Exklusion im Zentrum: Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit [1. Aufl.] 9783839420164

Die innerstädtischen Favelas sind aus den brasilianischen Metropolen nicht mehr wegzudenken und stellen das kulturelle R

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German Pages 290 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kritische Gesellschaftstheorie und Stadtgeographie
Kritische Gesellschaftstheorie
Critical urban geography
Soziale und urbane Ungleichheit
Die Urbanisierung der Ungerechtigkeit in Brasilien
Zu einer Theorie der Anerkennung
Anerkennende Intersubjektivität als conditio humana
Die Theorie der Anerkennung von Honneth (1992) als neu interpretierte Kritische Theorie
Die Anerkennungssphäre der Liebe
Die Anerkennungssphäre des Rechts
Die Anerkennungssphäre sozialer Wertschätzung
Das Zusammenwirken der drei Anerkennungsformen
Empörungspotentiale – Der Kampf um Anerkennung
Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit
Kritik an der Kritik – Die Anerkennungstheorie als ›bürgerliches Projekt‹
Das Alltagsleben – (Widerständige) Mikropraktiken
Einführende Reflexionen zum Alltagsleben
Die Humangeographie und das Alltagsleben – Eine Rückbesinnung?
Relationaler Raum in der Humangeographie und Soziologie
Zu einer Theorie des Alltagslebens nach De Certeau (1988)
Für eine »Geographie des Möglichen«
Strategien und Taktiken – Taktiken als Praktiken der ›Schwachen‹
Der Raum, der Ort und die Praktiken im Raum
Die Erfahrung des Urbanen und der panoptische Blick
Der Alltag als Fest und die »emotionale Handlungstheorie«
Qualitative Methodologie und Alltagsforschung
Erkenntnistheoretische Probleme der Alltagsforschung
Qualitative Sozialforschung – Methodologische Implikationen
Feldforschung und Methodik
Datenerhebung und Auswertungsprozess
Idiographischer Kontext – Periphere Moderne Brasilien
Ungerechtigkeit als ›soziale Pathologie‹ der brasilianischen Gesellschaft?
Statistischer Überblick
Historische Dimension sozialer Ungleichheit
Rassismus und Ungleichheit
Zweigeteilte Staatsbürgerlichkeit – Subcidadania
Urbane Ungleichheit – Räumliche Nähe und soziale Distanz
Vom urbanen quilombo zur Favela
Exklusion im Zentrum: Die Favela als Paria-Raum
Differenzierung unterprivilegierter urbaner Viertel
Salvador da Bahia
Zur Geschichte und Struktur eines ehemaligen Sklavenmarktes
Die Favela Calabar als Untersuchungsraum
Calabar als organischer Raum
Marginalisierung und Exklusion als Anerkennungsverweigerung
Die Sphäre der Liebe und Freundschaft – Innere Gewalt
Die Sphäre des Rechts – Defizite
Die Sphäre der Wertegemeinschaft und Solidarität – Zuschreibungen
Leistungsideologie als Rechtfertigung der Privilegierung
Selbstverschuldung – »Kultur der Armut«
Habitus des comodismo – Bequemlichkeit
Verachtung und Diskriminierung
Unbeherrschtheit und Immoralismus
Die räumliche Sphäre – Favela als unsichtbarer Raum
(Un-)Sichtbarkeit und Raum – Konzeptuelle Anmerkungen
Visuelle Sichtbarkeit und soziale Unsichtbarkeit
Räumliche Unsichtbarkeit als Voraussetzung für Geographien des Möglichen
Favela als Anerkennungsraum
Intuitiv gegebene Gerechtigkeitsvorstellungen der ›Schwachen‹
Scham und negative Selbstbeziehung
Alltagsleben und Widerständigkeit
Paradoxien des brasilianischen Alltagslebens
Favela-Diskurse und Favela-Freiheitsgrade
Brasilianidade – Favelakultur als Nationalkultur
Boa aparéncia – Der Fetisch der ›Erscheinung‹
Alltagspraktiken als »unproduktive Verausgabung«
Dionysische Praxis – Kollektiver Rausch und Orgiasmus
Anästhetische und palliative Praxis
Alltagspraktiken als Taktiken oder die »Waffen der Schwachen«
Malandragem und jeitinho brasileiro – Ausgleichende Gerechtigkeit
Eine »Kultur des Schweigens« als Taktik?
Praktiken der Widerständigkeit und der Drogenhandel
Schlussbetrachtung
Geographien des Möglichen – Der Wille zur räumlichen Macht
Ein ›zweifelhafter‹ Ausblick: Die brasilianische Stadt als schizo space?
Literatur
Anhang
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Exklusion im Zentrum: Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit [1. Aufl.]
 9783839420164

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Eberhard Rothfuß Exklusion im Zentrum

Urban Studies

Eberhard Rothfuß (PD Dr.) lehrt Humangeographie an der Universität Passau und hat zuletzt eine Professur für Sozialgeographie und Geographische Entwicklungsforschung an der Universität Bonn vertreten.

Eberhard Rothfuss

Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit

Das vorliegende Werk wurde als Habilitation mit dem Titel »Alltagsleben und Widerständigkeit in den Metropolen der Peripheren Moderne – Eine anerkennungstheoretische Studie über Favelas als Räume des Möglichen in Salvador da Bahia (Brasilien)« an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Eberhard Rothfuß und Erik Bertram Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2016-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung | 11 Kritische Gesellschaftstheorie und Stadtgeographie | 17 

Kritische Gesellschaftstheorie | 17 Critical urban geography | 19 Soziale und urbane Ungleichheit | 22 Die Urbanisierung der Ungerechtigkeit in Brasilien | 24 Zu einer Theorie der Anerkennung | 27

Anerkennende Intersubjektivität als conditio humana | 27 Die Theorie der Anerkennung von Honneth (1992) als neu interpretierte Kritische Theorie | 33 Die Anerkennungssphäre der Liebe | 38 Die Anerkennungssphäre des Rechts | 39 Die Anerkennungssphäre sozialer Wertschätzung | 41 Das Zusammenwirken der drei Anerkennungsformen | 43 Empörungspotentiale – Der Kampf um Anerkennung | 45 Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit | 48 Kritik an der Kritik – Die Anerkennungstheorie als ›bürgerliches Projekt‹ | 49 Das Alltagsleben – (Widerständige) Mikropraktiken | 53 

Einführende Reflexionen zum Alltagsleben | 54 Die Humangeographie und das Alltagsleben – Eine Rückbesinnung? | 58 Relationaler Raum in der Humangeographie und Soziologie | 62 Zu einer Theorie des Alltagslebens nach De Certeau (1988) | 65 Für eine »Geographie des Möglichen« | 65 Strategien und Taktiken – Taktiken als Praktiken der ›Schwachen‹ | 69 Der Raum, der Ort und die Praktiken im Raum | 75 Die Erfahrung des Urbanen und der panoptische Blick | 78 Der Alltag als Fest und die »emotionale Handlungstheorie« | 83



Qualitative Methodologie und Alltagsforschung | 89

Erkenntnistheoretische Probleme der Alltagsforschung | 89 Qualitative Sozialforschung – Methodologische Implikationen | 93 Feldforschung und Methodik | 95 Datenerhebung und Auswertungsprozess | 98 Idiographischer Kontext – Periphere Moderne Brasilien | 103

Ungerechtigkeit als ›soziale Pathologie‹ der brasilianischen Gesellschaft? | 104 Statistischer Überblick | 105 Historische Dimension sozialer Ungleichheit | 108 Rassismus und Ungleichheit | 116 Zweigeteilte Staatsbürgerlichkeit – Subcidadania | 120 Urbane Ungleichheit – Räumliche Nähe und soziale Distanz | 121 Vom urbanen quilombo zur Favela | 126 Exklusion im Zentrum: Die Favela als Paria-Raum | 130 Differenzierung unterprivilegierter urbaner Viertel | 135 Salvador da Bahia | 139 

Zur Geschichte und Struktur eines ehemaligen Sklavenmarktes | 139 Die Favela Calabar als Untersuchungsraum | 148 Calabar als organischer Raum | 155 Marginalisierung und Exklusion als Anerkennungsverweigerung | 163

Die Sphäre der Liebe und Freundschaft – Innere Gewalt | 163 Die Sphäre des Rechts – Defizite | 168 Die Sphäre der Wertegemeinschaft und Solidarität – Zuschreibungen | 172 Leistungsideologie als Rechtfertigung der Privilegierung | 172 Selbstverschuldung – »Kultur der Armut« | 174 Habitus des comodismo – Bequemlichkeit | 177 Verachtung und Diskriminierung | 178 Unbeherrschtheit und Immoralismus | 180 Die räumliche Sphäre – Favela als unsichtbarer Raum | 182 (Un-)Sichtbarkeit und Raum – Konzeptuelle Anmerkungen | 182 Visuelle Sichtbarkeit und soziale Unsichtbarkeit | 187 Räumliche Unsichtbarkeit als Voraussetzung für Geographien des Möglichen | 193 Favela als Anerkennungsraum | 195

Intuitiv gegebene Gerechtigkeitsvorstellungen der ›Schwachen‹ | 197 Scham und negative Selbstbeziehung | 202 Alltagsleben und Widerständigkeit | 205

Paradoxien des brasilianischen Alltagslebens | 205 Favela-Diskurse und Favela-Freiheitsgrade | 205 Brasilianidade – Favelakultur als Nationalkultur | 209 Boa aparéncia – Der Fetisch der ›Erscheinung‹ | 214 Alltagspraktiken als »unproduktive Verausgabung« | 216 Dionysische Praxis – Kollektiver Rausch und Orgiasmus | 217 Anästhetische und palliative Praxis | 222 Alltagspraktiken als Taktiken oder die »Waffen der Schwachen« | 226 Malandragem und jeitinho brasileiro – Ausgleichende Gerechtigkeit | 227 Eine »Kultur des Schweigens« als Taktik? | 229 Praktiken der Widerständigkeit und der Drogenhandel | 232 Schlussbetrachtung | 243

Geographien des Möglichen – Der Wille zur räumlichen Macht | 243 Ein ›zweifelhafter‹ Ausblick: Die brasilianische Stadt als schizo space? | 248 Literatur | 251 Anhang | 285 

Im Zweifel für den Zweifel Im Zweifel für den Zweifel Das Zaudern und den Zorn Im Zweifel fürs Zerreißen Der eigenen Uniform […] (Tocotronic, Schall und Wahn, 2010)

Für meine Eltern

Einleitung

»Wir leben hier in der Favela unter schwierigen Bedingungen. Kämpfen jeden Tag um eine Existenz in Würde. Die Menschen außerhalb wissen nichts über uns und unser Leben hier. Es interessiert sie auch nicht. Das ist es, was uns traurig und ärgerlich macht.« (2007/8/89)1

Weltweit sind 81 % der im urbanen Raum lebenden Menschen in Entwicklungsund Schwellenländern beheimatet (UNFPA 2007, S. 1) und jedes Jahr verlassen rund 70 Millionen Menschen ihre ländliche Heimat, um in die Städte der Südhemisphäre zu ziehen. Das sind etwa 1,4 Millionen pro Woche, 200.000 am Tag, 8000 in der Stunde und 130 Menschen pro Minute, die zu neuen Stadtbewohnern2, zumeist Slumbewohnern werden. Bereits heute führen in Lateinamerika rund 27 %, in Südasien 43 % und in China 37 % der urbanen Bevölkerung ein Leben in prekären Verhältnissen (UN HABITAT 2003; 2008). Bis 2030 werden zwei Milliarden Menschen – rund ein Drittel der Weltbevölkerung – in marginalisierten Stadträumen leben. Hat mit diesem statistischen Szenario städtischer Realität die urbane Apokalypse nicht längst begonnen? Neuwirth hat 2006 ein beachtenswertes Werk mit dem Titel Shadow Cities – A billion squatters, a new urban world vorgelegt, worin er eine journalistische Reise in die Armenviertel von Rio de Janeiro, Nairobi, Mumbai und Istanbul unternommen hat, um die dort lebenden Menschen aus ihrem eigenen Leben erzählen zu lassen. In seinem Vorwort Out of the Shadows schreibt er:

1

Die Zuordnung der in der Studie geführten qualitativen Interviews erfolgt über das Jahr der Entstehung (erste Zahl in der Klammer), die Nummer des Interviews (mittlere Zahl) sowie die Seitenangabe im Transkript (letzte Zahl). Zur Kenntlichmachung der Zitate aus der empirischen Untersuchung werden diese kursiv gesetzt.

2

Die folgenden Ausführungen verwenden in aller Regel die kürzere männliche Form der Personenbezeichnung ausschließlich zur besseren Lesbarkeit.

12 | E XKLUSION IM ZENTRUM »In their early days, most squatter communities remained furtive, existing under the political radar. Indeed, this was their principal surviving strategy: to build their homes on undesirable turf, places that allowed them to disappear from public view. But as globalization has pushed the world’s cities into frenzied competition for international tourist and development dollars while at the same time forcing more people to migrate to the cities, concealment is no longer an option. Now, if they are to secure their homes, squatters must assert themselves in a world that wants to deny their legitimacy and, in the most extreme cases, deny them the right to exist altogether. To challenge this, squatters will have to mobilize and organize. They will have to learn how to engage the political system, how to strategize, how to take risks, and how to assess which risks to take. They will have to tap the strength they already have but don’t yet see in themselves.« (Neuwirth 2006, S. xiv)

Neuwirth (2006) assoziiert in seiner detaillierten lebensweltlichen Analyse das Slumleben neben Marginalisierung und Exklusion auch mit Freiheit und Selbstbestimmung und beschreibt dieses aus der Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen als ein tragendes Sozialgebilde. Es erscheint überaus wahrscheinlich, dass die marginalen Stadträume des globalen Südens auch in Zukunft wichtige Sozialgebilde für ein Drittel der Menschheit sein werden. Entgegen dem Sinne einer globalen Gerechtigkeit von Sen (2010), lässt dies im Schatten der Sichtbarkeit und der gesellschaftlichen Anerkennung den Menschen in derartigen urbanen Räumen dennoch ein Leben in der Stadt zu. Ihre Existenzmöglichkeit in der Stadt unterhalb des Radars, wie es Mitchell (2000b) einmal bezeichnet hat, ermöglicht ihnen ein Mindestmaß an Perspektiven von den urbanen Ressourcen profitieren zu können. Der Zwang zum Überleben bringt Kreativität im Handeln hervor, um unter schwierigen Lebensbedingungen Einkommen generieren zu können. Es sind diejenigen Gruppen, die mit ihren unzähligen verborgenen Praktiken die urbane Gesellschaft im grundsätzlichen Sinne konstituieren und nicht unerheblich das kulturelle und ökonomische Rückgrat der Städte bilden. Wenn sich hingegen Mike Davis in seinem jüngeren Werk Planet der Slums (2007) darüber äußert, dass diese prekären Räume das Residuale der Gesellschaft darstellen würden und die Menschen dort in absoluter Unwürdigkeit in »stinkenden Kotbergen« (Davis 2007, S. 145) zu leben hätten, dann darf hier angenommen werden, dass Davis sich diesen Stadtwelten nicht wirklich empirisch genähert hat, sondern sich diese Stadträume als Gegenstand seines linksbürgerlichen Schreibtischprojekts zu Eigen gemacht hat. 3

3

Vgl. hierzu auch die Rezension zu Planet der Slums von Parnreiter (2007).

EINLEITUNG

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Der Preis des Verzichts auf empirische Analyse ist dann eine undifferenziert bleibende Rede über die Exkludierten und »Verdammten dieser Erde« (Fanon 1981) in den Slums dieser Welt. Exkludierte Sozialwelt zu erfahren oder nur darüber schreiben, diesen wesentlichen Unterschied zu erleben, wiederfuhr auch Niklas Luhmann: Nachdem er theoretisch über Exklusion reflektiert hatte und Salvador da Bahia durch eine Brasilienreise kennenlernte, nötigten ihm gänzlich andere, neuartige Einsichten über Kontexte des sozioräumlichen Ausschlusses auf. Es sind doch letztendlich die Träume, Imaginationen und (verborgenen) Alltagspraktiken, die die Menschen in den Schattenstädten der Welt kämpfen lassen, ein eigenes, freies und – im Rahmen ihrer Optionen und ihrer Geographien des Möglichen – selbstbestimmtes Leben führen zu können. Der soziale Raum der Gesellschaft wird im Stadtraum sichtbar. In den urbanen Strukturen, die als Produkte menschlicher Handlungsentscheidungen und Machtdifferentiale städtischer Akteure zu begreifen sind, zeigen sich Lebenswelten, in denen die Bewohner unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten besitzen und einen Kampf um Anerkennung führen. Sie repräsentieren unterschiedliche Milieus, die als Formations-, Verteilungs- und Lokalisationssystem von sozialen Positionen im gesellschaftlichen und urbanen Raum zu betrachten sind. Diese urbane Kondition gilt auch für die Periphere Moderne Brasilien. Im Vergleich zur Zentralen Moderne (z.B. Europa) ist diese durch eine unvollständige funktionale Differenzierung und die Existenz eines sehr asymmetrischen Verteilungssystems sozialer, ökonomischer und räumlicher Lebenschancen gekennzeichnet. Die immensen Ausprägungen einer Arm-Reich-Polarisierung der urbanen Räume führen zu der evidenten wie paradoxen Frage, inwiefern diese soziale Ungleichheit, die sich über Jahrzehnte auf einem konstant hohen Niveau hält, einer durchaus stabilen und ›friedfertigen‹ gesellschaftlichen Lebenswelt gegenübersteht. Die Empörungsarmut der Ausgeschlossenen und Erniedrigten stiftet ebenso Verwunderung bei Deleuze & Guattari (1977, S. 39) in deren Werk Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I: »[…] das Erstaunliche [liegt] nicht darin, daß Leute stehlen, andere streiken, […], [sondern darin], daß die Hungernden nicht immer stehlen und die Ausgebeuteten nicht immer streiken. Warum ertragen die Menschen seit Jahrhunderten Ausbeutung, Erniedrigung, Sklaverei, und zwar in der Weise, daß sie solches nicht nur für die anderen wollen, sondern auch für sich selbst?«

Wohlgemerkt sind Deleuze und Guattari an relativ gerechten und gleichen Gesellschaften der Zentralen Moderne orientiert und nicht etwa an der Peripheren Moderne Brasilien mit seiner strukturellen Ungleichheit, die weltweit Ihresglei-

14 | E XKLUSION IM ZENTRUM

chen sucht. Wie wäre demnach diese gesellschaftliche Stabilität in Brasilien zu erklären, obwohl die alltäglichen unmittelbaren Verletzungen und Demütigungen der Massen allgegenwärtig sind? Weshalb kam es in der Geschichte Brasiliens nur sehr selten zu revolutionären Auseinandersetzungen und Protesten der ländlichen und städtischen Arbeiterklassen? »Der Brasilianer ist sehr offen für so etwas, denn er hat ein sehr großes Herz, er ist nicht jemand der gerne streitet. Streit ist für den Brasilianer der letzte Schritt. An dem Tag, an dem das Volk eine Revolution anzettelt, wird die Welt schon untergegangen sein, denn das ist keine Eigenschaft des Brasilianers.« (2007/6/45)

Die erkenntnisleitende Frage der vorliegenden Studie lautet daher, wie sich dieser – zumindest aus zentraleuropäischer Sicht – Mangel an Empörungspotential der nach Holanda (1995 [1936]) »herzlichen Menschen« erklären ließe und ob andere Formen der Empörung bzw. Widerständigkeit den Herrschenden gegenüber existieren? Eine Annäherung an die Antworten auf diese Fragen erfolgt durch eine empirische Untersuchung einer Favela, einem ›Schattenraum‹ in einer Metropole im nordöstlichen Brasilien. Dabei handelt es sich um die Favela Calabar, einem Marginalviertel im Innenstadtgebiet von Salvador da Bahia.

Abbildung 1: Das Untersuchungsgebiet.

EINLEITUNG

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Die ›Stadtbiographie‹ von Salvador, die ab dem 16. Jahrhundert Zielort des transatlantischen Sklavenhandels nach Brasilien und vom 1549 bis 1714 Hauptstadt der portugiesischen Kolonie war, vergegenwärtigt eindrücklich das Werden, die Brüche und die Komplexität der brasilianischen Gesellschaft. Als soziales und strukturelles Produkt seiner kolonialhistorischen Vergangenheit weist Salvador ausgeprägte ökonomische und soziale Ungleichheiten auf, die sich in hohem Maße über die Hautfarbe exprimieren. Die Stadt spiegelt die innergesellschaftliche Desintegration des Schwellenlandes Brasilien wider. Dabei zeigt sich, dass insbesondere im zentralen Stadtraum von Salvador die Kleinkammerung von Armenvierteln in direkter Nachbarschaft zu Mittel- und Oberschichtvierteln charakteristisch ist. In der Wahrnehmung der Privilegierten wirken dabei die Favelas fast ausschließlich als abstrakte Angst- und Gewalträume, welche in ihrer Existenz ansonsten einer nahezu vollkommenen Verdrängung und Anerkennungsverweigerung unterliegen. Der Schluss liegt nahe, diese innerstädtischen Marginalräume als »unsichtbare Städte« bezeichnen zu können (vgl. Oijma 2007). Ziel der Untersuchung ist es, die fragmentierenden Einflüsse der urbanen Ungleichheit in der Peripheren Moderne Brasilien systematisch dort zu thematisieren, wo sie tatsächlich wirksam werden: Auf der Ebene des alltäglichen Lebens. Es wird erkennbar, dass die Menschen in den Marginalvierteln nicht nur passiv von sozialen und strukturellen Bedingungen geprägt werden, sondern tätig mit Ihrer ›Unsichtbarkeit‹ und Stigmatisierung durch die Herrschenden umgehen, ihre soziale Unsichtbarkeit gar für sich zu nutzen versuchen. Die vorliegende Studie möchte daher ›genauer‹ hinsehen und die (verborgenen) Praktiken der Widerständigkeit unter peripher-spätmodernen Bedingungen in Brasilien untersuchen. Denn eines wäre bereits einleitend zu konstatieren: Allein die jahrzehntelange räumliche Existenz der Favelas in den Innenstadträumen von Rio de Janeiro, São Paulo, Belo Horizonte oder anderen brasilianischen Metropolen zeigt ihre territoriale Widerständigkeit und damit ihren Willen für ein »Recht auf Stadt« im Sinne von Lefebvre (1968). Es soll in dieser Studie überprüft werden, ob das rezente System der kapitalistischen Ausbeutung, Individualisierung und naturalisierten Ungleichheit (Souza 2006) ein opakes ist, und daraus auch unsichtbare und partikulare Widerständigkeiten der ›Schwachen‹ resultieren können. Der vorliegenden Monographie liegt eine anerkennungstheoretische Metaperspektive der Sozialphilosophie (Honneth 1992; 2005) zugrunde, die – bewusstes wie unbewusstes Handeln – in der Gesellschaft paradigmatisch in den intentionalen und vorreflexiven Kontext eines Strebens nach sozialer Anerkennung stellt. Dabei wird versucht, diese in der Sozial- und Stadtgeographie bisher nicht rezipier-

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te Anerkennungstheorie mit theoretischen Entwürfen des Alltagslebens nach De Certeau (1988), Lefebvre (1974b) und Maffesoli (1986) zu verbinden und auf den äußerst ungleich anerkannten Stadtraum in Entwicklungs- und Schwellenländern am Beispiel der brasilianischen Metropole Salvador anzuwenden. Hierin liegt die Erkenntniskraft einer kritischen und empirisch fundierten Gesellschaftstheorie, die machtgeladene, auf Ungleichheit basierende Makrostrukturen untersucht und diese mit den alltäglichen Mikropraktiken und -narrationen konzeptionell zu verbinden versucht. So wird möglich, dass die marginalisierten Subjekte aus ihrem Schattendasein herausgeführt werden, um ihre vielfältigen Alltagspraktiken und Imaginationen sichtbar zu machen und um Ihnen ein Gesicht, eine Identität und einen ihnen eigene Integrität zu verleihen. »One could say that the main service that the art of thinking sociologically may render to each and every one of us is to make us more sensitive; it may sharpen up our senses, open our eyes wider so that we can explore human conditions which thus far had remained all but invisible.« (Bauman 1990, S. 16)

Damit ist letztlich die Intention verbunden, einen sozialgeographischen Beitrag zu einem neuen Verständnis stadtgesellschaftlicher Fragmentierungs- und Deformationsprozesse in der Peripherie des Westens zu leisten. Dem aufmerksamen Leser oder Leserin mag sofort aufgefallen sein, dass aus einer Fallstudie in Salvador da Bahia auf die brasilianische Favela geschlossen wird, vergleicht man den Titel mit dem Inhalt des Buches. So differentiell und vielschichtig die Lebenswelten innerhalb der Favelas per se sind, so vielschichtig sind diese auch zwischen dem Norden, Süden, Osten und Westen von Brasilien. Dennoch soll hier eine Position bezogen werden, die Anerkennungsverweigerung und Exklusion von breiten Bevölkerungsschichten als eine persistente Kategorie brasilianischer Gouvernementalität, einer auf Ungleichheit basierenden Gesellschaft, für konstitutiv erklärt und damit über den rein idiographischen Kontext hinausweist. Gesellschaftskritik üben heißt benennen und Ungerechtigkeit sichtbar machen. Dies gilt für die eigene Gesellschaft gleichermaßen, ist hier aber nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung und Auseinandersetzung. Damit ist auch ein Plädoyer verbunden, dass brasilianische, oder wer auch immer, Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen aus dem Globalen Süden sich ebenso kritisch wie benennend der gesellschaftlichen Verfasstheit in Deutschland, Europa oder generell im Globalen Norden widmen sollten, um damit ihren Blick auf die eigene Gesellschaft neu reflektieren und schärfen zu können.

Kritische Gesellschaftstheorie und Stadtgeographie

K RITISCHE G ESELLSCHAFTSTHEORIE Das grundsätzliche Problem, akademische Wissensproduktion als ›kritisch‹ zu bezeichnen, besteht darin, dass wissenschaftliches Denken immer kritisches Denken ist, zumindest kritisch gegenüber anderen Ansätzen, Theorien und Autoren (vgl. Markard 2005, S. 25; zitiert in Belina 2006, S. 343). Eine irgendwie geartete unkritische Wissenschaft ist daher ein Widerspruch in sich. Gleichwohl, so lässt sich im Anschluss an Horkheimer (1988 [1937]) argumentieren, ist »der Ausdruck ›Kritische Sozialwissenschaft‹ [...] eine ebenso problematische wie unvermeidliche Tautologie« (Narr 1998, S. 274). Unvermeidlich deshalb, um den Unterschied zu einer Wissenschaftshaltung zu verdeutlichen, die sich auf Fragestellungen beschränkt, »die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben« (Horkheimer 1988 [1937], S. 217). Für diese Fragestellungen bildet die Herrschaftsstruktur der Gegenwart, also das liberaldemokratisch verfasste politische System sowie die kapitalistisch organisierte Ökonomie, den Maßstab (vgl. Narr 1998, S. 278). Über dieses weitgehend unhinterfragt erscheinende System hinauszudenken, ihm theoretisch wie auch empirisch auf den Grund zu gehen, seine scheinbar natürlichen, vom Zweifel erhabenen und selbstevidenten Kategorien zu reflektieren, es dabei auch zu kritisieren und aufzuzeigen, welche Produktions- und Reproduktionsmechanismen wirkmächtig werden, kennzeichnet somit den Unterschied einer kritischen zu einer unkritischen Wissenschaft. Damit wird ein normativer Standpunkt eingenommen, der auch immer konstitutiv für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule war und ist: »Mit ›kritischer Gesellschaftstheorie‹ soll hier vielmehr nur die Art von gesellschaftstheoretischem Denken gemeint sein, die mit dem ursprünglichen Programm der Frankfurter Schule, ja vielleicht mit der Tradition des Linkshegelianismus im Ganzen, eine bestimmte

18 | E XKLUSION IM ZENTRUM Form der normativen Kritik teilt: eine solche nämlich, die zugleich über die vorwissenschaftliche Instanz Auskunft zu geben vermag, in der ihr eigener kritischer Gesichtspunkt als empirisches Interesse oder moralische Erfahrung außertheoretisch verankert ist.« (Honneth 2000, S. 88)

Kritische Gesellschaftstheorie wäre im Weiteren zu begreifen, als eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem eigenem Instrumentarium. Diese Position versucht die soziale Wirklichkeit, die Ideale und das Denken der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen und zu erklären und weist diese und damit zugleich sich selbst, in ihrer Historizität verhaftet, als spezifisch aus. Das kritische akademische Denken und die Kritische Theorie sind an diese besondere Gesellschaftsform gebunden und ohne diese nicht denkbar. Folglich kann der Standpunkt ihrer Kritik kein überhistorischer und ontologischer sein, da der Bestandteil ihrer Analyse gerade der Nachweis darüber ist, dass es einen solchen Standpunkt nicht geben kann. Es sind die Ambivalenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst, die radikale Kritik ermöglichen. Dabei geht es aber nicht darum, die Wirklichkeit dieser Gesellschaft mit ihren Idealen zu konfrontieren, sondern darauf hinzuweisen, dass etwa die bürgerlichen Leitbilder der Freiheit und Gleichheit einen warenförmigen und ideologischen Charakter haben (vgl. Žižek 2011). Der widersprüchliche Doppelcharakter der kapitalistischen Basiskategorien treibt die Warengesellschaft seit ihren Anfängen in eine für diese Gesellschaftsform typologische, blinde und über sie hinaus weisende historische Dynamik. Als ein Moment des Widerspruchs ist dieser eben auch nur ein solcher, kann jedoch Gesellschaftskritik praktisch und engagiert werden lassen. Dies gelingt dadurch, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als naturalistisch und unveränderbar hingenommen, sondern als sozial konstituiert und damit als revidierbar betrachtet werden. Die Kritische Theorie analysiert den Kontext sozialer Bewegungen und kann so dazu beitragen, »das Mögliche im Gegebenen« aufzudecken, Utopien zu formulieren, um damit »gesellschaftliche Transformation bewusst zu gestalten« (Postone 1996, S. 9). Hierin liegt der Sinn der gemachten Unterscheidung zwischen ›kritischem‹ und ›bürgerlichem‹ Denken. Es ist damit keine ontologische Trennung verbunden, was letztlich auch nicht möglich ist, da kritisches Denken erkenntnistheoretisch im bürgerlichen Denken verankert bleibt. Es geht eher um »das Mitbedenken des eigenen Kontextes und damit des Bewusstseins auch der eigenen Begrenztheit (der des bürgerlichen Denkens sowieso). Kinder der bürgerlichen Gesellschaft sind wir alle, ob nun kritisch oder nicht.« (Ortlieb 2000) Hierzu sei auch der Hinweis gestattet, dass bei einem Übermaß an Technokratie und Rationalität, und in diesem Sinne ist strenge (und kritische) Wissenschaft instrumentell und einem Prozess der Verdinglichung unterworfen, wird

K RITISCHE G ESELLSCHAFTSTHEORIE

UND

S TADTGEOGRAPHIE

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Dionysos als Störungsfaktor und Irritationsgeber zurückgerufen. Symbolische Gewalt zu erzeugen ist durchaus eine verborgene Herrschaft aufklärerischer, hegelianischer und marxistischer Denkformen und entsprechender Technokratien. Demnach gilt es den »Schatten« zu berücksichtigen (Maffesoli 1986). Damit steht die Forderung einer ethischen Position. Eine kritische Analyse der Gesellschaft und Kultur darf weder die Praktiken der »Starken« noch die der »Schwachen« isoliert untersuchen (De Certeau 1988, S. 20). Erst die Analyse kontextgebundener dialektischer Kräfteverhältnisse kann aufzeigen, welche Effekte und welche intendierten wie nicht-intendierten Konsequenzen machtvolles und machtloses Tun haben. Diese kurze Reflexion zum kritischen Denken trifft ebenso fachdisziplinär zu. Die Bezeichnung »Kritische Geographie« ist im deutschsprachigen weniger geläufig und etabliert als jener der »critical geography«, der in der angloamerikanischen Geographie weit verbreitetet ist (vgl. Blomley 2006; Castree 2000; Peet 2000). Aufgekommen ist er in den 1980er und 90er Jahren als Selbstbezeichnung einer politisch engagierten, tendenziell linken Geographie, die sich basierend auf (post-) moderner und poststrukturalistischer Theorie sowohl mit dem Mainstream der Humangeographie als auch der marxistisch geprägten »radical geography« der 1970er und 1980er Jahre kritisch auseinandergesetzt hat. Nachdem die Debatten zwischen »critical« und »radical geography« in den 1990er Jahren besonders kontrovers geführt wurden, sieht Peet (2000), einer der Mitbegründer der »radical geography« nun eine neuerliche Annäherung beider Strömungen (vgl. Belina 2006, S. 343). Skeptischer ist diesbezüglich Castree (2000), der die Entwicklung von der »radical« zur »critical geography« als eine Entpolitisierung durch Professionalisierung im akademischen Kontext interpretiert hat.

C RITICAL

URBAN GEOGRAPHY

Für die vorliegende Studie liegt ein kritisch-theoretischer Zugang zum ungerechten Gesellschaftsmodell Brasilien nahe, der die Dialektik von Ungerechtigkeit in Gesellschaft und Raum in das Zentrum der Betrachtungen stellt. Es wird eine Perspektive eingenommen, die eine Durchdringung der Machtverhältnisse des Forschungsgegenstands wählt, um damit die z.T. verborgenen Mechanismen der Produktion und Reproduktion topologischer urbaner Ungerechtigkeit offen zu legen, die im Grunde immer gesellschaftlich bedingt sind. Damit wir auch deutlich, dass es hier um eine (kritische) Sozialforschung im Kontext des Globalen Südens geht, wie auch Dörfler, Graefe & Müller-Mahn (2003) vorschlagen Geographische Entwicklungsforschung zu konzeptionalisieren. Damit soll nicht mehr Entwicklung als zentrales und normatives Para-

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digma in der Nord-Süd-Perspektive favorisiert werden, wie es auch vermehrt postkoloniale und Post-Development-Ansätze vorschlagen (vgl. Bohle 2010; Müller-Mahn & Verne 2010), sondern eine Erforschung der Bedingungen peripherer Modernisierung und deren sozial ungleiche gesellschaftliche Strukturation in den Blick genommen werden, worin Entwicklung bzw. Unterentwicklung auch normativ impliziert ist und offen zu legen ist. Hierzu schlägt Bohle (2010, S. 761) vor, den Blick auf den Globalen Süden u.a. im Kontext einer honnethschen Theorie der Anerkennung zu richten und verweist auf die hier vorliegende Studie und deren gesellschaftstheoretischen Entwurf. Zu erwähnen ist weiter, dass es einer kritischen Forschung nicht darum gehen kann, was Raum ist, sondern es muss »die Rolle der Räumlichkeit in sozialen Prozessen« (Belina & Michel 2007, S. 8) im Zentrum des Interesses stehen. Dazu gehört, dass Raum nicht nur sozial konstruiert sowie durch soziale Verhältnisse und Praktiken produziert ist, sondern dass darüber hinaus ein Verständnis geboten ist, vom Raum als Produzenten und konstitutivem Medium gesellschaftlicher Verhältnisse und Praktiken auszugehen (vgl. Lefebvre 1972; 1974a; Castells 1990; 1991). Dann sind räumliche Strukturen mehr als das Abbild sozialer Gegebenheiten, im Globalen Norden wie Süden. Sie sind vielmehr eine spezifische Ausdrucksform von Gesellschaft, d.h. dass auch das Soziale räumlich konstituiert wird und dass die räumliche Organisation von Gesellschaft relevant für ihr Funktionieren ist (vgl. Massey 2007). Soja (2007a, S. 92) kritisiert in diesem Kontext ein Verständnis von Humangeographie, das letztlich nur eine Reflexion sozialer Prozesse und Strukturen darstellt und damit zum ›Wasserträger‹ und Erfüllungsgehilfen der Soziologie mutiert. Er hat darauf hingewiesen, dass die Organisation von Raum nicht nur ein soziales Produkt ist, sondern dass ebenso der Raum auf die Formierung sozialer Verhältnisse Einfluss hat. Ganz ähnlich argumentiert auch Gregory (1994), wenn er schreibt, dass eine Analyse räumlicher Strukturen keine abgeleitete und zweitrangige gegenüber der Analyse sozialer Strukturen darstellt, da beide aufeinander angewiesen sind. Die räumliche Struktur ist deshalb nicht nur die Arena, in der Klassenkonflikte ausgetragen werden, sondern ebenso die Sphäre, in dem Klassenverhältnisse erst hergestellt werden. Räumliche Ordnungen sind demnach nicht theoretisierbar ohne die sozialen Strukturen zu reflektieren und vice versa. Auch Castells (1983) hat in Abgrenzung zu seinen früheren Arbeiten die Bedeutung einer Eigenständigkeit des Räumlichen für ein Verständnis von Stadt hervorgehoben. Erstmals ist in City and the Grassroots (1983, S. 4) eine Kehrtwende angedeutet, die die Raumproduktion im Sinne Lefebvres anzuerkennen scheint:

K RITISCHE G ESELLSCHAFTSTHEORIE

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»Raum ist keine ›Reflektion von Gesellschaft‹, er ist Gesellschaft. […] Räumliche Formen werden deshalb […] durch menschliches Handeln produziert. Diese drücken die Interessen der herrschenden Klasse entsprechend einer bestimmten Produktionsweise und Entwicklung aus und führen sie aus. Sie drücken Machtbeziehungen des Staats in einer historisch bestimmten Gesellschaft aus und setzen sie durch. […] Zur gleichen Zeit sind räumliche Formen des Widerstandes ausgebeuteter Klassen, unterdrückter Subjekte […] kennzeichnend. Die Arbeit eines solchen widersprüchlichen historischen Prozesses wird auf einer bereits ererbten räumlichen Form ausgeführt, die Produkt früherer Geschichte und Stütze neuer Interessen, Projekte, Proteste und Träume ist.« (Herv.i.O.)

Das Forschungsfeld der kritischen Stadtforschung hat bislang die Frage der städtischen Bürgerrechte (urban citizenship) und damit korrelierend die Frage nach Anerkennung, nur unzureichend thematisiert (vgl. Soja & Margin 1997). Insbesondere wurde die politische Expression von Kapital und zu einem geringeren Anteil jene der Arbeit sowie die Formierung von Gruppen und deren Nutzung des urbanen Raumes jenseits von Klassenstrukturen im Rahmen der kritischen Stadtforschung vernachlässigt (dies trifft vor allem für die Arbeiten von Castells 1976; 1977 und Harvey 1973 zu). In jüngerer Zeit haben Soja & Margin (1997, S. 193) dieses Defizit benannt und argumentieren hier folgendermaßen: »[...] a new terrain of critical urban studies has been opened up to explore other forms of marginalization and peripheralization, subjection and domination, as well as a wider range of strategic spaces of resistance than those immediately contained in the exploitative political economies and economic alienation or urbanization under capitalism.«

Diese Fokussierung setzte nun ein Nachdenken über die Verhältnisbestimmung von Bürgerrechten und Städten in Gang. Neue kritische Studien beschäftigen sich mehr und mehr damit, wie unterschiedliche Gruppen Raum herstellen und wiederherstellen, um ihre Bürgerrechte auf der Grundlage von Differenz zu artikulieren. In dieser Sphäre wurde die Frage nach der städtischen Bürgerrechtlichkeit zur zentralen Aushandlungsarena, um neue Rechte zu erstreiten und bestehende zu sichern (vgl. Isin 1999; Smith & McQuarrie 2012). Die Stadt stellt in dieser konzeptionellen Sichtweise ein Forschungsobjekt dar, welches in prädestinierter Weise gesellschaftliche Verhältnisse struktur- und sozialräumlich hervorbringt. Harvey hat 1973 in seinem paradigmatischen Werk Social Justice and the City aufgezeigt, dass die Stadt als eine moralische Landschaft zu verstehen sei (vgl. Harvey 1992). Stadt-Landschaften besitzen damit eine moralische Dimension als materialisierter Ausdruck (un-)gerechter Ideen und Machtdifferentiale der Klassengesellschaft. Sowohl die individuellen Strukturen innerhalb der Stadt als auch kollektive Muster sind symbolisch Werten und

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Normen untergeordnet und strukturelle Expression dieser. Hierbei schreibt sich der soziale Raum in den physischen Raum ein (Bourdieu 1991), da es in einer »hierarchischen Gesellschaft keinen Raum geben kann, der nicht selber auch hierarchisch strukturiert wäre« (Dirksmeier 2006, S. 226). So wohnt Macht demnach nicht ausschließlich den sozialen Verhältnissen des sozialen Raumes inne, »Macht manifestiert sich durch Aneignungen unterschiedlichster Art im Physischen.« (Kühne 2008, S. 42)

S OZIALE

UND URBANE

U NGLEICHHEIT

Die Frage nach der sozialen Ungleichheit war »historisch die erste Frage der soziologischen Wissenschaft [...]. Anhand der verschiedenen Versuche, sie zu beantworten, könnte man eine ganze Geschichte des soziologischen Denkens schreiben«, so artikuliert es Dahrendorf (1974, S. 353) in seinem Aufsatz Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von 1961.4 In einer Phänomenologie des gesellschaftlichen Lebens geht es um Individuen, Akteure oder Kollektive, die untereinander um die materiellen und immateriellen Ressourcen einer Gesellschaft konkurrieren, die ihnen aufgrund differenzieller Merkmale zugänglich oder vorenthalten werden (vgl. Burzan 2007; Barlösius 2004; Eickelpasch 2001). Kreckel (2004, S. 14) nimmt eine definitorische Fokussierung sozialer Ungleichheit hinsichtlich des sozialen Raumes und der Machtverhältnisse vor: »Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betreffenden Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.«

Moderne wie vormoderne Gesellschaften sind erkenntnislogisch konstituiert als Systeme relationaler ungleicher Beziehungen zwischen sozialen Gruppen, welche um die knappen Ressourcen konkurrieren, wobei insofern folgendes zu differenzieren wäre: »Hochkulturen [...] verdanken ihre Existenz der Lösung des Problems, das sich mit der Erzeugung eines Mehrprodukts erst ergibt, des Problems nämlich: Reichtum und Arbeit nach anderen Kriterien als nach denen, die

4

Zu nachfolgender Reflexion über das soziologische Konzept der sozialen Ungleichheit vgl. Rothfuß (2008).

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ein Verwandtschaftssystem zur Verfügung stellt, ungleich und doch legitim zu verteilen.« (Habermas 1976, S. 66) Die Vorstellung, dass komplexe Gesellschaften soziale Klassen ausbilden, gehört damit zur Grundeinsicht gesellschaftstheoretischer Beschreibungen moderner Sozietäten (vgl. Eder 2001). Diese Differenzierungskategorie ist nicht problematisch an sich, sie wird von einem moralischen (also normativen) Standpunkt aus dann höchst kritisch, wenn eine tief greifende Polarisierungsdynamik die Menschenwürde einzelner sozialer Gruppen fundamental verletzt (Neckel & Sutterlüty 2008). Soziale Strukturen sind diese impliziten Regeln, die die Relationen zwischen sozialen Akteuren und ihren Auseinandersetzungen erzeugen, die das, was die soziale Welt zusammenhält, sichtbar machen sollen. »Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass die Analyse von Klassenstrukturen die theoretische und methodische Grundlage einer Ungleichheitsforschung ist, die das Repräsentierende auf ein Repräsentiertes abbilden und damit soziale Strukturen von Ungleichheit sichtbar machen kann.« (Eder 2001, S. 30) Das abgrenzende, oft subtile Handeln der Ausbeutung durch die herrschenden Gruppen aufgrund sozialer Unterschiede wird auch als Klassismus bezeichnet. Klasse heißt damit nichts anderes, als eine spezifische ungleichheitserzeugende Differenz zu behaupten. Für »Gleiche« und »Ungleiche« werden insofern unterschiedliche Praktiken funktional (vgl. Bourdieu et al. 1997, S. 164). Damit kommt es zu einer Institutionalisierung symbolischer Ungleichheit, die auch als »struktureller Rassismus« (Weiß 2002, S. 6) bezeichnet werden kann. Ungleichheit wird nicht nur in ungleichen Positionen und damit verbundenen Lebenschancen repräsentiert, sondern auch noch durch symbolische Formen reproduziert. Wenn symbolische Formen nicht nur repräsentieren, sondern auch reproduzieren, ist zu erwarten, dass sie soziale Ungleichheit zu verdecken suchen, indem sie diese legitimieren. Um mit Skidmore (2004, S. 134) zu sprechen, handelt es sich bei dem soziologischen Konzept der sozialen Ungleichheit epistemologisch um eine moraltheoretische Begründung: »In short, it is a moral issue, reflecting how a society values its members in relation to one other.« Will empirische Sozialforschung mehr als affektive Empörung über soziale Ungleichheit mitteilen, dann bleibt ihr nur der »kalte Blick der strukturalen Analyse« (Eder 2001, S. 31; auch Iser 2008) – die Suche nach »Klassenstrukturen«, nach symbolischen Ungleichheitsformen und (stadt-)raumrelationalen Strukturlogiken (vgl. Harth, Scheller & Tessin 2000). Klassenstrukturen werden aus Formen ökonomischer Ausbeutung, politischer Abhängigkeit oder auch aus symbolischer Gewalt in Form kultureller und ethnischer Nichtanerkennung abgeleitet. Daraus resultieren unterschiedliche Folgen: Unterdrückung, Ausbeutung

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oder Exklusion (Kronauer 2006). »Klassentheorie heißt dann, die Grammatik von Ausbeutung, Herrschaft und Exklusion zu entziffern.« (Eder 2001, S. 43) So finden wir für Brasilien hier geradezu ein paradigmatisches Beispiel einer persistenten, quasi pathologischen sozialräumlichen Ungleichheit vor, die eine einerseits zutiefst objektivierte (statistisch messbare) und sichtbare Wirklichkeit zeigt, andererseits die Strukturen und Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung durch die privilegierten Klassen bis ins Subtilste zu verschleiern versucht.

D IE U RBANISIERUNG IN B RASILIEN

DER

U NGERECHTIGKEIT

Hinsichtlich der Offenlegung der räumlichen Wirkmächtigkeit von sozialer Ungleichheit kommt der Humangeographie eine wichtige Rolle zu. Die Brisanz raumstruktureller Ungleichheit zeigt sich in Lateinamerika und speziell in Brasilien hinsichtlich einer »Urbanisierung der Ungerechtigkeit« (vgl. hierzu The Urbanization of Injustice von Merrifield & Swyngedouw 1996) mit einer bedrohlichen Evidenz. So entwickelten sich in der letzten Dekade segregierte Wohnkomplexe, die so genannten gated communities, nicht nur in den USA, sondern v.a. auch flächendeckend in Lateinamerika (vgl. u.a. Borsdorf 2002; Borsdorf & Hidalgo 2005; Janoschka 2002; Coy 2006) und insbesondere in Brasilien (Coy & Pöhler 2002); soziale Barrieren wurden damit zunehmend in räumliche Barrieren übersetzt (vgl. Fischer & Parnreiter 2002). Die Zunahme der Privatisierung des öffentlichen Raumes und Tendenzen der Enklavenbildung sind hierbei räumliche Manifestationen von Macht und sozialer Ungleichheit. Das zunehmende Gewaltproblem in den Metropolen Lateinamerikas (vgl. Mertins & Müller 2008) kann nicht zuletzt als zynisches Modell einer resignativen und gewaltbereiten Umverteilungspraxis der Marginalisierten gesehen werden, da die institutionellen und politischen Rahmungen bisher keinerlei Ausgleich in Gang gebracht haben, sondern die Ungleichheit sogar stabilisiert und perpetuiert haben, indem sie diese auf perfide Art und Weise hinter dem fetischistischen Glauben an Wachstum und Konsum für alle verdeckt haben (vgl. Souza 2006). Daneben zeigen sich für Brasilien sozialräumliche Ungleichheitsdimensionen, die sich in Dichotomien verkürzt darstellen lassen: Neben einem regionalen Nordost-Südost Gefälle existiert eine große Entwicklungsdifferenz zwischen ländlichen und städtischen Räumen sowie intraurban zwischen Marginalvierteln und privilegierten Wohnenklaven. Räumliche Manifestationen sind damit vornehmlich Produkte und Konsequenzen sozialer Strukturen der Ungleichheit, de-

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nen nicht die entscheidende Erklärungsdimension zukommen kann. Allzu oft wurden indikator- und raumbegründete statistische Makrostudien – insbesondere durch das staatliche Statistikamt IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) erstellt – von der politischen Elite eingesetzt, um Ungleichheit auf einfach lösbare Formeln von Regionalkonzepten nachholender Modernisierung und Entwicklung anwenden zu können. Es wurde damit Jahrzehnte lang staatspolitischer Handlungswille demonstriert, ohne die Besitz- und Machtverhältnisse in Frage stellen zu müssen. Daher lautet die grundsätzliche sozialwissenschaftliche Frage in diesem Erkenntniskontext, wie eine über Jahrhunderte konstant fortgeschriebene Ungleichheit und Ungerechtigkeit, eine gewisse Stabilität und ›Friedlichkeit‹ der brasilianischen Gesellschaft innezuwohnen scheint, obwohl die alltäglichen unmittelbaren Verletzungen und Demütigungen der breiten Massen allgegenwärtig sind und in der Geschichte Brasiliens nie zu nachhaltigen revolutionären Auseinandersetzungen geführt haben. Es ist daher eine Besonderheit der brasilianischen ›interethnischen‹ Beziehung angesprochen, die auch nach der Abschaffung der Sklaverei wenig der des offen artikulierten, bewussten und organisierten Widerstandes der »Freien« ausbildete, der ›Dunkelhäutige‹ und ›Weiße‹ zu Feinden gemacht hätte, wie es etwa in den USA der 1960er Jahre der Fall war (vgl. Schmitt 2008, S. 62ff.). Hierin liegt eine der größten kollektiv wirksamen Illusionen, der viel beschworenen ›Rassendemokratie‹ des Modells Brasilien, zugrunde. Und dennoch geht es in einer genaueren Sicht auf die lokalen Lebenswelten auch darum, im Alltagsleben Formen der Widerständigkeit und Subversion gegen das hegemoniale Regime ausfindig zu machen bzw. zu klären, in welcher Art und Weise sich die gedemütigten Subjekte erwehren, da als conditio humana gesichert ist, dass auf der individuellen Ebene der Unterdrückten ein Unrechtsempfinden und eine moralische Urteilskraft existiert, die als sozialer Kompass fungieren, ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse bewerten zu können. Ferner geht es im vorliegenden Kontext dann auch um eine Offenlegung der strukturellen und moralischen Festschreibungen von Verhältnissen zwischen den Klassen: In den Repräsentationen versteckt sich das Repräsentierte (Eder 2001, S. 47). Dies bedeutet, dass die Kategorie der sozialen Ungleichheit im interdisziplinären Feld der Sozialwissenschaften gleichwohl ein Thema der Humangeographie darstellt und diese insbesondere die Raumrelationen des Sozialen und Kulturellen als zentralen Aspekt herausarbeiten und einen wichtigen Beitrag leisten kann und muss. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass in den brasilianischen Stadträumen die ganze Dimension sozialer Ungleichheit zu Tage tritt und dort ungleiche Lebenswelten räumlich äußerst nahe zusammenrücken. Es offenbart

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sich die anthropologische Konstante der intersubjektiven Bezogenheit bzw. Nichtbezogenheit von Individuen und Kollektiven in der Stadt und verweist auf die Sphäre von Anerkennung bzw. Nichtanerkennung bestimmter (mehrheitlicher) Bevölkerungsgruppen durch die herrschende Klasse der Minderheit. Dieser anerkennungstheoretische Zugang zu einer Geographie in der Stadt und nicht einer strukturalistischen Geographie der Stadt soll nun eine gesellschaftstheoretische und konzeptionelle Positionsbestimmung erfahren.

Zu einer Theorie der Anerkennung

A NERKENNENDE I NTERSUBJEKTIVITÄT ALS CONDITIO HUMANA »Everything in the world began with a yes. One molecule said yes to another molecule and life was born.« (Lispector 1992, S. 11)

Die beiden Hauptvertreter des deutschen Idealismus Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel haben als erste die Intersubjektivität als Bedingung allen menschlichen Daseins gedeutet. Die intersubjektive Bezogenheit ist konstitutives Element der Vergesellschaftung und des menschlichen Zusammenlebens schlechthin. Nach den Überlegungen in Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1960 [1796]) soll der Mensch begreifen, dass er sich aus seiner transzendentalen Subjektivität heraus in der Entdeckung des anderen Selbstbewusstseins in einem Prozess des »Aufgefordert-seins« durch den Anderen befindet, in dem durch die Hervorbringung eines gemeinsamen Dritten, eines Mediums des »Geistes«, die eigene und die fremde Subjektivität »aufgehoben« sind.1 In Hegels Phänomenologie des Geistes (1987 [1807], S. 140) wird das intersubjektivitätstheoretische Denken in der Aussage deutlich, dass das »Selbstbewußtsein an und für sich [ist], indem und dadurch, dass es für ein anderes [Selbstbewußtsein] an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.« (vgl. Rogge 2007, S. 269ff.) Kojève (1975) hat als erster hervorgehoben, dass der Begriff der Anerkennung vor allem bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine zentrale Rolle spielte. Anerkennung sei zur Bildung des Selbstbewusstseins notwendig, was bedeutet, dass niemand für sich selbst diese Entwicklungsstufe erreichen kann. Erst wenn mehrere »Bewußtseine« aufeinandertreffen, ereignet sich das, was Hegel »Bewegung der Anerkennung«, »Dialektik der Anerkennung« oder

1

Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen auch Rothfuß (2009).

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»Kampf um Anerkennung« nennt. Hegel befasst sich im vierten Kapitel »Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Selbstbewußtseins« in Phänomenologie des Geistes (1987 [1807]) mit dem Problem der Anerkennung. Der Einzelne gewinnt in seiner Sicht nur ein Bewusstsein von sich selbst, wenn er sich im Anderen spiegelt und von diesem anerkannt wird. Der Wunsch des Selbst nach absoluter Autonomie und Freiheit steht mit seinem Wunsch nach (gesellschaftlicher) Anerkennung in einem ständigen Konflikt. Es entsteht ein Dilemma, in dem das Selbst sich zugleich als abhängig und autonom erlebt und sich folglich in zwei Selbstanteile aufspalten muss, zwischen denen es sich bewegt. Im intersubjektiven Verhältnis von Herr und Knecht ist das (gegenseitige) Anerkennungsverhältnis aufgehoben. Die hegelsche Dialektik von »Herrschaft und Knechtschaft« konstituiert das Intersubjektive. Die Lösung dieses Konflikts wird zur Freiheit des Selbstbewusstseins führen. Die These des Bewusstseins setzt die Antithese eines anderen Bewusstseins. Beide Bewusstseine binden sich aneinander, aber nicht friedlich, sondern in einem Kampf, in dem es um »Anerkennung« geht. Die Synthese ist schließlich das Selbstbewusstsein, doch ist es in dem einen Fall ein selbständiges, in dem anderen ein abhängiges (vgl. Hegel 1987 [1807], S. 140ff.). Bei dem Versuch, sich selbst als unabhängige Einheit zu sehen, muss das Selbst jedoch den Anderen als gleiches Subjekt anerkennen, um seinerseits vom Anderen anerkannt werden zu können. »Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein.« (Hegel 1987 [1807], S. 108) Den Grund dafür sieht er darin, dass das andere Selbstbewusstsein selbst begehrend und zugleich selbständig ist. Das Selbstbewusstsein bzw. das Ich findet deshalb nur in einem anderen die Gewissheit seiner selbst. Dieses andere Selbstbewusstsein lässt sich nach Hegel zwar durch die »Begierde« negieren, aber nicht auflösen, weil es selbst Subjekt ist. Dies führt ihn zu der These, dass die Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein Bedingung für die Selbstgewissheit eines Selbstbewusstseins ist. In den Worten von Marcuse (1972, S. 108) realisiert damit der Mensch, »daß die Gegenstände nicht der wahre Zweck seiner Begierde sind, sondern daß seine Bedürfnisse nur durch die Vereinigung mit anderen Individuen befriedigt werden können«. Wie bei Hegel, so stellt auch für Simmel (1908) das Wesen der Gesellschaftlichkeit die intersubjektive Verfasstheit des Bewusstseins, d.h. der Andere als Bedingung für das Sein des Subjekts, eine zentrale Existenzbedingung dar. Es gibt damit so etwas wie eine ursprüngliche Verbundenheit zwischen den Subjekten. Der intersubjektive Diskurs wurde entscheidend forciert durch die Kulturwissenschaft(en), die Soziologie und die Psychologie. Die Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts standen vor dem Problem des Verstehens fremder Subjektivität. Die Hermeneutik bildete sich in den Geschichtswissenschaften im Umgang

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mit den Zeugnissen der Anderen fremder Epochen, in der Ethnologie im Umgang mit den Anderen gegenwärtig fremdkulturellen Gruppen. Die Soziologie als Wissenschaft modernisierender Gesellschaften suchte im Anschluss an Weber und Simmel den Ausgleich zwischen dem Individualismus neuzeitlicher Freiheit und dem Ursprung soziologischen Denkens im 19. Jahrhundert. Jenseits anerkennungsbedingter Intersubjektivität bei Hegel beruht diese bei Husserl in den Cartesianischen Meditationen (1950, S. 121–183) vereinfacht formuliert auf der allgemeinen Annahme der grundlegenden Gleichheit der Bewusstseins- und Existenzbedingungen bei Menschen – ein Dasein für Jedermann oder Mit-Sein und auf der Bildung einer Ego-Dualität im individuellen Bewusstsein bei der Erfassung des Fremdpsychischen. Indem das individuelle Ego den Anderen als adäquates Wesen entwirft, wird evident, dass der Andere – wenn das individuelle Ego sich in den Anderen hineinversetzt – das eigene Ich so sehen muss, wie das Ich den Anderen sieht. Im Rahmen Husserls transzendentaler Phänomenologie wird die Theorie der Intersubjektivität in einer Analyse der Erfahrung von Leiblichkeit und der in dieser Erfahrung fundierten Repräsentation fremder Subjektivität durchgeführt (vgl. Merleau-Ponty 1966 [1945]). Die entscheidende Entdeckung ist jene der intersubjektiven Konstitution und damit insofern der sozialen Kontingenz von Welt schlechthin. Im existentialistischen Werk Sein und Zeit (1927) definiert Heidegger die Verfasstheit des von Husserl nur in Ansätzen erklärten Begriffs der »Mit-Welt«. Sein Verständnis vom Dasein als »In-der-Welt-Sein« definiert die Subjekte dabei nicht als etwas seiend Vorhandenes, sondern als etwas ontologisch relational »Zuhandenem«. So hat auch Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1966 [1945]) die vorreflexive Koexistenz des leibsituierten Subjekts mit der Welt und dem Anderen nachzuvollziehen versucht. Im Medium der »Zwischenleiblichkeit« führt eine Dialektik von leiblicher Selbsterfahrung und Fremderfahrung, von leiblichem Sehen und Gesehenwerden, wie er von außen im Spiegel des Anderen gesehen wird, zu einem Modus wechselseitigen Wahrnehmens als wechselseitig steigernde Achtsamkeit. In moderner sozialphilosophischer Konzeption hat Habermas (1992, S. 217) auf den sozialen Charakter von Subjektivität und den »intersubjektiven Kern« des Selbstbewusstseins hingewiesen und dabei betont, dass »das im Ich [...] zentrierte Bewusstsein nichts Unmittelbares und schlechthin Innerliches ist. Selbstbewusstsein bildet sich vielmehr über eine symbolisch vermittelte Beziehung zu einem Interaktionspartner auf dem Wege von außen nach innen. Insofern besitzt es einen intersubjektiven Kern.« Habermas stützt sich einerseits auf Hegel, andererseits auf die Sozialpsychologie Meads und sein Konzept des »generalisierten Anderen«, das er in seinem Werk Geist, Identität und Gesellschaft (1975) entworfen hat. Mead

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bietet das Modell einer sozialen Genese von Identität, die als Selbstreflexivität in den psychischen Strukturen des Einzelnen erhalten bleibt. Er liefert damit eine Theorie der Verinnerlichung von sozialen Beziehungen, die dem psychoanalytischen Konzept2 der inneren Strukturbildung durch Identifikation vergleichbar ist. Meads (1975, S. 218) Kerngedanke ist die Annahme, dass ein Subjekt nur ein Bewusstsein und eine Identität von sich selbst erwerben, eine Selbstbeziehung herstellen und sein eigenes Verhalten kontrollieren kann, wenn es sich »mit den Augen der anderen« sehen kann, wenn es eine »Perspektivenübernahme« zu vollziehen imstande ist. Das anthropologisch bedingte Angewiesensein des Menschen von frühster Kindheit an zwingt diesen nach Mead zur Bewältigung der Transzendenz des Anderen (vgl. für die intersubjektive Anlage der Subjektivität bei Habermas in Rekurs auf Mead insbesondere Dörfler 2001, S. 78ff.). An kognitiver Schärfe gewann die Anthropologie der Intersubjektivität neben Meads (1975) »generalized other« insbesondere auch durch die systematischen Theorien von Lacans (1986) Unterscheidung von »Spiegelung« und dem »symbolischen Anderen«, von Habermas (1981) zum »kommunikativen Handeln« und von Levinas (1983) zur Verpflichtung durch das »Antlitz des Anderen«. Dörfler (2001) entwickelt hierzu einen systematischen Begründungszusammenhang der Subjektorientierung im Spannungsfeld von Identität und Differenz bei Habermas, Lacan und Foucault. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget verweist in diesem Kontext auf die Widerständigkeit der natürlichen und sozialen Welt. Im Zuge der frühkindlichen Entwicklung entsteht für das Kind erst die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Es wird sich in Differenz zur Außenwelt seiner selbst bewusst. Dafür ist für Piaget (1974) die Widerständigkeit der wahrnehmbaren sensomotorischen Objektwelt die Voraussetzung, denn dadurch wird das Kind gezwungen, seine Fähigkeiten mit der Eigenständigkeit der Objektwelt zu arrangieren, um in einer

2

Die Intersubjektivität in der Psychoanalyse gründet u.a. auf den Arbeiten von Stolorow & Atwood (1992), die unter Einbeziehung der »Psychologie des Selbst« von Kohut (1979) eine erlebensnah orientierte Form psychoanalytischer Theorie und Behandlungspraxis formulierten, die sich in wesentlichen Punkten von der klassischen Konzeption Sigmund Freuds unterscheidet. Nach deren Auffassung entsteht und ereignet sich Erleben im wechselseitigen Austausch von Subjektivitäten, z. B. der des Patienten und der des Analytikers. Die Beobachtungsposition liegt dabei stets innerhalb des gemeinsamen Kontextes, d.h. der Analytiker versucht den Patienten aus dessen Perspektive heraus zu verstehen (Empathie) und bezieht seinen eigenen biographischen Hintergrund in die Reflexion seiner Haltung dem Patienten gegenüber mit ein (Introspektion).

