenzgebiet sprechen. Die »Phänomene« x im Zentrum des Chiasmus sind für uns begrifflich unerreichbar. Dennoch sind wir nicht durch eine feste Grenze von ihnen getrennt, im Gegenteil, diese »Phänomene« scheinen immer »präsent« zu sein. Eben diese Situation ist es, die eine Chance für die Anwendung der phänomenologischen Methode bietet. Die herausragende Eigenschaft der »Phänomene« x ist die Abwesenheit einer jeden Eigenschaft. Und doch sind sie notwendig für die Rede von Gott, allein sie unterscheiden die Rede von Gott von einer Rede von »Gott«. Nun darf diese Unmöglichkeit nicht dazu führen, dass die Rede von Gott beliebig oder belanglos wird und sich so selbst ad absurdum führt, weil alles und nichts ausgesagt werden könnte. Es darf nicht vergessen werden, dass bei aller Wichtigkeit der »Phänomene« x im Zentrum des Chiasmus, die Rede von Gott immer auch eine Struktur innerhalb der Erscheinungsweise Kulturg darstellt. Sie ist immer auch mit einem beschreibbaren historischen Geschehen innerhalb der Erscheinungsweise Kulturd und mit einer Rede und der Auslegung von Texten in der Erscheinungsweise Kulturg verbunden. Diese Möglichkeit zu verleugnen, hieße, die hohe Spannung, in der die Rede von Gott sich stets befindet, in die Sonderstellung einer unsagbaren Erfahrung kollabieren zu lassen. Die christliche Theologie hat aufgrund der großen Spannung zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Sagbaren immer zwischen unterschiedlichen Auslegetraditionen geschwankt. Das eine Extrem ist durch die metaphysischen Versuche bestimmt, die Rede von Gott 256 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt

zur Grundlage für eine umfassende Ordnung der Welt zu machen. Das andere Extrem betont die absolute Transzendenz Gottes, sieht keine direkten Verbindungen zu den Ordnungen dieser Welt und versagt sich einer konsistenten Darstellung, betont stattdessen mystische Erfahrungen. Während die eine Tradition die Aufgabe der Theologie betont, die Rede von Gott allgemeinverständlich darzustellen und zu systematisieren, betonen andere gerade die Unmöglichkeit jeder Theorie über Gott. Letztere verfahren etwa über eine via negationis oder eine via eminentiae. Diese apophatischen Traditionen weisen auf das gegenüber jeder Bestimmung Abweichende: »Die ›Bestimmungen‹ Gottes erweisen sich so allerdings als die Potenzierungen seiner Unbestimmbarkeit. (…) Gott wird auf diese Weise durch eine sich innerhalb der Sprache vollziehende Ausschaltung der Sprache als das allen weltlichen Sein unendlich überlegene ›Über-Sein‹ angebbar (…).« 22 Dagegen, so fordert Jüngel für die christliche Rede von Gott, »ist nunmehr Gott als ein Geheimnis zu begreifen, das von sich aus sprachlich kommunikabel ist.« 23 Der Versuch, sich allein auf das Unsagbare zu konzentrieren und so ständig innerhalb der Sprache über deren Grenze zu reflektieren, missachtet die historischen Bedingungen, von denen aus nur eine christliche Rede von Gott möglich ist, in deren Kern die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes steht. Die christliche Rede von Gott kann also nicht vereinfacht werden, indem man eine Seite auf Kosten der anderen bevorzugt. Es bleibt, und das ist auch die Weisheit der frühchristlichen Konzile, die fundamentale Spannung zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit Gottes. Keine Theologie kommt ohne jene Begriffe aus, deren Funktion es ist, bei aller Sagbarkeit auch auf das Unsagbare hinzuweisen. In einer beschränkten Auswahl werden wir fünf Begriffe neuerer theologischer Ansätze vorstellen, die einen Weg jenseits der traditionellen Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz suchen: das Geheimnis bei Eberhard Jüngel, das Mysterium bei Paul Tillich, das Unbedingte bei Ulrich Barth, die Lücke bei Ingolf Dalferth und die Passivität bei Philipp Stoellger. In seinem zentralen Werk »Gott als Geheimnis der Welt« geht Eberhard Jüngel der Frage nach, wie es unter den neuzeitlichen Bedingungen um die Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes bestellt ist. In den Untersuchungen spielt der Begriff des Geheimnisses eine wichti22 23

Jüngel 1977: 351. (Hervorhebung im Original) Jüngel 1977: 355.

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ge Rolle. Dabei ist das Geheimnis in der christlichen Rede von Gott nicht einfach etwas völlig Jenseitiges. »Als Geheimnis der Welt ist aber Gott insofern begriffen, als er zur Welt kommt.« 24 Jüngel ist es wichtig, von Beginn an das Geheimnis Gottes nicht von seiner Offenbarung zu trennen, sondern es gerade durch die Offenbarung zu qualifizieren. Der Begriff des Geheimnisses bezieht sich also nicht auf einen numinosen Zustand der Transzendenz, sondern auf den Prozess der Inkarnation. »Im Unterschied zum negativen Begriff von Mysterium nennt das Neue Testament dasjenige ein Geheimnis, was auf jeden Fall gesagt werden muss und auf keinen Fall verschwiegen werden darf.« 25 Das Geheimnis Gottes im christlichen Sinn ist nicht ohne seine Offenbarung zu denken und umgekehrt, seine Offenbarung nicht ohne das Geheimnis. Das Geheimnis ist damit ein Movens für die Orientierung in der Welt, es erschließt geradezu die Welt. Jüngel formuliert den zentralen Satz: »Die für den christlichen Glauben kennzeichnende Erfahrung, die es erlaubt, Gott als Geheimnis der Welt zu denken und zu erzählen, ist eine durch das Wort vom Kreuz ermöglichte Erfahrung mit der Erfahrung.« 26 Das Geheimnis Gottes steht nicht für eine unerreichbare Aseität Gottes, sondern für die spezifisch christlichen Erkenntnisbedingungen Gottes, die sich aus der Inkarnation, aus dem Offenbarungsgeschehen ergeben. 27 Zugleich ist das Geheimnis etwas, das gerade die Erfahrung in dieser Welt erweitert. Während Jüngel bei dem Offenbarungshandeln Gottes einsetzt, beschreibt Paul Tillich die menschliche Erfahrung des Mysteriums. Auch er problematisiert das Verhältnis von Mysterium und Offenbarung, es gilt: »Das Wort Mysterium sollte nicht gebraucht werden für etwas, das aufhört Mysterium zu sein, nachdem es offenbart worden ist.« 28 Das Mysterium erscheint da, wo die menschlichen Erkenntniskräfte an ihre entscheidende Grenze stoßen: »Das echte Mysterium erscheint erst da, wo Vernunft über sich selbst hinaus zu Jüngel 1977: 518. (Hervorhebung im Original) Jüngel 1977: 341. (Hervorhebung im Original) 26 Jüngel 1977: XI. 27 In ganz ähnlicher Weise kann auch Gerhard Eberling formulieren: »›Gott ist das Geheimnis der Wirklichkeit.‹ In dem Begriff Geheimnis liegt zum einen das Sprachliche in seiner Verbindung von Offenheit und Verschlossenheit, von Andeutung und Entzug, zum anderen das Moment des Endgültigen, Eschatologischen, was durch den Hinweis auf die Wirklichkeit im ganzen unterstrichen wird.« Ebeling 1987: 187. 28 Tillich 1956: 133. 24 25

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ihrem ›Grund und Abgrund‹ vorstößt, zu dem, was der Vernunft ›vorausgeht‹ (…).« 29 Die Erfahrung des Mysteriums ist aber bei weitem nicht nur eine intellektuelle Erfahrung: »Die Bedrohung durch das Nichtsein, die das Bewusstsein ergreift, ruft den ›ontologischen Schock‹ hervor. In ihm wird die negative Seite des Seinsgeheimnisses – sein abgründiges Element – erfahren.« 30 Doch die Offenbarung Gottes weist auf die positive Seite des Seinsgeheimnisses: »Die Inspiration eröffnet jedoch eine neue Dimension der Erkenntnis: die Dimension des Verstehens in Bezug auf das, was uns unbedingt angeht, nämlich auf das Mysterium des Seins.« 31 Hier verwendet Tillich jene Formel, mit der er den Kern der christlichen Botschaft paraphrasiert als das, »was uns unbedingt angeht«. »Offenbarung ist die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht. Das Mysterium, das offenbart wird, geht uns unbedingt an, weil es der Grund unseres Seins ist.« 32 In diesen Sätzen konzentriert sich ein Zentrum der Tillich’schen Theologie: Die Offenbarung zielt auf das Mysterium, ohne es aufzuklären, doch so, dass sich zugleich der Grund des Seins zeigt. Dieses Sein ist im Evangelium das Neue Sein, das sich in Christus offenbart. 33 Ulrich Barth knüpft an den Tillich’schen Gebrauch des Begriffs des Unbedingten an: »Religion ist – nach der berühmten Formel Paul Tillichs – das Verhältnis zu dem, was uns unbedingt angeht.« 34 Das Unbedingte steht dem Bedingten gegenüber, beide unterscheidet Barth, indem er nach Kant eine kategoriale Gegenüberstellung vornimmt und dabei das Unbedingte durch vier Grenzbegriffe erläutert. Diese Grenzbegriffe sind: aktuale Unendlichkeit, reale Ganzheit, reine Zeitenthobenheit, absolute qualitative Notwendigkeit. 35 OffenTillich 1956: 133. Tillich 1956: 137. 31 Tillich 1956: 139. 32 Tillich 1956: 134. 33 Das Neue Sein interpretiert Tillich mit Hilfe der Nomenklatur der Existenzphilosophie: »Das Neue Sein ist das essentielle Sein unter den Bedingungen der Existenz, das Sein, in dem die Kluft zwischen Essenz und Existenz überwunden ist.« Tillich 1984: 130. 34 Barth 2003 (3): 5. Den Begriff des Unbedingten für die Darstellung des Bezugs auf Gott greift auch Korsch auf: »Das Gottesverhältnis, so sage ich thetisch, ist die Dimension der Unbedingtheit in dem soeben analysierten Zusammenhang von Selbstverhältnis und Weltverhältnis.« Korsch 2000: 15. Das Unbedingte ist nicht »jenseits« von Selbst- und Weltbestimmung sondern Teil derselben. 35 Vgl. Barth 2003 (3): 11 ff. 29 30

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sichtlich existiert hier eine gewisse terminologische Nähe zu dem Ansatz von Ricœur: Barth sucht mit dem Terminus »Grenzbegriff«, dem des »Grenzausdrucks« ähnlich, die Möglichkeit, religiöse Erfahrung zu schildern, die über das begrifflich Vermittelte hinausgeht. Doch gibt es zwischen beiden Ansätzen einen deutlichen Unterschied. Während Barth den Grenzbegriff aus einer transzendentalen Betrachtung der Erkenntnisfähigkeiten menschlicher Vernunft ableitet und so die Grenzbegriffe analog zur Kant’schen Kategorientafel bestimmt, bezieht Ricœur den Begriff »Grenzausdrücke« auf die historisch kontingenten biblischen Texten, die sich ihrerseits nicht auf eine überzeitliche Bestimmung menschlicher Vernunft zurückführen lassen. Ingolf Dalferth verwendet in mehreren Texten den Begriff der »Lücke«, um die Unverfügbarkeit Gottes innerhalb des hermeneutischen Prozesses zum Ausdruck zu bringen. Er formuliert gegen alle philosophischen Verstehens- und Vereinnahmungsversuche: »Gottvertrauen ist kein Ersatz für die zerbrochenen Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt, sondern wie diese von Selbstverständlichkeitsverlust und Kontingenzpotenzierung geprägt (…). Gott ist weder Seinsgrund noch Armutszeugnis, er erklärt nichts, ist auch selbst weder erklärungsbedürftig noch erklärungsfähig, und er ist kein Mittel, verlorene Selbstverständlichkeiten wiederzugewinnen. Er ist weder Gegenstand noch Mittel phänomenologischer Weltbeschreibung, sondern markiert gerade die Lücke, die wir nicht wahrnehmen, beschreiben und erklären können, und ohne die es für uns doch keine Wirklichkeit wahrzunehmen, zu beschreiben und zu erklären gäbe.« 36 Mit dem Begriff Lücke kennzeichnet Dalferth das, was sich offenkundig allen Aneignungsstrategien entzieht. Die Formulierung lässt sich sehr gut mit der Interpretation des Zentrums des Chiasmus x vergleichen. Gerade in der Widerstandsfähigkeit gegen alle Verständlichkeit ist der Begriff der Lücke bei Dalferth auch positiv besetzt, denn eine Rede von Gott macht auf diese Weise nur die Verhältnisse der Welt deutlicher, die ohnehin bestehen: »Philosophisch ist Gott daher nicht als Lückenbüßer (…), wohl aber als die kritische Erinnerung an die Lücke zu begreifen (…).« 37 Das heißt, die Rede von Gott kaschiert nicht die Lücken, die eine unkritische Betrachtung der Wirklichkeit zu übersehen droht, sondern hebt sie als kritische Er36 37

Dalferth 1997 (1): 175. Dalferth 1997 (1): 191.

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innerung gegen alle menschlichen ideologischen Selbstabschließungsversuche hervor. Die Rede von Gott darf nicht als bloße Absicherung lebensweltlicher Bedürfnisse verstanden werden, sie ist geradezu eine Bestätigung des immer schon bestehenden Ausgesetztseins des Lebens. Zugleich können in der christlichen Rede von Gott die scheinbar bekannten Phänomene der Wirklichkeit neu in den Blick kommen: »Auf der Ebene der Phänomene tritt es (scil. das, was mit dem Dasein unthematisch mitgesetzt ist, FV) im Rückblick und im Vorblick als Lücke in Erscheinung, die sich selbst nicht als Phänomen thematisieren lässt, weil sie kein Phänomen ist, sondern den Standpunkt und den Horizont markiert, von dem aus bzw. in dem die Phänomene in der Sicht des Glaubens in anderer und neuer Weise, nämlich als Gottes gute und verkehrte Schöpfung in den Blick kommen.« 38 Hier wählt Dalferth eine höchst paradoxe Formulierung: »tritt (…) in Erscheinung, die sich nicht als Phänomen thematisieren lässt«. Wir haben ja schon in ähnlicher Weise problematisiert, ob man das Zentrum des Chiasmus als »Phänomen« ansprechen kann. Offenkundig kommen wir hier an eine Grenze des Ausdrucksund Beschreibungsvermögens. Aber genau diese Grenze ist ja auch intendiert in der Beschäftigung mit dem, was man »Lücke« oder »Zentrum des Chiasmus x« nennen kann. Die widersprüchlichen Formulierungen sind tatsächlich »sachgemäß«. Dalferth kann noch zugespitzter formulieren: »Gott ist phänomenal nicht anwesend, aber auch nicht einfach nicht da, sondern als phänomenal Abwesender mit den Phänomen anwesend.« 39 Diese Beschreibung des Problems der Transzendenz Gottes zeigt eine große Nähe zu der hier vorgeschlagenen Betrachtungsweise mit Hilfe des Schemas des Chiasmus. Auch für das Zentrum des Chiasmus bleiben nur paradoxe Formulierungen. Was soll man sich unter einem Phänomen vorstellen, das keinen Bezug zu irgendeiner Vermittlung, sei es Sprechen, Wahrnehmen oder Handeln, hat? Es ist Ausdruck einer uneingeschränkten Passivität. 40 Das Problem zeigt, dass auch die Phänomenologie im Letzten kapitulieren muss, wenn sie auf das Zentrum der Rede von Gott zielt. So bleibt dann nur auf das Geheimnis Gottes zu verweisen, Dalferth 2010: 232. Ebenda. 40 So sind es gerade die mystischen Traditionen, die dies als eine Bestimmung des Menschen hervorheben. Stoellger schreibt zu Meister Eckhart: »Bei Eckhart galt für das Gottesverhältnis die Regel, der Mensch sei ursprünglich und vor allem passiv: ›Gott soll wirken, die Seele aber soll erleiden.‹« Stoellger 2010: 173. 38 39

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

also auf etwas, über das wir nicht angemessen sprechen können. So »lassen sich die Bezugspunkte des anaphorischen wie auch des kataphorischen Rück- und Vorausbeziehens für den theoretischen Blick wissenschaftlicher Beschreibung nur negativ bestimmen als das, worauf die zum Ausgang genommenen Phänomene selbst verweisen, ohne dass es an und für sich als Phänomen zu erfassen wäre.« 41 Weist dann aber die Rede von Gott nicht ins Leere? »Wir können in der Tat nur in der Sprache zwischen unserer Bestimmung Gottes und Gott selbst unterscheiden, aber deshalb ist das, worauf wir mit dem Ausdruck ›Gott selbst‹ Bezug nehmen, keineswegs nur Resultat einer sprachlichen Operation.« 42 Es bleibt das hoch spannungsvolle Verhältnis in der Rede von Gott, dass sich die Rede mit ihren eigenen Mitteln auf etwas bezieht, das sich zeigt und zugleich entzieht. Hermeneutik und Phänomenologie können diese Spannung ausweisen, sie aber nicht auflösen. Die christliche Rede von Gott darf das, was sich fundamental entzieht, nicht aus dem Blick verlieren. Daraus darf man allerdings auch nicht die Konsequenz ziehen, im Entscheidenden sei die Rede von Gott etwas schlicht Numinoses. Deshalb gilt: »Gott als etwas zu bestimmen, das unabhängig von jeder Bestimmung wirklich ist, heißt nicht, Gott unabhängig von jeder Bestimmung als wirklich zu bestimmen.« 43 Das Interessante an dem Begriff der Lücke bei Dalferth ist, dass er mit diesem auch eine Schilderung der Dynamik der Offenbarung verbinden kann. Die Lücke zeigt sich im Rückblick sowie im Vorblick und spielt auf eine Dynamik an, mit der Dalferth die Glaubenserfahrung beschreibt: »Von dieser phänomenalen Lücke im Rücken und in der Zukunft, die das anaphorische Woher und das kataphorische Wohin des Glaubens ist und metaphorisch als ›Handeln Gottes‹ zur Sprache gebracht wird, fällt ein neues Licht auf alles.« 44 Damit kann Dalferth für die Rede von Gott eine Dynamik zum Ausdruck bringen, die auch eine genauere Analyse der Phänomene der Erscheinungsweise X ergeben wird. 45 Diese Dynamik prägt Dalferth 2010: 233. Dalferth 1997 (3): 30 43 Ebenda. 44 Dalferth 2010: 234. 45 Dennoch ist festzuhalten, dass Dalferth auch auf Formulierungen zurückgreifen kann, die diesem offenen Geschehen entgegenstehen, gerade wenn er auf die Denkfigur eines sich selbst auslegenden Subjektes eingeht. So »wird Gott selbst basal als Selbstauslegungsereignis verstanden, das sich auf nichts anderes zurückführen und von nichts anderem her besser verstehen lässt.« Dalferth 2010: 167. Die Frage, die sich 41 42

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Theologische Strategien im Umgang mit der Fundamentaldifferenz Gott-Welt

die radikale Theologie, auf die Dalferth aus ist, sie schafft einen Wandel von Alt nach Neu. 46 Die Lücke zu systematisieren, hieße zugleich, die Radikalität der Theologie zu eliminieren. Philipp Stoellger hat sich in einer umfangreichen Untersuchung dem Thema der Passivität gewidmet. Stoellger beschreibt die Unverfügbarkeit als radikale Passivität, die ihrerseits theologisch mit der Passion Christi verknüpft ist: »Die Passivität des ›mere passive iustificari‹ ist die Passivität, die aus der Passion von Leben und Sterben Christi als deren Zueignung hervorgeht.« 47 Stoellger unterscheidet das Pathos vom Logos und vom Ethos, die er in einer eindeutigen Reihenfolge darlegt: »Es wird davon ausgegangen, dass Ethos und Logos aus Pathos entstehen, phänomenologisch gesagt ›in passiver Genesis‹, die die epistemische wie ethische Synthesis evoziert.« 48 Eine zentrale Rolle spielt die Theologie von Martin Luther, die Stoellger als eine Theologie der Rechtfertigung deutet, die auf eine fundamentale Passivität des Menschen verweist. Doch damit ist nicht gemeint, dass ein Erleiden dem Tun vorzuziehen sei, vielmehr gilt: »Die soteriologische Passivität ist das quer zu Aktion und Passion stehende Pathos, dem die aktiven wie passiven Vollzüge des Lebens antworten.« 49 Die Passivität vor Gott ist so radikal, dass sie nicht zu Unterscheidungen von menschlichen Haltungen, aktiv oder passiv, taugt, sondern quer dazu steht. So ist es auch verständlich, dass aus dem Pathos Logos und Ethos hervorgehen können. Unter Berufung auf Waldenfels, auf den wir weiter unten eingehen werden, formuliert Stoellger: »Denn für die Genesis von Ethos und Logos des Selbst sind deren kreative Dimensionen maßgeblich, und es zeigt, wie in offener Weise das Befreiende und Belebende der Passivität formulierbar ist.« 50 In der Arbeit von Stoellger zeigt sich, ähnlich wie bei Dalferth, dass das, was sich in der Rede von Gott entzieht, sei es »Lücke« oder »radikale Passivität« genannt, keine Sackgasse ist, sondern vielmehr eine Quelstellt, ist, wie das Selbst zu verstehen sein soll, das sich da selbst auslegt. Mir scheint es die menschlichen Erkenntnisgrenzen zu überschreiten, wenn man ein solches Selbstauslegungsereignis für eine Rede reklamiert, die immer menschliche Rede sein muss. 46 Vgl. Dalferth 2010: 255. 47 Stoellger 2010: 25. 48 Stoellger 2010: 19. Dies steht in großer Nähe zu der obigen Feststellung, dass das Geordnete aus dem Nicht-Geordneten entsteht. 49 Stoellger 2010: 301. 50 Stoellger 2010: 415.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

le, aus der weltliche Ordnungen entstehen und sich immer wieder erneuern. So muss man von dem Unerreichbaren reden, wenn es denn eine christliche Rede von Gott ist, die die Inkarnation in den Mittelpunkt stellt. Diesem fundamentalen Akzent der christlichen Rede von Gott wollen wir durch einen zentralen Gedanken des Ansatzes von Eberhard Jüngel vertiefen.

3.

Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation

Warum ist es angesichts des Unvermögens, über entscheidende Bezugspunkte der Rede von Gott Auskunft zu geben, nicht angemessener, im Sinne Wittgensteins zu schweigen, statt viele ungenaue Worte zu finden? Es gibt in allen Religionen mystische Traditionen, die dieser Haltung folgen. In manchen Religionen hat das Schweigen eine gegenüber dem Christentum wesentlich größere Bedeutung. Im Buddhismus etwa, so berichtet die Legende, habe Buddha lange überlegt, ob er überhaupt von seiner Erleuchtung unter dem Bhodi-Baum reden solle. Die Lehren des Buddha weisen immer wieder auf die Differenz hin, dass das Gesagte nicht das Intendierte ist, dass die Lehre nur ein Mittel ist, das die Jüngerin, der Jünger zu gegebener Zeit hinter sich lassen muss. 51 In der christlichen Rede von Gott kommt der Rede eine ganz andere Bedeutung zu. Sie ist nicht Beiwerk zu dem, was religiös eigentlich wichtig ist, sondern gehört in das Zentrum der Religion. Die Beobachtungen zu Paulus zeigten, dass die ersten Christen sofort die Bedeutung der Rede von Gott erkannt und sich auch selbstreflexiv darauf bezogen haben. Die Verbindung zu dem menschgewordenen Gott erschließt sich vor allem durch die Rede, durch sprachliche Mitteilung. Paulus stellt fest: »So kommt der Glaube aus der Predigt 52, das Predigen 53 aber durch das Wort Christi.« (Röm 10,17). Das JohanIm Dialog zwischen Christentum und Buddhismus wird die unterschiedliche Rolle der Sprache thematisiert: »Ein ständiges Thema im buddhistisch-christlichen Dialog sind die Sprache und das Problem, wie sich Sprache und Wirklichkeit zueinander verhalten. Wie können das Christentum, das so viel Wert auf das Wort (logos) legt, und der Buddhismus, der sich auf die Unaussprechlichkeit des nirvana und der Höchsten Wahrheit (paramārtha) beruft, überhaupt miteinander ins Gespräch kommen?« Von Brück, Lai 2000: 412. 52 Im griechischen Original: »ἐξ ἀκοῆς« – »aus dem Hören«. 53 Im griechischen Original: »ἀκοὴ« Das Wort übersetzt Luther mit »Predigen«, kann aber auch übersetzt werden mit »dem Hören«. 51

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Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation

nes-Evangelium kann die Identifikation von Gott und Wort sehr weitgehend formulieren: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« (Joh 1,1). 54 Die Rede ist fest im Zentrum des Selbstverständnisses der christlichen Religion verankert. Die Rede von Gott bezeugt die Inkarnation, aber drängt auf Versprachlichung, sie will verstanden und erzählt werden. Die Rede ist auch nicht ein Zusatz zur Inkarnation, sondern muss innerhalb desselben Zusammenhangs geschichtlicher Vermittlung verstanden werden. 55 Nun ist aber die Rede von Gott nicht eindeutig, wie kann man sie also von der Rede von »Gott« unterscheiden? Genau darin besteht das Ausgangsproblem von Eberhard Jüngel. Wie können wir von Gott reden, ohne menschlich und willkürlich zu reden? »Wie man von Gott menschlich reden kann, ohne seine Göttlichkeit zu verfehlen, das ist das über die Denkbarkeit Gottes letztlich entscheidende Problem der Theologie. Wir nennen es das Problem der Sagbarkeit Gottes.« 56 Offenkundig gibt es keinen Weg, die Rede von Gott als direkte Rede von etwas zu verstehen, so wie das innerhalb von begrifflichen eindeutigen Ordnungen möglich ist. Deshalb untersucht Jüngel die Möglichkeiten, die ein analoges Reden bereitstellt. Er erkennt, dass alle statischen Verhältnisse einer Attributionsanalogie oder auch einer Proportionalitätsanalogie (x : a verhält sich wie b : c) 57 nicht genügen, um zu verstehen, wie eine Rede von Gott möglich sein könnte. Terminologisch wie auch theologisch bestehen zwischen den beiden Textstellen, Röm 10,17 und Joh 1,1, erhebliche Differenzen. So ist der logos-Begriff des Johannesprologs zum Auslöser einer weitreichenden philosophischen und theologischen Interpretation geworden. Unbeschadet davon sind aber beide Textstellen anschlussfähig an die menschliche Rede und Erkenntnisfähigkeit. Beide heben deren Bedeutung hervor. 55 Ganz anders fassen Michel Henry und Rolf Kühn die Inkarnation. Der geschichtliche Vorgang hat hier keine große Bedeutung: »Das Problem der Existenz Christi ist keines seiner geschichtlichen Existenz. Diese betrifft nur Jesus.« (Henry 2002: 31.) Das Wort ist nach Joh 1, 14 in erster Linie Fleisch geworden, nicht Mensch (vgl. Henry 2002: 25 f.). Für dieses Fleisch gilt: »Ursprünglich und in sich ist unser wirkliches Fleisch ur-intelligibel; es wird in sich innerhalb jener Offenbarung vor der Welt offenbart, welche dem Wort des Lebens (Verbe de Vie) eigen ist, von dem Johannes spricht.« (Henry 2002: 403.) Dieser Ansatz wertet die geschichtliche Vermittlung der Inkarnation konsequent ab. Analog urteilt Kühn: »Unter dem allgemeinen Begriff der Hermeneutik lässt sich (…) zunächst diese Verknüpfung von Geschichte und Sprache als jene problematische Weltphänomenalität kristallisieren, welche als ek-statische oder transzendente Erscheinenswahrheit die genannte Ur-Intelligibilität der lebendigen Selbstoffenbarung Gottes nicht fassen kann (…).« Kühn 2009: 10. 56 Jüngel 1977: 313. 57 Vgl. Jüngel 1977: 364. 54

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

Gott lässt sich nicht in eine solche Verhältnisbildung einbeziehen, denn das hieße, ihn dann doch entweder einer für Menschen zugänglichen Ordnung zu unterwerfen oder gerade seine unüberbrückbare Differenz zu den weltlichen Verhältnissen zu manifestieren. 58 Das aber widerspräche unseren bisherigen Untersuchungen zur Rede von Gott, die auf die großen inhärenten Spannungen aufmerksam gemacht haben. Als Alternative entwickelt Jüngel ein Analogiedenken, das sich auf die Bewegung der Inkarnation bezieht. Jüngel nennt dies die Analogie des Advents. 59 Sie ist Ausdruck eines kontinuierlichen Prozesses im Anschluss und in der Fortsetzung der Inkarnation. Die Sagbarkeit Gottes gründet in der Aufnahme der Bewegung der Inkarnation: »Im Ereignis der Analogie x ! a = b : c hört Gott gerade auf, x zu sein. Er stellt sich vor, indem er ankommt. Und dieses sein Ankommen gehört selbst zu seinem Sein, das er ankommend offenbart. Dies ist aber nur möglich, wenn diese Ankunft selbst bereits als ein ZurSprache-Kommen sich vollzieht (…).« 60 Entscheidend ist hier, dass Jüngel die Rede als Teil eines Gesamtprozesses interpretiert: Gott kommt zur Welt und deshalb kommt er zugleich auch zur Sprache. Weil Gott in seinem Sohn zur Welt kam, so kommt er zur Welt in seinem Wort, in der Rede von Gott. Das, was die Sagbarkeit Gottes möglich macht, ist die Inkarnation und Offenbarung Gottes in Christus. Das x in dem Schema x ! a macht sich bekannt durch die Bewegung zu a und bleibt zugleich unverfügbar. Dabei bleibt a nicht einfach a, sondern verändert sich, wird neu: »(…) dann erscheint aufgrund des Verhältnisses Gottes (x) zur Welt (a) das diesem Verhältnis entprechende Weltverhältnis (b : c) in einem ganz und gar neuen, in einem dieses Weltverhältnis selbst neu machenden, in einem eschatologischen Licht.« 61 Jüngel interpretiert b : c in einem weiten Sinn, er geht auch hier nicht von fixen Verhältnissen, sondern vielmehr von einem dynamischen Geschehen aus. Die Rede von Gott ist in dieses Geschehen eingebunden und so darf sie nicht durch ein statisches Verhältnis, was ja b : c nahe legen würde, interpretiert werden, sondern muss dynamisch verstanden werden: »Das kann aber wiederum nur Gerade das letztere ist nach Jüngel das Ergebnis der Proportionalitätsanalogie, sie bestätigt die totale Verschiedenheit von Gott und Welt. Dagegen fragt er: »Gibt es einen dem Glauben an die Menschwerdung Gottes entsprechenden theologischen Gebrauch der Analogie?« Jüngel 1977: 383. 59 Vgl. Jüngel 1977: 389. 60 Jüngel 1977: 390. 61 Jüngel 1977: 389. 58

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Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation

erfahren werden, wenn Gott die weltliche Selbstverständlichkeit (b : c) sozusagen erobert und sich von ihr und mit ihrer Hilfe als das Selbstverständlichere durchsetzt, wenn also von b:c so erzählt wird, dass es dem Verhältnis Gottes zur Welt (x ! a) entspricht und Gott eben dadurch aufhört, unbekannt (x) zu sein.« 62 Die Verhältnisbildung b : c wird nach Jüngel nicht (etwa physikalisch) gemessen, sondern erzählt. Offenkundig ist diese Deutung mit unseren Untersuchungen der Verhältnisse der Erscheinungsweise Kultur nach Ricœur kompatibel. Das, was sich in dem erzählten Verhältnis der Erscheinungsweise Kultur erkennbar macht, ist Folge der Bewegung von x zu a. Damit ist eine Prozedur gegeben, die den Bezug der »Phänomene« des Zentrums des Chiasmus auf die Phänomene der Erscheinungsweise Kultur anzeigt. Diese Prozedur ist keine, über die wir verfügen könnten, sondern die wir nur nacherzählen können. Die Dynamik x ! a ist ein von Gott vollzogene Bewegung, sie resultiert nicht aus einem menschlichen Vermögen und lässt sich auch nicht rekonstruieren. Wir haben die Rede von Gott in der Erscheinungsweise Kulturg so interpretiert, dass sie Grenzausdrücke enthält, die über die Rede als solche hinausweisen. Die Rede von Gott ist dadurch nicht nur Rede von »Gott«, also ein kulturell zentraler Begriff, wenn das Zentrum des Chiasmus x irgendwie mit den Ausdrücken in Verbindung gesetzt ist. Es ist nach dem Gesagten offenkundig, dass diese Verbindung nicht im Rahmen menschlicher Möglichkeiten liegt. Die Richtung dieser Verbundenheit ist eindeutig, bestimmt durch das x ! a, es gibt keinen Weg a ! x, auch innerhalb des Schemas des Chiasmus kann man keinen Weg dahin bahnen, das Zentrum des Chiasmus ist auch hier negativ bestimmt, als absolut und unzugänglich. Doch Menschen können ihre Erfahrungen mit Gott als Antwort auf Gottes Zuwendung bezeugen. Deshalb reichen die biblische Texte weiter als das abstrakte Schema des Chiasmus. Dieses kann nur eine zusätzliche Hilfe der Interpretation sein, in unserem Fall eine Darstellung, warum und in welcher Weise sich die Rede von Gott tatsächlich auf die Wirklichkeit bezieht. Der Vollzug ist in dem Schema selbst keine Möglichkeit. Die Inkarnation bedeutet, dass sich Gott auf unsere endlichen Ordnungen einlässt, wodurch die Rede von Gott möglich wird. Diese Erkenntnis ist unaufgebbare Voraussetzung der christlichen Rede von Gott. Gott verbleibt nicht als ein mysteriöses x jenseits des uns Vor62