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befriedigenden Weise mit ihr manipulativ umgehen zu können. Dieses Verständnis ist Teil der sozialen Handlungsfähigkeit, die im Umgang mit anderen erworben wird. Für ein intersubjektives Verständnis als definitorische Grundlage erscheint der Eingrenzungsversuch der relationaltheoretisch arbeitenden Psychoanalytikerin Benjamin (2006, S. 67) wegweisend. Sie versteht »[…] Intersubjektivität als eine durch wechselseitige Anerkennung bestimmte Beziehung – eine Beziehung, in der einer den anderen ›als Subjekt‹ erfährt, d.h. als ein seinerseits psychisch verfasstes Wesen, mit dem sich ›mitempfinden‹ lässt, das jedoch über ein abgegrenztes, eigenständiges Gefühls- und Wahrnehmungszentrum verfügt.« Zur Theoriegeschichte einer »praktischen Intersubjektivität« (Joas 1985) gehört auch der »Gabentausch« als ein totales Phänomen der menschlichen Sphäre bei Mauss (1990 [1950]). Der nicht-utilitäre Austausch von Gaben, jedweder Dimension, mit seiner Verpflichtung des Gebens, Nehmens und Erwiderns, nicht der interessengeleitete Tausch von Waren, ist das Medium der Bindung von Ego und Alter Ego. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Intersubjektivität auf die zwischenmenschliche Bezogenheit als das Fundament der conditio humana verweist – im positiven wie im negativen Sinne (vgl. Altmeyer 2003; Altmeyer & Thomä 2006). Diese knappe sozialphilosophische Ausleuchtung der Subjekt-SubjektBeziehung stellt auch für die Sozial- und Kulturgeographie eine fundamentale Vorbedingung dar, um die Wahrnehmungen, Handlungen und die Produktion sowie Reproduktion von Gesellschaft und Raum erkenntnislogisch begreifbar und nachvollziehbar machen zu können. Daher erscheint es angemahnt, dass der geographische Blick und dessen »Verunsicherung« (Lossau 2000) nicht länger nur den materiellen Ausdrucksformen und den räumlichen Strukturen sozialer Beziehungen gelten sollte, sondern vielmehr den tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungszusammenhängen des Intersubjektiven (vgl. Lippuner 2005a). Damit ist eine Verschiebung der Bedeutungszuschreibung angedeutet, die das herkömmliche Verständnis der »Räumlichkeit des sozialen Lebens«, wie Soja (1985) formuliert, zwar nicht in Frage stellt, aber doch die sozialtheoretische Reflexion der Humangeographie um die intersubjektive Dimension erweitert. Was ist damit konkret gemeint? Gesellschaften unterscheiden sich elementar in ihrer inneren Formation und Positionierung innerhalb eines Kontinuums von Individualisierung und Kollektivierung, zwischen sozialer Kohäsion als Sozialität und individuell freiheitlicher Selbstbezüglichkeit. Die jeweiligen intersubjektiven Haltungsmodi sind gruppenbezogen wirksam, manifestieren sich strukturationstheoretisch im räumlichen Gefüge und reproduzieren sich damit im individuellen Handeln.

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Ohne diesen konzeptionellen Weg einer subjektrelationalen Sozialgeographie – einer Perspektive räumlich verfasster Intersubjektivität – erschöpfend zu konzeptualisieren, zielen diese Ausführungen zur Intersubjektivität auf einen entdeckenden Zugang zu dem Beziehungsverhältnis und den alltäglichen Aushandlungsmodi zwischen den gesellschaftlich ›Starken‹ und ›Schwachen‹. Dabei stehen in dieser Relation die bestehenden (Nicht-)Anerkennungsverhältnisse in empirischem Zusammenhang zu ungleichen Nachbarschaften in den Städten Brasiliens am Beispiel von Salvador da Bahia. Die vorangegangene knappe ideengeschichtliche Reflexion zur Intersubjektivität stellt die Grundlage für die folgenden Ausführungen zu einer Theorie der Anerkennung von Honneth dar. Neben ihm sind noch die theoretischen Entwürfe zur Anerkennung von Charles Taylor und Paul Ricœur von Bedeutung. Ricœur zeigt in Das Selbst als ein Anderer (1996), wie man von der Selbstdeutung zum Handeln finden, wie man von der Beschreibung philosophischer Reflexionen zur Sphäre des Intersubjektiven, zur Moral gelangen kann. Die Ethik im Sinne Ricœurs fragt nach den Voraussetzungen auf das gute gelingende individuelle Leben, gemeinsam mit und für andere, in gerechten Institutionen. Ricœur (2006) fundiert das »Selbst als ein Anderer« in seinem letzten Werk Wege der Anerkennung, an dem es sich als moralphilosophischem Konstrukt bei Hegel noch immer abzuarbeiten lohnt, wie auch die sozialphilosophische Bestimmung von Honneth bestätigt. Ricœurs (2006) Begriff der »reconnaissance« bedeutet im Französischen auch »identifizieren«, »etwas als etwas anerkennen«, und »sich selbst erkennen«. In der breiten wie sorgfältigen Analyse der Anerkennung als notwendigem, aber stets gefährdetem Grundmodus unseres gesellschaftlichen Seins, mit christlichen Überlegungen zur Anerkennung im Gabentausch und auf den Multikulturalismus von Taylor (1996) verweisen, wird das Anliegen von Ricœur deutlich, dem menschlichen Selbst einen Raum zu geben, dieses aber weder in seiner Selbstherrlichkeit zu bestätigen, noch zu überfordern. Er leistet eine Weiterentwicklung der ethnologischen Theorie der »Gabe«, die er in eine »Ethik der Dankbarkeit« münden lässt (Ricœur 2006). Die eigene Identität benötigt das Andere um das eigene Selbst hervorbringen zu können. Jedoch warnt Ricœur vor intersubjektivistischem Überschwang in der Anerkennungstheorie: Zwischen mir und dem anderen bleibt für ihn eine untilgbare Asymmetrie, die selbst in der Erfahrung der Friedenszustände nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Differentiell zu Ricœur hat Taylor in Quellen des Selbst (1996) einen Begriff von Moralität entworfen, der uns als Grundlage dient, intersubjektive Anerkennung in unserem Handeln und zur Beurteilung des Eigenen und der Anderen zu leben. Taylor geht von der Existenz einer moralischen Stratigraphie aus, die dem

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sozialen Kampf zwischen den verschiedenen Klassen in der Gesellschaft unterliegt (vgl. Rosa 1998). Eine Enthüllung dieser moralischen Hierarchie einer konkreten Gesellschaft ist ein grundlegender Schritt für eine angemessene Thematisierung und konsequente Bekämpfung der sozial herauskristallisierten und naturalisierten Ungleichheiten. Dabei hebt Taylor hervor, dass die moralische Hierarchie, die uns als Hintergrund dient, vornehmlich unartikuliert, vorreflexiv und aus diesem Grunde so wirksam sei. Sein konzeptionelles Hauptanliegen ist es zu zeigen, welches diese intersubjektive und vorreflektierte Übereinkunft ist, die die moderne Identität konstituieren und die letztlich als wesentliches Kriterium für die differentielle Klassifizierung im Werthorizont der Menschen in der fortgeschrittenen Moderne dienen. Souza (2008, S. 69) bringt die zentrale Argumentation der Subjektkonstitution von Taylor wie folgt auf den Punkt: »Hauptlinien der Taylorschen Rekonstruktion der Wertehierarchie, die die Formierung des punktuellen Selbst implizit lenkt: Kontrolle der Vernunft über Emotionen und irrationale Triebe, progressive Verinnerlichung aller Quellen von Moralität und Bedeutung, bei gleichzeitiger Inthronisierung der Tugenden der Selbstkontrolle, Selbstverantwortlichkeit sowie des freien und kontextentbundenen Willens und eine Auffassung der Freiheit als Selbstgestaltung mit Hinsicht auf heteronome Zwecke. Dieser Komplex von zusammenhängenden und aufeinander bezogenen Tugenden wird im Zuge seiner wachsenden institutionellen Verankerung, zum Alpha und Omega bei der Zuweisung von Ansehen und sozialer Anerkennung einerseits und zur objektiven Voraussetzung für die eigene individuelle Selbstachtung andererseits. In ihrer Gesamtheit bilden diese Vorbedingungen die spezifische ›Würde‹ des rationalen Handelns, d.h. sie werden zum Fundament der differentiellen Wahrnehmung eines jeden, ob er der Wertschätzung aufgrund dieses intersubjektiv und durch gemeinsame Anschauungen erzeugten sozialen Vorverständnisses für würdig angesehen wird oder nicht.«

D IE T HEORIE DER A NERKENNUNG VON H ONNETH ALS NEU INTERPRETIERTE K RITISCHE T HEORIE

(1992)

Der Sozialphilosoph Axel Honneth hat die wohl derzeit prominenteste sozialwissenschaftliche Theorie der Anerkennung formuliert. Honneth, der nach Jürgen Habermas die dritte Generation der Kritischen Theorie repräsentiert, entfaltete in seiner Habilitationsschrift Kampf um Anerkennung (1992) die zentralen theoretischen Gedankengänge zu einer zeitgenössischen Theorie der Anerkennung. Mit dem Untertitel Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte wird die Verortung einer gesellschaftstheoretisch begründeten Gegenwartsdiagnose bereits

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deutlich. So stellt er die zentrale Frage, wie Gesellschaftskritik konzeptualisiert und für heutige Kontexte begründet werden kann.3 Wenn Gesellschaftskritik nicht eine monolithische und reservierte Position einnehmen möchte, die sich in paternalistischem Duktus über die Köpfe derer hinwegsetzen will, die der Diagnose unterzogen werden, was dem Programm der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule durch ihre Gründungsväter Horkheimer und Adorno letztlich vorzuwerfen wäre, muss sie die Kritik und die (verborgenen) Artikulationen der Betroffenen selber aufgreifen. Unmissverständlich und sichtbar äußert sich diese Kritik letztlich nur in unterschiedlichen Formen des Protestes, etwa in sozialen Kämpfen und revolutionären Bewegungen. Die Setzung von Honneth wäre bereits an dieser Stelle einzuschränken. Kritik wäre im Sinne Lefebvres, Maffesolis und De Certeaus nicht notwendigerweise an offensichtlichen Protest gebunden, sondern kann sich vielschichtig in Taktiken, Finten oder Subversivitäten artikulieren. Honneth hat die Erkenntnisse und Reflexionen von Moore (1987) über Erfahrungen der Ungerechtigkeit aufgegriffen, die zu Protest und Widerstand motivieren, was in der Folge dazu führte, dass er auf soziale Phänomene der Kränkung, der Beleidigung und der Erniedrigung fokussierte. Dabei erkennt er in der subjektiven Erfahrung der Missachtung das unerfüllte Bedürfnis nach Anerkennung. Im Protest der Erniedrigten und Gedemütigten erkennt er die asymmetrische Relation, worin die machtvolle Seite den ›Schwachen‹ die geschuldete Anerkennung vorenthält. Diese normative Perspektive seiner Gesellschaftskritik und gleichzeitig einer Theorie der Gerechtigkeit4 zentriert sich daher an den ungerechten Verhältnissen, die Teilen ihrer Gesellschaftsmitglieder in systematischer Weise Anerkennung vorenthält. Honneths Anerkennungskonzeption würdigt das Kommunikationspara-

3

Meines Wissens stellt die 2001 von Kazig vorgelegte Dissertation Armut und Anerkennung. Straßenzeitungen aus der Perspektive einer anerkennungstheoretischen Wohlfahrtsgeographie die bisher einzige Analyse in der Humangeographie dar, die sich mit der Theorie der Anerkennung nach Honneth (1994) auseinandergesetzt hat.

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Das neue Werk Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit (2011) von Honneth stellt einen neuen (bzw. modifizierten) Entwurf einer Theorie der Gerechtigkeit dar, der etwa im Vergleich zur prominenten Theorie der Gerechtigkeit von Rawls (1979) wesentlich weniger abstrakt fundiert wurde. Denn der überwiegende Teil von Gerechtigkeitstheorien hat ihr elaboriertes Begründungsniveau letztlich nur um den Preis eines erheblichen Defizits erreicht. Ihre Fixierung auf rein normative und abstrakte Prinzipien geraten in ausgeprägte Distanz zur Anwendungssphäre und damit nichts weniger als der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

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digma von Habermas in ihrem Emanzipationsgehalt, sieht dieses grundsätzlich aber nicht als ausreichend an, darin den sozialen Bezugspunkt zu suchen, um damit die Kritische Theorie zu reaktualisieren. Damit wird seine Rückbesinnung auf Hegel, Lukács sowie Horkheimer und Adorno folgerichtig. Das Modell von kommunikativer Verständigung nach Habermas unterschlägt für Honneth die bereits angesprochenen sozialen Erfahrungen von Erniedrigung und Missachtung, welche er in Form einer Konflikttheorie zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung in Kampf um Anerkennung (1992) macht. Daher liegt nicht die Orientierung an positiv formulierten Moralprinzipien innerhalb einer Diskursethik, dem sozialen Protestverhalten von Unterschichten motivational zugrunde, sondern die Erfahrung der Verletzung von intuitiv gegebenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Deshalb sieht Honneth auch im Unterschied zu Habermas im Erwerb sozialer Anerkennung die normative Voraussetzung allen kommunikativen Handelns. Die herausragende Stellung der Anerkennung geht stark auf Hegels Rechtsphilosophie zurück: Anerkennung ist ein vorrangig intersubjektives Verhältnis. Menschen anerkennen einander und beziehen so eine relationale Stellung in der Welt. Insofern besteht für Honneth ein Primat der Anerkennung gegenüber allen Formen der Erkenntnis. Dabei entwirft Honneth (1986) sein sozialphilosophisches Konzept in hohem Maße in der Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno, die er zwar in ihrer Gestalt als »eigentümlich konturlos« kritisiert, dennoch reaktualisieren will. Seine Kritik daran liegt in der Überbetonung der rationalen Verfügung über die Natur, insbesondere in der Dialektik der Aufklärung (1988). Diese Einseitigkeit vernachlässige entscheidend die Dimension des sozialen Kampfes. Im Werk Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie (1986) thematisiert er dies folgendermaßen: »Dieser kategoriale Reduktionismus hindert Horkheimer daran, die handlungspraktischen Bestandteile sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte als solche zu erfassen; die Handlungsdimensionen sozialer Kämpfe nimmt er, seiner erkenntnistheoretischen Bestimmung der Kritischen Theorie zum Trotz, als eigenständige Sphäre gesellschaftlicher Reproduktion kategorial nicht ernst.« (Honneth 1986, S. 25)

In einer Heraushebung der Handlungs- und Praxisdimension liegt tatsächlich der entscheidende Bezugspunkt darin, die Subjekte konkret in die Analyse einbeziehen zu können. In analoger Weise unterzieht Honneth den Begriff der Kultur einer fundamentalen Kritik, mit dem einzig die Vermittlung von Herrschaftsimperativen in das Individuum erklärt werden solle. Widerständische und subversive Alltagspraktiken können damit aber ebenso wenig in den Blick genommen werden, wie gruppenspezifische Uminterpretationen sozialer (hegemonialer) Normen. Es

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wird im Grunde nur die unmittelbare herrschaftsbasierte Integration durch sozialkulturelle ›Apparate‹ erfasst. Die Möglichkeit eigensinniger, kollektiver Deutungen und Be-Nutzungen kulturindustrieller Produkte sowie die Widerspenstigkeit eines gegenüber den Medien artikuliertem, skeptischem Alltagsleben (wie es etwa Maffesoli 1986; De Certeau 1988 und Lefebvre 1974a postulieren; vgl. Fiske 1989 und Hall 2000), das einer gezielten und totalen Manipulation Grenzen setzen würden, sind auch beispielsweise in späteren Schriften von Adorno nicht auffindbar, so Honneth (1986, S. 94). Die Nichtberücksichtigung sozialer, kultureller und auch räumlicher Nischen verabsolutiert die Macht der spätkapitalistischen Gesellschaft, wie sie Horkheimer & Adorno (1988) im fünften Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« in Dialektik der Aufklärung beschrieben haben. An dieser Stelle soll bereits ein Hinweis auf das nachfolgende Kapitel »Kritik an der Kritik. Die Anerkennungstheorie als ›bürgerliches Projekt‹« gegeben werden, das der Kritik Honneths an Horkheimer und Adorno eine eigene hier vorzubringende Gegenkritik an Honneths doch sehr abstraktem und ›bürgerlichem‹ Entwurf seiner Gesellschaftskritik richtet, da auch dieser letztlich die mögliche Widerständigkeit und Subversion der Gedemütigten mit seiner fast ausschließlichen Zentrierung auf Anerkennungsverhältnisse nicht in notwendigem Umfang zum Verständnis der peripher modernen Gesellschaft Brasiliens theoretisch zu fassen vermag, da er sich um einen quasi universellen Entwurf bemüht. Es scheint nämlich nicht notwendigerweise so, dass Unrechtsempfindungen kollektive Empörung, politischen Widerstand und einen Kampf um Anerkennung hervorrufen. Denn auch individualisierte, ›unsichtbare‹ Alltagspraktiken sind protestartige Widerständigkeiten gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Kann der (bewusste oder einkalkulierte) Verzicht von sozialen Gruppen auf Anerkennung durch die gesellschaftliche Mehrheit (als Beispiel wäre hier etwa die Punk-Bewegung zu nennen) nicht auch intendiert und gewollt sein, aufgrund der radikalen Ablehnung eines bürgerlichen Lebensentwurfs? Ist damit die These in letzter Begründung haltbar, dass nur im gesellschaftlichen Anerkanntsein die grundsätzliche Möglichkeit für eine integere und umfänglich gelingende Existenz zu sehen wäre? Dieser ›blinde Fleck‹ in der Theorie von Honneth wird über eine konzeptionelle Erweiterung durch die ›widerspenstigen‹ Alltagstheorien von Maffesoli, De Certeau und Lefebvre aufgefangen. Bevor jedoch auf diesen konzeptionellen ›Ausweg‹ eingegangen wird, stellt sich in näherer Betrachtung die Frage, wie Honneth seine unbestreitbar wertvollen gesellschaftstheoretischen Annahmen der Anerkennung konkreter bestimmt. Auf der Grundlage von Hegel und Mead rekonstruiert Honneth drei unterschiedliche Anerkennungsweisen, die in den gesellschaftlichen Sphären der westlichen

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Moderne als Voraussetzung der Entwicklung einer intakten Selbstbeziehung des Individuums gewährleistet sein müssen. Das Streben der Subjekte nach gesellschaftlichen Bedingungen, die ihnen den Aufbau einer unverzerrten Identität und persönlichen Integrität ermöglichen oder mit anderen Worten das Angewiesen sein auf soziale Anerkennung erscheint Honneth dabei als anthropologische Grundkonstante. Dieser normative Entwurf sozialen Zusammenhalts ist vermittelt über den »Kampf um Anerkennung«. »Die Individuen werden als Personen allein dadurch konstituiert, dass sie sich aus der Perspektive zustimmender oder ermutigender Anderer auf sich selbst als Wesen zu beziehen lernen, denen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten zukommen. Der Umfang solcher Eigenschaften und damit der Grad der positiven Selbstbeziehung wächst mit jeder neuen Form von Anerkennung, die der Einzelne auf sich selbst als Subjekt beziehen kann.« (Honneth 1992, S. 277f.)

Honneth (1992) betrachtet den Durchbruch zur bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft als ein Resultat der Ausdifferenzierung von drei unterschiedlichen Anerkennungsformen. Diesen Anerkennungsformen entspricht jeweils eine soziale Sphäre, in der Menschen auf je unterschiedliche Weise Bestätigung für Aspekte ihrer Person bzw. Persönlichkeit erfahren können. Zur vollständigen Identitätsentwicklung sind die Erfahrung dieser drei unterschiedlichen normativen Anerkennungsweisen und damit einhergehend gesellschaftlichen Sphären der Anerkennung notwendig: (1) Die emotionale Zuwendung (Liebe), (2) die kognitive Achtung und (3) die soziale Wertschätzung, welche mit den Intim-, Rechts- und Sozialbeziehungen verknüpft ist. Nur im gelungenen Zusammenspiel aller drei Anerkennungsformen, seien jene sozialen Rahmungen hergestellt, die zu einer funktionierenden »Selbstbeziehung« des Individuums führen. Mit »Selbstbeziehung« ist »[…] stets das Bewusstsein oder Gefühl gemeint, das eine Person von sich selber im Hinblick darauf besitzt, welche Rechte und Fähigkeiten ihr zukommen« (Honneth 1992, S. 310).5

5

Pilarek (2007) hat zu den verschiedenen Dimensionen der Anerkennung der Sozialphilosophie von Honneth eine sehr übersichtliche und verständliche Arbeit vorgelegt, die die nachfolgenden, eher kürzeren Reflexionen, dem interessierten Leser eine wertvolle Ergänzung bieten mögen.

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Die Anerkennungssphäre der Liebe Die erste Form der Anerkennung ist die emotionale Zuwendung in der Primärbeziehung von Liebe und Freundschaft. Durch die Erfahrung des Geliebtwerdens gelangen die Subjekte zu einem elementaren Vertrauen in sich selbst, das die Grundlage für eine selbstbestimmte Teilnahme in der öffentlichen Sphäre bildet. Die Liebe wird begriffen als »ein besonderes Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung. […] Unter Liebesverhältnissen sollen hier alle Primärbeziehungen verstanden werden, soweit sie nach dem Muster von erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen.« (Honneth 1992, S. 163) Am Beispiel des heranwachsenden Kinds zeigt Honneth (2005), wie sich erst durch eine Art affektiver Anteilnahme ein Blick auf die Welt entwickelt. Das Kind muss sich einbezogen fühlen in die Art, wie ein Erwachsener existiert. Nur dann lernt es, sich dessen Perspektive zu eigen zu machen. Die in der Pädagogik viel berufene »Nachahmung« liegt hier zugrunde. Auf dieser ersten Ebene reziproker Anerkennung soll das Kind, der Einzelne sich selbst als Individuum erfahren lernen, das mit elementaren anerkennungswerten Bedürfnissen ausgestattet, aber auch auf andere und deren Zuwendung angewiesen ist, um ein intaktes Verhältnis zu sich etablieren zu können. In dieser ersten Anerkennungssphäre sollen die Menschen eine grundlegende und ermöglichende Form der Anerkennung sowie ein elementares positives Selbstverhältnis erfahren, das anderen, komplexeren Formen der Anerkennung vorgelagert ist: »Weil dieses Anerkennungsverhältnis […] einer Art von Selbstverhältnis den Weg bereitet, in der die Subjekte wechselseitig zu einem elementaren Vertrauen in sich selber gelangen, geht es jeder anderen Form der reziproken Anerkennung sowohl logisch als auch genetisch voraus: jene Grundschicht einer emotionalen Sicherheit nicht nur in der Erfahrung, sondern auch in der Äußerung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, zu der die intersubjektive Erfahrung von Liebe verhilft, bildet die psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung.« (Honneth 2002, S. 172)

Die auf dieser Ebene gewonnene Anerkennung und das damit korrespondierende Selbstverhältnis begreift Honneth als allgemeiner im Vergleich zu allen anderen Spielarten der intersubjektiven Bestätigung, denn es sind keine speziellen, unverwechselbaren praktischen oder intellektuellen Kompetenzen, die hier Anerkennung erfahren, sondern die Person per se, weshalb »dieser ›existentielle‹ Modus der Anerkennung allen anderen, gehaltvolleren Formen der Anerkennung zugrunde liegt, in denen es um die Bejahung von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten anderer Personen geht« (Honneth 2005, S. 60).

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Die »Grundschicht einer emotionalen Sicherheit« (Honneth 1992, S. 172), das Selbstvertrauen, entwickelt sich also gemäß der psychoanalytischen Theorie der intersubjektiven Beziehung aus der Ausgewogenheit von Verschmelzung und IchAbgrenzung in Primärbeziehungen. Das auf dieser ersten Anerkennungsstufe wechselseitig entwickelte Selbstvertrauen wird zur Grundlage einer autonomen Teilnahme und selbstbewusster Artikulation im öffentlichen Leben (ebd., S. 174). Ihren Gegensatz findet die Anerkennungsform der Liebe darin, dass eine Person die freie Verfügung über ihren Körper verliert und anderem Willen schutzlos ausgeliefert ist. Dabei handelt es sich um eine Missachtung der physischen Integrität. Die Anerkennungssphäre des Rechts Als zweite Form gilt die rechtliche Anerkennung, die es einem Individuum ermöglicht, sich als eigenständige, gleichberechtigte Person in einer Gemeinschaft mit gleichen Sozialnormen zu definieren. Mit der sozialen Sphäre des Rechts soll nun eine Dimension der wechselseitigen Anerkennung thematisiert werden, die in praktisch jeglicher Hinsicht von jener der Liebe zu differenzieren wäre. Die soziale Funktion des Rechts kann vorab grob umrissen werden als ein Gleichgewicht wechselseitiger Anerkennung. Dieses lässt sich nur durch eine: »[…] Einführung von Rechtsverhältnissen erreichen, die den einzelnen Personen Handlungsspielräume garantieren, in denen sie ihre Selbständigkeit gegeneinander konfliktfrei zum Ausdruck bringen können. Auf dieser zweiten Stufe der Anerkennung macht sich der Allgemeinwille gegenüber dem Einzelwillen geltend.« (Düwell 2002, S. 298)

Die personale Anerkennung eines Individuums in der Rechtssphäre ist die eines moralisch urteilsfähigen und autonomen Subjekts. Das moderne Recht setzt seine Adressaten als freie und gleiche Bürger und rechnet auf die aktive Zustimmung zu seinen normativen Ansprüchen. »Wenn eine Rechtsordnung nur in dem Maße als gerechtfertigt gelten und mithin auf individuelle Folgebereitschaft rechnen kann, in dem sie sich im Prinzip auf die freie Zustimmung aller in sie einbezogenen Individuen zu berufen vermag, dann muß diesen Rechtssubjekten zumindest die Fähigkeit unterstellt werden können, in individueller Autonomie über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden; ohne eine derartige Zuschreibung wäre überhaupt nicht vorstellbar, wie die Subjekte sich jemals wechselseitig auf eine rechtliche Ordnung sollen geeinigt haben können. Insofern ist jede moderne Rechtsgemeinschaft, allein weil ihre Legitimität von der Idee einer rationalen Übereinkunft zwischen gleichberechtigten Individuen abhängig wird, in der Annahme der moralischen Zurechnungsfähigkeit all ihrer Mitglieder gegründet.« (Honneth 1992, S. 184)

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Dem Menschen werden damit subjektive Rechte, wie Freiheitsrecht, politisches Teilnahmerecht und soziales Wohlfahrtsrecht zugeschrieben. Diese rechtliche Anerkennung eines Subjektes führt zur Selbstachtung, denn das Individuum wird als moralisch zurechnungsfähige Person angesehen, die das Recht und die Fähigkeit zur diskursiven Willensbildung innerhalb der Gemeinschaft hat (vgl. Pilarek 2007, S. 40). »Nicht nur in der abstrakten Fähigkeit, sich an moralischen Normen orientieren zu können, sondern auch in der konkreten Eigenschaft, das dafür nötige Maß an sozialem Lebensstandard zu verdienen, wird ein Subjekt inzwischen geachtet, wenn es rechtlich Anerkennung findet.« (Honneth 1992, S. 190, zitiert in Pilarek 2007, S. 41)

Das positive Verhältnis des Subjektes zu sich selbst, das dem Individuum aus der Anerkennung in der Sphäre des Rechts erwachsen soll, ist das der Selbstachtung, das eigene Tun als ein fundamentaler Ausdruck von Autonomie begreifen zu können; der ethische Wert der Anerkennung in der zweiten Sphäre liegt damit im Selbstverständnis des Individuums, souveräner Rechtsträger und mit moralischer Urteilskraft ausgestattet zu sein. Damit ist die Anerkennungssphäre des Rechts fundamental auf eine absolute Abkehr von der alten Feudalordnung angewiesen, die aus Kategorien wie Geschlecht, Alter, Herkunft und Stand unmittelbar einen sozialen Status zuweist. Hierin liegt für die kapitalistische Periphere Moderne Brasilien die eigentlich zu bewältigende Herausforderung: Die Überwindung der Ordnung der kolonialen Feudalgesellschaft, letztlich zeitgenössisch fortgeführt über die verschiedenen postkolonialen modernen Institutionen, macht eine genaue Analyse der intransparent reproduzierten Werthierarchie als eine im Grunde neofeudale Konstellation notwendig, wenn akademische Gesellschaftskritik ernst gemeint sein soll. Die Anerkennung in der zweiten Sphäre verweist letztlich auch auf einen normativen Entwurf individueller Selbstverwirklichung, in dem rechtliche Anerkennung eine unbedingte Voraussetzung eines gelingenden Lebens darstellt: »Selbstverwirklichung ist […] auf die soziale Voraussetzung rechtlich gewährter Autonomie angewiesen, weil allein mit ihrer Hilfe sich jedes Subjekt als eine Person zu begreifen vermag, die sich selbst gegenüber in ein Verhältnis der abwägenden Prüfung der eigenen Wünsche treten kann.« (Honneth 1992, S. 283)

Das damit umrissene Konzept individueller Autonomie integriert das Recht als notwendige und auch stetig zu entwickelnde Größe mit ein. Für Honneth stellt diese Sphäre einen universalistischen und letztlich unverzichtbaren Baustein in einer Theorie sozialer Gerechtigkeit dar. Das Recht erscheint damit insofern als Bestandteil, das um materiale Verfügbarkeit ausgeweitet werden muss, um das

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normative Ziel individueller Autonomie in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einlösen zu können. Diese Perspektive ist im zentralmodernen Gleichheitsgedanken im Recht verwirklicht: Die soziale Norm im gleichgestellten Recht für alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig ihres ökonomischen Status und ihrer sozialen Herkunft, zielt in Richtung eines Eingangs des Rechts in die Sphäre sozialer Wertschätzung, die als dritte und letzte Sphäre der Anerkennung ausgewiesen wird. Werden einem Subjekt diese juristischen Rechte abgesprochen, so spricht man ihm gleichzeitig die moralische Integrität ab; es gilt also nicht als vollwertiger Interaktionspartner in der Gemeinschaft. Dies wird von Honneth mit der Missachtungsform der »Entrechtung« und »Ausschließung« betitelt, bei der das Subjekt seine soziale Integrität verliert (Honneth 1992, S. 173ff.). Die Ablehnung moralischer Zurechnungsfähigkeit, insbesondere der armen ›schwarzen‹ Klassen, entpuppt sich als unverhohlene Diskriminierung und Zuweisung eines minderwertigen sub-bürgerlichen Status in Brasilien. Soza (2008) ordnet die herabgewürdigten Klassen der sogenannten subcidadania zu Die Anerkennungssphäre sozialer Wertschätzung Als dritte Anerkennungsform ist die Solidarität zu nennen, die es einer Person ermöglicht, sich auf bestimmte individuelle Eigenschaften und Leistungen positiv rückzubeziehen, die von grundlegendem Wert für die (nationale) Gemeinschaft sind. Dies schlägt sich auf der individuellen Ebene dann in Selbstwert und Selbstschätzung nieder. Das Maß an sozialer Wertschätzung, das Gesellschaftsmitgliedern für ihre besonderen Eigenschaften entgegengebracht wird, ist vom jeweiligen kulturellen und historisch gewordenen Selbstverständnis einer Gesellschaft abhängig. Diese definiert das Ziel und damit auch, was als wertvoller Beitrag, als Leistung angesehen wird. Soziale Wertschätzung ist jedoch mit dem Zugeständnis rechtlicher Privilegien und moralischer Persönlichkeitsqualitäten verknüpft (Honneth 1992, S. 198ff.). Die soziale Wertschätzung variiert wiederum stark von Gesellschaft zu Gesellschaft. Insbesondere zwischen vergleichsweise gleichen Nationen Zentraleuropas mit einem niedrigen GINI-Koeffizient der Ungleichverteilung (v.a. Skandinavische Länder) und ungleichen Nationen der Peripheren Moderne (z.B. die Republik Südafrika, Brasilien oder Mexiko) bestehen wesentliche Unterschiede hinsichtlich rechtlicher Privilegierung der unterschiedlichen Klassen. In letzteren ist das Gleichheitsprinzip nicht effektiv in der Alltagswelt und den verschiedenen Institutionen verwirklicht. Wie die Sphäre des Rechts baut auch die Sphäre sozialer Wertschätzung auf der Überwindung traditionaler Standes- und Kolonialgesellschaften auf. In diesen richten sich die kollektiven Handlungserwartun-

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gen an eine stark vorgezeichnete und determinierte Form der Lebensführung. Mit der Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Gesellschaft wird das Leistungsprinzip als soziale Norm zur nahezu exklusiven Bewertung individueller Beiträge zum gesellschaftlichen Wohl gesetzt. Es stellt »neben den Menschenrechten und der Anerkennung der Bedürftigkeit […] eine dritte Fundamentalnorm im Selbstverständnis moderner Gesellschaften dar«, wie es Neckel & Dröge (2002, S. 94) formulieren. Ganz wesentlich zu konstatieren ist jedoch, dass im Unterschied zu den beiden anderen Normen das Leistungsprinzip keine egalisierende Wirkung hat, vielmehr ist es in eindeutiger Weise die Rechtfertigungsgrundlage für soziale Ungleichheit: »Das Leistungsprinzip gibt die Kriterien vor, nach denen materielle und soziale Lebenschancen verteilt, Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum gewährt, Hierarchien im Aufbau von Organisationen begründet und die soziale Ungleichheit zwischen Personen, Gruppen und Klassen gerechtfertigt werden sollen.« (Neckel & Dröge 2002, S. 94, zitiert in Pilarek 2007, S. 41)

Das Leistungsprinzip ist in seiner dezidierten Abgrenzung von feudalen Ordnungen und von der diskriminierenden Bewertung ökonomisch unerheblicher Eigenschaften wie Stand oder Herkunft konstitutiv für das Selbstverständnis moderner Marktgesellschaften. Das Leistungsprinzip verweist auf Einkünfte, Zugänge, Ränge und Ämter, die ausschließend nach den Kategorien von Wissen und Können zu vergeben sind (Kreckel 2004, S. 166). Analog zum Selbstvertrauen in der ersten und der Selbstachtung in der zweiten Sphäre entspringt auch der dritten Sphäre im Falle gelingender Anerkennung ein positives Selbstverhältnis, das der Selbstschätzung. Durch das Gefühl, für konkrete Eigenschaften im sozialen Raum anerkannt zu werden, die als gesellschaftlich wertvoll erachtet werden, entsteht im Individuum das praktische Selbstverhältnis der Selbstschätzung (oder auch des Selbstwertgefühls); diese reziproke Herausbildung individueller Selbstschätzung bildet für Honneths Theorieentwurf letztlich die Grundlage einer posttraditionalen Form gesellschaftlicher Solidarität, die auf mehr als nur liberale Zurückhaltung gegenüber den Eigenschaften anderer angewiesen ist: »Solidarität ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften […] an die Voraussetzung von sozialen Verhältnissen der symmetrischen Wertschätzung zwischen individualisierten (und autonomen) Subjekten gebunden; sich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich reziprok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. […]: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, daß sich ihre mir

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fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.« (Honneth 1992, S. 209f.)

Das Vertrauen in die Solidarität der anderen Gesellschaftsmitglieder führt beim Individuum zur Entwicklung von Selbstschätzung. Hingegen nimmt die Herabwürdigung des eigenen Lebensentwurfs und der individuellen Leistung die Möglichkeit, den eigenen Fähigkeiten sozialen Wert beizumessen und sich als Vollbürger innerhalb einer Nation zu fühlen (Honneth 1992, S. 217). Genau hierin liegt das kontrafaktische Moment der Peripheren Moderne: Die eigene Herabwürdigung der Existenz zeigt sich in den benachteiligten und gedemütigten Klassen, zumeist der Favelabewohner, die ihren subalternen Status über Jahrhunderte kolonialer Unterjochung konstitutiv als subjektive Selbstbewertung in Brasilien über die Generationen hinweg verinnerlicht haben. Souza (2006) hat hier den Typus eines »sekundären Habitus« beschrieben, um die Subbürgerlichkeit zu umreißen. Deffner (2010b) begründet ihre empirische Studie in Salvador da Bahia mit der kollektiven Existenz eines »Habitus der Scham«, der der urbanen Unterklasse zu Eigen sei. Denn wenn eine Person, wie häufig in Brasilien, der Möglichkeit beraubt wird, sich als geachtetes Subjekt betrachten zu können, erleidet es einen Verlust an Selbstschätzung. Honneth nennt dies die Entwürdigung und Beleidigung der Ehre eines Menschen. An späterer Stelle werden die Formen und Ausprägungen verweigerter Anerkennung sowie das Unrechtsempfinden der Unterklassen in Brasilien am Beispiel von Salvador ausführlich beschrieben. Das Zusammenwirken der drei Anerkennungsformen Für Honneth sind nur im gelungenen Zusammenspiel aller drei Anerkennungsformen jene sozialen Rahmungen hergestellt, die zu einer funktionierenden »Selbstbeziehung« des Individuums führen. Damit ist die »menschliche Lebensform im Ganzen durch die Tatsache geprägt, dass Individuen nur durch wechselseitige Anerkennung zu sozialer Mitgliedschaft und damit zu einer positiven Selbstbeziehung gelangen« (Honneth 2000, S. 66). Bezogen auf die Legitimität von Gesellschaften hinsichtlich ihrer Kapazitäten der Umsetzung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse ihrer Mitglieder argumentiert Honneth (2003, S. 205) folgendermaßen: »Gesellschaften stellen aus der Sicht ihrer Mitglieder nur in dem Maße legitime Ordnungsgefüge dar, in dem sie dazu in der Lage sind, verläßliche Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten. Insofern vollzieht sich die normative Integration von Gesellschaften auch nur auf dem Weg der Institutionalisierung von Anerkennungsprinzipien, die nachvollziehbar regeln, durch welche Formen

44 | E XKLUSION IM ZENTRUM der wechselseitigen Anerkennung die Mitglieder in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang einbezogen werden.«6

Wenn als eigentliches Ziel einer gerecht ›geeichten‹ Gesellschaft die Möglichkeit einer solchen intakten Identität angenommen wird, dann sind es Inhalt und Umfang der in den drei Sphären vergebenen Anerkennung, die zusammengenommen bestimmen, was unter der Idee von sozialer Gerechtigkeit zu verstehen sein sollte (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse (Honneth 1992, S. 211). Anerkennungsweise Persönlichkeitsdimension Anerkennungsformen

emotionale Zuwendung

kognitive Achtung

soziale Wertschätzung

Bedürfnis und Affektnatur Primärbeziehungen (Liebe, Freundschaft)

moralische Zurechnungsfähigkeit

Fähigkeiten und Eigenschaften

Rechtsverhältnisse (Rechte)

Wertegemeinschaft (Solidarität)

Generalisierung, Materialisierung

Individualisierung, Egalisierung

Entwicklungspotential Praktische Selbstbeziehung

Selbstvertrauen

Selbstachtung

Selbstschätzung

Missachtungsformen

Misshandlung und Vergewaltigung

Entrechtung und Ausschließung

Entwürdigung und Beleidigung

Bedrohte Persönlichkeitskomponente

physische Integrität

soziale Integrität

»Ehre«, Würde

Entscheidend für die Zwecke der vorliegenden Studie ist die Unterscheidung von rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschätzung. In vormodernen Gesellschaftsverhältnissen, so Honneth (2003, S. 192), bestand diese Trennung nicht; das Zugeständnis subjektiver Rechte an die Gesellschaftsmitglieder war graduell entsprechend ihrer sozialen Wertschätzung abgestuft, die anhand der Ehre bzw. des geschätzten Beitrages ihres Standes zum Gesellschaftsziel bemessen wurde.7 Die personale Anerkennung war demnach nur innerhalb der vertikal positionierten Sta-

6

Vgl. hierzu auch Pilarek (2007, S. 49ff.)

7

In der ersten Sphäre der Anerkennung, der Liebessphäre, lässt sich nach Honneth am unwahrscheinlichsten ein Kampf um Anerkennung entfalten, da die hier angelegten individuellen Bedürfnisse historisch am wenigstens variabel und damit am schlechtesten mobilisierbar seien, darüber hinaus seien diese Wünsche kaum zu öffentlichen Belangen zu generalisieren.

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tusgruppen möglich. Dies distanzierte die gefühlte Anerkennung ebenso wie die Missachtung von der Persönlichkeit der Individuen, da sie sich auf Kollektiveigenschaften anstatt individueller Fähigkeiten bezogen (ebd., S. 207 und 217). Erst mit dem Übergang zur Moderne löste sich das Zugeständnis individueller Rechte von den standesabhängigen Rollenerwartungen, was die Entwicklung von zwei verschiedenen Formen der Achtung nach sich zog, die im Grunde auf Kant zurückgehen: Einerseits der universelle Respekt vor der personalen Willensfreiheit, der keinerlei Abstufung enthalten kann, und andererseits die Anerkennung individueller Leistung (vgl. Honneth 1992, S. 179ff. und 199f.). Bei Missachtung bzw. Entzug rechtlicher Anerkennung oder Solidarität kann es über die Gefühle der Scham (vgl. Neckel 1991; Landweer 1999; Tiedemann 2007; Deffner 2010b) zu defensiven Handlungen, zur Akzeptanz oder aber durch Wut zum sozialen Kampf benachteiligter Gruppen um das Zugeständnis von egalitären Rechten und um die Definitionsmacht von als wertvoll erachteter Leistung kommen. Dies ist möglich wenn Erwartungshaltungen nicht erfüllt werden, die Missachtung als ungerechtfertigt empfunden wird und Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten zur politischen und widerständigen Artikulation bestehen. Hier soll auch der Verweis auf den Empirieteil genügen, in dem ausführlich das gesellschaftsrelevante Artikulations- und Protestpotential über das Unrechtsempfinden der Unterklasse reflektiert wird bzw. die Differenzen zwischen Zentraler und Peripherer Moderne augenscheinlich werden: Dass die ungerechten Strukturen in Brasilien seit der Kolonialzeit ab dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart fortgeschrieben wurden und dies fast nie zu kollektiver Empörung und Rebellion geführt hat, weist darauf hin, dass einerseits andere Mechanismen zur Bewältigung von sozialer Ungleichheit im Alltagsleben der Benachteiligten wirksam werden und andererseits die Wahrnehmungen was unter gerecht zu verstehen wäre eine fundamentale Differenz zur Zentralen Moderne darstellt. Empörungspotentiale – Der Kampf um Anerkennung »Macht kaputt was Euch kaputt macht« (Ton Steine Scherben)

Eine in diesem Rahmen gefühlte Verletzung legitimer Anerkennungsansprüche sei, was letztlich als Motivationsbasis eines Kampfes um Anerkennung betrachtet werden könne, so Honneth (1992, S. 219). Diese Argumentationslinie findet sich bereits bei Adorno. Adorno (1973) kommt zu der Vorstellung eines als Kritik zu entschlüsselnden Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Aus dieser Anschauung heraus entwickelt er die Idee einer aus erfahrenem Leiden gespeisten Regung Widerstand zu leisten,

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die über die Ursachen der »sozialen Pathologie« hinausgehen will. Durch »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« so der Untertitel von Minima Moralia (2003), erwächst ein Affekt, mit dem die Subjekte skeptisch auf die kapitalistischen Lebensbedingungen reagieren. Daraus entsteht der Wunsch und Wille sich von den Verhältnissen zu befreien, indem die Subjekte erkennen, was die sozialen Ursachen ihres Leidens an der Welt sind (vgl. Adorno 1973, S. 203, Bauman 2000, S. 238; Bourdieu et al. 1997). Damit nimmt Adorno eine These Honneths vorweg, dass die Kritische Theorie die Erfahrungen eines Leidens an pathologischen Verhältnissen, Missachtungs- und Demütigungserfahrungen wie Honneth diese nennt, als einen Aspekt der Realität begreifen müsse, der zum Motivationszentrum sozialer Auflehnung wird. Gefühle, und vor allem Erfahrungen von Missachtung und Demütigung lassen die Menschen einen spürbaren und artikulationsfähigen Mangel in den vorherrschenden Anerkennungsverhältnissen empfinden. Ein derartiges Modell des sozialen Kampfes um Anerkennung beinhaltet die Auffassung, dass: »jede negative Gefühlsreaktion […], die mit der Erfahrung einer Mißachtung von Anerkennungsansprüchen einhergeht, wieder die Möglichkeit [enthält], daß sich dem betroffenen Subjekt das ihm zugefügte Unrecht kognitiv erschließt und zum Motiv des politischen Widerstandes wird. Die Motive für sozialen Widerstand und Aufruhr [bilden sich] im Rahmen von moralischen Erfahrungen, die aus der Verletzung von tiefsitzenden Anerkennungserwartungen hervorgehen.« (Honneth 1992, S. 261)

Dass es Erfahrungen der nicht gewährten oder entzogenen Anerkennung sind, die den entscheidenden Stimulus für die Hervorbringung sozialen Protests geben können, impliziert jedoch nicht automatisch, dass es zu solch einer Reaktion auch tatsächlich kommt. Dies hängt von der Organisierungsfähigkeit derer, die sich sozialer Missachtung ausgesetzt sehen sowie von den gewählten Mitteln der Gegenwehr ab und von der Frage, ob es sich um Erfahrungen vorenthaltener Anerkennung handelt, die von vielen Menschen geteilt werden oder als typisch für eine bestimmte Gruppe, Schicht usw. dargestellt werden können (Honneth 1992, S. 260). Je eher die Empfindung, in einem Anrecht auf soziale Bestätigung Ungerechtigkeit zu erfahren, verallgemeinerbar (z.B. durch das Hervorbringen von kollektiver Empörung durch einen charismatischen Führer oder »organischen Intellektuellen« im Sinne Gramscis 1986) und auf einen generellen sozialen Missstand zu beziehen ist, desto wahrscheinlicher kann sie zur Grundlage politischen Protests oder einer sozialen Bewegung werden (ebd., S. 259). Es ist damit die intrinsische Gewissheit als moralisch integeres Subjekt für Sich und der sozialen Gruppe für Gerechtigkeit in Handlung zu treten.

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»Was Individuen oder soziale Gruppen dazu motiviert, die herrschende Sozialordnung in Frage zu stellen und praktische Gegenwehr auszuüben, ist die moralische Überzeugung, daß die für legitim gehaltenen Anerkennungsprinzipien in Hinblick auf ihre eigene Lage oder ihre jeweilige Besonderung falsch oder unzureichend angewendet werden. Stets ist es innerhalb einer jeden Sphäre möglich, erneut eine moralische Dialektik von Allgemeinem und Besonderem in Gang zu setzen, indem unter Berufung auf das allgemeine Anerkennungsprinzip (Liebe, Recht, Leistung) ein besonderer Gesichtspunkt (Bedürfnis, Lebenslage, Beitrag) eingeklagt wird, der unter den Bedingungen der bislang praktizierten Anwendung noch nicht angemessen Berücksichtigung gefunden hat.« (Honneth 2003, S. 197, zitiert in Pilarek 2007, S. 54; Herv.i.O.)

Damit wird evident, dass Unrechtsempfindungen von den benachteiligten Kollektiven artikuliert und in Widerstand transformiert werden müssen. Diese Voraussetzung einer emanzipatorischen Bewusstwerdung über den eigenen subalternen Status der unterdrückten Klassen hat auch der brasilianische Pädagoge Freire (1973) in Pädagogik der Unterdrückten prominent formuliert. So müssen demnach Erfahrungen von Missachtung in wechselseitig legitimierbare Anerkennungsansprüche übersetzt werden. Eine angemessene Kritik gilt ungerechtfertigten Anerkennungsverhältnissen, die sozialen Beziehungen sind damit Resultat sozialer Kämpfe: Die Verletzung von Anerkennungsansprüchen ist dann das zentrale Motiv für Kämpfe um Wiedererlangung der Anerkennung. »Die Gerechtigkeit oder das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstattengehen kann.« (Honneth & Fraser 2003, S. 206)

Diese Annahme von Honneth & Fraser (2003)8 einer Korrelation von Gerechtigkeit und wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen sowie die These, dass »es […] ein Kampf um Anerkennung ist, der als moralische Kraft innerhalb der sozialen Lebenswirklichkeit des Menschen für Entwicklungen und Fortschritte sorgt«, wie Honneth (1992, S. 227) optimistisch formuliert, gilt es für den peripher modernen idiographischen Kontext in Brasilien zu klären. Der postulierte Kampf um soziale Achtung und Wertschätzung der Menschen in den Favelas scheint ein sehr verhaltener und fast unsichtbarer zu sein, was nicht bedeutet, dass damit Widerstandslosigkeit impliziert wäre. Ganz im Gegenteil stellt sich dort die Frage, ob das ›bürgerliche Projekt‹ Honneths in der Tradition des deut-

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Vgl. hierzu auch Habermas (1997)

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schen Idealismus ausreicht, um das Protestverhalten von nicht privilegierten Gruppen in Brasilien über Erfahrungen der Demütigung exklusiv hinsichtlich der Kategorie der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung zu konzeptionalisieren. Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit Honneth (2005) hat in seinem jüngeren Werk Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie versucht, den lange Zeit prominenten marxschen Begriff der Verdinglichung anerkennungstheoretisch zu reformulieren und damit zu retten. Er möchte damit das drohende Verstummen der Gesellschaftskritik verhindern. »Die Gegenentwürfe zur bürgerlich-kapitalistischen Welt seien zerschlissen, alles rebellische Aufbegehren habe sich als wirkungslos erwiesen, man habe sich arrangiert. Nach Kapitalismusdiagnose und Utopie bestehe kein Verlangen mehr«, so Kerstings (2005) Rezensionsbeitrag Wer vergaß hier die Anerkennung? Axel Honneth lässt sich die Verdinglichung nicht nehmen in der FAZ. Die klassische Verdinglichungsanalyse geht auf Lukács zurück, die er in Geschichte und Klassenbewusstsein (1968 [1925]) entworfen hat. Darin schildert Lukács, wie der Mensch im Industriekapitalismus zum kapitalistischen Menschen wird, der nach und nach die Fähigkeit und Empathie verliert, zwischen Personen und Dingen zu unterscheiden, da er seine Mitmenschen nur mehr ausschließlich dinglich und objekthaft wahrnimmt. Das Phänomen der Verdinglichung, das unter kapitalistischen Bedingungen entstanden sei, wird dann auch von der frühen Frankfurter Schule aufgenommen (»Alle Verdinglichung ist ein Vergessen« so in Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno 1988 [1944] formuliert; zitiert nach Honneth 2005 im Umschlagtext) und von Habermas (1981, S. 293) in seiner Theorie des kommunikativen Handelns diskursethisch weitergeführt. Die grundlegende Rückbeziehung aller drei ›Generationen‹ der Kritischen Theorie auf das Konzept der Verdinglichung speist sich aus der Überzeugung, in diesem Prozess eine »soziale Pathologie« kapitalistischer Verhältnisse in der intersubjektiven Sphäre zu erkennen. Für Honneths (2005) Reaktualisierung des Verdinglichungskonzeptes ist charakteristisch, dass moderne Gesellschaften nicht nur in der Verletzung von allgemeingültigen Gerechtigkeitsprinzipien scheitern können. Der Begriff der Verdinglichung wurde von Lukács (1968) ausschließlich bei der Analyse des Alltagslebens im Kapitalismus verwendet. Ausgehend davon versucht Honneth jedoch, den Horizont dessen, was zeitgenössisch mit Verdinglichung gemeint sein könnte, weiter zu fassen. In sozialanthropologischer Weise geht er dabei von einer ursprünglichen Form der anerkennenden Weltbezogenheit des Subjekts aus. Seinem Begriff »Anerkennung« liegt ebenso wie der von Deweys (2003) Begriff des »praktischen Engagements«, Heideggers (1927)

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»Sorge« und Lukács (1968) »Anteilnahme« die Überzeugung zugrunde, dass es vor jedem »Erkennen« die Vorgängigkeit eines grundlegend bejahenden Interesses an der (Mit-)Welt gibt. Elementar zum Mensch-Sein gehört die »Sorge«: Der Mensch »ist« in der Sorge. Honneth ersetzt nun den heideggerschen Begriff »Sorge« durch den der »Anerkennung« und erklärt, dass die Menschen als handelnde Subjekte anerkennend auf die Welt bezogen sind und in diesem Bezogensein auch in einem vorgängigen Verstehen existieren (vgl. Gleichauf 2006). Verdinglichung im Sinne Honneths entsteht, wenn Anerkennung in Vergessenheit gerät und ist dann als ein Prozess des Vergessens zu verstehen. Mit Verdinglichung ist »eine Denkgewohnheit, eine habituell erstarrte Perspektive gemeint, durch deren Übernahme die Menschen und Institutionen ihre Fähigkeit zur reflexiven Anteilnahme an Personen und Geschehnissen verlieren« (Honneth 2005, S. 63). Er liefert den Beweisgrund, dass unsere kognitiven Weltbeziehungen sowohl in einem ursächlichen, als auch in einem begrifflichen Sinne an natürliche Einstellungen der Anerkennung gebunden sind. Verdinglichung beginnt für ihn da, wo wir in unseren Erkenntnisvollzügen das eigentlich menschliche Gespür dafür verlieren, dass sie sich der Einnahme einer anerkennenden Haltung verdanken. Dies kann dazu führen, dass die Gesellschaft dann eine Entwicklung nimmt, in der Menschen sich gegenseitig und in der Beziehung zu sich selbst vorrangig unter instrumentalisierenden Gesichtspunkten wahrnehmen. In Brasilien handelt es sich um einen vorreflektierten und kulturell verinnerlichten Kollektivprozess einer seit dem 16. Jahrhundert etablierten und nach der Unabhängigkeit 1822 fortgeschriebenen gesellschaftlichen Deformation der Anerkennungsverhältnisse zwischen der Minderheit der privilegierten Oberklassen und der Mehrheit der marginalisierten Unterklassen. So bedeutet die vorreflexive Ungleichbehandlung und Missachtungspraxis der subcidadania durch die Eliten in Brasilien letztlich ein profundes Anerkennungsdefizit und damit eine auf Horkheimer & Adorno (1988) und Habermas (1981, S. 293) rekurrierende Verdinglichung. Damit erscheint der Verlust des Empfindens der Anteilnahme und des Mitfühlens (als soziale Unaufmerksamkeit) in einer vorreflektierten Fortführung der strukturellen Gewalt im Kolonialzeitalter Brasiliens bis in die postkoloniale Moderne fortgeführt worden zu sein (vgl. Rothfuß 2010, S. 123ff.).

K RITIK AN DER K RITIK – D IE A NERKENNUNGSTHEORIE ALS › BÜRGERLICHES P ROJEKT ‹ »Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen, ein […] schönes, mit allem Komfort ausgestattetes

50 | E XKLUSION IM ZENTRUM Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.« (Lukács 1963, S. 17)

Die hier skizzierte prominente lukácssche Metapher vom »Grand Hotel Abgrund« polemisiert den Habitus der ›Frankfurter‹: Diese haben es sich in bürgerlicher Manier auf der Veranda gemütlich gemacht, um von einer distanzierten und geschützten Perspektive aus das gesellschaftliche Geschehen von Zeit zu Zeit zu diagnostizieren. Lukács kritisiert damit das bourgeoise Projekt der Kritischen Theorie fundamental, welche es sich wohlig im intellektuellen Diskurs um die Gedemütigten und Entfremdeten eingerichtet haben und sich damit weit jenseits revolutionärer Handlungen positioniert haben. Es scheint im eigenen Dafürhalten, dass sich auch Honneth, zumindest in der Abstraktheit seiner Konzeption, den Missachteten letztlich zu akademisch nähert. Deren alltagspraktische und pragmatische Taktiken aus den vorgefundenen und für weitgehend unaufhebbar betrachteten Gesellschaftsstrukturen, ihre ›mögliche Geographie‹ zu entwickeln und zu leben, können nur zum Teil über deformierte Anerkennungsverhältnisse verstanden werden. Und ist es nicht so, dass im Festhalten an diagnostischen Begriffen, z.B. jenem der »Deformation« oder »Pathologie« ein radikal negatives Gesellschaftsbild perpetuiert wird, wie es von Anfang an in der Frankfurter Schule propagiert wurde? »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« stellt hier nur die allzu prominente Aussage von Adorno (2003, S. 8) diesbezüglich dar. Hierzu wäre verallgemeinerbar, dass es grundsätzlich keinen Anspruch auf das soziale oder politisch Allgemeine geben kann. Vielmehr gilt es, das individuell Besondere zu schützen, so wie es auch das moderne Rechtssystem unmissverständlich vorsieht, das Individuum einfach Sein zu lassen, ohne es damit schon normativ zu bestimmen. Die rohe ›Unkultiviertheit‹ des Individuums ist neben seiner solidarischen und fürsorglichen Disposition eine Grundkondition jeder Gesellschaft. Dies meint auch, dass eine bewusste Entscheidung auf (bürgerliche) Anerkennung zu verzichten bzw. die Regeln der Gesellschaft nicht notwendigerweise anerkennen zu müssen und einen individuellen wie kollektiven Weg des Denkens, Urteilens und Handelns zu wählen, eine reale und eben unter freiheitlichen Maßstäben eine Möglichkeit der Existenz darstellt. Damit erscheint es angeraten, den Anerkennungsbegriff nicht universalistisch überzustrapazieren. Vielmehr wäre etwa geboten, diesen auf die Sphäre sozialer Interaktion und Institutionen zu beschränken. Es könnte ansonsten die Gefahr bestehen, dass der/die Gesellschaftsdiagnostiker/in viel zu sehr über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu bestimmen versucht, was sie schmerzt, was bei ihnen ein Leiden an der Gesellschaft verursacht und was damit als Symptom gesellschaftlich entstellter Verhältnisse gelten kann oder zu gelten hat.

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Weiterhin wäre zu fragen, ob die Philosophie der Anerkennung nicht einen blinden Fleck hinsichtlich ideologischen Missbrauchs aufweist? Denn die für Honneth so zentrale und moralisch positive Tatsache, dass Menschen Anerkennung brauchen, kann ja auch dazu benutzt werden, ungerechtfertigte Machtverhältnisse zu legitimieren und fortzuschreiben? Wie lässt sich also positive Anerkennung von missbräuchlicher unterscheiden? Diese Kritik ist insofern relativierbar, als für Honneth das entscheidende Kriterium dafür materielle Erfüllung zu nennen wäre, um bloße ideologische Anerkennung zu ›entlarven‹. Wenn nämlich die materielle Unfreiheit, die durch lediglich verbalisierte Anerkennung verdeckt wird, faktisch weiter besteht, ist kein Zweifel daran zu hegen, dass es sich nur um ein rhetorisches Manöver handelt. Vielleicht bleibt letztlich ein gewisses Unbehagen und eine Diskrepanz zwischen der emanzipatorischen Kraft von Honneths theoretischer Konzeption und seinem ›Werkzeug‹, die abstrakte Begriffe und Kategorien der akademischen Philosophie zu bleiben scheinen und der praktischen wie unkonventionellen Vitalität des Alltagslebens in der Favela. Die Metaperspektive der Anerkennungstheorie, die im empirischen Teil verankert wird, erfährt nun eine konzeptionelle Erweiterung über eine Reflexion einer Theorie des Alltagslebens, die neben der Theorie der Anerkennung konstitutiv für die vorliegende Studie ist.

Das Alltagsleben – (Widerständige) Mikropraktiken

Im vorherigen Kapitel wurde der Erkenntnisgehalt der normativen Anerkennungstheorie nach Honneth dargelegt. Auf der Ebene des Alltagslebens ist aber auch ihre Erkenntnisgrenze auszumachen. Insbesondere das Heterodoxe und Widersprüchliche im Alltag, das sich unter deformierten Anerkennungsverhältnissen auf der Mikroebene offenbart, nötigt den konzeptionellen und theoretischen Blick zu weiten. Wie im empirischen Teil zu zeigen sein wird, stellen sich die Handlungsund Wahrnehmungsmuster der Favelabewohner unter stark anerkennungsdefizitären und ungleichen Lebensbedingungen nicht zwangsläufig als passive und defensive Reaktionen der Unterlegenheit und negativen Selbstbeziehung im honnethschen Sinne dar. Ähnlich zur pessimistischen Gesellschaftsanalyse kritisch theoretischer Provenienz von Honneth, hat Deffner (2010b, S. 185f.) in ihrer Dissertation ein empirisch basiertes Praxismodell eines »Habitus der Scham« deduziert, das sie auch aus der Lebenswelt von Favelabewohner und- bewohnerinnen in Salvador da Bahia entwickelt hat. Sie postuliert dabei recht weitgehend: »Aus den dargestellten Erkenntnissen der Analyse der Alltagswelt Favela, und dabei insbesondere der Bedeutung von Scham für den Umgang der Favela-Bewohner mit der strukturierten Ungleichheit, lässt sich ein schamzentriertes Praxismodell ableiten […]«.

Diese Setzung geht letztlich auch konform mit der ›hoffnungslosen‹ Gesellschaftsanalyse in Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno (1988) und der »Kolonialisierung der Lebenswelt«1 von Habermas (1985). Die Macht

1

Habermas (1985) konstatiert, dass der gesellschaftliche Differenzierungsprozess in seinem Verlauf zu einer »Kolonialisierung« der »Lebenswelt« durch das »System« geführt hat. Durch Ausbildung generalisierter Steuerungsmedien, wie Geld und

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der Verhältnisse und die objektiven Strukturen werden verabsolutiert und in der Folge entstehen gesellschaftliche »Pathologien« und »Deformationen« der Lebenswelt, die sich in einer Einschreibung und Inkorporierung von Äußerlichkeiten (ungleicher, beschämender Strukturierungen der Gesellschaft) in einem »Habitus der Scham« verinnerlichen und in den Praktiken der Scham wieder vom Habitus als dessen Generator hervorgebracht werden (Bourdieu 1979). Den Subjekten an der unteren Leiter der gesellschaftlichen Stratigraphie werden damit wenig bis keine emanzipatorischen Kapazitäten zugetraut, um mit den ungleichen und ungerechten Verhältnissen (bewusst) zu verfahren. Diese monolithische Kritik an der herrschenden Ordnung unterstellt den ›Massen‹ sich in reiner Passivität einzurichten, unmündig zu sein und erlegt ihnen damit weitgehend einen Opferstatus auf. Sie werden in ihrer Subjekt- und Kollektivposition damit weitreichend vordeterminiert und entmündigt. Daher gilt es, einer Aporie der formalistischen Entwürfe der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu entgehen bzw. dieser Gesellschaftstheorie zu stark zu verhaften, indem eine Bezugnahme zu Theorien des Alltagslebens lohnenswert erscheint. Diese erfolgt in einer Zuwendung zu den Konzeptionen von Michel de Certeau, Henri Lefebvre und Michel Maffesoli. Diese Integration ermöglicht kritische Gesellschaftsanalyse sowohl makro- als auch mikrotheoretisch zu fundieren. Dabei kann dem Spannungsfeld akademischer, zentraleuropäischer Denktradition mit peripher-moderner Alltagswirklichkeit in Brasilien unter sehr ungleichen Lebensbedingungen realiter Rechnung getragen werden.

E INFÜHRENDE R EFLEXIONEN

ZUM

A LLTAGSLEBEN

Das Alltagsleben besteht aus verschiedenen Subwelten und ihren entsprechenden Sinnwelten und Wissensbeständen, in denen die sozialen Institutionen immer wieder aufs Neue legitimiert werden (Berger & Luckmann 1977, S. 98 ff). Sinn kann nicht extern hergestellt werden, sondern kann nur durch das Alltagsleben aus sich heraus entstehen (vgl. Eisenstadt 2002; Elias 1978; Korff 2009). Dabei unterliegen die Subjekte im Alltag andererseits auch oft einer »Subjektvergessenheit«, wie es Husserl (1985) nennt. Das Alltagshandeln wird damit als Reaktion auf quasi objektive Lebensbedingungen verstanden und der subjektive Eigenanteil darin nicht wahrgenommen. Vielleicht geschieht dies, um der Ver-

Macht, wird die materielle Reproduktion der Gesellschaft nicht nur unabhängig von ihrer kulturellen Reproduktion, sondern durchdringt diese zunehmend. Dieser Prozess ist für Habermas ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften.

D AS A LLTAGSLEBEN – (W IDERSTÄNDIGE ) M IKROPRAKTIKEN

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zweiflung zu entgehen, die den Unsicherheiten erwachsen, welche mit dieser Subjektivität verbunden sind. Zwar ist der Alltag stets auch vorgegeben, er ist eine in sozialen Herstellungen wie Wissen, Sprache und Sozialstruktur vorkonstruierte Welt, die spezifische Stile der Erlebniserfahrung, insbesondere die Arbeit, bereits vorgibt. Aber alltägliches Leben erfordert auch, dass die Subjekte in dieser vorgegebenen Welt ihre eigene Welt sinnkonstruierend erzeugen, d.h., dass der konstruktive Übergang von einer vorgefundenen Welt in die eigen interpretierte Welt zu leisten ist (Soeffner 1988). Es liegt also zwinglich an den Subjekten selbst, ihren Alltag zu konstruieren. Schütz (1979) hat treffend charakterisiert, dass das Alltagsleben das einzige Subuniversum ist, in das die Subjekte ihre (freien) Handlungen einbringen und das durch eigene Praxis modifiziert werden kann (Esser 1991). Im Alltagsleben, formuliert Lefebvre (1974a, S. 181) gleichbedeutend, bildet sich die Gesamtheit von Verhältnissen aus, die aus dem Menschlichen ein Ganzes macht, einen »totalen Menschen«. Das Alltagsleben enthält damit das rationelle Zentrum, den existentiellen Kern von Praxis und begründet damit die Produktion sozialer Beziehungen und sozialer wie individueller Bedürfnisse (vgl. Heller 1978). Das Alltagsleben zwischen Reproduktion, Entfremdung und Utopie Die materialistische Ideologiekritik in der Ausprägung etwa von Marx, Althusser, Lefebvre und auch Foucault fokussiert die Machtsysteme, die ein bestimmtes Wissen produzieren und reproduzieren. Eine überschaubare, kontrollierfähige Gliederung der Räume, eine festgelegte zeitliche Regelmäßigkeit, ein in gleichförmiger Praxis gegossenes Denken sind auf Wiedererkennbarkeit und Wiederholbarkeit im Alltagsleben angelegt. Bei den Ansätzen zu einer kritischmaterialistischen Theorie des Alltaglebens stößt man auf die beiden Kategorien Reproduktion und Entfremdung, die das Alltägliche bestimmen sollen.2 Die Diskursanalyse ist ständig mit den reproduktiven Kapazitäten von Diskursen konfrontiert, die Foucault in der Archäologie des Wissens (1973) als »diskursive Regelmäßigkeiten« zusammenfasst (vgl. Reuber & Mattissek 2004). Auch in der ideologiekritischen Tradition rückte, nicht zuletzt in der Behandlung des Alltags, die Kategorie der Reproduktion ins Zentrum des theoretischen Interesses. Lefebvre (1974a, S. 14) hat in seinen Untersuchungen auf die Ambiguität des Alltags hingewiesen. Auch er geht von der Kategorie der Reproduktion aus, aber in seinen Augen kann die gesellschaftliche Reproduktion im Kapitalismus sich nicht reibungslos und absolut durchsetzen. »In der Alltäglichkeit«, so argumen-

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Vgl. hierzu auch Krobbath (2007).

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tiert Lefebvre in der Kritik des Alltagslebens (1974a), würden die Entfremdungen, die Fetischismen und die Verdinglichungen aus dem Geld sowie der Waren wirksam. Dabei treffen aber die Bedürfnisse, die sich in ihr bis zu einem gewissen Grad in Wünsche verwandelt haben, auf die Güter und eignen sich diese an. In seinen ersten Entwürfen zur Theorie und Kritik des Alltagslebens ging Lefebvre noch davon aus, das Alltägliche sei von der herrschenden Ökonomie und der offiziellen Politik abgeschoben und verdrängt, das kreative Potenzial der alltäglichen Tätigkeiten werde ignoriert und die Bedürfnisse würden neutralisiert. Später diagnostizierte er für die ihm gegenwärtige fordistische Gesellschaft, die »Bürokratische Gesellschaft des gelenkten Konsums«, wie er sie nennt, eine Art Kolonisierung des Alltäglichen, welche die Tendenzen zu Entfremdungen und Verdinglichungen verstärkt habe (Lefebvre 1972, S. 39ff., 164ff.; vgl. hierzu auch Habermas 1981). Die Gesellschaft sei in »Entfremdungen zweiten Grades« eingetreten: »nicht mehr nur der Sache, sondern des Blicks auf die Sache, nicht mehr des Wirklichen, sondern des Bildesder Wirklichkeit, nicht nur der subjektiven Illusionen über die Objektivität, sondern über die Subjektivität«.3 Lefebvre weist jedoch immer wieder darauf hin, dass das Alltägliche niemals vollständig vereinnahmbar sei. Das »Residuelle« des Alltags verweigert sich den Versuchen der Rekuperation, weil es der nicht vorherbestimmbare Ort der Widerstände, der Trennungen und der Gegensätze bleibe (Lefebvre 1974a, S. 335; vgl. hier auch De Certeau 1988). Ähnlich argumentiert Korff (2009, S. 39), indem er das menschliche Spektrum des Alltagslebens zwischen Massenkonsum und individuellem Eigensinn breit aufspannt und das sich einer vollständigen Kontrolle widersetzt: »In diesem Sinne ist das Alltagsleben der Raum, in dem die Massenproduktion Massenkonsumenten findet, der Uniformierung von Individualismus und Banalität. Gleichzeitig ist aber das Alltagsleben als Leben der Spannung zwischen Anpassung und Ekstase, Profanem und Sakralem, Gegenwart und Zukunftserwartung unterworfen und damit nur begrenzt kontrollierbar.«

In einer weiteren Differenzierung – der Unterscheidung von Kultur und Stil – versucht schließlich Lefebvre (1974a) die Ambiguität des Alltagslebens zu fassen. Kultur ist demnach eine Institution, die auf die Regelung der Bedürfnisse und Wünsche zielt, während der Stil den Modus der Aneignung und Umdeutung bezeichnet, in dem die Bedürfnisse und Wünsche die Oberhand über die Objekte, die Waren und das Geld erlangen können. Der Stil richtet sich auf die Ge-

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Im Sinne einer Simulation oder eines Simulacrums wie es Baudrillard (1992) bezeichnet hat (vgl. Junge 2004).

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samtheit des gesellschaftlichen Lebens, nicht mehr auf die Aneignung für ein klassifizierbares Bedürfnis. Lefebvre (1968) konzeptualisiert in Das Alltagsleben in der modernen Welt, eine »transformierte Alltäglichkeit«, einen »Lebensstil«, der die Institutionalisierungen der offiziellen Kultur auflöst. Die Überwindung der Entfremdung, der Prozess der Aneignung von Produkt, Tätigkeit und gesellschaftlichem Leben ist nicht auf die Arbeitenden im Sinn der traditionellen Arbeiterbewegung beschränkt. Die Initiative für eine Kulturrevolution, die nicht nur Staat und Eigentumsverhältnisse, sondern das Leben ändern soll, hat keine fixen kulturellen Ziele umzusetzen, sondern eine neue Praxis ins Leben zu rufen, eine neue Sprache zu finden: »[…] die Revolution wird das ›Urbane‹ machen, nicht das Urbane die Revolution, obwohl das städtische Leben, und besonders der Kampf um die Stadt (um ihre Erhaltung und ihre Erneuerung, um das Recht auf Urbanität), mehr als einer revolutionären Aktion Rahmen und Ziele liefern können« (Lefebvre 1972, S. 277).

Der Kampf um Aneignung kann sich dabei an unterschiedlichen Orten des gesellschaftlichen Lebens entfachen. Der Mensch ist demnach nicht reduzierbar; er orientiert sich an dem Noch-nicht-Bestehenden, dem Traum, der Utopie (vgl. Bloch 1985). Der Intention, einen politischen, homogenen und beherrschbaren Raum zu produzieren und zu reproduzieren, widersetze sich der schöpferische Geist (auch jener der Unterlegenen, Subalternen und Schwachen) als »Residuum« im Alltagsleben. Gegen den politischen Gesellschaftsplan der »homogenen Ordnung« und der vermeintlich kohärenten Rationalität treten das »Chaos der Spontanität« und das Unvermittelte (Lefebvre 1974a). Der offene Ausgang dieses im Grunde anarchistischen Aktivismus im Alltagsleben bestätigt Levebvres ablehende Haltung gegenüber jeder Art von Systematisierung und Operationalisierung. Es erlaubt ihm zugleich, unabhängig von der unmittelbaren Realisierbarkeit der Ansprüche, eine zukünftige Gesellschaftsordnung zu projizieren und dabei die utopische Dimension seiner Philosophie hervorzuheben. Diese Dimension ist auch (alltags-)räumlich zu verstehen, was er mit »U-topia«, dem Ort an dem Utopien gelebt werden können, zum Ausdruck gebracht hat (Lefebvre 1974d). Die Zeit, die im Alltäglichen mit ihren zyklischen Rhythmen und Bedürfnissen wie Durst, Hunger, Schlaf und Sexualität unaufhörlich wiederkehrt, widerstehe nach Lefebvre, den Wiederholungszwängen kapitalistischer Produktionsprozesse. Eine Aufhebung der Entfremdung sei möglich, doch nicht durch politische Revolution, sondern in Teiletappen von Reformen, zunächst einer sexuellen Reform und dann einer urbanen Reform, die schließlich zur Wiederentdeckung

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des Festes, führen soll – durch den sich in der urbanen Gesellschaft vollziehenden Übergang des Alltäglichen zum Fest. Habermas (1981) hingegen ist in seinen Reflexionen über das System und die Lebenswelt wesentlich weniger optimistisch und weniger utopisch. Die auf dem alltagskommunikativen Handeln beruhende Lebenswelt, die ursprüngliche Kultur, Tradition und Gesellschaft wird durch das Eindringen des auf durchgängiger Rationalität beruhenden »Systems«, verkörpert durch Staat, Bürokratie und Ökonomie, »kolonialisiert«. Hier steht er ganz in der Tradition der Kritischen Theorie der ersten Generation. Auch Axel Honneth als Vertreter der dritten Generation bleibt dieser Setzung letztlich treu. Aus Alltagsmenschen werden Konsumenten, Zielgruppen, Wähler und Patienten. Die Lebenswelt wird fragmentiert, verrechtlicht und marktkonformistisch arrangiert. Am Ende stehen nach Habermas (1981, S. 293) Sinnverlust und Persönlichkeitsstörungen: Er geht sogar so weit, von einer »Pathologie der Lebenswelt« zu sprechen.

D IE H UMANGEOGRAPHIE E INE R ÜCKBESINNUNG ?

UND DAS

A LLTAGSLEBEN –

Es werden einige knappe Überlegungen zu den (kritisch-)theoretischen, angloamerikanischen Anschauungen von Mitchell, Harvey, Thrift und Gregory sowie die von Werlen dargelegt, die den Horizont und Kontext einer (materialistischen) Positionsbestimmung der vorliegenden Studie aufspannen mögen.4 Gregory (2000) schlägt vor, die Alltagspraktiken wieder wesentlich stärker in den Vordergrund zu rücken, als es die Neigung der new cultural geography sei, die gesamte soziale Welt und Wirklichkeit als »Text« zu begreifen und dabei letztlich alles einer semiotischen Analyse zu unterziehen, wie auch Harvey (1996, S. 77f.) ähnlich kritisch formulierte. Lossau (2000, S. 18) wendet in diesem Zusammenhang zu Recht die bisweilen ausgeprägte Beliebigkeit der new cultural geography ein, sich Forschungsfragen, Konzeptionen und Theorien zu bedienen, ohne sich deren epistemologischen Grundlogiken bewusst zu sein. Auch steht die »Textverliebtheit« der neuen Kulturgeographie kritisch und selbstkritisch auf dem Prüfstand (Lossau 2007), da jene insbesondere gesellschaftliche Ungleichheit aufgrund materieller Bedingungen und intransparenter Machtverhältnisse quasi ausblende. Gregory

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Die wegweisenden Ausführungen von Hard, die er zur Alltagsperspektive in der Geographie bereits 1985 formuliert hat, können hier aufgrund ihrer Singularität im damaligen Diskurs nicht näher behandelt, bzw. im heutigen Kontext reflektiert werden.

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(1995, S. 116), bringt gegen die »Textversessenheit« kulturtheoretischer Sozialgeographie eine Perspektive in Stellung, welche die »konkreten Praktiken« mit »materiellen Landschaften« in Beziehung setzt. Obgleich Gregory (1994, S. 217f.) Harveys geographisch-materialistische Kritik der Postmoderne in vielen Punkten beanstandet, sehen beide die Wichtigkeit einer materiellen Dimension sozialer Praxis und stellen heraus, dass die Konstruktion von geographischen Repräsentationen im Alltagsleben stärker zu verankern sei.5 Diese Haltung zeichnet sich auch in Philos (2000) »Mahnung« ab, den »substantiellen Gehalt« der Sozialgeographie im Zuge eines cultural turn nicht gänzlich zu entfernen – respektive in seinem Wunsch, den Bezug zu einer sozialen Welt zu bewahren, in der die materiellen Prozesse, die das Alltagsleben durchdringen, nicht vergessen werden. »Die Rede von Alltag und alltäglichen Praktiken scheint über weite Strecken von der Idee getragen, die (vermeintliche) Beliebigkeit kulturtheoretischer Ansätze mit einer Thematisierung der konkreten und haptischen Fragen und Probleme der Akteure empirisch zu konfrontieren.« (Philo 2003, S. 33 zitiert in Lippuner 2005a, S. 56)

Weiter artikuliert Philo, dass zugunsten immaterieller Betrachtungsweisen der kulturtheoretischen Erneuerung der Sozialgeographie in Form einer Überbetonung von symbolischen und semiotischen Strukturen die materiellen Bedingungen und Zwänge sozialer Praxis zunehmend aus dem Blick geraten sind: »I am concerned that […] we have ended up being less attentive to the more ›thingy‹, bump-into-able, stubbornly there-in-the-world kinds of ›matter‹ [the material] with which earlier geographers tended to be more familiar.« (Ebd.)

Mitchell (1995) argumentiert in vergleichbarem Duktus – vornehmlich in Rekurs auf David Harveys Argumentationslinie – wenn er hervorhebt, dass insbesondere die sozial-ökonomischen Kontextbedingungen bzw. Kontextabhängigkeiten menschlichen Handelns eine bemerkenswerte und bisweilen ungute Vernachlässigung in der new cultural geography erfahren haben. Lippuner (2005a, S. 58) bestätigt diese Kritik von Mitchell am Mainstream der Neuen Kulturgeographie folgendermaßen: »Don Mitchell’s Interventionen gegen das Vergessen der sozialen und ökonomischen Bedingungen alltäglicher Praxis und seine Erinnerung daran, dass Macht durch die Transformation ›materieller Praktiken‹ des alltäglichen Lebens konstituiert wird, laufen auf eine grundsätzliche Absage an die konstruktivistische Grundhaltung kulturtheoretischer Perspektiven hinaus, wenn

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Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Pinhós da Costa (2010).

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er schreibt: ›The problem with this position is that it often ignores the materiality of the physical world‹.« (Mitchell 2000a, S. 15) In eine andere Stoßrichtung, jedoch mit analoger Zielvorstellung, das Alltagsleben als Gegenstand der Humangeographie gegen eine überdimensioniert postmodern-konstruktivistische Kulturgeographie zurückzugewinnen, bringen Thrift (1996) und Nash (2000) die non-representational theory in Stellung. »Non-representational theory is […] ›about practices, mundane everyday practices, that shape the conduct of human beings towards others and themselves in particular sites‹. Developing ›non-representational theory‹ […] is not a project concerned with representation and meaning, but with performative ‹presentations‹, ‹showings‹ and ‹manifestations‹ of everyday life […]« (Nash 2000, S. 655; zitiert in Lippuner 2005a, S. 62).

Die epistemische Grundlage der non-representational theory liegt darin begründet, dass Subjekte ihr Weltverständnis letztlich nur in der konkreten Bewältigung von Handlungsanforderungen und -situationen entwickeln können. Insofern sind sie leiblich In-die-Welt-geworfen, können Welt daher nur körperlich und emotional antizipieren und konzipieren, indem ständig zeitliche und räumliche Bezüge hergestellt werden (vgl. zur Auseinandersetzung mit körperlichen Praktiken insbesondere Thrift 1996). Hier sind implizite Anleihen an die Leibphänomenologie von Merleau-Ponty zu finden, auf die sich auch De Certeau in seinen Reflexionen über das Verhältnis von Raum und Praktiken im Raum bezieht. In differenter Lagerung zu praxistheoretischen Ansätzen im Fokus des Alltagslebens stellt sich die Neue Kulturgeographie dar, die sich im Zuge des cultural turn seit den 2000er Jahren im deutschsprachigen Raum herausgebildet hat (vgl. Gebhardt, Reuber & Wolkersorfer 2003). Diese Perspektive ist deshalb neu, da sie auf die Gemachtheit von Geographien und sozialen Konstruktionen hinweist und sich dabei insbesondere dafür interessiert, welche Rolle die Herstellung bestimmter Räume für die Herstellung bestimmter gesellschaftlicher Wirklichkeiten spielen. In jüngster Zeit zeichnet sich in der deutschen Humangeographie parallel zur Neuen Kulturgeographie aber auch eine (zaghafte) Rückbesinnung auf ›materialistische‹ Geographien ab (vgl. Steiner 2009; Weichhart 2009; Kazig & Weichhart 2009), welche unter dem Label einer »Rematerialisierung« der Neuen Kulturgeographie firmiert. Wichtig erscheint, die gegenständliche und strukturelle Dimension sozialer Praxis und Ungleichheit wieder mehr zu betonen und die Konstruktion von geographischen Repräsentationen im Alltagsleben zu verankern. Dieser Perspektive folgen auch Berndt & Pütz (2007, S. 20f.), die in ihrem Vorwort zu Kulturelle Geographien resümieren, dass

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»eine vom cultural turn inspirierte Humangeographie die Prozesse einen festen Platz haben sollten, die unseren Alltag ausmachen, die Beziehungen und Kämpfe sowie die Exklusions- und Inklusionsprozesse, die soziale Identifikation begleiten und machtungleiche soziale Systeme konstituieren«.

Vom alltäglichen »Geographie-Machen« Werlens Entwurf einer handlungszentrierten Sozialgeographie (1995a/b; 1997) ist mit dem ambitionierten Ziel angetreten, die Fragestellungen der Humangeographie auf eine neuartige Weise zu bearbeiten. Zentrale Metapher dieses Paradigmas ist das »Geographie-Machen«. Im Vordergrund steht also die Rekonstruktion jener »alltäglichen Regionalisierungen«, durch die im Handeln der Subjekte die Welt angeeignet und gestaltet wird. Geographien werden demnach auf vielfältige Weise »gemacht«, als intendierte oder nichtintendierte Folgen des täglichen Handelns (re-)produziert, in und durch Kommunikation erzeugt, aufrechterhalten und verändert. Im Blickpunkt humangeographischer Betrachtung steht also nicht die vermeintlich objektiv gegebene Anordnung der Dinge auf der Erdoberfläche, sondern die Produktion von (kontingenten) Ordnungen und Ordnungsbeschreibungen der Welt (vgl. Weichhart 2009, S. 70ff.). Die handlungszentrierte Sozialgeographie geht davon aus, dass durch die Summe aller Handlungsfolgen materielle und immaterielle Aggregationen des übergeordneten Gesamtsystems beeinflusst, verändert oder gar erst erzeugt werden. Dazu gehören neben rein sozialen Auswirkungen auf Institutionen und Positionen auch räumlich-materielle Aspekte, z.B. räumliche Infrastrukturpotenziale, Landnutzungssysteme oder die räumliche Konfigurationen sozialer Beziehungen. Die räumlichen Anordnungsmuster von Artefakten auf der Erdoberfläche, die kultur-, wirtschafts- und sozialräumlichen Konstellationen, also all jenes, was früher mit dem Begriff Kulturlandschaft umschrieben wurde, sind aus dieser Perspektive das Produkt menschlichen Handelns und können als Integral der Auswirkungen, also der intendierten und nicht intendierten Folgen vergangener und gegenwärtiger Handlungen, angesehen werden. Wenn die Sozialgeographie diese Strukturen erklären möchte, dann müssen die dahinter stehenden Handlungen rekonstruiert werden. Dabei sind die »regionalisierenden Alltagspraktiken« der Subjekte nach Werlen (1997, S. 253) in den Fokus zu nehmen, um deren Bezugnahme auf die Welt begreifbar machen zu können. In dieser sozialgeographischen Perspektive stellt er auch die Bedeutung der physisch-materiellen Bedingungen heraus, die sich im Kontext von Körper, Handlung und Raum konstituieren. Die Alltäglichkeit des »GeographieMachens« ist verankert in der körperbezogenen Erfahrung der Räumlichkeit physisch-materieller Welt (ebd., S. 238). Damit verbleibt die Konstitution der

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materiellen Welt an das erlebende und handelnde Subjekt gebunden. In dieser erfahrungsbasierten Anschauung von Werlen sind Analogien zu einer (leib-)phänomenologischen sowie pragmatistischen Perspektive auf das Räumliche auszumachen, welche für den Alltagskontext der Studie von zentraler Bedeutung sind und im Folgenden einer eingehenden Reflexion unterzogen werden. Kühne (2008, S. 40) wendet hinsichtlich Werlens Entwurf jedoch zu Recht ein, dass seine Geographie alltäglicher Regionalisierungen durch die »Abstinenz« von Machtfragen geprägt sei. Die vorliegende Studie, die die Dimensionen von Macht, Raum und (subversive) Widerständigkeit als zentrale Kategorie alltäglicher Regionalisierungen sieht, bezieht sich daher elementar auf die Entwürfe von De Certeau und Lefebvre, die diese drei Dimensionen in ihren Theorien des Alltagslebens wesentlich berücksichtigt haben.

R ELATIONALER R AUM UND S OZIOLOGIE

IN DER

H UMANGEOGRAPHIE

Ein relationaler Raumbegriff geht davon aus, dass Räume subjektiv sehr unterschiedlich konstituiert sind. An einem Ort überlagern sich folglich vielfältige Räume. Manche Aspekte haben allgemeine oder intersubjektive Gültigkeit, andere rein individuelle. Hervorzuheben ist, dass der persönliche Blickwinkel des Betrachters bzw. der Betrachterin einer jeden Raumkonstruktion immanent ist (vgl. Löw 2001, S. 220; De Certeau 1988, S. 219). In jüngerer Zeit hat die Raum- und Stadtsoziologin Martina Löw einen eigenständigen Entwurf vorgelegt den Raum zu konzipieren.6 Löw (2001, S. 153) versteht Raum als eine »relationale (An)Ordnung von Körpern [...], welche ständig in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert«. Diese Körper versteht Löw (ebd.) in Anlehnung an Kreckel (2004, S. 76f.) als soziale Güter, die jeweils immer sowohl eine symbolische als auch eine materielle Komponente aufweisen, wobei jeweils eine Komponente überwiegen kann. Löw versteht Räume als durch alltägliche Praxis hervorgebrachte soziale Konstruktionen, wenn sie die Syntheseleistung und das Platzieren (spacing) als Prozesse identifiziert, die Räume konstituieren. Dies geschieht über Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse (Löw 2001, S. 158), durch den Habi-

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Martina Löw hat neben der hier knapp vorgestellten Raumkonzeption auch jüngst die Konzeption »Eigenlogik« von urbanen Räumen für eine zeitgenössische Stadtsoziologie entworfen, der für die vorliegende Studie jedoch nicht näher ausgeführt wird (Berking & Löw 2008; Löw 2009).

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tus und aufgrund von individuellen und aktuellen (auch situationsbezogenen) Präferenzen, Bedürfnissen oder Absichten. Die Syntheseleistung, also das Verknüpfen von Körpern zu Räumen, ist dabei nicht eine einseitige Leistung der Interpretation der Lagerung von physisch-materiellen Objekten, sondern eine Wechselwirkung zwischen sozialen Gütern und Menschen, wobei auch die psychisch-soziale Gestimmtheit eines Menschen sowie seine individuellen Erinnerungen, Vorlieben und seine situativen Bedürfnisse maßgeblich sind. Das macht Räume nicht nur zu prozesshaften und wandelbaren, sondern auch zu subjektiv unterschiedlichen, gleichzeitig jedoch auch intersubjektiven gesellschaftlichen Strukturen. Denn in Erweiterung von Giddens' (1992) Theorie der Strukturierung, versteht Löw Räume als eine bestimmte Art sozialer Struktur – ähnlich juristischen, kulturellen, politischen etc. Strukturen. Aber anders als Giddens sind Handlung und Raum in Löws Raumtheorie nicht zwei Dinge, die sich gegenüber stehen, sondern das eine wird durch das andere hervorgebracht. Es stellt aber gleichzeitig dessen Bedingung dar, was sie wiederum in Anlehnung an Giddens die Dualität von Raum nennt. Damit existiert einerseits kein Raum unabhängig vom Tun (im weitesten Sinne, also einschließlich der Wahrnehmung, des Sprechens etc.), andererseits kommt »jede Produktion zu einem – und sei es auch noch so vorläufigen – Abschluss« (Schroer 2008, S. 137). Raum ist damit auch ein (flüchtiges) Produkt. Schroer (ebd.) plädiert ausdrücklich für ein Raumverständnis, welches »dem Raumdeterminismus des Behälterkonzepts ebenso entgeht wie dem Raumvoluntarismus des relationalen Raumkonzepts«, denn Räume seien prozesshaft, aber nicht beliebig veränderbar. Harvey (1996, S. 290) skizziert eine materialistische Version einer relationalen Raumkonzeption. Dieser sozialwissenschaftliche Entwurf stellt seiner Ansicht nach den erprobten konzeptuellen Rahmen für die Bedeutung sozialer Praktiken der Konstruktion von Raum und Zeit dar. Er ziele im Kern auf die komplexe Dialektik von Sprache/Diskurs, Macht, Überzeugungen/Werten, Institutionen, materiellen Praktiken und sozialen Beziehungen, welche bei der Konstruktion von Orten durch »sozial-räumliche Praktiken« im Gange sei: »Places are constructed and experienced as material ecological artefacts and intricate networks of social relations. They are the focus of the imaginary, of beliefs, longings, and desires [...]. They are an intense focus of discursive activity, filled with symbolic and representational meanings, and they are a distinctive product of institutionalized social and political-economic power.« (Harvey 1996, S. 316)

Die materialistische Version lenkt daher die Perspektive auf die Zusammenhänge von symbolisch-signifikativen Zuschreibungen und »materiellen Qualitäten« von Orten (ebd., S. 208). Diese betrachtet insbesondere die Herstellung und Auf-

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rechterhaltung von Machtverhältnissen durch vielfältige Formen territorial fixierter Differenzierungen des Zugangs zu Ressourcen, durch die räumliche Ordnung von Verfügungsrechten im Sinne von privat und öffentlich oder durch die räumlich-territoriale Definition von ethnischen, sozialen oder religiösen Identitäten, sozialen Hierarchien oder ähnlichem (ebd., S. 208f. u. 316ff.). Dabei betont Harvey wiederholt, dass die soziale und physisch-materielle Welt sowie Repräsentationen und materielle Praktiken nicht unabhängig voneinander konzipiert werden können. Soziale Konstrukte sind in der materiellen Welt verankert und deren Repräsentationen haben materielle Konsequenzen. Diese Thematisierung von Alltag, Alltagspraktiken und der Zusammenhänge von sozial-ökonomischen Beziehungen, materiellen Bedingungen und signifikativen Konstruktionen rekurriert innerhalb der angelsächsischen Geographie häufig auf Henri Lefebvres Theorie der »Produktion des Raumes« (1974b). In jüngster Zeit erfährt seine Theorie der Raumproduktion auch in der deutschsprachigen Humangeographie zunehmend Beachtung (vgl. Schmid 2005; Horlitz & Vogelpohl 2009; Dörfler 2010; Deffner 2010a; 2010b u.a.). Soja (1996, 2007b) akkreditiert Lefebvres Konzeption, indem er aufzeigt, dass soziale Beziehungen erst durch ihre »Verräumlichung« wirklich und zu Bestandteilen des konkreten sozialen Lebens werden. So stellt er in Bezug auf Lefebvres Ausführungen über die Produktion des Raumes fest: »The message is clear, but few […] have been willing to accept its powerful connotations: that all social relations become real and concrete, a part of our lived social existence, only when they are spatially ›inscribed‹ – that is, concretely represented – in the social production of social space. Social reality is not just coincidentally spatial. There is no unspatialized social reality. There are no aspatial social processes. Even in the realm of pure abstraction, ideology, and representation, there is a pervasive and pertinent, if often hidden, spatial dimension.« (Soja 1996, S. 46)

Lefebvre hat mit seinem für die Soziologie und als Raumtheoretiker auch für die Geographie bahnbrechenden Werk La production de l’espace (1974a) eine Raumtheorie konzipiert, die einen imaginär-materialistischen Zusammenhang aufweist und dabei eine räumliche Praxis verdeutlichen soll, die sich auf Konzeptionen und Perzeptionen vom Raum als gesellschaftlicher Umgang damit widmete. Erst der Umgang mit Raum ist praktisch und damit wirklich, weshalb es für eine Raumforschung wesentlich ist, diese Praktiken der Herstellung des Raumes in das Zentrum des Interesses zu rücken. Das räumlich produzierte Kräfteverhältnis synthetisiert Lefebvre mittels der dialektischen Triade des espace perçu (wahrgenommener Raum; räumliche Praxis), des espace conçu (konzipierter Raum) und des espace vécu (gelebter Raum) (vgl. Deffner 2010b,

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S. 51ff.). Grundlegend geht es Lefebvre um den Raum der Gesellschaft und demnach um die aus der sozialen Praxis (den Produktions- und Reproduktionsbedingungen) einer Gesellschaft hervorgehenden räumlichen Ableitungen der Vergesellschaftung (vgl. ausführlich Schmid 2005). Raum entsteht durch gesellschaftliche, kollektive Prozesse. Sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Raumforschung ist daher ohne deren Berücksichtigung nicht denkbar. Dem Konzept Lefebvres folgend, ist der Raum – in diesem Fall das Stadtquartier Favela – Produkt und Medium sozialer und nicht-reflexiver alltäglicher Praxis. Die gesellschaftliche Praxis produziert die städtischen Räume, die wiederum das Medium der gesellschaftlichen Praxis bilden. Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und des Raumes bilden einen zirkulären Prozess. Diese gesellschaftliche Produktion des Raumes vollzieht sich damit im Grunde in Form von drei Entwicklungsgängen: (1) Der materiellen Produktion des Raumes, (2) Der Produktion von (Fach-)Wissen und (3) Der Produktion von (Alltags-)Bedeutungen. Diese Perspektive ist von Relevanz, als sie davor bewahrt, die Orte zwar sensibilisierend und phänomenologisch zu untersuchen, jedoch dabei vergisst, dass diese durch Entscheidungen aus Machtdifferentialen von bestimmten Kollektiven entstanden sind und im Alltag der dort Lebenden eine konstitutive Rolle spielen. Ein für die Alltagsforschung erforderliches, mehrdimensionales Raumverständnis, über das rein Physisch-Materielle hinaus, ist Merkmal des »gelebten Raumes«. Die Theorie des »gelebten Raumes« ermöglicht hier eine nicht sektorale und komplexe Raumerfahrung, wobei subjektives (sinnlich-emotionales) und objektives (reflexiv-rationales) Wahrnehmen ineinander greifen.

ZU

EINER T HEORIE DES A LLTAGSLEBENS NACH D E C ERTEAU (1988) Für eine »Geographie des Möglichen« Michel de Certeau gehört neben Michel Foucault und Pierre Bourdieu sicherlich zu den einflussreichsten Denkern des Poststrukturalismus, obgleich De Certeau ganz im Gegensatz zu Foucault und Bourdieu zeitlebens der Durchbruch verwehrt geblieben ist. Ihm, dem »Denker des Anderen« (Füssel 2007, S. 7) wird dennoch nichts weniger zugetraut, als die Kritische Theorie auf anderem Wege neu erfunden zu haben (Winter 2007, S. 219). Insbesondere seine konzeptuellen

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Denkansätze zu einer Theorie des Alltagslebens7 mit der widerspenstige Praktiken, Aneignung und Widerstand in Verbindung stehen sowie der theoretischen Unterscheidung von Strategien und Taktiken, tragen entscheidend dazu bei, die Antinomien und Paradoxien alltäglicher Wahrnehmungen und Praktiken der Subjekte in den brasilianischen Favelas – wie sie im empirischen Teil dargelegt sind, – erst verstehbar zu machen und diese nicht als reine Opfer gesellschaftlicher Ungleichheit zu begreifen, die unfähig sind zur Empörung, Selbstreflexion und zum (kollektiven) Aufbegehren.8 De Certeaus Ausgangs- und Referenzpunkt, kritische Gesellschaftstheorie zu konzeptionalisieren, liegt in der Annäherung an das Alltagsleben, um dabei die Frage der Machtverhältnisse zwischen herrschender Ordnung und den sie protegierenden Strukturen einerseits und der »schweigenden Mehrheit« (De Certeau 1988, S. 20) der Konsumierenden andererseits zu klären. Damit ist De Certeaus »move to the margins«, wie es Poster (1992, S. 101) formuliert hat, eine Verlagerung von den herrschenden Strukturen hin zu den partikularen und kontextgebundenen Praktiken des Alltags. Er thematisiert Formen der Vergemeinschaftung, über die sich die Subjekte in ihrer eigenen Lebenswelt verorten. Der »gemeine Mann« oder der »Held des Alltags« (De Certeau 1988, S. 9) macht seine eigene Geschichte, macht seine eigene und mögliche Geographie unter Konditionen, die er jedoch nicht selber wählen kann. Diese marxsche Maxime drückt De Certeau (1988, S. 60; Herv.i.O.) in der Expression des Mitmachens aus: »Man muss ›mitmachen‹, indem man etwas damit macht.« Seine Analyse ist damit eine »Geographie des Möglichen« (Winter 2007): Es geht ihm um das latente Spannungsverhältnis zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen in den alltäglichen sozialen Praktiken. Er richtet sich daher auf die »abertausend Praktiken« (ebd., S. 16), die den Alltag konstituieren. Analog zu einer »Geographie des Möglichen« bedeutet auch bei Lefebvre das Alltagsleben nicht nur eine kapitalistisch beschädigte Alltagspraxis, welche die gesellschaftlichen

7

In diesem Kontext vgl. Silverstone (2009).

8

In der deutschsprachigen Humangeographie sind die Reflexionen von De Certeau zum Alltagsleben sowie zu seinem Konzept von Ort und Raum bisher fast unberücksichtigt geblieben. Einzige Ausnahme stellt meines Wissens der Beitrag von Lippuner (2007) dar, der die Raumkonzeptionen von Bourdieu und De Certeau einer sozialwissenschaftlichen Topologie unterzogen hat. Im brasilianischen Kontext kann auf Serpa (2011, S. 25ff.) verwiesen werden, der die certeausche Unterscheidung von Taktiken und Strategien für ein Verständnis widerständigen Alltagslebens durch den Gebrauch von Radiomedien in Salvador da Bahia und Berlin nutzbar gemacht hat.

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Verhältnisse als gegeben hinnimmt und damit gesellschaftliche Kontinuität der Herrschenden garantiert, sondern sie ist auch der »Ort des Möglichen«. Dieser Raum, in dem die Spontanität, das Schöpferische und die Kreativität durch ihre Verdinglichung verstummt sind, ist anhand Praktiken der Aneignung und Umwidmung wieder sichtbar zu machen (Lefebvre 1974b, S. 511). Insofern steht bei Lefebvre einer Kritik des Alltagslebens dialektisch auch deren Rehabilitierung des Alltagslebens gegenüber, die auf den Referenzpunkt des »totalen Menschen« abzielt (vgl. Schmid 2005). Da im »abstrakten Raum« von Lefebvre (1974d) grundsätzlich das Paradigma einer marktgerechten Verwendbarkeit von Raum, seiner Quantifizierbarkeit und bürokratischen Verwaltung und Kontrolle vorherrscht, sind Räume des Widerstandes mit schöpferischen Alltagspraktiken seiner Bewohner rar. Im Wirklichen stellt der Raum der Favela das Mögliche dar, worin z.T. wenigstens ein reflexiver Umgang mit den gegebenen Machtverhältnissen die Benutzer aktiv und widerständig werden lässt. Das dialektische Verhältnis von Wirklichem und Möglichem ist auch ein zentraler Gesichtspunkt der Frankfurter Schule um Marcuses kritische Gesellschaftstheorie9 sowie Blochs (1985) Philosophie »konkreter Utopie«. Bloch pointiert in Prinzip Hoffnung (1985, S. 132) vor allem den Möglichkeitscharakter der Welt und der menschlichen Praxis mit dem Begriff des Noch-Nicht bzw. des Noch-Nicht-Bewussten. Das Noch-Nicht-Bewusste erscheint in Gestalt der Hoffnung. Die Hoffnung begründet er mit der Kategorie des ObjektivMöglichen: Die Welt ist ein unabgeschlossener Prozess (ebd., S. 225, 226), dessen objektiv-reale Möglichkeiten zu analysieren sind: Dies meint die »konkrete Utopie«. Analog hierzu schreibt Lefebvre (1974a/Bd. 2, S. 511), dass es besser wäre, das »Mögliche zu erforschen, als das Wirkliche auszuforschen«. In den Zukunfts- und Möglichkeitshorizont der kreativen Praxis muss nun auch die utopische Möglichkeit einer revolutionären Praxis10 eingezeichnet bleiben. De Certeaus (1988, S. 9) Anliegen ist es, das anonyme »Gemurmel der Gesellschaften« aufzubrechen und die Grundlage der gesellschaftlichen Tätigkeit innerhalb der gesellschaftlichen und sozialkulturellen Ordnung neu zu verorten. So geht er, wie auch Lacan (1978; 1991) davon aus, dass es eine fundamentale und

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Hierbei ist insbesondere sein Werk Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaften (1967) von besonderer Relevanz.

10 Lefebvre (1974d, S. 72) kennzeichnet die Funktion dieser Utopie, welche die »Idee der Revolution« ist, im Sinne einer utopisch-praktischen Idee: »Ist die Idee der totalen Revolution nicht ebenso nötig zur Bestimmung des Feldes der Möglichkeiten, wie die Idee der absoluten [vollendeten] Erkenntnis notwendig ist, um den Gang der Wissenschaft und die Richtung des Relativen zu bestimmen?«

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unverfügbare Lagerung unserer Subjektivität jenseits des Diskurses, der Medien und des Symbolisch-Imaginären gibt. Es ist das Reale unserer Subjektivität: Die notwendige Stützung unseres Weltzugangs durch etwas Unverfügbares und Unvereinnehmbares von einem Außen. »Dies ist die fundamentale Lagerung von Subjektivität, sie muss alle unsere (insbesondere unbewussten) Vorstellungen begleiten können, sonst werden wir psychotisch in dem Sinne, dass die Vorstellung einer reinen Fremdbestimmung durch Diskurse, Medien, Geld, das Patricharchat oder sonstigen Mächte zum Zusammenbruch führen würde.« (Dörfler 2011, S. 97) 11

Das Subjekt wird Widerstand leisten, um »zu überleben«, denn im SymbolischImaginären wäre dieses »tot« (Lacan 1978, S. 280; Lacan 1991, S. 171). Das Alltagsleben wird in dieser Anschauung zu einer Struktur von Bedeutungen, die nicht bewusst gemacht werden kann (vgl. Winter 2007, S. 215f.). Widerständigkeit und Aneignung entfalten sich nicht vornehmlich auf der Bewusstseinsebene, sie opponieren nicht gegen ideologische Strukturen, wie es (post-)marxistische Protagonisten sich wünschen würden, sondern folgt oft vorreflexiver Artikulation.12 Die gesellschaftliche Ungerechtigkeit in Brasilien als unveränderliche Realität anzuerkennen, erfährt bei den Betroffenen eine pragmatische Wendung des »mitmachen[s], indem man etwas damit macht« (ebd., S.60). »Wenn man nicht das hat, was man liebt, muss man lieben was man hat« (De Certeau 1988, S. 31). Analog hierzu hat auch Maffesoli (1986) eindringlich darauf hingewiesen, dass Erscheinungsformen widerspenstiger und widerständiger Sozialität die herrschende Ordnung nicht überwinden, sondern viel eher dazu dienen, mit ihr zu verfahren und sie zu ertragen. Diese Argumentation erscheint dienlich, die Handlungsrationalitäten unter sehr ungleichen und ungerechten Existenzbedingungen zu verstehen sowie die Persistenz und Reproduktionskraft der gesellschaftlichen Verhältnisse erst begreifen zu können. Diese Begründungslogik ist z.T. gegenläufig zu den empirischen Erkenntnissen von Deffner (2010b), die na-

11 Für Lacan (1978) verweist das Subjekt, ebenso die symbolische Ordnung, »der große Andere«, in seiner Struktur auf ein Negatives. Dieses Negative ist die Unmöglichkeit, einer vollständigen Verobjektivierung. Selbstidentität zu erlangen führt nach Lacan zu einer Traumatisierung des Subjekts. Der Wunsch des Subjekts ist es einen Zustand der Versöhnung des Subjekts mit der Substanz zu erreichen: Ein niemals zu erreichender Zustand. 12 Diese These steht damit auch in gewisser Weise im Dissens mit Honneths (1994) Annahme eines kollektiv artikulationsfähigen »Unrechtsempfindens der Unterklasse«.

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hezu exklusiv die Macht der Beschämung und Scham als zentrale Kategorie der Aufrechterhaltung ungleicher Klassenverhältnisse in Brasilien ausweist. Maffesoli und De Certeau bereichern das poststrukturalistische Projekt insofern, als sie die Widerspenstigkeit der Praktiken der Mehrheit herausheben, die elementar wichtig sind für ein Überleben in der Kontroll- und Überwachungsgesellschaft der Postmoderne. Das Alltägliche wird durch die hegemonialen symbolischen Formen und Strukturen bestimmt, ist aber nicht deckungsgleich mit ihnen. De Certeau (1988, S. 16) verdichtet seine Kritik an Foucault sowie Horkheimer & Adorno bzw. deren zu einseitige Perspektive und bestimmt damit seinen eigenen Referenzpunkt folgendermaßen: »Wenn es richtig ist, dass das Raster der ›Überwachung‹ sich überall ausweitet und verschärft, dann ist es umso notwendiger, zu untersuchen, wie es einer ganzen Gesellschaft gelingt, sich nicht darauf reduzieren zu lassen: Welche populären [und auch ›verschwindend kleinen‹, alltäglichen] Praktiken spielen mit den Mechanismen der Disziplinierung und passen sich ihnen nur an, um sich gegen sie selber zu wenden; und welche ›Handlungsweisen‹ bilden schließlich auf Seiten der Konsumenten und ›Beherrschten‹ ein Gegengewicht zu den stummen Prozeduren, die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren?«

Eine »kriegswissenschaftliche Analyse« (De Certeau 1988, S. 20) der Gesellschaft und Kultur darf weder die Praktiken der »Starken« noch die der »Schwachen« isoliert untersuchen. Erst die Analyse kontextgebundener dialektischer Kräfteverhältnisse kann aufzeigen, welche Effekte und intendierten wie nichtintendierten Konsequenzen Strategien und Taktiken aufweisen. Die Taktiken, die Findigkeiten der »Schwachen«, Nutzen aus den »Starken« zu generieren, führen nach De Certeau (1988, S. 21) zu einer »Politisierung der Alltagspraktiken«. Strategien und Taktiken – Taktiken als Praktiken der ›Schwachen‹ De Certeau möchte der Widerständigkeit populärer Praktiken Rechnung tragen, ohne den kritischen Blick auf die disziplinierende und gouvernementale Macht der herrschenden Verhältnisse auszublenden. Um dieses Spannungsfeld konzeptionell austarieren zu können, liefert er ein entsprechendes analytisches Modell, das eine Unterscheidung von Strategien und Taktiken vornimmt.13 Hierzu formuliert De Certeau (1988, S. 87; Herv.i.O.):

13 De Certeau (1988) vergleicht die Arbeiten von Foucault und Bourdieu in einem bestimmten Punkt direkt miteinander. Er ist daran interessiert, zu zeigen, wie beide den

70 | E XKLUSION IM ZENTRUM »Eine Unterscheidung von Strategien und Taktiken scheint ein adäquateres Grundschema zu liefern. Als Strategie bezeichne ich die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann und somit als Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann, seien dies Stoßrichtungen oder Bedrohungen […]«. »Das ›Eigene‹ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit.« (Ebd., S. 88; Herv.i.O.)

Im Gegensatz zu den Strategien bezeichnet De Certeau (1988, S. 89; Herv.i.O.) »als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität liefert ihr also die Bedingungen einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muss mit dem Terrain fertig werden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert […]: sie ist eine Bewegung ›innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‹ […] die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt. […] sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von ›Gelegenheiten‹ und ist von ihnen abhängig.«

Die Schwachen oder die Subalternen14 sind damit die Taktierer. Sie haben nur den Ort des Anderen. Diese These De Certeaus wird im empirischen Kontext zu

Begriff der »Taktiken« missverstehen. Taktiken bezeichnen die Art, wie Menschen die Praktiken des Alltagslebens individualisieren, um jene Hegemonie zu unterlaufen, die bei Foucault »Technologie« bzw. »Dispositiv« genannt wird und die Bourdieus Begriff der »objektiven Struktur« entspricht. De Certeaus Ansatz ist letztlich eine – subalterne – Positionierung mit Blick auf die damals führenden akademischen Stimmen. Es scheint nicht verwunderlich, dass De Certeau in dieser Zeit ein weitgehend unsichtbares akademisches Dasein geführt hat. 14 Der Terminus Subalterne geht auf Antonio Gramsci zurück und erlangte durch die Reihe Subaltern Studies indischer Historiker der 1980er Jahre sowie der rezenten Studien zum Postkolonialismus (vgl. Spivak 2008; Rodriguez 2001 u.a.) neue Bedeutung. Gramsci (1986), der in seinen »Gefängnisheften« erstmals von Subalternen sprach, gebrauchte diesen Begriff um die soziale Klasse, die in präkapitalistischen sozialen Verhältnissen lebt, zu beschreiben. Hierbei bezog er sich auf die machtstrukturellen Beziehungen von Herrschaft und Unterwerfung in Klassengesellschaften. Seine Studie zur süditalienischen Bauernschaft thematisierte insbesondere die Bewusstseinsgrenzen der Subalternen bzw. ihre fragmentierte, passive und abhängige Haltung aufgrund ih-

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überprüfen sein. Der Ort Favela als widerständiger Innenstadtraum stellt einen ›Eigenen Ort‹ der Schwachen dar, wird aber diskursiv als Un-Ort oder Ort der Abnorm beständig hergestellt und reaktualisiert. Es ist aber ein cartesianisch ›eigener Raum‹, der den Favelabewohnern – zwar hart erkämpft – aber exklusiv zur Verfügung steht und von wo aus die Bewohner ihre Taktiken in das urbane Leben einbringen. Ihre Taktiken oder »Coups« (De Certeau 1988, S. 31) gegenüber den Starken sind dabei aber immer ephemer, flüchtig und auch unsichtbar (ebd., S. 13). Es sind »gelungene Streiche, schöne Kunstgriffe, Jagdlisten, vielfältige Simulationen, Funde, glückliche Einfälle« (ebd., S. 24). Denn im Gegensatz zum Beherrschenden, der von einem eigenen Ort aus Definitions- und Diskursmacht ausübt und somit (materialistische) Realitäten erzeugen kann, bleibt dem Beherrschten nur zu »produzieren, ohne anzuhäufen, das heißt ohne die Zeit zu beherrschen« (ebd., S. 26). Die Taktik entbehrt der Möglichkeit Gewinne zu akkumulieren, zu lagern und etwas Eigenes herzustellen. Subalterne Subjekte bleiben folglich auf fremde andere Ressourcen angewiesen und agieren situativ, spontan. Was die Taktik »gewinnt, kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert15 darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.« (De Certeau 1988, S. 89)

Fiske (1989, S. 19) interpretiert De Certeaus Konzeption der taktierenden Schwachen in emanzipatorischer und ›widerstandskämpferischer‹ Art und Weise, in der populärkulturelle Machtspiele gegenüber der dominanten Ideologie aufscheinen: »Guerrilla tactics are the art of the weak: they never challenge the powerful in open warfare, for that would be to invite defeat, but maintain their own opposition within and against the social order dominated by the powerful.«

rer Verhaftung in den dominanten Ideologien und Denkkategorien, selbst im partikularen Widerstand gegen die dominanten Klassen (vgl. Chatterjee 2006, S. 94). 15 Der Begriff des Wilderns ist zentral in De Certeaus Verständnis von Erkenntnis und der Überschreitung von Disziplingrenzen innerhalb der Wissenschaft.