Jüngel 1977: 390.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

stellbaren, sondern geht in die »Welt« ein. Der Begriff der »Welt« lässt in diesem Zusammenhang jedoch wenig Differenzierung zu. Legt man statt eines opaken Weltbegriffs die Unterscheidungen innerhalb einer offenen Wirklichkeit zugrunde, dann ist damit zu rechnen, dass das »b : c«, also mit dem x ! a einhergehenden und menschlich erfahrbaren Phänomene sich je nach Erscheinungsweise unterschiedlich zeigen. In den Erscheinungsweisen Kultur ist nach dem bisherigen Gedankengang das Verhältnis leicht zu bestimmen: In der Erscheinungsweise Kulturd, das heißt in den geschichtlichen Vermittlungsprozess wird x ! a bestimmt durch den Vorgang der Menschwerdung Gottes in dem einen historischen Menschen Jesus von Nazareth. In der Erscheinungsweise Kulturg kann man sich Jüngels Bestimmung anschließen: »b : c« sind jene Erzählungen, die dem Vorgang der Inkarnation entsprechen, nicht nur die Erzählungen von dem historischen Jesus, auch die Gleichnisse, die Metaphern, die Grenzausdrücke, die Jesus verwendete, ebenso wie die vorbehaltlichen Begriffsbildungen des Paulus und anderer biblischer Autoren. Jedoch: Gibt es etwas, was dem »b : c« in der Erscheinungsweise X entspricht, gibt es also Phänomene dieser Erscheinungsweise, die sich zusammen mit dem x ! a zeigen? Dieser Frage wollen wir in dem folgenden Kapitel nachgehen, das eine phänomenologische Bestimmung von jenen Phänomenen der Erscheinungsweise X vornimmt, auf die Grenzausdrücke weisen. Schließlich muss man auch fragen, was »b:c« für die äußeren Erscheinungsweisen bedeutet. Hier sind nur wenige, aber grundlegende Beobachtungen möglich, die in Kapitel neun folgen sollen. Wie auch immer das »b : c« in der Erscheinungsweise X bestimmt werden wird, es ist nicht möglich, in den Phänomenen der Erscheinungsweise X so etwas wie das Original von Gotteserfahrungen zu sehen, das sich nur begrenzt in Worte fassen lässt. In der Menschwerdung unterwirft sich Gott den Kontingenzen der geschichtlichen Welt und den stets zu interpretierenden Redeformen, in den endlichen Formen von Erzählungen. Die Rede von Gott als Rede von Gott ist nach diesem Verständnis nicht Abbildung eines Originals oder unmittelbarer Ausdruck von etwas Ursprünglichem. Die Vertreter der so genannten »postliberal theology« haben die Ableitung der Rede von Gott von unmittelbaren religiösen Erfahrungen zurückgewiesen. 63 George A. Lindbecks Argument ist von der Er63

Vgl. Michener 2013: 4. Der autoritative Bezug auf unmittelbare Erfahrungen wird

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Die Rede von Gott als Folge der Inkarnation

kenntnis bestimmt, dass es eben keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen den unmittelbaren Erfahrungen und ihrer sprachlichen Artikulation gibt: »Because this core experience (scil. the underlying unity of religious experience, FV) is said to be common to a wide diversity of religions, it is difficult or impossible to specify its distinctive features (…).« 64 Dem gegenüber sollte man eher damit rechnen, dass es eine wechselseitige Beeinflussung der sprachlichen und nichtsprachlichen Erfahrungen gibt: »Both the cognitively propositional and the expressively symbolic dimensions and functions of religion and doctrine are viewed, at least in case of Christianity, as religiously significant and valid.« 65 Christliche Theologie als Reflexion der Rede von Gott sollte also sowohl die sprachlich vermittelten Phänomene wie auch die nichtsprachlich vermittelten berücksichtigen. Eine Vernachlässigung beider Anteile muss vermieden werden: Weder ist das »Eigentliche« in den Erscheinungsweisen Kultur noch in der Erscheinungsweise X zu suchen. Die Formel x ! a erfasst alle Erscheinungsweisen des Chiasmus; Gott kommt zur Welt bedeutet, dass alle Erscheinungsweisen involviert sind. Jedoch sind sie es in sehr unterschiedlicher Weise. Gerade für die Theologie ist eine Mahnung von Waldenfels wichtig, nicht allzu schnell Zusammenhänge und Ordnungen zu reklamieren: »Doch um das Wovon des Getroffenseins und das Worauf des Antwortens selbst noch mit allem Erstaunlichen und Erschreckenden zur Sprache zu bringen, bedarf es einer indirekten Weise des Redens, des Sehens und des Handelns, die Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden aufscheinen lässt.« 66 Das Geschehen der Inkarnation x ! a ist umfassend, jedoch für uns nicht durchschaubar. hier unter Aufnahme der Philosophie des späten Wittgensteins abgelehnt: »Words have meaning within a context of that which is teachable and learnable in ordinary language.« Michener 2013: 21. 64 Lindbeck 1984: 18. 65 Lindbeck 1984: 2. In ähnlicher Weise urteilt Schlette in der Frage der Bestimmung von Selbstverwirklichung: »Selbstverwirklichung geschieht also in der Tat nicht (…) als Praxis des rollenförmigen Als Seins, aber ebensowenig geschieht sie – wie sich das esoterische Sinnsuchekandidaten wünschen mögen – in privaten Zuständen des herausgehobenen Erlebens, sondern irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen. (…) Erst wenn wir artikulieren, was uns bewegt, ergibt sich jener Unterschied in der Welt, der etwas zu einer Wirklichkeit macht.« Schlette 2005(2): 196. Wie in konkreten historischen Prozessen auch religiöse Sinnbildung möglich ist, hat Schlette anhand des Pietismus untersucht, vgl. Schlette 2005(1). 66 Waldenfels 2012: 412.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

4.

Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott

Die Rede von Gott geschieht nicht irgendwound nicht in abstrakten Zusammenhängen, sondern sehr konkret in bestimmten Gemeinschaften und durch bestimmte Menschen. Der instabile Zusammenhang der Rede mit den »Phänomenen« des Zentrums des Chiasmus x kommt in der Existenz desjenigen Menschen je und je zum Vorschein, der redet oder hört. Erst im existentiellen Vollzug kann der Bezug hergestellt werden, werden Grenzausdrücke wirklich zu Grenzausdrücken und sind nicht nur eigenartige, deplatzierte Begriffe, gelingt die Unterscheidung zwischen dem Wort »Gott« und Gott. Wiederum zeigt sich in diesem Zusammenhang aber die Gefahr, das Schema des Chiasmus allzu sehr als eine Ordnung zu interpretieren, so dass man sich mit seiner Hilfe durch eine Art »Draufsicht« einen Überblick über die verschiedenen Phänomene verschaffen kann. Essentiell ist jene Selbstbeteiligung, jenes Engagement, das wir schon bei seiner Einführung gefordert haben und das das Schema nur indirekt zum Ausdruck bringen kann. Es macht nur Sinn, wenn man das Wort »Gefühle« als Hinweis auf Erfahrungen des Fühlens nimmt, also die extensionale Bedeutung der verwendeten Begrifflichkeiten hervorhebt. Nur so werden die unterschiedlichen Phänomene deutlich, die das Schema zueinander in ein Verhältnis setzt. Man kann viel über die Rede von Gott nachdenken, den Begriff »Gott« korrekt gebrauchen und doch bleibt eine Differenz zwischen »Gott« und Gott bestehen. Die eigene existentielle Beteiligung ist Grundvoraussetzung dafür, dass die Rede von »Gott« zur Rede von Gott werden kann. Alle folgenden Aussagen zu Phänomenen der Erscheinungsweise X, die als formulierte Aussagen immer Teil der Erscheinungsweise Kulturg sind, müssen als Protreptik verstanden werden. Die Protreptik ist eine Mahnrede, die die Leserin, den Leser dazu anhält, eine Transferleistung zu erbringen, die die Rede durch ihre eigenen Mittel nicht sicherstellen kann. Das Geschriebene, das Gesagte darf nicht allein in der ihm eigenen allgemeinen Form betrachtet werden, das Geschriebene ist als Geschriebenes nicht das Gemeinte. Es erfüllt seine Aufgabe erst dann, wenn es die Leserin, den Leser zugleich anreizt, auf das zu achten, was über die Grenzen des begrifflich Vermittelbaren hinausgeht, die Phänomene der Erscheinungsweise X. »Die Protreptik versucht, zur eigenen Einsicht zu überreden. (…) Die Einsicht der Phänomenologie wird also nicht im Text selbst transportiert, sondern (…) aufgetan: Die Anleitung sagt, was der Leser tun sollte, 270 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott

um selbst zu den Einsichten zu kommen, zu denen der Phänomenologe für sich selbst gekommen ist; sie ist eine rhetorische Aufforderung, die dem Phänomenologen widerfahrenen Einsichten sich selbst widerfahren zu lassen.« 67 Das, was die Protreptik in Bezug auf die Phänomene der Erscheinungsweise X fordert, das existentielle Engagement, die eigene Beteiligung ist einerseits nichts Kompliziertes und doch ist es auch nicht einfach sicherzustellen. Es erfordert keine besondere intellektuelle Leistung und doch erweist es sich in der sprachlichen Vermittlung als das Schwierigste. Die Einschränkungen in der sprachlichen Vermittlung bedeuten nicht, dass es besonders selten oder voraussetzungsreich ist, dass sich Phänomene zeigen, die nach dem Schema des Chiasmus der Erscheinungsweise X zugeordnet werden. In gewisser Weise ist mit jenen Phänomenen gerade das Einfachste und Selbstverständlichste unserer Erfahrungen angesprochen. Und doch lassen sich diese »selbstverständlichen« Phänomene nur mit Schwierigkeit in Aussagen und Reden fixieren. Mit der Rede von Gott geht gegenüber einer allgemeinen Phänomenologie eine Radikalisierung einher: Ist es schon schwierig, sich hinreichend deutlich auf Phänomene der Erscheinungsweise X zu beziehen, so ist es eigentlich unmöglich, wenn man einen Bezug auf die »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus herstellen möchte. Im allgemeinen Fall ist eine Aufforderung durchaus möglich und sinnvoll: »Versuche Dich einzufühlen in die Situation, achte auf Deine Gefühle!« Doch ist die Aufforderung »Glaube an Gott!« aufgrund der dargestellten Verhältnisse im Zentrum des Chiasmus eklatant selbstwidersprüchlich: Der Glaube entstammt einer radikal passiven Grundhaltung, nicht einer aktiven Gestaltung, die Imperative befolgen könnte. Die Intentionalität der mit dem Imperativ verbundenen Handlung weist ins Leere, der Bezugspunkt, das Zentrum des Chiasmus, entzieht sich einer Mitteilbarkeit; Stoellger fragt zu Recht: »Lässt sich die Radikalität der Passivität sagen, ohne sie als Moment des sedimentierten, vorgefassten Sinns darzustellen?« 68 Nicht nur weist die Aufforderung semantisch ins Leere, man wird zu einer Handlung aufgerufen, die man selbst aus eigener Kraft nicht leisten kann, die nicht im eigenen Vermögen steht. Statt einer Aufforderung »Glaube an Gott!« ist nur ein Selbstzeugnis möglich: »Ich bezeuge

67 68

Wiesing 2009: 96. (Hervorhebung im Original) Stoellger 2010: 313.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

die Wahrheit Gottes!« Das Zeugnis versteht sich als Folge jener Bewegung, die Jüngel durch die Inkarnation ausgezeichnet hat. In dieser Bewegung stehend kann das Zeugnis auch historische Traditionen aufgreifen, beides hängt unmittelbar zusammen. Dies bestätigt auch Ricœur: »Es gibt folglich überhaupt keinen Zeugen des Absoluten, der nicht Zeuge historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinnes, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre.« 69 Doch genau dazu kann man nicht auffordern, denn der Zusammenhang zwischen dem Absoluten, den »Phänomenen« des Zentrums des Chiasmus und dem Historischen (Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur) ist in keiner Weise ausdrückbar. Insofern besteht in Bezug auf die Rede von Gott ein fundamentaler Unterschied zwischen Aufforderung und Zeugnis. In einer verbreiteten Deutung wird diese Unfähigkeit damit in Verbindung gebracht, dass die Erfahrungen strikt individuell sind. Wenn jede und jeder je eigene Worte wählt, so ist das sachgemäß, weil es sich um unterschiedliche, individuelle Erfahrungen handelt. Ein Individuum erweist gerade darin seine Individualität, dass es sich von anderen unterscheidet, Menschen als Individuen differenzieren sich insbesondere in religiösen Erfahrungen. Verbunden mit der Bindung an die Individualität ist die Unterscheidung von »innen« und »außen«, wobei eine religiöse Erfahrung eine solche ist, die man nur »innen« machen kann. Das Innere wird als das je Unterschiedliche, das Individuelle gewertet. Eine solche Interpretation lässt sich aber nicht mit dem Schema des Chiasmus vereinbaren. Die Verbindung von religiöser Rede mit individualistischer Deutung muss aufgrund der durch das Schema gewonnenen Erkenntnisse einer grundlegenden Revision unterzogen werden. Das Schema des Chiasmus zeigt, dass gerade jene Phänomene, die mit dem Wort von Gott verbunden sind, gar nicht idiosynkratisch sein können, das heißt, sie können kein Individuum auszeichnen. Erfahrungen, die mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X verknüpft sind, sind elementar. Uns fehlen die Worte, sie angemessen auszudrücken, nicht weil sie je und je unterschiedlich und individuell sind, vielmehr weil sie so grundlegend sind, dass sie kategoriale Unterscheidungen unterlaufen. Sie lassen sich in keiner Weise mit differenzierten Persönlichkeiten, schon gar nicht mit ihren kulturellen, biographischen oder ähnlichen Unterschieden

69

Ricœur 1972 (1): 21.

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Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott

verbinden. 70 Die verbreitete Verknüpfung religiöser Erfahrungen mit den inneren Zuständen eines Individuums wird nur dann plausibel, wenn man diese Sprachnot missinterpretiert und annimmt, dass unterschiedliche Worte für verschiedene Erfahrungen gefunden werden. Das korrespondiert mit der Vorstellung der Authentizität, also der Notwendigkeit, den einen richtigen Ausdruck für die je individuelle Erfahrung zu finden. Doch stellen sich die Verhältnisse in dem Schema des Chiasmus ganz anders dar. Hier sind die Phänomene der Erscheinungsweise X nicht an Individuen gekoppelt, sie zeigen vielmehr grundlegende Erfahrungen mit der Wirklichkeit. Weder kann man sagen, dass diese Phänomene für unterschiedliche Menschen gleich sind, noch dass sie unterschiedlich sind, weil es keine Möglichkeit gibt, zu vergleichen. Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Existenz und Individuum ist ungewöhnlich, da man in der Regel doch annimmt, dass das Existentielle zugleich eng mit dem Individuum verkoppelt ist. Ist es nicht der individuelle Mensch, der nur über seine Existenz Rechenschaft ablegen kann? Die Rede von Gott ist immer mit einer existentiellen Erfahrung verbunden, nur so zeigt sich der Zusammenhang zwischen den Phänomenen der Erscheinungsweise Kulturg und denen der Erscheinungsweise X. Die Rede ist darum immer ein Zeugnis. Ist ein Zeugnis, mit dem man die erfahrene Wahrheit der Rede von Gott artikuliert, nicht eine Sache des je und je besonderen Menschen? Das ist so und dennoch unterscheiden sich diese Bestimmungen von der Individualität im oben genannten Sinne. Der Inaugurator der Existenzphilosophie, Sören Kierkegaard, hat seine philosophischen und theologischen Analysen stets auf die Existenz des Einzelnen bezogen. Doch gerade dabei hat er in der so genannten Lehre von den Stadien eine Unterscheidung vorgenommen, die die Identifizierung von Einzelnem und Individuum im oben definierten Sinne problematisiert. Nach Kierkegaard kann die Existenz in drei unterschiedlichen Stadien angetroffen werden: dem ästhetischen, dem ethischen und dem religiösen Stadium. 71 Im ästhetischen Stadium ist der Einzelne auf die Ausbildung seiner Individualität bedacht, er existiert dadurch, dass er sich unterscheidet, er pflegt Besonderheiten und einen In einer ähnlichen Argumentationslage lehnt auch Henry den konstitutiven Bezug auf das Individuum ab: Henry 2002: 286. 71 »Es gibt drei Existenzsphären: die aesthetische, die ethische, die religiöse.« Kierkegaard 1845: 507. 70

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

gewissen Stil. 72 Im ethischen Stadium übernimmt der Einzelne allgemeine Pflichten. Hier ordnet er sich den kulturellen und gesellschaftlichen Vorgaben unter. Das religiöse Stadium verknüpft Kierkegaard dagegen mit dem existentiellen Ernst. Dieses Stadium lässt sich im Gegensatz zum individuellen Stil des Ästheten, der ganz auf das Äußere gerichtet ist, kaum von außen beobachten. Kierkegaard ist sich bewusst, dass die religiöse Kommunikation, die den mit dem religiösen Stadium verbundenen existentiellen Ernst transportieren soll, nicht direkt erfolgen kann. Kierkegaard gestaltet die indirekte Mitteilung vor allem auch durch das Stilmittel der Ironie. 73 Das Verhältnis, auf das eine Kommunikation nur indirekt verweisen kann, ist in dem Verständnis Kierkegaards im Wesentlichen ein Selbstverhältnis. 74 Es kann aber nur indirekt in Beziehung auf das Absolute ausgedrückt werden. 75 Ein Pflichtenmensch kann als »Ritter des Glaubens« augenblicklich in das religiöse Stadium wechseln, das Geschehen ist für andere Menschen nicht zu bemerken. Diese Differenzierung kommt dem hier Gemeinten sehr nahe, auch wenn Kierkegaard die Kategorie des Religiösen über das Selbstverhältnis und nicht zugleich auch als Verbundenheit mit der Welt zum Ausdruck bringt. Die Phänomene des Religiösen können nicht einem in seiner Eigenart

Im ästhetischen Stadium ist das Außenverhältnis entscheidend: »In der Dichtung verhält die Liebe sich darum nicht zu sich selbst, sondern sie verhält sich zur Welt (…). Der ästhetische Held muss seinen Widerstand außerhalb seiner, nicht in sich haben.« Kierkegaard 1845: 432 f. 73 »Alle indirekte Mitteilung ist darin von der direkten unterschieden, dass sie indirekt an erster Stelle einen Betrug hat, gerade weil es ein Betrug wäre, das Ethische unmittelbar mitteilen zu wollen … Dieser Betrug bedeutet, dass vor allem der Mitteiler nicht aussieht wie ein ernsthafter Mann.« S. Kierkegaard Pap. VIII, 2B 81, 22, zitiert nach: Deuser 1985: 77. Auf die hier diskutierten Verhältnisse übertragen: Wären die Phänomene der Erscheinungsweise X ganz und gar jedem Ausdruck entzogen und die Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur in sich gesättigt, so müsste jeder Bezug darauf mit einem Betrug beginnen, mit einer offenkundig falschen Zuordnung innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur, damit die Aufmerksamkeit nicht dort haften bliebe, sondern, irritiert, sich den direkt nicht mitteilbaren Phänomenen der Erscheinungsweise X zuwenden könnte. 74 »Das Religiöse liegt nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zwischen Kraft und Leiden, sondern im Innern, sofern dies sich zu sich selber verhält.« Kierkegaard 1845: 498. Diese Bestimmung unterscheidet sich von dem hier vertretenen Ansatz, der auf ein Selbstverhältnis zu verzichten sucht, um der Unterschiedlichkeit der Phänomene einer offenen Wirklcihkeit besser gerecht werden zu können. 75 »(…) dass der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht.« Kierkegaard 1843: 59. 72

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Die Bedeutung der Existenz in der Rede von Gott

ausgezeichneten Individuum zugesprochen werden. Verbreitet ist dagegen heute eine Auffassung von Religiosität, die dem ästhetischen Stadium entspricht, dem gemäß jeder Mensch seinen eigenen religiösen Weg geht und einen ihm gemäßen Stil entwickeln muss. Die Brikolage aus unterschiedlichen religiösen Traditionen ist dazu ein probater Weg. 76 Dagegen weist das Schema des Chiasmus aus, dass die Rede von Gott sich gerade auf jene Phänomene bezieht, die sich kaum identifizieren oder differenzieren lassen. Es muss offen bleiben, was identisch oder auch unterschiedlich ist; aufgrund der Bedingungen des Schemas kann man weder das eine (Identität) noch das andere (Verschiedenheit) behaupten. Es gibt noch eine weitere wichtige Beobachtung, die die Unterscheidung von Existenz und Individuum nahe legt, denn die Rede von Gott ist stets ein kommunikativer Akt, der nicht auf ein isoliertes Individuum verweist. Die Rede von Gott setzt eine existentielle Beteiligung voraus, aber sie ist auch deshalb nicht die Sache Einzelner, weil sie stets ein Akt existentieller Verbundenheit auch unter Menschen ist. Im Exkurs in Kapitel acht werden wir diese Verbundenheit mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit nach Merleau-Ponty genauer beschreiben. Bonhoeffer stellt in einem ganz ähnlichen Sinne zu dem Status der Offenbarung fest: »Das Sein der Offenbarung liegt weder in einem einmaligen Geschehen der Vergangenheit (…), noch aber kann auch das Sein der Offenbarung nur als der stets freie, reine, nichtgegenständliche Akt aufgefasst werden, der die individuelle Existenz je und je betrifft; vielmehr ›ist‹ das Sein der Offenbarung das Sein der Gemeinschaft von Personen, die durch die Person Christi konstituiert und geschlosssen ist, und in der sich der Einzelne in seiner neuen Existenz je schon vorfindet.« 77 Die so analysierten Bedingungen der Rede von Gott zeigen, dass mit ihr eine bestimmte existentielle Erfahrung einhergehen muss. Der Umgang mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X steht in einem engen Zusammenhang mit einem fundamentalen Staunen, von dem eingangs die Rede war. Wenn sich Phänomene zeigen, die ihrerseits eine große Wirkung entfalten, die aber nicht auf kausale oder rationale Ordnungen zurückgeführt werden können, dann verDalferth formuliert pointiert: »Man glaubt, was gefällt, und wem es nicht gefällt, der glaubt eben etwas anderes. Berufung auf Wahrheit ist dementsprechend nicht eine verbale Drohgebärde. Sie hat allenfalls rhetorische Funktion.« Dalferth 1997 (3): 23. 77 Bonhoeffer 1931: 110. 76

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

bindet sich das mit einem Staunen über das, was sich zeigt. Ebenso ist die Haltung von der Bereitschaft geprägt, ein Wagnis einzugehen. Die Rede von Gott ist notwendigerweise mit einem solchen Wagnis verbunden, weil es hier um jene Phänomene geht, über die man letztendlich nicht verfügen kann. Wer von Gott redet, befindet sich nach menschlichen Maßstäben nicht auf sicherem Grund. Das bedeutet nicht, dass die Rede von Gott in Irrationalität abgleitet. Das Spezifikum der Rede von Gott ist allerdings, dass die Redenden eine wesentlich größere Begründungslast auf sich nehmen. Denn mit ihr ist zugleich der Anspruch verbunden, über das Ganze der Wirklichkeit Auskunft geben zu können.

5.

Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

Der Bezug auf die »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus erweist sich als entscheidend für die Rede von Gott. Der Rekurs auf das Unbestimmbare, das Absolute ist etwas, was diejenigen, die von Gott reden, bezeugen. Er weist auf eine existentielle Passivität, die nur dadurch in Lebensvollzüge eingeholt werden kann, dass die redenden Menschen sich selbst in ihrem Antwortgeben ernst nehmen. Der immer nur indirekte Bezug auf das Absolute ist Ursache für die tiefgreifenden Spannungen, der die Rede von Gott ausgesetzt ist: In menschlichen Verhältnissen und mit menschlichen Möglichkeiten kommt Gott zur Sprache. Hierdurch wird die Rede von Gott aber auch zu einer Quelle ständiger Kritik an jenen Verhältnissen. Der Bezug auf das Absolute setzt eine Differenz, eine Unterscheidung, die in den menschlichen Ordnungen eine ständige Unruhe verursacht. In diesem Abschnitt wollen wir erstens die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung in der Rede von Gott als Quelle der Kritik an der Rede selbst hervorheben. Dem schließt sich zweitens die Frage an, die über die eigene Religion hinaussieht: Wie kann man den Bezug auf das Absolute als kritische Größe im interreligiösen Dialog bestimmen? Wie kann die Reaktion ausfallen, wenn Menschen in anderen religiösen Traditionen einen Bezug auf das Absolute behaupten? Reicht es, drittens, Erfahrungen mit Gott zu reklamieren, um die eigenen Aussagen als wahre Aussagen absichern zu können? Ist hier nicht der Willkür Tür und Tor geöffnet? Schließlich wollen wir viertens theologische Begriffsbildungen hinterfragen, die durch Identifikation fundamentale Differenzen und Unterscheidungen und damit Potentiale zur Kritik 276 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

nicht angemessen zur Geltung kommen lassen. Die Rede von Gott und die Theologie als ihre Reflexionsform sind ständig aufgefordert, fundamentale Unterscheidungen zu aktualisieren.

A.

Die inhärente Kritik der Rede von Gott

Die neutestamentlichen Texte zeigen, dass es bei der Rede von Gott infolge der Inkarnation nicht um marginale Veränderungen menschlicher Verhältnisse geht. Vielmehr hat sie das Potential, traditionelle Festlegungen, Gewohnheiten und Weltanschauungen zu sprengen. Kulturelle, religiöse, ökonomische, ja sogar biologisch interpretierte Unterscheidungen werden in zentralen Aussagen des Neuen Testaments in Frage gestellt: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal 3,28). Die Veränderung, das Neue ist nicht etwas Hinzukommendes, sondern etwas radikal Neues: »Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden.« (2. Kor 5,17). Die christliche Rede von Gott hat diese radikale Kritik an bestehende Ordnungen durch eine Vielzahl von Unterscheidungen zum Ausdruck gebracht. Gerade weil sich die Rede von Gott nicht auf menschliche Verhältnisse reduzieren lässt, weder auf die Traditionen, deren sie zugehört, noch auf exzeptionelle unmittelbare Erkenntnisse, besteht die Kunst der Theologie darin, die fundamentale Unterscheidung zwischen der etablierten Rede und den Phänomenen der Erscheinungsweise X immer wieder zu aktualisieren. Gerhard Ebeling hat die grundsätzliche Bedeutung der Unterscheidung für die Theologie hervorgehoben: »Was für die Theologie und das Theologesein konstitutiv ist, besteht in einer besonderen Weise des Unterscheidens. Sie gehört unabdingbar zur Sache der Theologie und zu rechter Wahrnehmung theologischer Verantwortung und Urteilskraft.« 78 Ebeling weist auf die Spannungsmomente, die mit diesen fundamentalen Unterscheidungen einhergehen, die Notwendigkeit der Aktualisierung der Unterscheidungen in der Rede von Gott korrespondiert dabei Ebeling 1995: 423. Für die Theologie Luthers kommt Ebeling zu dem Ergebnis: »Der Kampf um die rechte Fundamentalunterscheidung: das Ringen darum, sie zu erfassen und nach allen Fronten hin zur Geltung zu bringen, hat Luthers ganzes Leben bestimmt.« Ebeling 1995: 446.

78

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

mit den starken Spannungen in der hermeneutischen Analyse. Es lässt sich keine Redeform finden, die die Spannung abbauen oder ausgleichen könnte. Menschliche Strukturen können die Spannung nicht inkorporieren, die Rede von Gott erweist sich als ein dauerhaftes dynamisches Geschehen, in dem temporäre Festlegungen immer wieder durch kritische Unterscheidungen in Bewegung gesetzt werden. Sub conditione humana aber tendiert die Rede zu einer Festigung ihrer Strukur. Wenn eine Metapher zu einer bestimmten Zeit im Sinne Ricœurs eine lebendige Metapher ist, so kann dieselbe einige Zeit später Teil einer etablierten Struktur der Religion geworden sein. Eine Metapher, die zu oft wiederholt wird, verliert ihre metaphorische Wirkung. Die Rede von Gott darf sich aber nicht in Eindeutigkeit erzeugende Ordnungen zurückziehen, will sie nicht die Bedingungen der Rede von Gott verleugnen. Theologie operiert mit klaren Bezügen und Kategorien, doch müssen diese immer so gestaltet sein, dass das Überschießende, das, was sich auch in einer theologischen Ordnung nicht einfangen lässt, immer wieder aktualisiert wird. Sie muss deshalb mit Paradoxien, mit Ironie und Tropen arbeiten. Darauf verweist auch in einer ironischen Sentenz Sören Kierkegaard: »(…) und der Denker, der ohne das Paradox, er ist dem Liebenden gleich, welcher ohne Leidenschaft ist: ein mäßiger Patron.« 79 Weil diese Spannungen in keiner Ordnung aufgehoben werden können, sind auch die Ordnungen christlicher Gemeinschaften einer inneren Kritik ausgesetzt. 80 Diese Kritik ist der Rede von Gott inhärent, sie artikuliert sich in biblischen Zeiten als prophetischer Protest Kierkegaard 1844 (1): 35. Davon zu unterscheiden ist eine »äußere« Kritik an religiösen Gemeinschaften aus der säkularen Gesellschaft heraus. Diese ist ein neuzeitliches Phänomen und beruft sich auf allgemeinere Ordnungen als die, die partikulare Gemeinschaften bereitstellen können. Im Chiasmus ist diese Kritik den äußeren Erscheinungsweisen zuzurechnen. Die Kritik von außen haben wir bei Ricœur als Hermeneutik des Verdachts kennengelernt. Sie ergeht etwa von einer so genannten allgemeinmenschlichen oder einer wissenschaftlichen Perspektive und zeigt Unverständnis für partikulare Festlegungen. Es erscheint hiernach völlig unplausibel, dass sich die Rede von Gott, die den Anspruch erhebt, Gültiges für das ganze Universum zu sagen, auf ein sehr partikulares und randständiges Geschehen vor 2000 Jahren in Palästina beruft. Ebenso unplausibel wirkt die Gestalt des Kanons: Warum diese Schriften, warum nicht andere? Auch im Namen einer individuellen Selbstbestimmung, die sich auf das Postulat der negativen Freiheit beruft, die ja ebenfalls in den äußeren Erscheinungsweisen zu verorten ist, ergeht Kritik, insbesondere wenn die religiöse Erziehung von Kindern thematisiert wird, vgl. Taylor 1992: 118 ff.; vgl. auch Vogelsang 2014 (2): 305. In einer pluralen, multireligiösen Gesellschaft, in der ein immer größer werdender Anteil sich

79 80

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Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

gegen Festlegungen und Praktiken der Priester, sie bringt sich als Widerstand einer späten Skepsis gegen die etablierten Traditionen der Weisheit zum Ausdruck, sie zeigt sich in den apokalyptischen Visionen gegen eine Anpassung an bestehende Machtverhältnisseund in der Kritik Jesu gegenüber den Pharisäern und Sadduzäern. Dieses kritische Potential hat sich in der Geschichte des Christentums immer wieder als Quelle zur Erneuerung der Ordnung von Kirche wie auch der Lehre der Kirche gezeigt. Hierin sind ebenfalls jene Unterscheidungen begründet, die die Selbstbeschreibung von Kirche prägen. Wie lässt sich die geglaubte Kirche des Bekenntnisses (»una sancta catholica et apostolica ecclesia«), der man Einheit zuspricht, mit der real existierenden Aufsplitterung der Kirchen in Beziehung setzen? 81 So gilt: »In der geschichtlichen Zerstreuung und Aufsplitterung der Kirche kommt ihre Einheit nur dann zur Geltung, wenn sie sich als ecclesia semper reformanda versteht.« 82 Diese innere Kritik der Rede von Gott wird es so lange geben, solange es eine Rede von Gott gibt. Mit Hilfe des Chiasmus interpretiert gilt: Die Phänomene der Erscheinungsweise X bergen ein großes kritisches Potential gegenüber allen kulturellen Festlegungen in den Erscheinungsweisen Kultur. In der nicht aufhebbaren Differenz zu allen Festlegungen zeigen sich dauerhaft innovative Impulse. Jede Institution, auch die Kirche, ist bestrebt, sich selbst zu erhalten und ihre Gestalt auf Dauer zu stellen. Doch zu viele und zu routiniert gesprochene Worte können das Zeugnis von Gott verschleiern, indem das persönliche Ringen, das existentielle Engagement, das immer mit dem prekären Verhältnis der Erscheinungsweise X und den Erscheinungsweisen Kultur einhergeht, nicht mehr sichtbar ist. In der Rede von Gott können also nicht nur zu wenige oder unverständliche Worte, sondern auch zu viele und zu selbstverständlich verwendete Worte ein Problem sein.

B.

Grenzen der Kritik im interreligiösen Dialog

Der unterschiedlich artikulierte Bezug auf das Absolute stellt den interreligiösen Dialog vor große Herausforderungen. Identifiziert man keiner religiösen Tradition zugehörig fühlt, wird diese Kritik von außen kontinuierlich stärker. 81 Vgl. Ebeling 1993: 372. 82 Ebeling 1993: 373 f.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

eine bestimmte Gestalt der Rede von Gott mit ihrem Anspruch, von Gott zu reden, so ist der Schritt zu religiöser Intoleranz nahe liegend. Die Wahrheit im Sinne des semantischen Gehalts von Einzelsätzen in der Rede von Gott wird mit der Autorität Gottes identifiziert. Doch zugleich ist damit jene notwendige Differenz innerhalb der Rede von Gott negiert, die durch den Bezug auf das Absolute innerhalb einer menschlichen Rede entsteht. Im Schema des Chiasmus lässt sich dies rekonstruieren als die Behauptung, man könne die »Phänomene« des Zentrums des Chiasmus mit einer bestimmten Redeform identifizieren. Das ist aber nach den Bedingungen des Schemas nicht möglich. Der Bezug auf das Zentrum des Chiasmus ist nur als existentielles Zeugnis im Modus einer Antwort möglich. Dies gilt nicht nur für die christliche Rede von Gott, sondern auch für Reden in anderen Religionen, sofern man annehmen kann, dass diese sich auf das im Schema ausgewiesene Absolute beziehen. Es ist genau darauf zu achten, welche Folgerungen man aus dieser sehr begrenzten Einsicht zieht. Die Beschreibung dieser Verhältnisse liefert keinerlei verallgemeinerbares Argument, eine religiöse Tradition der anderen vorzuziehen. Das Schema bietet keine abstrakte Vergleichsmöglichkeit, man kann also auch nicht schließen, dass sich die unterschiedlichen Religionen auf das Gleiche beziehen, nämlich auf die »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus. Denn diese Phänomene sind in keiner Weise bestimmte oder bestimmbare. 83 Es gibt keinen Standpunkt, von dem aus die unterschiedlichen Traditionen darauf hin verglichen werden könnten, ob sie auf ein und dasselbe weisen. Weder kann man darüber urteilen, ob es sich um dieselben Phänomene handelt, noch kann man festlegen, ob es sich um unterschiedliche Phänomene handelt. Dazu bräuchte es ein zumindest rudimentäres verallgemeinerndes Verfahren, das aber nicht für diese »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus und darüber hinaus auch nur sehr begrenzt für die Phänomene der Erscheinungsweise X zur Verfügung steht. Weiterhin ist es nicht möglich, Aussagen unterschiedlicher Religionen als verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe zu werten. Die Metapher der Perspektive kann innerhalb des Chiasmus nicht angewendet werden, denn sie setzt eine übergreifende Ordnung voraus, im Falle der Perspektive ist es der die Perspektiven vereinigende Raum. So wenig Hier zeigt sich wieder die Gefahr der Fehldeutung des Chiasmus. Diese entsteht immer, wenn man das Schema nicht als Heuristik versteht, um auf etwas aufmerksam zu werden, sondern als eine übergreifende Ordnung.

83

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Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

man folgern kann, dass unterschiedliche religiöse Reden auf dasselbe weisen, etwa die eine, abstrakt zu bestimmende »Gottheit«, so wenig kann man von einer religiösen Tradition aus über andere urteilen. Denn existentiell gebunden erlebt man sich immer nur in einer Religion. Unterscheidungsurteile wie wahr oder falsch jenseits des Verständnisses von Wahrheit als Wahrhaftigkeit 84 können in Hinsicht auf die »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus nicht zur Geltung kommen. So bleibt also nur die existentiell gebundene Bezeugung der Wahrheit derjenigen, die in der einen oder anderen Weise von Gott reden. Leider aber wurden in der Geschichte und werden noch heute die Bezüge auf das, was wir Menschen am wenigsten kontrollieren können, mit machtvollen sozialen Unterscheidungsprozedzuren verbunden.

C.

Ist ein beliebiges Zeugnis möglich?

Die »Phänomene« im Zentrum des Chiasmus lassen sich nicht eindeutig mit der christlichen Rede von Gott verbinden, die Inkarnation bzw. das x ! a ist keine Relation, die wir in einer bestimmten Ordnung nachvollziehen könnten. Wir können a nicht mit x identifizieren, wir bleiben auf kontingente historische Traditionen, existentielle Bindungen und spannungsvolle Beschreibungen angewiesen. Das unzugängliche Verhältnis wirft einige grundlegende Fragen innerhalb der christlichen Rede von Gott auf. Wenn es nicht möglich ist, einen eindeutigen Bezug zwischen den Erscheinungsweisen herzustellen, folgt dann nicht daraus, dass es unmöglich ist, ein Zeugnis, ein bestimmtes Bekenntnis anderer zu beurteilen? Muss man dann nicht bei jeder Rede von Gott erst einmal annehmen, dass sie genau das tut, was sie von sich behauptet, nämlich Zeugnis von Gott abzulegen? Wird dann aber nicht die Rede von Gott beliebig? Tatsächlich kann die Rede von Gott in Bezug auf die »Phänomene« des Zentrums des Chiasmus weder in einem allgemeinen Sinne als richtig noch als falsch beurteilt werden, da es für eine angemessene Artikulation der Phänomene der Erscheinungsweise X keine allgemeinen Kriterien gibt. Doch ist sie als existentieller Ausdruck nicht nur durch den Bezug auf die Erscheinungsweise X bestimmt, sondern auch durch Festlegungen innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur. Hier erweist sich 84

Vgl. Vogelsang 2014 (1): 354 ff.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

jede Rede von Gott eingebunden in religiöse, soziale und kulturelle Kontexte, etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, im Falle der christlichen Rede von Gott zu der christlichen Gemeinde. Die Fähigkeit zur Kritik, die wir oben skizziert haben, gilt ja nur, wenn beide Pole – menschliche Ordnungen und das, was darüber hinausgeht – existent sind. Die Traditionen menschlicher Gemeinschaften sind festgelegt durch zentrale Bekenntnisse oder die Kanonisierung autoritativer Schriften. Beide, Gemeinschaft und Kanon, produzieren so etwas wie einen Kon-Text, innerhalb dessen jeder Beitrag zur Rede von Gott hermeneutisch ausgelegt werden kann. Durch die Erscheinungsweise Kultur ist also eine Grundlage gegeben für die Beurteilung der Rede von Gott, allerdings kann diese keine absoluten Anspruch erheben. Es mag immer sein, dass neue Ausdrucksformen entstehen, die dann innerhalb der Gemeinschaft zu einer Auseinandersetzung um die richtige Rede führen. Beides also gehört zusammen, der hermeneutische Prozess und die nicht vorherzusagenden Einsprüche, es bleibt die spannungsvolle Hermeneutik in der Rede von Gott.

D.

Problematische theologische Begriffe

Die Analyse der Rede von Gott ist eng mit der Fähigkeit zur Unterscheidung verbunden. Doch gibt es immer wieder Versuche, theologische Begriffe zu etablieren, die Unterscheidungen durch Identifizierungen zu überbrücken versuchen. Die dadurch entstehenden Ausdrücke können dazu führen, dass theologische Formeln entstehen, die zu festen, häufig wiederholten Formen kondensieren und so die Kraft verlieren, einer Frömmigkeit, die von impliziten Unterscheidungen lebt, Ausdruck zu verleihen. Spuren einer solchen Identifizierung lassen sich auch in der aktuellen theologischen Begrifflichkeit ausmachen. Hier seien drei Beispiele genannt, die zu der hermeneutischen Tradition gehören und die von Autoren stammen, auf die hier schon des Öfteren Bezug genommen wurde: das »Sprachereignis« bei Eberhard Jüngel, das »Wortgeschehen« bei Gerhard Ebeling und als Beispiel für Identifizierungen in der Erscheinungsweise Kulturd der Ausdruck »Geschichte im Geschehen« bei Doris Hiller. 85 In allen drei Begriffskonstruktionen werden Zusammenhän85

Für diese Begriffsbildungen spielt offenkundig die Philosophie von Heidegger eine

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Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

ge insinuiert, die notwendige Unterscheidungen eher erschweren als erleichtern. Ihr Interesse ist es, das Wort, die Sprache oder die Geschichte durch diese Identifizierungen aufzuwerten. Es sind aus Sicht der Autoren diese Größen, das Wort, die Sprache, die Geschichte, in denen Entscheidendes geschieht, in denen Gott sich zeigt, wo er erkennbar wird. Gegenüber einem nur konstruierenden Sprechen kritisiert Jüngel: »Ihm fehlt eine, wenn nicht sogar die wesentliche Dimension der Sprache, ihm fehlt das Sprachliche der Sprache, nämlich das Ereignis des Ansprechens und Angesprochenwerdens.« 86 In einer durch das Ereignis aufgewerteten Sprache kommt aber alles zuhauf: Gott ist ein sprechender Gott und für den Menschen gilt, dass sein wahres Wesen in der Sprachlichkeit besteht. 87 Gott und Mensch werden in der »Sprachlichkeit« und damit im »Sprachereignis« engstens verbunden. Ähnliche Identifizierungen finden sich auch in dem theologischen Gebrauch des »Wortes Gottes«: In dem Wort als Wort Gottes ist sowohl Anrede als auch Begegnung wie auch Beziehung. 88 Das Wesen des Menschen ist vom Wort Gottes bestimmt, 89 das Wort Gottes ist neuschaffendes und damit in der Welt schöpferisches Wort. 90 Schon Ebeling konnte ganz ähnlich die Termini »Wortgeschehen« oder »Sprachgeschehen« anwenden. Auch diese dienen zur Verdichtung und Vereinigung von Verschiedenem. So beschreibt er das Gebet als Sprachgeschehen, in das alles, was den Menschen bewegt, große Rolle. Auch Heidegger etabliert fundamentale Unterscheidungen, etwa die Differenzierung zwischen dem Christentum, der geschichtlichen und kulturellen begrifflichen Vermittlung und der Christlichkeit, die mit dem sich je und je manifestierenden Glauben: »Theologie ist ein begriffliches Wissen um da, was Christentum allererst zu einem ursprünglich geschichtlichen Ereignis werden lässt, ein Wissen von dem, was wir Christlichkeit schlechthin nennen. (…) was aber bedeutet Christlichkeit? Christlich nennen wir den Glauben.« Heidegger 1970: 18. Allerdings beschreibt er diese Unterscheidung nicht als ein spannungsvolles Verhältnis, sondern führt das Unterschiedene zusammen in dem Ausdruck der »geschehenden Geschichte«: »Glaube ist gläubig verstehendes Existieren in der mit dem Gekreuzigten offenbaren, d. h. geschehenden Geschichte. Das Ganze dieses Seienden, das der Glaube enthüllt, und zwar derart, dass der Glaube selbst in diesen Geschehenszusammenhang dieses gläubig enthüllten Seienden gehört, macht die Positivität aus, die die Theologie vorfindet.« Heidegger 1970: 20. 86 Jüngel 1977: 215. (Hervorhebung im Original) 87 Vgl. Jüngel 1977: 216. 88 Vgl. Jüngel 1977: 221. 89 Vgl. Jüngel 1977: 234 90 Vgl. Jüngel 1977: 235.

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

auch die ihn umgebende Welt, verdichtet werde. 91 Darüber hinaus gilt: »Die Gottesbeziehung hingegen hat ihre Erfahrungsbasis allein in dem Sprachgeschehen.« 92 Gottesbeziehung und Sprache werden hier miteinander identifiziert. Die Inkarnation wird nach dem Johannesprolog (Joh 1,14) auf das Wort hin konzentriert und erneut mit einer Identifizierung von Verschiedenem verbunden, hier durch die Verknüpfung von Wort und Leben: »Denn in der Tat kommt das Wort zu dem höchsten Grad seines Wirkens, wenn es (…) seinerseits das Leben durchdringt und von Leben erfüllt ist, so dass auch Leben von ihm ausgeht.« 93 Als drittes Beispiel sei der Ansatz von Doris Hiller genannt, die Geschichte Gottes mit Hilfe der Theorie Ricœurs neu zu deuten. Doris Hiller prägt den Begriff »Geschichte im Geschehen«, den sie auch als »Geschichte« in Anführungszeichen notiert, um ihn von dem allgemeinen Begriff von Geschichte zu unterscheiden. Auch diese Definition weist die Identifizierung zweier Seiten aus: »Gottes ›Geschichte‹ ist Geschichte im Geschehen.« 94 Damit will sie auf die theologische Tiefenstruktur von Geschichte weisen, mit dem Begriff »Geschichte« ist die theologisch qualifizierte Historie gemeint. Hiller bestätigt, dass in diesem Begriff eine Mehrperspektivität, eine Mehrwertigkeit gebündelt ist. 95 Die Gefahr besteht hier darin, dass sich der Begriff »Geschichte« als Begriff zu verselbständigen droht und zu einem festen Topos wird. So wird mit »Geschichte« etwas zu einem Teil einer theologischen Ordnung. Es ist die Herausforderung, den Begriff immer wieder neu in seiner Mehrwertigkeit zu hören, denn er bezeichnet sowohl die Geschichte mit ihrem Bezug zu historischen Fakten wie auch das Geschehen, das sich doch nur von Mal zu Mal ereignet und gerade deshalb jede Ordnung überschreitet. Nun sind Identifizierungen immer notwendig, der Terminus »Rede von Gott« ist ein solcher, den wir in dieser Arbeit nutzen. 96 Auch die Jüngel’sche Form x ! a ist eine solche Identifizierung. Wir werden im folgenden Kapitel genau diese Weisen der Identifizierung mit phänomenologischen Mitteln nachzuvollziehen versuchen. JeVgl. Ebeling 1987: 210. Ebeling 1987: 402. 93 Ebeling 1989: 92. 94 Hiller 2009: 7 et passim. 95 Vgl. Hiller 2009: 376: »Mehrwertigkeit des Kollektivsingulars ›Geschichte‹«. 96 Die wohl größte Gefahr für unzulässige Identifizierungen geht von einem Gebrauch des Schemas des Chiasmus als eine feste und in sich konsistente Ordnung aus. 91 92

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Die Rede von Gott als Quelle von Kritik

doch ist entscheidend, eine solche Begriffsbildung immer wieder zu problematisieren. Die Identifizierung von Verschiedenem darf nicht in den theologischen Wissensbestand übergehen, darf nicht zu einem Bestandteil der Theorie werden. 97 Die genannten Begriffe sind nur als Hilfskonstruktionen denkbar, die Verschiedenes zusammenzudenken versuchen. Allzu schnell entstehen ansonsten opake begriffliche Standards, die Teil einer festgefügten theologischen Rede werden und so die Spannung der ursprünglichen Unterscheidungen nicht mehr deutlich werden lassen. Nur zu genau weiß man dann, was mit »Sprachereignis«, »Wortgeschehen« oder »›Geschichte‹« gemeint sein soll und verwendet die Begriffe als feststehende Wendungen einer etablierten Theorie. Ricœur sieht zum Beispiel in der problematischen Identifizierung des Begriffs »Wortgeschehen« eine Unterlassung der Theologie, zwischen Wort und Schrift zu unterscheiden und alles auf den Begriff des Wortes zu vereinigen: »Darin (In der Zentralität des Wortes Gottes im biblischen Zeugnis, FV) ist es begründet, dass die christliche Theologie sich gerne ›Theologie des Wortes‹ nennt und unter diesem Begriff den Ursprung des Glaubens, den Gegenstand des Glaubens und den Ausdruck des Glaubens vereint, so dass alle diese Aspekte des Wortes zu einem einzigen Wort-Geschehen werden.« 98 So wie Ricœur die Unterscheidung von Ursprung, Gegenstand und Ausdruck des Glaubens anmahnt, so fordert Dalferth die Unterscheidung der Auslegung von Erfahrung und der Auslegung von Texten. Der wesentliche Grund für die Tatsache, dass eine kohärente Interpretation unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeit mit dem Begriff des »Wortgeschehens« nicht möglich ist, »dürfte die problematische, durch die nichtrestringierte Verwendung der Kategorie des Wortgeschehens parallele Konstruktion der beiden Hauptaufgaben der Theologie sein: Wie die Theologie auf der einen Seite die Schrift auslegt, so legt sie auf der anderen Seite unsere ErSo urteilt auch von Lüpke: »Die Spannung liegt somit auch im Verhältnis von Begreifen und Wahrnehmen Gottes. Denkbarkeit und Erfahrbarkeit sind zu unterscheiden. Alle Versuche, die Wirklichkeit Gottes zu erfassen, bleibt unzulänglich (…).« Von Lüpke 2009: 83. Allerdings wendet sich von Lüpke in der Rezeption Luthers dann doch einem integrativen Verständnis des »Wortes« zu: »›Durch das Wort sieht man’s.‹ Dieser Satz lässt sich als Kurzformel einer theologischen Wahrnehmungslehre verstehen.« Von Lüpke 2009: 100. So richtig es ist, dem Wort in der Theologie eine zentrale Rolle zuzuweisen, so fraglich ist es, ob damit schon alles gesagt ist. Die christliche Rede von Gott beginnt immer mit der Rede, aber sie ist nie nur Rede. 98 Ricœur 1974 (2): 35. (Hervorhebung im Original) 97

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Die Rede von Gott und die Erscheinungsweise X

fahrung aus. (…) Doch die Parallele ist irreführend. Schrift und Erfahrung (…) besitzen ganz unterschiedliche hermeneutische Binnenstrukturen.« 99 Die hier problematisierten Begriffe unterstützen eine Konzentration auf Worte, auf sprachliche Ausdrucksformen. Diese Betonung ist für die Interpretation der Rede von Gott notwendig, aber nicht hinreichend. Die Untersuchungen des folgenden Kapitels werden zeigen, dass die hermeneutischen Untersuchungen durch phänomenologische ergänzt werden müssen, dass neben den Erscheinungsweisen Kultur die Erscheinungsweise X eine eigenständige Rolle spielt in dem Versuch, der Rede von Gott gerecht zu werden.

99

Dalferth 2010: 95.

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8. Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Bevor wir nun den phänomenologischen Bemühungen um die Grenzausdrücke weiter nachgehen, ist die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis das Schema des Chiasmus zu den tradierten Texten und Erzählungen der christlichen Rede von Gott steht, denn beide sollen im Folgenden immer wieder aufeinander bezogen werden. Das Schema ist ebenso wie die biblischen Erzählungen Teil der partikularen Ordnungen der Erscheinungsweise Kulturg. Das bedeutet: Es gibt keine systematische Vorrangstellung des Chiasmus gegenüber den biblischen Erzählungen, die mit ihren Grenzausdrücken von Gott reden. Das Schema etabliert keine transzendentale Ordnung, aus der heraus die Möglichkeiten und Grenzen der biblischen Erzählungen abgeleitet werden könnten. 1 Vielmehr ist das Schema eher eine stützende Struktur, eine Heuristik, mit Hilfe derer der Wirklichkeitsbezug der biblischen Erzählungen neu gehört und wahrgenommen werden kann. Die christliche Rede von Gott wird immer ihren Ausgang bei dem geschichtlichen Ereignis der Inkarnation und den damit verbundenen Erzählungen und Texten nehmen. Zur Diskussion steht, inwieweit diese Rede von Gott als Kraft wahrgenommen werden kann, jene Wirklichkeit zu erschließen, in der wir leben. 2 Der Beitrag der Rede von Gott zur WirklichkeitsInsofern kann man auch nicht im Heidegger’schen Sinne für das Verhältnis von Philosophie und Theologie zwischen »ontologisch« und »ontisch« unterscheiden: »Hieraus ergibt sich: alle theologischen Grundbegriffe haben jeweils, nach ihrem vollen regionalen Zusammenhang genommen, in sich einen zwar existentiell ohnmächtigen, d. h. ontisch aufgehobenen, aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational fassbaren Gehalt.« Heidegger 1970: 29 (Hervorhebung im Original). Diese Zuordnung scheint deshalb nicht möglich, weil die Erscheinungsweise X in ihrer allgemeinen Form nur einen indirekten Hinweis darstellt. So ist das Schema keine Ordnung, sondern weist über sich selbst hinaus auf das, was nicht geordnet werden kann. Dann aber gibt es keinen systematischen Vorzug gegenüber den biblischen Grenzbegriffen. Das Schema kann hilfreich und wirkungsvoll sein, wenn es auf jene Phänomene der Wirklichkeit hinweist, es ist aber auch nur sinnvoll, wenn es die Wirkung des indirekten Hinweises entfaltet. 2 Es ist also die Lebenswelt der Ort der Bewährung jeder Rede von Gott, nicht die 1

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

erschließung hat notwendigerweise mit spannungsvollen Differenzen zu tun. Lassen sich diese auch für die Phänomene der Erscheinungsweise X identifizieren? Bislang haben wir nur so viel von den Grenzausdrücken sagen können, dass sie einen Überschuss, eine Extravaganz beinhalten, die die Möglichkeiten einer Rede als Rede überschreitet. In der Beschäftigung mit den Phänomenen der Erscheinungsweise X geht es nun darum, ein Verständnis für die Erschließungskraft der Grenzausdrücke für die Phänomene dieser Erscheinungsweise zu gewinnen. Worauf deuten Grenzausdrücke, wenn sie über die Form der Rede hinausweisen? Sie können nicht direkt auf das Zentrum des Chiasmus Bezug nehmen. Denn für dieses gibt es außerhalb negativer Umschreibungen nichts zu sagen. Der Versuch einer Rede, die sich direkt auf das Absolute bezöge, wäre, anders gewendet, der völligen Willkür ausgeliefert. Mit dem Zentrum des Chiasmus ist eine absolute Differenz zu allen anderen Phänomenen der Wirklichkeit gesetzt. Und doch spielt das Zentrum des Chiasmus, interpretiert durch die Jüngel’sche Figur x ! a, eine entscheidende Rolle in der Rede von Gott, wenn sie denn Rede von Gott sein soll. Es ist möglich, die Erfahrung mit Gott als Grenzerfahrung in einer Rede zu bezeugen. Das, worüber wir Rechenschaft ablegen, sind unsere Antworten auf die Erfahrungen mit Gott. Inwieweit sind die Phänomene der Erscheinungsweise X in der Rede von Gott beteiligt? Tatsächlich leisten sie einen erheblichen Beitrag, der aber nur dann sichtbar wird, wenn man x ! a nicht vom Zentrum des Chiasmus absieht und sie allein als Phänomene der Erscheinungsweise Kulturg identifiziert. 3 Die Konstruktionen von »Wortgeschehen« oder »Sprachereignis«, die wir kritisiert haben, tun genau das. Das Schema des Chiasmus lässt eine differenziertere Darstellung zu, indem es auf den eigenständigen Beitrag der Phänomene der Erscheinungsweise X hinweist. Genau hier kann aber auch ein besonderer Beitrag der Rede von Gott theologische Reflexion und auch nicht die Reflexion der Organisation Kirche. So stellt Korsch die Frage, »ob sich nicht am Ort gelebten Lebens solche religiösen Deutungen finden und bestimmen lassen können, die die Identität des Christlichen zu erkennen geben – in elementarer Gestalt und eingesenkt in die tatsächlichen Lebensformen.« Korsch 2000: 3 f. Link sieht gerade in dem Alltagsbezug die Stärke dessen, der von Gott in Gleichnissen redet: »Er redet aus Erfahrung und kehrt dann gewissermaßen an den Ort zurück, von dem die Wahrnehmung dieses Gottes einmal ausgegangen ist, die eigene Lebenswelt, in der er sich Tag für Tag bewegt.« Link 2003: 67. 3 Auch Schlette problematisiert die Verbindung des phänomenalen Gehalts eines Erlebnisses und des sprachlichen Ausdrucks, vgl. Schlette 2013: 374 f.

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Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

zur Erschließung der Wirklichkeit liegen, indem sie ein besonderes Augenmerk auf die Phänomene dieser Erscheinungsweise richtet. Diejenigen, die von Gott reden, bezeugen in vielfachen Metaphern, wie sehr sie von den Erfahrungen mit Gott existentiell betroffen, angerührt und angesprochen sind. Weit davon entfernt, eine obskure innerliche Größe zu sein, sind sie Weisen, in denen sich Wirklichkeit zeigt. Doch wie kann man sich den Phänomenen der Erscheinungsweise X so nähern, dass sie nicht einfach als unmittelbare Erfahrungen reklamiert werden? Der entscheidende Beitrag der nachfolgenden phänomenologischen Untersuchung wird darin liegen müssen, auch hier die Fähigkeit zur indirekten Rede zu steigern und spannungsvolle Differenzen in die Beschreibung der Phänomene der Erscheinungsweise X einzubringen. Dies soll mit Hilfe der phänomenologischen Theorie von Bernhard Waldenfels geschehen.

1.

Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

A.

Eine Phänomenologie der Responsivität

Wege zu einer genaueren Analyse jener Phänomene, die sich an den schwer zu bestimmenden Grenzen von Ordnungen befinden, haben die phänomenologischen Arbeiten von Bernhard Waldenfels gebahnt. Er hat im Anschluss an Merleau-Ponty die klassische Konzeption der Phänomenologie, die mit der Untersuchung der Intentionalität verbunden war, variiert und demgegenüber die Responsivität in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt. Die Responsivität kommt dann in den Blick, wenn man nicht eine fiktive Ausgangssituation konstruiert, nach der ein zunächst bei sich seiendes Bewusstsein sich initiativ der Welt zuwendet. Wenn man die Annahme Merleau-Pontys aufgreift, dass der Leib immer schon zur Welt hin ausgerichtet und mit ihr verschränkt bzw. verbunden ist, 4 muss man mit Waldenfels folgern, dass wir tatsächlich vor allem antwortende Wesen sind. Das Vorgängige, das sich einem Blick auf die Welt entzieht, zeigt sich nur, wenn man auf das Unfertige, Ungestaltete dieser Verbindung aufmerksam wird: »Zwischen den vorgeblichen Farben und dem vorgeblich Sichtbaren würde man auf das Gewebe stoßen, das sie unterfüttert, sie trägt, sie nährt und das selbst nicht Ding ist, sondern Möglichkeit, Latenz und Fleisch der Dinge.« Merleau-Ponty 1964: 175. Diese metaphernreiche Formulierung entspricht in dem hier zugrunde liegenden Schema eine Annäherung an die Erscheinungsweise X.

4

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Es gibt keine Situation, in der wir uns erstmalig der Wirklichkeit zuwenden könnten. Da wir immer schon eingebunden und durch die Wirklichkeit konstituiert sind, erfahren wir uns als Antwortende, bevor wir einen uns selbst zugeschriebenen Schritt planen können. Waldenfels definiert dementsprechend eine responsive Differenz im Gegensatz zur signifikanten Differenz: »Für die Intentionalität gilt, dass sie steht und fällt mit der signifikanten Differenz: Stets ist etwas als etwas gemeint oder gegeben (…). Diese Differenz wird nicht hinfällig, aber sie tritt aus ihrer beherrschenden Stellung heraus, wenn sie durch eine responsive Differenz verstärkt wird: Stets wird etwas auf etwas geantwortet.« 5 Damit ist eine klare Differenz bestimmt zu der klassischen Phänomenologie der Intentionalität, die für Husserl einhergeht mit einer Größe wie das reine Bewusstsein. 6 Übertragen auf das Schema des Chiasmus kann man die beiden von Waldenfels bezeichneten Differenzen so zuordnen, dass in den äußeren Erscheinungsweisen eher die signifikante Differenz vorherrscht, dagegen in der Erscheinungsweise X vielmehr die responsive Differenz dominiert. Im Sinne des »Zur-Welt-Seins« sind wir immer schon im Kontakt mit der Welt, wir sind also keine unberührten Beobachter der Welt, sondern werden von ihr angesprochen und herausgefordert. Je mehr man sich dieser fundamentalen vorgängigen Verbindung nähert, desto schwieriger ist es, dies in differenzierten Begriffen zu beschreiben. Die Phänomene der Erscheinungsweise X bringen die Verbundenheit in besonderer Weise zum Ausdruck, wohingegen es etwa in der Erscheinungsweise Ding möglich ist, über wissenschaftliche Methoden von dieser existentiellen Verbundenheit zu abstrahieren und etwas möglichst präzise als etwas zu bestimmen. Die Verbundenheit ist nun keine Basis von Sicherheit oder von Unmittelbarkeit, wie wir in einer ersten Analyse der Erscheinungsweise X nachgewiesen haben. Waldenfels stellt deshalb den Begriff des Fremden in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen, um das Herausgefordertsein, in dem wir uns immer schon wiederfinden, und das darin zum Ausdruck kommende Abweichende bezeichnen zu können: »Das Fremde als Fremdes erfordert eine responsive Form Waldenfels 1994: 242. »(…) unserem erfassenden und theoretisch erforschenden Blick richten wir auf das reine Bewusstsein in seinem absoluten Eigensein. Also das ist es, was als das gesuchte phänomenologische Residuum übrig bleibt, übrig, trotzdem wir die ganze Welt mit allen Dingen, Lebewesen, Menschen, uns selbst inbegriffen, ›ausgeschaltet‹ haben.« Husserl 1913: 94 (Hervorhebungen im Original gesperrt gedruckt).

5 6

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von Phänomenologie, die bei dem beginnt, was uns auf befremdende, erstaunliche oder erschreckende Weise herausfordert, herauslockt, herausruft und unsere eigenen Möglichkeiten in Frage stellt, bevor wir uns auf ein fragendes Wissen- und Verstehenwollen einlassen.« 7 Damit sind in diesem philosophischen Ansatz Differenzen von Beginn an gesetzt, das Fremde ist dadurch das Fremde, dass es in einer Differenz zum Eigenen steht und umgekehrt, das Eigene ist nur in Differenz zum Fremden das Eigene. Die Differenz von Eigenem und Fremdem prägen die Bedingungen unseres Daseins. Das Fremde ist nicht die Ausnahme, die zu dem Eigenen hinzukommt. Dies gälte, selbst wenn wir das Fremde immer wieder nur aktualisierend zu Gesicht bekämen, das heißt, wenn wir nur dann auf es aufmerksam würden, wenn es sich wieder als etwas Fremdes zeigte. Das Fremde ist aber nie nur woanders, sondern immer schon da, wo wir sind, nie sind wir oder waren wir bei einem auf sich gestellten Eigenen. Auch in der Terminologie der Unterscheidung von Eigenem und Fremden zeigt sich, dass wir nicht aus einer unbelasteten Situation heraus den ersten Schritt auf die Wirklichkeit hin machen können. Die Existenz des Fremden verhindert die ungestörte Bestimmung eines eigenen Standpunktes. Das Fremde ist immer schon da, es kommt nicht einfach hinzu, es ist nicht »irgendwo da draußen«. Das Fremde prägt die Identität ebenso, wie es das Eigene tut. 8 Die Vorstellung eines ungestörten Eigenen ist eine Fata Morgana. Gerade weil der Begriff des Fremden in dem Waldenfels’schen Sinne so radikal und grundsätzlich ist, ist sein Gebrauch immer heikel, denn allzu schnell wird die Störung, ist sie erst einmal auf den Begriff gebracht, Teil einer neuen Ordnung. Schon wenn man einen Begriff wie »das Fremde« prägt, erhält dieser ein semantisches Umfeld, man kann über einen rechten und falschen Gebrauch streiten. Das Fremde steht dann antipodisch gegen das Eigene, Eigenes und Fremdes werden zu unterscheidbaren Mengen. Aber genau dem widerspricht der Waldenfels’sche Begriff des Fremden. Die große Kunst der phänomenologischen Analysen von Waldenfels besteht darin, immer wieder das durch den Begriff Gemeinte, das Fremde, von der Statik und Ordnung des Begriffs »das Fremde« zu unterscheiden. 9 Waldenfels 2006: 58. »Das Ich ist ein Anderer, weil die Fremdheit im eigenen Hause beginnt.« Waldenfels 2006: 28. 9 »Wenn Fremdheit sich generell dadurch auszeichnet, dass etwas da ist, indem es sich 7 8

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Mit dem immer schon präsenten Fremden begründet Waldenfels zugleich die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit in einer umfassenden Ordnung darzustellen. Das Fremde ist ein begrifflicher Statthalter, der für diese Unmöglichkeit steht und der stets als Störelement gegenüber allen Systemvorstellungen auftritt. Nun gibt es aber Ordnungen. 10 Jedoch haben alle Ordnungen, die uns zugänglich sind, einen begrenzten Gültigkeitsraum, die partiellen Ordnungen können nicht auf letzte Größen zurückgeführt oder in eine umfassende Ordnung eingegliedert werden. In der Regel gehen wir von diesen partikularen Ordnungen aus, zu denen auch die naturwissenschaftlich beschriebene Welt gehört, und haben das Bestreben, auch das, was sich nicht fügt, als ein noch nicht Geordnetes zu interpretieren, das aber tendenziell in Ordnungen eingeholt werden kann. Von diesem Eindruck leben wissenschaftsgläubige Ansätze, die sich auf dem Weg wähnen, in the long run, alles, was sich zeigt, in die Beschreibungen der Wissenschaft einbeziehen zu können. Die Rede von dem Fremden bei Waldenfels und ebenso die Gestalt des Chiasmus zeigen aber die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens. Das Fremde ist eher eine ständige Unruhe als ein fester Begriff. Er wird nur dann angemessen verwendet, wenn er zugleich die ihm eigene Differenz zu dem begrifflich Vermittelbaren in Erinnerung bringt. 11 Das Fremde ist nicht nur ein letzter Vorbehalt gegenüber umfassenden Systemen. Es ist etwas stets Gegenwärtiges und Wirkendes. Es durchdringt alle unsere Ordnungen und Bezüge und macht sich nicht nur an den Rändern von endlichen Ordnungen bemerkbar. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes von Waldenfels zeigt sich, wenn er in vielen Einzelanalysen auf der Spur des Fremden dem Differenten nachgeht, dem also, was sich einem definierenden Zugriff entzieht. Er beschreibt das Fremde auch durch den Begriff der Grenze: »Das Fremde ist ein Grenzphänomen par excellence.« 12 Diese Grenze ist nicht eine unserem Zugriff entzieht, dann stellt sich die Frage, wie wir Fremdes beschreiben können, ohne ihm durch die Art der Beschreibung seine Fremdheit zu rauben.« Waldenfels 2012: 178. Dem Begriff des Fremden entspricht als Methode die indirekte Beschreibung: »Die indirekte Beschreibung widersetzt sich allen Versuchen, die Fremdheit synoptisch einzuordnen, sie reflexiv einzuholen oder sie dialektisch aufzuheben.« Waldenfels 2012: 182. 10 Vgl. Waldenfels 2006: 30. 11 »Fremdes bleibt für jede Ordnung ein Fremdkörper.« Waldenfels 2006: 33. Das gilt natürlich auch für die Ordnung einer Phänomenologie des Fremden. 12 Waldenfels 2006: 15.

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Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

definierbare Grenze zwischen zwei eigenständigen Bereichen, sie ist mit anderen Worten keine Kennzeichnung innerhalb einer umfassenden Ordnung. Die Grenze, die hier gemeint ist, ist die Grenze von Ordnung: »Die Grenzzonen, die sich zwischen den Ordnungen und jenseits der Ordnungen ausbreiten, sind Brutstätten des Fremden.« 13 Die Grenzen zwischen Ordnung und Nicht-Ordnung zeigen sich erst im Vollzug einer Grenzziehung. Weil es keine übergreifende Ordnung gibt, gibt es auch keinen definierten Grenzverlauf. Das Fremde existiert in gleicher Weise nicht einfach aus sich heraus, sondern erfährt seine Grenze erst im Vollzug der Grenzziehung, die wie eine fundamentale Unterscheidung fungiert.

B.