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Eine hier durchaus angelegte Romantisierung des Alltagslebens durch eine Überbetonung des Subversivcharakters der Praktiken der Schwachen als ›Partisanen‹ steht jedoch nicht unberechtigt in der Kritik (vgl. Winter 2005, S. 51f.). Die analytische Dichotomisierung von Strategie versus Taktik erscheint im ersten Moment statisch. Massey hat in For Space (2005) hervorgebracht, dass in einer undifferenzierten Umsetzung dieser Konzeption die Gefahr einer Reifikation des Alltagslebens sowie einer Essentialisierung der empirischen Daten besteht. De Certeau verwehrte sich selbst aber gegen eine zu monolithische Gegenüberstellung von herrschender Ordnung auf der Seite der Strategie einerseits und der »massenhaften Marginalität« (ebd., S. 20) der Verbraucher und Gebraucher mittels Taktiken andererseits. Seinem analytischen Verständnis folgend geht es ihm um eine theoretische Beschreibung der ›ameisenhaften‹ und verborgenen alltäglichen Vorgehensweisen und Handlungsmuster, welche die Basis des Alltagslebens konstituieren und sich im Spannungsfeld zwischen diskursiv vermittelter Ordnung und den Handlungsweisen der schweigenden Mehrheit entfaltet. Mit dieser dezidierten Fokussierung auf die Machtspiele, in denen sich – entlang der Parameter Raum und Zeit – Gesellschaft und Kultur konstituieren, geht De Certeau (1988, S. 19f.) einerseits über die abstrakte und formalistische Lebensweltanalyse nach Schütz (1979), in Husserls phänomenologischer Fundierung, hinaus; andererseits erteilt er auch der foucaultschen Überbetonung der Herrschaftsverhältnisse auf Kosten der Reflexion der opaken Praktiken, mittels derer sich die Subjekte den Raum wieder aneignen, erneuern, umwidmen und sich damit (implizit) politisieren, eine notwendige Absage.16 Gardiner (2000, S. 168) verdichtet diese Kritik in eindeutiger Weise: »Foucault, or for that matter Adorno and Horkheimer, can tell us little or nothing about such unofficial practices, which also have an intrinsic structure and logic. These minor practices, suggests Certeau, have remained ›unprivileged by history‹, yet they ›continue to flourish in the interstices of the institutional technologies‹.«

16 Diese Abgrenzung verdichtet De Certeau (1988, S. 186f.) in der Aussage: »Dieser Weg könnte als eine Fortsetzung oder auch als ein Gegenstück zu Foucaults Analyse der Machtstrukturen verstanden werden. Er verlegt den Schwerpunkt der Analyse auf die Dispositive und technischen Prozeduren, die ›kleineren Instrumentalitäten‹, die ausschließlich durch die Organisation von ›Details‹ dazu in der Lage sind, die menschliche Vielfältigkeit in eine ›Disziplinar‹-Gesellschaft zu verwandeln […]. ›Diese oft winzigen Listen der Disziplin‹, ›kleine aber unfehlbare‹ Maschinerien, beziehen ihre Wirksamkeit aus dem Verhältnis zwischen den Prozeduren und dem Raum, den sie neu aufteilen, um ihn zu einem ›Operator‹ zu machen.«

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Dennoch würdigt er Foucaults »Mikrophysik der Macht« im Werk Überwachen und Strafen (1976), die diskurslosen Machtmechanismen der sozialpolitischen Ordnung aufgedeckt zu haben. Hingegen würde De Certeau im Gegensatz zu Adornos Konzept der Massenkultur attestieren, dass die populären Massen nicht die Opfer eines »falschen Bewusstseins« sind. Sie internalisieren nicht willenlos die Werte und Normen, die ihnen von den Eliten vorgegeben werden. Ganz im Gegenteil handeln die Massen, obgleich sie ihren Dissens und ihre Abneigung nicht artikulieren können oder wollen, indem sie die Machtstrukturen in den weniger sichtbaren und nichtkonfrontativen Möglichkeiten, Wegen und Räumen, die ihnen zur Verfügung stehen, unterwandern. Das isolierte, für die Mittel- und Oberschichten völlig irrelevante Alltagsleben in den unentwirrbaren und verschlungenen Gassen der brasilianischen Favelas scheint hier dennoch eine provokative urbane Strukturmetapher darzustellen, die den Diskurs um Angst und Unsicherheit stetig anheizt. Nach Krönert (2009, S. 52), die sich auf Ahearne (2007) bezieht, ist die spezifische Sichtweise von De Certeau auf das Alltagsleben deshalb politisch, da seine kritische Kulturanalyse die populären Praktiken als diejenigen Prozeduren begreift, die Differenz, Diskontinuität, Paradoxie und Bruchlinien in die gegebene, herrschende Ordnung einbringen und in dieser Perspektive ins politische und öffentliche Bewusstsein rückt. Sie wird damit erst sichtbar und überhaupt relevant. In prägnanter Weise formuliert Krönert (2009, S. 52; Herv.i.O.) hinsichtlich De Certeaus Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftstheorie: »Durch die Anerkennung des Alltagslebens als eigenständigen Wirklichkeitsbereich, der nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten organisiert ist, sondern einer eigenen ästhetisch-emotionalen Logik folgt, stellt er zugleich auch das für die westliche Moderne prägende Paradigma der Rationalität des Subjekts und der Geschlossenheit von Wissen infrage, zugunsten eines offeneren, dynamischeren Verständnisses von gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit. Diese berücksichtigt das Andere der Gesellschaft, das Unsichtbare, Emotionale und Körperliche ebenso wie die Flüchtigkeit und Kontextualität von Wissen.«

In dieser Artikulation affektiver Vergesellschaftungsformen zeigt sich eine Anknüpfungsmöglichkeit an eine Soziologie des Orgiasmus nach Maffesoli (1986) sowie an die konzeptionellen Ausführungen der »Emotionalen Handlungstheorie« des brasilianischen Soziologen Souza (2007a/b, 2008). Wäre dieses Andere der brasilianischen Gesellschaft etwa mit dem malandro, dem heimlichen und poetischen Volkshelden sowie nationalem Mythos zu vergleichen? Der Malandro hat sich ganz dem Müßiggang verschrieben, den Frauen, den Scherzen, der Leichtigkeit des Seins. Die Arbeit meidet er, das Gesetz belächelt er, er ist ein Schnorrer, nie aber wird es ihm an Eleganz und Geist mangeln (siehe Da Matta 1979).

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De Certeaus Verdienst der theoretischen Konzeption offenbart sich auch hier: Eine Sensibilisierung für die Deutungskämpfe und die damit einhergehenden Ambivalenzen und Widersprüche, in denen sich Gesellschaft und Kultur im Alltagsleben konstituieren,17 insofern dient De Certeaus alternative Konzeption von agency und Widerständigkeit als Rüstzeug, um aus einer postmodernen Aporie herauszuführen. Er warnt jedoch vor einer expliziten Vereinheitlichung jener Mikronarrative und -praktiken, welchen er kein »Klassenbewusstsein« im marxschen Sinne attestiert (vgl. Maffesoli 1986, S. 23). Die Stimmen der Schwachen sind immer heterodox und idiosynkratisch: »We must give up the fiction that collects all these sounds under the sign of a ›Voice‹, of a ›Culture‹ of its own – or of the great Other’s.« (De Certeau 1984, S. 136, zitiert in Gardiner 2000, S. 178) Und dennoch insistiert er darauf, dass die populäre Imagination durchaus die Fähigkeit besitzt, einen utopischen Raum zu schaffen und aufrecht zu erhalten, der einer totalen Assimilierung oder Vereinnahmung durch die Beherrschenden widersteht und worin sich Gerechtigkeit vollzieht. Letztlich können damit die Starken enttrohnt werden, zumindest symbolisch: »The formality of everyday practices […], which frequently reverse the relationships of power and, like the stories of miracles, ensure the victory of the unfortunate in a fabulous utopian space. This space protects the weapons of the weak against the reality of the established order.« (De Certeau 1984, S. 23)

Die certeausche Konzeption einer Theorie des Alltagslebens bietet im Spannungsfeld von Strategien (der Starken) und Taktiken (der Schwachen) mit Berücksichtigung des kritischen Einwandes von Massey (2005) sicherlich eine erkenntnisreiche Möglichkeit, den Graben zu überwinden, der mit einer allzu einseitigen Betonung der Makrostrukturen in der Denktradition und Erklärungsreichweite der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule für den periphermodernen Kontext Brasiliens entsteht18. Gemeint ist damit, dass der normative,

17 Gardiner (2000, S. 168) umreißt mit folgender Aussage De Certeaus Grundposition als »Denker des Anderen«: »Certeau is virtually unique amongst postmodern and poststructuralist theorists in that he concentrates mainly on issues of resistance and agency, rather than upon extant systems of power and dissimulation. This orientation makes him one of the least pessimistic and most politically astute of contemporary French thinkers.« 18 Indem De Certeau (1988, S. 112) das Widerspenstige und taktisch Unsichtbare überall vermutet und findet, erteilt er der Trennung von Zentraler und Peripherer Moderne wie sie Souza (2006) vorgenommen hat eine Absage. »Unsere ›Taktiken‹ scheinen nur auf dem Umweg über eine andere Gesellschaft analysierbar zu sein […]. Andere Regio-

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am ›elitären‹ Idealismus und der Aufklärung fundierte moraltheoretische Anerkennungsmodus von Honneth als zentraleuropäisches ›bürgerliches Projekt‹ den Wirklichkeitsweisen und gesellschaftlichen Realitäten des brasilianischen Kontextes insofern gerecht werden kann, als diese Konzeption die juristische und die solidarische Ebene einer Anerkennungsverweigerung im Gefühlshaushalt der dominierenden Klasse und der strukturellen Setzungen in deskriptiver und normativer Weise sichtbar zu machen vermag. Das implizite und historische Konzept der Frankfurter Schule hat sich letztlich in ein theoretisches Dilemma manövriert: Das Bild, das die radikal negative Gesellschaftsanalyse entwarf und mit Honneth nach wie vor entwirft, war und ist so hermetisch abgeriegelt, dass im Grunde jeder emanzipatorische Ausweg illusionär erscheint. Um jenseits der Makronarration eine lebendige und antagonistische Sphäre des Alltäglichen zu erkennen und dieser Aporie zu entrinnen, stellten sich Lefebvre, Certeau und Maffesoli zur Disposition. Der Raum, der Ort und die Praktiken im Raum In Ergänzung des konzeptionellen Zugangs zum relationalen Raumverständnis der vorliegenden Studie, eignet sich die Anschauung von De Certeau, dessen Raumverständnis wesentlich durch die Phänomenologie der Wahrnehmung (1966 [1945]) von Merleau-Ponty geprägt worden ist, für eine reflektierte und phänomenologische Raumperspektive. Merleau-Ponty (1966 [1945]) unterscheidet den geometrischen vom anthropologischen Raum und versteht die Biosphäre als ausgeprägten Zeichenraum, in dem sich die Lebewesen interpretierend einfügen und bewegen: »Mein Leib ist ein Ding-Ursprung, ein Nullpunkt der Orientierung. Er gewährt mir stets eine Art von Bezugspunkt. […] Er ist das Maß aller räumlichen Bedingtheiten.« (1973, S. 245; zitiert in Günzel & Windgätter 2005, S. 585) In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung argumentiert Merleau-Ponty (1966 [1945], S. 127)19 existentialistisch: »Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, dass überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.«

nen liefern uns das, was unsere Kultur aus ihrem Diskurs ausgeschlossen hat. Aber sind diese Taktiken nicht gerade durch das definiert worden, was wir eliminiert oder verloren haben?« Er nennt beispielsweise Bourdieu, der seine empirischen Forschungen in der algerischen Kabylei durchgeführt hat, Levi-Strauss’ Traurige Tropen in Brasilien und Foucaults historische Analysen des Ancien Régime im 19. Jahrhundert. 19 Vgl. hierzu auch die Publikation von Günzel (2007) über Werk und Wirkung von Maurice Merleau-Ponty.

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Der anthropologische Raum kann als ein »gelebter Raum« (espace vécu) im Sinne Lefebvres (1974b)20 begriffen werden, der sich erst durch Akte, Handlungen, Bewegungen und die Wahrnehmung dieser Akte konstituiert. Es wird hier untersucht inwiefern das Konzept des »gelebten Raumes« eine Möglichkeit bietet, sich dem Raumwesen des Untersuchungsgegenstandes Favela erkenntnistheoretisch anzunähern.21 Betrachten wir zunächst die Konzeptionalisierung des Raumes von De Certeau, der die vielleicht eingängigste begriffliche Differenzierung einer leibphänomenologischen Perspektive entwickelt hat. Er unterscheidet zwei Termini voneinander, zum einen den Ort (lieu) und zum anderen den Raum (espace): »Ein Ort ist […] eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […]« (De Certeau 1988, S. 218).

Die Differenzierung, die er zwischen Ort und Raum vornimmt, setzt unter handlungstheoretischer Perspektive dort ein, wo Foucaults Ausführungen aufhören. Während sich für De Certeau der Ort aus momentanen Konstellationen von festen Punkten zusammensetzt, die den Platzierungen Foucaults gleichkommen, ist sein Raum »ein Ort, mit dem man etwas macht« (ebd., S. 220). Er entsteht durch Praktiken und in der Behandlung, z.B. durch die Tätigkeit des Gehens und Begehens, erhält dieser Prozess der Alltagspraxis gestalterisches und kreatives Potenzial. Aufschlussreich ist im Zusammenhang der Konzeptionalisierung des Raumes auch seine Bezugnahme auf die Sprechakttheorie. Für ihn ist das Gehen dem Sprechen bzw. dem Sprechakt (acte de parler) vergleichbar, insofern entspricht der Akt des Gehens einer Äußerung, durch die der Raum konstituiert wird, überhaupt erst entsteht. Nach Auffassung von De Certeau ist die Existenz von Raum gebunden an das Sich-Bewegen als Handlungsvollzug. Unter dieser Perspektive gewinnt der

20 Der »gelebte Raum« bei Lefebvre (1974) geht auch auf Merleau-Ponty (1966) zurück und steht in einer dreifachen, dialektischen Beziehung mit dem »wahrgenommenen Raum« (»l’espace perçu«) des Alltags der Menschen in der nachindustriellen Zeit und dem »konzipierten Raum« (»l’espace conçu«) der Planung und Ökonomie (vgl. Schmid 2005, S. 210 f., 216 f., 222 f.; Dörfler 2010). 21 Lefebvre ist neben Merleau-Ponty der Vertreter der zwei wesentlichen Hauptstränge der Theorie des »gelebten Raumes«, der aus seinem Ansatz heraus erweiterte Raumvorstellung erarbeitet hat. Lefebvre hat seine Gedanken aus der Perspektive einer kritisch theoretischen und materialistischen motivierten Sozialforschung entfaltet.

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Unterschied von Ort und Raum noch einmal eine besondere Bedeutung. Der Ort (lieu) ist wie die Sprache als System von Elementen (hier geographischer Elemente, dort sprachlicher Elemente) virtuell immer als Ganzes vorhanden, im Falle des lieus, vielleicht genauer als Orteraum zu bezeichnen, darstellbar etwa in der symbolischen Gestalt der Karte. Die Akte des Gehens wie des Sprechens sind nach dieser Auffassung als Vollzüge zu denken, die das entsprechende System der geographischen bzw. sprachlichen Elemente aktualisieren. Das Gehen trifft eine eigene Auswahl, die der Ordnung und Logik des Orteraums durchaus zuwiderlaufen kann. Dieser Eigensinn des Gehens, den auch das Sprechen besitzt, lässt das Gehen – also die Ordnung des Orteraums – nicht nur aktualisieren, sondern immer zugleich auch subvertieren und überschreiten. Der leibliche Handlungsvollzug des Gehens – begriffen als Aktualisierung und Subversion des Systems Orteraum – bringt schließlich den Raum (espace) hervor. Ebenso wie sich Sprache erst durch das Sprechen realisiert, wird auch erst durch den Akt des Gehens aus dem Ort ein Raum. Raum entsteht allerdings nicht nur durch das eigene Gehen, sondern auch durch das Wahrnehmen der eigenen Bewegungen und der Bewegungen anderer, als Subjektrelationalität. Denn die Wahrnehmung besitzt selbst die Eigenschaft, Wirklichkeit und damit auch Raum zu konstituieren. Hier geht De Certeau dezidiert konform mit dem ansonsten nur vage angedeuteten »anthropologischen Raum« als »gelebter Raum« von Merleau-Ponty. Hinter dieser Auffassung steht die Einsicht in den fundamentalen kinästhetischen Zusammenhang von Bewegung, Bewegungsempfindung und sinnlicher Wahrnehmung. Die menschliche Fähigkeit des räumlichen Sehens gründet auf den frühen Erfahrungen des Ertastens von Körpern und Objekten, ihren Formen, Ausdehnungen und Lagerungen. Dieses sinnliche Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung ist grundlegend für die leibphänomenologische Theorie von Merleau-Ponty und insofern auch von De Certeau. Wenngleich er zunehmend eine (psychoanalytische) Hinwendung zu Lacans Denklogik des Räumlichen vollzogen hat, gilt Merleau-Ponty als Basis seiner Raumkonzeption. Die Erinnerung an das Erlebte, wer man ist und wo man gewesen ist, ermöglicht letztlich eine Zusammenführung von Sichtweisen auf einen Gegenstand. In dieser Begründungslogik kann es ein wahrhaftiges wissenschaftliches Reflektieren über die Lebenswelt Favela ohne haptisches, perziptives und leibliches Dortsein des Forschenden nicht geben. Der Prozess der Wahrnehmung und Erfahrung selbst ist es also, der es uns erlaubt, die Instanzen wahrnehmendes Subjekt und wahrgenommenes Objekt überhaupt voneinander zu unterscheiden. Diese Denkfigur von Merleau-Ponty wurde zum Gewährsmann der Raumkonzeption von De Certeau, die den Körper als Träger der Erinnerung zur conditio jeder Perzeption macht. Dabei gibt er aber zu bedenken, dass es ebenso viele Räume

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wie unterschiedliche Raumerfahrungen gibt. Diese Sichtweise erfährt ihre Bestimmung durch eine Phänomenologie des »In-der-Welt-Seins« in Rekurs auf Heidegger (De Certeau 1988, S. 219). Die Lösung dieser impliziten Beliebigkeit besteht für De Certeau darin, dass er vielmehr auf »Formen des Seins« – im Sinne von Narrationen – und nicht auf »Seins-Zustände« rekurriert, um damit Räumlichkeit auf diese Weise als eine Frage der Perspektive neu zu schreiben und ihr so eine aktivere und v.a. sichtbarere Stimme zu geben (vgl. Buchanan 2007). Abschließend bleibt zu erwähnen, dass De Certeau im Anschluss an Jacques Lacan, einer rein auf (bewusster) Wahrnehmung basierten phänomenologischen Raumbezüglichkeit eine Absage erteilt bzw. als nicht ausreichend betrachtet.22 Dies formuliert Buchanan (2007, S. 181) in der Aussage: »Was sowohl Lacan als auch Certeau wollen, ist zusätzlich zu der streng rationalistischen Darstellung der kognitiven Auffassung des Raumes eine irrationale – paranoide oder schizoide – Dimension, die auch solche Aneignungen des Raumes erklären kann, die (wie beispielsweise seine Sakralisierung) außerhalb der Grenzen der Vernunft liegt.«

Es geht damit um nichts weniger als ein Eindämmen des Rationalen und damit einem Zurückrufen der Verzauberung, die auf Offenbarung und Intuition beruht (vgl. hier auch Illouz 2011, S. 292). Die Erfahrung des Urbanen und der panoptische Blick In Kunst des Handelns (1988, S. 179f.) berichtet nun de Certeau von einer Erfahrung, die seit dem 11. September 2001 nicht mehr zu machen ist (vgl. Eickhoff 2002). Er beschreibt metaphorisch, wie er vom 110. Stock des World Trade Center die Metropole New York betrachtet und dort »eine Dünung aus Vertikalen« ausmacht, die sich für ihn als »Textgewebe«, als »die größten Schriftzeichen der Welt« darstellen (Frahm & Tietjen o.J.). Das World Trade Center verwandelt die unüberschaubare Stadt unter dem Auge des Beobachters in einen lesbaren Text. Die Welt als Text – jedoch nicht in einem semiotischen Sinne – ist eine der zentralen Metaphern für die Undurchdringlichkeit und Unsichtbarkeit des urbanen Lebens. In einer längeren Textpassage reflektiert er seine ureigene Wahrnehmung diesbezüglich und kommt zu dem folgenden Schluss:

22 Es sei aber darauf hingewiesen, dass auch Merleau-Ponty in seinem Spätwerk auf Jacques Lacans Interpretationen zum Spiegelstadium rekurriert und diese in seine Leibphänomenologie im Kontext des Körperschemas aufnimmt (vgl. Joas 1992, S. 265).

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»Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadt-Insel. Dieses Meer inmitten des Meeres erhebt sich in der Wall Street zu Wolkenkratzern und vertieft sich dann bei Greenwich; bei Midtown ragen die Wellenkämme wieder empor, am Central Park glätten sie sich und jenseits von Harlem wogen sie leicht dahin. Eine Dünung aus Vertikalen. Für einen Moment ist die Bewegung durch den Anblick erstarrt. Die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich. Sie verwandelt sich in ein Textgewebe, in dem die Extreme des Aufwärtsstrebens und des Verfalls zusammenfallen, die brutalen Gegensätze von Gebäudegenerationen und Stilen, die Kontraste zwischen gestern geschaffenen Buildings, die bereits zu Mülleimern geworden sind, und den heutigen urbanen Irruptionen, die den Raum versperren. [...] Der Betrachter kann hier in einem Universum lesen, das höchste Lust hervorruft. Dort stehen die architektonischen Figuren der coincidentia oppositorum geschrieben, die früher in mystischen Miniaturen und Textgeweben entworfen worden sind. Auf dieser Bühne aus Beton, Stahl und Glas, die von einem eisigen Gewässer zwischen zwei Ozeanen (dem atlantischen und dem amerikanischen) herausgeschnitten wird, bilden die größten Schriftzeichen der Welt eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion. Mit welcher Erotik des Wissens kann die Ekstase, einen solchen Kosmos zu entziffern, verglichen werden?« (De Certeau 1988, S. 179f.; Herv.i.O.)

In der räumlichen Distanz erscheint die Stadt als eine auch der Zeitlichkeit entzogene Einheit: Was sich dort bewegt, bewegt sich an der Grenze des Sichtbaren. Im Tiefenraum lassen sich Distanzen nur noch schwer abschätzen; die Ferne wird zur Fläche, auf der sich die Stadt buchstäblich kartographiert. Von allen »physischen, geistigen oder politischen Verunreinigungen« (ebd., S. 183) befreit erscheint sie sauber, generalisiert und damit durchschaubar. Sie wird darüber überhaupt erst eine Stadt und damit zum Subjekt, universell und anonym (ebd., S. 184). »Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ›besessen‹ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen und gnostischen Triebes. Ausschließlich dieser Blickpunkt zu

80 | E XKLUSION IM ZENTRUM sein, das ist die Fiktion des Wissens. […]. It’s hard to be down when you’re up.« (De Certeau 1988, S. 180; Herv.i.O.)

De Certeau (1988, S. 180; Herv.i.O.) fragt sich bezüglich dieses persönlichen Erlebens »woher die Lust kommt, diesen maßlosesten aller menschlichen Texte zu ›überschauen‹, zu überragen und in Gänze aufzufassen«. Der quasi göttliche Blick auf das gesamte Panorama der Stadt ist zugleich eine panoptische Projektion, die sich »schon seit langem darum [bemüht], die Widersprüche, die sich aus der städtischen Zusammenballung ergeben, zu überwinden« (ebd., S. 183). In der Distanz zum urbanen Leben, »dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen« zu sein, sich dabei aber zugleich auch in dessen Nähe oder gar Mitte zu befinden, verspricht der Blick und der hergestellte Diskurs auf das Stadtpanorama als panoptische und bürgerliche Fiktion Kontrolle und Macht über die Stadt und das, was in ihr geschieht (z.B. die abertausenden Mikrotechniken des verborgenen Alltagslebens) zu erlangen. Diese Kontrolle aber, so argumentiert De Certeau (1988, S. 180f.), ist limitiert, sie kann nicht alles erfassen: Dem »Wille, die Stadt zu sehen« entgeht die »Fremdheit des Alltäglichen, deren Oberfläche eine vorgeschobene Grenze ist, ein Rand, der sich auf dem Hintergrund des Sichtbaren abzeichnet« (Frahm & Tietjen o.J.). Das distanzierte bloße Überblicken führt zu einem Übersehen. Das panoramatische Auge übersieht die minimalen Veränderungen und Bewegungen im urbanen Raum und der Zeit. Es ist isoliert von den Zufällen und Zufälligkeiten, die in den flüchtigen Begegnungen und ungewollten Umwegen entstehen können. Es sind die unaufhebbaren Tensionen und Diskontinuitäten, die Urbanität konstituieren und für eine sich stets produzierende Fremdheit und Differenz sorgen. Die Stadt erscheint darin unrein, spontan und unkontrollierbar. Sie artikuliert sich in der räumlichen Praxis der Fußgänger, in deren mehrdeutiger »Rhetorik des Gehens« (ebd., S. 182). Diese urbane Praxis sei weder sichtbar noch lesbar, sie könne nach De Certeau (1988, S. 196) weder »in Bildern festgehalten, [...] noch in einem Text umschrieben« werden kann, da die urbane Praktiken (und demnach was Urbanität im Kern ausmacht) selbst aufgrund ihrer »Eigenlogik« (Berking & Löw 2008; Löw 2009) und inhärenten Bewegung den »städtischen Text« schreibt, nämlich »vielfältige Geschichten ohne Autor oder Zuschauer« (De Certeau 1988, S. 182).23

23 Erinnert diese Darstellung nicht auch an die Logik des menschlichen Habitus als einer »Abgestimmtheit ohne Abstimmung« oder »Konzertierung ohne Dirigenten« wie es Bourdieu (1987) einmal formuliert hat?

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Analog hierzu wäre auch die Unterscheidung einer Geographie in der Stadt von einer Geographie der Stadt vorzunehmen (vgl. Rothfuß & Gamerith 2007, S. 9 in Anlehnung an Hannerz Exploring the City (1980)). Wäre daraus auch zu folgern, dass dem entgehenden Sehen des panoptischen Blicks das Gehen der ordinären Passanten oder der namenlosen »Wandersmänner«24 entgegengesetzt ist? »Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben ›unten‹ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewussten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein von vielen Körpern gezeichnetes Element ist – entziehen sich der Lesbarkeit.« (De Certeau 1988, S. 181; Herv.i.O.)

Das politische Potential der raumgenerierenden Bewegung, die Normales verändern und außer Kraft setzen kann, sieht De Certeau dort, wo eine Gesellschaft den Subjekten und Gruppen keine symbolischen Auswege und Raumerwartungen mehr bietet. Es ist ein Dort, wo es nur noch die Alternative von disziplinierter Anpassung oder abweichendem Verhalten gibt. Grundsätzlich und abschließend artikuliert De Certeau eine Verhältnisbestimmung vom Konzept der Stadt zu den urbanen Praktiken und einer inhärenten Logik des Widerständigen. Es besteht daher ein wesentlicher Unterschied zwischen dem geometrischen bzw. geographischen Stadtraum und dem anthropologischen Stadtraum. Das Leben der Stadt, »die Konstellationen der Leben« (Buchanan 2007, S. 182), die eine Stadt zu dem macht, was sie ist, also die wahrhaftige Wahrnehmung der Stadt, gehört nicht zum Begriff der Stadt. Hierin manifestiert sich die Verhältnisbestimmung bzw. Transformation vom Konzept Stadt (als geometrischer/geographischer Raum) zur Tatsache Stadt (als anthropologischer Raum) (De Certeau 1988, S. 183). De Certeau (1988, S. 185) beschreibt den Charakter des Urbanen, in welchem sich die Sprache und die Zeichen der Macht zwar urbanisieren, jedoch ist die Stadt widersprüchlichen Bewegungen ausgesetzt, die sich jenseits der panop-

24 Buchanan (2007, S. 185) weist zu Recht darauf hin, dass der Fokus auf Räumlichkeit im Archetypus des namenslosen Wandersmannes von De Certeau nichts mit Walter Benjamins Flaneur gemein hat. Er verwahrt sich gegen die Romantisierung des schlendernden Fußgängers durch die Stadt als revolutionäre Praktik. Sie ist lediglich ein Typus des Gehers in der Stadt.

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tischen Überwachung ausgleichen und verbinden: »Die Stadt wird zwar zum beherrschenden Thema der politischen Legendenbildung, aber sie ist kein Bereich programmierter und kontrollierter Verfahren mehr« (ebd., S. 185). Diese Anschauung begreift das Urbane als eine Antithese zur total verwalteten Welt im Sinne Adornos und rekurriert damit implizit auf eine Logik des Städtischen als heterotoper Raum, wie es Foucault (1991) zutreffend beschrieben hat. Der Stadtraum kann nicht domestiziert werden. Er steht zum Teil zumindest jenseits rein instrumenteller Rationalitäten. Als Ort der Diversität, des Fließens, der Heterogenität und Heterodoxie impliziert er, dass keine Gruppe den urbanen Raum dominieren und bestimmen kann (vgl. Korff & Rothfuß 2009b, S. 366). Es ist damit angesprochen, dass eine vollständige Überwachung und Kolonialisierung des Alltagslebens durch das herrschende System unmöglich ist. In diesem Kontext der Freiheit im und des Urbanen als Grundkondition steht auch das »Recht auf Stadt« wie es Lefebvre (1968) prominent beschrieben hat (vgl. Harvey 2008). Damit ist ein »Recht auf urbanes Leben« und ein »Recht auf die Straße« angesprochen, was so viel bedeutet wie das Recht auf Teilhabe und Nichtausschluss (Lefebvre 1968, S. 160). Dikeç (2001, S. 1789) akzentuiert Lefebvres Intention hierzu: »It is not simply the right of property owners, in which case policies like zero tolerance might have been legitimize – if not justified – but of all who live in the city. The right to the city, therefore, does not imply a ›clean‹ and quaint city where the ›good citizens‹ mingle on its streets, crowding its beautiful parks, and living there happily ever after. «

Das schließt alles ein, was die verstädterte Gesellschaft konstituiert: Das Recht auf Arbeit, Gesundheit, Wohnung, Freizeit, das Leben per se (vgl. Schmid 2005, S. 184). Damit ist ein Recht auf Zivilisation und insofern auch ein Recht auf Gerechtigkeit angesprochen, was im Grunde universalistisch auch analog zur Anerkennungstheorie von Honneth gesehen werden kann. Hinsichtlich des Staates differenziert Lefebvre des Weiteren Menschenrechte von den Bürgerrechten. Letztere werden nach ihm jedoch zusehends falsch interpretiert und geraten in Vergessenheit. Bürgerrechte, so Lefebvre, bestehen zwischen Herrschern und Beherrschten, d.h. zwischen Staat und Bürgern jenes Staates. Frühe Bürgerrechte waren etwa das Recht auf Gedankenfreiheit, auf Bewegungsfreiheit innerhalb der Staatsgrenzen sowie das Wahlrecht (vgl. Elden 2004, S. 230).

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D ER A LLTAG ALS F EST UND DIE » EMOTIONALE H ANDLUNGSTHEORIE « Während der empirischen Forschung, den vielen Beobachtungen und Aussagen der ›untersuchten‹ Subjekte über ihr Alltagsleben in einer Favela in einem südlichen Stadtteil der Metropole Salvador entwickelte sich die induktiv aus den Daten gewonnene Erkenntnis, dass in der Selbstbewertung der favelados ihr Leben neben allen alltäglichen Mühen paradoxerweise als ein ›Tanz mit den widrigen Umständen‹ und gelebte Freiheit zu definieren wäre. Das affektive und theatralische Sein im Alltagsleben, das bei De Certeau nur wenig Berücksichtigung erfährt, wird hingegen von dem Alltagssoziologen und Postmodernisten Michel Maffesoli25 als zentral gewertet. Er stellt die Komponente des Orgiastischen, des Karnevalesken und des Festes – eines »ethischen Immoralismus« (Maffesoli 1986, S. 19) als zentrale Kategorie und als Ort einer mitunter widerständigen Vergemeinschaftung im Alltagsleben dar (ebd., S. 13). Der Alltag ist ein Mittel der schöpferischen Alternative und zugleich Widerstandsraum. Für die soziologische Analyse des Alltagslebens hat Maffesoli (1986) zwei Ansatzpunkte herausgearbeitet: Erstens ist das Alltagsleben ein Ausdruck der existenziellen Sinnlosigkeit (»Sein zum Tode«), und zweites ist der Alltag durchzogen von Rituellem und Irrationalem, welche die »grundsätzliche Tragik der Existenz auffangen« (Keller 2006, S. 94). Dabei rekurriert er auf Dionysos, der griechische Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und der Ekstase. Er stellt sowohl Liebe als auch Tod dar, er ist Symbol von der »Entfesselung« von Sorgen, aber auch des Leidens und der Paradoxien. Maffesoli greift in Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus (1986) im Anschluss an Nietzsche, Freud, Durkheim und auch die unproduktiven und dionysischen Aspekte des Alltagslebens auf. Er versucht diese Situationen des »Außer-Sich-Seins«, des Rausches und der Ekstase historisch nachzuweisen, um im nächsten Schritt die Argumentation einer Wieder-Verbreitung des Dionysischen in der Postmoderne zu entwickeln. Damit ist eine Verbindung von neuem Hedonismus und der »Zirkulation der Leidenschaften« gemeint (vgl. Keller 2006, S. 100f.). Die Logik der Vergemeinschaftung beginne, nach Maffesoli (1986, S.102), die Logik der Vergesellschaftung abzulösen: Das »Orgiastische« stellt in diesem Zusammenhang das Verschmelzen des Individuums mit dem Kollektiv zu einer »konfusiellen

25 Maffesoli (1989, S. 2) bezieht sich in seiner Positionsbestimmung als Soziologe des Alltags auf De Certeau und teilt dessen Verständnis über das Alltagslebens: »In brief, the sociology of everyday life is concerned with whatever is above or beyond what are commonly called social relationships.«

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Ordnung korrespondierender Elemente« dar. In der Orgie kommt die ganze Bandbreite von Emotionen, Affekten und Leidenschaften zum Ausdruck; es bejaht sich darin Zorn und Resistenz, Aufbrausen und Anmut ebenso wie Erregung und Selbstüberschreitung. Es geht um das Seiende, um das »Einfache« des Menschen, wie es Heidegger in Sein und Zeit (1927) genannt hat. Es sind die Residuen, die den Restbestand dessen bezeichnen, was außerhalb der modernen Rationalisierungsprozesse liegt. Es ist das menschliche Bedürfnis, Gefühle durch äußeres Handeln, sichtbar zu machen und sich der Lebendigkeit im rationalisierten und verdinglichten »Un-Leben« immer wieder gewahr zu werden. Insofern verweist der Orgiasmus darauf, wie sich das Kollektiv zu seinen Lebensbedingungen, seinen gesellschaftlichen Zwängen und Ungerechtigkeiten – kurzum zu seinem Schicksal – verhält. Das Spielerische als elementares Verlangen erlaubt, sich der entfremdeten Welt wieder zu nähern, Perspektiven aufzuzeigen und den Horizont zu weiten. Die spielerische Erziehung eines vom Begehren und der Begierde getriebenen Menschen ermöglicht »die Versöhnung von Eros und Logos, von Natur und Kultur« (Lefebvre 1990, S. 186). »Gewiss, die Integration des Wahnsinns, der Wechsel zwischen Ordnung und Unordnung und das dionysische Aufwallen sind alles nur Grenzbegriffe, die indes doch begreiflich machen, worauf eine Mikrosoziologie (micrologie sociale) sich verpflichten sollte.« (Maffesoli 1986, S. 155)

Maffesolis (1986, S. 17f.) »Entwurf einer Ethik« basiert auf einer Logik des Gleichgewichtes, auf einer wechselseitigen Relativierung der »unterschiedlichen Wertvorstellungen, die ein gegebenes Ensemble (Gruppe, Gemeinschaft, Nation, Volk, usw.) konstituieren. Die Ethik ist in erster Linie der Ausdruck eines umfassenden, unbändigen Lebenswillens und spiegelt wider, welchen Wert dieses Ensemble seinem eigenen Fortbestand beimisst.« Insofern lehnt Maffesoli die kritisch theoretische Perspektive von Horkheimer & Adorno in Dialektik der Aufklärung (1988) zwar nicht grundlegend ab, aber er beanstandet das monistische Festhalten am Modell der Aufklärung und der hegelschen Dialektik, da diese jede Analyse des »Irrationalistischen«, die mit Begriffen wie der des Mythos, des Imaginären oder auch des Kollektiven arbeite, ablehnen. Er unterstellt ihnen Ideologieverdächtigkeit, da Horkheimer und Adorno diese »träumenden« Praktiken des Kollektivs für nichtig erklären, da in ihnen »keine Differenzen für die Klasse bleiben« (Maffesoli 1986, S. 23). Für ihn tritt daher eine eher affirmative Anschauung der Gesellschaft die Erbschaft der Kritischen Theorie an, da die Frankfurter Schule dem unorthodoxen Marxismus noch immer nachhänge.

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»Nur weil es eine organische Solidarität gibt, wechselseitige Hilfe und Beistand, kommt es zu einer Zirkulation des Affekts.« (ebd., S. 77) Es ist nur möglich über den Anderen ich zu sein, »und zwar den kollektiv Anderen, wie ich hinzufügen will« (ebd., S. 80). In seinem Sinne liegt in einer Wiederkehr des Verdrängten der Beginn der »unproduktiven Verausgabung«, welches an die Stelle der rationalistischen und instrumentellen Fortschrittlichkeit tritt. Dabei handelt es sich aber nicht unbedingt um einen Rebellion im klassischen Sinne der Befreiung von Repression und vom Beherrscht-Sein. Es ist eher eine lebensbejahende Kraft, eine »Wallung«26, die unterirdisch, unsichtbar und »in allen Strukturbindungen wieder zu finden und zuweilen unabwendbar ist wie eine Flutwelle, die nichts aufzuhalten vermag« (ebd., S. 29). Abschließend mag hier noch der Hinweis genügen, dass auch die zeitgenössisch prominenten angelsächsischen cultural studies ganz ähnlich zu Maffesoli im Gegensatz zur Kulturkritik der Frankfurter Schule, in der die Konsumenten als von der Kulturindustrie betrogene und manipulierte Masse betrachtet werden, betonen, dass die Subjekte der »Populärkultur« als Konsumenten einen kreativen, umwidmenden und auch selbstbestimmten Umgang mit Gegenständen der Kulturindustrie beweisen (vgl. insbesondere Hall 2000). Emotionale Handlungstheorie Der brasilianische Soziologe Jessé Souza (2008, S. 17ff.) hat mit seiner Konzeption einer »emotionalen Handlungstheorie« für peripher moderne Gesellschaften eine ganz ähnliche Subjekt- und kollektive Identitätslagerung wie Maffesoli vorgenommen, ohne diesen in seiner theoretischen Konzeption verarbeitet zu haben. Nach Souza konstruieren die lateinamerikanischen Gesellschaften ihre Identitäten nach dem dialektischen Prinzip von Überlegenheit und Triumphalismus auf der einen Seite, Reaktivität und Ressentiment auf der anderen. National wie international wird der Komplex der »peripheren Gesellschaften« Lateinamerikas als ein Gebilde aus vormodernen Gesellschaften wahrgenommen, die in ihrer inneren Struktur und Dynamik durch eine »emotionale Handlungstheorie« geprägt sind: »Diese emotionale Handlungstheorie wurde geschaffen als Gegenentwurf zu einer ›instrumentalen Handlungstheorie‹, die im Rahmen dieser Sicht lediglich typisch für die fortgeschrittenen modernen Gesellschaften sei. Da aber diese emotionale Handlungstheorie nicht nur die wissenschaftliche Sphäre umfasst, sondern auch die Grundlage der ambi-

26 Maffesoli (1986, S. 151) rekurriert hier auf Durkheims Begriff der Wallung (»effervescence«) und attestiert, dass jede Gesellschaft Momente benötige, in denen man »mehr oder anders lebt«, als in normalen Zeiten.

86 | E XKLUSION IM ZENTRUM valenten nationalen Identität von Gesellschaften wie Brasilien […] bildet, die ihre Identität jeweils in Opposition zu den USA entwickelt haben, so ist damit ein Kontext entstanden, in dem die Kritik dieser Auffassungen selbst dann schwierig wird, wenn ihre theoretische Fragilität offensichtlich ist.« (Souza 2008, S. 18)

Für Souza lässt es sich unter den äußerst ungleichen Lebensbedingungen in Brasilien in einer Umgebung zwischen Elend und Gewalt vor allem durch einen gewissen lebensbejahenden Optimismus, welcher der sozialen Imagination »des Brasilianers« als einen »sozial homogenen Typus« herzlich und emotional, entspricht. Dieser Typus des »herzlichen Menschen« Holandas (1995 [1936]) wiederum weist dieselben Merkmale auf, wie sie die emotionale Handlungstheorie bestimmt: »Vorherrschaft der Emotionen und des Gefühls über das rationale Kalkül, wodurch eine Welt entsteht, die geteilt ist in Freunde und Feinde.« (Souza 2008, S. 18) Diese affektive, emotionale Handlungstheorie wurde als Gegenentwurf zu einer instrumentellen und rationalistischen Handlungstheorie geschaffen, die in dieser Sichtweise lediglich typisch für fortgeschrittene moderne Gesellschaften sei. »Der Brasilianer, ich glaube er hat sich schon so sehr angepasst, dass er sich mit all dem, mit dem er lebt, abfindet. Man musste schon immer mit wenig leben. Und er hat sich dafür entschieden fröhlich zu sein. Wer ist der empfänglichste Mensch der Welt? Der Brasilianer. Wer feiert die meisten Feste? Es ist der Brasilianer. Er ist auch sehr gefühlvoll. Sehr warmherzig, leidenschaftlich, empfänglich, das ist der Brasilianer. Und er lacht über alles. Wir nehmen selbst Tragödien mit Humor, denn es geht einfach nicht [anders]… wir richten uns oft nach dem Sprichwort ›man trägt es in der Brust, man schlägt sich nach vorne durch, man dreht durch, man wird verrückt. Also nehmen wir alles mit Fröhlichkeit, wir sind wirklich ein fröhliches Volk.« (2007/10/81)

Die emotionale Handlungstheorie, welche die Selbstwahrnehmung der BrasilianerInnen konstituiert ist ambivalent: Einerseits stellt sie sich gegen eine höhere, wenngleich instrumentelle Rationalität zentral-moderner Nationen, andererseits bietet sie eine imaginierte Kompensation des Affektiven und Theatralischen. In dieser Weise ermöglicht diese Betonung des Gefühls und der Sinnlichkeit eine Gegenidentität zum rationalistischen, kalten und gefühllosen Kalkül in der fortgeschrittenen Zentralen Moderne. »Aufgrund einer solchen »Ersatzbefriedigung« konnte diese »kompensatorische Phantasie« zur Grundlage des inneren solidarischen Zusammenhalts von Gesellschaften wie der brasilianischen werden« (Souza 2008, S. 19). »Die Erfahrung zeigt, dass es eine Kraft am Rande der etablierten Gesellschaft gibt, die Kraft der Imagination, des Glaubens, der Stärkung und der Weisheit. Letztendlich die

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Kraft der Religion. Die emotionale Logik dieser Religion ist stärker als die rationale Logik der verfassungsmäßigen Kräfte.« (Hoornaert 1997, S. 112; zitiert in Sahr 2006, S. 40)

Die Kraft dieses religiösen Gefühls, das voll von Spontaneität und menschlicher Sympathie ist, schuf ein grundsätzlich optimistisches Volk. Das heißt, das brasilianische Volk neigt nicht zur Empörung, es verzichtet auf das gute Leben im Jetzt und erhofft dieses als Zukunftsvision, ist zu weich und wird leicht von sinnlichen oder moralischen Verhängnissen unterdrückt. Im Grunde genommen ist dieses Volk passiv, indem es statt zu kämpfen sich verteidigt oder sich einfach arrangiert. Rational betrachtet, ist dies sicherlich die nachvollziehbarste Handlungsoption, die über Jahrhunderte in den Institutionen verinnerlichten Ungleichheitsstrukturen, die dem Individuum jeglichen Glauben an Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen zu nehmen scheinen. Weiter konkretisiert Souza (2008, S. 19): »In der emotionalen Handlungstheorie stellt sich alles so dar, als ob alle Menschen dieser ›emotional integrierten‹ Gesellschaften im Wesentlichen ähnlich seien, ohne jegliche Klassenteilung, lediglich durch Einkommensunterschiede differenziert. Aufgrund dessen wird der ökonomische Fortschritt als ein Art Allheilmittel aufgefasst, um Probleme wie die Ungleichheit, die Marginalisierung und die subalterne Staatsbürgerlichkeit zu lösen.«

Die soziale Ungleichheit wird durch die emotionale Handlungstheorie naturalisiert, unsichtbar und folklorisiert diesen Prozess (ebd., S. 39). Der brasilianische Kulturtheoretiker Da Matta (1995) spricht im Hinblick auf die brasilianische Kultur von einem »Puzzle«, einem in unzählige Fragmente auseinander fallenden Mosaik. Eine Vermischung von drei völlig unterschiedlichen Ethnien war grundlegend für die Formation der brasilianischen Kultur, die damit eine hybride Gesellschaft hervorgebracht hat (vgl. Freyre 1990, S. 93). In dieser Transkulturation findet nach Da Matta (1995) das Konzept des »Barock« mehr und mehr Eingang in das gesamte brasilianische Leben; es geriert zu einem mystifizierten und imaginären (nationalen) Lebensstil, der auch mehr und mehr das Alltagsgeschehen bestimmt, das sich nicht damit abmüht, die eine externe – rationalistische – Realität übernehmen zu wollen. Damit siegt die affektive und emotionale Kraft der Zurschaustellung, des Nachahmens sowie der Verwandlung über die Kraft des Rationalen. »Weil der Brasilianer sehr emotional ist. Er ist ein Familienmensch; wir leben sehr stark mit der Familie und wir mögen viele Freunde zu haben, (…).« (2007/1/9)

88 | E XKLUSION IM ZENTRUM »Wir mögen es zu genießen, ausgehen, flanieren oder sich zu verabreden. Jeder mag das hier. Dies besonders deswegen, da wir ein liebendes Volk sind. Es ist so etwas wie Gütigkeit.« (2007/18/157)

Die Verkehrung in die Sphären des Unwirklichen, Phantasmagorischen und NichtAuthentischen, das die brasilianische Identität damit paradoxerweise erst authentisch werden lässt, bewältigt das Leben als Balanceakt zwischen verschiedenen Realitäten, wohingegen in der Zentralen Moderne Authentizität, biographische Kohärenz, Gefühlstiefe und Persönlichkeitsbildung in selbstreferentieller Wechselwirkung zueinander stehen und versucht werden, in eine einzig gültige teleologischer Wirklichkeit zu überführen. Sentimentalität und Intimität stehen an der Stelle von Intellektualität und sozialer Distanz. Lima (1993, S. 47) zufolge durchzieht das »Barocke« die gesamte lateinamerikanische Kultur und stellt eine Kunst der »Gegeneroberung« (contraconquista) dar, die sich im gesamten Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire widerspiegelt: Es ist das Dionysische, das voll von Verstößen ist und es erlaubt damit die Übertreibung und das Bunte. Die Lateinamerikaner sind nicht Kopie europäischer Rationalität, sondern reich an ambivalenten Umformungen. Es kommt zu einer »Karnevalisierung« (carnavalização) des cartesianischen und utilitaristischen europäischen Ideenguts auf brasilianischem Territorium, dem die methodischen Befehlsformen abhandenkommen und das offen wird für widersprüchliche Elemente im Alltagsleben. Da es beim Verfolgen des barocken, brasilianischen Alltagsspiels nicht wirklich möglich wird, etwas über den ›Wahrheitsgehalt‹ des Gesagten in Erfahrung zu bringen, verliert hier eine akademische Suche nach Kohärenz und Authentizität an Gewicht oder überhaupt an Optionalität. Was bleibt ist eine Suche nach kontextueller Wirklich- und Wahrhaftigkeit. Ein ambitioniertes Unterfangen für einen europäischen Forscher in Brasilien, der mit dem Ziel angetreten ist eine reflektierte und auf rationalen qua wissenschaftlichen, also logischen Prinzipien aufbauende Habilitation verfassen zu wollen? Mit einem hier abschließenden Plädoyer sei dennoch das Aushalten der (paradoxen) Kombination eines normativen und aufklärerischen Metakonzeptes der Theorie der Anerkennung mit einem auf Irrationalitäten und Ambivalenzen gründenden Ansatzes über das Alltagsleben angemahnt.

Qualitative Methodologie und Alltagsforschung

E RKENNTNISTHEORETISCHE P ROBLEME A LLTAGSFORSCHUNG

DER

Eine wissenschaftliche Erforschung des Alltagslebens, in dieser Studie der ›fremden‹ Stadtwelt von Salvador da Bahia, sieht sich grundsätzlich erkenntnistheoretischen Unschärfen ausgesetzt. Bei einem ›herkömmlichen‹ kausallogischen Zugang der Wissenschaft, das Alltagsleben zu erforschen, existieren blinde Flecken. Lefebvre (1972, S. 72) kritisiert diesbezüglich, dass im akademischen Bestreben, Ordnungen und Beschreibungen von Praktiken des Alltagslebens durch wissenschaftliche Beobachtungen und Reflexionen vorzunehmen, das Alltagsleben in einem nicht willkürlichen, sondern strukturierenden Prozess durch Begriffe und Kategorien abstrahiert und auch verdinglicht wird. Die kreative Herstellung von wissenschaftlichen Ordnungen eines empirischen Gegenstandes bedeutet damit immer auch ein Kennzeichnen. Kennzeichnen bedeutet definieren und mit dem Definieren beginnt die Abgrenzung und in der Folge die (mögliche) Kontrolle. Denn über das, was man weder definieren noch benennen kann, gewinnt man keine Macht und Kontrolle. Lippuner (2005a, S. 68) bestätigt dies für die Humangeographie, wenn er über Lefebvres Kritik an der wissenschaftlichen Alltagsforschung schreibt: »Der Alltag ist vor dem Hintergrund der Theorie Lefebvres also nicht ohne weiteres als Gegenstand einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschreibung zu haben. Sozial- und kulturgeographische Ansätze, die in den Alltagspraktiken das eigentliche Objekt ihrer Beobachtungen und Beschreibungen sehen, müssten sich […] den Vorwurf gefallen lassen, jene Verdinglichungen und Reduktionen zu produzieren, die Lefebvre wiederholt anklagt.«

Darin besteht für Lefebvre ein kritikwürdiges und verborgenes Einverständnis des (akademischen) Wissens mit der Macht. Ähnlich, jedoch in generellerem

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Duktus reflektiert Gardiner (2000, S. 177) das Unbehagen von De Certeau im Kontext der wissenschaftlichen Erforschung des Alltagslebens: »Indeed, writing is for De Certeau an imperialist medium that has always been allied to the interests of the powerful. […]. As a specialist armed with an authoritative discourse, the sociologist is always tempted to translate the procedures of everyday life into categories and taxonomies that are synonymous with the logic of rationalized production and bureaucratic control. This helps to explain why everyday practices are highly resistant to translation and codification into formalized, authoritative language, and why the basic grammar of tactics can be traced back many thousands of years.«

Auch Maffesoli (1986, S. 33f.) thematisiert das Problem bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des Alltagslebens. »Die Lebendigkeit einer Gesellschaft beruht ja auf vielen Disharmonien und Antagonismen, die, wenn man sie aufeinander bezieht, zu einer Konästhesie führen. Daher muss eine verstehende Soziologie sich eines Zugangs zu den Dingen bedienen, der ebenfalls aus Heterogenität und Paradoxien besteht. […] Eine verstehende Soziologie muß sich davor in Acht nehmen, ein prästabilisiertes theoretisches Schema praktisch anzuwenden. Denn die intellektuelle Paranoia relativiert sich durch die Mischung, die hier zur Diskussion steht. Sie erlaubt, weil nichts wichtig ist, zu begreifen, daß alles von Gewicht ist.«

Alltägliche Geographien werden auf vielfältige Weise »gemacht«, als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folge des täglichen Handelns (re-)produziert, in und durch Kommunikation erzeugt, aufrechterhalten und modifiziert. Welches Problem tritt nun bei der wissenschaftlichen Beobachtung dieses »alltäglichen Geographie-Machens« (Werlen 1997) auf? Kann dieses »alltägliche Geographie-Machen« nicht mit geeigneten Methoden und Theorien der Sozial- und Kulturwissenschaften beobachtet, beschrieben, interpretiert und weiterentwickelt werden? Empirische Sozialwissenschaften, zu denen die Humangeographie zu zählen wäre, haben es bei der Erforschung des Alltagslebens mit einer vorinterpretierten Welt zu tun. Dies erfordert eine Methodik der Sinndeutung und Rekonstruktion sowie einen hermeneutischen Zugang zu den vorgefundenen Praktiken des Alltags. Notwendigerweise sind daher diese Praxisformen nach den Regularien der theoretischen Konzepte zu untersuchen. Dabei müssen die Sinn- und Bedeutungsdimensionen des beforschten Alltagslebens aus der Perspektive ihrer darin lebenden Subjekte verstanden werden. Dieser deutende und rekonstruktive Nachvollzug lokaler Wissenssysteme verschwimmt nur allzu oft mit den eigenen Deutungsmustern. Dies meint: Ist der Vater (oder die Mutter) des intellektuellen Gedankens in Bezug auf empirische ›Entdeckungen‹ bereits vor der Untersuchung

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existent gewesen? Oder finden sich im bunten Alltagsleben nicht vielfach Praktiken, die die eigene theoretische Verortung ohne weiteres zu bestätigen suchen? In Werlens Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen (1995a und 2007) werden die Sphären Wissenschaft und Alltag (Bourdieu würde vom akademischen und alltäglichen Feld sprechen) als zwei unterschiedliche, je besondere Wissens- und Handlungsmodi begriffen. Charakteristisch für das Alltagsfeld ist eine Eliminierung des Zweifels, eine Art Ambivalenzreduktion. Hingegen ist das akademische Feld und das darin gelagerte Wissen durch eine »Systematisierung des Zweifels« definiert (Werlen 2001, S. 39; zitiert in Lippuner o.J., S. 3). Wissenschaftliche Reflexionen über das Alltagsleben tauschen bei der Beobachtung von Praktiken und der Sammlung von Alltagswissen und -erfahrung diese mit Konstruktionen und abstrakten Konzepten aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass allein durch das analytische Konzept des Alltagslebens, wie es z.B. Maffesoli, De Certeau oder Lefebvre jeweils formuliert haben, eine konstitutive Abgrenzung von der Wissenschaft vorgenommen worden ist. Das Alltagsfeld unterscheidet sich vom Wissenschaftsfeld bezüglich der Kategorie des Handelns. Der Alltag wird durch routinisiertes Handeln, also Handeln aus Erfahrungen und durch Reproduktionen von Tätigkeiten bestimmt (Soeffner 2001). Kontrastiv steht dazu die Wissenschaft, die methodisch und theoretisch über ein Objekt, Subjekt oder auch den Alltag reflektiert. Die Wissenschaft, die sich konzeptionell mit dem Alltagsleben beschäftigt, bringt dieses Feld qua definitionem damit erst hervor. Dies ist an sich nicht problematisch, jedoch dürfen wir diesen Konstruktionscharakter, der mit jeder Studie über das Alltagsleben in einem x-beliebigen Ausschnitt einer sozialen Welt aufs Neue reproduziert wird, nicht vergessen bzw. ignorieren. Dadurch, dass sich diese Studie auf Theorien des Alltags beruft, ist sie nicht vom Vorwurf des Konstruktionscharakters befreit. Denn was geschieht im Prozess der Datenerhebung? Die Menschen geraten ohne ihr Zutun in ein wissenschaftliches Frage-Antwort-Spiel, im besten Falle in eine »gewaltfreie Kommunikation« (Bourdieu et al. 1999, S. 781) über eine Thematik, die von Seiten der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers vorgegeben wird. Ihre Reaktionen auf die gestellten Fragen werden dann als ›natives‹ Alltagswissen und tactic knowledge verbucht und konstitutiv für eine im vorliegenden Falle gegenstandsnahe Theorieentwicklung im Sinne von Glaser & Strauss (1998) herangezogen. Die auserkorenen Subjekte werden mit abstrakten Konzepten wie etwa urbaner Ungleichheit konfrontiert und dazu aufgefordert, über ihre eigene soziale Umwelt zu reflektieren. Sie verlassen dabei für kurze Zeit ihr Alltagsfeld und betreten gedanklich das akademische Feld; denn es ist anzunehmen, dass die Favelabewohner sich beim Bier an der Eckkneipe nicht über urbane Exklusion

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oder ähnliches austauschen würden, jedoch vielleicht über Benachteiligung, Diskriminierung oder andere demütigende Alltagserfahrungen. Lippuner (o.J., S. 4) stellt hierzu die berechtigte Frage: »Wie weit kann man dann die Antworten noch als Ausdruck der alltäglichen Einstellung auslegen? Und wie sind beispielsweise Antworten auf Fragen zu bewerten, die sich die Alltagsmenschen selbst gar nicht stellen würden? Diese und ähnliche Probleme resultieren aus dem Versäumnis zu fragen, was die wissenschaftlichen Beschreibungen der Tatsache schulden, dass sie sich vom Alltag und vom Alltagswissen distanzieren.«

Vordeterminierende Forschungsdesigns, die z.B. mittels Leitfadeninterviews oder etwa problemzentrierter Interviews (Witzel 1985) vorgehen, beeinträchtigen nicht unwesentlich den Gesprächsverlauf und -inhalt sowie in der Folge die empirische Erkenntnis über subjektive Rationalitäten des untersuchten Alltagslebens. Ziel muss daher immer eine sehr offene, narrative und freie Dialogsituation zwischen Forscher und beforschten Subjekten sein, die das Vorreflexive und Nicht-Gewußte über Umwege, Grenzgänge und auch Gegensätze zu entdecken sucht und sich v.a. auch auf Beobachtung stützt (Soeffner 2004). What is to be done? Da dieses leninsche Diktum eine gewisse Ratlosigkeit nach der kurzen Rekapitulation einer tendenziellen Unvereinbarkeit von Wissenschafts- und Alltagsfeld hinterlässt, soll daher abschließend angedeutet werden, wie Alltagsforschung als »reflexive theoretische Praxis«1 (Lippuner o.J., S. 8) zu begreifen wäre. Zuerst gilt es, den Konstruktionscharakter der eigenen Forschungskonzepte und -kategorien umfänglich anzuerkennen. Der ernsthafte Versuch aus den empirischen Daten eine gegenstandsnahe Theorie, eine so genannte Grounded Theory zu gewinnen, die induktiv und alltagspraktisch gewonnen wurde, erfährt eine Erläuterung an späterer Stelle. Es muss immer darüber reflektiert werden, wie hoch der subjektive Eigenanteil, die eigenen verinnerlichten und oft vorreflexiven Deutungskategorien, bei der Formulierung von datenbasierten Theorien letztlich ist. Es gilt den eigenen Blick immer wieder darauf zu richten, welche eigenen Konstruktionsleistungen in der Beobachtung der beforschten sozialen Welt mitschwingen (vgl. Lossau 2002). Lippuner (o.J., S. 8; Herv.i.O.) plädiert entschieden und zu Recht dafür, Kontingenz anzuerkennen und einer ständigen Reflexion der eigenen Beobachtung Raum einzuräumen, da

1

Lippuner (2005b) hat in seinem Beitrag Reflexive Sozialgeographie den Zugang zu einer reflexiven »Theorie der Praxis« über Bourdieus erhellende Konzeption einer »Theorie der Praxis« gewählt.