Phänomene im Übergang von Pathos zu Response

Mit der Responsivität und dem Fremden sind zentrale Begriffe der Phänomenologie von Waldenfels benannt. Die responsive Differenz untersucht er nun eingehender mit Hilfe des Begriffs des Pathos: Das Antworten, in dem wir immer schon befangen sind, weist auf die Existenz eines Pathos und auf eine grundlegende Dynamik von Pathos und Response. Das Pathos ist weder ein äußerer Impuls noch Anlass zu einer Intention, es ist ein Getroffenwerden, das keiner Ordnung zugehört. Das Pathos als Wovon des Getroffenseins ist mit der Response auf eine analytisch nicht auflösbare Weise verwoben: »Das Wovon des Getroffenseins verwandelt sich in das Worauf des Antwortens (…).« 14 Schon die Bedingungen der responsiven Phänomenologie machen deutlich, dass sich das Antworten, um das es hier geht, nicht so rekonstruieren lässt, als sei da ein zeitlich vorgängiger Impuls von außen, dem dann eine Antwort folgt. Denn das setzte wiederum einen ungestörten Ausgangspunkt voraus, den die responsive Phänomenologie gerade in Frage stellt. Waldenfels beschreibt ein Verhältnis von Pathos und Response, von »Getroffensein« und »Antwort«, das sich der Logik von Reiz und Reaktion, die ja in der Welt der fertigen und definierten Dinge gilt, entzieht: »Doch das Getroffensein-von … ist entschieden radikaler zu denken, nämlich als VorgänEbenda. Diese Formulierung aufnehmend kann man die Erscheinungsweise X, die das absolut Fremde des Zentrums des Chiasmus von den endlichen Ordnungen der Erscheinungsweise Kultur abgrenzt, als »Brutstätte« des Fremden deuten. 14 Waldenfels 2006: 44. 13

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

gigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht. (…) Das Getroffensein erzeugt rückwirkend seine Geschichte (…). Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage.« 15 Pathos und Response dürfen nicht so interpretiert werden, als seien sie zwei voneinander getrennte Stufen eines Prozesses. Sie sind eher zwei Seiten einer Medaille, sie sind zwei Aspekte ein und desselben Geschehens, in das wir immer schon eingebunden sind: »Pathos und Response folgen nicht aufeinander wie zwei Ereignisse, es handelt sich überhaupt nicht um zwei Ereignisse, sondern um eine einzige, gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung (…)« 16 Unser Antworten ermöglicht es erst, das Getroffensein zu rekonstruieren. Dabei ist aber wiederum nicht berücksichtigt, dass dieser Vorgang in eine objektive Welt eingelassen ist. 17 Waldenfels entwickelt mit Pathos und Response ein Schema, das zwischen der Antwort und dem Worauf der Antwort so unterscheidet, dass beide einander bedingen. Das Pathos bricht nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt ein und dann folgt mit einigem Abstand die Response, Pathos und Response entstehen gewissermaßen aus einem gemeinsamen Geschehen. Nur ein solches nicht weiter analysierbares Geschehen, das nicht in seine Einzelteile oder Einzelphasen zerlegt werden kann, ist in der Lage, die stets existierende und konstituierende Verbundenheit mit der Welt darzustellen. Man kann nicht behaupten, es gäbe dann ja doch einen status ante, einen Zustand vor dem Pathos. Das Pathos ist in gewisser Weise immer schon da, so wie wir immer schon mit der Wirklichkeit verwickelt sind. Die beiden Begriffe Pathos und Response umschreiben ein immer gegenwärtiges Geschehen, es verschieben sich Pathos und Response zueinander durch die Diastase. Mit diesem Begriff zeigt Waldenfels auf, dass Pathos und Response in einem spezifisch zeitlichen Verhältnis zueinander stehen, nicht in dem Sinne, dass ein Zeitpunkt dem anderen folgt, vielmehr in dem Sinne, dass Pathos und Response gemeinsam auseinander hervorgehen, indem sie eine zeitliche Verschiebung entstehen lassen, die Diastase. Hier ist eine zeitliche Erstreckung, die sich keiner zeitlichen Ordnung, also einer zeitlichen Metrik fügt: »Diese Verschiebung lässt sich nicht vereinbaren mit Waldenfels 2002: 58 f. (Hervorhebung im Original) Waldenfels 2006: 50. 17 Im Schema des Chiasmus entspräche dies den Verhältnissen der Erscheinungsweise Ding. 15 16

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Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

einer linearen Zeitauffassung, die von diskreten, einander äußerlichen Jetztpunkten ausgeht (…).« 18 Deshalb können weder das Pathos noch die Response isoliert voneinander existieren. Pathos, Response und Diastase sind nicht auf verschiedene Phasen verteilt, sie gehören nicht verschiedenen Phänomenen an. Pathos und Response bezeichnen das immer schon vorgängige dynamische Verflochtensein des Leibes mit der Wirklichkeit, das sich keiner Ordnung fügt. Sie weisen auf ein Geschehen, in das wir immer schon eingebunden sind, bevor wir uns als distanzierende und urteilende, als entscheidungsfähige Subjekte konstituieren können. 19 Der Chiasmus ist eine Darstellung der Wirklichkeit, die dieser Situation der Verflechtung gerecht zu werden versucht.

C.

Die Sonderstellung des religiösen Pathos: die radikale responsive Differenz

Die Differenz von Pathos und Response hat Waldenfels in einem sehr allgemeinen Sinn entwickelt und damit Einsichten in unterschiedlichen phänomenologischen Feldern gewinnen können. Wir wollen diese Analysen nun nutzen, um die Phänomene der Erscheinungsweise X im Kontext der Rede von Gott zu interpretieren. Waldenfels hat sich auch explizit mit Fragen der Religion beschäftigt. Er läßt große Vorsicht walten, wenn es darum geht, seine phänomenologischen Erkenntnisse für die Interpretation von Religion zu nutzen: »Als Phänomenologe habe ich mich stets gehütet, das zu tun, was flüchtige Leser und Hörer den Phänomenologen des Fremden gern unterstellen, nämlich das Fremde zur moralischen oder zur religiösen Instanz zu erheben, oder es in ein ›ganz Anderes‹ zu übersteigern.« 20 In der Philosophie Waldenfels kommt so eine tiefgreifende Skepsis zum Ausdruck, inwieweit die religiöse Rede, die Rede von Gott über eindeutige Verhältnisse beschrieben werden kann. Dem entspricht auf theologischer Seite das Interesse, keine philosophische Vorgabe zu akzeptieren, die die Rede von Gott an quasi transzendentale Bedin-

Waldenfels 2002: 179. Die Schilderung von Dalferth, die, wie dargestellt, mit den Begriffen »Lücke« wie auch »anaphorischer« und »kataphorischer« Bewegung operiert, steht in großer Nähe zu der Waldenfels’schen Terminologie. Vgl. Dalferth 2010: 231. 20 Waldenfels 2006: 9 f. 18 19

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

gungen bindet. Gerade deshalb eignet sich der Waldenfels’sche philosophische Ansatz in besonderer Weise für die Reflexion der Rede von Gott. Philipp Stoellger stellt nach einer ausführlichen Beschäftigung mit dem Ansatz von Waldenfels die Frage, ob hier nicht doch Strukturen angeboten werden, die die Rede von Gott überformen können. Darf die Theologie ein philosophisches Deutungsangebot akzeptieren, das die Strukturen des zu Reflektierenden vorgibt, so dass die Rede von Gott nur noch eine Füllung – unter vielen – einer allgemeinen Form ist? »Das kann man sc. als ›strukturale Reduktion‹ verstehen, in der die ›passive Reduktion‹ in einer Weise formuliert wird, die abstrahierbar erscheinen kann von dem, was sie interpretiert.« 21 Doch ist, wie Stoellger zugleich konzediert, diese Skepsis bezüglich des philosophischen Ansatzes von Waldenfels nicht angebracht, wenn man darauf achtet, dass jede Ordnung nichts anderes ist »als Entfaltung eines außerordentlichen Ereignisses« 22. Von einer »strukturalen Reduktion« kann dann nicht die Rede sein, wenn etwas in der religiösen Kommunikation identifiziert wird, das sich jeder Reduzierbarkeit entzieht, das Waldenfels als Pathos als einer besonderen Form des fungierenden Fremden konzipiert. Waldenfels sieht in dem Religiösen tatsächlich eine spezifische Variante des Fremden und folgert: »Dies bedeutet nicht, dass das Fremde eo ipso religiös ist, wohl aber gilt umgekehrt, dass das Religiöse, wenn es mehr sein soll als ein Derivat, nicht anders vorstellbar ist, denn als Fremdes. Somit taugt Religiöses weder als Fundament noch als Lückenbüßer.« 23 Es bleibt auch in der Rede von Gott notwendig, dass die Phänomene, die sich in der Erscheinungsweise X zeigen, fremd und unverfügbar sind. In der Terminologie von Waldenfels: »Doch die Fremderfahrung geht über prädikative und signifikative Sinndifferenzen hinaus. Sie bedarf einer pathischen und responsiven Epoché. Diese Epoché geht nicht bloß, wie die intentionale Epoché, vom Gegebenen auf dessen Sinn zurück, sondern auf das Wovon des Getroffenseins und das Worauf des Antwortens, das alles Gesagte, Gesehene, Gehörte oder Getane überschreitet. (…) Das Antworten entspringt einer responsiven Differenz, die das Worauf des Antwortens vom Was des Antwortens scheidet.« 24 21 22 23 24

Stoellger 2010: 483. Stoellger 2010: 483. Waldenfels 2012: 15. Waldenfels 2012: 411 f. Schlette urteilt über die Phänomenalität des Heiligen:

296 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

Religiöses Verhalten zeigt sich als antwortendes Verhalten auf etwas, was jede Ordnung überschreitet. Das religiöse Pathos in diesem Sinne lässt sich in keine Ordnung einholen, es ist das radikal Fremde. Diese Beschreibung stimmt mit unserer Bestimmung des Zentrums des Chiasmus überein. Korreliert man diese »Phänomene« mit dem Pathos, so lässt sich dieses durch keine Methode einfangen. Woher kann man überhaupt von ihm Kenntnis haben? Menschen wissen von ihm allein indirekt dadurch, dass sie darauf antworten! Allein die Antwort ist uns zugänglich. Sie umfasst gerade das Gesagte, das Wahrgenommene, das Getane. Menschen nehmen möglicherweise anders wahr, reden und handeln unterschiedlich, wenn sie von Gott angesprochen werden. Jedoch ist es nicht möglich, Gott in den Antworten zu rekonstruieren oder seiner habhaft zu werden. Die Sonderstellung des Pathos, das zugleich engstens mit dem Antworten verbunden ist, fordert auch die erste Regel, die Waldenfels für eine religiöse Reflexion formuliert: Das Pathos, auf das die religiöse Rede antwortet, entzieht sich ihr und lässt sich nur indirekt über die Antwort erschließen. Es ist im strengsten Sinne ein »Außer-ordentliches«. »Im fremden Anspruch verkörpert sich ein Außer-ordentliches, das nur in unseren Antworten auftritt (…).« 25

D.

Die Response als Erschließung der Erscheinungsweise X

Für den religiösen Kontext, für die Rede von Gott gilt also: Pathos und Response sind miteinander verwoben, sind Aspekte eines Geschehens und doch himmelweit getrennt. Die Response ist unser Antworten und als solche ist sie uns im Gegensatz zum Pathos auch zugänglich. Allerdings sind die Phänomene, die die Response im Waldenfels’schen Sinne konstituieren, nicht Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur, sondern solche der Erscheinungsweise X. Das heißt auch, die Antworten sind nur rudimentär mit Ordnungen verbunden. Unsere Antwort ist nicht einfach eine notierbare Antwort, wir suchen mit Mühe nach Worten, wenn wir religiöse Erfahrungen

»Vielmehr changiert unsere Betroffenheit zwischen der Vertrautheit mit dem uns zuträglich Zugehörigen und einer Scheu vor dem gleichwohl Fremden.« Schlette 2013: 375. Schlette formuliert in ganz ähnlicher Weise: »Das Heilige erleben wir als das sich zugleich Zeigende und Entziehende.« Schlette 2013: 380. 25 Waldenfels 2012: 408. (Hervorhebung im Original)

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

beschreiben wollen, wenn wir unsere Antwort auf das religiöse Pathos einfangen wollen. Die Phänomene, die die Response darstellen, zeigen keine eindeutige Struktur. Es sind aber genau diese Phänomene, auf die im gelingenden Fall die Ricœur’schen Grenzausdrücke verweisen. Waldenfels plädiert gerade im Kontext religiöser Erfahrungen mit Nachdruck für ein indirektes Reden, denn jede begriffliche Fixierung würde nicht nur das Pathos, sondern auch die Response verfälschen. Die Theologie als Lehre religiöser Rede darf sich nicht von dem Reiz vermeintlicher Eindeutigkeiten vereinnahmen lassen. Religiöse Rede und damit auch die Rede von Gott haben es notwendigerweise mit Phänomenen der Erscheinungsweise X zu tun: Sie ist durchdrungen vom Fremden. Das gilt nicht nur für das Pathos, sondern auch für die Formen der Response, die wir Menschen finden. Eine Religionsphänomenologie muss auf der Grundlage einer responsiven Phänomenologie nach Waldenfels einigen Kriterien genügen, um der Response gerecht werden zu können. Diese Kriterien sind Vorsichtsmaßnahmen, damit nicht falsche Identifizierungen vorgenommen werden. 26 So gilt erstens, dass der Anspruch des Pathos immer mehrere Antworten zulässt. Antworten stehen nicht in einer definierten Relation zum Anspruch, das Geschehen untersteht keiner Ordnung. Damit gibt es auch nicht die eine richtige, adäquate Antwort. Es gibt aber immer Antworten, die mit existentiellem Ernst von dem Erfahrenen zeugen; die jeweiligen Antworten sind auch nicht durch andere auszutauschen, wir haben ihnen gegenüber keine souveräne Haltung, wir können sie nicht manipulieren, wir können sie aber bezeugen. Es gilt zweitens, dass wiederholtes Antworten notwendig wird, gerade weil der Anspruch des Pathos nicht einzufangen ist. In der Rede von Gott sagt man nicht einmal, was »Sache« ist und hat damit genug getan. Die Rede von Gott geschieht immer wieder neu und ist für die, die reden, wie auch für die, die hören, immer wieder anders. Die religiöse Erfahrung erscheint immer wieder ungeVgl. Waldenfels 2012: 408 ff. Auf diese Weise verhindert die Differenzierung von Pathos und Response, die Beschreibung der Phänomene mit religiöser Deutung zu überlasten. Janicaud, der die Vereinnahmung der Phänomenologie durch theologische Positionen kritisiert, diagnostiziert die Tendenz zu einer »phénoménology de l’inapparent (Phänomenologie des Unscheinbaren).« Tengelyi 2009: 134. Die Position eines »methodischen Atheismus«, die Janicauld fordert, verlässt der Ansatz von Waldenfels gerade deshalb nicht, weil er strikt zwischen dem Pathos und der Response unterscheidet.

26

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Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

wohnt und gibt etwas zu entdecken. Das ist auch für die Riten festzuhalten, die stets neu vergegenwärtigt werden müssen. Es gilt drittens, dass der religiöse Anspruch und die ihm folgende konkrete Antwort in der existentiellen Verantwortung als eine Singularität verstanden werden müssen, »die sich den Ordnungsschemata von Urbild und Abbild, von Regel und Regelfall entzieht.« 27 Jede allgemeine Rede von »der Religion« wird angesichts dieser Verhältnisse prekär, weil sie eine Überordnung suggeriert, die für das Geschehen nicht reklamiert werden kann. Es gilt viertens, dass eine Antwort unausweichlich erscheint, wenn der Anspruch des Pathos erlebt wird. Sie ist nicht nur möglich, könnte aber auch vermieden werden. Man kann nicht nicht antworten. Gerade diese Nötigung zeigt aber den existentiellen Ernst, der sich in der religiösen Erfahrung zum Ausdruck bringt. Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, können dies als identitätsprägend erleben. Die Beschreibung der menschlichen Response auf die Zuwendung Gottes kann auf der Grundlage einer responsiven Phänomenologie als Erkundung von Wirklichkeit in der Erscheinungsweise X gedeutet werden. Damit erweitert sich der Interpretationsrahmen des Vorgangs x ! a nach Jüngel. Es sind nicht nur Erzählungen, Gleichnisse und andere Redeformen, die als Antwort auf das Angesprochensein durch Gott gelten können. Ebenso sind es jene Phänomene, die diese Erzählungen begleiten und die in der Erscheinungsweise X zu verorten sind. Diese Phänomene sind allerdings von großer Wirkung, weil sie einen indirekten Einfluss auf alle Phänomene der Wirklichkeit haben können. Wir werden dies als Effekt des Hintergrunds noch näher beschreiben. Wir haben keine Instrumentarien, keine Methoden, um eindeutig auf diese Phänomene zu verweisen, um sie auszeichnen zu können. Auch ist es nicht möglich, über sie zu verfügen. Ein Grenzausdruck wird nicht schlicht deshalb zu einem Grenzausdruck, weil wir ihn zu diesem Zwecke verwenden. Dies würde den Begriffen eine magische Kraft zusprechen, die ihnen nicht zukommt. Grenzausdrücke können die Sicht auf die Wirklichkeit verändern, sie können aber auch nur als sinnlose Worte gehört werden. In dem einen Fall zeugen Grenzausdrücke von unserer Antwort auf die Zuwendung durch Gott, sie weisen auf unsere Response als Teil der Erscheinungsweise X. Im anderen Fall sind sie lediglich Worte einer kontingenten religiösen Tradition. Hier gibt es keinen Automatis27

Waldenfels 2012: 409.

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

mus, alle Rede von Gott ist als menschliche Rede dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt.

E.

Die Response als Hyperphänomen

Waldenfels beschäftigt sich in jener Veröffentlichung, in der er auch auf die Interpretation von Religionen eingeht, intensiv mit den von ihm so genannten Hyperphänomenen. Ein Hyperphänomen definiert er in folgender Weise: »Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist. Darin liegt ein Paradox, das an die Identität von Dingen und Bezugsobjekten, aber auch an die Identität unserer selbst und aller anderen rührt (…). Was hier auf dem Spiel steht, lässt sich weder als bloßer Teil einem Ganzen einordnen noch als bloßer Fall einem Gesetz unterordnen.« 28 Der zweite Satz ist von größter Wichtigkeit: Einerseits weisen Hyperphänomene über sich selbst hinaus, andererseits tun sie es aber im Gegensatz zu den metaphysischen Ansätzen nicht so, dass sie dadurch eine Ordnung konstituieren. Es gibt dadurch eine gewisse An-archie, die den Hyperphänomenen eigen ist. »Das Außerordentliche, das die Grenzen einer Ordnung überschreitet und über das Normale hinausschießt, bildet die Kehrseite von Ordnungen (…).« 29 Hyperphänomene sind keine Phänomene der Wirklichkeit, durch die diese als ein geschlossenes Ganzes erscheinen könnte. Damit setzen Hyperphänomene schon aus sich heraus eine Differenz, sie sind nicht selbstgenügsam, sondern weisen über sich selbst hinaus. Mit den Hyperphänomenen ist auch das traditionelle Thema der Differenz von Immanenz und Transzendenz berührt. Hyperphänomene lassen sich als Überschreitungen deuten, als Überschreitung einer Grenze, einer Ordnung oder als stufenförmiger Aufstieg. 30 Doch möchte sich Waldenfels nicht auf eine Alternative zwischen Immanenz und Tranzendenz einlassen: »Unsere Überlegungen schließen letzten Endes zwei Extreme aus. Sie richten sich einerseits gegen jede Art von Immanentismus (…). Sie richten sich andererseits gegen alle Versuche, auf direktem Weg zu einer reinen Transzendenz zu gelangen (…).« 31 Immanenz und Transzendenz stehen sich so 28 29 30 31

Waldenfels 2012: 9. (Hervorhebung im Original) Waldenfels 2012: 48. Vgl. Waldenfels 2012: 48. Waldenfels 2012: 52. (Hervorhebung im Original)

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Zum philosophischen Ansatz von Bernhard Waldenfels

nicht mehr als unterschiedliche Sphären gegenüber. Es zeigt sich kein Dual, sondern ein Ineinander zweier Größen, die in unabhängiger Eigenständigkeit sofort ihre Bedeutung verlieren würden. Immanenz und Transzendenz sind aneinander gebunden wie das Paar Eigenes und Fremdes. Transzendenz wird erkennbar im Vollzug einer Bewegung, im »über … hinaus«. Sie ist keine statische Größe, so wenig wie das Fremde als Abgesondertes beschrieben werden könnte, nicht ohne den Gehalt und die Dynamik des Begriffs zu verlieren. Transzendenz und Immanenz erzeugen in diesem Ansatz eine große dialektische Spannung, es geht vielmehr um die Bewegung des Transzendierens, die in einer Verfestigung zum Stillstand und zu einer weltanschaulichen Verhärtung führt. Hyperphänomene können nicht nur die Bewegung des Transzendierens zum Ausdruck bringen, sie lassen sich auch mit dem schon genannten spannungsvollen Geschehen von Pathos und Response verbinden und bringen einen Überschuss zum Ausdruck, der sich Regelungen und Ordnungen entzieht: »Dieses Wovon und Worauf, das jeder Intention und jeder Regelung vorausgeht und sie übersteigt, ist strenggenommen bedeutungs- und regellos. Es lässt sich nur indirekt erfassen als pathischer und responsiver Überschuss, als Hyperphänomen.« 32 Sind nun Hyperphänomene Ausnahmeerscheinungen, also seltene Erfahrungen, die man hin und wieder machen kann oder zu denen nur wenige einen Zugang haben? Tatsächlich verhält es sich anders, da die Hyperphänomene in der menschlichen Erfahrung in gewisser Weise ubiquitär sind. Zu den Beschreibungen von Hyperphänomenen zählt Waldenfels auch die Behandlung des Unsichtbaren durch Merleau-Ponty. 33 Das Unsichtbare im Sinne Merleau-Pontys ist keine Ausnahme von der Regel, sondern zeigt sich indirekt in allem Sichtbaren. Es ist der Begriff des Unsichtbaren in der Spätphilosophie Merleau-Pontys, den Waldenfels mit seinem Begriff des Fremden refiguriert: »Dennoch scheint es ›etwas‹ zu geben, das uns nicht schon ›als etwas‹ begegnet und das in diesem Sinne kein eigentliches Etwas ist, nämlich das Fremde.« 34 Es gibt »eine Fremdheit dieser Welt und dieses Ichs, die entsprechende Formen der Unsichtbarkeit nach sich zieht.« 35 So wie das Fremde überall gegenwärtig ist, so 32 33 34 35

Waldenfels 2012: 179. (Hervorhebung im Original) Vgl. Waldenfels 2012: 104. Waldenfels 2012: 108 f. Waldenfels 2012: 109. (Hervorhebung im Original)

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

gibt es auch in jeder Erfahrung Hyperphänomene, in denen sich mehr und anderes zeigt, als es ist. Die Kategorie des Unsichtbaren bzw. des Fremden weist darauf hin, dass wir es stets mit einem Differenten zu tun haben, mit etwas, was sich zeigt und zugleich entzieht, was in unseren expliziten Wirklichkeitsvorstellungen nicht aufgeht, was sich unseren Kategorien entzieht, ohne dass dadurch alles in ein rein Numinoses abgleitet. Das Unsichtbaren verbindet Waldenfels mit einer Interpretation, auf die wir noch ausführlicher zu sprechen kommen werden: »Das Un-sichtbare bildet keinen Gegensatz zum Sichtbaren, sondern dieses hebt sich ab von einem Hintergrund des Unsichtbaren.« 36

2.

Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

A.

Pathos und Response als Deutung der Fundamentaldifferenz

Der philosophische Ansatz von Waldenfels ermöglicht es, die Phänomene der Erscheinungsweise X durch Differenzen – die Differenz von eigen und fremd sowie von Pathos und Response – darzustellen. Seine terminologischen Unterscheidungen bieten eine gute Grundlage, um gerade die Bedeutung dieser Phänomene für die Rede von Gott beschreiben zu können. Durch das Zentrum des Chiasmus x ist »innerhalb« des Chiasmus jene Fundamentaldifferenz repräsentiert, die durch Begrifffe wie das Unbedingte, das Geheimnis, die Lücke, die radikale Passivität beschrieben wird. All diese Zugänge und Umschreibungen zeigen, dass man sich nur indirekt dem Gemeinten nähern kann. Dalferth formuliert in großer Nähe zu Waldenfels: »Erfahren wird Gottes Präsenz dementsprechend nicht als solche, sondern als das, was mit den Phänomenen da ist, ohne selbst Phänomen zu sein. Genauer – und das macht sie zur radikalen Präsenz einer radikalen Andersheit, was mit ganz konkreten Phänomenen so da ist, dass diese als Zeichen für Gottes Präsenz verstanden werden, ohne dass Gott selbst je zum Zeichen würde.« 37 Wie aber kann man die Präsenz Gottes mit anderen Phänomenen so in Beziehung setzen, so dass diese Beziehung nicht Gottes Unbestimmbarkeit widerspricht? 36 37

Waldenfels 2012: 107. (Hervorhebung im Original) Dalferth 2010: 268. (Hervorhebung im Original)

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Das ist ein grundlegendes theologisches Problem, das eine kontinuierliche Unterscheidungsleistung erfordert. 38 Mit Hilfe der Waldenfels’schen Terminologie der Unterscheidung von Pathos und Response kann man dem Dilemma zwischen folgenden Optionen entkommen: Entweder man akzeptiert die völlige Unbestimmtbarkeit der Phänomene im Zentrum des Chiasmus und schweigt folglich oder aber man identifiziert Gott mit bestimmten, etwa religiösen Phänomenen auf unstatthafte Weise. Während das Pathos unzugänglich bleibt, ist die Response zu einer Näherbestimmung fähig. Die Response als Teil der Erscheinungsweise X bleibt nicht selbstgenügsam, sie weist im Kontext der Rede von Gott als Hyperphänomen über sich selbst hinaus, zurück auf etwas Unbestimmtes-Unbestimmbares. Die Phänomene der Response sind in diesem Sinne Hyperphänomene, sie weisen auf etwas, was sich nicht zeigt. Menschen können die Erfahrungen mit Gott bezeugen, weil sie zu einer Antwort fähig sind. Dies ist nicht eine Antwort auf Anfragen oder Aufforderungen anderer Menschen, es ist eine Antwort auf die Zuwendung Gottes. Wer Erfahrungen mit Gott macht, erlebt etwas. Diejenigen, die von Gott reden, zeigen sich begeistert, erfüllt, getragen, gewiss und zuversichtlich. Sie verfügen aber in keiner Weise über die Zuwendung Gottes, auf die hin sie antworten. Schon die Tatsache, dass man das, worauf sie antworten, »Zuwendung Gottes« nennt, ist streng genommen Teil einer interpretierenden Antwort. Wenn man die Differenz von Pathos und Response auf das Problem anwendet, dann ist die Response das menschliche Zeugnis der Erfahrung mit Gott, das Pathos aber ist unmittelbar verbunden mit Gottes Zuwendung, Gottes Präsenz, Gottes schöpferischem und vergebendem Handeln. Hier ist der Mensch vollkommen passiv, deshalb kann man das Geschehen nicht bestimmen, es gibt keine Worte, keine Handlungen, keine distinkten Wahrnehmungen. Das Pathos im Zentrum des Chiasmus x, auf das die menschliche Response ergeht, ist in keiner Weise durch eine menschliche Aktion zugänglich. Das Response-Verhalten im Waldenfels’schen Sinne besteht nun zunächst einmal aus Phänomenen der Erscheinungsweise X. In einem erweiterten Sinne, eingedenk der Bestimmungen der hermeneutischen Grenzausdrücke und der Tatsache, dass Menschen, die ErfahBarth operiert mit dem Begriff des Horizontes, um Unbedingtes und Bedingtes in Beziehung zu setzen, ohne eine feste Relation aufzubauen: Religion ist »die Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten.« Barth 2003 (3): 10.

38

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

rungen mit Gott machen, auch darüber zu reden beginnen, besteht die Response genauer besehen sowohl aus Phänomenen der Erscheinungsweise X als auch aus Phänomenen der Erscheinungsweisen Kultur, also aus existentiellen Erfahrungen und aus Worten, aus Redeformen. Beide Erscheinungsweisen sind an dem Antwortverhalten beteiligt, beide sind aber nicht voneinander getrennte Phänomene, die Grenzausdrücke wollen auf die Phänomene der Erscheinungsweise X weisen, gerade dies macht sie zu Grenzausdücken. In der Erscheinungsweise Kulturg sind es die Erzählungen und Texte, die in Kombination mit Grenzausdrücken zu der Antwort der Menschen gehören, in der Erscheinungsweise X ist es ein Response-Phänomen, das mit dem Pathos-Phänomen verknüpft ist. Die Spannungsverhältnisse zwischen Pathos und Response sowohl innerhalb der Erscheinungsweise Kulturg als auch innerhalb der Erscheinungsweisen X sind elementar, damit nicht eine verfälschende Verkürzung geschieht, was im Bereich der Religion erhebliche Konsequenzen hat: »Versucht man das Spannungsverhältnis in die eine oder die andere Richtung aufzulösen, indem man das Pathos von der Response oder umgekehrt diese von jenem ablöst, so gerät man einerseits auf die Bahnen eines Fundamentalismus, andererseits auf die eines Konstruktivismus (…).« 39 Das Spannungsverhältnis ist ein solches, das sich in der Erscheinungsweise X, aber darüber hinaus auch in der Erscheinungsweise Kulturg ausprägt. In der Erscheinungsweise Kulturg kann es, wenn man das nicht beachtet, zu einer verkürzten Interpretationen der Rede von Gott kommen: Es besteht einerseits die Gefahr, die Spannung durch einen Fundamentalismus aufzulösen und das eigene Wort zu dem einen wahren göttlichen Wort zu machen, wie auch andererseits die Gefahr einer konstruktivistischen Beliebigkeit, in der alle Wörter auswechselbar werden. So wie in der Hermeneutik eine bleibende Spannung diagnostiziert werden kann, so gilt das ebenfalls für die phänomenologische Analyse. Pathos und Response können nicht aufeinander reduziert, aber auch nicht voneinander getrennt werden. Auf das Absolute, auf Gott, werden Menschen als respondierende Wesen nur aufmerksam, wenn sie die Spannungen, die sich bilden, nicht auflösen, wenn die eigenen Resonanzphänomene als Hyperphänomene über sich selbst auf das Pathos hinausweisen. Menschen, die solchermaßen »angerührt« sind, reden von Gott, in-

39

Waldenfels 2006: 50.

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

dem Worte zu Grenzausdrücken werden und auf eine phänomenale Response zielen, deren Phänomene aber immer menschliche Antwort bleibt. Die Zuwendung Gottes, das Pathos geschieht aus menschlicher Perspektive »mere passive«, es ist nicht Folge einer Wahl. Die Spannungsverhältnisse sind nicht statisch: Weder zeigen sich in dem Responseverhalten der Menschen auf das göttliche Pathos immer dieselben Phänomene, noch werden dieselben Worte zu Grenzworten: Unterschiedlich sind die Weisen des Redens von Gott, unterschiedlich sind die Ausdrücke, die die menschliche Response einzufangen suchen. Jedoch ist der Unterschied nicht darin begründet, dass es sich um innere Erfahrungen unterschiedlicher Individuen handelte. Die Erfahrungen selbst sind innerhalb der Erscheinungsweise X jenseits fester Wort-Relationen und deshalb können die Bezüge zu den Worten immer wieder variieren. Das Pathos aus der Zuwendung Gottes verbindet sich immer neu mit jener Rede von Gott. Wenn man das Geschehen der Rede Gottes in dieser Weise aufschlüsselt, wird deutlich, dass die Rede stets verbunden ist mit einem phänomenalen Geschehen, das weder beliebig ist, noch im rein Numinosen verbleibt. Die Rede von Gott ringt um Verständlichkeit, gerade weil nicht einfach alles unverständlich ist. Wenn man die über sich selbst hinausweisenden Grenzausdrücke mit Hilfe von Phänomenen der Erscheinungsweise X deutet, dann stößt man auf Hyperphänomene, die ein aufleuchtendes Licht in das Halbdunkel der Erscheinungsweise X werfen. Die Metapher »Licht ins Halbdunkel zu werfen« kann leicht missverstanden werden. Es geht vor allem und zuerst um die Bewegung Gottes x ! a, von hier aus erscheint das Licht des Lebens. Nur so ist es möglich, dass Menschen sich gegenseitig auffordern können, auf die Phänomene der Erscheinungsweise X zu achten. Es geht nicht um die Attraktivität des Numinosen, weil es unverstanden ist, sondern es geht um eine nachträgliche Vergewisserung, weil man das Licht von hier aus schon erfahren hat. Gleiches gilt für den Nutzen der Grenzausdrücke. Auch sie machen nur dann Sinn, wenn man sagen kann: deus dixit. Wer ernstlich von Gott redet, kann das nur so, dass sie oder er zugleich die existentielle Verbundenheit mit Gott erlebt und von der Erfahrung der Zuwendung her kommt. Für ein Verständnis dieser Erfahrung sind die Phänomene der Erscheinungsweise X als Hyperphänomene eine große Hilfe. Auf Grundlage dieser Analyse ist es möglich, die sprachlichen Bilder biblischer Texte neu zu validieren. Sie sind nicht einfach alte Worte, deren Gehalt heute unverständlich geworden ist oder die gar unter den 305 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

modernen Vorstellungen von der Welt keinen Ort mehr haben, vielmehr sind sie wie Hinweisschilder, die menschliche Erfahrungen mit Gott ausweisen, ohne diese direkt zu erfassen. Die folgenden phänomenologischen Analysen können hier eine unterstützende und plausibilisierende Funktion haben.

B.