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»Kontingenz radikal in die wissenschaftlichen Beschreibungen eindringt; dass alles auch anders möglich wäre. Diese Kontingenz nicht zu verdrängen, d.h. der Versuchung zu widerstehen, auf direktem Weg zur einfachen Beobachtung der Gegenstände und damit zur empirischen Tagesordnung überzugehen, ist die eigentliche und die schwierige Arbeit wissenschaftlicher Beobachtung. Es gilt, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit nicht allein dem Gegenstand, sondern verstärkt der Art und Weise zu widmen, wie dieser Gegenstand beobachtet wird.«

Q UALITATIVE S OZIALFORSCHUNG – M ETHODOLOGISCHE I MPLIKATIONEN »Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich«.2 Das Thomas-Theorem formuliert diese Definitions- und Gestaltungsmacht der Subjekte in ihrer Lebenswelt in bemerkenswerter Form (und damit auch den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität). Das interpretative Paradigma, das die Subjekte als Handelnde und Reflektierende in einer von ihnen hergestellten und mit Sinn belegten Welt zu verstehen sucht, zielt darauf ab, die »gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit« wie es Berger & Luckmann (1977) prominent formuliert haben, zu entdecken. Das Handeln der Menschen in der Herstellung und Interpretation von Bedeutungen in intersubjektiven Interaktionsverhältnissen zu erforschen, ist die zentrale Perspektive, die das interpretative (qualitative) Paradigma dem normativen (quantitativen) gegenüberstellt, das demgegenüber die Menschen verhaltenstheoretisch weitgehend auf Wesen reduziert, die auf soziale Normen reagieren. Die zu untersuchende Alltagswelt besteht aus verschiedenen Teilwelten und ihren entsprechenden Wissensvorräten und Sinndeutungen, in denen die sozialen Institutionen legitimiert werden (Berger & Luckmann 1977, S. 98 ff.). Dabei wird die Perspektive auf die Handelnden in ihren Praxisfeldern gerichtet und damit vermieden, sie nur als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse zu determinieren. Sie gestalten ihr Dasein unter den vorgefundenen gesellschaftlichen Konditionen nach ihren eigenen Geographien des Möglichen. Damit können auch die Interessen, Ressourcen und Machtdifferentiale der unterschiedlichen Akteure in den Blick genommen werden, die innerhalb der sozialen Welt immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden (müssen). Es gilt, diese mitunter ambivalenten Reali-

2

Im englischen Original: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas & Thomas 1928, S. 572)

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täten und Rationalitäten im Alltagsleben konzeptionell zu erfassen und dabei immer auch die eigenen Vorannahmen mitzureflektieren. In der Analyse von Alltagswelten und ihren Wissens- und Handlungssystemen, in der aufmerksamen Wahrnehmung bestehender Alltagsmythen und einem »tacit knowledge« (Polanyi 1967, S. 4), einem verborgenen Alltagswissen, kommen die handelnden Subjekte und ihre Konstruktionen von Wirklichkeit zur Sprache, wenngleich fraglich wird, ob es sich dann noch um Alltagswissen handelt. Die vielschichtigen Interaktionen der Subjekte in ihrer Umwelt können letztendlich nur dann angemessen erforscht werden, wenn eine Methodologie zugrunde liegt, die sich ihrem Gegenstand anpasst, und wenn sich sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Theorien über das Alltagsleben entfalten können. Die Aufgabe des Forschers ist es, die Wirklichkeit und die Sinnwelten der ›beforschten‹ Subjekte zu rekonstruieren, ihre Handlungsrationalitäten zu verstehen und deutend nachzuvollziehen. Diese einführenden Gedanken zielen epistemologisch auf die Qualitative Sozialforschung und ihrer methodologischen Verankerung. Einen zentralen Grundsatz der Qualitativen Sozialforschung stellen nach Lamnek (1995, S. 21ff.) die Offenheit und Flexibilität des Forschers im Hinblick auf die Untersuchungspersonen, Forschungssituation und die verwendeten Methoden dar.3 »Das Prinzip der Offenheit besagt, dass die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat« (Hoffmann-Riem 1980, S. 343). Die Methoden werden dem Erkenntnisinteresse sowie ihrer Angemessenheit an den Gegenstand entsprechend ausgewählt (vgl. Strauss & Corbin 1996). Qualitative Sozialforschung begreift weiterhin Kommunikation und Beziehung zwischen Forscher und Beforschten als konstitutiven Bestandteil des Forschungsgeschehens – Forschung wird als Interaktionsprozess4 verstanden. Grundlegend für »gelungene Kommunikation«, ein »echtes Gespräch« im Sinne von Buber (1997 [1962], S. 293), ist die ernste Berücksichtigung alltäglicher kommunikativer Interdependenz sowie einer gemeinsamen Verständigungsebene und die Schaffung einer möglichst natürlichen Kommunikationssituation in der Alltagswelt der Beforschten (Kommunikativität und Naturalistizität; vgl. Lamnek 1995, S. 19ff.). Hier offenbart sich auch die epistemologische Grundhaltung

3

Vgl. zu diesen knappen Ausführungen zentraler Prinzipien Qualitativer Sozialfor-

4

Hier zeigt sich eine der Wurzeln qualitativer Forschung im symbolischen Interaktio-

schung ausführlich das Kapitel 3.4 in Rothfuß (2004). nismus.

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und -idee, dass nicht der Wissenschaftler (all-)wissend ist, sondern die Untersuchungspersonen als die eigentlichen Experten ihrer Lebensrealität angesehen werden (müssen), über die der Forscher Informationen erhalten möchte (vgl. Struck 2000, S. 14). Weiterhin ist die Selbstreflexivität des Forschenden integraler Bestandteil des qualitativen Paradigmas. Durch aktives Hinterfragen und Explorieren des eigenen Vorwissens, Vorverständnisses und Alltagswissens wird dies kritisch beleuchtet und im Interpretationsprozess berücksichtigt. Die eigenen Interessen werden bewusst gemacht. Dies trägt dazu bei, dass der Interpretations- und Rekonstruktionsprozess transparent(er) und dadurch objektiviert wird. Implizite Forderung ist, dass Hypothesen nicht ex ante festgelegt werden, sondern erst als Ergebnis und Prozess auf der Grundlage erhobener Daten generiert werden. Während des Forschungsprozesses werden Annahmen und Ergebnisse reflexiv behandelt und durch neue Erkenntnisse im Verlauf revidiert oder bekräftigt. Glaser & Strauss (1998) sprechen hierbei vom Postulat des »ständigen Vergleichs« während der gesamten Forschung. Das paradigmatische Handlungsmodell von Strauss & Corbin (1996) hat im Forschungsprozess eine heuristische Funktion. Es sensibilisiert und stimuliert ›Entdeckungen‹. Heuristische Konzepte sind demnach erkenntnisgenerierende Hilfsmittel, die nicht schon vorab versuchen, Wirklichkeit zu erklären.

F ELDFORSCHUNG

UND

M ETHODIK

Die Grundlage der vorliegenden Studie stellten umfangreiche Feldaufzeichnungen während der teilnehmenden Beobachtung sowie die qualitative Befragung von 60 Personen (55 Einzelgespräche und fünf Gruppendiskussionen; vgl. Anhang) aus der Favela Calabar und des benachbarten Mittelschichtsviertels Jardim Apipema über einen dreijährigen Zeitraum zwischen 2005 und 2007 dar. Da zunächst aufgrund mangelnder Sprachkompetenz kein Dialog mit den ansässigen Menschen geführt werden konnte, war die erste Feldphase überwiegend der (teilnehmenden) Beobachtung gewidmet.5 Dieses anfängliche Handicap führte zu einer fokussierten Wahrnehmung der vorgefundenen Praktiken im Alltagsleben und zu umfangreichen Feldbucheinträgen. Das Reflektieren fast ohne ver-

5

Aufgrund der ähnlichen Forschungsinhalte in der gemeinsamen Lebenswelt Calabar wurde z.T. auf die qualitativen Interviewdaten aus den Jahren 2005 und 2006 von Veronika Deffner zurückgegriffen. Für die Nutzung dieser Daten, danke ich ihr sehr herzlich.

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balen Abgleich schärfte dabei den eigenen Blick und das Verstehen des TätigSeins der Subjekte vor Ort. Die Konzentration lag dabei darauf, die Praktiken und nonverbalen Artikulationen nachzuvollziehen, in ihrem Kontext zu belassen und nicht vorschnell zu deuten. Diese zwangsläufige Unvoreingenommenheit im ersten Feldforschungsjahr 2005 stellte sich retrospektiv als bedeutsam heraus, wie an späterer Stelle dargelegt wird. Im zweiten Jahr der Feldstudie gelangen erste Dialoge in der portugiesischen Sprache, die auf Tonband aufgezeichnet wurden und im Themenkomplex Alltagsleben unter Bedingungen sozialer Ungleichheit verortet waren. Es stellte sich dabei heraus, dass die Interpretation der verbalen Daten während des Forschungsprozesses, entsprechend den Annahmen der Grounded Theory, mit den im Vorjahr gemachten Erkenntnissen der teilnehmenden Beobachtung in einem gewissen Gegensatz standen. Widersprüchlich schienen die zumeist ausgelassene und lebensbejahende Kraft der Gestiken und nonverbalen Artikulationen im Alltagsleben gegenüber den in den qualitativen Interviews gemachten Äußerungen. Diese bestätigten eher die von mir thematisierte gesellschaftliche Ungleichheit in Brasilien. Es erschien mir, dass ich meinen eigenen zentraleuropäischen Kategorien von Gleichheit und Gerechtigkeit aufgesessen war und diese von den Befragten, in einem höflichen Akt einer ›self-fulfilling prophecy‹, bestätigt wurden. Es wirkt evident, dass gesellschaftlich Benachteiligte über ihren eigenen Status im sozialen Raum nur zu gut Bescheid wissen. Sie haben ein ausgeprägtes Gespür über die herrschende Ungerechtigkeit in ihrem Land. Ist es daher notwendig und erkenntnisreich, dies empirisch lediglich zu bestätigen? Diese implizite Kritik wäre z. T. an die Reflexionen von Deffner (2010b) zu richten, die in ihrer Dissertation diese eigenen – kritisch gewendet – bürgerlichen Vorannahmen empirisch bestätigte, indem sie das soziale Feld eher entlang ihrer verbalen Daten analysierte und den alltagsweltlichen und routinisierten, z. T. paradoxen Erfahrungskontext eher wenig konzeptionell in ihre Interpretation mit einbezog. Ist es nicht so, dass der/die alltagserforschende Wissenschaftler/in zu einer tieferen Erkenntnis der Alltagsrationalitäten gelangt, wenn er/sie untersucht, ob und wie die Menschen trotz statistisch nachweisbar prekärer, ungleicher und anerkennungsverweigernder Umstände, innerhalb ihrer Möglichkeiten, ein »richtiges Leben« (entgegen Adornos Diktum dass ein richtiges Leben im falschen nicht möglich ist), führen? Wie gelingt es den Favelabewohnern trotz massiver Beschneidung ihrer Würde, ein bejahendes Leben zu leben, wie sie es offensichtlich führen? An diesem Beispiel zeigt sich, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alltagsleben erkenntnistheoretische Diskrepanzen bereithalten kann, die theoretisch wie forschungspraktisch reflektiert werden müssen.

Q UALITATIVE M ETHODOLOGIE UND A LLTAGSFORSCHUNG

| 97

Die vorliegende Studie verpflichtete sich exklusiv der Qualitativen Sozialforschung. Hierbei wurden im Wesentlichen die Daten mittels interpretativverstehender Erhebungstechniken gewonnen. Das Forschungsdesign basierte auf der Auswertung qualitativer Interviews und teilnehmender Beobachtung. Die wissenschaftliche Untersuchung des Alltagslebens setzt voraus, dass der Forscher ausgiebig Zeit in der Alltagswelt der untersuchten Subjekte und Kollektive verbringen sollte, um die gewonnenen Erkenntnisse aus den qualitativen Interviews (vgl. Flick et al. 1995) mit den beobachteten Alltagspraktiken in Zusammenhang bringen zu können. Das Ziel der teilnehmenden Beobachtung ist eine gewisse Systematisierung alltäglicher Praktiken und somit die Erfassung von Ablauf und Bedeutung einzelner Handlungen und Handlungszusammenhänge durch den an Interaktionen teilnehmenden und sich im Alltagsfeld befindlichen Beobachter (Kromery 2006, S. 346ff., vgl. Reuber & Pfaffenbach 2005, S. 120ff.). Die Forschung findet im Alltagsleben der Personen und Gruppen statt und es wird versucht, durch spezifische und unspezifische Beobachtungen, etwa deren Aktionsmuster und Wertvorstellungen zu explorieren und für die wissenschaftliche Auswertung zu dokumentieren (vgl. Lamnek 1995, S. 240). Vielfach wurde dieser klassischen (»archaischen«) Methodik allerdings ihre fehlende Überprüfbarkeit und mangelnde intersubjektive Repräsentativität vorgeworfen, insofern zu Unrecht, als die Erforschung von Alltagswelten epistemologisch nur im ›Feld‹ erfassbar ist. Sie zieht die Zeitbezüge der Beforschten, den Fluss der Dinge, wie sie sich vollziehen, mit ein. Es wurde dabei auch versucht, den konkreten Raum Favela und seine »Atmosphären« (Kazig 2007) mit allen Sinnen wahrzunehmen und über die Visualität hinaus zu erspüren. Im Mittelpunkt stand das individuelle, subjektive Erleben und Entdecken. Dies geschah insbesondere auch zur Erforschung des Potentials eines phänomenologischen und relationalen Raumverständnisses. Die beobachteten sozialen Praktiken, die in der vorliegenden Studie interpretiert wurden, sind durch Feldnotizen, Tagebucheinträge und Skizzen dokumentiert worden (vgl. Lamnek 1995; Kromery 2006, S. 349). Die nach den Feldphasen der empirischen Untersuchungen von 2005 bis 2007 entstandenen Protokolle erwiesen sich für das Verständnis der z.T. komplexen Sinnstiftungsprozesse innerhalb des Untersuchungskollektivs der Favelabewohner von Calabar und der angrenzenden befragten Mittelschicht in Jardim Apipema sowie für die Analyse und Interpretation der erhobenen verbalen Daten, als wichtig. Stellt sich die teilnehmende Beobachtung als die qualitative Methode par excellence dar, so weist das qualitative Interview jedoch einen wesentlichen Vorteil auf. Es gewährleistet einen intersubjektiven Nachvollzug der Interpretation über die erhobenen Daten aus dem Alltagsleben der befragten Subjekte (vgl.

98 | E XKLUSION IM ZENTRUM

Lamnek 1995, S. 35). Das qualitative Interview ermöglicht die Nachzeichnung des Konstitutionsprozesses sozialer Wirklichkeit in verständlicher Weise. Die Reflexionen der Befragten, die durch das zentrale Forschungsdiktum »Sprich Peripherie!« (Serpa 2001) angestoßen wurde, können als Artikulation der Gesprächspartner angesehen werden, es können von Seiten des Interpreten aber auch die verborgenen und vorreflexiven Gehalte der Aussagen gedeutet werden. Die in der Studie angewandte Methode von Fallstudien, so genannten case studies, ist Teil qualitativer Forschungsdesigns. Qualitative Einzelfallstudien »streben eine wissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungsmustern auf der Grundlage von alltagsweltlichen, realen Handlungsfiguren an« (Lamnek 1995, S. 16). Dabei versucht der Forscher, nicht nur als alltagsweltlicher Handlungspartner, die Figuren nachzuvollziehen, sondern diese in den wissenschaftlichen Diskurs zu überführen und Handlungsmuster zu identifizieren, indem allgemeinere Regelmäßigkeiten vermutet werden. Gerade alltagsweltliche Einzelfallstudien beschreiben beobachtete und verbalisierte Wirklichkeiten, da keine Generalisierungen in Form standardisierter Datenerhebungen vorgenommen werden müssen. Die grundsätzliche Richtigkeit der Ergebnisse sowie die Möglichkeit zur Übertragbarkeit der Einzelfallergebnisse auf eine abstraktere Ebene sind gegeben, da sich hinter Einzelfällen allgemeinere Regelmäßigkeiten verbergen. Eine Repräsentativität und Generalisierbarkeit in Form exemplarischer Verallgemeinerung kann daher nicht nach dem Kriterium statistischer Erwartungswerte repräsentativer Stichproben bewertet werden, sondern folgt dem Konzept der »theoretischen Stichprobe« (vgl. Lamnek 1995, S. 238f).

D ATENERHEBUNG

UND

A USWERTUNGSPROZESS

Aufgrund der offenen und entspannten Erzählsituation durch das narrative und leitfadenorientierte Interview sowie freier, beliebiger Dialoge konnte eine transparente Analyse vergangenen Handelns bzw. rezenter Wahrnehmungsmuster von Seiten der befragten Subjekte eingefangen werden. So wurden Orientierungsmuster des Handelns durch eine reflektierte Rekonstruktion vergangener Ereignisse und Erfahrungen erkennbar (Lamnek 1995, S. 73). Wichtig war dabei immer, die Befragten über das eigene Interesse und die eigene Position als Forscher zu unterrichten, um auch damit Vertrauen und Respekt zu vermitteln, dass die befragten Subjekte die eigentlichen Experten ihres Alltagslebens sind und der Forscher darüber Erkenntnisse gewinnen möchte. Durch die extensive Datensammlung, ständige Analyse und unmittelbare Rückkoppelung dieser zur Datengenerierung, d.h. im Sinne einer zirkulären Fallauswahl (Strauss 1991, S. 70), sollte eine gegenstandsnahe und in den erhobenen

Q UALITATIVE M ETHODOLOGIE UND A LLTAGSFORSCHUNG

| 99

Daten verankerte Theorie nach der Grounded Theory entwickelt werden. Das Konzept der »gegenstandsbezogenen Theorie« (Strauss 1991; Glaser & Strauss 1998; Strauss & Corbin 1996) betrachtet den Forschungsprozess als fortlaufende Interaktion zwischen Gegenstand und Theorie und trennt nicht mehr zwischen Datensammlung und Datenanalyse. Die Logik der Zirkularität beruht darauf, dass eine ständige Rückkehr zum Ausgangspunkt der Fragestellung sowie ein wiederholtes Aufdecken von (verborgenen) Strukturelementen des Alltagslebens, eine Art der ›sozialen Grammatik‹, ermöglicht werden. Eine derart regelgeleitete Auswertung bzw. Dateninterpretation erschafft eine Konstruktion einer Konstruktion des Alltags durch die Alltagshandelnden (vgl. Steinke 1999, S. 114). Diese Form der Interpretation von etwas bereits alltagsweltlich Vorinterpretiertem korreliert mit dem Vorgehen des theoretischen samplings. Definitorisch wird diese Vorgehensweise nach Glaser & Strauss (1967, S. 45) folgendermaßen eingegrenzt: »Theoretical sampling is the process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly collects, codes and analyses his data and decides what data to collect next and where to find them, in order to develop his theory as it emerges. This process of data collection is controlled by the emerging theory.«

Die vorliegende Studie verfolgte im Auswertungsprozess der Beobachtungsdaten und qualitativen Interviews eine Strategie, nach der während des gesamten Interpretationsprozesses nahe am ›Ursprungstext‹ der Transkriptionen und Feldaufzeichnungen zu arbeiten ist. Damit sollte verhindert werden, dass zu früh eine Abstraktion der Daten erfolgte, die dann die Logik und Rationalität des Alltagslebens zu schnell ›verwissenschaftlicht‹ hätte. Denn für eine profunde Analyse alltagsweltlicher Sinnstrukturen (denn Sinn kann nur im Alltagsleben hergestellt werden) ist der Kontext, in dem der Text produziert wurde, von entscheidender Bedeutung. Der zu schnelle deduktive Rückzug bzw. der Forscherdrang nach Erklärung der vorgefundenen Alltagsrationalitäten verhindert eine reflektorische Besinnung des Vorgefundenen. Das lange und intensive Ausharren am Ursprungstext, dessen Drehen und Wenden fördert im Verlauf mehr und mehr Erkenntnisse, die die Ambivalenzen und Paradoxien des Alltagslebens konstituieren (vgl. Deppermann 2008). Dieser Prozess ist damit gegenläufig zum wissenschaftlichen Drang der Kohärenzsuche, wie auch De Certeau (1988) dies gegen Bourdieu und Foucault vorgebracht hat. Ähnlich beschreiben dies Glaser & Strauss (1967, S. 37) in ihrem Forschungsdesign: »An effective strategy is, at first, litterally to ignore the literature of theory and fact on the area under study, in order to assure that the emergence of categories will not be contaminated by concepts more suited in different areas.«

100 | E XKLUSION IM Z ENTRUM

Wie erfolgt nun der Prozess des Kodierens, des »Aufbrechens der Daten«, ein Verfahren, das ursprünglich aus der Grounded Theory heraus entstanden ist? Diese Methode hat sich nach und nach als eigenes Auswertungsdesign etabliert. Zunächst wird knapp auf die Ausprägung der Grounded Theory (GT) im Sinne von Strauss (1991) eigegangen, welche sich nicht unerheblich von der Grounded Theory Methodology (GTM) unterscheidet. Mey & Mruck (2007) geben an, dass es sich bei der GTM6 in erster Linie um einen offenen und induktiven Forschungsstil und eine Haltung handelt, bei der es um einen stetigen Wechsel zwischen Handeln und Reflexion geht. Dabei ist die Unterscheidung zwischen GTM und GT als Theorie in Ableitung aus konkreten Ergebnissen einer empirischen Studie wichtig (vgl. Steinke 1999, S. 70). Denn erst in zweiter Linie wird diese als Auswertungsmethode gesehen, die es während und nach Abschluss des Forschungsprozesses anzuwenden gilt. Strauss (1991, S. 36) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass drei Kriterien eigehalten werden müssen, damit das Vorgehen als methodologisch im Sinne der GT verstanden werden kann: Der Kodierprozess muss theoriegeleitet sein. Er kann nicht nur der Klassifikation oder Deskription der erforschten sozialen Phänomene dienen. Die zu entwickelnden Konzepte müssen darüber hinaus auch einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen. Im Kontext des theoretischen samplings kommt es darauf an, schon nach dem ersten Interview mit der Dateninterpretation zu beginnen, Memos7 zu verfassen und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviewpersonen nahe legen. Damit wird eine konzeptionelle Dichte der sich entwickelnden Theorie gewährleistet. Es werden Vergleiche zwischen den sozialen Phänomenen und Kontexten hergestellt, um somit der Komplexität der sozialen Wirklichkeit gerecht werden zu können, woraus dann erst die theoretischen Konzepte deduziert werden. Strauss (1991, S. 19) bezeichnet die Grounded Theory als einen Ansatz, der zur Generierung und synchronen Überprüfung der datenbasierten Theorie dienen und damit zu einem tieferen Verständnis von komplexen sozialen Phänomenen

6

Die Grounded Theory Methodology beinhaltet die gesamte Methodologie und nicht nur einzelne Elemente wie etwa die Anwendung des Kodierparadigmas in der Phase der Datenauswertung.

7

Das Kodieren wird immer wieder unterbrochen, um so genannte Memos zu verfassen, in denen theoretische und methodische Überlegungen festgehalten werden, die über den Kodiervorgang hinausreichen. Memos ermöglichen eine spätere Strukturierung der Auswertung (vgl. Strauss & Corbin 1996).

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| 101

führen soll. Grundlegendes Ziel des qualitativen Designs ist es, durch den oszillierenden und zirkulären Verstehensprozess eine dichte, in der Empirie verankerte Theorie zu generieren, die konzeptionell möglichst vielseitige Aspekte der untersuchten Sozialwelt erklären kann (ebd., S. 25). Die vorliegende Studie richtete sich in ihrem Interpretationsprozess nach der Methode des Kodierens von Strauss (1991). Dem Kodieren liegt dabei ein handlungstheoretisches Kodierparadigma zugrunde, das als Analyseschema fungierte, um die ursächlichen Bedingungen, Interaktionen, Handlungsmuster, Konsequenzen und Strategien/Taktiken zu reflektieren, die in die emergierenden Konzepte und Kategorien eingebettet sind. So kann der Komplexität und Vielfalt des zu untersuchenden Alltagslebens durch die Bildung von aufeinander bezogenen Konzepten realiter Rechnung getragen werden (Strauss 1991, S. 31ff.). Um diese induktiven Konzepte entwickeln zu können, müssen die Daten in Form eines Textes theoretisch codiert werden. Dabei wird zwischen offenem, axialem und selektivem Kodieren unterschieden (Strauss 1991, S. 94ff.; Strauss & Corbin 1996). Mey & Mruck (2007, S. 27) fassen diese drei aufeinander bezogene Kodierarten folgendermaßen zusammen: Beim »offenen Kodieren« werden neue theoretische Konzepte entdeckt und bewertet. Je weiter die Auswertung voranschreitet, desto gezielter wird auch der Kodierprozess und es können Beziehungen zwischen den einzelnen induktiv gewonnenen Konzepten herausgearbeitet werden. Dieser Prozess entspricht dem »axialen Kodieren«. Beim »selektiven Kodieren« geht es schließlich darum, eine Fokussierung auf eine Kernkategorie vorzunehmen. Danach geht es darum, Schlüsselkategorien herauszuarbeiten, die mit anderen Kategorien in enger Beziehung stehen. Ziel im Forschungs- und Interpretationsprozess ist es, auf Grundlage der GT, unter Einbezug mehrerer (kontrastierender) Fälle, eine Theorie zu dem untersuchten Phänomen zu entwickeln. Der Anwendungsbereich liegt nach Strauss (1991, S. 303) vornehmlich in der Erforschung des Verständnisses von Erscheinungen des Alltagslebens und der Lebenswelt.

Idiographischer Kontext – Periphere Moderne Brasilien

In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird in Bezug auf Brasilien und andere lateinamerikanische Länder von der »Peripheren Moderne« (Souza 2006, S. 21), der »Peripherie des Westens« (Souza 2007, S. 37) oder der »Peripherie des Kapitalismus« (Gordilho-Souza 2008, S. 19) gesprochen. Diese Termini legen offen, dass den Begriffen der Moderne, des Westens und des Kapitalismus eine normative Eigenschaft zu Grunde liegt, da sie sich auf die wohlhabenden und entwickelten Gesellschaften beziehen und die lateinamerikanischen Länder durch die Bezeichnung der Peripherie in Relation zu diesen setzen. Souza & Rodrigues (2004) benennen Brasilien als semiperipheres Land, was dessen Position im globalen System zwischen Zentrum und Peripherie zum Ausdruck bringt. Das Grundschema, so Souza (2006, S. 20), welches »die Beziehung zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Weltsystems als einen antinomischen Gegensatz zwischen einem traditionellen und prämodernen Kernbereich und einem anderen, modernen Kernbereich [auffasst, bestehe] weiterhin in neuen und hybriden Gewändern fort«.

So weise Brasilien typische Eigenschaften zentraler Länder auf, wie etwa eine geopolitische Bedeutung sowie einen stark entwickelten industriellen Sektor, und könne zugleich durch markante Merkmale peripherer Gesellschaften wie ausgeprägte Ungleichverteilung der verfügbaren Ressourcen und Armut der Bevölkerungsmehrheit charakterisiert werden. Die ungleiche Verteilung von Besitz und Wohlstand erfährt in Brasilien eine historische Begründung, denn seit den kolonialen Anfängen reduzierte sich die Konzentration von Einkommen und Eigentum trotz ökonomischem Wachstum und dem Aufstieg Brasiliens zu einer global bedeutsamen Volkswirtschaft nicht und scheint damit systemimmanent zu sein. Die mit der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Wirtschaftswachstum verbundene Modernisierung Brasiliens steht im Widerspruch zur so-

104 | E XKLUSION IM Z ENTRUM

zialen Exklusion, von der breite (urbane) Bevölkerungsschichten betroffen sind. Aus struktureller und sozialer Perspektive wirkt sich die intensive Urbanisierung im Zuge der industriellen Entwicklung auf die Metropolen des peripheren Kapitalismus differentiell aus. Maricato (1996; zitiert nach Gordilho-Souza 2008, S. 36) macht diesen Unterschied folgendermaßen deutlich: »Eine allgemeine Verbreitung der keynesianischen Politiken setzte sich in der peripheren Welt indessen nicht durch. […] Die soziale Exklusion begleitet den Industrialisierungsund Urbanisierungsprozess in Brasilien. Exklusion und Konzentration sind konstante Paradigmen des brasilianischen Kapitalismus. […] Dies sind keine Merkmale, die mit der so genannten ›Globalisierung‹ Einzug in die brasilianische Gesellschaft hielten. Der neue Aspekt, der mit der Vertiefung der Armut in den 1980er Jahren einherging, war die explosionsartige Ausbreitung der urbanen Gewalt, welche Kennzahlen und Dimensionen erreichte, die bis dahin beispiellos waren.«

Wenngleich also das Wirtschaftswachstum letztlich keinen Beitrag zur Umverteilung der Ressourcen leisten konnte, so erfolgten auch keine Intentionen der sozialen Homogenisierung durch einen auf einem Gleichheitsprinzip beruhenden Rechtsstaat, wie in den Gesellschaften der Zentralen Moderne (vgl. Souza 2007b, S. 39). Nogueira (2006, S. 85) spricht in ähnlichem Zusammenhang von der »radikalisierten Peripheren Moderne«, wobei er sich mit dem Attribut der Peripherie auf die tendenziell funktionale Verarbeitung der kolonialen Vergangenheit bezieht, die sich ohne eine klare Formulierung von Reformen und durchgreifenden Veränderungen der Klassen-, Grundbesitz- und Machtstrukturen vollzog und bestehende Abhängigkeitsverhältnisse nicht verringerte. Den radikalen Charakter der Peripheren Moderne beschreibt Nogueira (2006), der die aus der Industriegesellschaft abgeleiteten Veränderungen für die Durchsetzung einer »gehaltvollen, reflexiven und radikalisierten Moderne« verantwortlich macht und, der den Konsequenzen der Moderne einen radikaleren und universelleren Charakter zuschreibt als je zuvor.

U NGERECHTIGKEIT

ALS › SOZIALE P ATHOLOGIE ‹ DER BRASILIANISCHEN G ESELLSCHAFT ? Ist es hilfreich und angemessen Brasiliens ungerechte und ungleiche Gesellschaft mit einer zentralmodernen, aus der Tradition der Kritischen Theorie hervorgegangenen, Begrifflichkeit der Pathologie zu beschreiben? Habermas (1981, S. 293) bezeichnet Krisen als konstitutives Merkmal der (spät-) kapitalistischen Moderne. Nach seinem Dafürhalten weisen gegenwärtige mo-

I DIOGRAPHISCHER K ONTEXT – P ERIPHERE M ODERNE BRASILIEN

| 105

derne Gesellschaften krankhafte, bisweilen unheilbare Symptome auf: Die »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch systemische Imperative führe gar zu einer »Lebensweltpathologie«. Dabei stuft er diese »innere Kolonialisierung« sowie Praktiken der Verdinglichung als mittlerweile krankhaft ein. Honneth (2002, S. 8) bestätigt in seinen sozialphilosophischen Konzepten den pathologischen Charakter moderner kapitalistischer Gesellschaften: »Eine kritische Gesellschaftstheorie kann auf die Verwendung von diagnostischen Leitbegriffen auch nicht vollkommen verzichten, weil ihr ansonsten der soziale Strukturwandel in eine Vielzahl unzusammenhängender Einzelmomente zerfallen würde.« Gewahr der Wirkmächtigkeit von Begriffen positioniert sich die vorliegende Studie im Einklang zur Kritischen Theorie. Benennen heißt Bewusstmachen. Statistischer Überblick »Egal wie groß die statistisch gemessene und in bunten Graphiken dargestellte Ungleichheit auch ist, die Einkommensunterschiede zwischen Deutschen und Burkinabé, zwischen US-Amerikanerinnen und Bolivianas entfalten so lange keine delegitimierende Wirkung, wie es keinen einheitlichen Wahrnehmungshorizont institutionalisierter Gleichheit gibt.« (Berndt & Böckler 2008, S. 73).

Und dennoch gilt hier: Ungleiche Verteilung von Ressourcen zu benennen, heißt Ungerechtigkeit bewusst zu machen. Die Ärmsten 10 % der Gesamtbevölkerung Brasiliens verdienen 0,8 % des Einkommens; dagegen verbuchen die Reichsten 10 % der Gesellschaft 62,1 % der erwirtschafteten Einkommen auf sich (vgl. Tabelle 2). In einer anderen statistischen aber gleichbedeutenden Darstellung verdienen 50 % der rund 183 Millionen Brasilianer 15,5 % und 1 % der Gesamtbevölkerung hingegen 12,7 % des nationalen Einkommens (Daten von 2003; IBGE 2005, S. 120). Ein nahezu unübertroffener Makrowert ökonomischer Ungleichheit. Hinsichtlich eines »globalen Rankings« der menschlichen Entwicklung (HDI) befindet sich Brasilien nach Schwartzman (2003, S. 1) auf dem 73. Rang (HDI: 0,792) von 174 Ländern. Der Vergleich mit anderen Nationen in Lateinamerika (vgl. Tabelle 2) lässt Brasilien nur hinter Bolivien – einem ›echten‹ Drittweltland – eine Platzierung übrig. Diese lässt sich auch für den nationalen GINI-Index1 im intrakontinentalen Vergleich bestätigen (vgl. Abbildung 2).

1

»Der Gini-Koeffizient bezeichnet die statistische Kennzahl zur Messung wirtschaftlicher Konzentration, besonders der Einkommens- und Landverteilung. Der GiniKoeffizient wird von der Lorenz-Kurve abgeleitet. Sie teilt die Einkommensgruppen [oder Landeigentümer] in Gruppen ein und trägt sie nach steigendem Einkommen

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Abbildung 2: GINI-Index der Ungleichverteilung weltweit.2 Wären die Einkommen in Lateinamerika ähnlich verteilt wie etwa in südostasiatischen Ländern, dann wäre der Anteil der Armen nur ein Fünftel vom gegenwärtigen Stand. Es besteht damit ein systematischer Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Armut. So ist der Armutsanteil von Costa Rica mit rund 20 % erheblich geringer als der Brasiliens (37,5 %) und der Mexikos (46,9 %), wenngleich Costa Rica ein geringeres durchschnittliches Pro-KopfEinkommen aufweist als die beiden anderen Länder. Dies rührt daher, dass die Einkommensverteilung in Costa Rica (GINI-Index von 0,49) ausgeglichener ist als z.B. in Brasilien (0,61). Most of the relevant debate in Brazil and abroad has been over eliminating poverty, not reducing income inequality.« (Skidmore 2004, S. 133) Die Schlussfolgerung, dass eine objektive Entwicklung des relativen Wohlstandes in Brasilien durch Verbesserung der Indikatoren wie Alphabetisierung, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, Zugang zu Wasser und Strom gleichzeitig die ungleichen Einkommensunterschiede nivelliert, kann nach Jahrzehnten eines »Wachstums

[oder Landeigentum] auf der Abszisse ein. Die Anteile der Gruppen am Gesamteinkommen [oder Landbesitz] werden auf der Ordinate abgetragen. Die Lorenz-Kurve zeigt die Abweichung der Einkommens- oder Landverteilung von der völligen Gleichverteilung an. Je stärker sich die Kurve von der Geraden entfernt, desto höher ist der Grad der Einkommenskonzentration.« (Nuscheler 2006, S. 143; Herv.i.O.) 2

Kartengrundlage: CIA 2009.

I DIOGRAPHISCHER K ONTEXT – P ERIPHERE M ODERNE BRASILIEN

| 107

ohne Entwicklung« (Wöhlke 2000, S. 6) als Trugschluss und fataler Irrglaube bewertet werden. Zwischen 1930 und 1980 ist Brasilien das Land mit dem höchsten Wachstum weltweit gewesen ohne damit eine Verringerung der sozialen Ungleichheit und Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten auch nur in Ansätzen erreicht zu haben (vgl. Souza 2006, S. 21). Seit den 1960er Jahren ist der Ungleichheitsindex letztlich auf gleichem Niveau verharrt, obgleich sich der durchschnittliche Lebensstandard (z.B. Gesundheit, Bildung, Wohnen) als solcher durchaus verbessert hat (vgl. Tabelle 3 und Abbildung 3). Tabelle 2: Sozio-ökonomische Charakteristika Brasiliens im Vergleich zu ausgewählten Ländern in Lateinamerika und Europa (Human Development Report 2006; CEPAL 2006). Land

Bevöl-

BIP/Kopf

kerung

nach PPP in

in Mio.

Mrd. US-$

HDI

GINI

Einkommensverteilung Ärmste

Reichste

10 %

20 %

10 %

20 %

Brasilien

183,9

8195

0,792

0,61

0,8

2,6

62,1

45,8

Argentinien

38,4

13298

0,863

0,53

1,1

3,2

56,8

39,6

Chile

16,1

10874

0,859

0,57

1,2

3,3

62,2

47,0

Mexiko

105,7

9803

0,821

0,50

1,6

4,3

55,1

39,4

Bolivien

9,0

2720

0,692

0,60

0,3

1,5

63,0

47,2

Costa Rica

4,3

9481

0,841

0,49

1,3

3,9

54,8

38,4

Deutschland

82,6

33212

0,932

0,28

3,2

8,5

36,9

22,1

Norwegen

4,6

54465

0,965

0,26

3,9

9,6

37,2

23,4

Möchte man den Statistiken Glauben schenken, so liegt die Alphabetisierungsquote in Brasilien derzeit bei rund 97 %, was dennoch nicht dazu geführt hat, eine soziale und vertikale Mobilität innerhalb der Gesellschaft zu stimulieren. Nach wie vor ist die Armut allgegenwärtig und hoch korrelativ mit der Hautfarbe schwarz. Etwa die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer leben in Armut; 53 Mio. Bürger vor allem im Nordosten leben in absoluter Armut und sind chronisch unterernährt (CEPAL 2006). Eine bedrückende Bilanz für eine große Volkswirtschaft, die mittlerweile den 6. Rang weltweit einnimmt. Tabelle 3: Veränderung des Gini-Index in Brasilien von 1960 bis 2009 (CEPAL 2006; Human Development Report 2007–08; CIA 2009). 1960

1970

1980

1990

1999

2007

2009

0,59

0,63

0,62

0,63

0,64

0,61

0,59

108 | E XKLUSION IM Z ENTRUM

Abbildung 3: Veränderung des GINI-Index in Brasilien (1960–2000) und anderer Länder (Human Development Report 2008). Die Gründe und gesellschaftlichen Logiken dieser extremen und persistenten Einkommensungleichverteilung und die anhaltende Massenarmut sind sehr komplex und können in dieser Darstellung letztendlich nur fragmentarisch beschrieben werden. Dieser Versuch wird im nächsten Kapitel mittels einer historischen Perspektive unternommen. Im daran anschließenden Kapitel wird dann eingehender auf verschiedene ausgewählte Dimensionen rezenter Ungleichheit in Brasilien eingegangen. Wagt man ein derartiges Unterfangen, so sollte man sich vor unzulässigen Generalisierungen in Acht nehmen, was oft genug misslingt (vgl. Boekh 2005, S. 139). Historische Dimension sozialer Ungleichheit Die folgenden Ausführungen vermögen nur eine allzu oberflächliche Geschichtsdarstellung Brasiliens zu leisten. Diese versuchen dennoch die wesentlichen Ereignislinien und Mechanismen des ungleichen Gewordenseins einer un-

I DIOGRAPHISCHER K ONTEXT – P ERIPHERE M ODERNE BRASILIEN

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gemein komplexen Gesellschaft aufzuzeigen, ohne damit ein umfassendes Begreifen dieser vorgeben zu können.3 Mit der europäischen Entdeckung Brasiliens im Jahre 1500 durch den Portugiesen Pedro Alvarez Cabral begann eine Zeitrechnung, die zum Grundstein einer ungleichen Gesellschaftsstruktur bis in die Gegenwart werden sollte. Anfängliches Ziel der portugiesischen Kolonisation war die Errichtung von Handelsstützpunkten an der Küste zur Ausbeutung von Rohstoffen aus der Neuen Welt für die Krone des Mutterlandes. Sehr früh entwickelte sich ein ausgesprochener Handelsprotektionismus mit Portugal, der die Abhängigkeit Brasiliens von seinem Mutterland über Jahrhunderte zementieren sollte. Die autoritäre Ausbeutung des Landes begann mit dem Export von Brasil-Holz im 16. Jahrhundert, setzte sich über den massenhaften Zuckerrohranbau (16.–19. Jahrhundert) sowie die Diamant- und Goldexploration im 17. bis 18. Jahrhundert fort. Der Kaffeeboom ergriff das ausgehende 19. und das ganze 20. Jahrhundert; daran anschließend ist bis in die heutige Zeit und sicher auch in Zukunft der enorm expandierende Sojaanbau prägend (vgl. Coy 2007b). Die portugiesische Gesellschaft zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem Beginn der Neuzeit war äußerst hierarchisch strukturiert, von einem Erbmonarchen aristokratisch regiert. Nichts konnte ungleicher sein. Darüber hinaus war die Gesellschaft patrimonial und personalistisch strukturiert. Die wichtigste soziale Einheit war die Familie und ihre freundschaftlichen Netzwerke. Diese klientelistische und individualistische Kultur übertrugen die Kolonialisten in die Neue Welt. Bei den Portugiesen dominierte im Gegensatz zum gesamten Hispanoamerika das Handelsinteresse; dies sicherlich vor allem aufgrund der bereits lang etablierten kolonialen Beziehungen Portugals mit Afrika und Indien. Die portugiesische Krone erhob Anspruch auf das gesamte Territorium seiner Kolonie, war aber nicht in der Lage die ökonomische Inwertsetzung aus eigener Kraft zu bewerkstelligen. Daher wurden früh vorübergehende Nutzungskonzessionen, sog. sesmarias, an kapitalträchtige Privatpersonen vergeben (vgl. Dünckmann 1998, S. 649). Aufgrund fehlender Handelsprodukte wie Gold und Silber, zumindest während der beginnenden Kolonisation, entwickelte sich eine ganz eigene Gesellschaft, eine Agrargesellschaft. Zweck war zuerst die lokale Ernährungssicherung der patriarchalen Familie des Kolonisators. Die Einführung von Sklaven aus dem Inneren Afrikas, die vergemeinschaftete hierarchisierte Lebensformen kannten und weil sie nach Freyre (1982 [1933], S. 19ff.) an schwere Feldarbeit in großer Hitze gewöhnt waren, stellte damit nur eine Frage der Zeit dar. 1538 wurden die

3

Vgl. hier auch Rothfuß (2008).

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ersten Sklaven von der westafrikanischen Guineaküste nach Brasilien eingeführt. »Auf dieser Grundlage entstand eine Agrargesellschaft weniger Kolonisatoren mit äußerst geringer Siedlungsdichte, aber unumschränkt durchsetzbaren Herrschaftsanspruch.« (Lühr 1994, S. 152)

Abbildung 4: Herrenhaus im Recôncavo mit Kapelle im Hintergrund, Bahia; © Eberhard Rothfuß (04/2004). Metaphorisch und gesellschaftskonstituierend kann für dieses einzigartige Ausbeutungssystem ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Werk, auch für das Selbstbild und Selbstverständnis der Brasilianer herangezogen werden, das anthropologische Werk Herrenhaus und Sklavenhütte von Freyre (1982 [1933]). Freyre stellt dabei die außergewöhnliche Bedeutung des Herrenhauses (casa grande) als eine Institution dar, welche sämtliche Normen, Werte und innere Gesetzmäßigkeiten der Kolonialgesellschaft in sich vereinte und nachhaltig festigte. Das Herrenhaus konnte dabei nur existieren mit seinem Gegenstück, der Sklavenhütte. Das senzala wirkte als »Ferment«, insbesondere in einer Gesellschaft in der die Herren eine sehr kleine Minderheit darstellten um dabei »rasch – biologisch und kulturell – in der Mehrheit« aufzugehen (Lühr 1994. S. 152; auch Wöhlke 2000, S. 31). Freyre (1982 [1933], S. 78) bestätigt in seinem Werk hierzu:

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»Wir müssen noch auf einen bezeichnenden Umstand in der brasilianischen Entwicklungsgeschichte hinweisen, da sie nicht im Zeichen der reinen Europäisierung stand. Statt mühsame Anstrengungen zu unternehmen, um sich an völlig fremdartige Bedingungen anzupassen, stellte die europäische Kultur den Kontakt mit der einheimischen her, indem sie sie durch das Öl der afrikanischen Vermittlung aufweichte.«

Freyre stellt damit den kulturellen wie rassischen Verschmelzungsprozess als den wesentlichen Formierungsprozess einer brasilianidade, einer brasilianischen nationalen Identität, dar (Sahr 2006, S. 31). Neben die ökonomische Funktion einer völlig unabhängigen Produktionseinheit trat eine weitere, jene der sozial-religiösen Einrichtung hinzu. »In Brasilien traten die Herrenhäuser der Plantagen an die Stelle der Kathedralen oder die Kirchen, [...]. Unsere Gesellschaft – wie die Portugals – wurde durch die Solidarität der Ideale und des religiösen Glaubens geformt.« (Freyre 1982 [1933], S. 174) Damit konnte der Mangel an politischen und mystischen Bindungen sowie das bis dato nichtexistente Identitätsbewusstsein kreiert werden. »Aber die Kirche, welche unsere soziale Entwicklung beeinflusst und den Charakter unserer Gesellschaft geformt hat, war nicht die Kathedrale mit dem Bischof, [...]. Es war die Kapelle der Plantage.« (ebd., S. 174) Der Katholizismus stellte dabei die ausschließlich religiöse Gedankenwelt Brasiliens dar (vgl. Sahr 2006, S. 28). Damit ist wie bereits oben angesprochen, keine Analyse der rezenten brasilianischen Gesellschaft und ihres kolonialen Erbes vollständig ohne die genaue Untersuchung des Sklavenhaltertums – einer immens mächtigen Institution, verglichen mit den spanischen Kolonien oder Nordamerika. Mehr als fünf Millionen afrikanische Sklaven sind nach Brasilien verschleppt worden (Delacampagne 2004, S. 319). »African slavery also added an important element to the Portuguese system of social stratification: colour. Colour proved highly effective in reinforcing the modern Brazilian hierarchical social structure.« (Skidmore 2004, S. 139) Mit dem Zuckerrohrboom in Nordostbrasilien im 16. und 17. Jahrhundert etablierte sich das spätfeudale System einer agrargesellschaftlichen Bipolarität von Latifundium und Minifundium. Es ist dabei ohne Einschränkung zu konstatieren, dass die Groß- und Kleingrundbesitzstruktur, welche in der portugiesischen Kolonialepoche geformt wurde, als das Damoklesschwert der ungleichen Landverteilung Brasiliens und damit letztlich der gesamtgesellschaftlichen Ungleichverteilung generell bezeichnet werden kann. Diamanten- und Goldfunde im 18. Jahrhundert wurden vorindustriell exploriert und der Kaffeeboom in Südostbrasilien im 19. Jahrhundert schrieben letztendlich das Ausbeutungssystem, welches auf einer merkantilistischen Verwertungslogik fußte fort. Eine Modernisierung durch intensivierte Agrarexporte bestimmte das 19. Jahrhundert. In diese Epoche fiel eine gewollte massive Immig-

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ration von Europäern (v.a. Deutsche und Italiener) und trug neben den afrikanischen Sklaven zu einer auf die Hautfarbe gegründete gesellschaftliche Hierarchisierung entscheidend bei (Wöhlke 2000). Das Resultat war trotz ethnischer Vermischung eine verstetigte Stratifizierung der sozialen Pyramide mit einer sich vergrößernden Distanz zwischen oben und unten, weiß und schwarz. Während sich bereits im 18. Jahrhundert in den USA und Frankreich ein humanistischer Erziehungs- und Modernisierungsprozess der Bevölkerung abzuzeichnen begann, ignoriert »Portugal weiterhin seine [schwarzhäutigen] Untertanen als lernfähige Bürger und verweigert ihnen die Rolle als individuelle und selbstbewusste, also moderne Menschen.« (Sahr 2006, S. 33) Die Loslösung von der portugiesischen Krone 1822 durch Dom Pedro I führte zur Unabhängigkeit Brasiliens. Dadurch wurde eine Neudefinition des Grundbesitzsystems notwendig. Das so genannte Lei da Terra (Bodengesetz) von 1850 legitimierte die sesmarias als Privatbesitz und überführte den restlichen Grund in Staatseigentum. Dieses Gesetz bildete damit quasi die Geburtsurkunde eines modernen Brasiliens, das sich vom Eigentum an Sklaven abwendete und dem privaten Grundeigentum als Herrschaftsform zuzuwenden begann (vgl. Wienold 2006, S. 50ff.). »Einerseits wurde die bestehende koloniale Besitzstruktur festgeschrieben. Andererseits blieb durch das Prinzip ›Boden gegen Geld‹ kapitalschwachen Bevölkerungsschichten der Zugang zu bislang ungenutztem Land weiterhin verwehrt.« (Dünckmann 1998, S. 650) Erst 1888 wurde die Sklaverei durch das »goldene Gesetz« endgültig abgeschafft. Mit der Abschaffung der Sklaverei kreierten die Großgrundbesitzer »neue Formen der Immobilisierung und der Abhängigkeit der Arbeitskräfte« wie es Wienold (2006, S. 52) bezeichnet. Aus versklavter Arbeit wurde damit in der Folge letztlich nur abhängige, weiterhin patronalistisch und repressiv gesteuerte Pacht- und Lohnarbeit im 20. Jahrhundert. Das erfolglose Exportmodell Brasiliens war zusätzlich begleitet von einer zutiefst persistenten aber nicht offen artikulierten Überzeugung in die rassische Unterlegenheit der brasilianischen nichtweißen Bevölkerung (vgl. Skidmore 2004, S. 139). Getúlio Vargas, Präsident zwischen 1930 und 1945 ist wohl der prominenteste politische Vertreter im 20. Jahrhundert, als Diktator allerdings, der die ungleiche Gesellschaft Brasiliens durch die Etablierung verschiedener institutioneller Regelungen sehr nachhaltig perpetuiert hat. Die staatlich geförderte Industrialisierung im Duktus einer Modernisierungsdiktatur durch Importsubstitution sowie eine Agrarmodernisierung hatten eine umfangreiche Freisetzung der abhängigen Arbeiterschaft auf den Plantagen zur Folge, welche zu einer Masse von Kleinproduzenten bzw. einer abhängigen Lohnarbeiterschaft außerhalb der Latifundien

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umdekliniert wurden. Die industrielle Expansion des Agrarsektors wurde völlig ohne Infragestellung der Landoligarchie und deren Großgrundbesitz durchgeführt. Insbesondere Vargas’ Etablierung eines Industrialisierungsprogramms und einer Wohlfahrtspolitik sollten die strukturellen Setzungen der Gesellschaft festzurren. Mit der Einführung des Mindestlohnes (salário minimo) im Jahre 1940 wurde der entscheidende Grundstock der Herausbildung einer abhängigen Lohnarbeiterklasse gelegt sowie das industrielle Akkumulationsmodell vom Staat durchgesetzt. Der Minimallohn fixierte damit den Wert und »das Niveau der Reproduktion der Arbeitskraft nach unten« (Wienold 2006, S. 52). Die Schere zwischen ausgebildeten und nicht ausgebildeten Arbeitskräften öffnete sich damit stetig. Die Schaffung eines umfangreichen Netzwerks staatlicher Unternehmen führte zu einer Ausweitung der Regierungsmacht; der Industrialisierungsschub beschleunigte den Urbanisierungsprozess und die Expansion der städtischen Arbeitskraft, induziert durch massenhafte Migration arbeitsloser Landarbeiter vornehmlich aus dem ›Armenhaus‹ Brasiliens, dem Nordosten überwiegend in den dynamisierten Südosten. Der Prozess der Verstädterung verlief in Brasilien äußerst schnell und spektakulär. Wohnten in São Paulo um 1900 etwa 240.000 Einwohner, waren es 1920 bereits 580.000 und 1940 gar 1,3 Millionen (Wöhlke 2000, S. 131). Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die Bevölkerung um den 15-fachen Wert gesteigert und liegt 2009 bei rund 19,7 Millionen in der Metropolitanregion (IBGE 2010b, S. 27). Die korporatistische Struktur der Vargas Ära – ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staat und den Akteuren der Interessensvermittlung (z.B. Gewerkschaften) führte zu einer quasi Neutralisierung der Rechte der lohnabhängigen Arbeiterklasse. Bis zum heutigen Tag sind die Unterschichten in Brasilien äußerst schlecht vertreten und politisch schwach (vgl. Krumwiede 2002), wohingegen die Eliten systematisch ihre Macht aufbauen und konzentrieren konnten. Im Gegensatz zu Mexiko hat sich in Brasilien quasi nie eine genuine revolutionäre Tradition etabliert, auf welche sich eine Linke hätte beziehen können, um der Arbeiterklasse eine Identität und Richtung zum Ausgleich massiver Einkommens- und Besitzungerechtigkeit geben zu können. »In practice, the Brazilian masses themselves have proved relatively unresponsive to appeals to demand increased welfare. The left, moreover, has been manipulated by the elite.« (Skidmore 2004, S. 141) In die Nachkriegszeit folgte Juscelino Kubitschek 1955 indirekt auf Getulio Vargas, der die betont nationalistische Politik seines Vorgängers aber nicht fortsetzte, sondern Kubitschek forcierte die Industrialisierung von Brasilien hinsichtlich ausländischer Investitionen, stärkte dabei aber auch den staatlichen Einfluss

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auf die Ökonomie. Mit der Fortführung der Modernisierung der Latifundien und Agrarexpansion entstanden Kleinstbesitz und Minifundien in ihrer heutigen Form und sind dabei keine »Zerfallsprodukte eines (traditionellen) selbstständigen Kleinbauerntums« wie Wienold (2006, S. 54) folgerichtig betont. Kubitscheks Amtszeit war aber insbesondere über seine Vision des nationalen Aufbruchs in symbolischer Umsetzung einer Gründung der neuen Hauptstadt Brasília prägend und wirkmächtig: eines Neubeginns und einer Überwindung alter kolonialer Orte und Denkmuster. Bis 1964 sollte die Demokratie bestehen, welche dann aber für 20 ›dunkle‹ Jahre bis 1985 in eine Militärdiktatur übergehen sollte. Diese Periode kann hier nur benannt werden; sie wurde letztlich von drakonischem Machterhalt geprägt, ohne je ein Bewusstsein zur Lösung der Ungleichheitsverhältnisse überhaupt zu entwickeln. In dieser Periode dominierte auch eine konservative Modernisierung durch Kapitalintensivierung der Landwirtschaft, Mechanisierung und Vernetzung mit dem industriellen Sektor. Der Militärstaat griff mit Hilfe von subventionierten Agrarkrediten und Steuererleichterungen in den Agrarsektor ein, ohne die Landkonzentration auch nur im Ansatz zu verringern. Von diesen Hilfen profitierten v.a. Großkonzerne und die dynamischen Regionen im Südosten. Die »neue Republik« nach 1985 tat sich schwer mit der Redemokratisierung, die wirtschaftliche Situation sollte sich für die Menschen zu Beginn eher noch verschlechtern. Mit der Wahl des Präsidenten Fernando Collor de Mello im Jahre 1990 verschwanden dann die letzten symbolischen Reste der langen Militärdiktatur (Wöhlke 2000, S. 116). Die Wirtschaftspolitik war geprägt durch drastische Sparmaßnahmen in allen Klassen zum Abbau der Inflation. Diese sollte aber erst ab Mitte der 1990er Jahre sinken, verursacht durch das erfolgreiche Antiinflationsprogramm (Plano Real) des damaligen Finanzministers und ab 1995 regierenden konservativen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso; der Plano Real leitete in der Folgezeit eine relative Preis- und Strukturstabilität ein. Neben seinem Verdienst die Konsolidierung der Staatsverschuldung angegangen zu haben, scheiterte er aber daran, die Einkommens- und Besitzungleichverteilung zu vermindern. Auch mit dem Präsidialamt des ehemaligen Gewerkschaftsführer und damaligen Vorsitzenden der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) Luiz Ignacio Lula da Silva von 2003 bis 2010 sollte sich, trotz Ankündigung und Versprechen, die seit Jahrzehnten verschleppte Landfrage anzugehen, an den bestehenden Besitz- und Machtstrukturen nur wenig bis zum heutigen Tage ändern. Seine politische Agenda war geprägt von neoliberalen Tendenzen, massiver Industrialisierung (v.a. im Agrarsektor), Korruption und Protegierung der brasilianischen Besitzelite. Seine Errungenschaften in der forcierten Gleichstellungspolitik (z.B. Quotenregelungen) sind indes lobenswert zu erwähnen.