Grenzausdrücke als Response-Phänomene in der Rede von Gott

Im Folgenden sollen einige Grenzausdrücke der Rede von Gott darauf hin untersucht werden, auf welche Response-Phänomene und Erfahrungsqualitäten sie weisen können. Die Untersuchungen, die die Phänomene der Response in der Erscheinungsweise X umkreisen, können wiederum nur als Protreptik verstanden werden, sich mit eigenem existentiellem Engagement dem Verständnis der Grenzausdrücke zu widmen. Welchen Beitrag können aber die phänomenologischen Untersuchungen leisten? Sprechen sie in verständlicheren Begriffen von demselben, was alte und eigentümliche Grenzbegriffe der Rede von Gott intendieren? Ließe sich so eine Abkürzung denken, dergemäß man sich in der Theologie künftig eher mit phänomenologischen Analysen beschäftigen sollte statt mit biblischen Erzählungen? Das wäre eine Verkehrung der Verhältnisse. Hier gilt, was für die Anwendung des Schemas des Chiasmus im Ganzen zutrifft: Das Verhältnis des Schemas zu den biblischen Erzählungen ist das einer begleitenden Heuristik, es ist eine heuristische Hilfe, um die Aussagekraft der letzteren zu erhöhen. Auch die folgenden Untersuchungen haben eine assistierende Funktion, sie versuchen, die biblischen Grenzausdrücke durch phänomenologische Analysen in ihrer wirklichkeitserschließenden Kraft plausibler zu machen, ohne sie deshalb übersetzen oder gar ersetzen zu können. Weiterhin ist an die Aussagen von Ricœur zu erinnern: So wie die Metapher nur in der größeren Einheit der Aussage zur Entfaltung kommen kann, so können auch die Grenzausdrücke nur dann zu solchen werden, wenn sie in die Rede von Gott eingebettet sind. Extrahiert man einen solchen Begriff, etwa den des »Reiches Gottes«, so hat dieser Begriff nichts Magisches, keine inhärenten Kräfte, die das Wort als Wort mit Hyperphänomenen verbinden. Nur im Kontext der Rede von Gott ist das möglich. Die folgende Untersuchung hat vor allem die Aufgabe, das, was geschieht, wenn es geschieht, mit 306 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

phänomenologischen Methoden zu betrachten. Sie will plausibel machen, dass sich Grenzausdrücke tatsächlich durch Phänomene der Erscheinungsweise X erfassen lassen. Sie will zeigen, dass die Grenzbegriffe nicht alte mythische Redeformen sind, die wir heute als obsolet erklären sollten, sondern dass sie auch heute als adäquate Weisen verstanden werden können, die Response auf die Zuwendung Gottes in Worten zum Ausdruck zu bringen. Die Zugänge zur Erscheinungsweise X, die aus den Grenzausdrücken der Rede von Gott möglich werden, sind nicht als subjektive Erfahrungen, als innere Zustände oder als unzureichende Selbstdeutungen zu verstehen, sondern als Zugänge zur Deutung von Wirklichkeit. Das responsive Erleben der Menschen, das sich in der Rede von Gott bezeugt, ermöglicht, auf eine spezifische Weise Wirklichkeit zu entdecken. Die Rede von Gott ist somit eine Möglichkeit, sich in ungebahntem Gelände zu orientieren. Sie handelt von keiner diffusen Transzendenz, sondern von der Wirklichkeit, in der wir in jedem Moment existieren. Sie ist weder die einzige noch eine notwendige Form der Orientierung. Unter den Bedingungen der Erscheinungsweise X gibt es grundsätzlich keine, aus Ordnungen ableitbare Notwendigkeit. 40 Aber diese Wirklichkeitserschließung kann bezeugt werden. Die folgenden phänomenologischen Umschreibungen der Grenzbegriffe können in kein Ordnungssystem eingebunden werden. Sie sind eher eine kritische Kraft gegen alle menschlichen Ordnungen, die diesen Erfahrungen keinen adäquaten Raum geben können. Die sich hier anschließenden phänomenologischen Betrachtungen verstehen sich als explorierende Versuche. Sie sind für die zu behandelnden Textstellen nicht vollständig und sie ersetzen auch nicht eine Exegese. Sie wollen exegetische Bemühungen konstruktiv-kritisch begleiten und auf den Bezug auf die Phänomene der Erscheinungsweise X hinweisen, die durch biblische Grenzbegriffe angezeigt werden. Sie sind als Aufforderung zu verstehen, die biblischen Texte in ihrer eigenständigen Leistung der Erschließung der Wirklichkeit wahrzunehmen. Diese Deutung ist relativ unabhängig von der zeitlichen und kulturellen Differenz, weil sie sich ja auf Phänomene der Erscheinungsweise X beziehen, die kulturellen Veränderungen gegenüber weitgehend invariant ist. Im diesen Sinne lässt sich auch die Jüngelsche Formel »mehr als notwendig« im Rahmen dieses phänomenologischen Ansatzes deuten: »Gott ist mehr als notwendig.« Jüngel 1977: 43.

40

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Im Mittelpunkt steht der Grenzausdruck »Reich Gottes«. 41 Er soll gleich zweifach ausgelegt werden, einerseits im Kontext der Predigt Jesu, wie sie bei Markus aufgeschrieben steht (Mk 1,15), andererseits in Bezug auf eine zentrale Stelle bei Lukas (Lk 17,21). Die Rede vom Reich Gottes ist eng mit Vorstellungen von Raum und Zeit verbunden. Dies wird ergänzt durch eine Reflexion des Grenzausdrucks »Himmel«. Ein weiterer Schwerpunkt soll auf den personalen Aspekten in der Rede von Gott liegen. Was bedeutet es, dass wir Gott den Vater nennen? Wieso können wir mit Paulus davon reden, dass »in Christus« alle Menschen eins sind?

C.

Das Reich Gottes ist nah und gegenwärtig »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen (πεπλήρωται ὁ καιρὸς καὶ ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ).« (Mk 1,15).

Die Rede von Gott, die von Jesus selbst überliefert ist, setzt nach übereinstimmendem Zeugnis der synoptischen Evangelien die Ankündigung des Reiches Gottes bzw. des Himmelreiches in den Mittelpunkt (Mt 4,17; Mk 1,15; Lk 8,1). Die βασιλεία τοῦ θεοῦ (basileia tou theou) bei Markus und Lukas bzw. die βασιλεία τῶν οὐρανῶν (basileia ton ouranon) bei Matthäus verweisen auf die Rede von der Königsherrschaft Gottes. 42 Jesus von Nazareth setzt sein Auftreten, seine Botschaft und sein Handeln mit dem Reich Gottes in Beziehung: »Jesus verkündet das messianische Reich Gottes. Das Besondere seiner Verkündigung des Reiches liegt darin, dass er die Nähe, das Eingehen und das Ererben des Reiches an die Entscheidung und Stellung der Hörer zu seiner eigenen Person bindet.« 43 Apokalyptische und weisheitliche Texte im Judentum um die Zeit Jesu kennen bereits die Rede vom Reich Gottes. In diesem Traditionsbestand gibt es zwei Interpretationen dieser Rede. In der ersten ist Gott schon jetzt der König Israels, in der zweiten ist mit dem Reich Gottes eine endzeitliche, eschatologische Größe gemeint, die am Ende der Tage heraufziehen wird und die mit einem Gericht Gottes über die Menschen verbunden 41 42 43

Vgl. Ricœur 1975 (1): 318. Vgl. Joest 1986: 630. Moltmann 2005: 198.

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

ist. Vor diesem Hintergrund setzt die Predigt Jesu andere Akzente. Der Gerichtsgedanke tritt deutlich zurück, es ist eher von einem umfassenden Geschehen, einer umfassenden Dynamik die Rede, die sich jetzt schon, in der Predigt und der Person Jesu ankündigt. Diese Dynamik spiegelt sich in den Bezügen auf Zeit und Raum. Zentral ist dabei das Wort ἐγγίζω (engizo): Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. ἐγγίζω hat sowohl einen zeitlichen als auch einen räumlichen Aspekt und ist in neutestamentlichen Texten sowohl mit einer Zeit- wie auch mit einer Ortsangabe verbunden. 44 Das Nahen des Reiches Gottes in der Predigt Jesu ist ein Geschehen, das die Welt und ihre Veränderung hier und heute zum Ausdruck bringt, der Terminus »Reich Gottes« steht für ein eschatologisches Geschehen, das unmittelbar an die Gegenwart heranrückt. 45 Der zeitliche Moment wird neben dem eninken durch den Begriff des kairos bestärkt. Die Predigt Jesu beginnt mit den Worten: »Die Zeit ist erfüllt (πεπλήρωται ὁ καιρὸς)« (Mk 1,15). In der erfüllten Zeit ist das Reich Gottes nahe herbeigekommen. Der kairos ist in der Auslegung der Tradition ein Moment der Erfahrung von Gottes Nähe, der nicht gesteuert, nicht geschaffen werden kann. Gott zeigt sich in diesen Momenten der erfüllten Zeit. Ricœur hat in seiner Auslegung der Gleichnisse Jesu die zentrale Bedeutung des Grenzausdrucks »Reich Gottes« hervorgehoben. Insbesondere der Vers aus dem Lukas-Evangelium (Lk 17,21) dient Ricœur zur Bestätigung seiner These: »Wenn Jesus sagt: ›Das Reich Gottes ist mitten unter euch‹, dann konfrontiert er seine Hörer mit dem apokalyptischen Symbol in Form eines echten Spannungssymbols, das kräftig genug ist, eine ganze Reihe von Bedeutungen wachzurufen.« 46 Der Grenzausdruck »Reich Gottes« ist nicht eine Ergänzung einer schon bestehenden Ordnung, sondern stellt alle Ordnungen in Frage und kann damit gerade eine Neuorientierung ermöglichen: »(…) popular wisdom has achieved a first orientation, but the proverb in the Synoptic Gospels intends to reorient us by disorienting us. (…) Every literal temporal scheme capable of providing a framework to read the signs of the kingdom collapses.« 47 Der Grenzausdruck weist auf Phänomene, die sich einer sprachlichen Ver44 45 46 47

Vgl. Preisker 1954: 331. Vgl. Preisker 1954: 330. Ricœur 1975 (1): 321. Ricœur 1978: 59.

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

mittlung entziehen: »In this regard the expression ›kingdom of God‹ may be understood as the index that points limit-expressions in the direction of limit-experiences that are the ultimate referent of our modes of speaking.« 48 Ricœur legt den Grenzausdruck mit Hilfe der hermeneutischen Methoden aus. Er zeigt, dass dieser über die Ordnungen der Rede hinausweist und die Rede selbst unter starke Spannungen setzt. Wie kann man nun mit den Erkenntnissen, die wir aus der Betrachtung der Erscheinungsweise X mit Hilfe phänomenologischer Methoden gewonnen haben, den Grenzausdruck als eine Weise der Erschließung von Wirklichkeit deuten? Offenkundig spielen räumliche und zeitliche Verhältnisse eine große Rolle für den Gebrauch des Begriffes in der Predigt Jesu. Hier und heute, so ist die Botschaft für die Zuhörenden, hebt das Reich Gottes an. Kann das auch auf das Hier und Heute der zeitgenössischen Leserinnen und Leser, auf das 21. Jahrhundert übertragen werden? Das ist in der Tat möglich, wenn man Raum und Zeit mit Hilfe einer phänomenologischen Analyse genauer qualifiziert. Insbesondere geht es darum, wie sich in, mit und unter den uns bekannten alltäglichen Dingen Phänomene zeigen, die als menschliche Response auf indirekte Weise auf das göttliche Pathos deuten. Hierzu ist eine phänomenologische Umschreibung des eninken und des kairos vonnöten.

Das Reich Gottes ist gegenwärtig Die Phänomene der Erscheinungsweise X sind durch eine spezifische Zeiterfahrung bestimmt, Zeit erscheint hier als Gegenwärtigkeit, als gedehnte Gegenwart. Die Phänomene sind selbst gedehnt, Gegenwart zeigt sich nicht durch einen Vergleich mit anderen Phänomenen. Gegenwart in dem hier verstandenen Sinne ist deshalb auch nicht eine Bestimmung der Zeit, so dass man sich etwa in einem Dialog mit anRicœur 1978: 60 f. (Hervorhebung im Original) In späteren Texten hat Ricœur eine wichtige Ergänzung vorgenommen. Der Ausdruck »Reich Gottes« ist auch deshalb ein Grenzausdruck und geeignet, religiöse Valenzen zu tragen, weil sein Gebrauch nicht nur in den Gleichnissen stattfindet, sondern diese Gleichnisse wiederum interpretiert werden durch ihre Rolle innerhalb der Evangelien. So erkennt er, »that the structure embedding one narrative in another narrative is the fundamental framework for the metaphorical transfer, guided by the enigma-expression ›kingdom of God‹.« Ricœur 1981: 149 f. Dies ist zugleich ein weiterer warnender Hinweis, die Grenzausdrücke nicht isoliert zu behandeln.

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deren Menschen auf die Gegenwart mittels Uhrzeit und Datum einigen könnte. Denn dann wären die Phänomene der Erscheinungsweise X doch Teil einer umfassenderen Ordnung, nämlich der Ordnung der metrisch bestimmten Zeit. Waldenfels hat die temporalen Aspekte mit der Struktur von Pathos, Response und Diastase beschrieben. Die Diastase steht für die besondere Charakteristik der Zeit in diesem Geschehen. Sie bezeichnet eine Verschiebung, nicht einen Ablauf, der sich in verschiedene Zeitpunkte gliedern ließe. Die Diastase ist als ein originäres Zwischengeschehen zu verstehen, »als Riss ohne etwas, das zerreißt, als Spalt, ohne etwas, das sich aufspaltet, als Pause, ohne etwas, das aufhört und wieder beginnt, als Abweichung, ohne etwas, das abweicht – und so eben als Diastase ohne etwas, das auseinandertritt.« 49 In dieser Beschreibung kann man wiederum gut die Spannung nachvollziehen, die unsere Untersuchung der Rede von Gott begleitet. Die Diastase spreizt zwei Momente zu einem Spannungsbogen, ohne ihn zu zerreißen, sie zieht auseinander, ohne zu trennen. 50 Das Hauptproblem unseres Verständnisses von Zeit besteht darin, dass wir gewohnt sind, sie in objektivierenden Maßstäben zu fassen. Was auch immer als Zeit erscheint, wir reduzieren es auf Zeitpunkte, die wir zueinander in Verhältnis setzen. Dies entspricht aber der Art, wie die Zeit sich in der Erscheinungsweise Ding zeigt, in der es fest gefügte räumliche und zeitliche Verhältnisse gibt. Mit dem Ausdruck Diastase ist jedoch eine Weise der Zeit gemeint, die sich aus den Phänomenen selbst als deren Dehnung erschließt. So entsteht die Diastase quasi durch eine Dehnung von innen, »so müssen die notwendigen Differenzen aus dem Prozess der Selbstdifferenzierung hervorgehen« 51. Die Zeit als Gegenwart im hier verstandenen Sinne zeigt sich selbst als gedehnt zwischen dem gerade Anhebenden und dem Vergehenden. »Die Verschiebung hat nicht nur einen zeitlichen Charakter, sie gibt der Zeit selbst ihr eigentümliches Gepräge.« 52 Sie zeigt sich im Vollzug des Erlebens, zu dem es keine Distanz geben kann. Der καιρὸς (kairos) nach Mk 1,15 kann mit Hilfe der Diastase als Hyperphänomen in der Erscheinungsweise X interpretiert wer-

Waldenfels 2002: 174. »Die beiden Pole dieser Urdiastase bilden das Wovon des Widerfahrnisses und das Worauf des Antwortens (…).« Waldenfels 2002: 176. 51 Waldenfels 2002: 181. 52 Waldenfels 2002: 179. 49 50

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

den: In der auf sich selbst gestellten, aus sich selbst begründeten Gegenwart ist die Zeit dann erfüllt, wenn diese Gegenwart über sich selbst hinaus auf die Präsenz Gottes weist. Die Diastase stellt die Verschiebung von Pathos und Response dar; das Pathos ist dasjenige, das mit der Zuwendung Gottes verbunden ist. Das, was wir über diese Zeit sagen können, etwa, dass sie »erfüllt« ist (πεπλήρωται), ist wiederum der Response zuzurechnen. Sie ist menschliche Erfahrung und notwendigerweise der Vieldeutigkeit menschlicher Artikulation ausgeliefert. Menschen, die von Gott reden, bezeugen, dass sie Augenblicke der Nähe Gottes als Momente starker, erfüllter Gegenwart erleben, einer Gegenwart, die zu nichts anderem strebt, die sich nicht als Mangel erlebt, sondern als Leben in Fülle. Interpretiert man die Rede Jesu so, dann ist offenkundig, dass eben nicht ein bestimmter Zeitpunkt – im Sinne einer objektivierbaren Zeitmetrik, also etwa ein Zeitpunkt vor etwa 2000 Jahren –in seiner Verkündigung des Reiches Gottes gemeint ist, zu dem die Rede geschah. Daran könnten wir allenfalls noch ein historisches Interesse haben. Die Rede macht vielmehr darauf aufmerksam, dass wir mitten in unserer Wirklichkeit Zeit in einer solchen Weise mit und durch die Rede von Gott so entdecken können, dass wir sie als erfüllt beschreiben. Die phänomenologische Analyse kann die erfüllte Zeit nicht im Detail ausdeuten. Aber sie kann auf Zeiterfahrungen hinweisen, in der ähnliche Verhältnisse bestehen, ohne damit Identifizierungen nahe zu legen. Wir haben gesehen, dass sowohl Ricœur wie auch Waldenfels durch eine Zurückhaltung gegenüber jeder Betonung von unmittelbarer Erkenntnis oder unmittelbarer Erfahrung geprägt sind. Dies gilt im Besonderen für religiöse Erfahrungen. Waldenfels betont die indirekte Beschreibung, Ricœur die notwendigen hermeneutischen Umwege. Ein solcher Umweg kann in der Beschreibung der gedehnten Gegenwart die Erfahrung mit Musik sein. Im Vorgang des Hörens von Musik dehnt sich die Zeit, eine Zeit, die die Spannung des Melodiebogens konstituiert. Nur dadurch, dass man nicht Ton für Ton hört, sondern im Hörvorgang die vergangenen Töne noch gegenwärtig sind, während die folgenden anheben, ist es möglich, eine Melodie als Gestalt zu hören. Doch geschieht gerade dieses Hören von Musik nicht distanziert, die Hörenden sind vielmehr von der Musik erfasst und umhüllt. Gegenwart hat hier die Eigenschaft, gedehnt zu sein, sich zwischen dem gerade Verklingenden und dem gerade Anhebenden aufzuspannen. Es muss nicht die Musik sein, über die wir auf die gedehnte Gegenwart aufmerksam werden können, 312 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

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Augustinus, den Ricœur als einen der Pioniere dieser Zeiterfahrung nennt, bezieht sich nicht auf die Musik, sondern auf das Sprechen von Silben. 53 Das Hören von Sprache im Vollzug des Sprechens ermöglicht ebenso, auf die Dehnung der Gegenwart aufmerksam zu werden durch den Wechsel des Anhebens und Absinkens der gesprochenen Silben. So gibt es also Phänomene, die durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit der Response auf die Erfahrung der Präsenz Gottes haben können.

Das Reich Gottes ist nah herbeigekommen Ebenso wie einen zeitlichen haben die Phänomene der Erscheinungsweise X auch einen räumlichen Aspekt. Die räumlichen Eigenschaften dieser Phänomene eignen sich besonders gut, ihre Qualität als Hyperphänomene beschreiben zu können. Auch in den räumlichen Bestimmungen kommt es zu Verschiebungen, 54 die Phänomene sind ebenfalls nicht frontal zu fassen, nicht einzuordnen, sondern machen sich als amorphe Formationen, die nur »lateral«, nur indirekt zu beobachten sind. Ebenso wie bei der Zeit zeigen sich auch hier grundlegende Differenzen zu einer physikalischen Bestimmung. Haben wir gerade zwischen der phänomenologisch zu bestimmenden ausgedehnten Gegenwart und der physikalischen Zeit unterschieden, so gilt es nun, zwischen dem wiederum phänomenologisch zu erfassenden Raum und den abstrakten, mathematischen Bestimmungen gehorchenden Raum zu unterscheiden. Die phänomenologischen Annäherungen an die räumlichen Verhältnisse in der Rede vom Reich Gottes können über mehrere unterschiedliche Aspekte erfolgen. Wir beginnen mit einer Bestimmung des Phänomens der räumlichen Tiefe, da mit ihr das Phänomen der Nähe eng verbunden ist und da sie auf eine erweiterte Raumerfahrung hinweist, die eine elementare Bedeutung für die Rede von Gott hat. 55 Bevor wir aber dem Phänomen der Tiefe weiter nachgehen, »In der Tat, wir messen augenscheinlich die Dauer einer langen Silbe an der einer kurzen und sagen, sie sei doppelt so lang.« Augustinus 1985: 324. 54 Vgl. Waldenfels 2002: 176. 55 Beuttler nennt diesen Raum den gelebten Raum: »Wie der gelebte Raum als das Worin meines Daseins mich immer schon umgibt (…), so macht Gott als das Worin meines geschöpflichen Daseins dieses, mir zukommend, immer schon und immer neu zu einem solchen.« Beuttler 2010: 270. 53

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

müssen wir zuerst eine Abgrenzung vornehmen, denn der Begriff der Tiefe hat durchaus eine gewisse Verbreitung in der Philosophie, vor allem aber in der Theologie. Hier wird er allerdings eher in einem Kontext metaphysischer Weltbeschreibungen verwendet. Dann ist der Begriff der Tiefe eng verbunden mit einer bestimmten hierarchischen, vertikal angelegten Weltvorstellung. Der Begriff der »Tiefe« signalisiert dabei paradoxerweise etwas »Hochwertiges«. So kann man »tiefe Gedanken hegen«, man kann »tiefgründig sein«. Die Tiefe wird im Kontext dieser Beschreibungen von der Oberflächlichkeit abgegrenzt. Als ein Beispiel sei ein Zitat von Paul Tillich angeführt, das sich auf diese Lesart des Begriffs der Tiefe bezieht: »Die Oberfläche muss durchstoßen, die Tiefe des Erscheinenden erfasst werden, nämlich die ousia, das Wesen der Dinge, das, was ihnen Seinsmächtigkeit gibt. Dies ist ihre Wahrheit, das wahrhaft Wirkliche im Unterschied zum scheinbar Wirklichen.« 56 Ohne Zweifel sind hier die mit Hilfe des Begriffs der Tiefe vorgenommenen Differenzierungen durch starke Wertungen geprägt. Die Tiefe steht dabei im Gegensatz zur Oberfläche für eine Auszeichnung jener Gedanken durch eine räumliche Metapher, an dem die Wahrheit aufscheint. Von einer solchen Vorstellung des Begriffs wird sich die folgende Untersuchung deutlich distanzieren. Die Beschreibung der Erscheinungsweise X lässt sich mit den Analysen des »wilden« oder »rohen« Seins nach Merleau-Ponty verbinden. 57 Im Zuge der radikalen Versuche, das Zur-Welt-Sein des Leibes zu beschreiben, verwendet Merleau-Ponty unter anderen auch den Begriff der Tiefe. Im Vordergrund steht hier der primordiale, der sich in den Phänomenen der Erscheinungsweise X zeigende Raum des lebendigen Umgangs. Gegenüber dem metaphysischen Begriff der Tiefe ist der von Merleau-Ponty viel an-archischer: »In der Tiefe« zeigt sich, was sich zeigt, auf unverfügbare Weise. »Auch bei Merleau-Ponty schillert die Abgründigkeit in verschiedene Richtungen (…). Auch dieses lässt sich vielfältig verstehen, (…) als Sein, das Tillich 1956: 122. Doch auch Tillich vertritt keine klaren Hierarchien, sondern kommt in der folgenden Formulierung der hier vertretenen Position sehr nahe, die allerdings in einer gewissen Spannung zu der oben zitierten steht: »Das Profane kann der Träger des Heiligen werden. Das Göttliche kann in ihm manifest werden. Nichts ist essentiell und unabänderlich profan. Alles hat die Dimension der Tiefe und in dem Augenblick, in dem diese Dimension sich zeigt, zeigt sich auch das Heilige.« Tillich 1956: 254. 57 Vgl. etwa Merleau-Ponty 1964: 133. 56

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keine der ›Vorstellungen‹ ausschöpft und das alle ›erreichen‹ und das eine ›wilde Bedeutung‹ entfacht, einen ›Polymorphismus‹ in sich birgt (…), das als Horizont fungiert, aus dem Gegenstände und Bedeutungen auftauchen (…).« 58 Die Deutung des Begriffes der Tiefe durchläuft im Werk von Merleau-Ponty Veränderungen, beginnend mit der Darstellung von Ambivalenzen, durch die noch »Die Phänomenologie der Wahrnehmung« geprägt ist, bis hin zu einem radikalen ontologischen Neuanfang in seinen späten Schriften. Den Begriff präzisiert Merleau-Ponty vor allem in Auseinandersetzung mit der Malerei. Die Tiefe weist auf die fundamentale Eigentümlichkeit, der sich jede Bildinterpretation stellen muss: Ein Bild ist zunächst einmal ein fast zweidimensionales, flächiges Artefakt. Doch sein Sujet, das, was es zeigt, kennt sehr wohl räumliche Valenzen. Wie ist es aber möglich, dass wir statt einer farbigen, grob konturierten zweidimensionalen Fläche den Berg Sainte Victoire mit all seiner Schwere und Massivität in den Bildern von Cézanne sehen? Wie ist es möglich, dass wir in Bildern imaginäre Gegenstände in einem fiktiven Raum sehen können? In dem Text »Der Zweifel Cézannes« ist die Tiefe für Merleau-Ponty noch primär ein Element des Bildaufbaus unter anderen, dem man sich aktiv zuwendet: »Wir sehen die Tiefe, das Samtene, die Weichheit, die Härte der Gegenstände (…).« 59 Er neigt dazu, die Tiefenerfahrung dem Subjekt zuzusprechen. 60 In den 1950er Jahren, während der Beschäftigung mit der Sprache aber ändert sich die Bedeutung der Tiefe. Sie wird nun zu einem phänomenologischen Hauptcharakteristikum des Bildes, an dem man insbesondere seine inhärente Dynamik deutlich machen kann, eine Dynamik, die auch dem Sehen im Allgemeinen und damit unserem leiblichen ZurWelt-Sein eignet. Die Tiefe wird nun von Merleau-Ponty mit Begriffen wie Rivalität und Konflikt in Verbindung gebracht, sie steht nicht nur für eine imaginäre Dimension des Subjekts, sondern für eine bestimmten Umgang mit einer grundlegenden Dynamik: »Was ich zu Papier bringe, ist nicht diese Koexistenz von wahrgenommenen Gegenständen, ihre Rivalität vor meinem Blick. Ich finde das Mittel, ihren Konflikt zu schlichten, der die Tiefe ausmacht.« 61 Die Tiefe ist hier die Dimension, in der sich entscheidet, in welchem Zusammen58 59 60 61

Waldenfels 2002: 282. Merleau-Ponty 1948: 20. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 299. Merleau-Ponty 1969: 74.

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hang die Gegenstände, die sich zeigen, miteinander stehen. Dieses Bild der Tiefe ist von einer konstitutiven Unruhe bestimmt. Die Tiefe wird zu einem Schlüssel, mit dessen Hilfe man der Genese von temporären Ordnungen, in der die gesehenen Dinge zueinander stehen, auf die Spur kommt. Merleau-Ponty bezieht sich etwa auf Giacometti, der wiederum von Cézanne behauptet, dieser habe sein ganzes Leben lang die Tiefe gesucht. 62 Die Tiefe ist das, was die Dinge in dem gesehenen Raum miteinander in Beziehung setzt. Von hier aus muss die Entwicklung der Zentralperspektive in der Renaissance als ein Versuch gedeutet werden, die Tiefe zu bändigen und sie in mathematische Verhältnisse einzubinden: »Die Perspektive ist viel mehr als eine geheime Technik, eine Realität darzustellen, die sich allen Menschen dergestalt darböte: sie ist selber die Verwirklichung und die Erfindung einer beherrschten Welt, die ganz und gar in unserem Besitz ist (…).« 63 Doch dies kann die Verhältnisse der Wahrnehmung nicht einholen, die vielmehr von vielerlei Dynamiken geprägt ist, die sich in der Tiefe des wahrgenommenen Raumes ergeben: »Die so verstandene Tiefe ist vielmehr die Erfahrung der Reversibilität der Dimensionen, einer umfassenden Örtlichkeit, wo alles zugleich ist (…).« 64 Der Begriff umschreibt ein fragiles Geschehen, in das die abgebildeten Dinge, eingebunden sind. »Die Tiefe des Bildes (und ebenso die gemalte Höhe und Breite) tragen sich von irgendwoher auf, keimen auf dem, was sie trägt. (…) Und Henri Michaux meint, dass zuweilen die Farben von Klee langsam auf der Leinwand entstanden, aus einer ursprünglichen Tiefe hervorgegangen, ›an der rechten Stelle ausgeströmt‹ zu sein scheinen wie Patina oder Schimmel.« 65 Die Malerei weist auf unsere Wahrnehmung, die nicht so geartet ist wie die Detektion von visuellen Daten durch einen Computer. Gerade weil wir Zugang zur Welt nur durch unseren endlichen Leib haben, können wir aber nicht alles gleichermaßen wahrnehmen. Das ist keine triviale Relativierung eines endlichen Beobachters innerhalb eines objektiven Raumes, sondern sagt etwas über den Raum selbst aus. Anders als im Descartes’schen Panoptikum, das durch Perspektivität und Metrik bestimmt ist, ist die Wirklichkeit der anfänglichen Wahrnehmung, bevor wir uns in dem beherrschbaren me62 63 64 65

Vgl. Merleau-Ponty 1961: 302. Merleau-Ponty 1969: 75. Merleau-Ponty 1961: 303. Merleau-Ponty 1961: 305.

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trischen Raum einrichten, kein geordnetes Ganzes, sondern voller Verwerfungen, Risse und Reibungspunkte. Die Dinge, die in die Aufmerksamkeit drängen, ringen um diese, sie sind in einer offenen Auseinandersetzung. So entstehen nur latente und fragile Ordnungszustände, die immer wieder zugunsten anderer Konstellationen überworfen werden. Während die Perspektive der Renaissance eine Welt der Ruhe darstellt, in der alles seinen ihm eigenen Ort hat, ist die Wahrnehmungswelt, auf die Merleau-Ponty hinweisen will, ganz anders geartet. Der entscheidende Unterschied ist die Reflexion auf die Art und Weise, wie wir in der und mit der Wahrnehmungswelt verbunden sind: ob als beobachtendes, aber getrenntes Bewusstsein oder als leibliche Existenz, deren Ort mitten unter den Dingen ist, die betrachtet werden. So zeigt sich, »dass unser Leib und die Dinge sich in ein einziges Weltgewebe (tissu du monde) einfügen.« 66 Die Tiefe lässt sich in keine Ordnung einbinden, sie macht aber entstehende Ordnungen möglich. Sie lässt Ordnungen zu, ohne dass man sie aus ihr durch einen Mechanismus ableiten könnte. 67 Übertragen auf das Schema des Chiasmus heißt das, dass mit der Tiefe eine Größe in der Erscheinungsweise X angesprochen ist, die mit der Entstehung von Ordnung, das heißt mit der Ausbildung der weiteren Erscheinungsweisen in Verbindung gebracht werden kann. Die Tiefe ist in diesem Verständnis weder das völlige, das undurchdringliche Chaos, noch ermöglicht sie eine kristalline Ordnung. Aus der Tiefe tauchen für den leiblich gebundenen, schweifenden Blick temporäre Ordnungen auf. Erst einem kulturell, und das heißt vor allem durch geübte Handlungen und Sprechvorgänge vermittelten Stil mag es gelingen, dauerhaftere Ordnungen zu schaffen. Es ist aber nach MerWaldenfels 2010: 151. Wie der Begriff Weltgewebe andeutet, sind in den Verhältnissen der Erscheinungsweise X die Bestimmungen nicht einfach zu trennen, Das gilt auch für diejenigen von Raum und Zeit. In verstreuten Bemerkungen lässt MerleauPonty erkennen, dass beide Bestimmungen zusammen gehören »Die Tiefe ist urgestiftet in dem, was ich beim klaren Sehen als Retention in der Gegenwart erkenne (…).« Merleau-Ponty 1964: 279. »Ich suche in der Wahrnehmungswelt nach Sinnkernen, die un-sichtbar sind, dies (…) im Sinne einer anderen Dimensionalität, wie die Tiefe sich hinter Höhe und Breite aushöhlt, wie die Zeit sich hinter dem Raume aushöhlt (…).« Merleau-Ponty 1964: 299. 67 Beuttler verbindet die »prädimensionale Tiefe« mit Dunkelheit: »Die prädimensionale Tiefe ist die kontur- und randlose Nacht, aus der Sichtbares auftaucht. Diese haben wir als dunkel oder schwarz gestimmten Raum bezeichnet. Die apriorische Tiefe ist vollständig rand- und dimensionslos. Sie hat nur eine einzige richtungslose Dimension: die Tiefe.« Beuttler 2010: 298. 66

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

leau-Ponty die besondere Aufgabe der Malerei, uns immer wieder an den an-archischen Ursprung aller Ordnung in der Tiefe zu erinnern. Waldenfels betont, wie wichtig der Zustand des noch undefinierten Wahrnehmens in diesem Zusammenhang ist: »Das ›Man‹ oder ›Es‹, das in mir wahrnimmt, wird nur dann dem fundamentalen Charakter der Wahrnehmung gerecht, wenn es als ein leibliches Selbst gedacht wird, das auf mannigfache Weise der Welt angehört, die in ihm Gestalt annimmt.« 68 Die Überlegungen zu dem Verhältnis von Nähe und Ferne ergeben sich aus den Ausführungen zum Begriff der Tiefe. »Nähe und Ferne beruht nicht lediglich auf messbaren Abständen zwischen verschiedenen Dingen (…)« 69, die wiederum mit den eigenen Bewegungen korrelieren. Was aber ist wirklich fern, was wirklich nah? Da wir nicht ortlos existieren, sondern immer schon leiblich existierend irgendwo sind, gibt es notwendigerweise stets auch eine Nähe und eine Ferne. 70 Doch was macht die Ferne zur Ferne? »Bedeutet die Ferne einen Ort, wo wir noch nicht sind, aber einst sein werden oder begleitet die Ferne jeder Annäherung wie ein Schatten?« 71 Schwingt nicht in jeder Nähe auch immer die Gegebenheit der Ferne mit? So wie die Phänomene sich in zeitlicher Hinsicht durch die Diastase dehnen in ein immer schon Vorgängiges und ein immer noch Folgendes, so dehnen sie sich in räumlicher Hinsicht in ein Nahes und ein Fernes. Die Tiefe ist jene dynamische Größe, aus der heraus Nahes und Fernes entstehen. So wie die Diastase keinem festen Zeitmaß gehorcht, so gehorcht auch die Verschiebung in Nahes und Fernes keinem festen Raummaß. Die Distanz zwischen dem Nahen und dem Fernen ist nicht in Metern zu messen, beides kann sich sowohl auf Mikrometer beziehen wie auch auf Lichtjahre. Man kann den nächtlichen Himmel einerseits sehr nah sehen, er berührte dann, andererseits können Blicke durch das Mikroskop große Distanzen aufbauen. Die Bestimmung von Nähe und Ferne in dem hier verstandenen Sinn als das, was sich aus der Tiefe ergibt, ist abhängig von existentieller Beteiligung. Der Bezug meiner leiblichen Existenz zu der Umgebung zeigt sich durch immer wieder neue Verschiebungen in Nahes und Fernes. Waldenfels 2010: 139. Waldenfels 2009: 76. 70 »(…) das Nahe, das Ferne und der Horizont bilden in ihrem deskriptiv nicht erfaßbaren Kontrast ein System und ihre Beziehung innerhalb des Gesamtfeldes ist es, die ihre perspektivische Wahrheit ausmacht.« Merleau-Ponty 1964: 40. 71 Waldenfels 2009: 76. 68 69

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Beide Größen sind nicht ohne einander vorstellbar, nur durch die Ferne kann sich Nahes zeigen und umgekehrt. Alles kann in die Ferne rücken, aber auch nah erscheinen. Die Tiefe ist die Dimension, in dem das Wechselspiel stattfindet, sowie der Fundus, auf dessen Grundlage sich das Wechselspiel von Nähe und Ferne zeigt. 72 Wie lässt sich die Predigt des nahenden Reiches Gottes durch Jesus mit den phänomenologischen Untersuchungen der Tiefe, der Nähe und Ferne in Verbindung setzen? Das Reich Gottes zeigt sich dann, wenn jemand in und durch die Dinge des Alltags, die ihn oder sie umgeben, Gottes Gegenwart als die lebenswichtige und lebensbejahende Nähe erlebt. Es geht in dem Grenzausdruck »Reich Gottes« also nicht darum, unterschiedliche Sphären gegeneinander abzugrenzen, etwa das Reich Gottes gegen das Reich der Welt, sondern es gilt, aufzuzeigen, dass Gottes Gegenwart immer in, mit und unter den Dingen und Lebewesen ist, die uns als leiblich existierende Wesen umgeben. Wenn die Rede von Gott wirklich Rede von Gott ist, dann zeigt sich in der menschlichen Antwort auf Gottes Zuwendung die Erfahrung einer Nähe, von der eine Bejahung und Sinnfülle auf den Ort übergehen, an dem wir sind. Auf diese Nähe will Jesus mit seinen Gleichnissen aufmerksam machen. Die Gleichnisse zum Reich Gottes knüpfen zumeist an die Alltagswelt an, sie weisen auf nahe, vertraute Gegenstände, auf Fischernetze, auf Äcker, auf Sauerteig, auf Aussaat und Ernte. Doch werden diese vertrauten Dinge erst dann zu Zeugen der Nähe des Reiches Gottes, wenn die Rede von Gott auf eine existentielle und lebensbejahende Näheerfahrung als Response auf das göttliche Pathos aufmerksam machen kann. Die Tatsache, dass sich Nähe nicht mit Metriken beschreiben lässt, kann man mit vielfältigen Beispielen deutlich machen. Wir haben schon an anderer Stelle den frühen Schleiermacher zitiert: »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion (…). Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden (…).« 73 Offenkundig kommt dem Anschauenden das Angeschaute nah. Doch um welche Nähe handelt es sich hier? Das Angeschaute ist im physikalischen Raum Lichtjahre ent»Die Tiefe als Hier-nach-dort-Relation hat zwar kein quantitativ objektives Maß, aber die beiden immer überlagerten Zustände von Nähe und Ferne.« Beuttler 2010: 299. 73 Schleiermacher 1799: 31. 72

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

fernt! Man sieht: Hier geht es nicht um eine metrisch qualifizierte Nähe. Ebenso wie das Universum bei Nacht einem sehr nah kommen kann, so können alltägliche Dinge sehr fern sein. Die Ursache für diese Verschiebungen ist in der an-archischen Tiefe zu finden, die wir als eine Beschreibung der Erscheinungsweise X beschrieben haben. Die jesuanische Rede vom Reich Gottes ist verbunden mit einer sich hier zeigenden Nähe. Die menschliche Erfahrung, die mit dem biblischen Grenzausdruck »Reich Gottes« verknüpft ist, kann so mit der phänomenologisch bestimmten Tiefe ausgedeutet werden. Mit der phänomenologischen Betrachtung des Grenzausdrucks ist intendiert, die menschliche Antwort auf eine fundamentale Erfahrung auszuweisen, die nur auf eine in gewissem Sinn doppelt indirekte Weise beschrieben werden kann. Es gibt theologische Arbeiten, die über den Grenzausdruck »Reich Gottes« hinaus mit den Begriffen Tiefe und Nähe operieren und Gott mit dem Begriff der Tiefe in einen Zusammenhang stellen: »Besonders Tillich hat versucht, die primordiale Tiefe mit Gott in Verbindung zu bringen. Gott ist bei ihm jener Grund, Abgrund, Urgrund der Wahrheit, der unterhalb der Oberfläche geistig vordergründigen Lebens angesiedelt ist.« 74 Tiefe erscheint hier in einer ähnlichen Ungeformtheit wie in der phänomenologischen Analyse, sie ist zugleich Urgrund wie auch Abgrund. Wenn Gottes Reich als Tiefe gedeutet wird, dann ist es zugleich nah und unnahbar, es gibt keinen Weg zu ihm, aber die Anerkennung seiner Nähe. Die Erfahrung der Nähe ist zugleich strikt an das gegenwärtige Erleben gebunden. Die Anmutung einer Präsenz, die Ahnung einer Tiefe lassen sich in keiner Kulturtechnik aufbewahren. Deshalb müssen sie stets neu erlebt werden. Sie geschehen im lebendigen Vollzug, in der Gegenwart, die dann als kairos qualifiziert ist, oder sie geschehen nicht. Bildhaftes Reden, das mit der Anmutung der Tiefe arbeitet, kann gerade im religiösen Kontext eine sehr starke Kraft entfalten. Hier kann man etwa auf das Bild hinweisen, das aus einem Lied des evangelischen Gesangbuchs stammt und in der neueren Frömmigkeitsliteratur eine prominente Rolle spielt. Das Lied mit der Nummer 533 beginnt mit den Worten: »Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand«. Das

Beuttler 2010: 300. Z. B. bezogen auf das trinitarische Dogma: »Während seine ursprüngliche Funktion darin bestand, (…) die Tiefe des göttlichen Abgrunds zu öffnen (…).« Tillich 1987: 333.

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Bild baut eine Spannung auf, gibt einer Ambivalenz Raum. Die Tiefe ist bedrohlich und zugleich der Ort Gottes. Die menschliche Erfahrung ist das Weichen des Bodens unter den Füssen und zugleich das Aufgefangen- und Gehaltenwerden. Meiner Ansicht nach resultiert die Überzeugungskraft des Bildes gerade aus der Ambivalenz, mit der die Tiefe zum Ausdruck gebracht wird, hier klingen die anarchischen Qualitäten der Analyse von Merleau-Ponty an. Denn die Größe ist ebenso mit der Erfahrung des Fallens verbunden wie auch mit der Erfahrung des letztgültigen Getragenseins.

D.

Das Reich Gottes als tragender Grund

Da der Grenzausdruck »Reich Gottes« von so zentraler Bedeutung ist, soll der Betrachtung, die die Aspekte »erfüllte Zeit« und »Nähe« in den Mittelpunkt gestellt hat, eine weitere folgen, die sich mit der Sichtbarkeit des Reiches Gottes auseinandersetzt. Die folgende phänomenologische Untersuchung ist von der vorigen nicht scharf getrennt, beide greifen auf die Auseinandersetzung Merleau-Pontys mit der Malerei zurück, jedoch behandeln sie unterschiedliche Akzente. In diesem Fall geht es um die Differenz, die mit Bildern elementar verbunden sind, hier beschrieben als Differenz von Figur und Grund. 75 Als biblischer Bezug seien zwei Verse aus dem LukasEvangelium ausgewählt: »Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (οὐδε ἐροῦσιν ἰδοὺ ὡδε ἢ ἐκεῖ, ἰδοὺ γὰρ ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἐντὸς ὑμῶν ἐστιν.).« (Lk 17, 20.21)

Es gibt auch alternative Beschreibungen der Differenz, etwa durch die Begriffe »Bildvehikel«, »Bildträger« und »Bildobjekt«, »Bildinhalt«, vgl. Pichler, Ubl 2014: 23 f.

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Das Reich Gottes ist nicht hier oder da Zunächst soll die negierende Aussage phänomenologisch interpretiert werden: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten oder ihm einen festen Ort zuweisen könnte. Waldenfels führt zur Unterscheidung gegenüber dem mathematisch ausgemessenen Raum den Begriff des »Ortes« ein, um spezifische Phänomene besser beschreiben zu können: »Von Ort werde ich in dem Sinne sprechen, dass jemand oder etwas an (s)einem Ort ist oder dass etwas an einem bestimmten Ort stattfindet (…).« 76 Der Ort in diesem Sinne unterscheidet sich von dem metrischen Raum eben dadurch, dass hier die eigene Beteiligung konstitutiv ist, während im metrischen Raum von der eigenen Beteiligung durch einfache Operationen wie dem Perspektivwechsel abgesehen werden kann. »Der Ort breitet sich mehr oder weniger aus, doch ähnlich wie der Augenblick hat er keine Teile. Von herausragender Bedeutung ist die Verbindung des Ortes mit einem Selbst, das sich hier befindet und dieses Hiersein auch bezeichnet.« 77 Die Unterscheidung von physikalischem Raum und phänomenologischem Ort im Sinne von Waldenfels ist notwendig, weil wir als leibliche Wesen nicht nur abstrakt und distanziert auf einen Raum schauen, sondern immer schon irgendwo an einem bestimmten Ort sind, von dem aus sich der Raum erschließt. Der physikalische Raum ist dagegen eine Gegebenheit, die sich nur zeigt, wenn man von Beginn an von der eigenen Beteiligung abstrahiert. Im Schema des Chiasmus stellt sich der mathematisch beschreibbare Raum in der Erscheinungsweise Ding dar. Daneben zeigen sich in der Erscheinungsweise X andersartige Räume, etwa atmosphärische Räume, die keine klaren Grenzen haben und Atmosphären aufweisen, in die man eintauchen kann, 78 oder Räume, die sich durch leibliche Aktivität erst als der den Leib umgebende Raum erschließen. 79 Die leibliche AnwesenWaldenfels 2009: 32. Ebenda. 78 »Das Raumartige ist in der Tat für die Atmosphärenwahrnehmung charakteristisch und für die Entdeckung von Atmosphären durch Ingression im Besonderen. Denn man entdeckt die Atmosphären als einen Raum, in den man hinein gerät. Dieser Raum ist natürlich kein metrischer Raum (…).« Böhme 2001: 47. 79 Merleau-Ponty unterscheidet für die Körperbewegungen zwischen Positionsräumlichkeit, die sich auf ein metrisches System bezieht und Situationsräumlichkeit, die durch ein Sich-selbst-Verstehen des Körpers bestimmt ist. Letztere ist entscheidend für viele unwillkürliche Bewegungen, etwa wenn wir uns an der Stelle kratzen, an der etwas juckt. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 125 ff. 76 77

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

heit schafft in gewisser Weise erst den Raum, er ist nicht schon »objektiv« gegeben und wird dann verformt wahrgenommen, vielmehr entsteht der objektivierte und metrische Raum erst durch das Vermögen einer methodischen Durchdringung. 80 Wichtig ist, dass der so definierte Ort durch eine inhärente Dynamik bestimmt ist, wir haben keinen festen »Standpunkt«. Als lebende Wesen sind wir in Bewegung, erschließen uns den Raum auf immer neue Weise. 81 Wir sind stets auch in Bewegung, wir orientieren uns in Räumen, Räume erscheinen je nach Bewegung stets anders, sie sind nicht starr vorgegeben. 82 An dem Ort unserer leiblichen Existenz ist also Bewegung, es gibt keine klar und eindeutig bestimmten Grenzen zwischen dem Hier und dem Dort. Wir sind an einem Ort und zugleich auch immer schon anderswo. Gerade diese Eigenschaft ermöglicht es uns, die Welt mit Abstand von uns wahrzunehmen, uns selbst durch kulturelle Techniken in einem metrischen Raumverständnis zu lokalisieren. Hier klingt in variierter Form auch die Bestimmung der exzentrischen Positionalität durch Plessner an. 83 Den Ursprung der sich so entfaltenden Räumlichkeit können wir aber selbst nicht mehr in einen metrischen Raum einholen. Schon bevor es also Raumordnungen gibt, existiert eine gewisse Atopie durch eine Ortslosigkeit mitten in dem Raum, den wir bewohnen, gerade weil wir ihn bewohnen: »Doch alle Lokalisierungen finden ihre Grenze in dem Nicht-Ort, an dem das Ortsnetz entspringt.« 84 Die Atopie zeigt, dass der Raum nicht fugenlos ist. »Es ist genau das alte und neu zu durchdenkende Motiv der Atopie, das sich einer Geschlossenheit des Universums und der Gesellschaft widersetzt und jedwedes Ortsgefüge aufsprengt.« 85 Der vermessene Raum hilft uns, uns zu orientieren, wir tun das im Alltag von Moment zu Moment, umgeben von einer Vielzahl von technischen Geräten, die immer auch mit der Messung von Längen, »Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, dass überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.« Merleau-Ponty 1945: 127. 81 Besonders deutlich wird dies bei einer zweckfreien Bewegung wie dem Tanz, der als Selbstbewegung verstanden werden kann, vgl. Waldenfels 2010: 211. 82 Vgl. Waldenfels 2009: 73 ff. 83 »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.« Plessner 1928: 292. Vgl. Waldenfels 2009: 97. 84 Waldenfels 2009: 125 85 Waldenfels 2009: 123. (Hervorhebung im Original) 80

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Geschwindigkeiten und der Bestimmung konkreter Orte beschäftigt sind. Bei allem Erfolg im Umgang mit den exakt ausgemessenen Räumen ist aber der leiblich bestimmte Raum deshalb nicht irrelevant, denn wir leben unausweichlich in ihm. Wenn wir nun den Grenzausdruck »Reich Gottes« als Hinweis auf Phänomene der Erscheinungsweise X verstehen, dann zeigen sich die angedeuteten Phänomene als Response auf die Zuwendung Gottes immer da, wo wir gerade sind, ohne dass dies in einem abstrakten Raum lokalisierbar wäre. 86 Man kann deshalb nicht innerhalb eines physikalischen Referenzrahmens sagen, das Reich Gottes sei hier oder dort. Man kann auf das Reich Gottes nicht zeigen. Der Ausdruck weist eher auf etwas wie die Atmosphäre eines Raumes, die sich auf uns überträgt, in die wir eingetaucht sind. »Dabei begegnet Gott nicht als abgegrenztes Gegenüber, sondern als ausgebreitete ›Atmosphäre‹, in die ich hineinbezogen bin.« 87 Dieser Aspekt soll durch die Betrachtung des zweiten Teils des oben genannten Verses vertieft werden.

Das Reich Gottes ist mitten unter euch Hier nun geht es um eine Interpretation des Ausdrucks »ἐντὸς ὑμῶν«, übersetzt mit »mitten unter euch«, der das Reich Gottes qualifiziert. Wie kann etwas nicht offenkundig und für jeden sichtbar sein, wenn es »mitten unter uns« ist? Wie kann das Reich Gottes mitten unter uns sein und doch unsichtbar? Was meint dann die in diesem Vers angedeutete Unsichtbarkeit, wenn dennoch das Reich Gottes nah ist? Um diese Verhältnisse der Phänomene der Erscheinungsweise X beschreiben zu können, wollen wir erneut auf die Interpretation der Malerei durch Merleau-Ponty eingehen. Die Bilder von Paul Cézanne 88 und Paul Klee 89 sind eine Hilfe, das Sehen als elementaren Teil des »Zur-Welt-Seins« 90 besser verstehen zu können. »Während für den Menschen im Verhältnis zu anderen Dingen und Menschen Raum und Zeit das umfassendste Identifikationssystem darstellt, in dem wir uns im Verhältnis zu anderen und anderem verorten, also eindeutig lokalisieren und damit identifizieren können, trifft dies auf Gott nicht zu.« Beuttler 2010: 251. 87 Beuttler 2010: 277. 88 Vgl. Merleau-Ponty 1948: 11 ff. 89 Vgl. Merleau-Ponty 1961: 304. Auf beide Maler nimmt Merleau-Ponty in »Die Prosa der Welt« Bezug, vgl. Merleau-Ponty 1969: 76. 90 Merleau-Ponty 1945: 103. 86

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Nach Wiesing ist dies die weitreichende Absicht Merleau-Pontys in seiner Beschäftigung mit Bildern: »Seines Erachtens besitzt die bildliche Form eine Bedeutung, weil sie sich auf die Tätigkeit des leiblichen Sehens bezieht und diese sogar fortsetzt.« 91 Der Maler gibt mit seiner Tätigkeit einen Ausdruck für seine leibliche Existenz, die die Grundlage jeder Wahrnehmung bildet. Der Leib ist ein System der Überkreuzung von Empfindendem und Empfundenem: »Mit diesem sonderbaren System wechselseitiger Bezüge sind nun schon auch alle Probleme der Malerei gegeben. Sie illustrieren das Rätsel des Leibes und dieses Rätsel rechtfertigt sie.« 92 Insofern kann Merleau-Ponty folgern, »dass die Malerei eine ins Sichtbare fortgesetzte Sehtätigkeit ist.« 93 Die Wahrnehmung des Sehens bildet nicht einfach ab, was ist, sondern sie ist geknüpft an die Ausformung eines Stils, wie ein Maler ihn entwickelt: »Der Stil ist bei jedem Maler ein System von Äquivalenzen, das er sich für dieses Werk der Sichtbarmachung schafft (…).« 94 Entscheidend für das Verständnis der Malerei nach MerleauPonty ist, dass das Sehen selbst nicht in einem einfachen Modell von Urbild und Abbild dargestellt werden kann, sondern etwas Unerklärliches beinhaltet. Ohne Zweifel sind die Gesetze der Optik gut zu verstehen, ebenso kann man, jedenfalls weitgehend, die neuronale Verarbeitung der optischen Reize nachvollziehen. Schwierig aber ist es, zu erklären, wieso der solchermaßen beschriebene zelluläre Prozess dann das Sehen als Aufscheinen des Gesehenen »im Bewusstsein« auslöst. Wieso kann ein Ensemble von Zellen »sehen«? Was genau geschieht, wenn es »sieht«? Hier ist ein Rätsel verborgen, um das sich die Philosophie des Geistes schon seit langem bemüht. 95 Es ist offenkundig, dass es kein Modell gibt, das diesen Vorgang konsistent beschreiben kann. Sehen ist die Exploration von Ungefügtem, die sich erst im Vorgang der Wahrnehmung zu einer Ordnung formt. »Die Malerei dient geradezu als Leitfaden durch das Labyrinth der Phänomene (…).« 96 Als Bedingung dafür, dass man überhaupt etwas sieht, ist eine Unterscheidung notwendig, nämlich die von Figur und Grund oder 91 92 93 94 95 96

Wiesing 2000: 276. Merleau-Ponty 1961: 281. Wiesing 2000: 279. Merleau-Ponty 1969: 82. Einen guten Überblick bietet Wiesing 2002. Waldenfels 2010: 133.

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von Gestalt und Hintergrund. Sie gehört schon zu den Grundelementen der Gestaltpsychologie, auf die sich der junge Merleau-Ponty ausgiebig bezogen hat. Für die Malerei bildet das Verhältnis von Figur und Grund ein zentrales Gestaltungselement. Was auch immer sich zeigt, es zeigt sich vor einem bestimmten Hintergrund. Weil die Unterscheidung von Figur und Grund überhaupt vorgenommen wird, kann eine Figur erscheinen. Der Hintergrund ist aber durch die Wahrnehmung der Figur nicht einfach verschwunden. Er ist latent präsent und wirkt indirekt. 97 Es ist nicht einerlei auf welcher farblichen Grundierung ein Porträt gemalt wird. »Es gibt kein neutrales Rohmaterial, es gibt nichts, was nicht schon auf diese oder jene Weise geformt wäre. Die minimale Differenz, ohne die wir gar nicht und gar nicht sehen würden, besteht aus einer Figur vor einem Hintergrund.« 98 Doch die Differenz von Figur und Grund bzw. von Gestalt und Hintergrund ist nicht stabil. Der Hintergrund ist nicht nur etymologisch mit dem Abgrund konnotiert, sondern es gibt auch ein dynamisches Wechselspiel: »Schließlich nähern wir uns dem Abgründigen immer dann, wenn etwas als etwas aus dem Hintergrund auftaucht und in den Vordergrund rückt. Der Hintergrund bleibt gegenwärtig als Grund, von dem Wahrnehmungs- und Handlungsfiguren sich abheben, und das Wissen selbst ist getragen von einem Hintergrundwissen, einem Wissen, das sich unter geeigneten Umständen einstellt – oder auch nicht, das jedenfalls nicht einschaltbar ist wie ein Zusatzprogramm.« 99 In besonderer Intensität zeigt sich das Wechselspiel in den so genannten Kippfiguren, einem Paradebeispiel der Gestaltpsychologie. Hier ist das Verhältnis von Gestalt und Hintergrund als eine zweiwertige Konstellation bestimmt. Entweder man sieht die eine Figur, etwa zwei Köpfe, dann wird das Übrige zum ausdruckslosen Hintergrund, oder man sieht die andere Figur, etwa eine Vase, dann werden die Flächen der Köpfe zum ausdruckslosen Hintergrund. Auf keinen Fall aber ist es möglich, beides zugleich zu sehen. Kippfiguren können einen weiteren Aspekt der Wahrnehmung offenlegen. Offenkundig ist das Verhältnis von Figur und Grund oder Hintergrund nicht stabil.

Hier schon kann ein wichtiger Bezug des verhandelten Themas zu den Phänomenen der Erscheinungsweise X ausgemacht werden, die sich ja auch nie direkt oder frontal, sondern nur indirekt erschließen lassen. 98 Waldenfels 2010: 138. 99 Waldenfels 2002: 279. 97

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Beide sind nicht strikt festgelegt, sondern existieren immer in einer gewissen Rivalität zueinander. Die Gestalt kann zum Hintergrund werden und ebenso der Hintergrund zu der eigentlichen Gestalt. Figur und Grund bilden temporäre und fragile, instabile Ordnungen aus. Das Besondere an den Kippfiguren ist, dass sie diese Instablitäten in einer extremen Ausprägung zeigen. Hier kann es immer wieder zu einem abrupten Wechsel innerhalb eines binären Systems kommen. Was sich hier im Extrem der Kippfiguren zeigt, ist in jedem Bild gegeben. Damit ein Bild als solches wirkt, muss die Differenz von Gestalt und Hintergrund entstehen. 100 Auch bei gewöhnlichen Bildern ist ein ähnlicher Wechsel wie bei Kippfiguren möglich, wobei es allerdings sehr unterschiedliche Konstellationen verschiedener Valenzen geben kann, was füreinander Figur und Grund ist. Die Wahrnehmung zeigt sich als ein offener Prozess, der keinen endgültigen Zustand erreicht. Die Unterscheidung von Figur und Grund ermöglicht in gewisser Weise eine Ordnung. Erst vor einem Hintergrund kann sich eine Figur abheben. Die instabilen Verhältnisse werden in der Regel durch Sehgewohnheiten stabilisiert, können aber immer wieder unerwartet in Bewegung geraten. Letzterem kann man nur dann habhaft werden, wenn man auch bereit ist, weitgehende ontologische Fragen aufzuwerfen. »Für das repetitive, reproduktive Wiedersehen trifft zwar zu, dass es auf Formen zurückgreift, die als Vorlage dienen und mehr oder weniger kontextneutral sind, doch das produktive Neusehen durchläuft einen Prozess der Formung und Umformung, die nicht wesens- und zielgerichtet terminiert ist.« 101 Hier kommt die Wahrnehmung in statu nascendi ins Spiel, auf die Merleau-Ponty immer Allerdings gibt es auch abstrakte, monochromatische Bilder, die sich einer differenzierenden und identifizierenden Sehweise verweigern (etwa Yves Klein). Bei ganz und gar einfarbigen Bildern entsteht aber immer noch ein Kontrast zu dem Hintergrund, vor dem sie gehängt sind. »Auch die Malerei kann sich auf eine reine ›Grundmalerei‹ hinbewegen, indem sie nicht nur auf die Gegenstände verzichtet, sondern auch auf umrißhafte Figuren, bis hin zu dem Punkt, wo der Hintergrund sich in ein schwarzes Loch verwandelt (…).« Waldenfels 2002: 284. 101 Waldenfels 2010: 57. 100

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wieder aufmerksam gemacht hat und deren Interpretation sich auch auf das Verständnis des Bildgrundes auswirkt. 102 Es gibt in diesem Prozess ein unklares Verhältnis von Ungeordnetem und Ordnung, von Hintergrund und Figur: »Das Ungeordnete bildet aber nicht nur den Untergrund und Hintergrund jeder Ordnung, es taucht auch in der Ordnung selbst auf, in ihren Ritzen, Spalten und Lücken (…).« 103 Es geht um »einen Grund, einen ›Quellgrund‹, aus dem etwas auftaucht und in den es möglicherweise zurücksinkt. (…) Der Grund, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht mit einer Grund-lage, einer Unter-lage, also auch nicht mit einem Bild-träger zu verwechseln, er hat etwas Abgründiges (…).« 104 Dieser Grund ist also nicht nur das mechanische Pendant zur Figur, sondern das, aus dem die Figur erst auftaucht, die nicht unabhängig vom Grund existiert. Waldenfels stellt unter Verweis auf Merleau-Ponty fest: »Der bildliche Hintergrund (frz. fond) bildet nicht nur den Kontrast zur Figur, wie es der Grundannahme der Gestalttheorie entspricht, er bildet zugleich einen Fundus, aus dem der Maler schöpft, wenn er Bilder schafft. Die Unerschöpflichkeit des Ausdrucks, die Merleau-Ponty beschwört, wenn er von einem ›unvordenklichen Grund des Sichtbaren‹ spricht, findet darin ihren picturalen Rückhalt (…).« 105 So führt die Interpretation der Malerei und der Bilder in ein Grundverhältnis unserer leiblichen Existenz. Wir leben in unserem Kontakt mit der Wirklichkeit nicht in geordneten Verhältnissen, sondern können erleben, dass Ordnungen immer wieder aus Ungeordnetem entstehen, dass Sichtbares aus Unsichtbarem auftaucht. Diese phänomenologischen Betrachtungen können nun auch einen Hinweis darauf geben, wie wir die Aussage der Verse des Lukasevangeliums verstehen können, dass das Reich Gottes »mitten unter uns« sei. Das Reich Gottes weist auf die Präsenz Gottes in, mit und unter den Dingen. Die Response besteht darin, die Dinge dieser Welt in einer bestimmten Weise, nämlich vor einem bestimmten »Hintergrund« zu sehen. Dieser Hintergrund bleibt zugleich unsichtbar, aber er wirkt sich indirekt aus, so wie sich der Hintergrund auf die Gestalten auswirkt, die man im Vordergrund sieht. Hierin kommt ein ganz spezifisches Verständnis von Unsichtbarkeit zum Ausdruck. Das 102 103 104 105

Vgl. Merleau-Ponty 1945: 18. Waldenfels 2002: 280. Waldenfels 2010: 57. Waldenfels 2010: 59. (Hervorhebung im Original)

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Reich Gottes ist nicht unsichtbar, weil es verborgen wäre, so wie etwas verborgen ist, das durch etwas anderes verdeckt ist. Es ist so unsichtbar wie der Hintergrund eines Bildes, wenn wir allein auf das achten, was im Vordergrund steht, was sich von dem Hintergrund abhebt. Überträgt man diese Unterscheidung auf das Sehen der Dinge um uns herum, dann kann das Reich Gottes so etwas sein wie der Hintergrund für alles, was wir sehen können. Es ist gerade in und mit den Dingen, die wir sehen, unsichtbar. Es lässt aber die Dinge neu, anders sehen, obwohl sie sich selbst (im Sinne einer physikalischen Entität in der Erscheinungsweise Ding) nicht verändern: »Das bedeutet letzten Endes, dass es dem Sichtbaren eigentümlich ist, im strengsten Sinne des Wortes durch ein Unsichtbares gedoppelt zu sein, dass es als ein gewissermaßen Abwesendes gegenwärtig macht.« 106 Es wird deutlich, dass das Reich Gottes in seiner Präsenz eine Wirkkraft entfaltet auch auf das, was wir sehen, auf die Welt der Dinge, die uns umgeben. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann. Der Hintergrund ist als Hintergrund gerade das, was man nicht beobachtet. Wenn man das Reich Gottes als Hintergrund interpretiert, dann gibt es hier eine Besonderheit gegenüber dem zuvor verhandelten Hintergrund von Bildern und Gestalten: Das Reich Gottes als Hintergrund kann nie zum Vordergrund werden. Menschen können diesen Hintergrund nicht zum Vordergrund machen. Weil die Phänomene der Erscheinungsweise X keinem metrischen Raum zugehören, kann man auch nicht im Sinne genauer Lokalisierungen sagen: Hier ist das Reich Gottes oder dort ist das Reich Gottes. So ist das Reich Gottes »mitten unter euch«. Dalferth urteilt: »Wir können Gottes Gegenwart niemals für sich wahrnehmen, sondern immer nur so, dass wir sie in, mit und unter anderem Wahrnehmen mitwahrnehmen.« 107 Diese Wahrnehmung ist möglich, weil jede Wahrnehmung eine Differenz setzt zwischen dem Wahrgenommenen und dem Horizont oder dem Hintergrund, vor dem etwas wahrgenommen wird. 108 In dieser Weise kann mit phänomenologischen Mitteln die Formel von Eberhard Jüngel rekapituliert werden, der von der »Erfahrung mit der Erfahrung« 109 spricht. Diese Erfahrung wird nach Jüngel gerade durch die Möglichkeit des Nicht106 107 108 109

Merleau-Ponty 1961: 313. Dalferth 1997 (2): 8. Vgl. Dalferth 1997 (2): 7. Jüngel 1977: 40.

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seins evoziert. Diese Möglichkeit des Nichtseins kann in dem Schema des Chiasmus dann aufscheinen, wenn das Zentrum des Chiasmus x als Nichtsein erlebt wird. Auch dies ist dann ein Hintergrund, den man nicht sieht, der aber indirekt zur Wirkung kommt. Diese immer gegebene, latente Wirklichkeit wird uns noch im letzten Kapitel beschäftigen, wenn es um den Sinn oder die Sinnlosigkeit der uns zugänglichen Ordnungen geht. Für alle fundamentalen theologischen Aussagen gilt der Vorbehalt des Wortes vom Kreuz: Die Theologie reflektiert »die Wahrnehmungspraxis des christlichen Glaubens, der aufgrund seiner Wahrnehmung der präzisen verborgenen, aber wirksamen Gegenwart Gottes im Kreuz überall mit dessen verborgener, aber wirksamer Gegenwart rechnet.« 110

E.

Gott im Himmel

Der Himmel gilt in den biblischen Texten als die Sphäre Gottes. Bei Matthäus ersetzt das »Reich der Himmel« den Ausdruck »Reich Gottes«. Das zentrale Gebet Jesu beginnt in der Fassung, die Matthäus überliefert hat, mit der Anrede: »Unser Vater im Himmel« (Πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς) (Mt 6,9). Mit Hilfe der bisherigen phänomenologischen Überlegungen können wir auch Zugänge zu dem Grenzausdruck »Himmel« bahnen. Die Sphäre des Himmels ist in den biblischen Texten als göttliche Sphäre ausgezeichnet. 111 Der Himmel ist einerseits von der Erde kategorial zu unterscheiden, und doch sind andererseits beide Teil ein und derselben Schöpfung. Die Bestimmung des Himmels ist so voller Ambivalenzen. Der Himmel ist der stets präsente Hintergrund für alles irdische Geschehen. Kein Ort der Erde ist ohne Himmel, in gewisser Weise eint dies alle unterschiedlichen Orte auf der Erde: »Was immer die Geschöpfe und Regionen auf der Erde in Raum und Zeit voneinander entfernen und trennen mag, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie unter dem Himmel leben (…).« 112 Der Lauf der Gestirne legt darüber 110 111 112

Dalferth 1997 (2): 8. Vgl. Welker 1995: 56. Welker 1995: 63.

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hinaus nahe, dass in der himmlischen Sphäre besondere Gesetze gelten, Regelmäßigkeiten, die auf der Erde nicht zu beobachten sind. Michael Welker untersucht den biblischen Begriff des Himmels eingehend und stellt fest, dass schon in den biblischenTexten sehr unterschiedliche Einflüsse zur Geltung kommen. »So sind in manchen biblischen Texten heaven und sky fast identisch, aber in anderen schließt die Konzeption der Erde die Atmosphäre ein, und ›Himmel‹ ist nur der Bereich der stellaren Konstellationen. In wieder anderen Texten wird der gesamte beobachtbare Kosmos ›das Sichtbare‹ genannt und vom ›unsichtbaren Himmel‹ unterschieden.« 113 Welker betont, dass der Ausdruck »Himmel« in der Bibel vor allem jene Teile der Schöpfung meint, die für den Menschen nicht zugänglich, nicht erreichbar sind: »›Schöpfung‹ heißt: Aufbau von Interdependenzzusammenhängen zwischen von uns Menschen beeinflussbaren und von uns nicht beeinflussbaren geschöpflichen Bereichen. Die vom Menschen nicht direkt beeinflussbaren natürlichen und kulturellen Bereiche werden mit dem Ausdruck ›Himmel‹ zusammengefasst.« 114 Der Himmel ist auch deshalb als Ort Gottes bestimmt, weil Gott so überall präsent sein und feindliche Mächte wehren kann: »Gottes schöpferisches und ordnendes Handeln ist vielmehr unverzichtbar, um die Mächte der – relativ zur Erde – Transzendenzbereiche nicht in unabsehbarer Weise wirken und wüten zu lassen.« 115 Gott kann auf die irdischen Verhältnisse aus dem ubiquitären Himmel einwirken, der Mensch aber nicht auf die himmlischen Verhältnisse. Die Vorstellungen von dem Himmel haben sich seit der biblischen Zeit grundlegend verändert. Wir können heute sehr wohl jenen Himmel, den man englisch sky nennt, mit naturwissenschaftlichen Methoden erkunden. Hier erscheint er nicht mehr als das Andere im Gegenüber zur Erde, sondern als Verlängerung der Verhältnisse, die wir auch auf der Erde beobachten können. Die englische Sprache hat einen zweiten Begriff für den deutschen Begriff Himmel entwickelt, der die religiöse Konnotation bietet: heaven. Unter den Prämissen einer naturwissenschaftlich beschriebenen Welt fällt es heute allerdings schwer, darüber Rechenschaft abzulegen, worauf genau sich heaven bezieht. So entsteht eine Zweiteilung, die mit dem Problem verbunden ist, dass für sky klar definierte wissenschaftliche 113 114 115

Welker 1995: 27. Welker 1995: 29. Welker 1995: 61.