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Am 1. Januar 2011 hat Dilma Rousseff die Amtsgeschäfte von Lula da Silva übernommen. Auf den ehemaligen Arbeiterführer folgt die ehemalige Guerillera. 30 Jahre nach ihrer Gründung geht die brasilianische Arbeiterpartei in ihre dritte Regierungszeit. In ihrer Antrittsrede hat Rousseff erklärt: »Das vorrangige Ziel meiner Regierung wird der unnachgiebige Kampf gegen extreme Armut und die Schaffung von Chancen für alle sein.« (Vargas 2011) Und dennoch erscheint die konsequente weitgehend neoliberale und sozialpolitische Linie von medienwirksamen Programmen der Rousseff-Regierung in linearer Fortführung von Lulas Politik zu stehen. Nach neuesten Angaben von Forbes hat die Zahl der Milliardäre in Brasilien gegenüber dem letzten Jahr von 18 auf 30 zugenommen (Spiegel 2011a). Die soziale Ungleichheit wird sich damit, so ist zumindest zu vermuten – auch in naher Zukunft nicht verkleinern. Da die Elite in Brasilien nie gewaltsam von der Macht und ihren Einflussmöglichkeiten getrennt wurde, können sie sich bis heute einen Großteil des Bruttosozialprodukts für sich sichern. Andererseits hat die Oberschicht im 20. Jahrhundert realisiert, dass sie neue politische Akteure an der Macht und damit am Gewinn beteiligen muss, damit die ungleichen Strukturen weiterhin stabilisiert bleiben. Daher wurde die städtische Arbeiterklasse durch Sozialgesetze, die bereits unter Präsident Vargas (1930–1945, 1950–1954) implementiert wurden, durch die Einführung des ›Mindestlohnes‹ formal in das Sozialsystem einbezogen. Nach amtlicher Statistik erhalten den gesetzlichen monatlichen Mindestlohn (salário mínimo) von derzeit 545 R$ (umgerechnet etwa 238 € brutto) 29,1 Millionen registrierter oder unregistrierter Beschäftigter. Hinzu kommen 18,6 Millionen Empfänger von Leistungen der staatlichen Sozialversicherung (vgl. Zoller 2007). Im letzten Jahrzehnt wurden weitere Maßnahmen, z.B. das »NullHunger-Programm« (Fome Zero) oder das Programm Bolsa Família den Ärmsten das Existenzminimum gesichert. Aber auch hier gilt, dass diese staatspolitischen Interventionen letztendlich das ungerechte System stabilisieren. Dies impliziert, dass die brasilianische Oligarchie eine große politische Macht besitzt und über Jahrzehnte die Wirtschaftspolitik der Regierungen massiv kontrolliert und gelenkt hat; letztendlich immer zugunsten einer Aufrechterhaltung der Verteilungsungleichheit, sogar einer Umverteilung von Arm zu Reich. »Der immense Reichtum des Landes lässt in der Tat keinen anderen Schluss zu, als dass die Unterentwicklung in Brasilien in der extremen Ungleichheit der Lebensverhältnisse beschlossen liegt und dass diese als das Resultat von Machtverhältnissen, politischen Strukturen und politischen Prioritätensetzungen sind. Nicht die ›unsichtbare‹ Hand des Marktes hat diese verheerenden sozialen Resultate hervorgebracht, sondern sehr sichtbare Hände.« (Boekh 2005, S. 144)

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Rassismus und Ungleichheit »The problem of the twentieth century is the problem of the colour line – the relation of the darker to the lighter races of men in Asia and Africa, in America and the islands of the sea.« (Du Bois 1969 [1903], S. 19)

Diese Aussage trifft quasi uneingeschränkt auch noch für das 21. Jahrhundert zu, betrachtet man insbesondere die Strukturen der Ungleichheit, welche auf ethnischen Kriterien beruhen. Tabelle 4: Einkommensniveau nach Hautfarbe in Mindestlöhnen in Brasilien, Salvador und São Paulo (2004) (IBGE – Pesquisa Mensal de Emprego 2004). Brasilien Einkommen

»Weiß«

»Schwarz/

Salvador »Weiß«

Braun«

»Schwarz/

São Paulo »Weiß«

Braun«

»Schwarz/ Braun«

< 140 €

12,0 %

26,7 %

14,2 %

41,0 %

9,5 %

15,6 %

140–280 €

27,2 %

37,2 %

18,4 %

29,3 %

25,0 %

38,6 %

280–420 €

20,1 %

19,1 %

11,1 %

13,4 %

21,4 %

26,5 %

420–700 €

18,4 %

11,1 %

16,1 %

8,6 %

20,1 %

14,3 %

700–1400 €

11,7 %

4,2 %

20,5 %

4,3 %

12,0 %

3,9 %

> 1400 €

10,6 %

1,7 %

19,9 %

3,3 %

12,0 %

1,1 %

Vereinfacht ausgedrückt, kann das soziale Gefälle in Brasilien nach wie vor auf einer Skala der Hautfarbe abgebildet werden: Je weiter unten in der sozialen Stratigraphie, desto dunkelhäutiger sind die Menschen; die Nachfahren der Sklaven besitzen dabei im Vergleich zu Hellhäutigen noch immer keine nennenswerten sozialen wie ökonomische Aufstiegschancen. Diesen Tatbestand der Bildungsungleichheit belegen auch die Tabelle 4 und Abbildung 5. Die Korrelation der Alphabetisierung mit der Hautfarbe zeigt im Durchschnitt doppelt so hohe Werte für die braun- und schwarzhäutige Bevölkerung als für die Hellhäutigen. Insbesondere im Nordosten kann ein Drittel bis ein Viertel der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Würde eine Differenzierung zwischen städtischen und ländlichen Räumen noch hinzugezogen, fiele die Bilanz noch gravierender aus – zu Ungunsten der ruralen Gebiete. Darüber hinaus zeigt sich auch regional eine deutliche Bildungsungleichheit, wobei der Südosten Brasiliens wesentlich bessere Werte aufweist. Ein statistisch angegebener Alphabetisierungsgrad von 91,3 % in Brasilien (IBGE 2010b, S. 233) scheint unter genauerer Differenzierung mehr als fragwürdig zu sein.

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Tabelle 5: Bildungsungleichheit: Analphabetismus und Hautfarbe (in %) (IBGE 2010b, S.233).

Brasilien Nordosten Südosten

»Weiß«

»Braun«

»Schwarz«

5,9

13,4

13,3

14,2

20,6

19,3

4,0

7,6

9,5

Auch sind hinsichtlich des Bildungsniveaus deutliche Differenzen in der ›Farbskala‹ auszumachen. Wird die Dauer des Schulbesuches herangezogen und nach Hautfarbe differenziert, so unterscheidet sich das Bild ganz wesentlich. Nichtweiße gehen im Durchschnitt knapp fünf Jahre in die Schule, wohingegen Weiße über acht Jahre durchschnittlich in Institutionen der Schulbildung verankert sind (Telles 2004, S. 127). So zeigt beispielsweise die Erreichung des 3. Bildungsgrades die Zulassung zur Universität, welche nur von rund 12 % Dunkelhäutigen erreicht wird, wohingegen fast die Hälfte der Weißhäutigen diesen Bildungsstand besteht. Ein Drittel aller dunkelhäutigen Menschen und nur 10 % der weißen Bevölkerungsschicht in Brasilien verlassen die Schule mit dem 1. Grad, welcher lediglich einem basalen Bildungsniveau entspricht. Im Bereich höchster Bildungsqualifikation und damit Einkommen zeichnet ein noch dramatischeres Bild auf der Hautfarbe gründende ungleiche Verteilung: In den 500 größten Firmen Brasiliens sind lediglich 1,8 % der Führungskräfte schwarz (Telles 2004, S. 110). Betrachten wir das Beispiel der zumeist weiblichen Hausangestellten, die so genannten domésticas: Die Emanzipation der Frauen der Mittel- und Oberschicht geht unzweifelhaft zu Lasten der Frauen aus der Unterschicht. Diese haben Kinder und müssen ganztägig arbeiten gehen, um den Unterhalt meist als Alleinerziehende zu sichern. Dabei betreuen die domésticas, aus ökonomischen Zwängen heraus, die Kinder der wohlhabenden Schichten, während die eigenen Kinder in den Favelas vernachlässigt und sich selber überlassen werden müssen. »Die berufliche Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen in der Mittel- und Oberschicht ist nur auf Kosten der Festschreibung der klassischen Frauenrolle in der Unterschicht als domésticas (Hausangestellte) bei den privilegierten Klassen möglich, die diese billigen Arbeitskräfte zur eigenen beruflichen Verwirklichung in hohem Maße nachfragen: bis zu fünf Hausangestellte sind keine Seltenheit.« (Rothfuß & Deffner 2007, S. 215; Herv.i.O.)

Die Hoffnung, dass sich mit der Modernisierung durch Ausweitung der Tätigkeiten im Dienstleistungssektor gleichzeitig auch die Einkommensverteilung gleichmäßiger werden würde, hat sich mitnichten erfüllt. Es zeigte sich auch sine

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qua non, dass mehr Bildung nicht automatisch in höheres Einkommen transformiert werden kann (Rothfuß 2008, S. 24). Der Erfolg einer strukturellen Verringerung sozialer Ungleichheit hängt letztlich auch davon ab, wie viel Macht und Einfluss die obersten 20 % der Bevölkerung an die übrigen Bürger abgeben – also wie hoch das politische und moralische Engagement der Besitzenden ist zu teilen. Wirksam ist ansonsten nur eine Entkoppelung der politischen Macht von den klientelistischen Netzwerken zur oligarchen Elite. Nur diese vermag weit reichende Änderungen durch Gesetzesverordnungen ermöglichen, welche nur mit langem Atem etabliert werden können. Relative Gleichheit kann neben Umverteilung von Kapital und Boden hergestellt werden z.B. über Bildungsexpansion, Gesundheitsversorgung, Aufstiegschancen, Agrarreformen, urbane Förderung und Quotenregelungen (vgl. Drekonja-Kornat 2005). Subtiler Rassismus und der Mythos der »Rassendemokratie« Zweifellos ist anzuerkennen, dass Brasilien im Vergleich zu anderen Gesellschaften, die ebenfalls multiethnisch konstituiert sind, eine enorme zivilisatorische Leistung vollbracht hat, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu integrieren, ohne deren kulturelle Ursprünge zu zerstören. Es entlastet Brasilien von Konflikten, »die in anderen, ähnlich strukturierten Gesellschaften auch und gerade in Europa erheblich politische Energien abfordern« (Boekh 2005, S. 139). Von Freyre (1982 [1933]) wurde diese zivilisatorische Kapazität bereits als »Plastizität« der brasilianischen Gesellschaft charakterisiert. In den 1920er und 1930er Jahren setzte sich das kulturelle Paradigma der Rassenvermischung durch, dessen Hauptvertreter Freyre war. Sein soziologisches Werk Herrenhaus und Sklavenhütte (1982 [1933])hebt den Aspekt der Rassenvermischung in der brasilianischen Geschichte auf positive Weise hervor und beschreibt das Zusammenleben als angespannt, aber ausgeglichen. Freyre stand für die Idee der Rassendemokratie, d.h. für eine Gesellschaft, in der es keine legalen Barrieren gibt, die die soziale Mobilität von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe einschränken. Das 1936 erschienene und ebenso für das nationale Selbstverständnis wegweisende Werk Die Wurzeln Brasiliens von Holanda (1995 [1936]), attribuierte den Brasilianer als einen »herzlichen Menschen«, indem er ihn etwa mit einem gastfreundlichen, warmherzigen und friedfertigen Charakter beschreibt, welcher als kollektivistische Dimension eine »Kultur des Gefallens« entstehen ließ. »Das brasilianische Volk hat ein Herz, wenn es stirbt, verschwindet der Körper in einer Schachtel Streichhölzer und das Herz wandert in einen richtigen Sarg. Also [d.h] er ist sehr sentimental, er ist sehr emotional. Deswegen weil er das nicht hat, weil er sich nicht etwas nimmt [...] er behandelt den anderen nicht schlecht weil er schwarz ist. Es existiert

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Rassismus, der eine normale Form der Trennung ist, aber das ist nicht wie in anderen europäischen Ländern, vor allem nicht wie in den USA.« (2007/6/43)

Hingegen stellte Florestan (1969) ab den 1950er Jahren das Paradigma der sozialen Struktur auf, welches ab Ende der 1970er Jahre unter Carlos Hasenbalg eine soziologische Wendung erhielt und sich in zwei theoretische Hauptströmungen gliedert, die die Rassendemokratie fundamental in Frage stellen. Florestan (1969) argumentiert, dass Vorurteile und Diskriminierung durch rein rassische Beziehungen nicht existieren würden, aber auf Klassenunterschieden beruhten, die in gewissen Umständen wiederum in Form von rassischen Trennungslinien bestünden. »Wir haben kein Rassenproblem. In Brasilien kennen die Schwarzen ihren Platz.« (Gängige Redewendung; zitiert in Telles 2004, S. 139) Die Diskriminierung ist in Brasilien zumeist diffus, unterschwellig und hat vielfältige Manifestationen. Häufig wird auch von wissenschaftlicher Seite argumentiert, dass rassische Ungleichheit einfach das Produkt historischer Ungleichheit sei, verursacht durch die Sklaverei, sodass das Verschwinden rassischer Ungleichheit lediglich eine Frage der Zeit sei. Damit wird postuliert, dass der nichtdiskriminierende Mechanismus der Klassenunterschiede die rassischen Unterschiede verursacht und nicht die Rassendiskriminierung als solche. Jedoch wurde von einigen Seiten die Rassendemokratie und der Glaube, dass Einkommensungleichheit nichts mit Diskriminierung zu tun habe, wesentlich demystifiziert. Als 2003 von der Regierung eine ethnische Quotenregelung bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern und Bildungseinrichtungen (z.B. Studienplatzvergabe an staatlichen Universitäten für nichtweiße Studierende) eingeführt wurde, »kam dies einem öffentlichen Dementi der These von der Rassendemokratie gleich und stellte einen Tabubruch dar« (Boekh 2006, S. 138). Die Mehrheit der diskriminierenden Handlungen ist subtil und wird als solche gar nicht als Rassismus wahrgenommen. Brasilien stellt einen klassischen Fall einer »rassischen Hegemonie« dar, welche die Existenz rassischer Ungleichheit verneint, während sie diese gleichzeitig produziert (vgl. Hanchard 1994, S. 155). Damit zeigt sich, dass die formelle Absenz eines diskriminierenden Rassensystems jenes als informelle Institution verdeckt reproduziert. Es ist demnach eine vorreflexive Naturalisierung der rassischen Hierarchie, die jenseits einer gewollten, offenen und institutionell verankerten Apartheid4 liegt, wie sie etwa die Republik Südafrika bis 1994 strukturierte. Es ist damit eine Art common sense in der brasilianischen Gesellschaft, der häufig insofern in dem

4

Massey & Denton (1993) beschreiben für die USA die Existenz einer »American Apartheid«.

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festen Glauben artikuliert wird, als dass die Schwarzen eben ihren Platz in der Gesellschaft kennen würden. »The general culture disseminates and accepts the idea of racial hierarchy, which Brazilians in turn perceive as natural; this provides them with a logic for understanding and legitimizing the racial order.« (Telles 2004, S. 152)

Dies bestätigen auch Untersuchungen zu den brasilianischen Medien (vgl. Araújo 2000). Das Fernsehen als die wohl wichtigste Institution nationaler Kulturproduktion bevorzugt in aller Regel weißhäutige und blonde Protagonisten. Nach Ansicht des schwarzen Aktivisten Helio Santos könnte man das brasilianische Fernsehen ohne weiteres für schwedisches halten, würde man nur den Ton abstellen. Dabei wird das nationale Fernsehen als europäisch vermarktet, viele Aspekte der brasilianischen Kultur eliminiert und die Überlegenheit der ›Weißheit‹ unverholen gefördert. So fristet entgegen der wichtigen Rolle der afrobrasilianischen Kultur im Alltagsleben der Menschen eine nahezu repräsentationslose Rolle im Fernsehen. Darüber hinaus hat Araújo (2000) herausgefunden, dass in der 50-jährigen Geschichte der telenovelas (Seriensendungen) das anthropologische Konstrukt der »Rassendemokratie« als Amalgam nationaler Identität in den allerseltensten Fällen verteidigt wurde bzw. vertreten war. Zweigeteilte Staatsbürgerlichkeit – Subcidadania Souza (2006) beschreibt für die brasilianische Gesellschaft einen intransparenten und unausgesprochenen klassenübergreifenden Konsens über die Existenz einer zweigeteilten Staatsbürgerschaft. Die Masse der Bevölkerung rekrutiert die subcidadania mit zwar formal gleichen staatsbürgerlichen Rechten, die aber letztendlich nicht zu einer effektiven Umsetzung gelangen. Diese zweigeteilte Staatsbürgerlichkeit liegt seiner Ansicht nach in einem selektiven und unvollständigen Modernisierungsprozess begründet (Caldeira 2000, S. 140ff.). Die komplexen peripher-modernen Gesellschaften, die sich im Zuge westlicher Kolonialexpansion herausgebildet haben, stellen einen neuen Gegentyp zur Zentralen Moderne, z.B. England, Frankreich oder Deutschland dar. Sie haben den westlichen Rationalismus als soziale Formation erst mit den Einwirkungen europäischer Kolonisation erhalten, verinnerlicht und dadurch erst moderne Institutionen konstituiert. In Europa hingegen gingen die Ideen und Ideale der Aufklärung den institutionellen und sozialen Praktiken von Markt und Staat voraus. In Brasilien hingegen fehlte diese Entwicklung durch die Aufklärung, Rationalisierungsprinzipien wurden ohne gesellschaftlichen Wandel implementiert. Dort gingen damit die modernen Praktiken sowie Institutionen, z.B. des europäischen Industriekapitalismus, den modernen Ideen voraus, und damit blieb ein auf Ge-

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rechtigkeits- und Gleichheitsprinzipien basierender bürgerlicher Gefühlshaushalt in allen sozialen Klassen aus. »Damit die Gleichheitsregel gesetzmäßige Wirksamkeit erlangt, ist es notwendig, dass die Auffassung der Gleichheit in der Dimension des Alltagslebens effektiv internalisiert ist.« (Souza 2006, S. 28) Es wird eine außerjuristische Dimension des objektiven, gesellschaftlich geteilten sozialen Respekts wirksam. Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ist nicht Teil des kollektiven Gefühlshaushaltes der privilegierten Klassen. Die meisten Mitglieder der brasilianischen Mittel- und Oberklasse würden zwar niemals ausdrücklich eine Übereinkunft hinsichtlich der effektiven sozialen und juristischen Nichtanerkennung der Unterklasse bestätigen, aber dennoch existiert ein stummer sozialer Konsens durch unsichtbare Netze von Klassensolidarität in Form tiefer subtiler Ressentiments gegenüber der Unterklasse. Damit entbehren die Subalternen, die letztlich nicht mehr Wert besitzen als ein »Hund oder ein Huhn« (Souza 2007a, S. 39), jeglicher positiver und anerkennender Wertung im Kontext der intransparenten Werthierarchie des kompetitiven Marktes. Für die Gesellschaft fehlt somit konstitutiv ein politischer und zivilgesellschaftlicher Lernprozess in der öffentlichen Sphäre Brasiliens. Dieser fehlt letztlich seit der portugiesischen Kolonisation ab 1500 und währt bis in die heutige spätkapitalistische Moderne. Insbesondere stellt sich die konstitutive Frage der Staatsbürgerschaft auch im städtischen Raum, wo in der griechischen Polis, in der »Agora« die öffentliche Sphäre, in der die konsensuelle Aushandlung von Interessen der (männlichen) Stadtbürger stattgefunden hat (vgl. Souza 2006; Korff & Rothfuß 2009a, b). Diese Grundkondition, der Gewährung bürgerlicher Rechte für alle, setzt die universale Anerkennung der Staatsbürgerlichkeit voraus. Dass dieser Konsens keineswegs einen Automatismus der Umsetzung bedeutet, zeigt sich in Brasilien alltäglich. Bookchin (1992, S. 1) bestätigt in ihrem Werk Urbanization without Cities einen »historic decline of the city as an authentic arena of political life […] [and], the decline of the very notion of citizenship«.

U RBANE U NGLEICHHEIT – R ÄUMLICHE N ÄHE UND SOZIALE D ISTANZ Die scharfe räumliche Trennung der sozioökonomischen Gruppen charakterisiert die urbane Strukturierungslogik der Peripherie des Westens. Die seit der kolonialen Stadtgründung historisch bedingten, sozioökonomischen Einheiten wurden weitgehend erhalten, unterlagen aber einem Transformationsprozess bezüglich ihrer räumlichen Positionierung (vgl. Gordilho-Souza 2008, S. 35). Borsdorf,

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Bähr & Janoschka (2002) zeichnen ein phasendynamisches Modell der lateinamerikanischen Stadtentwicklung, das den Anspruch erhebt, diese sich wandelnden urbanen Strukturen zu veranschaulichen und in Phasen zu unterteilen. Das phasendynamische Modell ergänzt bestehende Modelle um neuartige Tendenzen und markiert die Abschnitte der lateinamerikanischen Stadtentwicklung wie folgt: Aus der kompakten Kolonialstadt (1550–1820) entwickelt sich nach der ersten Verstädterungsphase (ca. 1920) eine klar in Sektoren gegliederte Stadt. Am Ende der zweiten Verstädterungsphase (ca. 1970) präzisiert sich eine polarisierte Stadtstruktur (vgl. Deffner & Struck 2007, S. 24), die sich durch eine großflächige Anordnung der Bevölkerungsschichten im urbanen Raum kennzeichnet, in der die privilegierte Oberschicht eine relativ zentrale Wohnlage einnimmt und die marginale Bevölkerung tendenziell am Stadtrand angesiedelt ist (Peripherisierung). Im Zuge der komplexen politischen sowie ökonomischen Veränderungen und der fortschreitenden Einbindung Brasiliens in das globale System verwischten diese großflächigen urbanen Kompositionen zu einem kleinräumigeren Mosaik der Lebensräume, welches sich durch physische Nähe und soziale Distanz kennzeichnet (vgl. Deffner 2007, S. 212) (siehe Abbildung 5).5 Im Allgemeinen spiegeln die sozialräumlichen Schemata im urbanen Raum die Klassenkonstellation in der brasilianischen Gesellschaft wieder, die sich wiederum stark an den ethnischen Strukturen orientiert (vgl. Vasconselos 2002, S. 425ff.; Uriarte 2003, S. 47ff.; auch Santos 2002). Folglich ist das Verständnis von Wertvorstellungen und den sozialen Beziehungen der Bevölkerungsschichten zueinander zur Interpretation der urbanen Raumkonfiguration wesentlich (Uriarte 2003, S. 48). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wohnt der physischen Trennung von Menschen mit unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund eine subjektive Komponente der Wahrnehmung inne, die sich auf deren Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bezieht sowie die Art und Weise, wie sich diese den sie umgebenden Raum aneignet (Galleguillos & Schübelin 2007, S. 259). Diese Strukturierungslogik der sozioökonomischen Hierarchie lässt sich vom urbanen Raum auf die mikroräumliche Ebene des Wohnraums übertragen, wo die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten durch Dienstleitungsverhältnisse, beispielsweise in Form von Hausangestellten (empregadas domésticas, porteiros) aufeinander treffen, die soziale Distanz letztlich jedoch uneingeschränkt bestehen bleibt. Die soziostrukturelle Ethik innerhalb des Wohnraums

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Mertins (2006) kritisiert das phasendynamische Modell, indem er argumentiert, dass die sozialräumliche Fragmentierung zunehmend erst ab den 1990er Jahren eintrete, das Modell jedoch einen Übergang von der Polarisierung zu einer fragmentierten Stadtstruktur bereits ab den 1970ern suggeriere.

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und die des gesamten urbanen Raums werden somit austauschbar (Uriarte 2003, S. 49). Die aufgeführten Transformationsprozesse im städtischen Raum Brasiliens verdeutlichen die Beständigkeit der raumstrukturellen Umsetzung sozialer Ungleichheit. Die sozioökonomischen Disparitäten sind nicht per se für die sozialräumliche Fragmentierung im urbanen Raum verantwortlich, vielmehr werden diese durch die gegenwärtige Dimension segregierter Stadtgebiete akzentuiert. Coy (2007a, S. 58) markiert diese »neuartige[n], im Zeichen von Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung stehende[n] Formen sozioökonomischer und räumlicher Fragmentierungsprozesse zwischen Zitadellenbildung und Ghettoisierung« als wesentliches Kennzeichen der brasilianischen Stadtentwicklung der letzten Jahre (vgl. hierzu auch Wehrhahn 1998 und 2002). Gegenwärtig offenbart sich diese in einer kleinräumig »multi-fragmentierten« (Fischer & Parnreiter 2002) Gestalt mit dezentralen Strukturen (Deffner & Struck 2007, S. 20). Die Verräumlichung der sozialen Exklusionsmuster verschärft sich mit dem zunehmenden Aufkommen der abgeschlossenen Wohnkomplexe und den daraus folgenden Privatisierungstendenzen des öffentlichen Raums. Zusammenfassend kommen die Lebensräume der unterschiedlichen sozialen Schichten einem Mosaik kleiner Lebenswelten gleich, die sich berühren, jedoch nicht durchdringen und somit trotz des dichten Nebeneinanders weitgehend voneinander getrennt bleiben (Uriarte 2003, S. 44).

Abbildung 5: Arm-Reich-Polarisierung im Stadtraum von Salvador da Bahia; © Eberhard Rothfuß (09/2006).

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Die sozialräumliche Segregation drückt sich zum einen durch die Verdichtung der Favelas in zentralen Stadtteilen sowie zum anderen durch die Verlagerung der Armut in die Peripherie der urbanen Agglomerationen aus. Dieser Prozess der sozialen Segregation und Exklusion reicht über die ökonomischen Dimensionen der wohnräumlichen Knappheit hinaus und verschärft sich durch die neoliberalen Mechanismen des Immobilienmarktes. Die Charakteristika der exkludierenden Modernisierung in den Metropolen der Peripherie des Westens können durch Indikatoren wie Informalität, Irregularität, Illegalität, Armut, geringes Bildungsniveau, ethnische Herkunft und insbesondere die Absenz bürgerlicher Rechte beschrieben werden (de Souza 2008). Die Ursprünge der Exklusion haben neben einer ökonomischen und kulturellen Dimension zweifellos auch eine institutionelle (vgl. Kronauer 2008). In diesem Zusammenhang ist in Bezug auf Brasilien die gängige Praxis des Klientelismus und des Populismus zu nennen. Nach Karaos (2006) sind die Abscheu von Institutionen und institutionalisierten Interessenvertretungskanälen wesentliche, gemeinsame Eigenschaften, die Klientelismus, Populismus und Patronagesysteme ausmachen. Auf diese Weise fördern und reproduzieren sie die bestehenden Machtstrukturen und stärken nicht die Bildung von unabhängigen Organisationen mit stabilen Beziehungen zu politischen Institutionen. Stattdessen kultivieren sie die Abhängigkeit der subalternen Gruppen zu Politikern, die die einzige Zugangsmöglichkeit dieser zum politischen System darstellen (Karaos 2006, S. 97). Hinsichtlich der Regierbarkeit des urbanen Raums bergen diese politischen und fragmentierten räumlichen Strukturen große Friktionen. Von wesentlicher Bedeutung ist hierbei die Territorialisierung des segregierten Wohnraumes: In Stadtvierteln der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten übernehmen oftmals Gruppen des organisierten Drogenhandels die Führung, was die dortigen Bewohner unkontrollierte Gewalt, Angst und Kriminalität in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld erfahren lässt. Im Gegenzug verstärkt sich durch die mit der Drogenproblematik verbundene Kriminalität die Selbstsegregation der wohlhabenden Bevölkerung, deren Abschottung in exklusiven Wohnanlagen eine Pseudolösung auf angemessene Distanz darstellt (Galleguillos & Schübelin 2007, S. 263). Diese trennscharfe Territorialisierung des Wohnraums gefährdet die Möglichkeit einer vollbürgerlichen Einbindung der Subalternen in den Stadtentwicklungsprozess. Oftmals sind Bewohnervereine (associações) dazu gezwungen als »Marionetten« von Drogenkommandos zu fungieren, was zusätzliche Schwierigkeiten für deren Einbindung als Interessenvertretung im Rahmen von Favela-Programmen mit sich bringt (de Souza 2004, S. 269f.). Die Gegenwart und der zumeist mediale Diskurs um die Kriminalität in den Favelas tragen wesentlich zu einer Verstärkung von Vorurteilen bei und fördern

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deren Stigmatisierung in Risiko- und Gewalträume. Stigma ist nach Goffman (1979 [1963], S. 13) folgendermaßen definiert: »Ein Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, dass wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von ihm abwenden. […]. Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten.«

Vor dem Hintergrund einer »ökonomische[n] und vor allem soziale[n] Destabilisierung unterprivilegierter und nicht integrierter Bevölkerungsgruppen« (Deffner 2007, S. 209), wird Integration dieser Wohnräume wesentlich erschwert. Als Gründe der Vulnerabilität kann die fehlende Umverteilung des wirtschaftlichen Wachstums sowie nicht existente Redistributionskorrektive des neoliberalen Wirtschaftssystems genannt werden, zudem das Risiko der sozialen Exklusion, welches mit der Prekarisierung der urbanen Lebenshaltungssysteme, Informalisierung und sozialer Unsicherheit einhergeht (Coy 2007b, S. 20). Die gesellschaftlich produzierte Stadt als segregierter Raum erfährt eine Verbindung mit diesen Vorurteilen gegenüber der marginalisierten Bevölkerung und etabliert sich zusehends im kollektiven Unterbewusstsein der Gesellschaft. Die Favelas werden als ausschließlich negative Elemente des urbanen Raums wahrgenommen, mit denen eine Konfrontation vermieden wird, da die dortige Bevölkerung eine Facette der Gesellschaft darstellt, die man bewusst verdrängen möchte. Somit hat die subtile Diskriminierung ihren Ursprung in der sozialen Segregation und ist für deren räumliche Trennung einer Bevölkerungsschicht im urbanen Raum verantwortlich (Sangodeyi-Dabrowski 2003, S. 181ff.). Die sozialräumliche Segregation verschärft sich durch politische Maßnahmen der räumlichen Zuweisung. Dies bedeutet, dass ausgewählte Orte der Armut im urbanen Raum geschaffen werden, beispielsweise durch die Umsiedlung von Favelabewohnern in die urbane und periurbane Peripherie (vgl. Gordilho-Souza 2008, S. 104ff.). In Bezug auf Salvador ist in diesem Kontext das großräumige Stadtgebiet im Norden und Nordosten der Metropole zu nennen, wo der Großteil der sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsschichten lebt. Durch die Politiken der räumlichen Zuweisung, denen die Funktionslogik des kapitalistischen Immobilienmarktes innewohnt, intensiviert sich der Segregationsprozess auf städtischer Skala (ebd., S. 140ff.). Santos (2004) spricht in diesem Zusammenhang vom »geteilten Raum« und bringt damit die Dualität des Raums zum Ausdruck, dem eine selektive räumliche Konstitution im Zuge der Modernisierung zugrunde liegt. Der Raum teil sich in einen »›oberen Zyklus‹ [...] der modern ist und von den Mittel- und Oberklassen dominiert wird, sowie einen ›unteren Zyklus‹«, der als traditionell gilt und den weniger privilegierten Klassen vorbehalten

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bleibt. Die beiden Zyklen funktionieren, so Santos (2004), als zwei Subsysteme im Inneren des urbanen Raumes. Vereinfacht formuliert, handelt es sich um eine rigide Trennung der Lebenswelten von Privilegierten und Unterprivilegierten, die durch verinnerlichte Wahrnehmungsmuster und Bewertungsschemata als naturalisiertes Narrativ vorreflexiv akzeptiert wird. Vom urbanen quilombo zur Favela »O Quilombo é a Favela a Favela é o Quilombo « Quilombo... favela... favela... quilombo. O quilombo? A favela! O quilombo é a favela? A favela é o quilombo? O tempo passou... nada mudou Ou será que piorou? Vá em frente escravo! Esconda-se do chicote do capitão-do-mato. Vá em frente operário! Esconda-se do revolver do soldado. Na senzala escravo estão te servindo angu. No barraco operário sirva-se de osso nu. A abolição escravo será que é a solução? O aumento do salário operário será que diminui a inflação? Por que escravo te chamam de mulato? Por que operário te compram tão barato? Escravo, escravo... vamos! Fuja para o quilombo e encontre proteção. perário, operário... olhe! A saída da favela é a sua ambição. Operário... escravo! Soldados... capitães-domato! O que mudou... nada mudou! Ou será que piorou?O operário simplesmente não passa de um escravo, do passado que não passa, de um presente que se fixa. Socialmente alienados, acomodados e estagnados pêlos burgueses... pêlos soldados... pêlos feitores da

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política. Nessa Casa Grande e Senzala… capitalista.« 6

Das einleitende Zitat beschreibt in untrüglicher Weise eine zeitgenössische Analogie von quilombo und Favela: »Die Zeit ist vergangen. Nichts hat sich geändert. Sklave geh voraus.« Und dennoch gilt unumstritten anzuerkennen, dass die Unterdrückten sich trotz der persistenten Machtverhältnisse in Brasilien zu jeder Zeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten und einer »Geographie des Möglichen« gewehrt und Rechte für sich eingefordert haben. Auch weist der Bundesstaat Bahia eine lebendige Geschichte des Widerstandes der Sklaven gegen ihre Herren auf. Insbesondere die Nagô und die Hausa, Angehörige islamischer Glaubensgemeinschaften, die ursprünglich aus Westafrika verschleppt wurden, unterwarfen sich nicht widerstandslos (vgl. Schmitt 2008, S. 36f.). 1813 ereignete sich einer der bekanntesten Aufstände der Nagô und Hausa in Bahia, als über 600 Sklaven von verschiedenen Plantagen Bahias die Herrenhäuser und Sklavenhütten in Brand steckten (Barros dos Santos 1985) und rund 20 Jahre später sogar die Stadt Salvador einnehmen wollten. Verrat durch Sklaven anderer Religionszugehörigkeit verhinderte jedoch den Erfolg dieses Aufstandes und mündete in Verurteilungen, zu lebenslanger Haft und zur Todesstrafe. Die große Mehrheit der Sklaven Brasiliens reagierte auf ihre menschenunwürdigen und ausbeuterischen Behandlungen nicht nur mit Passivität, Apathie und Resignation, sondern als »Reaktion auf das Sklavenregime zeichnet die gesamte Kolonialzeit eine ununterbrochene Kette von Sklavenaufständen aus, die die gesellschaftliche Ordnung tief erschütterte und sich nicht, wie die offizielle Historiographie lange Zeit glauben machen wollte, auf sporadische vereinzelte Kämpfe beschränkte.« (Schmitt 2008, S. 38)

Die Flucht der Sklaven und ihr kollektiver Widerstand sind sicherlich als dauernde Begleiterscheinungen der brasilianischen Kolonialgeschichte zu werten. Diese Anschauung steht damit in Opposition zu den alltagsweltlichen Erklärungsansätzen der Brasilianer, der Mittel- wie auch der Unterschichten, die den Nachfahren der Sklaven im heutigen Brasilien ihre Agonie, Apathie und Passivität als eine Form des comodismo, der Bequemlichkeit, vorwerfen und diese insbesondere auf die Sklaverei zurückführen und sich die Menschen von dieser Bürde noch heute nicht befreit hätten. »Schau her, hier in Bahia haben wir eine Form der Bequemlichkeit, eine Bequemlichkeit, die aus der Epoche der Sklaverei kommt und von der sich die Menschen bis heute nicht

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www.quilombomoderno.siteonline.com.br/interna.jsp?lnk=22775

128 | E XKLUSION IM Z ENTRUM befreit haben (…). Die Bequemlichkeit der Armen, ich sehe, dass diese Bequemlichkeit bei unseren Armen, unseren im Elend Lebenden; sie erheben sich nicht; sie kommen nicht aus ihrer Misere heraus.« (2007/2/13, 14)

Die ersten Quilombos entstanden in Alagoas, in der Serra da Barriga, im heutigen Palmares, was darauf verweist, dass überall dort, wo es Sklaverei gab auch widerständige Räume, in Form von Fluchtburgen entflohener Sklaven, entstanden sind. Diese Rückzugsräume waren vor allem in unzugänglichen Gebirgsregionen etabliert worden, um den nötigen Schutz vor Sklavenjägern zu gewährleisten. Die Existenz vieler Quilombos war nur auf wenige Monate beschränkt (Hofbauer 1995, S. 129). Palmares ist als der wohl bekannteste Quilombo in die brasilianische Geschichte eingegangen. Dieser entstand bereits im 17. Jahrhundert in den Wirren des holländisch-portugiesischen Kolonialkrieges (1624–1630), der Tausenden von Sklaven die Flucht von den Plantagen im Nordosten erleichterte (ebd., S. 130). In Palmares lebten zeitweise über 30.000 Menschen. Seine starke militärische, in den Grundfesten aber demokratische Organisation, führte zu seinem fast 100-jährigen Bestehen. Das Gesellschaftssystem war kollektiv-wirtschaftlich ausgerichtet: »Alles allen, nichts niemandem.« Erst 1694 wurde mit mehr als 9000 Soldaten gegen die Republik Palmares gekämpft und dieser Quilombo unter seinem letzten König Zumbi endgültig zerschlagen (Hofbauer 1995, S. 131; Hofbauer 1989). Für die Bewegung der Schwarzen im heutigen Brasilien ist Palmares noch immer ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Unterdrückung, Demütigung und Ausbeutung der Arbeitskraft Widerstand und Empörung für einen Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit jenseits von Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht hervorrufen. Zumbi steht symbolisch für den Widerstand und beeinflusste die afrobrasilianische Musikbewegung Afro Ilê Aiyê nachhaltig: »Zumbi wird erst sterben, wenn die Schwarzen ihn umbringen.« (Lopez 1993, S. 49; Schaeber 2003; Herv.i.O.). Heute sind im Bundesstaat Bahia 396 offiziell als Communidades Quilombolas ausgewiesen, was rund der Hälfte aller in Brasilien existierenden entspricht (vgl. SEAGRI 2005). Die brasilianische Verfassung von 1988 hat das Recht der Quilombos auf Land anerkannt. Campos (2007, S. 31 ff.) bezeichnet in seinem Werk Do Quilombo Á Favela die Quilombos als Widerstandsräume in der imperialen Ordnung, die sich auf den modernen Stadtraum in Brasilien übertragen haben. Diese These bestätigt sich in der vorliegenden Arbeit. Es wäre dabei die Frage zu stellen, ob es sich um ein Kontinuum durch Reproduktion von Alltagspraktiken von den widerständigen Rückzugsräumen der entflohenen Sklaven bis heute zu den städtischen Favelas der brasilianischen Metropolen handelt, oder ob es sich um ganz andere widerständige Formen unter Bedingungen des Spätkapitalismus handelt.

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Campos (2007) identifiziert mehrere innere Gemeinsamkeiten von Quilombo und Favela: Beide Räume sind z. T. zumindest städtische Phänomene; ihre territorialen Strukturen und ihre Stigmatisierung sind über Dekaden in ihrer sozialräumlichen Geschichte der Stadt zu vergleichen. Wenngleich die Quilombos fast ausschließlich im ruralen Raum wissenschaftlich untersucht wurden, stellen die urbanen Quilombos akademisch weitgehend eine terra incognita dar. Als umkämpfte Territorien stellten sie zur damaligen imperialen Ordnung zu eliminierende Orte dar, was z.T. jedenfalls noch heute für Favelas zutrifft, die durch Umsiedlungsprogramme in die Peripherie bedroht sind. Sodré (1988) attestiert den Quilombos weniger kriegerisches Resistenzpotential als radikales Mittel des kollektiven Überlebens in einer kommunalen selbstorganisierten Lebensform. Hingegen merkt de Souza (1996) an, dass die kämpferische Widerstandskraft der Quilombolos durchaus bestand und durch eine ausgeprägte abgrenzende Gruppenidentität gegen die »Feinde« genährt wurde. Ein dichtes Netz der Solidarität konstituierte ein starkes Element im taktischen Kampf um Existenzsicherung durch Nutzung urbaner Ressourcen. In einer Komplementarität von taktischer Widerständigkeit und passiver Erduldung der Ungerechtigkeit zeigen sich auch Parallelen zu den empirischen Erkenntnissen über das Alltagsleben in der Favela, weniger in der Form eines empörenden klassenbezogenen Widerstandes gegen die Staatsmacht und die elitären Klassen, als vielmehr sich in partikularen taktischen Manövern gegen die Privilegierten sowie vorreflektierten Praktiken der Kompensation und Verdrängung unter ungerechten Bedingungen äußernd. Die urbane Expansion und die strukturellen Anpassungsschwierigkeiten der Nachfahren der Sklaven führten zu einer tiefen Desintegration im Stadtraum durch grundlegende Probleme sich in das ›freie‹ kapitalistische System ab den 1920er Jahren zu integrieren. Florestan (1969, S. 73) begründet die Verschärfung der Desintegration der ehemaligen Sklaven im urbanen Kontext mit einer Jahrhunderte währenden Verinnerlichung einer Lebensform, die auf Abhängigkeit und Verantwortungsverlust der versklavten Subjekte beruht. Diese verhindert ein notwendiges Umstellen auf selbstverantwortliches und selbstbewusstes Arbeiten in einer individualistischen, auf Kapitalakkumulation basierendene städtischen Ökonomie. Somit verschlimmerte sich nach Abschaffung der Sklaverei die Situation der Schwarzen und Mulatten, da sie die Möglichkeiten und Fortschrittsperspektiven der Stadt in der Moderne für sich nicht nutzen konnten. Florestan (1969, S. 100ff.) attestiert, dass die Schwarzen in der kolonialen Gesellschaft eine zwar subordinante, jedoch überhaupt eine Stellung besaßen, was die dann »Freien« mit der Abschaffung der Sklaverei verloren und die nachfolgende Gesellschaft ihr keine neue Stellung mehr zuwies. Heute bilden die Nachkommen

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der Sklaven die breite Masse der excluídos, der »Ausgeschlossenen«, »Überflüssigen« (vgl. Bude & Willisch 2008; Offe 1996), die »Klasse der Entbehrlichen« (Hillebrandt 2001) der Gesellschaft und nicht mehr der »Ausgebeuteten« zu Zeiten der des Kolonialismus, was paradoxerweise als Privileg anzusehen wäre (vgl. Castells 1990). »Es bildete sich ein Teufelskreis zwischen dem aus der Sklavenhütte und dem früheren Regime übertragenen sozio-kulturellen Erbe und dem permanenten Ausschluss der Schwarzen und Mulatten von den in der städtischen und industriellen Revolution entstandenen Formen des Lebensunterhalts.« (Schmitt 2008, S. 59)

Zur Erklärung dieser permanenten Desintegration der Nachfahren der Sklaven führt Florestan (1969, S. 142) eine Art »Mythologie des Elends, der Promiskuität und der Hoffnungslosigkeit« ins Feld. Seinem Dafürhalten sind insbesondere Gründe für die Verelendung durch Desintegration der unteren Klasse in der Sphäre der Geschlechterbeziehungen, der Sozialisierung der Kinder und der Kontrolle der erwachsenen Generationen, verantwortlich (ebd., S. 143). Das in den städtischen Favelas konstitutive enge Zusammenleben der Menschen spiegelt sich unmittelbar im desorganisierten Geschlechtsleben wider: »Promiskuität setzte sich als andauernde soziale Anomie fest und zeigte Folgen, die das Gleichgewicht des Familienlebens und der Beziehungen der Generationen untereinander unterhöhlten.« (Ianni 1962, S. 55; zitiert in Schmitt 2008, S. 59) Aufgrund der kolonialen Hypothek musste die Anpassung der Nachfahren der Sklaven an den individualistischen urbanen Lebensstil, die Mehrheit daran scheitern. Das Fehlen eines Anerkennungsgefühls und Selbstbewusstseins führte bei den Favelabewohnern zu einem fast gänzlichen Ausbleiben einer konstruktiven, lebensbejahenden und motivierenden Haltung und Wertstellung in der eigenen Gesellschaft, was letztlich weitgehend zu passiv-konformistischen Handlungsrepertoirs führte (Florestan 1969, S. 220). Der rezente bürgerliche Rekurs der mangelnden Leistungsbereitschaft der favelados erlegt damit den ›Schwachen‹ eine doppelte Schuld auf (vgl. eingehend im empirischen Teil die Erkenntnisse einer sozialen Anerkennungsverweigerungen der Mittelschichten den Unterschichten gegenüber). Exklusion im Zentrum: Die Favela als Paria-Raum Der Terminus »Paria«, wie er insbesondere im Deutschen gebräuchlich ist, wird im Sinne von Ausgestoßener bzw. Außenseiter verwendet. Max Weber bezeichnete an mehreren Stellen in Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (2005) [1915–1919] die Juden als ein »Pariavolk: »Das eigentümliche religionsgeschichtlichsoziologische Problem des Judentums lässt sich weitaus am besten aus der Ver-

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gleichung mit der indischen Kastenordnung verstehen. Denn was waren, soziologisch angesehen, die Juden? Ein Pariavolk.« (Weber 2005, S. 745) Auch für Hannah Arendt ist das jüdische Volk ein »Pariavolk« (Benhabib 1991). Die Juden lebten vor dem 20. Jahrhundert außerhalb der Gesellschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert assimilierten sich fast alle Juden im westlichen Europa, wurden aber trotzdem von der Gesellschaft nicht als ebenbürtig anerkannt. Der Paria ist nach Arendt ein Mensch, der wegen seines Andersseins zum Außenseiter gemacht und von der Gesellschaft verachtet wird.7 In den Augen von Arendt stellen die Juden »Staatenlose« dar, die außerhalb der Kategorien Volk, Staat und Territorium stehen. Dieser Definitionslinie folgend erscheint die Wahl des Begriffs Paria für die subalternen brasilianischen Staatsbürger zutreffend. Sie sind zwar formal Teil des brasilianischen Staates, in der effektiven Umsetzung staatsbürgerlich verbriefter Rechte im Alltagsleben kommen die Menschen aus den Favelas doch viel eher »Staatenlosen« gleich, denen diese bürgerlichen Rechte letztlich vorenthalten werden (vgl. Piper 2007, S. 328). Darüber hinaus bilden die Menschen der Favela in foucaultscher Anschauung einen Teil eines Abweichungsdispositivs. Sie werden als menschliche Unterklasse konstruiert, der die soziale Potenz zur Zivilisierung fehlt.8 Es ist also kein auf ethnisch-religiösen Kriterien beruhendes Pariavolk im Sinne Webers und Arendts, sondern eine sozial konstruierte Klasse, wie auch Souza (2006) bestätigt, wenngleich die Kategorie der Hautfarbe schwarz ein wesentliches hegemoniales Ab- und Ausgrenzungskriterium darstellt. Der urbane Mythos datiert die erste Favela in Brasilien an das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Morro da Providencia in Rio de Janeiro stellte den ersten Lebensraum der Menschen dar, die durch urbane ›Säuberungen‹ aus ihren cortiços, den bienenstockartigen Arbeiterbehausungen, vertrieben wurden und Zuflucht an den unzugänglichen Granithängen von Rio de Janeiro fanden. Die moralische Verdammung dieser immens wachsenden Standorte, infolge massenhafter Zuwanderung ab den 1940er Jahren durch Migranten aus dem Landesinneren und dem Nordosten Brasiliens, sollte Jahrzehnte anhalten und aus diesen Räumen reine Problemräume der Unordnung, des Chaos und des Mangels erfolgreich konstruiert werden (vgl. Zalular 1998). Das Phänomen Favela stand im kausalen Zusammenhang in seiner Genese mit der Interaktion mit staatlichen Institutionen und offizieller Politik wie Lanz (2004, S. 35; Herv.i.O.) treffend bemerkt: »Keineswegs waren die favelados da-

7

Nach Arendt verleugnet der Parvenü hingegen unbewusst sein Anderssein, um von

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Der Stadtsoziologe Wacquant bezeichnet in ähnlicher Intention die urbane Unterklas-

der herrschenden Gesellschaft anerkannt und respektiert zu werden (Piper 2007). se in den USA, Brasilien und Frankreich als »Parias urbains« (2006).

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rin wehrlose Opfer: allmählich hatten sie feinmaschige communidades gebildet, die der ihnen feindlich gestimmten Gesellschaft listreich trotzten.« Die Widerständigkeit der Favelabewohner von Rio de Janeiro äußerte sich darin, sich bereits ab Mitte des 20. Jahrhunderts gegen Räumungen und Umsiedlungsmaßnahmen zu wehren, indem Vereinigungen gegründet wurden. »Häufig kompensierten Favelados ihr mangelndes politisches Drohpotential auch mit subtilen Maßnahmen. So tauften sie neu entstandene Favelas auf offiziell klingende oder an Prestige gekoppelte Namen, um Stigma und Räumungsgefahr zu bannen.« (Lanz 2004, S. 37)

Ein Beispiel hierfür wäre der complexo alemão, der »deutsche Komplex«, eine Favela in Rio de Janeiro. Die extremen sozialen urbanen Gegensätze im strukturellen Ausdruck des dichten Nebeneinanders von Favela und asfalto sind offensichtlich. Asfalto bezeichnet alle formellen Stadträume jenseits der Favela. Der Aspekt, welcher die soziale Realität Favela am meisten determiniert hat, ist die Illegalität ihrer Entstehung, weshalb sie auch als »informelle« Stadt (vgl. Ventura 1994) oder »Cidade [i]legal« (Valença 2008) bezeichnet wird. Pfeiffer (1987) stellt treffend fest, dass es bereits bei der Entstehung der Favela nicht nur den illegalen Status gab, sondern viele pseudolegale oder paralegale Zwischenformen. Die Praktik, dass ein oder mehrere Familien Land ohne das Wissen des Besitzers für sich einnehmen, ist die bekannteste. Viele Pseudo-Besitzer, so genannte grilheiros oder Eigentümer von wertlosen Grundstücken, wie z.B. Sumpfgebieten nutzten die Situation aus, indem sie fremde Eigentumsrechte an Grundstücken verpachten oder verkaufen. Die Favelabewohner haben dabei kaum Chancen gegen die internen und externen Ausbeutungsverhältnisse vorzugehen. Dies verschafft ihnen zwar den Vorteil der Steuerfreiheit, jedoch ebenso eine Vielzahl von Nachteilen. Ökonomisch gesehen können sie ohne einen legalen Mietvertrag kein offizielles Gewerbe anmelden und damit keinen Finanzierungskredit bei einer Bank beantragen, da sie ohne einen Vertrag juristisch ›nicht existieren‹. Von Seiten der Polizei und der Gerichte erwartet sie statt Hilfe gegen die Ausbeutung aufgrund des illegalen Status eher zusätzliche Repression. Aus dem gleichen Grund fühlten sich die städtischen Versorgungsunternehmen lange Zeit nicht zuständig, für Infrastruktur und die Grundversorgung mit Strom, Wasser und Abwasser in den Favelas zu sorgen. Diese räumliche Exklusion verursacht wiederum eine soziale Exklusion, so dass die Favelabewohner asymmetrisch in die Gesellschaft integriert sind, indem sie ungesicherte Arbeitsverhältnisse eingehen müssen. Der illegale Status, degradiert die Favelabewohner zu Bürgern »zweiter Klasse« und reproduziert ihre Stigmatisierung als marginais oder excluídos. Die Konsequenz daraus ist eine Benachteiligung genereller Lebenschancen (Kreckel

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2004). Diese gesellschaftlichen Auswirkungen der Illegalität führen dazu, dass eine alleinige juristische Legalisierung des Bodens, wie sie in Programmen wie Favela-Bairro vorgesehen ist, nicht ausreicht, um die Favelabewohner zu rehabilitieren (Pfeiffer 1987, S. 75). In der Studie von Perlman (2004; 2005) über den »Mythos der Marginalität« im Kontext der Favelas von Rio de Janeiro erscheint mit 84 % das Stigma des Wohnortes noch vor der Hautfarbe, Erscheinung, Herkunft und Geschlecht als das am stärksten prägende Merkmal. Darüber hinaus gibt ein Großteil der Befragten an, dass sie sich heute stärker ausgeschlossen fühlen als in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zwar haben sich die Wohnbedingungen, Transportoptionen, sanitäre Anlagen und der Zugang zu Bildung verbessert, nicht jedoch die Qualität der Ausbildung, die Gesundheitsversorgung, die persönliche Sicherheit und die ökonomische Situation (Perlman 2005, S. 12f.). Den Ärmsten und auch der verarmten Mittelschicht bleibt oftmals nur der Ausweg in die Informalität, nicht zu verwechseln mit der Klandestinität, welche den Drogenhandel, Waffen- und Elektroschmuggel umfasst, um gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe durch Zugang zu Arbeit, Wohnung, Konsum und Freizeit zu erlangen. Viele arbeiten als empregadas oder porteiros in den Haushalten der Besserverdienenden was zu wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen der »informellen« und der »formellen« Stadt führt (Blum 2004, S. 47). Dabei fällt die Diskrepanz zwischen dem Anvertrauen von privaten Angelegenheiten im Haushalt und der Stigmatisierung der Favelabewohner allgemein ins Auge. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass von Seiten der hegemonialen Diskursmacht des Staates und der etablierten Klassen, die von jeher die Medien dominierten, eine Zuschreibung der Favelas als illegale Stadträume, hervorgerufen durch ihre institutionelle Illegalität, infolge ihrer informellen Landbesetzung, erfolgte. Dieser Diskurs definiert die Favelas wesentlich stärker als deren städtebauliche oder soziale Dimension und stigmatisiert die Bewohner damit wirkmächtig zu einer zweitklassigen Staatsbürgerlichkeit. Ab den 1960er Jahren wurde von staatlicher Seite aus versucht, viele Favelas zu räumen und die Bewohner mit subventionierten Wohnungsbaukomplexen in der urbanen Peripherie zum günstigen Erwerb zu ködern, um diese an die bürgerliche Norm ›anpassungsfähig‹ zu machen. Happe (2002) beschreibt für Rio de Janeiro, dass bis in die 1970er Jahre 80 Favelas mit rund 140.000 Einwohner geräumt wurden und in 35 Wohnkomplexen in den nördlichen Vororten der Stadt umgesiedelt wurden. Diese Maßnahmen verringerten jedoch keineswegs die Quantität der Favelabevölkerung. Ganz im Gegenteil zeigte die Statistik der 1970er Jahre einen Anstieg der Bewohner von Favelas um ein Drittel (ebd., S. 200) was deren Widerständigkeit im Sinne eines Willens um ein Recht auf

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(Innen-)Stadt unterstreichen sollte. In den weiteren Dekaden der 1980er und 1990er wurden Umsiedlungsprojekte weniger, und durch den Stadtentwicklungsplan von 1991 wurde das ›Durchhalten‹ der Favelados mit einem verbrieften Urbanisierungsrecht ›belohnt‹, was zu einer planungs- und finanztechnisch abgesicherten Grundlegung der Stadtplanung führte und woraus dann auch das bekannte Sanierungsprogramm Favela-Bairro hervorging. »Die Favela hat gesiegt und die historisch eingeschränkte, hierarchisierte und fragmentierte Form der Bürgerschaft von Favelados ist zumindest heftig erschüttert. Die zentrale Differenz vom morro zum asfalto liegt heute weniger in in seiner allmählich schwindenden Illegalität als im dort herrschenden Regime der Gewalt: Formale Legalität bedeutet eben noch lange keine faktische Herrschaft des Rechtsstaates.« (Lanz 2004, S. 48; Herv.i.O.)