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Methoden existieren, für heaven dagegen nicht. Dies schwächt zwangsläufig die Rede von heaven. Der astronomische Himmel kann nicht einfach mit dem Ort Gottes identifiziert werden, auch wenn das »Anschauen des Universums« eine Ahnung von der Unverfügbarkeit Gottes zum Ausdruck bringt. Allerdings sind hier die Verhältnisse nicht ganz eindeutig, denn eben derselbe Himmel, den man mit Radioteleskopen ausspähen kann, ist auch der Himmel, von dem Schleiermacher bewundernd redet. Der nächtliche Sternenhimmel ist auch heute der größtmögliche Hintergrund. 116 In der Interpretation des Grenzausdrucks »Himmel« können wir an die Diskussion um den Hintergrund anknüpfen und so auf die Differenz Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit Bezug nehmen. Die Diskussion von Figur und Grund hat gezeigt, dass das Reich Gottes, interpretiert als Hintergrund, sich in einem fundamentalen Sinne der Verfügbarkeit entzieht. Es ist ein Hintergrund für alles Sichtbare und insofern unsichtbar und unzugänglich. So ist es nahe liegend, diese Interpretation des Grundes auch als eine moderne, durch die phänomenologische Analyse bestätigte Interpretation des »Himmels« im Sinne von heaven zu verstehen. Sich auf Gott zu beziehen, heißt, sich auf jene Phänomene zu beziehen, die sich der eigenen Verfügbarkeit entziehen und die nur als Hintergrund für alle verfügbaren Dinge wirken. Erneut erweist sich dann der Bezug auf die Phänomene der Erscheinungsweise X als elementar für die Rede von Gott. Die phänomenologischen Analysen des Hintergrunds lassen sich auf Erfahrungen des Himmels übertragen. Der Himmel ist in biblischer Vorstellung auf die Erde bezogen und die Erde auf den Himmel. Die Anrufung: »Unser Vater im Himmel!« steht auch für eine Bewegung der himmlischen Sphäre auf die irdische zu. Der Beter »bittet um diese Bewegung der Welt, um dieses Kommen Gottes in diese Welt, um eine Bewegung aus dem ihm unverfügbaren Bereich der Schöpfung heraus (…).« 117 Hier zeigt sich in der Bitte eine Parallele zu dem Geschehen der Inkarnation. Es handelt sich um das x ! a, eine Bewegung von dem unverfügbaren Zentrum des Chiasmus x in die uns bekannten Phänomene dieser Wirklichkeit. Im Unterschied zum antiken Himmel kann man allerdings diese Phänomene nicht zugleich 116 Man bedenke nur den modernen physikalischen Begriff der so genannten »Hintergrundstrahlung«, die eine aus allen Richtungen des Universums messbare Strahlung aus größtmöglicher Entfernung darstellt. 117 Welker 1988: 214.

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in einer bestimmten, abgrenzbaren Sphäre innerhalb eines metrischen Raumes verorten. Die biblischen Grenzausdrücke machen so auch auf Bereiche der Wirklichkeit aufmerksam, die uns moderne Menschen vor ähnliche Artikulationsprobleme stellen wie Menschen in biblischen Zeiten, sie sind uns heute genauso entzogen wie den biblischen Autoren. Neben der Eigenschaft der Unerreichbarkeit ist der so interpretierte Himmel stets präsent, weil die Phänomene der Erscheinungsweise X mit genau dieser Präsenz ausgezeichnet sind.

Exkurs: Der Chiasmus als Deutung der Zwischenleiblichkeit In einem weiteren Schritt wollen wir jene Grenzausdrücke in die Diskussion einbeziehen, die sich auf die Personalität Gottes beziehen. Es geht darum, besser zu verstehen, worauf der Ausdruck »Gott, der Vater« (Mt 6,9; Joh 14,9; Röm 8,15) weist. Ebenso soll es um die spezifische Gemeinschaft gehen, die unter Menschen gerade durch das Wirken Gottes entsteht: Was meint die Rede von der Gemeinde als »in Christus seiend« (Gal 3,28)? Die Vorstellung von Gott als Person, als konkretes Gegenüber ist heute besonders umstritten. Viel eher lässt sich mit dem vorherrschenden Weltbild Gott als Grundkraft oder ähnliches verbinden. Die Rede von Gott als Person wirkt anthropomorph und mythologisch überfrachtet. Ebenso ist die Aussage, alle Christinnen und Christen seien eins in Christus, jenseits eines moralischen Appells, kaum noch mit einer greifbaren Vorstellung verbunden. Inwieweit aber können phänomenologische Überlegungen aufzeigen, dass es sich auch bei diesen Grenzausdrücken um eine Erschließung von Wirklichkeit handeln kann? Hierzu muss zuvor ein wichtiger Begriff Merleau-Pontys erläutert werden, der bislang keine Rolle spielte, nämlich der Begriff der Zwischenleiblichkeit. 118 Er hat in den späteren Schriften eine zentrale Bedeutung, denn er versucht, das Verhältnis zu umschreiben, das zwischen dem Ich und dem Anderen herrscht. Es geht wiederum auch in diesem Verhältnis um ein fundamentales Geschehen der Verschränkung bzw. Verbundenheit, dieses Mal bezieht es sich jedoch nicht auf das Verhältnis zwischen Leib und Welt, sondern auf das zwischen Ich und dem Anderem. Das Verhältnis Ich und Anderer 118 Dieser Begriff ist auch im Französischen ein von Merleau-Ponty geprägter Neologismus: intercorporéité, vgl etwa Merleau-Ponty 1959: 262.

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kann nicht über zwei distinkte Körper konfiguriert werden, die sich zueinander verhalten. Das Verhältnis weist vielmehr auf eine leibliche Verschränkung, die über die Verbindung von Entitäten hinausgeht. Wiederum ist der Leib keine abgeschlossene Entität, die sich sekundär einem anderen Leib öffnen und damit eine Verbindung eingehen kann. Allerdings führen wir mit dieser Betrachtung nicht etwas völlig Neues ein, denn auch schon der Chiasmus als Verschränkung von Leib und Welt stellt kein solipsistisches Verhältnis eines einzelnen Leibes zur Welt dar. Die Existenz des Anderen ist bislang jedoch noch nicht explizit thematisiert worden. Das Schema umfasst viele Phänomene, die sprachlich und durch soziale Interaktionen vermittelt sind, Sprache ist aber nur möglich, weil es die Verbindung zu anderen Menschen gibt, die über die Addition von Einzelwesen hinausgeht. Die Phänomene des eigenen Leibes sind in keiner Weise ursprünglich in der Art, dass zunächst von der Existenz eines Anderen abgesehen werden könnte. Nur durch die Aufnahme in die sozialen und kulturellen Strukturen ist es überhaupt möglich, den eigenen Leib in der Weise zu beschreiben, wie wir das bislang getan haben und wie wir es im Alltag der Moderne tun. Unser Verhältnis zu unserem Körper ist in den meisten Verrichtungen kulturell geprägt. Ohne Sprachfähigkeit wären weder die Erscheinungsweise Gedanke noch die Erscheinungsweise Ding zugänglich. Ebenso wie wir in dem Schema des Chiasmus nur einen sozial vermittelten Leib rekonstruieren können, so gibt es aber auch keinen Zugang zu anderen Menschen, der über das Spektrum der Phänomene innerhalb des Schemas hinausginge. Erscheint der Andere als Körper, so ist er ein physikalisches Objekt unter vielen. Sprechen wir ihm Gedanken zu, so können wir das nur anhand und mit Hilfe jener Gedanken tun, die sich uns zeigen. Fühlen wir uns dem Anderen verbunden, so geschieht das nur mit jenen Gefühlen, die Teil der Erscheinungsweise X sind. Es gibt keine durch besondere Eigenschaften ausgezeichneten Phänomene, die sich ausschließlich auf Andere zurückführen lassen. Nach den bisherigen Überlegungen wäre nun aber die Annahme nahe liegend, dass die Phänomene der Erscheinungsweise X von einem Einfluss des Anderen ausgenommen sind, da ja hier jede Art von Vermittlung gering wird. 119 Es wäre dann möglich, gerade die 119 In diese Richtung zielt die Leibdefinition von Hermann Schmitz: »Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Phänomene im Innern der Erscheinungsweise X in einer Weise zu deuten, die nur einem Menschen, nämlich dem, dem sie sich zeigen, damit aber einem Individuum zukommen. Das Konzept der Zwischenleiblichkeit weist nun vor allem darauf hin, dass die Verschränkung zwischen Ich und Anderem auch schon für die Phänomene der Erscheinungsweise X gilt. Dies mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, weil wir uns die Art und Weise der Vermittlung in unserer Alltagswelt nicht vorstellen können. Das Konzept der Zwischenleiblichkeit ist ähnlich radikal wie das Zur-Welt-Sein. Die Zwischenleiblichkeit weist auf eine Welt, in der Ich und der Andere zugleich eingelassen sind: »Hier gibt es kein Problem des alter ego, weil nicht ich sehe und nicht er sieht, sondern weil uns beiden eine anonyme Sichtbarkeit und ein Sehen im Allgemeinen innewohnt, und zwar dank dieser ursprünglichen Eigenschaft, die dem Fleisch eigen ist (…). Die Reversibilität des Sichtbaren und des Berührbaren öffnet uns zwar noch nicht dem Unkörperlichen, aber doch einem zwischenleiblichen Sein (…).« 120 Merleau-Ponty verweist mit seinen Analysen der Zwischenleiblichkeit auf jenen Bereich, aus dem heraus erst sowohl die objektive Welt wie auch der Andere als alter ego entstehen. Die Zwischenleiblichkeit ist kein Ort der Unmittelbarkeit oder des Ursprünglichen im romantischen Sinne. Hieraus entspringt nicht ein einzelnes Individuum, sondern hieraus entspringen alle menschlichen Individuen in gleicher Weise. Ihr ist eine gewisse Anonymität eigen, niemand kann sie nur für sich allein reklamieren. Immer wieder weist Merleau-Ponty in seinen späten Schriften darauf hin, dass jener Bereich, den er mit »Zwischenleiblichkeit« bezeichnet, etwas Anonymes hat, weniger, weil es niemandem zugehört, vielmehr, weil es alle für sich reklamieren können. 121 In dieser Interpretation ist deutlich, warum die Phänomene der Erscheinungsweise X nicht einem Individuum zuzurechnen sind. Doch ist auch eine unterschiedslose Verbundenheit keine adäquate Beschreibung. Die Zugänge zu den Phänomenen der Zwischenleiblichkeit, die ja nur innerhalb der Ersich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d. h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenen Körper) zu stützen.« Schmitz 1998: 12. (Hervorhebung im Original) 120 Merleau-Ponty 1964: 187. 121 So auch Waldenfels: »Wer sich auf das beruft, was man sagt oder tut, bezieht sich auf das, was er selbst und der Andere immer schon tun, ohne es sich speziell im guten oder schlechten Sinne zuzurechnen.« Waldenfels 1994: 429.

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

scheinungsweise Kulturg verantwortet werden können, erzwingen eine dialektische, eine paradoxale Beschreibung. Einerseits löst sich in diesem Verschränkungsverhältnis das Ich nicht in dem Anderen auf. Andererseits sind sie aber zugleich auf konstitutive Weise miteinander verbunden. Das Verhältnis von Ich und Anderer ist analog zu dem Verhältnis von eigen und fremd. So wie das Fremde dem Eigenen unversöhnlich gegenübersteht – sonst würden sich ja beide in Unterschiedslosigkeit auflösen –, so sind sie auch notwendig aufeinander bezogen, nie existiert das Eigene ohne das Fremde. In unserem Alltag gibt es nun aber eine klare Unterscheidung von Ich und Anderen, die so tiefgreifend ist, dass die Vorstellung von Individualität zur Leitidee bei der Bestimmung der Identität avancieren konnte. Ich bin nicht der Andere, der Andere ist nicht ich, wir unterscheiden uns. Hier besteht eine eindeutige Differenz zwischen dem Verhältnis von Ich und Anderem bzw. von eigen und fremd. In der Waldenfels’schen Auffassung kann das Eigene nie nur Eigenes sein, es gibt keinen Bereich von ungestörter Eigentlichkeit, Eigentümlichkeit. Doch offenkundig existieren Phänomene, die zwangsläufig nur dem Ich und nicht dem Anderen zugeschrieben werden können: die Gedanken. Dies spiegelt das »cogito« von Descartes wider. Ebenso ist der eigene Körper klar von einem anderen Körper unterschieden. Wie aber lässt sich nun beides zusammendenken, sowohl die offensichtliche Eigenständigkeit von Ich und Anderem wie auch die tiefgreifende Verbundenheit und Verschränkung? Wie kann man die unfruchtbare Alternative verhindern, entweder bei dem Getrennten von Ich und Anderem zu beginnen und dann das Gemeinsame höchstens noch als moralische Forderung formulieren zu können oder beim Gemeinsamen zu beginnen und dann nicht mehr in der Lage zu sein, die fundamentale Unterschiedenheit von Ich und Anderem sowie den Vorgang der Individuierung zu beschreiben? Merleau-Ponty nutzt wiederum die Metapher des Chiasmus, hier in der Fassung der femininen Form Chiasma, für die Interpretation der Zwischenleiblichkeit. »Wie der natürliche Mensch versetzen wir uns in uns und in die Dinge, in uns und in den Anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden.« 122 Wenn nun die eine Linie das Ich repräsentiert und die zweite den Anderen, dann zeigen sich folgende Verhältnisse:

122

Merleau-Ponty 1964: 209.

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Ich und Anderer sind in dieser Struktur im Sinne der Zwischenleiblichkeit in einem fundamentalen Verschränkungsverhältnis. Es gibt einen Bereich, in dem das Ich wesentlich mehr Einfluss hat als der Andere (links) und einen Bereich, in dem der Andere wesentlich mehr Einfluss hat als das Ich (rechts). So kann dieses Schema zweierlei zugleich leisten. Einerseits bringt es Ich und Anderer in einen engen Zusammenhang, es gibt einen Bereich, der nicht mehr eindeutig dem Ich oder dem Anderen zuzuordnen ist. Darüber hinaus aber gibt es andererseits Bereiche, in denen der Einfluss des Anderen respektive des Ichs sehr groß, der Einfluss der jeweils anderen Größe dagegen fast nicht mehr nachweisbar ist. So kann das Schema die Eigenständigkeit von Ich und Anderem, bei dem das Ich oder der Andere jeweils dominant sind, ebenso beschreiben wie jene Bereiche, in denen beide Größen annähernd gleichen Einfluss haben. Das Verschränkungsverhältnis kommt erst dann in den Blick, wenn man erkennt, dass es eine Zone gibt, in der Ich und Anderer fast unauflöslich, aber hoch spannungsreich miteinander verwoben sind. Hier kommen genau die Umschreibungen zur Geltung, die wir schon für die Erscheinungsweise X herausgearbeitet haben. Wenn man den Chiasmus als ausgeführtes graphisches Schema sowohl auf die Verschränkung des eigenen Leibes mit der Welt wie auch des Ich mit dem Anderen nutzt, so stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Chiasmen. Nun kann man durch einfache Überlegungen zeigen, dass sie weder völlig unterschieden sind, noch 337 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

aber auch miteinander identifiziert werden können. Sie können schon deshalb nicht identifiziert werden, weil ja beide Schemata auf die Erscheinungsweise X weisen, die sich grundlegend einer Identifizierung entzieht. Es gilt immer zu bedenken, dass die Chiasmen nicht eineindeutige Abbildungen von »Realität« sind, sondern nur eine Hilfe, Phänomene miteinander in Beziehung zu setzen, ohne eine übergreifende Ordnung etablieren. Wenn man diese begrenzte Orientierungsfunktion der Schemata berücksichtigt, dann zeigt sich, dass ihre Orientierungen gewisse Nähen aufweisen: In der Mitte beider Schemata befindet sich jene Erscheinungsweise, die nur über eine geringe Ordnung verfügt, die in paradoxalen Wendungen beschrieben werden muss, an den Rändern dagegen liegen jene Erscheinungsweisen, die durch einen hohen Grad an Ordnung ausgezeichnet sind. Die Chiasmen von Ich und Anderer bzw. von Leib und Welt sind keine voneinander unabhängigen Dimensionen, die sich zueinander orthogonal verhielten. Vielmehr bedingen sie einander. Erst durch die Verschränkung mit dem Anderen wird eine sprachliche Vermittlung möglich, die eine konstitutive Rolle für das Erscheinen der Welt spielt. »Das An-sich-Sein, das Sein für einen absoluten Geist erhält fortan seine Wahrheit von einer ›Schicht‹ her, in der es weder einen absoluten Geist noch eine Immanenz der intentionalen Objekte in dem Geiste gibt, sondern nur inkarnierte Geister, die durch ihren Leib ›zur selben Welt gehören‹.« 123 Die Sphäre dessen, was Merleau-Ponty mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit zu fassen sucht, hat damit eine grundlegende Bedeutung auch für das Verständnis der objektiven Welt. Das, was wir als objektive Welt beschreiben, setzt ein basales Bei-den-Dingen-Sein voraus, das über die Existenz des Anderen vermittelt ist. Merleau-Ponty hält in Bezug auf die objektive Welt fest: »Die logische Objektivität leitet sich von der leiblichen Intersubjektivität (intersubjectivité charnelle) her, vorausgesetzt, dass sie als solche vergessen worden ist (…), die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) überschreitet sich und ignoriert sich schließlich als Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) (…).« 124 Indem dieses Geschehen vergessen wird, entsteht so am Ende eine objektive Welt und eine klare Unterscheidung von Ich und Anderem. Wenn man erst hier ansetzt und die Bedingungen missachtet, aus denen heraus sie entstanden sind, wird man auf eine falsche Fährte geleitet. 123 124

Merleau-Ponty 1959: 262. Merleau-Ponty 1959: 262 f. (Hervorhebung im Original)

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Die Konstitution der Welt und die Existenz des Anderen greifen ineinander, was auch durch die schon erwähnte Metapher des Fleisches angezeigt wird: »Die gesehene Welt ist nicht ›in‹ meinem Leib, und mein Leib ist letztlich nicht ›in‹ der sichtbaren Welt: als Fleisch, das mit einem Fleisch zu tun hat, umgibt ihn weder die Welt, noch ist sie von ihm umgeben. (…) Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.« 125 Trotz des generalisierten Verflechtungsgeschehens macht es Sinn zwischen der Verbundenheit des Zur-Welt-Seins und der Verbundenheit des Ichs zum Anderen zu unterscheiden. Beide repräsentieren zusammen das, was Waldenfels unter Bezug auf Merleau-Ponty das transzendentale Feld nennt: In der »Phänomenologie der Wahrnehmung« »kommt es zur Herausbildung eines transzendentalen Feldes, innerhalb dessen sich das System Ich-Anderer-Welt konstituiert (…).« 126 Die Verhältnisse Ich-Anderer und Leib-Welt implizieren keine Über-Ordnung, sie sind als Schemata nur heuristische Hilfen einer Arbeit »im Feld«. Sie gestatten gewisse Orientierungen angesichts einer Vielzahl von Erscheinungsweisen, ohne dass sie damit Ordnungen in einem strengen Sinne als konsistente Systematiken aufbauen. Diese Interpretation der Verflechtung mit dem Anderen, der Zwischenleiblichkeit, soll nun als Grundlage für eine phänomenologische Analyse der Personalität Gottes dienen.

F.

Gott als Vater »Sondern wir haben einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! (αββα, ὁ πατήρ)« (Röm 8,15).

Die Anrede Gottes als »Vater« war im Judentum zurzeit Jesu eher selten. 127 Sie war traditionell mit zwei Aspekten verbunden, einem, der Distanz zum Ausdruck bringt, in dem die Verpflichtung zum GeMerleau-Ponty 1964: 182. Waldenfels 1986: 162. (Hervorhebung im Original) Mit dem Wort »transzendental« sind hier also Möglichkeitsbedingungen von Phänomenen der Wirklichkeit beschrieben, jedoch nicht so, dass diese Bedingungen auf eine Ordnung jenseits des Feldes zurückgeführt werden können. Das Feld, das sich herausbildet, ist ein nach allen Seiten offenes Feld, zu dem wir nur einen Zugang haben, weil wir uns schon immer auf ihm befinden. 127 Vgl. Jeremias 1966: 19. 125 126

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

horsam eine Rolle spielt, und einem, der die Fürsorge, Barmherzigkeit und Nähe betont und Gott als Helfer in der Not sieht. 128 Gerade letztere wird durch die Anrede Abba noch verstärkt, nach Jeremias gilt, »dass die Anrede Gottes mit Abba in der gesamte jüdischen Gebetsliteratur ohne jede Analogie ist.« 129 Damit vermutet er in dieser Anrede ein Spezifikum der Gebetspraxis Jesu. Nähe und Distanz zu Gott als Person werden so erkennbar, mit einem deutlichen Akzent auf Nähe und Vertrautheit. Worauf weist diese Anrede, die Beschreibung Gottes als personales Gegenüber? Die christliche Rede von Gott steht heute vor einer elementaren Herausforderung, weil sie Gott als Person beschreibt, dies jedoch in dem modernen Weltbild nicht mehr verortet werden kann. Die Vorstellung eines personalen Gegenübers ist vor allem deshalb so problematisch, weil heute zumeist die Zugehörigkeit zur Gattung homo sapiens als notwendige Voraussetzung für den Status einer Person angenommen wird. Gott kann unmöglich die Eigenschaften haben, die man einer Person zumutet: raumzeitliche Konkretheit, Exemplar einer Gattung und so weiter. 130 Doch ist mit dieser Vorstellung das, was eine Person zur Person macht, noch lange nicht erschöpft. Das zeigt sich schon an der Schwierigkeit, die entsteht, wenn man begründen will, warum eine Person als solche geachtet werden soll, warum ihr Rechte zukommen. Hier reicht die Zuordnung zu einer Gattung nicht aus, der Begriff der Person weist über die Bestimmung eines biologischen Wesens hinaus. 131 Tatsächlich müssen wir konzedieren, dass es nach wie vor weitgehend unklar ist, welVgl. Jeremias 1966: 22 f. Jeremias 1966: 59. 130 Dies ergibt sich zum Beispiel aus dem deskriptiv-sortalen Gebrauch des Begriffes Person, vgl. Quante 2007: 18. Die Problemlage war in der Zeit der Anfänge der christlichen Rede von Gott vollkommen anders. In dieser Zeit war der Begriff der Person geradezu eine Hilfe, mit der von der Philosophie bereit gestellten Terminologie Aussagen über Gott machen zu können. So ist die Zwei-Naturen-Lehre der Person Christi, so ist die Trinität als die Einheit Gottes in drei Personen gefasst worden. Doch ist ein solch komplexes Verständnis des Terminus »Person« heute verblasst, er erscheint zu den uns gängigen Vorstellungen der Weltbeschreibung nicht mehr kompatibel. 131 Auch Verfechter naturalistischer Positionen wie Dennett bieten Bedingungen für Personalität, die über die biologische Bestimmungen hinaus gehen, vgl. Quante 2007: 24. Doch letztendlich ist es wichtig, eine ganz andere Perspektive einzunehmen, entscheidend ist die Achtung einer Person als Person, welche nur durch eine konstitutiven Beteiligung dessen möglich ist, der über den Personenstatus urteilt, vgl. auch Vogelsang 2014(3): 311. 128 129

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

ches die Bedingungen sind, die die Zuschreibung von Personalität erfordert. Die Analyse der Zwischenleiblichkeit durch den Chiasmus legt nahe, dass das, was eine Person zur Person macht, etwas ist, was mit der Verbundenheit bzw. Verschränkung von Ich und Anderem bestimmt ist, was auf elementare Weise auf die Wirklichkeit der leiblichen Existenz weist. Unsere leibliche Existenz ist keine Insel, sondern von Beginn an mit anderen Menschen verschränkt. Dies zeigt sich insbesondere in der Erscheinungsweise X, deren Phänomene auch als Verbundenheit des Ichs mit dem Anderen gedeutet werden können. Hier gibt es nicht mehr das Ich, das auf den Anderen trifft, sondern ein Ich, das aus der Verschränkung mit dem Anderen entstammt. Dadurch entsteht aber kein Gleiches, so wenig wie sich in der gegenseitigen Verschränkung Eigenes und Fremdes auflösen. Vielmehr stehen hier beide in einer dialektischen Beziehung zueinander: Ich und Anderer sind einander ein Gegenüber und doch sind sie unauflösbar miteinander verbunden. Wenn wir verstehen wollen, was eine Person zur Person macht, so müssen wir auf die Phänomene dieser Erscheinungsweise achten. Da sich diese nur zeigen, wenn man selbst direkt beteiligt ist, so wird deutlich: Die Zuschreibung von Personenwürde ist nur dann möglich, wenn man die eigene Beteiligung in dem Vorgang der Zuschreibung nicht aus den Augen verliert. Ein Anderer wird nur dadurch zur Person, weil Ich mit dem Anderen verflochten ist. Die explizite Zuschreibung der Personalität vollzieht die immer schon bestehenden Verhältnisse der Erscheinungsweise X in den Erscheinungsweisen Kultur nach. Die Rede von Gott dem Vater kann auf dieser Grundlage ähnlich wie die Rede vom Reich Gottes als eine Weise verstanden werden, auf einen fundamentalen Zugang zur Wirklichkeit aufmerksam zu machen. Inwieweit kann der Ausdruck »Vater« als ein Grenzausdruck verstanden werden, der auf die menschliche Response einer Gotteserfahrung hindeutet und damit auf Phänomene der Erscheinungsweise X? Das Schema des Chiasmus als Verschränkung des Ichs mit dem Anderen in der Zwischenleiblichkeit greift das konstitutive Verhältnis des Ichs zu dem Anderen auf. Die Phänomene weisen nicht auf diesen oder jenen Menschen als den Anderen, sie weisen grundsätzlicher auf eine fundamentale Abhängigkeit von Menschen zueinander. 132 Diese Verflechtung lässt sich mit alltäglichen Anschauungen 132

Dies hat eine systematische Nähe zu dem soziologischen Ansatz von George Her-

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Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

nicht kombinieren, da wir hier eher von der sekundären Verbindung von Individuen ausgehen: Jeder Mensch ist zunächst einmal bei sich selbst und kann dann in einem zweiten Schritt Kontakt zu anderen aufnehmen. Die nur schwer zu fassenden Phänomene der Erscheinungsweise X lassen sich in paradoxalen Beschreibungen indirekt adressieren: Ich und Anderer sind absolutes Gegenüber wie Eigenes und Fremdes und doch ist zugleich Ich nie ohne Anderen. Die Verhältnisse weisen auf fundamentale Erfahrungen und können deshalb als Response menschlicher Erfahrungen mit Gott gedeutet werden. Wenn Gott als der Andere in der menschlichen Response erscheint, dann ist offenkundig, dass das Ich nicht ohne den Anderen sein kann. Eben dies bekennt die Rede von Gott auch dann, wenn sie Gott als den Schöpfer und Erhalter beschreibt. In dieser Erscheinungsweise zeigt sich ein zwischenleibliches Verhältnis, das gerade in der ontogenetischen Betrachtung eine hohe Plausibilität erfährt. Der Vater oder die Mutter sind existentiell wichtige Personen im Leben eines Menschen. Jeder Mensch ist in der ersten Zeit seines Lebens elementar auf Andere angewiesen, die sich seiner annehmen. Die sorgenden Menschen werden nicht als andere Menschen, sie werden als Ich und zugleich als Welt wahrgenommen. In der Erscheinungsweise X zeigt sich also jene Dimension der Wirklichkeit, der wir alle entstammen und in der wir immer und zu jeder Zeit sind. Der konstitutiven Verbundenheit steht aber zugleich eine abgrundtiefe Distanz gegenüber. Gott ist eben auch der ganz Andere, dem das Ich gegenübersteht. Beide Bestimmungen gelten zugleich trotz ihrer Widersprüchlichkeit. Auf der einen Seite erscheint Gott als ein Gegenüber zum Menschen, hier ist Gott der Vater, vor dem der Mensch steht (coram deo), vor dessen Angesicht er erscheint, auf der anderen Seite ist Gott die Bedingung seiner Existenz, er kann nicht ohne Gott sein. Beides ist auch in dem Ausdruck »Gott als Vater« aufbewahrt. Diese beiden fundamentalen Verhältnisse entsprechen sehr genau den Beschreibungen, mit denen biblische Menschen in ihrer Rede von Gott dieses Verhältnis deuten, das Gegenüber, etwa als Richter auf der einen Seite und das Getragensein durch den Schöpfer und Erlöser auf der anderen Seite. Zu einem Gegenüber kann man reden, in der Tradition wird aus der Rede von Gott die Rede zu Gott. Bislang haben wir in dieser Untersuchung diese Komponente bert Mead, der die sozialen Interaktionen der Konstitution des Individuums voranstellt, vgl. Vogelsang 2014 (1): 285 ff.

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Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

durch eine Konzentration auf die Rede von Gott außen vor gelassen. In gewisser Weise ist die Rede zu Gott auch Teil der Rede von Gott, wenn diese Rede für andere vernehmbar geschieht. Denn dann ist sie nicht nur eine intime Geste, sondern zugleich öffentliches Zeugnis. Dies gilt etwa für alle Gebete im Rahmen eines Gottesdienstes. Es gibt noch weitere Aspekte, die mit der Vorstellung Gottes als Person, insbesondere mit der Vorstellung von Gott als Vater verbunden sind. In einer solchen Rede von Gott überlagern sich zwischenmenschliche Erfahrungen mit den Erfahrungen mit Gott. Wird etwa der natürliche Vater eher als bedrohlich erlebt, dann kann die Vorstellung von Gott als Vater nachhaltig gestört sein. Diejenigen, die diese Sprachform ablehnen, assoziieren mit der Ausdrucksform Vater oft jene Rollenzuordnungen, die sich in spezifischen kulturellen Traditionen, also in der Erscheinungsweise Kulturd, zeigen. Dies führt dann zu plausiblen Versuchen, den Begriff Vater durch den der Mutter zu ersetzen. Das ist aber im Grundsatz keine Infragestellung des Gebrauchs des Grenzbegriffs »Gott der Vater«, denn offensichtlich ist mit dem biblischen Begriff, wenn er denn als Grenzbegriff verstanden werden soll, nicht eine soziale Rolle gemeint (dies bliebe innerhalb der Erscheinungsweisen Kultur), vielmehr weist er auf Phänomene der Erscheinungsweise X, in der kulturelle Rollen keine Bedeutung haben. Sollte ein Grenzbegriff kulturell belastet sein, so ist durchaus eine Variation denkbar. Mit Ricœur kann man darauf hinweisen, dass die Umschreibung Gottes nur mit Hilfe einer Vielzahl von Nennungen möglich ist. Die phänomenologische Analyse zeigt aber, dass die traditionellen Redeformen von Gott als Vater nicht allein aus alten Mythologemen stammen, die mit dem heutigen Wissensstand abgelehnt werden müssen, sondern dass sie als adäquate Ausdrücke verstanden werden können für Phänomene, die sich nur indirekt erschließen lassen. Die Weise, Gott als personales Gegenüber (einerlei ob als Vater oder Mutter) zu beschreiben, ist ein spezifischer Zugang zu den Phänomenen in der Erscheinungsweise X.

G.