Insofern kann Lanz (2004) sicherlich zugestimmt werden, dass die Favela im Kampf um ein städtisches Bleiberecht in Brasilien zwar gesiegt hat, dass das Recht auf urbanes Leben für alle, im Grunde unanfechtbar geworden ist, jedoch die Favelabewohner seit rund zwei Dekaden mit einem sehr großen internen Problem der Drogengewalt zu kämpfen haben und sich ihre Lebenswelt aufs Neue fundamental zu destabilisieren droht. Mit der Ausdehnung des Drogenhandels seit den 1970er Jahren durch den Übergang vom Handel mit Marihuana zu Kokain und von den leichten Waffen, wie dem Revolver 38, zu schweren und modernen Waffen, wie z.B. dem Maschinengewehr AR-15, nahm auch die Gewalt in den Favelas zu (de Souza 2004, S. 23f.). Erneut ist es der semi-legale Status der Favela, welcher sie zu einem attraktiven Drogenumschlagsplatz für die Kartelle macht (Zalular 2002a;b). Einerseits sind sie aufgrund ihrer geografischen Lage, durch die Ansiedlung vieler Favelas an unzugänglichen Hanglagen sowie ihrer räumlichen Besonderheiten wie den engen Gassen und den labyrinthartigen Wegen optimale Verstecke, anderseits bilden die Armut und die Vernachlässigung der Favelabewohner durch den Staat ideale Voraussetzungen für die Drogenbosse, um sich mit ›Wohltaten‹ die Loyalität und den Schutz der Bewohnerinnen und Bewohnerzu erkaufen. Die Beziehungen zwischen diesen sind dabei sehr ambivalent und wechseln zwischen Paternalismus und Tyrannei. Kleine Verbrechen oder der Bruch des lei de silêncio, des Schweigegelübdes, werden mit harten abschreckenden Strafen geahndet, um den Drogenhandel nicht zu gefährden und um für Ordnung und Kontrolle in der Favela zu sorgen (De Souza 2004, S. 28). Besonders für männliche Jugendliche übt der Eintritt in den Drogenhandel, den trafico jedoch eine große Anziehungskraft aus, da sie so soziale und symbolische Macht erlangen, bei den Frauen beliebt sind und mehr Geld verdienen als mit den meisten anderen möglichen Arbeiten. Auch das extreme Ausmaß der Gewalt und der Krieg zwischen

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den vier großen Drogenkartellen in Rio de Janeiro und der Militärpolizei, welche schon in nachgebauten Favelas trainiert, kann sie davon nicht abschrecken. Für 60 % der Favelabewohner sind jedoch heute die Gewalt und Kriminalität die Kriterien, die sie am meisten am Leben in Rio de Janeiro stören, während 1969 nur 16 % diese Meinung teilten und die Sorge um die Räumung und Umsiedlung durch die Regierung an erster Stelle standen (Perlman 2005, S. 21). Infrastrukturprogramme förderten die Formalisierung der Favelas als öffentliche Räume in der Außenperspektive und bewirken dadurch, dass die Macht der traficantes eingeschränkt wurde und sie nicht mehr bewaffnet durch die Favela gehen (Blum 2004, S. 54f.). Um dies zu erreichen, mussten sich die beteiligten Akteure allerdings mit verschiedenen Arten des Widerstandes von Seiten der Drogenbosse auseinandersetzen, die von Einschüchterungen über Störungen bis zu Schussgefechten reichten. Auch die Bewohnergemeinschaften (associações de moradores) werden zum Großteil von den Drogenbossen kontrolliert, beeinflusst und von ihnen oftmals als legitime Fassade und logistischer Stützpunkt missbraucht (De Souza 2004, S. 29). Dass dies mit Billigung des Staates geschieht, macht einmal mehr deutlich, wie schwierig es ist gegen den Drogenhandel vorzugehen, wenn für korrupte Polizisten und die Politiker ein Anreiz besteht, die vorhandene Ordnung aufrecht zu erhalten, weil sie selbst davon profitieren. Sogar Kirchen, vor allem die Pfingstkirchen, sind in den Drogenhandel involviert und dienen den Drogenhändlern neben Apotheken und Kosmetiksalons zur Geldwäsche. Im Kontext der Vorbereitungen zur Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Spielen 2016 erfolgt eine neue Welle gouvernementaler Stadtpraktiken, insbesondere an den Austragungsorten. Eine eigens ausgebildete Einheit, die Unidade de Polícia Pacifadora (UPP) setzt sich seit 2008 mehr und mehr in den Favelas von Rio de Janeiro fest, um die Lebenswelten dort unter staatliche Kontrolle zu bringen. Dass der Staat Sichtbarkeit und Durchsetzungswillen zeigt, ist unzweifelbar, stürmten im November 2011 rund 3000 Militärpolizisten im Rahmen der »Operation Friedensschock« die Favela Rocinha (Spiegel 2011b). Differenzierung unterprivilegierter urbaner Viertel In Brasilien werden benachteiligte und unterprivilegierte Viertel häufig als Favela bezeichnet. Der Gebrauch des Begriffes Favela durch stetige Benennung führt unzweifelhaft zu einer Reproduktion des mit ihm konnotierten Stigma des Unortes und trägt damit nicht unerheblich dazu bei, dass diese Stadträume – neutral als Arbeiterviertel zu bezeichnen sind – auch durch das akademische Feld in einen diskursiven Prozess des Otherings eingebettet und zugeschrieben werden. Dessen ist sich der Autor bewußt. Dennoch erschien das Benennen als

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notwendige Praktik sinnvoll, um das urban Ungleiche und Ungerechte nicht mit beschönigenden und neutralisierenden Termini wie etwa bairro popular (Serpa 2007a) oder bairro humilde (»bescheidenes Viertel«) zu verstecken. Und dennoch bleibt bei dieser Entscheidung ein gewisses Unbehagen zurück. Fabricius (2007, S. 36) argumentiert, dass nur wenige generelle Aussagen über Favelas zu machen sind, »gleichgültig, ob es ihre Größe, ihre Typologie oder Form, das Einkommensniveau der Bewohner, deren Alter oder die Qualität der Favela als Gemeinschaft betrifft«. Zentral ist jedoch, dass die »organisatorische Zelle der Favela« (ebd.) eine in reiner Eigenarbeit errichtete Struktur einer Einzelfamilie darstellt, aus dieser kleine als auch große Gemeinschaften entstehen können und die »nach dem scheinbar immer gleichen, monotonen Prinzip« errichtet werden und dennoch jedes erbaute Haus ein Unikat darstellt. Dem Raum Favela daher eine einheitliche Definition überstülpen zu wollen, ignoriert damit die Vielfältigkeit der dortigen Lebenslagen und weist letztlich zu starke Verallgemeinerungstendenzen auf. Nichtsdestotrotz bleiben allgemeine strukturelle Definitionen persistent, die meist auf das Nichtvorhandensein bestimmter Merkmale und Indikatoren fokussieren. Den durchaus pluralistischen Lebensraum Favela pauschal auf die Kategorie Armut zu reduzieren, würde das ihm anhaftende Stigma lediglich bestätigt, den Erkenntnisgewinn wesentlich schmälern und die Realität verzerren (vgl. Deffner 2008, S. 27). Dem Stadtraum Favela liegen zahlreiche Deutungen zugrunde, wie auch die qualitativen Interviews der vorliegenden Arbeit zeigten: Bewohner nehmen das dem Begriff Favela anhaftende Stigma deutlich wahr und vermeiden die Bezeichnung Favela für den eigenen Lebensraum daher oftmals. Zur eigenen Abgrenzung bezeichnen sie aber andere, in der Nähe gelegene Viertel als Favela. Weitere, alternative Bezeichnungen des Lebensraums sind. Nichtsdestotrotz bleibt die Bezeichnung Favela ein häufig verwendeter Begriff, der auch im Namen von Institutionen auftaucht, so gibt es beispielsweise in Rio de Janeiro das Favela-Observatorium (Observatório de Favelas do Rio de Janeiro) oder das prominente Sanierungsprojekt der urbanen Peripherie in Rio de Janeiro Favela Bairro (vgl. Dietz 2000). Vor dem Hintergrund scharfer Vorurteile einerseits und der oben genannten Vielfältigkeit dieses Lebensraumes andererseits findet der Begriff Favela hier eine wertneutrale Verwendung. Im allgemeinen, öffentlichen Sprachgebrauch wird für Quartiere mit diesen Eigenschaften der Begriff Favela verwendet, welcher »informelle Siedlungen [bezeichnet], die sich zumeist in zentralen städtischen Lagen der brasilianischen Großstädte befinden. […] Favelas sind infolge ihrer mehr als einhundertjährigen Entwicklungsgeschichte gewachsene und in ihrer Mehrheit städtebaulich akzeptierte und institutionalisierte Marginalräume, denen heute kaum mehr der Charakter des

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Spontanen anhaftet. Wenngleich sie sich städteräumlich betrachtet nicht immer ›am Rande‹ befinden, so sind ihre Bewohner es gesellschaftlich gesehen dennoch, was die Bezeichnung Marginalviertel unverändert rechtfertigt. Bewohner sind dies jedoch gesellschaftlich« (Deffner 2008, S. 29).

Favelas gelten demnach als ganz eigener Typus konsolidierter Marginalviertel mit spezifischen Charakteristika. Wie bereits veranschaulicht wurde, bevorzugen die Bewohner dieser Lebensräume meist die Bezeichnung bairro popular, da der Begriff Favela meist mit Armut und Misere assoziiert wird und ihnen das Stigma inhärent ist. Die bloße Reduktion der beiden Quartiere auf die Kategorie der strukturellen Defizite ist jedoch problematisch, da dieses durchaus pluralistische Umfeld auch ein Raum der Möglichkeiten und Chancen darstellt (Deffner 2008, S. 47f.). Handelt es sich bei Favelas um Räume des Möglichen, so produzieren die Bewohner alltäglich ihre eigene Geographien des Möglichen unter aufgezwungenen Bedingungen. Favelas, die »illegalen« Städte in der scheinbar »legalen« Stadt sind unabhängig ihrer negativen Konnotation zutiefst produktive und innovative Räume, die zur Existenzsicherung von rund einem Drittel der brasilianischen Stadtbevölkerung beitragen (Blum & Neitzke 2004). Denn die Favelabewohner verändern diese Zuschreibungen und Zuweisungen auf sie und ihre Lebensräume auf eine ihnen mögliche Art und Weise. Der sozialwissenschaftliche Blick sollte sich daher von den objektiven Strukturen und zugewiesenen Diskursen abwenden und den Alltagspraktiken zuwenden. Denn das Quartier beschränkt sich eben nicht auf eine materiell-physische Dimension, sondern formt seinen räumlichen Eigensinn durch die symbolische Zuordnung dessen Bewohner sowie deren soziale Beziehungen, Interaktionen und eigenen Handlungsrationalitäten. Es ist notwendig diese soziale Realität anzuerkennen und den Alltag der Bewohner zu verstehen, um eine rein strukturelle und instrumentelle Charakterisierung dieser Lebensräume zu überwinden.

Salvador da Bahia

Salvador da Bahia war von 1549 bis 1763 die erste Hauptstadt Brasiliens und ist eine der ältesten urbanen Regionen Lateinamerikas. Die Metropolitanregion von Salvador ist heute die drittgrößte brasilianische Stadt nach São Paulo und Rio de Janeiro (vgl. Gordilho-Souza 2008, S. 38). Mit 3,78 Mio. Einwohnern ist Salvador nicht den Megacities zuzuordnen, dennoch kommt der Metropole eine wesentliche Bedeutung im Nordosten des Landes zu. Der Bundesstaat Bahia, dessen Hauptstadt Salvador ist, weist eine Bevölkerungszahl von 14,7 Mio. Einwohnern auf (IBGE 2010b, S. 35).

Z UR G ESCHICHTE UND S TRUKTUR S KLAVENMARKTES

EINES EHEMALIGEN

Am 1. November des Jahres 1501, es war der Allerheiligentag, entdeckte der Seefahrer Amerigo Vespucci ein Jahr nach der Entdeckung Brasiliens durch Pedro Álvares Cabral eine günstig und strategisch gelegene geschützte Bucht, die fortan Baia de Todos os Santos – Bucht der Allerheiligen – heißen sollte (Tavares 2001, S. 47). Jedoch erst im Jahre 1531 landete der erste Gouverneur Martim Afonso de Sousa an der Stelle der heutigen Unterstadt von Salvador mit dem Auftrag der portugiesischen Krone, Brasilien zu besiedeln und zu kolonisieren. Tomé de Souza, erster Generalgouverneur Brasiliens, gründete dann 1549 Salvador als Hauptstadt der Zentralcapitania Bahia de Todos os Santos mit einem Heer von Verwaltungsbeamten, Baumeistern, Handwerkern und Priestern, die diesen Ort planen, bauen und missionieren sollten (Risério 2004). Salvador war seit 1551 wichtigster Endpunkt des transatlantischen Sklavenhandels der portugiesischen Krone. Die Verschiffung und Versklavung von rund fünf Millionen Afrikanern (Delacampagne 2004, S. 319) vornehmlich von der Guineaküste Westafrikas sowie Angolas zu den Zuckerrohrplantagen in der Küstenzone Nordostbrasilien, der Zôna da Mata, ließ Salvador zur weltweit größten

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Stadt auf der Südhemisphäre werden. Sie war damals die bedeutendste Hafenund Handelsstadt der östlichen Atlantikküste mit einer blühenden und exportorientierten Landwirtschaft (Zuckerrohr, Kakao) und repräsentiert heute im kollektiven Gedächtnis weiter Bevölkerungsschichten die eigentlich »authentische« und »traditionelle« brasilianische Identität (Augel 1991). Inmitten dieser über 200 Jahre lang einflussreichsten Stadt südlich des Äquators entstand die Cidade Alta, die Oberstadt als das Herz kolonialbarocker Architektur (Santos 1957). Noch heute zeugen die prunkvollen Herrenhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die ehemaligen Residenzen des städtischen Adels- und Großbürgertums und die Stadtsitze der Zuckerbarone des Recôncavo (das Hinterland von Salvador um die Allerheiligenbucht) vom einstigen Reichtum, der erst durch die Ausbeutung tausender Plantagen- und Haussklaven möglich wurde.1 Eingeleitet durch den ökonomischen Niedergang in Nordostbrasilien begann im Stadtzentrum von Salvador ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein massiver Transformationsprozess der baulichen und sozialen Degradierung: Die Oberschicht kehrte dem Stadtzentrum den Rücken, ihre Residenzen wurden vermietet, räumlich aufgeteilt und in der Folgezeit nach und nach von Unterschichtgruppen übernommen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die historische Altstadt durch Straßenhandel, Gewerbe und Prostitution geprägt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fand die sozialräumliche Segregation innerhalb der Gebäude statt, in welchen die Bewohner verschiedener sozialer Klassen hierarchisch nach Einkommen auf verschiedenen Stockwerken lebten. Mit der Exklusion der ehemaligen Sklaven aus dem bestehenden Wohnraum und der Erschließung des Gebiets südlich des traditionellen Stadtzentrums (Garcia, Canela, Vitória, Barra), das insbesondere durch Familien des historischen Zentrums und hinzugezogene Großgrundbesitzer besiedelt wurde, begann ein sozioökonomischer Segregationsprozess auf stadtteilbasierter Ebene. Der neue, südlich gelegene urbane Wohnraum für die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten leitete eine schrittweise Entstehung von Elendsvierteln, den so genannten cortiços (»Bienenkörben«) ein, die sich vorerst in östlicher Richtung um das traditionelle Zentrum bildeten und sich mit der Errichtung erster Fabriken schließlich im nördlichen Stadtgebiet zu konzentrieren begannen. In der Folge dieses ersten industriellen Zyklus entstanden Arbeiterquartiere, die so genannten vilas operárias, als neuer Wohntyp für die lohnabhängige Arbeiterklasse.

1

Es handelt sich um ein kolonialhistorisches Demarkationsgebiet, das 1986 von der UNESCO zum Welterbe der Menschheit deklariert wurde, was folgenschwere Auswirkungen für die Urbanität des Viertels haben sollte (vgl. Struck 2008).

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Auch wenn sich die strukturellen Wandlungen im Rahmen einer zunächst günstigen Wirtschaftslage Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen, die zu urbanem Wachstum und einer verbesserten Zirkulation innerhalb der Stadt durch öffentliche Transportmittel führten, blieben für einen Großteil der Bevölkerung Stagnation und Chancenlosigkeit an urbaner Teilhabe die Regel. Zur Wende des 20. Jahrhunderts konnten rund 90 % Einwohner der damals etwa 200.000 Bewohner Salvadors aufgrund des kolonialen und auf Sklavenwirtschaft basierenden Erbes als arm eingestuft werden. Diese Bevölkerungsschicht lebte dicht gedrängt und segregiert in Nachbarschaften mit defizitärer Infrastruktur und unter prekären hygienischen Lebensbedingungen (Gordilho-Souza 2008, S. 86f.). »Vom funktionellen Standpunkt aus betrachtet und aufgrund der hygienischen Verhältnisse, ergab sich zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit, die Stadt in unterschiedliche Sektoren zu unterteilen, womit ein spürbarer Verlust der sozialen Mischung einherging. Die ersten Anzeichen der Urbanisierung stellen auch den Beginn der politischen Interventionen und öffentlichen, punktuellen Investitionen dar. Richtlinien zur Grundstücksparzellierung und Bebauungsplänen wurden jedoch erst in den 1920er Jahren implementiert«. (Gordilho-Souza 2008, S. 94)

Die Migrationsströme aus dem ruralen Binnenland in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts führten zu einer dynamischen urbanen Expansion entlang der NordSüd-Achse der Halbinsel (Andrade & Brandão 2009, S. 77). Insbesondere im Norden kam es zu einem rapiden Anwachsen der armen Wohngegenden. Die kollektiven Besetzungen (invasões) des bisher nicht besiedelten Stadtraums intensivierten sich. Der Besiedelungsgang entlang der südöstlichen Atlantikküste vollzog sich langsam, beschleunigte sich jedoch zwischen den Vierteln Barra und Rio Vermelho durch den Bau der Avenida Oceânica (Gordilho-Souza 2008, S. 94f.). Die Industrialisierung erhielt in Salvador und des urbanen Umlandes in einem zweiten Zyklus ab Mitte des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse und stellte den Beginn profunder und struktureller Veränderungen des städtischen Raumes dar. Die Schaffung neuer industrieller Pole durch Petrobrás im Industriezentrum von Aratu (Centro Industrial de Aratu, 1967), durch den Industriellen Petrochemischen Komplex von Camaçari (Pólo Industrial de Camaçari/Complexo Petroquímico de Camaçari, 1978) führte nach Andrade & Brandão (2009, S. 82) zu einer neuen Migrationswelle (vgl. Carvalho 1997, S. 23ff.). Dennoch wies der formelle Arbeitsmarkt nicht ausreichend Kapazitäten auf, um das immense Kontingent an arbeitsuchenden Migranten aufnehmen zu können. Durch den akuten Wohnraummangel intensivierten sich die innerstädtischen ›Invasionen‹ und es entstanden neue Favelas. Folgende Abbildung 6 liefert hierzu ein raumzeitliches Muster der Ausbreitung von Favelas im Stadtraum von Salvador.

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Abbildung 6: Raumzeitliches Ausbreitungsmuster der Favelas in Salvador (Gerhard & Rothfuß 2009, S. 42). In der Folge begann sich der bestehende Wohnraum der marginalisierten Bevölkerung stetig zu verdichten und zu vertikalisieren. Dies gilt insbesondere auch für die zentralen Lagen, in denen ökonomische Lokalisationsprofite im informellen Sektor die Attraktivität der Favelas steigerten. Vor diesem Hintergrund wurden politische Maßnahmen ergriffen, die die Eliminierung von Favelas zum Ziel hatten und eine Umsiedlung der dortigen Bewohner in die urbane Peripherie vorsahen. Dieser Umstrukturierungs- und Verdrängungsprozess konsolidierte die sozioökonomische Segregation im urbanen Raum. Die Peripherie im Norden der Stadt zeigt sich heute noch in der Gestalt eines prekären Stadtumfeldes, in welchem viele Menschen in unwürdigen Wohnverhältnissen leben müssen und durch die Distanz von den Gewinnen im innerstädtischen Raum weitgehend ausgeschlossen sind. Im Zuge der industriellen Modernisierung diversifizierte sich die monozentrische Struktur Salvadors durch die Implementierung neuer Zentren außerhalb des historischen Stadtzentrums. Durch die verbesserten Zugangsmöglichkeiten über innerstädtische Verbindungsstraßen ab den 1970er Jahren erlangte etwa das Stadtgebiet Iguatemi als neues Dienstleistungszentrum wesentlich an

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Bedeutung. Mit der Fertigstellung der mehrspurigen Avenida Paralela, der Etablierung des Verwaltungszentrums des Bundesstaates Bahia (Centro Administrativo da Bahia, CAB), des überregionalen Busbahnhofes (Rodoviária Intermunicipal e Interestadual) und des ersten Einkaufszentrums in Salvador (Shopping Iguatemi) entstanden Infrastrukturen und Arbeitsplätze, die zur Herausbildung weiterer Subzentren um Iguatemi führten (Vasconselos 2002, S. 389). Die Haupttransportvektoren der öffentlichen Verkehrsmittel, welche ursprünglich das traditionelle Zentrum mit den neuen Wohngebieten verbanden, wurden in Richtung des Nordvektors und des sich neu herausbildenden Kerns um Iguatemi verlagert. In den 1980er Jahren dynamisierte sich die Immobilienwirtschaft, der Finanzsektor entwickelte sich und der Binnentourismus wie Globaltourismus begannen sich im Zuge des industrialisierungsbedingten Aufstiegs einer neuen sozialen Klasse mit Konsumpotential stark zu entwickeln. Ab diesem Zeitpunkt und durch neue Projekte werden tourismusbasierte Gentrifizierungsprozesse in verstärktem Ausmaß deutlich (vgl. Rothfuß 2007, S. 42; Gordilho-Souza 2008, S. 32; Castro 2000). Ein markantes Beispiel hierfür ist das historische Zentrum Pelourinho, dessen vorwiegend der marginalen Bevölkerungsschicht angehörenden Bewohner gezwungen waren, dem umfangreichen Restaurationsprojekt zu weichen, das die Schaffung eines kulturtouristischen Konsummarktes als »entertainment machine« (Lloyd & Clark 2001) intendierte (vgl. Zanirato 2007, S. 39ff.). Unter dem Vorzeichen von Privatisierung, Kapitalisierung und Neoliberalisierung zog sich der Staat ab den 1990er Jahren mehr und mehr aus der Wohlfahrtsund Sozialpolitik zurück und verlagerte öffentliche Investitionen auf urbane Projekte zur Revitalisierung des atlantischen Küstenstreifens oder der zentralen Stadtquartiere, womit eine Exklusion der armen Bewohner durch ausgeprägten Mietkostenanstieg in den revitalisierten Stadtteilen einherging. Sofern die weniger wohlhabenden Bevölkerungsgruppen in zentraler Lage nicht von Gentrifizierung betroffen waren, die ihre Umsiedlung in die urbane Peripherie erzwangen, blieb die Trennung ihrer Lebenswelt von jener der Oberschicht, die sich zunehmend in abgeschlossenen Wohnanlagen (condomínios verticais und horizontais) isoliert, dennoch erhalten (vgl. Gordilho-Souza 2008, S. 32f.). Im Zuge eines starken Revitalisierungs- und baulichen Aufwertungsprozesses des Comércio fanden fundamentale Veränderungen in der Unterstadt von Salvador statt. Der Comércio mit vorgelagerter Hafenanlage verdankte seine Dynamik in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Kapitalströmen aus dem Handel mit Kakao und Tabak und wurde in der Folge ›Opfer‹ der kapitalistischen Logik, da sich der Wachstumspol in das neue Zentrum um Iguatemi verlagerte und dort eine neue Dienstleistungs- und Konsumlandschaft geschaffen wurde. Der Comércio fiel mehr und mehr brach, er blieb aber Lebensraum für rund 2000

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Bewohner der Unterschicht, die in den z.T. baulich sehr degradierten Stadthäusern aus dem 19. Jahrhundert, eine Existenz zumeist im Straßenhandel führen und den zentralen Lagevorteil der Unterstadt nutzen konnten (IBGE 2000). Durch die Revitalisierung, ein positiv konnotierter Begriff, der Verdrängungsprozesse sozial schwächerer Gruppen letztlich unsichtbar macht, hat sich das Stadtbild im Hafenbereich von Salvador deutlich verändert. Die Präfektur von Salvador hat in den letzten fünf Jahren umfassende Infrastrukturmaßnahmen ergriffen, um den Standort Comércio ökonomisch und touristisch aufzuwerten. Diese Aufwertung ist auch eine symbolische und führt zu einer Valorisierung dieses urbanen Teilraumes (vgl. Serpa 2007b, S. 42). Zu dieser symbolischen Inwertsetzung zählt das an der Avenida Contorno gelegene Porto Trapiche Residence, das einzige Luxus-Loft Brasiliens mit einem angeschlossenen Anlegehafen. Das 2007 fertig gestellte Projekt beherbergt 88 Wohneinheiten, wovon der Quadratmeterpreis von rund 10.000 R$ das derzeit in Salvador teuerste Immobilienobjekt darstellt (SALTUR 2009). In der Rua Bélgica in direkter Nähe zum Mercado Modelo soll das dritte Hilton Hotel innerhalb Brasiliens erbaut werden. Diese zwei Bauprojekte zeigen in aller Deutlichkeit die staatlich induzierte Veränderung des Comércio von einem Wohngebiet mit basaler Einzelhandelsstruktur hin zu einem Konsum- und Tourismusraum der gehobenen Klasse. Dieser Prozess einer baulichen Aufwertung wird dadurch noch intensiviert, dass Salvador ein Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2014 sein wird. Die zunehmende Valorisierung der Unterstadt zeigt sich hierbei in einem sprunghaften Anstieg der Ladenpreise von durchschnittlich 500 R$ / qm im Jahr 2003 auf rund 3.000 R$ / qm im Jahr 2008 (ERC 2008; 2009). Dieser Transformationsprozess wird auch von der Secretaria Municipal de Communicação bestätigt, wonach der Comércio bereits jetzt einer der am stärksten valorisierten Stadtgebiete darstellt (SECOM 2008). Es schien eindeutig, wer von diesem ökonomischen und symbolischen Aufwertungsprozess profitiert. Die noch ansässige Bevölkerung wird, ähnlich wie in der Oberstadt, weitgehend verdrängt werden (vgl. hierzu Rothfuß 2007 und Struck 2008).2 Abschließend ist hinsichtlich der zeitgenössischen Stadtstruktur von Salvador eine Formation von vier Teilbereichen darstellbar, wie sie Vasconselos (2002)

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Die Tarife des Elevador Lacerda, der Aufzug der die Unter- mit der Oberstadt von Salvador verbindet und als alltägliches Transportmittel für die Bevölkerung dient, haben sich seit November 2009 von 0,05 R$ auf 0,25 R$ erhöht, was einer Steigerung von 400 % entspricht (vgl. Vivas 2009).

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vorgelegt hat. Die Herausbildung einer ausgeprägten sozialräumlichen Segregation geht damit einher: (1) Das historische Zentrum, welches neben der Stadtverwaltung vorwiegend dem Tourismus und der kulturökonomischen Inwertsetzung dient. (2) Der Sektor der Atlantikküste mit der Avenida Paralela als dessen Begrenzungslinie zum so genannten Miolo, der vornehmlich von der Mittel- und Oberschicht okkupiert ist. Der immobilienwirtschaftliche Sektor agiert dabei als einflussreicher Akteur und der Fokus der öffentlichen Investitionen liegt auf Infrastruktur- und Revitalisierungsprojekten. Die Atlantikküste avanciert zum neuen Zentrum, wo sich auch private immobilienwirtschaftliche und handelsinduzierende Investitionen konzentrieren. Bauprojekte für abgeschlossene Wohnanlagen oder ganze Stadtteile im Sinne von »private cities« (Glasze, Webster & Frantz 2006), z.B. Salvador Ville Condomínio Clube und Alphaville Salvador, entstehen mehr und mehr. (3) Das Stadtgebiet nördlich des historischen Zentrums und dessen Verlängerung entlang der Küste der Allerheiligenbucht, das am dichtesten besiedelt ist und wo die Mehrheit der afrobrasilianischen und sozioökonomisch unterprivilegierten Bevölkerung lebt (auch in den ehemaligen Alagados, den Überschwemmungsbereichen der Küste). Der prekäre Wohnraum entstand zumeist in eigenbaulicher Initiative und nur über mangelhafte infrastrukturelle Versorgung. (4) Innenbereich der Halbinsel, auf den sich die Metropolitanregion Salvador erstreckt, der Miolo, der erst ab den 1970er Jahren urban wurde. Hier sind staatlich finanzierte Sozialwohnungskomplexe sowie durch kollektive Invasionen besiedelte Wohnräume entstanden. Die infrastrukturelle Versorgung und das sozioökonomische Profil des Miolo sind mit dem Stadtgebiet nördlich des historischen Zentrums und dessen Verlängerung entlang der Küste der Allerheiligenbucht vergleichbar (Vasconselos 2002, S. 423ff.). Institutionelle und programmatische Struktur auf städtischer Ebene in Salvador da Bahia Die Zuständigkeit für urbane Planung und Wohnraumpolitik auf städtischer Ebene in Salvador da Bahia liegt bei dem Munizip für Stadtentwicklung, Wohnraum und Umwelt (Secretaria Municipal de Desenvolvimento Urbano, Habitação e Meio Ambiente, SEDHAM). Unter Berücksichtigung partizipativer Prinzipien und unter den politischen Rahmenbedingungen der nationalen und der bundesstaatlichen Ebene realisiert die SEDHAM (2010) seit 2008 den Leitplan für die Stadtentwicklung von Salvador (Plano Diretor de Desenvolvimento Urbano do Município do Salvador, PDDU). Der PDDU legt unterschiedliche Maßnahmen für Stadtteile in Salvador nach folgenden fünf Kategorien fest.

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Abbildung 7: Die Metropole Salvador da Bahia mit Kennzeichnung der Makrobereiche für urbane Aktionsformen. 3 Es bleibt zu konstatieren, dass die ausgewiesenen Makrobereiche, die die geplanten Aktionsformen im urbanen Raum darstellen, vereinfacht der urbanen Struktur und räumlichen Interpretation Salvadors von Vasconcelos (2002) entsprechen: An der überwiegend wohlhabenden Atlantikküste soll das urbane Niveau aufrecht erhalten werden, während die tendenziell unterprivilegierte Wohnsituation im Stadtgebiet nördlich des historischen Zentrums und dessen Verlängerung entlang der Küste der Allerheiligenbucht Aufwertungs- und Restrukturierungsmaßnahmen der bestehenden Strukturen notwendig macht. Im Innenraum der Halbinsel sind generelle urbane Umstrukturierungsmaßnahmen geplant (vgl. SEDHAM 2010). Grundsätzlich gilt, dass Salvador hinsichtlich der gegenwärtigen Gesamtstruktur auf der regionalen Ebene als eine am Dienstleistungssektor orientierte Metropole in Erscheinung tritt, der eine industriell geprägte Peripherie gegenüber steht. Auf städtischer Ebene kann synthetisiert werden, dass die Investitio-

3 Kartengrundlage: www . desenvolvimentourbano . salvador . ba . gov . br/lei7400 .

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nen in das Verkehrssystem sowie private und öffentliche Investitionen die einst monozentrische urbane Struktur diversifiziert und zu profunden strukturellen Veränderungen geführt haben (Vasconselos 2002, S. 423). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich Salvador heute als polyzentrischer, sozialräumlich fragmentierter Ballungsraum des peripheren Kapitalismus zeigt, der sich mehr denn je durch soziale und räumliche Segregation und damit durch gesellschaftlicher Ungleichheit auszeichnet, die sich überdies als ethnische bzw. rassische Segregation erweist, wie nun im Folgenden dargelegt werden wird (vgl. Gordilho-Souza 2008, S. 19; Andrade & Brandão 2009, S. 99). Sozioökonomische als ethnische Segregation Im Stadtzentrum von Salvador offenbart sich heute ein ausgeprägtes Einkommensgefälle zwischen den angrenzenden Wohnräumen der Mittel- und Oberschicht und den innerstädtischen Favelas. Die wohnräumliche Segregation, welche den sozioökonomischen Status der Bevölkerungsgruppen repräsentiert, perpetuiert sich letztlich seit der Stadtgründung im 16. Jahrhundert. Rund zwei Drittel der rezenten Stadtbevölkerung sind Nachfahren der verschleppten afrikanischen Sklaven. Aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit weist Salvador große ökonomische und soziale Disparitäten auf, die in hohem Maße über die Hautfarbe in Erscheinung treten. Vasconcelos (2002) weist in diesem Zusammenhang auf die räumlichen, sozialen und kulturellen Persistenzen während der urbanen Entwicklung Salvadors hin. Die räumliche Trennung der sozialen Klassen, die wiederum auf subtile und opake Art die ethnischen Strukturen in der Gesellschaft widerspiegeln, blieb weitgehend erhalten und ist u.a. auf die differenzierten Zugangsmöglichkeiten der Klassen zum Immobilienmarkt zurückzuführen sowie auf staatliche Lenkungen, die beispielsweise die Umsiedlung innerstädtischer Favelas in die Peripherie unumwunden protegierten. Die soziale Stratigraphie blieb insofern erhalten, als etwa 70 % der Bevölkerung Salvadors in subprivilegierten sozioökonomischen und räumlichen Lebensverhältnissen leben muss und vom Staat weitgehend vernachlässigt wird (Vasconselos 2002, S. 425f.). Die Entstehung von »Enklaven« exklusiver Residenzen der privilegierten Klassen von Salvador in Form einer »Auto-Segregation« verstärkte den territorialen Prozess der urbanen Fragmentierung (Serpa 2007b, S. 35). Trotz eines weltweit einzigartigen Wirtschafts- und Städtewachstums Brasiliens zwischen 1950 und 1980 ist die soziale Ungleichheit konstant hoch geblieben. Mit dieser geht eine räumliche Ungleichheit einher, die sich in einer dualen Stadtstruktur Salvadors zeigt. Der Lebensraum der wohlhabenden Mittel- und Oberschicht ist primär an der attraktiven Südspitze und südöstlichen Atlantikküste lokalisiert. Die quantitativ deutlich dominierenden Unterschichten befinden sich dagegen in

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den zentralstädtischen Marginalvierteln im Miolo und den peripheren Stadtteilen im gesamten Norden. Anschaulich wird damit eine hohe Korrelation von Armut mit der Hautfarbe schwarz/braun und Reichtum mit der Hautfarbe weiß abgebildet.

Abbildung 8: Räumliche Verteilung der Bevölkerung nach Hautfarbe in Salvador (Gerhard & Rothfuß 2009, S. 42).

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U NTERSUCHUNGSRAUM

In der Metropolitanregion Salvador werden heute sechs Gebiete als ehemalige Quilombos vom Bundesstaat Bahia klassifiziert (SEAGRI 2005). Diese Territorien waren Schutzräume für die entflohenen Sklaven, die sich gemeinschaftlich zum Widerstand gegen ihre Herren und fazendeiros organisierten. Zu diesen Communidades Quilombolas gehört auch die Favela Calabar, die diesen Status neben Alto da Sereia, ebenfalls im Stadtteil Barra gelegen, das Candeal, Curuzu und die Ilha de Maré innehaben.

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Abbildung 9: Untersuchungsraum: Calabar und Jardim Apipema.4 Die innerstädtische Favela Calabar beherbergt heute schätzungsweise rund 22.000 BewohnerInnen (Santos et al. 2006, S. 2). Lokalisiert ist diese Favela zwischen den Vierteln Jardim Apipema, Campo Santo, Alto das Pombas und Ondina. Der Stadthistoriker Cid Teixeira begründet die Namensgebung der Favela mit den sich niedergelassen entflohenen Sklaven, deren Vorfahren aus einem Gebiet Nordnigerias, das dort heute noch als Calabar bezeichnet wird, Zuflucht an diesem Ort im Süden von Salvador gefunden haben. Aus diesem Zufluchtsort ist im Laufe der Zeit ein typischer »urbaner Quilombo« erwachsen (vgl. Giudice 1999).

4

Kartengrundlage: Secretaria do Planejamento ciência e tecnologia (SEPLANTEC/ CONDER: Projeto metropolitano de Salvador, 1992; verändert nach Deffner 2006, S. 27

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Abbildung 10: Luftbildaufnahme des Untersuchungsraumes (CONDER: Companhia de Desenvolvimento Urbano do Estado da Bahia 2003). Die »formale« Gründung von Calabar, so wird angenommen, geht auf die 1940er Jahre zurück (Conceição 1986). So datieren auch die ältesten noch lebenden Bewohner von Calabar die Entstehung der Favela auf das Ende der 1940er Jahre. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts verursachte der massive Zuzug von Migranten aus dem Landesinneren eine deutliche Verdichtung des Viertels, das sich in einer ungünstigen Kessellage befindet und daher vom Immobiliensektor und der Stadtverwaltung als nicht attraktive Lokalität eingeordnet wurde. Wenngleich die Polizei zur damaligen Zeit massiv gegen die ersten Bewohner vorging und deren gebauten Häuser zerstörten, trotzten diese jedoch der Staatsmacht und kämpften um ein Bleiberecht. Ihr ›Durchhaltevermögen‹ hatte letztlich zur Konsequenz, dass heute dort rund 4000 Wohnsitze angesiedelt sind (vgl. Santos et al. 2006, S. 5;

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IBGE 2000). Darüber hinaus existieren dort eine Grundschule, eine Kindertagesstätte, eine öffentliche Bibliothek sowie ein multifunktionales Zentrum.

Abbildung 11: Die Favela Calabar; © Eberhard Rothfuß (08/2006). Sozio-demographische und ökonomische Strukturen in Calabar Die folgenden Daten basieren auf einer quantitativen Untersuchung von Santos et al. (2006), in der 900 Haushalte (rund 22 % der Gesamtzahl) und 3527 Personen (etwa 16 % der Gesamtbevölkerung von Calabar) befragt wurden. 82 % der Befragten stammen aus Salvador, was deutlich macht, dass der Zuzug aus dem ländlichen Raum des Bundesstaates Bahia massiv abgenommen hat und die Reproduktion bzw. die Bevölkerungszunahme von Calabar fast ausschließlich auf die bereits ansässige Einwohnerschaft zurückzuführen ist. Rund die Hälfte (53 %) der Bewohner sind zwischen 20 und 60 Jahre alt, und der weibliche Anteil an der Gesamtbevölkerung beläuft sich auf 54 %. Bezeichnend ist, dass fast 80 % der 16- bis 21-Jährigen in Calabar keine Beschäftigung haben, wohingegen die Erwerbstätigkeit der 22- bis 60-Jährigen bei rund 60 % liegt (Santos et al. 2006, S. 7). Dieser Anteil wird zum Großteil über den informellen Arbeitsmarkt abgedeckt. Die Prekarität des Bildungsniveaus drückt sich darin aus, dass über 60 % der Bewohner Calabars ihren Schulabschluss nach dem ensino fundamental abgebrochen haben (Santos et al. 2006, S. 6). Ledig-

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lich 13 Bewohner haben nach Angaben des IBGE (2000) einen Hochschulabschluss (mestrado) oder einen Doktortitel. Hieraus ergibt sich in der Folge die größte Friktion für die Zukunft der Calabari: Das weitgehend auf formalen Abschlüssen basierte Zugangsrecht zu höherer Bildung bleibt ihnen verwehrt und eröffnet den Profiteuren, den Eliten, eine neutrale Legitimation ihrer Privilegien in Brasilien jenseits der wahren Ausschlusskriterien. In ihrer Selbstbeschreibung der Hautfarbe geben von den 20.133 gezählten Bewohnern von Alto das Pombas und Calabar 10.939 an, einen braunen Hauttypus (pardo) zu haben, 5956 bezeichnen sich als schwarz (preta) und 3001 als weiß (branca). So sind in Alto das Pombas und Calabar fast 84 % dunkelhäutige Bewohner. Die quantitative Erhebung von Santos et al. (2006) stimmt exakt mit den Daten von IBGE (2000) übereinstimmt. 6849 Bewohner gaben beim Zensus 2000 an, kein Einkommen zu besitzen und 6297 verfügen über maximal zwei Mindestlöhne im Monat. Santos et al. (2006, S. 14) resümieren in ihrer Studie zur sozio-ökonomischen und ökologischen Lebensqualität von Calabar eindeutig und unmissverständlich: »Die Menschen, die in den Peripherien der urbanen Zentren leben, formieren ein Bevölkerungskontingent von Exkludierten hinsichtlich des Zugangs zu essentiellen öffentlichen Diensten wie Abwasserver- und -entsorgung, Gesundheit und Bildung, sie sind ein persistentes Porträt der brasilianischen urbanen Apartheid«. (eigene Übersetzung; Herv.i.O.)5

Erstaunlich dabei ist, dass der Projektleiter der empirischen Untersuchung selbst in Calabar lebt und somit durch die Sichtbarmachung der vorliegenden Publikation ein Medium der Widerständigkeit für sich entdeckt hat, die Missstände dort artikulationsfähig zu machen. Ein lohnender Versuch, wenn man bedenkt, dass seit 2007 die Hauptstraße der Favela geteert ist und nicht unwesentliche Infrastrukturmaßnahmen im Bereich der Abwasserver- und -entsorgung von Seiten der Stadtverwaltung unternommen wurden. Eine andere Quelle (IBGE 2007) zeigt ganz ähnliche sozio-ökonomische Parameter des Innenstadtviertels, diesmal im Kontext einer äußerst ungleichen Nachbarschaft. So weist der innerstädtische Subdistrikt Sabino Silva, der direkt an Calabar angrenzt, knapp 13.000 Einwohner auf, wovon 69 % Weiße sind. Einer Bevölkerungsdichte von 163 EW/ha in Sabino Silva steht eine von 289 EW/ha im angrenzenden Subdistrikt Alto das Pombas (die direkt an Calabar anschließende

5

»As populações que vivem nas periferias dos centros urbanos formam um contingente populacional de excluídos ao acesso a serviços públicos essenciais como saneamento, saúde e educação, sendo o retrato fiel do apartheid urbano brasileiro.« (Santos et al. 2006, S. 14)

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Favela am östlichen oberen Kesselrand gelegen) gegenüber. Rund 60 % der Bewohner von Sabino Silva weisen ein durchschnittliches Monatseinkommen von über zehn Mindestlöhnen (etwa 1400 €) auf, die Hälfte davon verfügt sogar über mehr als 20 Mindestlöhne. Hingegen sind im angrenzenden Alto das Pombas rund 84 % der etwa 10.000 Einwohner dunkelhäutig. Dort haben 82 % im Durchschnitt lediglich zwischen einem halben und höchstens drei Mindestlöhnen (80–420 €) monatlich zum (Über-)Leben zur Verfügung (IBGE 2007). Tabelle 6: Sozioökonomische Merkmale einer ungleichen Nachbarschaft in der Innenstadt von Salvador (IBGE, Resultados da Amostra do Censo Demográfico 2000).

Bevölkerung Bevölkerungsdichte (EW/ha) Hochschulreife in % Weiß in % Schwarz/Braun in % < 1 Mindestlohn (< 140 €) in % 1-3 Mindestlöhne (140–420 €) in % 3-5 Mindestlöhne (420–700 €) in % 5-10 Mindestlöhne (700–1400 €) in % 10-20 Mindestlöhne (1400–2800 €) in % > 20 Mindestlöhne (> 2800 € in %)

Alto das Pombas

Sabino Silva

10206 289 4 14 84 44 38 9,3 6,3 1,5 0,5

13849 163 11 69 29 9,5 6,0 6,0 19,5 28,4 30,6

Wichtig ist zu erwähnen, dass auch die Favela ein durchaus heterogener Raum mit innerer Differenziertheit darstellt, der z.T. sehr ausgeprägte Disparitäten im Bereich Einkommen, Besitz und Infrastrukturausstattung aufweist. Nachfolgende Bilder zeigen bereits strukturell die Unterschiede der Lebenswelten.

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Abbildung 12 & 13: Prekäre und ›wohlhabende‹ Lebenswelten in Calabar; © Eberhard Rothfuß (05/2005 & 9/2007).

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Abbildung 14: Calabar als organischer Raum; © Eberhard Rothfuß (4/2006). Betrachtet man im Luftbild (vgl. Abbildung 10) die Struktur der Favela Calabar im Vergleich zu den umliegenden geplanten Vierteln der so genannten »formellen Stadt«, so fällt auf, dass die Struktur der Wege und Straßen sowie die Anordnung der Häuser für den externen Betrachter durchaus un-ordentlich, beliebig und chaotisch anmuten mag. Favelas besitzen im Grundsätzlichen eine vollkommen eigene Strukturgenese, die auf eine differentielle Lebenswelt zurückgeht. Diese hat nichts gemein mit den von Architekten und Stadtplanern entworfenen urbanen Ordnungen. Die Favela wirkt anarchistisch, zufällig und beliebig. Darin liegt genau ihr Eigensinn, der einem organischen Habitus der gehenden Bewegungen, des Begehens und der Spontanität innewohnt. Dieser Eigensinn folgt im Sinne De Certeaus aus kollektiven Handlungen die erst Raum erzeugen. Die Topographie und der Entstehungszeitraum der Favela Calabar vor der Epoche der massenhaften Mobilität mit dem Pkw bedeuteten eine nach und nach entstehende Struktur über die gegangenen alltäglichen Wege ihrer Bewohner. Aus diesen labyrinthischen Wegen und einer Jahrzehnte andauernden Verdichtung der Bauten wurde eine urbane Physiognomie hergestellt, die den begehenden Alltagspraktiken ihrer Bewohner doch recht genau entsprechen. Es wäre in diesem Sinne die Favela als eine »human city« zu bezeichnen, die sich antagonistisch zur »material city« präsentiert (vgl. Korff & Rothfuß 2009b, S. 366).

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Wenn es demnach keine Planung ex ante gegeben hat, sondern nur einen raumzeitlichen Prozess, der über generalisierte Handlungsabläufe konstituiert wurde, dann existierte keine vorgegebene Form für den Bau, der damit insofern kein Ende finden kann und immer unvollendet bleiben muss. Die Phänotypik der Favela ist in allen Teilen Brasiliens sehr ähnlich, was auf deren Genese beruht. Es ist die ausgeprägte Topographie und die Dichtheit des aus identischen Materialien bestehenden Baukörpers, der diesen Stadträumen eine ähnliches Erscheinungsbild und eine gemeinsame Identität und Lebenstauglichkeit verleiht. Wir sehen die Favela als ein Stadtgebilde, eine Architektur, die ohne Architekten entstanden ist oder wie Berenstein Jacques (2004, S. 63; Herv.i.O.) das gebaute Phänomen Favela eine »Architektur des Zufalls« im Prozess der »bricolage« in Rekurs auf Lévi-Strauss’ Das wilde Denken (1997) nennt: »Wer eine bricolage durchführt, wird nicht wie ein Architekt direkt auf das Ziel zusteuern oder eine Einheit anstreben, sondern handelt fragmentarisch im Hin und Her einer nicht geplanten, empirischen Tätigkeit.« So wandeln sich die Favelas, durch die sich ständig ändernden Lebens- und Sozialverhältnisse bzw. Konsolidierungen der Viertel getrieben, dauerhaft und immer aufs Neue. Durch ihre immense Zahl und den nicht endenden Drang, das eigene Heim zu verändern und anzupassen, verbauen Favelas unendlich viel mehr Backsteine als es die formelle Architektur tut. Die Bewohner der Favelas sind in Brasilien die größten Bauherren. Diese Städte in den Städten gleichen einem Labyrinth und verkörpern gleichzeitig dabei vielschichtige Ambivalenzen: Unordnung und Ordnung, Konfusion und Klarheit, Vielfalt und Einheitlichkeit, Chaos und Kunst. Der nicht vorhersehbare und abrupte Wechsel zwischen Altem und Neuem, Niedrigem und Hohem, Ruhezonen und hektischen Standorten konterkariert alle herkömmlichen Anschauungen und Reglements des Städtebaus. Auch äußert sich im Ressentiment des brasilianischen Bürgertums über die vorgebliche Desorganisation und Anomie der Favelas ein markantes Desinteresse an diesen Stadträumen. Denn »was für den außenstehenden Beobachter nach sozialer Desorganisation aussieht, [ist] oft nur eine andere Form von sozialer Organisation, wenn man sich die Mühe macht, näher hinzuschauen« (Wacquant 1998, S. 201). Berenstein Jacques (2004) verweist in ihrer strukturalen und lebensweltlichen Analyse auf drei raum-zeitliche Begriffsfiguren, die diese ›absonderliche‹ und zugleich tief vernünftige gebaute Welt treffend beschreiben: (1) Das Fragment – Vom Körper zur Figur Die Logik der räumlichen und strukturellen Ordnung von Architekten oder Stadtplanern steht denen der Favelabewohner diametral gegenüber: Architekten

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verräumlichen die Zeit, die Konstrukteure der Favelas verzeitlichen den Raum. Die Praxis der Planung geht in der kapitalistischen Moderne einher mit Rationalisierung, serieller Fertigung und Normierung. Hingegen existiert die Vorstellung der Planung in den Favelas nicht und darin kommt insofern eine Logik des Unterschiedes zum Ausdruck. Es ist das Spontane, das Chaotische und das »Residuelle« wie es Lefebvre (1974a) für das Alltagsleben formuliert hat, das hier im baulichen Entstehungsprozess inhärent wirkt und ständig Wandlungen unterworfen ist. In den umfassend geplanten Stadträumen der »formellen Stadt« existieren die entsprechenden cartesianischen Dimensionen – die Karten – bereits vor der Existenz der realen Stadt. In den labyrinthischen Räumen der Favela ist das Gegenteil der Fall. Pläne können erst im Nachhinein, erst auf der Basis des existierenden wirklichen, chorischen Raumes, erstellt werden. Dies geschieht v.a. über die kartographische Transformation von Luftbildaufnahmen. (2) Das Labyrinth – Von der Architektur zum städtischen Raum Die Favela hat keinen vorgegebenen Plan. Sie wurde nicht am Reißbrett oder am Computerbildschirm entworfen, sondern hat sich über die Alltäglichkeit des Begehens, des Verweilens, an ganz bestimmten neuralgischen Orten, der ephemeren, jedoch letztlich kollektiven Entscheidungen seiner vielen Bewohner mit den gegebenen kollektiven Ressourcen (Baumaterial, Nachbarschaftshilfe, etc.) zu verfahren, entwickelt. Aus den abertausenden Praktiken und spontanen Entwürfen entstehen bauliche und zugleich komplexe Labyrinthe, die nicht stabil und endgültig sind, sondern sich immer wieder verändern. Es erscheint dieser vielleicht implizit subversive Werdegang der Favela dem bürgerlichen und panoptischen Kontrollfetisch diametral zu widerstreben und sich dadurch zu widersetzen. Dies ist wohl ein wesentlicher Grund für die Jahrzehnte der moralischen Stigmatisierung und die intensiven Bestrebungen der städtischen Politik, die Favelas abzureißen und die Bewohner in wohl sortierten und kontrollierbaren sozialen Wohnkomplexen der urbanen Peripherie einzuhegen, oder nachträglich über wohlgemeinte Sanierungsprogramme im Dienste einer infrastrukturellen Aufwertung, räumliche Ordnungen herzustellen um darüber politischen Einfluss zurückzugewinnen. Bezeichnenderweise wurden die Aufwertungsmaßnahmen, z.B. das bereits erwähnte Programm »Favela-Bairro« in Rio de Janeiro, durch die lokalen Bürgervereinigungen sowie die Anführer der Drogenringe z.T. abgelehnt, um dieser verdeckten Rückgewinnung von Kontrolle eine explizite Absage zu erteilen (vgl. De Souza 2003, 2006). Die Menschen der Favela produzieren und reproduzieren eine kollektive Imagination, nach der ihre Favela ein großes gemeinsames Haus darstellt. Die

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Gassen (die so genannten becos) sind eng gewunden, folgen steilen und verwinkelten Treppenaufgängen und verstärken die Wahrnehmung des darin Gehenden, sich in einem labyrinthischen Verirrungsprozesses zu befinden, in unmittelbarer körperlicher Nähe zu unbekannter Privatsphäre.

Abbildung 15: Öffentlichkeit und Privatheit liegen in der Favela sehr nahe beieinander; © Veronika Deffner (05/2006). Berenstein Jacques (2004, S. 66) bemüht einen unter Umständen etwas idealisierenden und mythischen Vergleich der labyrinthischen Körperbewegungen mit dem brasilianischen Samba. »Der Samba wäre die beste Darstellung der labyrinthischen Erfahrung der Durchquerung einer Favela, die das Gegenteil zur modernen Erfahrung der Stadt darstellt, insbesondere in den Straßen der rational geplanten Stadt.« Versuchen wir hier eine (kursorische) leibphänomenologische Anleihe zu Merleau-Ponty und De Certeau zu unternehmen. Die Hügel der Favela emporzusteigen, bedeutet für den Externen eine ungeahnte und unbekannte Raumwahrnehmung. Es ist der einzigartige, langsame und rhythmische Gang der Steigung, der das Individuum in diese urbane Umwelt aufnimmt, absorbiert und mit ihr verschmelzen lässt. Es ist ein Verschwinden aus der kontrollierenden Überwachung in der Art eines Panoptikums, wie Foucault in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1994) die Logik der absoluten staatlichen Kontrolle und Disziplinierung historiographisch umfassend beschrieben hat.

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Es ist eine Unsichtbarmachung und impliziert damit eine Paradoxie des Geborgenseins in einer ansonsten im hegemonialen medialen Diskurs abgelehnten Lebenswelt. Es ist eine Raum- und Wesenserfahrung des kompakt Urbanen, die in den abgeschotteten, aseptischen und überkontrollierten Räumen der gated communities und condominios fechados so nicht gemacht werden kann. Die empirische Analyse über die emische Perzeption der Favelabewohner hinsichtlich ihrer Wohn- und Existenzräume wird dieses grundlegende Gefühl des »BeheimatetSeins« in der Favela bestätigen. (3) Das Rhizom (vom städtischen Raum zum Territorium) In historischer Perspektive stellt das Eindringen der invasores in bislang leere Räume, einen Akt der Vereinnahmung, der Grenzziehung und der daran anschließenden Territorialisierung dar. Berenstein Jacques (2004, S. 66) bemüht eine passende, wenngleich naturalistische und damit implizit abwertenden Metapher der Raumeroberung aus dem Pflanzenreich: »Die Hütten treten mitten in der Stadt auf, zwischen den konventionellen Wohnvierteln, genau wie Gras mitten auf der Straße wächst, zwischen den Pflastersteinen oder gar im Asphalt, […]«. Damit sind die Favelas nicht zentrierte, sondern ex-zentrierte Stadtkörper. Die Territorialisierung erfolgt letztlich in drei Schritten: a) die Besetzung der Freiflächen, b) die Lagerung dieser Flächen im Stadtzentrum, wo die urbanen Lageprofite bestehen und c) die kollektive Interaktion der Favelabewohner untereinander sowie die arbeitskraftbasierte Interaktion mit der »offiziellen« oder »formellen« Stadt. Ist es letztlich die selbst hergestellte Produktionsleistung der Favelabewohner über ihre eigene gebaute und gelebte Stadt, die sie – zu Recht – stolz macht? Es ist die Ambivalenz einer Stadtstruktur, die diskursiv Ablehnung erfährt und zugleich den einzigen Rückzugsraum zur Erlangung von Integrität der Stigmatisierten bedeutet. Es ist wiederum das Ressentiment der bürgerlichen Schicht, die die Autarkie und die Anarchie in den Favelas verabscheuen. Es ist dabei eine symbolische, alltagspraktische und visuelle Widerständigkeit angedeutet, die den Bewohnern der Favelas eine personale wie kollektive Integrität unter extrem ungleichen Lebensbedingungen zu wahren hilft. Es scheint auch in der Perzeption der Favelabewohner als ein unterschwelliger Sieg empfunden zu werden gegen die Macht der Starken sich einen Platz im begehrten urbanen Raum ›erobert‹ und verteidigt zu haben. »In gewisser Weise sind wir doch privilegiert hier in Calabar, nicht wahr? Haben alles was wir brauchen, nahe am Stadtzentrum, nahe zum Strand, nahe zum Shopping Center.« (2006/13/156)

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Darüber hinaus ist noch auf einen anderen Aspekt hinzuweisen: Die mobilen Praktiken der Favelabewohner sind sehr ausgeprägt und durch das körperliche Gehen konstitutiv für diesen Teil der urbanen Gesellschaft Brasiliens. Der Bewegungsraum Favela ist unmittelbar mit seinen darin beheimateten Subjekten verbunden, die diesen Raum begehen, durchschreiten und damit erst zum Raum machen. Hier ist die strukturationslogische Herangehensweise von Giddens (1992) hilfreich, wonach die Favela ein Raum im ständigen Fluss und permanenter Bewegung ist, da die Bewohner die Verantwortlichen für ihren Aufbau sind, durch ihr konstruktives Handeln Raumstruktur erschaffen und diesen aber im Alltagshandeln immer wieder verändern und ihren Ansprüchen entsprechend modifizieren. Der hergestellte strukturelle Stadtraum wiederum beeinflusst die Handlungsrationalitäten seiner Bewohner in dialektischer Art.

Abbildung 16: Mutirão – Nachbarschaftshilfe in Calabar beim Hausbau; © Veronika Deffner (4/2005). Es scheint jedoch, dass in diesem Kontext das Handeln der Akteure den räumlichen Strukturen überlegen ist, da zugunsten der Idee der Lebenspraxis und des Nutzens der Bewohnenden die urbane Struktur nachrangig und im Grunde abgeleitet ist. Die gebaute Umwelt unterliegt ständigen Veränderungen, die motivational von ihren Bewohnern gesteuert wird. Deutet dies nicht auch auf die Ohnmacht der Stadtpolitik hin, die mit dem Willen der ordnenden Strukturierung und Kontrolle in einem haussmannschen Sinne angetreten und damit im Grunde ge-

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scheitert ist? »Die Spezialisten kämpfen genau gegen die Bewegung des Raumes in den Favelas, um eine vorgebliche ›Ordnung‹ einzurichten. Das Ergebnis dieser formellen Auferlegung ist die Ablehnung seitens der Bewohner, […].« (Berenstein Jacques 2004, S. 68) Die Bewohner der Favelas sind sich im Klaren darüber, dass nur sie ihre eigenen Lebensräume, ihre eigenen Wohnhäuser und auch den öffentlichen Raum selber zu gestalten und aufzubauen haben. Dies geschieht weithin im kollektiven Tun des mutirão, der Nachbarschaftshilfe (vgl. Abbildung 16). Favelas als Räume des Möglichen im Bestehenden »Hier im Morro gibt es eine eigene Realität. Die Realität des Asphalts ist eine andere.« (zitiert in: Hölldampf 2010, S. 115)

»Das Mögliche eingeschlossen im Unmöglichen: in diesem lebendigen Widerspruch liegt die Pointe der menschlichen Existenz.« (Holthusen 1951, S. 135) Solche tendenziell positiven oder visionären Beschreibungen des Neuen Menschen, wie man sie auch bei Erich Fromm findet, mussten Denkern wie Adorno verdächtig bleiben, die schon die gedachte Alternative zum Bestehenden als Unterwerfung unter das Bestehende denken mussten und es ablehnten, überhaupt positive Leitbilder vorzugeben – immer in der Angst, dem falschen Schein bestehender Alternativen auf den Leim zu gehen, und immer in dem Zwang, alles – auch jede sich regende Alternative – dem Bestehenden unterzuordnen. Während letztlich Denker wie Adorno in die Ausweglosigkeit gerieten und sich nur auf dem schmalen Grat elitärer Lebensweise und ästhetisierender Selbstbespiegelung aufrecht und funktionstüchtig halten konnten, hatte Fromm selbst keine Scheu, seine Erfahrungen aus Therapie, Politik, Wissenschaft und Alltag auf das Positive und Lebensdienliche hin abzuleuchten. Wenn er ein Leitbild aufzeigte, so repräsentierte es immer einen Hoffnungsschimmer im Bestehenden und war nicht als antithetische, mithin gar utopistische Verneinung des Bestehenden gedacht. Es ist hier anzumerken, dass es nicht um eine – wissenschaftlich legitimierte – Idealisierung der formulierten (widerständigen) Alltagspraktiken in der Favela gehen soll, sondern lediglich aus der Perspektive der »Schwachen« und »Überflüssigen« zu argumentieren wäre, dass dieses Kollektiv bestrebt ist, ihre eigene Integrität zu wahren und zu schützen, um sich einer anerkennenden Haltung vergewissern zu können (Honneth 1992). Es ist damit die Einnahme einer anerkennungstheoretischen Position wider einen akademischen Pauperismus angesprochen, die um wirklichen intersubjektiven Respekt ringt. Es handelt sich um eine normative Position und Subjektlagerung, die an sich nicht veräußerbar ist.

Marginalisierung und Exklusion als Anerkennungsverweigerung

»Was ist es, das dem Brasilianer, dem Bahianer, dem Soteropolitaner erlaubt, dass dies passiert und er nicht dagegen rebelliert? Es war der Kolonialisierungsprozess der den Brasilianer dazu gebracht hat, alles zu akzeptieren. Deswegen haben wir Brasilianer das...werden wir so eingeschätzt, dass wir alles akzeptieren, aber dies ist unbewusst, dass wir alles akzeptieren, liegt an der Kolonialisierung.« (2007/15/115)

Diese einleitende Aussage artikuliert die kolonialhistorische Dimension des Anerkennungsproblems in Brasilien. Die über Jahrhunderte im Alltagsleben reproduzierte Institution des Kolonialismus führte letztlich dazu, dass auch in postkolonialer Zeit die deformierten Anerkennungsverhältnisse fortgeschrieben wurden. Die Menschen der benachteiligt Klassen, in Nordostbrasilien zumeist die Nachfahren der Sklaven, erfahren dies alltäglich im intersubjektiven Umgang ebenso wie in den Institutionen des modernen Rechts und der Sphäre der Wertegemeinschaft, wie die folgenden Kapitel darlegen werden (vgl. Souza 2003; 2006). »In Brasilien fehlt es an der menschlichen Anerkennung. Davon fehlt viel in Brasilien. Aber das ist normal. Der Respekt gegenüber dem anderen fehlt, (…)« (2007/11/89).

D IE S PHÄRE DER L IEBE I NNERE G EWALT

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F REUNDSCHAFT –

»Heute bekommt man mehr Liebe von einem Hund, einem Papageien oder sonst einem Tier, als Liebe von einem menschlichen Wesen.« (2007/16/137) »Aber die Ungleichheit zwischen den Leuten beginnt schon zuhause, und dort in Calabar existiert das. Eine gewaltige Ungleichheit besteht dort in Calabar. Wirklich gewaltig.