Einssein in Christus

Die Rede von Gott geht in manchen Ausdrücken über die des Gegenübers wie des Vaters hinaus. Hier ist das Gegenüber durch ein Einssein, durch ein Insein ersetzt. Vor allem Paulus hat dieses Verhältnis betont durch den Grenzausdruck »In Christus sein«. Die Menschen, 343 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

die der christlichen Gemeinde angehören, sind »in Christus«. Was meint das? Auch diese Grenzausdrücke können mit Hilfe der Interpretation der Erscheinungsweise X im Schema des Chiasmus als Verschränkung von Ich und Anderer interpretiert werden. »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus (εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ).« (Gal 3,28). Der Ausdruck »in Christus sein« bei Paulus hat eine revolutionäre Komponente. Mag es auch weltliche und traditionelle soziale Strukturen und Rollenverteilungen geben, so werden diese hinfällig, wenn man die eigene Existenz als »in Christus seiend« bestimmt. Menschen »in Christus« verlieren die eindeutigen Bezüge, die soziale Rollen, kulturelle Zugehörigkeit oder ökonomische Strukturen auferlegen. »In Christus sein« ist gleichbedeutend mit der Freiheit in Christus, von der Paulus an anderer Stelle redet (Gal 5,1). Das Schema des Chiasmus weist auf Erfahrungen von Identität, die sich nicht nach kulturellen Traditionen und auch nicht nach Formen von Individualität und der Maßgabe von zugewiesenen Kriterien ermisst, wie sie in den äußeren Erscheinungsweisen möglich sind. Diese Identität bestimmt sich vielmehr aus der Erfahrung einer dialektischen Verbindung von Ich und Anderem in der Erscheinungsweise X, wie sie die Interpretation der Zwischenleiblichkeit ausgewiesen hat. Hier ist der Andere bestimmt durch das Ineinander von Ich und Anderem. In gewisser Weise sind Ich und Anderer anonymisiert. Die Analyse der Erscheinungsweise X in Verbindung mit dem Chiasmus von Ich und Anderem zeigt, dass die Existenz des glaubenden Menschen in keiner Weise hinreichend beschrieben ist, indem man sich auf das Individuum konzentriert. Im Gegenteil, die christliche Existenz ist gerade dadurch gekennzeichnet, das in entscheidender Hinsicht, nämlich in Beziehung auf Gott, alle individuierenden Aspekte der eigenen Existenz im Sinne einer Unterscheidung gegenüber anderen anhand äußerer Kriterien an Relevanz verlieren. Dies bedeutet nicht, dass ein indifferenter Zustand eintritt, der nicht mehr zwischen Ich und Anderem unterscheidet, wohl aber, dass »vor Gott sein« bzw. »In Christus Sein« sich nicht nach äußeren Kriterien bemisst. Diese Erfahrung des Anderen als Anderen ohne weitere Spezifizierung der jeweiligen Besonderheit kann als ein menschliches Response-Verhalten auf die Zuwendung Gottes verstanden werden, auf die etwa der 344 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Phänomenologische Untersuchungen einiger Grenzbegriffe

Grenzausdruck »In Christus Sein« weist. So sehr in dem Grenzausdruck »Gott als Vater« das Gegenübersein im Vordergrund steht, so sehr ist hier das Verbundensein im Mittelpunkt. Beide Bestimmungen, das hat die Analyse der Zwischenleiblichkeit ergeben, sind als zueinander gegensätzliche Bestimmungen der Phänomene der Erscheinungsweise X möglich. Der Grenzausdruck »In Christus Sein« weist aber zugleich über die Referenz der Verbundenheit von glaubenden Menschen hinaus auf den Grund der Verbundenheit, auf Gott. In einer gewissen Drastik werden durch diese Formulierung die glaubenden Menschen und Gott miteinander verbunden. Menschen existieren nicht mehr in ihrer Eigenständigkeit, sondern »in« dem auferstandenen Christus selbst. Unmittelbar vor der zitierten Stelle im Galaterbrief schreibt Paulus davon, dass Christen durch ihre Verbindung zu Gott, durch ihren Glauben »in Christus« seien, ja geradezu Christus angezogen haben: »Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.« (Gal 3,26.27). Offenkundig bündelt der Ausdruck »in Christus sein« gleich mehrere fundamentale Bedingungen christlicher Existenz. Auf der einen Seite nimmt er Bezug auf den Glauben, durch den Menschen zu Kindern Gottes werden. Hier taucht auch wieder indirekt die Beschreibung Gottes als Vater auf. Andererseits bezieht er sich auf die Wirklichkeit der Gemeinde, deren konstitutive Handlung die Taufe ist. Wer getauft ist, gehört der christlichen Gemeinde an und ist damit in eine neue Seinsweise gestellt. Dies beschreibt Paulus mit der anschauungsreichen Metapher, dass die Getauften Christus angezogen haben. Glaube und Taufe konstituieren die denkbar engste Verbindung mit Gott. Zugleich aber wirkt diese Verbindung mit Gott auf die glaubenden Menschen zurück. Denn nun sind sie eins in Christus, die individuierenden Merkmale, seien es solche der Abstammung (Jude, Grieche), solche des sozialen Status (Sklave, Freier) oder solche des Geschlechts (Mann, Frau) gelten nicht mehr. Die Verbundenheit mit Gott, die in dem »In Christus Sein« zum Ausdruck kommt, weist weiterhin auch über die Gemeinschaft der Getauften hinaus. Hier kommt der Universalismus zum Tragen, von dem Badiou spricht. 133 In Christus sind nicht nur alle Christinnen und Christen erfasst, sondern tendentiell die ganze menschliche Welt. 133

Vgl. Badiou 1977: 21 f.

345 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Grenzausdrücke als Phänomene der Erscheinungsweise X

Hier zeigt sich der revolutionäre Universalismus, der die bestehenden und historisch gewachsenen Ordnungen sprengt. »In Christus ist die Menschheit real in die Gottesgemeinschaft hineingezogen (…). Zerfällt die alte Menschheit in zahllose isolierte Einheiten, (…) so ist die neue Menschheit ganz zusammengezogen auf den einen einzigen historischen Ort, auf Jesus Christus (…).« 134 Die Formel »In Christus Sein« bestätigt also nicht bestimmte religiöse Ordnungen, sondern ist als Teil der Rede von Gott zugleich Grund für eine Infragestellung der gegebenen religiösen Ordnung. Überhaupt, und das zeigt die ganze Radikalität des Grenzausdrucks »In Christus Sein«, steht die ganze Wirklichkeit zur Disposition: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden.« (2. Kor 5,17). Der Grenzausdruck weist auf keine Statik, sondern auf eine Dynamik, auf einen fundamentalen Wechsel von Alt zu Neu. Jedoch ist dieser Wechsel nicht in einem deklarativen Sinne möglich, etwa derart, dass Dinge andere Eigenschaften zeigen. Dieser Wechsel von Alt zu Neu, von alter Schöpfung zu neuer Schöpfung, ist als der Wechsel des Hintergrunds zu bestimmen, so wie wir das in der Besprechung des Grenzausdrucks »Reich Gottes« beschrieben haben. So ergibt sich für Bonhoeffer ein radikaler Ausdruck für Zukunft: »Zukunft heißt: Die Bestimmtheit des Seins durch von außen ›Künftiges‹ ; echte Zukunft gibt es erst durch Christus, und die durch ihn neu geschaffene Wirklichkeit des Nächsten und der Schöpfung.« 135

134 135

Bonhoeffer 1930: 91. Bonhoeffer 1931: 157.

346 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

9. Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen

Wir haben in dieser Arbeit die Rede von Gott daraufhin befragt, inwieweit sie Auskunft über die Wirklichkeit gibt, in der wir leben. Offenkundig sind insbesondere die Phänomene der Erscheinungsweisen Kultur und die Erscheinungsweise X mit der Rede von Gott verbunden. Hier gibt es keinen Automatismus, nicht jede oder jeder, die oder der von »Gott« redet, redet deshalb zugleich auch von Gott. Es geht nicht darum, was immer und überall gilt, sondern es geht um Hinweise darauf, was sich in der Rede von Gott zeigen kann. Wir haben anhand einiger hermeneutischer und phänomenologischer Interpretationen biblischer Grenzausdrücke nachvollzogen, inwieweit wir die Rede von Gott als menschliche Antwort auf die Inkarnation Gottes verstehen können. Zu Beginn dieser Arbeit haben wir die naturwissenschaftliche Forschung als eine zentrale Herausforderung für die 347 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen

Rede von Gott identifiziert. Es ist eine Stärke des Schemas des Chiasmus, dass es unterschiedliche Erscheinungsweisen der Wirklichkeit differenziert. So war es möglich, zunächst einmal die Erscheinungsweise, die die Methoden der Naturwissenschaften erschließen, also die Erscheinungsweise Ding wie auch die Erscheinungsweise Gedanke außen vor zu lassen. Doch bleibt die Frage, ob die Rede von Gott nicht doch auf diese Erscheinungsweisen bezogen werden kann. Hat die naturwissenschaftlich beschriebene Wirklichkeit keinerlei Bezug zu der Rede von Gott?

1.

Vor Gott ohne Gott: zur Erscheinungsweise Ding

Ohne Zweifel gilt: Die Rede von Gott betrifft alle Bereiche und Phänomene der Wirklichkeit oder sie ist nicht wirklich Rede von Gott. Gott wird in den biblischen Texten als Schöpfer von Himmel und Erde beschrieben, alle Dinge sind durch ihn geschaffen. Es gibt keine Nebengötter mit eigenen Territorien, keine von Gott unabhängigen Mächte und Gewalten (Kol 2,15), es gibt keine Bereiche der Wirklichkeit, die nicht mit Gott in einem Zusammenhang stehen. Muss dann nicht aber dieser Zusammenhang auch für die Phänomene der äußeren Erscheinungsweisen aufzeigbar sein, also ein Zusammenhang mit den naturwissenschaftlich beschriebenen Dingen? Doch in welche Beziehung sollten die physikalischen Entitäten wie das Universum oder die Elementarteilchen mit der Rede von Gott gesetzt werden können? Dietrich Bonhoeffer hat sich in allen Phasen seiner theologischen Arbeit intensiv mit der Frage beschäftigt, wie die Bedeutung der Rede von Gott für die Wirklichkeit, in der wir leben, zum Ausdruck gebracht werden kann. Er hat dabei in unterschiedlichen Phasen verschiedene Antworten erprobt. Berühmt geworden sind Aussagen und Formulierungen, die seine Briefe aus der Haftanstalt Tegel im letzten Lebensjahr dokumentieren. Gerade die Auseinandersetzung mit der Erkenntniskraft der Naturwissenschaften führen den Theologen Bonhoeffer zu radikalen Formulierungen: »Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden (…). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten. Ein erbaulicher Naturwissenschaftler, Mediziner etc. ist ein Zwitter. Wo behält Gott noch Raum? Fragen ängstliche Gemüter (…). Und wir können nicht redlich sein, ohne zu 348 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Vor Gott ohne Gott: zur Erscheinungsweise Ding

erkennen, dass wir in einer Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹ – und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34).« 1 Diese hoch verdichteten Sätze vereinen wie ein Brennglas elementare Anfragen an die Rede von Gott in der Neuzeit. Es ist das Verdienst Bonhoeffers, die Herausforderung klar benannt zu haben: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirklichkeit lassen sich nicht einfach über eine theologische Methode in die Rede von Gott einbinden. Die von den Naturwissenschaften beschriebene Wirklichkeit erscheint zunächst einmal als eine Wirklichkeit, als ob es Gott nicht gäbe. Doch, so die dialektische Folgerung Bonhoeffers, genau dies ist exakt unsere Situation vor Gott. Gott lässt sich nicht leichthin mit den Ordnungen der Wirklichkeit in Verbindung bringen und doch heißt das nicht, dass sie ohne Bezug auf ihn existieren. Die verkürzten und deshalb unausweichlich vieldeutigen Aussagen in der Korrespondenz mit seinem Freund Eberhard Beghte dürfen nun nicht so verstanden werden, als räumte Bonhoeffer das Feld und überließe die Welt säkularen Deutungsweisen. Er lässt sich aber nicht auf einfache Antworten ein, er nimmt keine kurzschlüssigen Identifizierungen vor. »Vor Gott ohne Gott zu sein« ist eine Kurzformel unserer Situation, wenn wir auf die naturwissenschaftlich beschriebene Welt schauen. Doch wird man darauf achten müssen, welche Konsequenzen man daraus zieht. Zwei Argumente relativieren den ersten Eindruck dieser Beschreibung: Erstens ist, wie schon festgestellt, auch die naturwissenschaftlich beschriebene Wirklichkeit keine geschlossene Struktur. Sie ist es nicht nur deshalb nicht, weil es Phänomene jenseits der Erscheinungsweise Ding gibt. Sie ist es vor allem auch deshalb nicht, weil diese naturwissenschaftlich beschriebene Welt alles andere als geschlossen ist. 2 Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus sind durch eine hohe Ordnung bestimmt. Wenn man jedoch der Regel folgt, dass es innerhalb des Schemas mehr oder weniger Ordnung gibt, so sind auch die Phänomene in den äußeren Erscheinungsweisen nicht vollständig geordnet. Die Ordnungen der Erscheinungsweise 1 2

Bonhoeffer 1951: 532 f. Vgl. auch die Argumente in Kapitel 4.4.

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Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen

Ding haben etwa in physikalischen Theorien einen hohen Grad erreicht und doch sind sie nicht geschlossen. Man kann etwa auf die instabilen Prozesse in der Natur verweisen, die sich einer Berechnung entziehen, 3 man kann Erkenntnisse aus der Chaostheorie oder auch aus der Quantentheorie nennen. 4 Die Vorstellung, die etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Laplace vertrat, nämlich die eines kausal geschlossenen Universums, ist obsolet geworden. 5 In dem Chiasmus sind diese Erkenntnisse dadurch abgebildet, dass es keine Phänomene gibt, die nicht der grundlegenden Verschränkung von Leib und Welt entstammen. Damit sind alle Phänomene, auch die an den Rändern des Schemas, vermittelt, es gibt eine kontinuierliche Veränderung der Ordnungsgrade, es gibt aber keinen Übergang in eine vollständige Ordnung. Sicherlich stehen die Phänomene, die die Naturwissenschaften zum Vorschein bringen, in einem sehr weitreichenden Ordnungszusammenhang, aber auch hier wird es immer offene Probleme und unlösbare Fragestellungen geben. In gewisser Weise bleibt das Schema des Chiasmus und bleiben damit alle Phänomene auf einen undefinierbaren Punkt im Zentrum des Chiasmus x bezogen. Zweitens gibt es spezifische Fragestellungen, die den Mangel einer umfassenden und vollständigen Ordnung besonders deutlich werden lassen. So differenziert und umfangreich die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit ist, in Bezug auf manche Fragen zeigt sie klare Grenzen. Zu diesen Fragen gehört die nach dem Sinn des Ganzen der Wirklichkeit. Auch säkulare Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen diese Frage immer wieder. Erstaunlich ist nun aber, dass man aus ein und demselben naturwissenschaftlichen Befund sehr unterschiedliche Konsequenzen ziehen kann, die naturwissenschaftlich beschriebene Welt kann sowohl als sinnlos wie auch als sinnvoll gewertet werden. Eine intensive Diskussion wird um das so genannte anthropische Prinzip geführt. »Es besagt in seiner 1961 von Robert H. Dicke begründeten ›schwachen‹ Version, dass das Universum Eigenschaften besitzen muss, die die »Natur ist Natur, insofern sie zur Instabilität fähig ist; sie tanzt, bildlich gesprochen, auf des Messers Schneide – und sie legt uns nahe, unsere Erkenntnis- und Handlungsgrenzen im Blick zu halten.« Schmidt 2015: 324. 4 »In addition to the robust, predictable systems he (scil. Newton, FV) considered (like pendulums and planets) there is a multitude of exquisitely sensitive systems whose behaviour is intrinsically unpredictable because the slightest disturbance will totally change its character.« Polkinghorne 1998: 25. 5 Vgl. Schmidt 2015: 145 f. 3

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Vor Gott ohne Gott: zur Erscheinungsweise Ding

Entstehung von Leben und intelligentem Wesen zulassen. Die ›starke‹ Version des anthropischen Prinzips ist 1973 von dem britischen Physiker Brandom Carter vorgetragen worden und besagt, das Universum müsse so beschaffen sein, dass es die Entstehung von intelligenten Wesen (…) nicht nur zulässt, sondern über kurz oder lang notwendig hervorbringt.« 6 In dieser Diskussion geht es um die Einordnung der Bedingungen des physikalischen Universums und den Versuch der Deutung dieser Struktur als ein sinnhaftes Ganzes. Offenkundig gibt es eine Anzahl von Naturkonstanten, die, bei gleichbleibenden Naturgesetzen, auch ganz andere Werte haben könnten. Doch dann wäre auf der Erde kein Leben möglich. Die Naturkonstanten werden in der Argumentation des anthropischen Prinzips nicht als Zufall gewertet, sondern als Ausdruck eines der Natur inhärenten Ziels. Die physikalisch beschriebene Welt erscheint so als außerordentlich sinnvoll, manche sehen hierin einen Hinweis auf die Existenz Gottes. Doch, und das ist das Eigentümliche, die naturwissenschaftlich exakt gleiche Beschreibung der Ordnung der Welt kann auch als Ausdruck eines sinnleeren Zufalls gewertet werden. Dementsprechend sagt Jacques Monod über den modernen, naturwissenschaftlich informierten Menschen folgendes: »Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnnungen, Leiden oder Verbrechen.« 7 Die unterschiedliche Bewertung ein und desselben naturwissenschaftlichen Befundes lässt nur einen Schluss zu: Es gibt keine zwingenden Gründe für eine bestimmte Verbindung der Erkenntnisse der Physik mit Aussagen über den Sinn der Welt. 8 Hier kann erneut auf die Deutung des Grenzausdrucks »Reich Gottes« als Hintergrund zurückgegriffen werden. Wenn man die Diskussion um den Sinn des Ganzen als eine Debatte um den Hintergrund all der Dinge, die sich uns in naturwissenschaftlicher Beschreibung zeigen, interpretiert, dann kann man die Instabilität des Urteils auch als Instabilität der Auffassungen zu dem Hintergrund deuten. Es ist, wie dargestellt, möglich, alle Dinge, die sich zeigen, vor dem Hintergrund der Existenz Gottes als Schöpfer zu sehen. Dann sind sie bezogen auf einen sinnspendenden Grund. Doch ebenso können Pannenberg 1991: 94. Monod 1971: 211. 8 Mutschler fällt ein scharfes Urteil: »Ich halte die starke Version dieses Prinzips für zirkulär und die schwache für eine Trivialität (…).« Mutschler 2005: 258. 6 7

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Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen

sie auch vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit, einer gähnenden Leere, des Nichts gesehen werden. Dann werden alle Dinge entwertet, sie wirken als rein zufällige Konstellationen, die ebenso nicht sein könnten. Beides ist möglich, über den Hintergrund verfügen wir nicht. Die physikalische Wirklichkeit kann als Schöpfung Gottes ausgelegt werden, sie muss es aber nicht. 9 Der Bezug auf Gott bleibt aber innerhalb dieser Erscheinungsweise immer ein Überschreiten der physikalisch beschriebenen Welt, er ist nicht direkt mit den Dingen zu verbinden ist. Und doch wirken die Hintergrund-Erfahrungen, lassen die einen die sinnvollen Naturkonstanten bewundern und lassen die anderen mit der gleichen naturwissenschaftlichen Kenntnis von der Sinnlosigkeit allen Daseins reden. Von den Erkenntnissen der Physik führt kein Weg zum Hintergrund, sei es das Reich Gottes, sei es das Nichts. Die Frage nach dem Sinn zeigt, dass die Phänomene der Erscheinungsweise Ding nicht selbstgenügsam sind. Mutschler zieht im Verhältnis zur klassischen Metaphysik ein kurzes und prägnantes Fazit: »Physik hat es mit Immanenz zu tun, nicht mit Transzendenz. Der direkte Weg von der Physik zu Gott über eine ›metaphysica generalis‹ scheint also verbaut.« 10

2.

Das Ganze der Welt und meiner Identität: zur Erscheinungsweise Gedanke

Nun reden wir, wenn wir von Gott reden, nicht nur über die schwer zu beschreibenden Erscheinungsweisen, sondern immer auch über das »Ganze« der Wirklichkeit, wir gebrauchen Begriffe wie »Schöpfung« oder »neue Schöpfung« oder »Reich Gottes«, die nicht als Beschreibungen partikularer Wirklichkeiten verstanden werden können. Als Repräsentanten einer umfassenden Ordnung gehören diese Begriffe nach der Systematik des Chiasmus in die Erscheinungsweise Gedanke. Bislang haben wir diesen Anspruch der Rede von Gott, auch von dem Ganzen zu reden, problematisiert und jene Differenzierungen betont, die sich für eine phänomenologische Analyse bietet.

Wenn die physikalisch beschriebene Welt vor dem Hintergrund des Reiches Gottes gesehen wird, dann kann man diese Sichtweise als einen Wechsel beschreiben: »Der Standpunkt des Glaubens eröffnet nicht nur einen anderen, sondern neuen Blick auf die ganze Welt.« Dalferth 2010: 255. 10 Mutschler 2005: 261. 9

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Das Ganze der Welt und meiner Identität: zur Erscheinungsweise Gedanke

Doch auch die biblischen Texte haben immer wieder auch »das Ganze« im Blick, wie man an vielen Textstellen sehen kann; immer wieder gibt es direkte und indirekte Bezüge darauf, etwa zu Beginn und am Ende des biblischen Kanons: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (1. Mose 1,1). So endet auch der Kanon biblischer Texte: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen und das Meer ist nicht mehr.« (Offb 21, 1). Bonhoeffer stellt in Anlehnung daran fest: »Die letzte Wirklichkeit erweist sich hier (scil. in der Offenbarung, FV) zugleich als die erste Wirklichkeit, Gott als der Erste und der Letzte, als das A und O.« 11 Diese Gesamtheit der Welt, die hier zum Ausdruck kommt, ist aber nicht in sich selbst zentriert, denn sie wird als Schöpfung beschrieben: »Unsere Welt ist eine exzentrische Welt. Sie hat ihre Einheit nicht in sich selber, sie ist kein abgeschlossenes Universum, sie trägt ihren Grund nicht in sich selbst. Dass sie zu Gott hin offen ist (…), macht sie zur Schöpfung.« 12 Die Wirklichkeit bildet als Gottes Schöpfung eine Einheit, diese Einheit aber ist strikt auf Gott bezogen und nur von ihm aus als Einheit erkennbar. Die Einheit der Welt ergibt sich erst aus der Einheit des schöpferischen Handeln Gottes. 13 Nach Pannenberg ist die Einheit nur dann wirklich gegeben, wenn sie auch die Geschichte erfasst, und das kann nur vom Ende her geschehen: »Erst im Lichte der eschatologischen Vollendung der Welt wird der Sinn ihres Anfangs verständlich.« 14 Bei Paulus findet sich bei der Interpretation der Auferstehung ebenfalls der Gedanke eines abschließenden und umfassenden Geschehens: »Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.« (1. Kor 15,28). Auch die Rede von Kreuz und Auferstehung zielt damit auf eine letzte und umfassende Einheit. Es ist nicht zuletzt der Gerichtsgedanke, der in ähnlicher Weise das Ganze der Identität thematisiert. Paulus formuliert im Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.« (1. Kor 13,12). Am Ende steht auch eine Erkenntnis der eigenen Person in Gänze. 11 12 13 14

Bonhoeffer 1949: 33. Link 2012: 59. Vgl. Pannenberg 1991: 168. Pannenberg 1991: 172.

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Die Rede von Gott und die äußeren Erscheinungsweisen

Dies entspricht einer letztgültigen Identität. Doch auch diese Identität ist nicht ohne Gott zu denken, so wenig die Welt als Ganzes ohne Gott zu denken ist. Die Rede von Gott weist letztlich auf eine Einheit, die Einheit der Welt, die Einheit der Identität vor Gott, coram deo. Doch auch wenn die Rede von Gott auf dieses Ganze, auf die letzte Einheit von Welt und Selbst hin angelegt ist, so bleibt doch dieses Ganze in der menschlichen Rede, wenn sie aus eigenen Stücken, mit eigenem Vermögen darüber Rechenschaft ablegen möchte, ein spekulatives Konstrukt. Das Ganze ergibt sich notwendig aus der Rede von Gott und ist doch sub conditione humana nicht durch begriffliche Darstellung einlösbar. Das Ganze wäre tatsächlich in der Erscheinungsweise Gedanke nur als eine umfassende Ordnung denkbar und gerade eine solche ist nicht denkbar. Das Ganze der Welt und auch die Einheit der eigenen Identität bleiben ein Geheimnis. Das Geheimnis ist aber in der Rede von Gott kein furchterregendes, sondern ein von Vertrauen getragenes Geheimnis. Mit einem der diskutierten Grenzausdrücke formuliert: Es ist »Gott der Vater«, in dem das Geheimnis aufgehoben ist. Dieses Vertrauen kann nun aber nicht in der Erscheinungsweise Gedanke identifiziert werden. Deshalb überschreitet der strikte Gedanke des Ganzen und der Einheit auch die Möglichkeiten der Erscheinungsweise Gedanke, ähnlich wie die Diskussion um das anthropische Prinzip über die Erscheinungsweise Ding hinausweist. Vielmehr gilt: Wer sich auf das Ganze der Wirklichkeit, auf »die Welt« bezieht, legt ein Zeugnis darüber ab, was sie oder ihn letztlich bindet. Es ist nie harmlos, allgemeine Aussagen über »die Welt im Ganzen« zu machen. Wer das tut, bindet sich im Sinne des lateinischen Verbums »religare«. Insofern ist diese Rede vom Ganzen immer auch mit einem Bekenntnis verbunden, eine existentielle Bindung. Damit bezieht sich diese Rede notwendigerweise auf die Phänomene der Erscheinungsweise X. Auch hier zeigt sich: Die Rede von Gott hat aufgrund der philosophischen Reflexion auf die Bedingungen endlicher Erkennntis weder einen Vorteil noch einen Nachteil gegenüber anderen Reden, die das Wagnis unternehmen, vom Ganzen der Wirklichkeit zu reden. Die Rede von Gott muss aber dieses Wagnis unternehmen, denn es ist undenkbar, dass es etwas gäbe, das nicht mit Gott in Beziehung stünde. Die Rede von Gott evoziert einen Bezug auf ein sinnhaftes Ganzes. In der Tradition metaphysisch orientierter Theologie versuchte man, diesen Bezug auf das Ganze mit philosophischen Argumenten 354 https://doi.org/10.5771/9783495818220 .

Das Ganze der Welt und meiner Identität: zur Erscheinungsweise Gedanke

zu stützen: »Die philosophische Theologie hat den einen Gott als den Ursprung der Einheit des Kosmos gedacht.« 15 Das Ganze von Selbst, Welt und Gott verspricht den Zugang zu einer umfassenden Sinnstruktur. Alles Einzelne ist sinnvoll, weil es Teil eines Sinnganzen ist. Weil die Rede von Gott auf eine für Menschen unerreichbare Einheit zielt, gibt es einen wahren Kern der metaphysischen Systeme, die sich um das Verhältnis von Selbst, Welt und Gott bemüht haben. »Es geht bei der Gottesfrage nicht um ein Einzelproblem neben anderen, das man ohne Konsequenzen für sein Selbst-, Welt- und Lebensverständnis so oder so beantworten kann, sondern es geht um den Denk- und Orientierungsrahmen, in dem man sich und seine Welt insgesamt versteht.« 16 Die Rede von Gott bezieht sich auch auf den Rahmen, innerhalb dessen man sich, die eigene Identität und die eigene Welt verstehen kann. Hieran hat die traditionelle Lehre angeknüpft. »Philosophisch wird Gott dementsprechend so gedacht, dass weder Selbst noch Welt ohne Gott wirklich oder möglich sein können (…). Selbst, Welt und Gott sind keine auch der Beobachtung zugänglichen Gegenstände von Welterfahrung, sondern markieren zusammen die Struktur, aufgrund derer uns überhaupt Wirklichkeit erschlossen und zugänglich und Beobachtung von Welt möglich ist.« 17 Kant warnt aber vor dem unreflektierten Gebrauch der regulativen Ideen Welt, Seele, Gott. Er zeigt, dass ihr Gebrauch notwendigerweise in Widersprüche führt. Und doch sind sie nicht einfach obsolet. Sie bleiben regulative Ideen, insbesondere auch für jede Rede von Gott. Unter den Bedingungen, wie sie eine leibphänomenologische Philosophie ausarbeiten kann, ist es nur indirekt möglich, Rechenschaft über das Ganze abzugeben. »Das Ganze« ist für die Rede von Gott kein sicherer Hafen, sondern vielmehr Ansporn zu immer neuen Entdeckungen. Die Sicherheit, die das Verständnis des Ganzen bereiten soll, wird in der Rede von Gott mitten in einer offenen Wirklichkeit ersetzt durch die Gewissheit, die aus der Erfahrung der Zuwendung Gottes lebt.

15 16 17

Pannenberg 1988: 80. Dalferth 2003: 449. Dalferth 1997 (1): 190 f.

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Personenregister

Albrecht, Christian 113, 119, 121 Anselm von Canterbury 18, 65 Aristoteles 65–66, 78, 179, 193 Augustinus, Aurelius 65, 117, 313 Badiou, Alain 33, 35–37, 39, 233, 239, 345 Barbour, Ian G. 84–85 Barth, Karl 24, 54–57, 166, 169 Barth, Ulrich 29, 103–107, 109, 116–117, 166, 231, 257, 259–260, 303 Beuttler, Ulrich 313, 317, 319–320, 324 Blumenberg, Hans 60, 63, 65–68, 71, 217 Böhme, Gernot 322 Bonhoeffer, Dietrich 26–27, 45, 223, 275, 346, 348–349, 353 Bultmann, Rudolf 235 Cramer, Konrad 101–102 Dalferth, Ingolf U. 18, 72, 74, 76–78, 84, 93, 96, 102, 129, 131, 150, 192, 213, 217–218, 224–225, 231, 255, 257, 260–263, 275, 285–286, 295, 302, 329–330, 352, 355 Daston, Lorraine 75 Dennett, Daniel 81–83, 340 Descartes, René 68, 71–73, 95, 125, 136, 139–143, 150, 156, 171, 336 Deuser, Hermann 274 Ebeling, Gerhard 19, 254, 258, 277, 279, 282–284 Ebeling, Hans 153 Evers, Dirk 73, 88

Feil, Ernst 27 Flasch, Kurt 66 Franz von Assisi 69, 233 Frey, Jörg 46–47 Gabriel, Markus 142 Gadamer, Hans-Georg 174–175, 177 Galison, Peter 75 Gerhardt, Volker 96, 103, 119–120, 229 Gnilka, Joachim 46–47 Gödel, Kurt 152 Gräb, Wilhelm 29, 102–104, 107– 110, 112, 114–118, 120, 220 Graß, Hans 112 Hawking, Stephen 81 Heidegger, Martin 135, 153, 175, 237, 282, 287 Heisenberg, Werner 86 Henry, Michel 265, 273 Herms, Eilert 113 Heussi, Karl 254 Hiller, Doris 207, 223, 239, 282, 284 Hoffmann, Veronika 191, 219–220 Huber, Wolfgang 76 Husserl, Edmund 125, 131, 141, 147, 155, 171–172, 290 Jeremias, Joachim 339–340 Joest, Wilfried 308 Jüngel, Eberhard 27, 69–70, 80, 83– 84, 186, 197, 217, 221, 223–225, 246, 249, 257–258, 264–267, 272, 282–283, 299, 307, 329 Kant, Immanuel 17, 100, 120, 139, 198, 259, 355

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Personenregister Kelly, John N.D. 61, 64 Kierkegaard, Sören 15–16, 55, 135, 161, 223, 234–235, 273–274, 278 Köckert, Charlotte 62–63 Korsch, Dietrich 259, 288 Kühn, Rolf 265 Lehnert, Christian 33, 41, 51–54 Lessing, Gotthold E. 76, 229 Lévi-Strauss, Claude 127 Lindbeck, George A. 269 Lindemann, Andreas 37, 39 Link, Christian 64, 72, 88, 164, 186, 188, 193, 199, 288, 353 Losch, Andreas 85 Luther, Martin 38, 42, 233, 254, 263– 264 Marion, Jean-Luc 135 Mattern, Jens 132, 157, 177 Mead, George Herbert 116, 126, 342 Merleau-Ponty, Maurice 16, 23, 29, 91–92, 124–127, 134, 137–140, 144–147, 150, 154, 156, 160–162, 172–174, 183, 189–190, 205, 232, 236, 239, 241, 243–245, 275, 289, 301, 314–318, 321–329, 333, 335– 336, 338–339 Michener, Ronald T. 268 Mlodinow, Leonard 81 Moltmann, Jürgen 55–57, 308 Monod, Jacques 351 Mutschler, Hans-Dieter 351–352 Nagel, Thomas 90–93, 97, 123, 125, 131 Nietzsche, Friedrich 33–35, 49, 171, 174 Nowak, Kurt 98, 107, 112 Pannenberg, Wolfhart 18, 68, 351, 353, 355 Paulus von Tarsus 24, 28, 32–38, 40– 45, 47–50, 52–54, 56–57, 59–60, 64, 68, 72, 78, 87, 89, 106, 120, 133, 165, 169, 190, 200, 217, 219, 222– 223, 225, 233–234, 252–253, 264, 268, 308, 343–345, 353

Peacocke, Arthur 85 Pesch, Otto Hermann 66 Pichler, Wolfram 321 Plessner, Helmuth 323 Polkinghorne, John 85–86, 350 Pollack, Detlef 25 Preisker, Herbert 309 Quante, Michael 340 Redeker, Martin 99–101, 106, 112 Ricœur, Paul 17, 21–24, 30, 48, 132, 147, 149, 156, 159, 169–185, 187– 206, 208–212, 214–215, 219–222, 225–227, 230, 235–240, 245, 247, 251, 256, 260, 267, 272, 278, 285, 306, 308–310, 312, 343 Rosta, Gergely 25 Russell, Robert 85 Schleiermacher, Friedrich 29, 98–103, 106–108, 111–116, 119, 121, 166, 319, 332 Schlette, Magnus 219–220, 237, 269, 288, 296 Schmidt, Jan C. 85–86, 350 Schmitz, Hermann 248, 334 Schnelle, Udo 37, 46–47, 49, 51, 53 Schrage, Wolfgang 39–41, 43–44 Schubert, Anselm 63 Siger von Brabant 66, 68 Simpson, Christopher Ben 162–163 Stoellger, Philipp 257, 261, 263, 271, 296 Taylor, Charles 62, 73–75, 77, 83, 88, 90, 96, 116, 123, 241–244, 278 Tengelyi, László 298 Tetens, Holm 228 Theissen, Gerd 177, 185 Thomas von Aquin 65, 68 Thomas, Günter 44 Thompson, David L. 82 Tillich, Paul 104, 231, 257–259, 314, 320 Vogelsang, Frank 16–17, 86, 122, 124, 139, 147–149, 198, 206, 209, 236– 237, 248, 278, 281, 340, 342

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Personenregister von Brück, Michael 264 von Lüpke, Johannes 76, 229, 285 von Rad, Gerhard 193 von Soosten, Joachim 26 Wagner, Falk 118 Waldenfels, Bernhard 17, 23, 30, 127, 138, 144, 155–156, 158, 183, 205– 206, 236, 241, 243, 245, 263, 269, 289–302, 304, 311–313, 315, 317– 318, 322–323, 325–328, 335, 339

Wallace, Mark 21 Welker, Michael 196, 330–332 Wenz, Gunther 61, 64, 66, 255 Werbick, Jürgen 191 Wiefel, Wolfgang 49, 53 Wiesing, Lambert 271, 325 Wischmeyer, Oda 37, 48 Wittgenstein, Ludwig 252 Wolter, Michael 38–39, 42–44, 49

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