164 | E XKLUSION IM Z ENTRUM Denn, wenn zwischen den Leuten nicht diese Ungleichheit bestehen würde, könnten sie die Sachen lösen. Aber es ist schwierig, dies dort zu lösen.” (2007/16/133)

Die beiden einleitenden Aussagen beschreiben das Unbehagen zwischenmenschlicher Anerkennungsweise in der eigenen Lebenswelt Calabar. Es ist ein unterschwelliges Gefühl der Bewohner, dass das Leben dort ein reines Überleben darstellt und menschliches Miteinander, das Leben von Idealen und das Umsetzen von Zielen gänzlich ausbleiben. Sich Träume zu bewahren, um zu wissen, wofür man kämpft, ist vielen Menschen in Calabar gewissermaßen abhandengekommen: »Hier stellt sich nur die Frage des Bestrebens, des Überlebens. Es ist nicht erstrebenswert, einen anderen zu überfahren, jedoch ist es erstrebenswert das Leben zu verbessern. Das fehlt den Leuten, auch das fehlt den Leuten. Denn, wenn man einen Traum hat – jetzt spreche ich auch über das Thema Träume – wenn man einen Traum hat, kämpft man für seine Ideale, aber wenn man keinen Traum hat, kämpft man nicht. Hier genau liegt das Problem: Was bringt die Menschen zum Träumen?« (2007/15/116-117)

Hierbei spielen insbesondere die großen Zwänge und Absorptionskräfte innerhalb eines prekären und ungesicherten Arbeitsmarktes für Frauen und Männer aus den Favelas eine Rolle, die die Sphäre der zwischenmenschlichen Entwicklung von Kindern und Eltern nahezu verunmöglichen. Die intersubjektive Bezogenheit leidet stark, und am Ende bleibt eine nur generative und nicht mehr emotionale bzw. anerkennende Beziehung: »So stirbt man.« (2007/15/117) »Z.B., heute in Brasilien, nachdem die Frauen auf den Arbeitsmarkt gehen, wurde das Gehalt niedriger, denn was die Frauen auf den Arbeitsmarkt bringt... also, kümmert sie sich nicht mehr, sie bleibt nicht mehr zu Hause und kümmert sich um die Kinder, sie erledigt nicht mehr die Sachen, die sie früher erledigt hat. Heute sind sie schon auf dem Arbeitsmarkt und die Kinder bleiben entweder in der Kinderkrippe oder in der Schule, gehen im Alter von drei Jahren in die Schule, es gibt Schulen, es gibt Eltern, die ihre Kinder am Morgen und am Nachmittag dort hinbringen. Schlussendlich haben sie keinen Kontakt mit den Kindern. Sie muntern die Kinder nicht dazu auf, ihre Träume zu haben. Und so gehen sie zur Schule. In der Schule sind sie mit vielen Kindern zusammen, sie sind nicht mal da (sie interessieren sich nicht einmal dafür). Das schlägt sich in der Bildung nieder, in der Grundausbildung, die keinerlei Träume beinhaltet, genauso ist es in der höheren Ausbildung. So stirbt man.« (2007/15/116-117)

Die gesellschaftliche Diagnose vom substantiellen Wandel familialer Strukturen in der Unterklasse, wie sie Florestan (1969) vertrat, scheint in ausgeprägtem

M ARGINALISIERUNG

UND

E XKLUSION

ALS

A NERKENNUNGSVERWEIGERUNG

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Maße rezent fortzubestehen und stellt auch ein wichtiges Differenzkriterium deformierter Anerkennungsweisen zwischen den Mittel- und Unterklassen dar1. Die Atomisierung der Lebenswelt unter spätkapitalistischen Bedingungen in der Klasse der Subalternen erschweren das Erlernen und die alltägliche reproduktive Praxis von Geachtet-Sein, Würde und Anerkennung. Die mangelnde Verinnerlichung von Werten und Zielen sowie der Kontrolle des Alltags, aufgrund der enormen strukturellen Zwänge zur Lebensabsicherung in prekären Beschäftigungsverhältnissen, verunmöglichen eine Alltagspraxis, die aus den Kindern autonome und selbstsichere Individuen entstehen lässt. Diesen elementaren Umstand, dass nur im Modus der Anerkennung und Wertschätzung eine positive Selbstbeziehung zu erlangen sei, wie Honneth (1992) betont, legt folgendes Zitat einer Frau nahe: »Ich glaube, dass hier sehr viel an Zuneigung fehlt, und die ist essentiell für die Kinder. Zuneigung im Sinne von Orientierung, Orientierung für die Mütter, mehr Aufmerksamkeit, damit die Kinder zu einem besseren Selbstwertgefühl gelangen. Es gibt diese Schwächen in den Familien (…). Weil sie es auch nicht haben, weil die Eltern es nicht kennen.« (zitiert in Hölldampf 2010, S. 87)

In einer empirischen quantitativen Studie über die Klassen- und Geschlechterherrschsaft hat Mattos (2006) ganz ähnliche Erkenntnisse zutage gefördert. So zeigt sie die differenzielle Bewertung der Wertevermittlung zwischen den unterschiedlichen Klassen. Die »moderne Frau« benennt die Liebe als den zentralen

1

Es soll an dieser Stelle der Verweis durch ein Zitat genügen, das zeigt, dass es in Brasilien eine generelle und klassenübergreifende Tendenz der Verdinglichung zu geben scheint: »Dies ist eine Eigenschaft der Brasilianer, dass ihnen ein bequemes Leben gefällt, äußerst bequem. Wenn man mit den Männern spricht, mit den Ehemännern spricht, ist es nicht bequem, ist es nicht anspruchslos (bescheiden), es ist soziale Arbeit, psychologische Arbeit. Und die Brasilianer reden lieber oberflächlich, nicht weil es die soziale Arbeit ist, die sie nicht mögen, sie gehen lieber zum Strand... Feste feiern (...) aber, dass sie an einem Tisch sitzen und sich unterhalten, das wird man nicht sehen. Junge Paare sieht man fast gar nicht. Sie sagen, es sei verlorene Zeit die Kinder anzuleiten, vor allem die jüngeren Paare. Sie wollen mit dem Kind an den Strand gehen, das Kind mit auf die Feste nehmen, aber beim Kind zu bleiben, das Kind mit in die Kirche nehmen mit dem Kind reden... das kann man bei den Jungen nicht sehen, bei den jungen Paaren. Ich habe eine verheiratete Nichte, sie hat einen sieben- oder acht jährigen Sohn und was wir beobachten ist, dass die ältere Generation innegehalten und miteinander gesprochen hat. Heute wird nicht innegehalten. Es ist nicht wegen der Arbeit. Es ist Bequemlichkeit.« (2007/4/32)

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Wert, welcher den Kindern beizubringen wäre. Diese ist auch nach Honneth (1992) für die Entwicklung zu autonomen und als geachtet empfundene Individuen zentral. Die Frauen der Mittelklassen sind davon überzeugt, dass die Grundfunktion der Familie die Erziehung der Kinder zur Liebe ist, die daraus Selbstvertrauen gewinnen und so befähigt werden, sich als Personen zu erkennen, die mit Rechten ausgestattet sind und am gesellschaftlichen Leben als anerkannte Subjekte partizipieren (vgl. Mattos 2006, S. 125). Es bestehen dort natürlich auch die strukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen, diese bürgerlichen Werte auch im Alltagsleben effektiv umsetzen zu können. Hingegen legen Hausangestellte und Favelabewohner signifikant mehr Wert auf »Respekt gegenüber den Älteren«. Begründet wird diese traditionelle und hierarchieachtende Haltung damit, dass der Respekt in dieser Auffassung nicht als etwas Errungenes und auf gegenseitige Anerkennung Gegründetes sei, sondern Voraussetzung einer Beziehung zwischen Ungleichen. Hingegen beruht die Grundlage des Respekts, der auf gegenseitiger Anerkennung basiert, »dass beide Subjekte der Beziehung die Autonomie und die gegenseitige Abhängigkeit anerkennen, dass sie die Tatsache anerkennen, dass einer vom anderen etwas zu lernen hat« (Mattos 2006, S. 125). Jedoch lag genau darin das konstitutive Element ungleicher Anerkennungsweise bzw. einer sehr stratifizierten Form der Anerkennung zwischen Herr und Sklave im brasilianischen Kolonialismus. Es gab nichts, was der Herr vom Sklaven zu lernen gehabt hätte. Paradoxerweise führte die Beendigung des kolonialen Feudalsystems Ende des 19. Jahrhunderts zu einer endgültigen Aufkündigung des intersubjektiven hierarchischen Anerkennungsverhältnisses: Die ›besitzbasierte‹ Verantwortung des Herrn über seine Sklaven wich einer Verantwortungslosigkeit, nachdem diese sich befreit hatten und ab Anfang des 20. Jahrhunderts zu Abertausenden in die Städte auf der Suche nach Lohnarbeit abwanderten. Daraus resultierte Unsicherheit bei den Nachfahren der Sklaven. Die generationenübergreifende Verinnerlichung der subalternen Position der Sklaven und deren Abkömmlingen führte, zu typologischen Verhaltensweisen: »(…) die Verhaltensweisen gibt es eben, wegen dem Schwarzsein. Das kommt von unseren Vorfahren, den Sklaven. Die waren halt immer schon ängstlich, unsicher, wenn sie unter lauter Weißen waren. (…) Die Schwarzen verstecken sich in der Ecke, um ja kein Aufsehen zu erregen. Am liebsten möchten sie verschwinden oder unsichtbar werden.« (2006/10/152)

Honneths (1992) Entwurf leitet aus einer Deformation der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse in der Sphäre der Liebe und Freundschaft eine etwaige Konsequenz negativer Selbstbeziehung ab, was in der Folge zu einer emotional herab-

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gesetzten Beziehung der eigenen sozialen Gruppe gegenüber führen kann. »Die Schwarzen selbst mögen sich nicht untereinander. Der Schwarze macht keinen Eindruck auf seinen Ort, auf Seinesgleichen. So entsteht die soziale und auch die Rassendiskriminierung.” (2007/21/168) Eine ganz ähnlich gelagerte Aussage bestätigt den Rassismus innerhalb der geteilten subalternen Lebenswelt: »Weißt Du, es ist frustrierend festzustellen, dass Meinesgleichen eine Verachtung und Geringschätzung uns Afrobrasilianern gegenüber empfindet und auch oft zeigt. Vor allem die schwarzen Polizisten lassen uns dies, ihre Macht, die eigentlich keine ist, stark spüren. Aber so ist es wohl. Wer sich selbst wertlos fühlt, fühlt auch keinen Wert für Seinesgleichen.« (2007/13/110)

Und daraus wäre der Schluss zu ziehen, dass mit dem nicht umfänglich zugestandenen menschlichen Wert in einer hochkompetitiven und auf ungleicher Behandlung und Wahrnehmung basierenden Gesellschaft, Taten wie Vergewaltigungen und Tötungsdelikte überproportional auftreten, was die nationalen Statistiken bestätigen. So hat die Zahl von Vergewaltigungen deutlich zugenommen. Von 2009 auf 2010 haben sich die gemeldeten Vergewaltigungen in Bahia von 1.419 auf 1.868 um 31,6 % erhöht (Human Rights Watch 2011). Grundsätzlich gehört Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft Brasiliens zum Alltag. 19 % aller Brasilianerinnen gaben in einer Umfrage an, in irgendeiner Form männliche Gewalt erlitten zu haben. Besonders prekär ist die Situation im Nordosten, der landesweit die höchste Gewalt- und Mordrate an Frauen aufweist. Dort wird durchschnittlich pro Tag eine Frau ermordet, und die Täter sind meist aktuelle oder ehemalige Partner, Bekannte, Nachbarn oder Angehörige. Häusliche Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt gegen Frauen. Sie reicht von psychischer Gewalt über körperliche und sexuelle Gewalt bis hin zum Mord (Human Rights Watch 2009). Die Bereitschaft zur Gewalt, so es auch einen korrelativen Zusammenhang von Gewalt und bestimmten Stadträumen gibt, darf aber mitnichten auf eine abweichende ›schwarze Kultur‹ zurückgeführt werden, wie der hegemoniale Diskurs z.T. unumwunden betont, sondern wurde durch die jahrhundertelange Deformation der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse durch den Kolonialisierungsprozess hervorgerufen. Das auf der ersten Anerkennungsstufe nach Honneth (vgl. 1992, S. 174) wechselseitig entwickelte Selbstvertrauen wird zur Grundlage einer autonomen Teilnahme und selbstbewusster Artikulation am und im öffentlichen Leben. Das Bewusstsein darüber, sich als Vollbürger innerhalb der Gesellschaft zu fühlen und entsprechende Rechte einzufordern, ist daher in der afrobrasilianischen Bevölkerung wenig verinnerlicht.

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»Police abuse, including extrajudicial execution, is a chronic problem. According to official data, police were responsible for 561 killings in the state of Rio de Janeiro alone in the first six months of 2009. This amounts to roughly three police killings per day, or at least one police killing for every six ›regular‹ intentional homicides.«

Human Rights Watch (2009) attestiert der brasilianischen Militärpolizei massiven Missbrauch ihrer Macht. Dabei stellen außerjuristische Exekutionen insbesondere in den innerstädtischen Favelas ein chronisches Problem dar, das letztlich nicht strafrechtlich geahndet wird. Der Gewöhnungseffekt, dieses hohe Maß staatlicher Gewalt zu dulden und anzunehmen, ist nach Ansicht der Menschen bereits derart normalisiert, dass daraus nur selten bis gar keine Empörung mehr erwächst: »Warst Du schon mal auf einer Party in Lagos, während Karneval? Hast Du gesehen, wie die Polizei sich verhält, hast Du gesehen wie die Polizei mit den Menschen umgeht? Während Karneval? Geht es nicht darum, sich mit jedem zu prügeln, mit aller Brutalität? Es ist normal. Man sieht es und sagt nicht mal was. Wir nehmen das mit einer Natürlichkeit wahr, weil es normal ist. Und es ist nicht normal. Niemand hat das Recht, jemanden anderen zu schlagen.« (2007/11/88)

Die offensichtliche und unverhohlene Gewalt der Polizei z.B. im Karneval wird in der Reflexion demnach als Abstumpfungsmechanismus, eine Art Angewohnheit zur Unmenschlichkeit interpretiert. »Die Polizei, z.B., wird, wenn Karneval ist, keinen Weißen schlagen, sie wird einen Schwarzen schlagen, weil der Weiße bessere Schulen (besucht) hat, er hat eine gute Erziehung genossen, daher kann er reden. Der Weiße kann sogar schlägern beim Karneval, aber er wird nicht gefasst werden, wird nicht geschlagen werden, weil er reden kann, weil er auf den besten Schulen war, vielleicht ist er Sohn eines Arztes, vielleicht eines Anwaltes. Und der Soldat wird sich nicht auf ihn stürzen, er wird den Schwarzen schnappen. Der Schwarze wird sich nicht ausdrücken können, er wird nicht wissen wie er sein Recht suchen kann, denn der beste Fall ist, wenn man sein Recht kennt. Es ist mehr der Weiße, in diesem Fall macht er nichts. Und von dort kommt die Diskriminierung, aber sie ist nicht weiß, sondern schwarz.« (2007/21/168)

Verbrechen der Oberschicht, häufig Korruption und Betrug, die über die Presse der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, führen selten zu Verurteilungen und Haftstrafen. Dies wiederum lässt das hohe Niveau der ungestraften Taten erahnen und zeigt die fehlende effektive Umsetzung von Gleichheitsansprüchen des Justizsystems unabhängig von der jeweiligen Klasse (Caldeira 2000). Staatliche

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Kriminalstatistiken müssen vor diesem Hintergrund mit großem Vorbehalt betrachtet werden, da Verbrechen gegen Angehörige der Oberschicht überrepräsentiert sind und Verbrechen, deren Opfer der Unterschicht angehören, unterrepräsentiert werden. So liegt die Aufklärungsrate der Morde in Rio de Janeiro nach Human Rights Watch (2009) bei einem Prozent. Die Arbeiterklasse wird daher nicht nur als die gefährliche Klasse stigmatisiert, sondern durch das Verhalten der Polizei und der nationalen Statistiken auch tatsächlich dazu gemacht. Paradoxerweise ist die Arbeiterklasse bemüht, ihre erarbeitete soziale Stellung zu verteidigen und strebt nach gesellschaftlicher Anerkennung (Caldeira 2000). Hierbei eröffnen Gespräche über Verbrechen eine Gelegenheit, mit sozialem Wandel und gesellschaftlichen Problemen auf simplifizierte Weise umzugehen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass insbesondere in der Unterklasse ein geteilter Konsens hinsichtlich einer bürgerlichen Leistungsideologie und einer indirekten Antisolidarität vorherrscht, die die moralische Verantwortung im Individuum sieht. Es existieren beim ›Kleinbürgertum‹ der Favela ein ausgeprägter Abgrenzungsdrang und eine entschiedene Ablehnung von Kriminalität. Diese wird als menschlicher Defekt betrachtet und in absoluten »Disziplinierungspraktiken« wie der Todesstrafe von vielen gefordert. Dass Kriminalität insbesondere mit der extremen Verteilungsungleichheit korreliert, ist selten Teil einheimischer Argumentation (vgl. Rothfuß 2008, S. 24; Kühn 2006, S. 141). Selbst die arme Bevölkerung benutzt diese Vorurteile und Stereotypen im Umgang mit noch Ärmeren, um sich von diesen zu distanzieren und abzugrenzen. Brasilien gehört mit etwa 50.000 Tötungsdelikten im Jahr (was 137 am Tag entspricht) zu den gewaltgefährdetsten Ländern der Welt. In den letzten 30 Jahren sind fast 11 Millionen Menschen ermordet worden (Burghardt 2011). Ein großer Teil der Morde wird dabei von staatlichen Ordnungsmächten wie der Militärpolizei verübt. Die Stadt Rio de Janeiro zählte im Jahr 2006 1063 Todesopfer durch Polizeigewalt (IBGE 2005). Nach Statistik der Zeitschrift Epoca kommen auf zehn Einwohner von Rio de Janeiro 4,3 Schußwaffen und von diesen 17 % in Gewaltverbrechen eingesetzt werden (Fernandes & Nelito 2011). Dabei ist ein wichtiges Indiz anerkennungsdefizitärer Verhältnisse das signifikante Auftreten des Totschlags in Brasilien, das nur im Kontext der sozialen Ungleichheit der Hautfarbe zu verstehen ist. Knapp 40 % der absoluten Sterberate in Brasilien entfällt auf Raubmorde. Zwischen 1991 und 2000 haben diese um fast ein Drittel zugenommen (IBGE 2005). Die Statistik des Sekretariats für öffentliche Sicherheit SSP (Secretaria da Segurança Pública) bestätigt diesen Trend auch zwischen 2006 und 2010. Die Mordrate hat um 50,7 % zugenommen. Wurden 2006 3.222 Morde im Bundesstaat Bahia registriert, nahm diese Zahl innerhalb von vier Jahren auf 4.856 zu.

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»Being black, young and male means being the prefered target of lethal violence in Brasil«, so beschreibt es der Regional Human Development Report (2005) Racism, poverty and violence des UN-Entwicklungsprogramms. Die regionale Verteilung zeigt, dass der brasilianische Nordosten mit 56,4 Tötungsdelikten an Männern pro 100.000 Einwohner im Jahr 2007 den statistisch höchsten Wert aufweist.

Abbildung 17: Durchschnittliche jährliche Sterberate durch Tötungsdelikte im Stadtgebiet Salvador (1989–2003) (verändert nach Araújo et al. 2010, S. 554). Auf den Zeitraum 2006 bis 2010 bezogen sind, für die Metropolregion Salvador, die Daten noch erschreckender: Wurden 2006 noch 967 Morde gemeldet, stieg dieser Wert 2010 auf 1.638, was einer Zunahme von 69 % entspricht. Dies bedeutet statistisch einen Wert von 61 Morden pro 100.000 Einwohner, was im internationalen Vergleich nur von Venezuela übertroffen wird. 80 % aller Morde in Salvador resultieren aus der Verwicklung mit Drogen (A Tarde 2005b). Es sind insbesondere die Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren, die zwischen 1998 und 2001 71,3 % der Mordopfer stellten.

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Das Untersuchungsgebiet der Studie, die Favela Calabar, liegt, wie hier dargestellt, im dunkel eingefärbten Teilgebiet (Federação/Alto Pombas/Calabar/ CPO Santo), das als zentralstädtisches Gebiet die höchste Rate an Tötungsdelikten (48–105 pro Jahr) aufweist. Vergleicht man generell diese Abbildung 17 mit dem Anteil der dunkelhäutigen Bevölkerung in Salvador (vgl. Abbildung 8), so besteht hier weitgehende Deckungsgleichheit. Hingegen zeigen die vornehmlich weißen Stadtteile Imbuí, Itaigara, Caminho das Árvores und Iguatemi die geringsten Mordraten zwischen 0,0 und 4,2 im Jahr (Araújo et al. 2010, S. 553). Der Straßenzug Rua Anulfo de Oliveira trennt die empirischen Untersuchungsräume Calabar und Apipema und bedeutet für die Bewohner von Calabar ein 5–10-fach erhöhtes Risiko Opfer eines Mordes zu werden, wenngleich auch dort gilt, dass insbesondere die jüngeren Männer zwischen 15 und 49 Jahren am gefährdetsten sind, da diese am häufigsten in den Drogenhandel involviert sind. Die Gefahr für die Favelabewohner lauert insbesondere in den frühen Morgenstunden. Die Menschen äußern hierbei eine gewisse selbstsichere Ruhe, da sie sich sicher sind, nicht Teil von Vergeltungen im Drogenhandel zu werden. Araújo et al. (2010, S. 553) bestätigen die Korrelation der durchschnittlichen Mordraten in »afrobrasilianischen« und sozioökonomisch benachteiligten Gebieten von Salvador: »These areas, in general, presented a higher proportion of black population and worse socio-economic indicators.« Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die differentielle Wertigkeit menschlichen Lebens aufgrund der Hautfarbe ein in der Peripheren Moderne Brasilien konstitutives gesellschaftliches Merkmal darstellt. Souza (2007a, S. 39) vergleicht den sozialen Status der Unterklasse mit jenem von Hunden oder Hühnern und verweist damit auf ein zentrales anerkennungstheoretisches Problem. Die über Jahrhunderte von außen zugeschriebene herabgesetzte Wertigkeit der Afrobrasilianer führte in der Folge zu einer kollektiven Verinnerlichung einer negativen Selbstbeziehung aufgrund mangelhafter Anerkennung. Diese »Inkorporierung« objektiver Strukturen, wie Bourdieu (1979) den Habitus als »Verinnerlichung von Äußerlichkeiten« definierte, führte zu einer persistenten subalternen Minderwertigkeit in der beherrschten Klasse. Dies ist ein entscheidender Grund dafür, dass die Gewaltbereitschaft und die Zahl der Vergewaltigungen im Vergleich zur Mittelschicht größer sind, da die Schwarzen sich selbst als weniger Wert betrachten. Folgende Aussage bestätigt diese Argumentationslinie: »Die Schwarzen selbst mögen sich nicht untereinander. Der Schwarze macht keinen Eindruck auf seinen Ort, auf Seinesgleichen. So entsteht die soziale und auch die Rassendiskriminierung.” (2007/21/168)

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D IE S PHÄRE DER W ERTEGEMEINSCHAFT S OLIDARITÄT – Z USCHREIBUNGEN

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Leistungsideologie als Rechtfertigung der Privilegierung »Die Ungleichheiten beunruhigen mich schon. Nein, ich schäme mich nicht, weil ich mich nicht schuldig fühle dafür, dass sie [Favelabewohner] nichts haben. Jeder in Brasilien hat Möglichkeiten über Engagement und Fleiß etwas zu erreichen, jeder!« (2005/2/13)

Die bürgerlichen Mittelschichten entlasten sich mit ihrem Arbeits- und Leistungsethos, ihrem von ›Hause aus‹ verinnerlichten Willen zum Tun, der zum Erfolg führt, denn wer seine Möglichkeiten nutzt, wird dafür auch belohnt. Dass eine doméstica, die sich von Montag bis Montag um den Haushalt einer wohlhabenden Familie kümmert und dafür mit einem Mindestlohn von umgerechnet rund 130 € monatlich vergütet wird, schwerlich sparen kann, um in die Schulbildung ihrer eigenen, oft unbetreuten Kinder zu investieren, erscheint evident. Es ist damit eine leistungsideologisch begründete Entlastung thematisiert, welche ablenkt von den zentralen Herausforderungen und Notwendigkeiten der umfangreichen Umverteilung der Besitz- und Ressourcenverhältnisse. Auch Souza (2008, S. 168) macht in Brasilien insbesondere die Hierarchie als das Spaltungspotential für die Bildung naturalisierter Ungerechtigkeitsverhältnisse verantwortlich: »Doch es ist zweifellos vor allem im Bereich der peripheren Gesellschaften, wo die soziale Ungleichheit in allen ihren Dimensionen besonders virulente Proportionen und Formen annimmt, und zwar insbesondere, wo die soziale Anerkennung der sozialen Rollen des produktiv Tätigen und des Staatsbürgers definiert werden.«

Damit geht einher, dass den Armen ihr biographisches Gelingen oder ihr Schicksal individuell und klassenunabhängig aufgebürdet wird. Da, wie bereits beschrieben auch im kapitalistischen Brasilien die Arbeit die zentrale gesellschaftliche Anerkennungskategorie darstellt, durch welche Identität, Respekt und gesellschaftliche Achtung gesichert werden können, wird von den Privilegierten eine Leistungsideologie propagiert, die zur Legitimierung ihres Herrschaftsanspruches dient. Arbeitslosigkeit und Armut gelten als selbst verschuldet und werden mit ›Tugendschwäche‹ begründet. »Sie [Favelabewohner] werden nicht ausgeschlossen, sie schließen sich ganz natürlicherweise selbst aus, aufgrund ihrer schlechten Bildung. Die Ungleichheiten sind schon störend. Ich schäme mich nicht, wenn ich die Armut sehe, nein. Ich bin ja nicht schuldig

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dafür. Jeder kann es aus eigener Kraft und eigenem Willen zu etwas bringen!« (2006/3/41)

Kreckel (2004) bestätigt für spätkapitalistische Gesellschaften eine verinnerlichte Leistungsideologie als die wichtigste Kategorie zur Legitimierung von sozialer Ungleichheit: Es handelt sich um eine »Ideologie, weil sie sich nicht auf die Forderung nach und die Förderung sachlicher Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern gleichzeitig damit die Ungleichheit von Lebenschancen rechtfertigt« (Kreckel 2004, S. 98; Herv.i.O.). Folgende Aussagen verdeutlichen diese Haltung: »Die Frauen verkaufen ihren Körper; der Brasilianer will nur seinen Vorteil aus etwas ziehen. Und speziell in Bahia hat sich das Volk schon so dran gewöhnt im Elend zu leben, dass sie nur an das Feiern denken. Sie denken nicht daran für ihre Rechte zu kämpfen, ein Ziel zu haben, nein. Man sieht ältere Menschen, wie in meinem Fall z.B., es ist einfacher eine Person in meinem Alter zu treffen, die arbeitet, als dass man die Jugend arbeitend findet. Ist es weil sie keine Arbeit haben? Nein, weil der Brasilianer sehr faul ist. Und vor allem der Bahianer nur feiern will, (...), es gibt auch keine qualifizierte Arbeitskraft, dann kann man Ziele verfolgen. Das alles sind die Probleme.« (2007/4/37)

Die Zuschreibung des Bahianers als »faul« und »bequem« scheint in der kollektiven Bewertung der Unterschicht durch die Mittelschicht eine machtvolle zu sein. Dabei ist der Habitus des Nichtstuns argumentativ an das Bildungs- und Ausbildungsniveau gekoppelt. Und so wird schlussendlich von den Bahianern (scheinbar) versucht, mit möglichst geringem Aufwand durch das Leben zu gehen. Als illustratives Beispiel hierfür stellt sich für die Frauen der Favelas die Möglichkeit der Prostitution. Es schließt sich der Kreis zur Erklärung und Rechtfertigung von Bevorzugungen und damit ungleicher Lebensverwirklichungen. Daran knüpft implizit ein prominenter Diskurs um eine »Kultur der Armut« an, der lange Zeit (und auch heute noch) zur Erklärung afroamerikanischer Verarmung und Misere in den Vereinigten Staaten von Amerika herangezogen wurde und wird (vgl. v.a. Lewis 1969; Goetze 1992). Interessant ist aber auch, dass die verinnerlichte meritokratische Leistungsideologie nicht nur von der bürgerlichen Klasse vertreten wird, sondern eine Wertschätzung durch untere Klassen der brasilianischen Gesellschaft ebenso erfährt. »Hier stellt sich nur die Frage des Bestrebens, des Überlebens. Es ist nicht erstrebenswert einen anderen zu überfahren, jedoch ist es erstrebenswert das Leben zu verbessern. Das fehlt den Leuten, auch das fehlt den Leuten.« (2007/15/116-117)

Diese Aussage einer Frau aus Calabar bestätigt die verinnerlichte Leistungsideologie. In einer empirischen quantitativen Studie von Mattos (2006, S. 120ff.) zu

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den Einstellungen von Frauen aus der Mittel- und der Unterklasse wird dies bestätigt. Die Selbstverantwortlichkeit über die eigene prekäre Lebenssituation bürden sich die Menschen in vorreflexiver Weise selbst auf und verkennen damit ganz wesentlich die strukturellen und moralischen Ursachen der sozialen Ungleichheit in Brasilien. Obgleich die meritokratische Ideologie in allen sozialen Klassen dominiert, finden sich in der Unterklasse, die die »Hauptopfer des Glaubens an die persönliche Leistung sind« (Mattos 2006, S. 121), die höchsten Indizes der Zustimmung. Unter den Frauen ist dies offenkundig: 95 % der Hausangestellten glauben daran, dass das persönliche Bemühen das zentrale Element für den sozialen Aufstieg ist, gegenüber 68 % der Frauen aus der Mittelklasse. Mattos erklärt diese Unterschiede aufgrund der differentiellen Schulbildung. Die Frauen der Mittelklasse weisen ein höheres Schulbildungsniveau auf als die Hausangestellten und haben daher bessere Möglichkeiten, die Komplexität von sozialer Ungleichheit und deren Ursachen wahrzunehmen, wenngleich sie auch diese selbe Ideologie teilen (ebd.). »Mit einer solchen souveränen Präsenz der meritokratischen Ideologie im sozialen Imaginären der Brasilianer aller Klassen haben wir eine starke Quelle für die Legitimation der sozialen Ungleichheiten.« (Ebd.)

Selbstverschuldung – »Kultur der Armut« Aus Sicht der privilegierten Klassen wird die brasilianische Gesellschaft durch das »ungezügelte« Wachstum der classe pobre (»armen Klasse«) bedroht: »Die Zunahme der Bevölkerung in der Klasse der Armen ist sehr groß. Für sie zählt nicht Bildung, sondern für sie zählt nur Kinder machen. Kinder machen und noch mal Kinder machen.« (2007/1/5)

Es fehle am entsprechenden Bewusstsein oder Wissen, dass viele Kinder den Ruin bedeuten: »Es fehlt an Aufklärung für diese Familien, es fehlt daran, sie zu stimulieren, es fehlt daran ihnen Informationen zu übermitteln, damit sie nicht in diesem Leben stecken bleiben, weil es Möglichkeiten gibt dies zu verbessern. Man muss nur suchen und sich bemühen, damit man es erreicht.« (2007/7/51)

Daraus wird die Armut nach Meinung der Mittelschicht ständig neu reproduziert. Dann ist der Schritt zu einer Unterstellung von willentlicher Apathie und Arbeitsscheu der brasilianischen Unterklasse nicht mehr weit und leistet einem ›rassenbezogenen‹ Kulturalismus Vorschub.

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»Es fehlt an Bewusstsein, weil sie immer mehr Kinder bekommen und, was weiß ich, es fehlt an diesem Bewusstsein zu wissen, dass es schlimmer ist mehr Kinder zu haben, dass man sich in einer schlechteren Situation wiederfinden wird. Aber wir stellen fest, dass die Armen immer mehr Kinder bekommen und dass es ihnen egal ist.« (2007/12/94) »Ich glaube, dass es an fehlendem Interesse liegt und dass man sich mit dem Leben, das man führt, abfindet. Wir versuchen das auch zu verstehen. Es ist gut, dass ich eine Ausbildung habe, aber das genügt mir nicht. Ich muss kämpfen, wie ich Dir das gesagt habe. Es gibt Leute die sogar einen ›bico‹ machen, kleine Arbeiten werden als ›bico‹ bezeichnet, aber durch das staatliche Schulgeld gibt es schon viele, die sich weigern, solche Jobs zu machen, weil dies das ›Sich-Abfinden‹ ist, sie finden sich damit ab, das Bisschen, was sie haben, zu machen. Das ist eine Sache die von Generation zu Generation weitergegeben wird und sie gewöhnen sich daran.« (2007/12/95)

Die Konstruktion einer Differenz, die entlang einer sozialen Praxis als unterschiedliche »Kultur« kreiert wird, ist letztlich dazu da, die eigene kulturelle und damit abgegrenzte Identität zu bestimmen, sei es auf persönlicher oder kollektiver Ebene (vgl. hierzu insbes. Barth 1969; auch Lacan 1986). Diese Konstruktion ist aber nicht darauf bezogen, wie die andere Kultur ist, sondern wie sie aus dem eigenen Verständnis anders sein sollte, damit die eigene Kultur einem diesem gegenüber in Stellung zu bringenden Idealbild entsprechen kann. Das heißt, zur Bestimmung der eigenen Kultur gehört einerseits die Bestimmung einer anderen Kultur sowie andererseits der konstruierten Differenz zwischen beiden (vgl. Korff 2009, S. 38). In diese Konstruktion des Anderen gehört auch die mediale Aufladung der Favela als unregierbare Drogen- und Gewalträume. Argumentativ wird hier eine kulturalistische und damit rassistische Begründungslogik herangezogen, nach der die Verhaltensmodi der Favelabewohner Produkte ihrer schwarzen – abweichenden – Kultur seien (vgl. Belina 2008 im Kontext des US-amerikanischen Ghettos und der underclass-Debatte). Die ständig medial thematisierte Angst und Gewalt, die in den Favelas herrscht und ständig droht, die »zivilisierte Stadt« zu überziehen, stellt ein sehr machtvolles und gouvernementales Rational dar, den Bauboom abgeschlossener Wohnkomplexe, ganzer »Privatstädte« (Glasze et al. 2006), zu befeuern, sowie Sanktionen jeglicher Art gegen die Bewohner der Favelas zu verhängen. »Calabar ist ein Vulkan! Die Straße dorthin ist sehr gefährlich! Immer wieder sind nachts Schüsse zu hören. Sie bringen sich gegenseitig um wegen Drogen. Dort herrscht das matrimoniale Prinzip. Die Schwarzen kennen keine Gesetze, keine Ordnung, keine Person die sagt: ›So und so nicht‹. (...) Der Weiße hat eine paternalistische Kultur, es gibt gesell-

176 | E XKLUSION IM Z ENTRUM schaftliche Regeln. Der Schwarze kennt keine Regeln (...). Immer hört man Musik aus der Favela. Sie sind nur da um sich zu amüsieren und um Kinder zu machen.« (2005/3/18)

Mit diesem Naturalisierungsdiskurs, dass Favelas nicht mehr für Arbeiterviertel stehen, sondern synonymisch für Gewalt, Drogenhandel und Unregierbarkeit, wird ein Normierungsdiskurs verfestigt, der das Andere stigmatisiert und es für jenseits der Norm erklärt (vgl. Best & Gebhardt 2001 zur »Geographie der Stigmatisierung« durch einen Ghetto-Diskurs). Daraus lassen sich dann staatliche Sanktionierungen durch polizeimilitärische Interventionen (»War on Drugs«, vgl. für Nordamerika auch Corva 2008) als »Bestrafung der Armen« sowie Stadtpolitiken der »harten Hand« (mão dura) problemlos legitimieren (vgl. Davis 1997; Wacquant 2009). »Calabar ist…. ist ein Schlund, in jedem Moment verursacht er Spannung. Also, nachdem es eine Favela ist, weiß man dass es soziale Ungleichheiten gibt, …, es ist also sehr schwierig. Und während einiger Zeiten im Jahr, wie Weihnachten, oder zu andern Festen, da geschehen viele Überfälle. Ich wurde selbst schon überfallen in meiner Garage in meinem eigenen Gebäude. Sie überfallen ständig. Man überlegt von hier wegzuziehen, ich überlege. Ich überlege und ich habe schon hundertmal überlegt. Der Grund warum ich dann doch nicht von hier wegziehe ist, weil ich hier in der Nähe mein Geschäft habe. Also, für mich ist das ganz einfach, aber ich muss lernen mit Calabar zu leben.« (2005/3/18)2

In diesem Zusammenhang erscheint aber noch problematischer, dass eine quasigenetische und damit naturalisierte Argumentation transportiert wird: Es ist der unaufhebbare Zustand einer Vererbung von Armut, der letztlich nur jene entlastet, die auf Kosten der Armen ihre Privilegien rechtfertigen können und auch dem Staat, der sich durch dieses Dispositiv vererbter Armut aus seiner Verantwortung zur Wohlfahrt, Unterstützung und gerechter Verteilung entbunden sieht. Im Grunde schwingt in dieser machtvollen Argumentation ein ›Subtext‹ mit, der den differentiellen Wert von Menschen rechtfertigt und sich in der kollektiven Abschätzigkeit der Mittelschichten gegenüber der gigantischen Menge an Ausgeschlossen ausdrückt. Das Heer an Tagelöhnern, Hausangestellten und Wachpersonal in den Metropolen rekrutiert diese »strukturelle Unterklasse« (Souza 2008), die auf ihre bloßen Körper zur Arbeits- und Reproduktionskraft reduziert werden. Daneben wird eine dritte Zuschreibung als Erklärung für die Ungleichheit der Verhältnisse in Anschlag gebracht. Es ist die Bequemlichkeit, der como-

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Vgl. hierzu ähnlich: »Ich habe es gewusst, [was es bedeutet] in diesem Viertel zu wohnen, es ist Calabar. Calabar wird sich niemals ändern, wir müssen lernen mit ihr zu leben. Aber dieses Viertel ist gefährlich.” (2005/3/18)

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dismo der populären Klasse, der mit dem Kontext der Leistungsideologie in Verbindung gebracht werden kann. Habitus des comodismo – Bequemlichkeit »Man sieht, dass in Bahia immer noch eine gewisse Bequemlichkeit besteht, eine Bequemlichkeit die aus der Zeit der Sklaverei kommt, dass sich die Leute immer noch nicht davon befreit haben.« (2007/2/14) »Die Bequemlichkeit der Armen, ich komme zur Bequemlichkeit unserer Armen zurück, unserer Bedürftigen, sie raffen sich nicht auf, sie sagen nichts.« (2007/2/13)

Der an voriger Stelle bereits angesprochene Kulturalisierungsdiskurs der hegemonialen Sphäre (Eliten, Medien, öffentlicher Diskurs) über die Alltagspraktiken der Favelabewohner definiert Schwarzsein mit comodismo (»Bequemlichkeit«) und einer mangelnden Bereitschaft zum Tätigsein, sich »aus ihrer Misere zu erheben (...). Sie raffen sich nicht auf, sie sagen nichts.« (2007/2/13) Die Nachfahren der Sklaven haben sich nach Ansicht der Mittelklasse nicht von ihrer kolonialen Hypothek befreit und diesen passiven, lohnempfängerischen und bequemen Habitus auch nach der Unabhängigkeit beibehalten und fortgeführt. Sobald also aus (scheinbar) konkreten alltäglichen Phänomenen eine Kultur konstruiert wird, sobald aus der Qualität einer sozialen Praxis eine ontologische, besser substanzlogische Eigenschaft eines Kollektivs wird, die dann tautologisch diese soziale Praxis beinhalten und erklären soll, ist dies keineswegs notwendig, sondern dem Zweck des Zugriffs, der Kontrolle, der Macht und sicherlich auch einer Rechtfertigung der Privilegien einer vergleichsweise schmalen gesellschaftlichen Gruppe geschuldet (vgl. Belina 2008). Aussagen, der sich selbst davon entschieden abgrenzenden Mittelschicht, gehen dabei sogar soweit, dass aus einem über die Jahrhunderte verinnerlichtem Kulturalismus ein Naturalismus abzuleiten ist. »Sie kämpfen nicht. Dies liegt ihnen nicht im Blut. Es ist ein Typus des Handelns…ich glaube dies kommt aus der Vergangenheit. (…) Es ist ein unerträglich bequemes Volk.« (2007/13/101)

Darüber hinaus wird die »Bequemlichkeit« auch auf die politische Sphäre ausgeweitet. Es ist die Lohnempfängermentalität der Unterklasse die sich lediglich der Sozialprogramme (z.B. »Bolsa Familia«) der Regierung bedienen würde. »Es ist diese Sache, daran gewohnt zu sein, nicht aufgeklärt zu sein. Die Bevölkerung der unteren Einkommensschicht gewöhnt sich an die Programme, welche die Regierung bereitstellt, man gewöhnt sich daran einfach eine Waschfrau zu sein, Kleidung zu waschen

178 | E XKLUSION IM Z ENTRUM um Geld zu verdienen, die Wäsche für andere zu machen, eine Ausbildung zu haben, die keine gute Qualität hat. Und übrigens hier gibt es keinen Kampf im Sinne von einer Bewegung, es sei denn politische Bewegungen. Alle Bewegungen die Du erwähnt hast, setzen sich für politische Ziele ein, nicht für soziale Gerechtigkeit.« (2007/10/82)

Wenn also Geld verdient werden soll, reichen nach Ansicht der Mittelschicht der classe de baixa renda auch niedere Tätigkeiten aus, wie z.B. Wäsche waschen oder ähnliche Haushaltsaktivitäten in den Lebenswelten der Mittel- und Oberschicht, und die Unterschicht sich deshalb auch mit schlechteren Bildungsoptionen begnügen würde. Es bestätigt sich auch hier der ressentimentbeladene Mittelschichtsdiskurs, der einen klassentypischen Habitus konstruiert, der jenseits rationalen Leistungsstrebens und einem nach materiellen Werten trachtenden Lebensstils liegt, wie er von der bürgerlichen Schicht Brasiliens gelebt wird. Damit geht dann letztlich auch einher, dass die Unterprivilegierten sich ihrer bürgerlichen Rechte nicht nur nicht bewusst würden, sondern diese aufgrund ihres passiven und bequemen Habitus auch gar nicht willentlich einfordern: »Warum wissen die Leute nichts von dem Recht, das sie haben. Sie glauben alles sei normal.« (2007/11/84) Es wird hier eine soziale Ordnung begründet, die die Position der Favelados im dreidimensionalen Raum der brasilianischen Gesellschaft selbstreproduktiv im unteren Bereich verortet. »Die Schwarzen kennen ihren Platz in der Gesellschaft«, so eine prominente Redeweise des bürgerlichen Milieus (vgl. Telles 2004). »Jetzt geht es um die Bequemlichkeit des Brasilianers, unsere Schwarzen, allen voran in Bahia, sind die ärmsten des Landes, oder besser gesagt, unsere Armen sind schwarz. Also, bei uns gibt es wahre Ghettos, in welchen sie isoliert leben. Es gibt Rassismus von Seiten der Weißen und von Seiten der Schwarzen.« (2007/2/13)

Wenden wir daher nun den Blick vom bürgerlich-hegemonialen Diskurs zur Wahrnehmungssphäre derer zu, die auf der ›Anklagebank‹ sitzen, der Millionen Betroffener, die sich tagtäglich um eine lebenswerte menschliche Existenz abmühen müssen und vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Verachtung und Diskriminierung »Ich wurde schon im Shopping Center diskriminiert. Ich war in einem Geschäft um etwas einzukaufen und wurde verfolgt, solange bis ich den Laden verließ. Der Sicherheitsdienst des Geschäftes folgte mir. Wo ich hin ging, ging er mir hinterher. Aufgrund der Tatsache, dass ich schwarz bin dachte er, dass ich stehlen würde. Nur dass er Unrecht hatte, dass er müde wurde, er folgte mir wie wild. Am Ende kaufte ich, was ich kaufen wollte und danach verließ ich den Laden. Es passierte gar nichts von dem, was er gedacht hatte. Es

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fehlt an Respekt. Ich bin wütend, verärgert, weil ich nicht respektiert werde, aufgrund meiner Hautfarbe werde ich nicht respektiert.« (2007/17/150)

Vielfach artikulieren die Subjekte erfahrenen Rassismus im öffentlichen Raum aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe. Diese wird gleichgesetzt mit Devianz und kriminellem Verhalten und ist damit gleichsam naturalsiert. Erstaunlich scheint, dass das Wachpersonal in Einkaufszentren zumeist selbst aus benachteiligten Vierteln stammt. Die verinnerlichte Skepsis der ›schwarzen Armut‹ gegenüber scheint damit ein klassenübergreifendes Phänomen zu sein. Die A Tarde (2005a) titulierte am 18.05.2005: »Shopping Center exkludieren die Schwarzen«. Das folgende Zitat eines jungen Mannes aus Calabar zeigt das alltägliche Ausgesetztsein und die Erfahrung rassischer Diskriminierung sowohl durch die privilegierten Klassen als auch durch die Staatsmacht. Es symbolisiert gleichzeitig auch eine Sensibilität und ein Unrechtsempfinden der Unterklasse, die sich der Ungerechtigkeit sehr wohl bewusst ist, dennoch erlangt das Unrechtsempfinden keine kollektive Handlungswirksamkeit. »Es gibt immer und überall irgendwie Diskriminierung, vor allem wegen der Hautfarbe. Hier in der Straße zu den Hochhäusern, sagen wir mal, da ist also eine kleine Gruppe, und der einzige Afrobrasilianer, das bin ich. Der Rest ist weiß! Wenn da die Polizei kommt, dann durchsucht sie nur mich!« (2006/1/9)

Eine ähnliche Aussage einer Hausangestellten verdeutlicht das Spüren demütigender Ablehnung mit einem rassistischen Duktus durch die Eliten: »Für die [Mittel- und Oberschicht] sind wir alle aus Calabar Diebe und Verbrecher (...). Sie verachten Dich und sehen Dich vernichtend an.« (2006/11/130) Die Mehrheit der diskriminierenden Handlungen ist subtil und wird als solche nicht vorgängig als Rassismus wahrgenommen. Brasilien stellt einen klassischen Fall einer rassischen Hegemonie dar, welche als selbst postulierte Rassendemokratie die Existenz rassischer Ungleichheit verneint, während sie diese gleichzeitig produziert (Hanchard 1994, S. 155). Damit zeigt sich, dass die formelle Absenz eines diskriminierenden Rassensystems jenes als informelle Institution verdeckt reproduziert. Es ist eine vorreflexive Naturalisierung der rassischen Hierarchie, einer informellen »sozialen Apartheid« (Löwy 2003), die jenseits einer institutionalisierten Apartheid liegt, wie sie etwa die Republik Südafrika bis 1994 strukturierte. »Aber was geschieht ist folgendes: Das Geld hat seinen Ursprung in diesem Problem, von welchem ich dir erzählt habe, die reiche Schicht verteuert die Sachen, damit nur sie es sich leisten können. Das ist also kein Problem, weil man Schwarz oder Weiß ist, es ist ein finanzielles Problem. Das Problem in Bezug auf Schwarz und Weiß ist, dass der Weiße je-

180 | E XKLUSION IM Z ENTRUM den Tag mehr denkt, er sei überlegen und dass alles ihm gehöre und dass nichts dergleichen in Bezug auf den Weißen und den Schwarzen existiere.« (2007/3/25)

Es existiert eine stillschweigende Übereinkunft einer »white supremacy« (Winddance 1998) in der brasilianischen Gesellschaft, dass darin jeder seinen Platz in der Gesellschaft kennen würde: »The general culture disseminates and accepts the idea of racial hierarchy, which Brazilians in turn perceive as natural; this provides them with a logic for understanding and legitimizing the racial order.« (Telles 2004, S. 152)

Hier wird die dritte von Honneth angesprochene Anerkennungsnorm verletzt, nämlich der Verweigerung sozialer Wertschätzung innerhalb einer Wertegemeinschaft (Solidarität), welche durch das Negieren rassistischer Missachtungsweisen nicht im Rechtsvollzug geahndet werden kann. »Gegen den Weißen. Der Weiße lebt gut mit dem Schwarzen zusammen, aber der Schwarze akzeptiert den Weißen nicht. Es gibt Abschnitte in den Karnevalsumzügen, in die der Weiße nicht rein darf, aber der Schwarze darf überall rein.« (2007/7/51)

Diese Umkehrung und Paradoxie der Wahrnehmung rassistischer Demütigungen von nun »Schwarz gegen Weiß« verkennt gleichwohl die alltäglichen und wirkmächtigen Diskriminierungen und zentriert auf ein außeralltägliches Beispiel im Karneval. Unbeherrschtheit und Immoralismus »Die Schwarzen kennen keine Gesetze, keine Ordnung, keine Person die sagt: ›So und so nicht‹. (...) der Weiße hat eine paternalistische Kultur, es gibt gesellschaftliche Regeln. Der Schwarze kennt keine Regeln (...). Immer hört man Musik aus der Favela. Sie sind nur da um sich zu amüsieren und um Kinder zu machen.« (2005/3/18)

In der Aussage klingt unterschwellig eine Ambivalenz des Mittelschichtsressentiments an, das die Unterschicht ihrer Unmoral und ihres orgiastischen Lebensprinzips bezichtigt. Es ist damit wohl auch Neid verbunden, die den Favelabewohnern ihre scheinbar gelebte Freiheit und das Vergnügen missgönnt. Sie wollen sich dafür rächen, dass sie ein weniger freies Leben in ihren abgeschlossenen und bewachten Lebenswelten führen, und ihre »Herrenmoral« gibt ihnen dafür die Berechtigung. Diese ist nach Nietzsche (1988, S. 267) die Haltung der Herrschenden, die zu sich selbst und ihrem Leben Ja sagen könnten, während sie die Anderen als »schlecht« im Sinne von »schlicht« geringschätzten. Es scheint sich hier um eine explizite Moralisierung durch den hegemonialen Diskurs zu

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handeln, der die Immoralität der Unterklasse konstruiert, um den eigenen privilegierten moralisch legitimierten Machtanspruch sichern zu können. Zu den empirischen Erkenntnissen ist auch ein kurzer Rekurs auf Freud sinnvoll. Er hat in Das Unbehagen in der Kultur (1994) die Herrschaftsförmigkeit der Kultur hinsichtlich der Sexualität des Menschen hervorgehoben. »Dabei bestimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.« (Freud 1994, S. 69)

Dies erscheint auch hier zutreffend, da von Seiten des angrenzenden Bürgertums, die eigene Kultur als zivilisiert begriffen wird, da diese die Sexualität bzw. das sexuelle Begehren dadurch zu beherrschen trachtet, dass sich das einzelne bürgerliche Mitglied selbst beherrscht. In dieser Selbstbeherrschung steckt die zivilisatorische Überlegenheit und setzt damit einen normativen, kulturalistischen Abstand entgegen. Die Menschen in der Favela, die sich und ihre Sexualität – durch scheinbar überbordende Promiskuität und Hervorbringung von Kindern – nicht beherrschen können, sind in diesem mächtigen selbstinterpretativen Mittelschichtsdiskurs einer ›höheren Kultur‹ zu Recht die beherrschten Subjekte, eben weil sie sich nicht selbst beherrschen können. Sie stellen darüber hinaus zumindest implizit eine Gefahr für die Entwicklung und den positivistischen Fortschritt des brasilianischen Entwicklungsparadigmas (Ordem e Progresso: »Ordnung und Fortschritt«) dar. Die ›Favela-Kultur‹ wird damit vornehmlich, abschätzig oder gar als lüstern belegt. Taylor fundiert diese empirische Erkenntnis in Quellen des Selbst (1997) hinsichtlich der Konstitution moderner Identität. Dabei spielt für Taylor das Vermögen den Körper zu kontrollieren eine äußerst wichtige Rolle. Der vom Christentum etablierte Dualismus zwischen Körper und Seele gelangt in unsere modernen Verhältnisse unter neue Begründungszusammenhänge und wird mit neuen institutionellen Verankerungen versehen. Alle Attribute, die mit der Körperlichkeit assoziiert sind, z.B. Sexualität, Affektivität, Emotionalität oder etwa Spontaneität müssen beherrscht werden. Das Interessante dabei ist, dass die bürgerlichen Klassen, die unter dieser wertkonservativen Konfiguration aufgewachsen sind, nicht wahrnehmen, dass sie die Übernahme einer bestimmten Weltdeutung darstellt, die etwas historisch Geschaffenes ist und eben nicht per se existiert. Taylor versucht damit zu zeigen, dass »Würde« – sein zentraler Begriff im Kontext neuzeitlicher Identität – mit Selbstkontrolle, Rationalität und Körperkontrolle zusammenhängt. Unwürdig hingegen wird daher nicht mit sozialer Anerkennung bedacht und ist insofern alles, was dieser Setzung nicht entspricht. Die bürgerlichen Zuschreibungen des Orgias-

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tischen der Favela gehören unzweifelhaft in die Kategorie unwürdig und nichtanerkennenswert, ja sie legitimieren damit eine zweigeteilte, also alterne und subalterne Staatsbürgerlichkeit in Brasilien. Zusammenfassend zeigen alle dargelegten Zuschreibungen aus Sicht der privilegierten Klassen, dass Grenzziehungen zwischen dem normalen Stadtraum, der formalen Stadt und dem abnormalen Raum, der Favela sowie soziale und kulturelle Differenzierungen zwischen einem sozialen Innen, dem Eigenen, und einem sozialen Außen, dem Anderen vorgenommen wird. Die Favela wird als der »Ort der Anderen« (vgl. Brailich et al. 2008 im Kontext von Großwohnsiedlungen in Frankreich, Deutschland und Polen) konstruiert, um damit die Identitätskategorie des »bürgerlichen Wir« herstellen zu können. Neben den dargelegten Dimensionen der Anerkennungsverweigerung in der sozialen Sphäre, stellt sich für den peripher modernen Kontext in Brasilien eine weitere sehr wesentliche Sphäre vorenthaltener Anerkennung heraus: Es ist die strukturgewordene Ungleichheit im Stadtraum, die das alltägliche urbane Leben der Betroffenen fundamental determiniert und einschränkt, aber auch ambivalenter Weise Geographien des Möglichen eröffnet.

D IE RÄUMLICHE S PHÄRE – F AVELA ALS UNSICHTBARER R AUM (Un-)Sichtbarkeit und Raum – Konzeptuelle Anmerkungen »Ich kann Dir sagen, dass es Tausende von Leuten hier gibt, die keine Ahnung davon haben, dass das hier eine Favela ist. Sie glauben, dass eine Favela aus Karton und zwei Holzstückchen besteht, wo es nur Müll und Ganoven gibt. Und das ist nicht die Wahrheit. Das ist eine Unwahrheit. Es gibt Arbeiter…Jetzt, gibt es Personen ohne Möglichkeiten. Sie existieren nicht. Sie sind wahr[haftig]... es ist wie wenn diese Teile der Stadt, nicht Teil der Stadt wären, sie sind unsichtbar.« (2007/8/58)

Städte sind äußere Formen von Urbanität, sozialem Leben und als gebaute Umwelt Ausdruck architektonischer und stadtplanerischer Ideen und Ideale. Sie sind damit Triumphe des Sichtbaren. Somit ist auch evident, dass die brasilianischen Favelas konstitutives Element des strukturellen und visuellen Stadtraumes sind, wenngleich sie ohne Architekten und Stadtplaner entstanden sind. Aufgrund ihrer zentralörtlichen Präsenz in den Innenstädten und ihrer diskursiven alltäglichen Herstellung als Räume des Abnormen, Gewalttätigen und Prekären durch die Medien, sind diese die »sichtbarsten Lebensräume der Welt« (2007/5/38),

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was nicht bedeutet, dass Sichtbarkeit einer erfahrungsnahen und leibbezogenen Kenntnis des Raumes entsprechen müsste. Dies zeigt das folgende Zitat: »Es [die Favelas] sind die sichtbarsten Lebensräume der Welt! Ja, die sichtbarsten, aber unsere Eliten schenken ihnen keine Beachtung, weil dort unmenschliche Bedingungen herrschen. Manchmal gibt es keine Abwasserversorgung, oder kein Wasser, z.B. Elektrizität gibt es, aber sie wird von den Strommasten gestohlen, Licht wird nicht in Rechnung gestellt, es ist schrecklich (...).«(2007/5/38) »Schau her, für mich ist die Favela unsichtbar, weil ich sagen kann, dass ich nicht mal in die Nähe davon kommen will, aber wenn man das von weiter weg betrachtet, hat man nicht einmal den Mut dazu hineinzugehen, weil die Häuser aus Pappkarton sind, das bedeutet… der Lebensraum ist sichtbar weil man weiß, dass dort Menschen leben, in bitterer Armut.« (2007/5/38)

Die Wahrnehmung und ein echtes Bewusstsein über einen Raum hängen in entscheidender Weise davon ab, ob das Subjekt mit dem Raum Erinnerungen verknüpft. Diese Erinnerungen sind wiederum gebunden an gemachte Erfahrungen, die über Ohr, Auge und Nase gewonnen wurden. Leibphänomenologisch betrachtet ist Wahrnehmung eine aktive Beziehung des Subjekts zu Subjekten, Objekten, Orten und Räumen. Erinnern ist sowohl Voraussetzung als auch Folge dieser Arbeit. Sich erinnern ist damit ebenso ein Akt der Arbeit. Aber wie können sich die Privilegierten an etwas erinnern, wie obige Aussage illustriert, wenn sie diese Räume nicht haptisch und über ihre Sinnesorgane wahrgenommen haben? »Die Mehrheit der Mittelschicht kennt keine Favela…Nein, sie kennen keine, sie sind noch nie in einer Favela gewesen.« (2007/8/58) In dieser Perspektive liegt sicherlich die entscheidende Determination getrennter, unverstandener und abgelehnter Lebenswelten zwischen anerkannten und nicht-anerkannten Räumen und ihren Bewohnern in Brasiliens Städten. »Die Oberschicht geht nicht in die Favelas. Sie [Favelas] sind unsichtbar für sie. Sie wissen zwar, dass sie existieren, weil sie darüber lesen. Nur über die Medien und die Zeitung haben sie darüber Informationen, das war’s dann. Darüber hinaus gehen sie nicht.” (2007/7/51)

Ist an diese Nicht-Erfahrung des Raumes Favela eine herabgesetzte Empathie den Menschen aus diesen Lebenswelten gegenüber gekoppelt? Daraus folgen Raumzuschreibungen und -bewertungen, die exklusiv aus dem Meinungsbild der Medien gespeist sind. Diese erfahrungslose Aneignung führt dann wiederum dazu, dass die Menschen außerhalb der Favelas ihre Handlungen auf mediale Fremdzuschreibungen stützen:

184 | E XKLUSION IM Z ENTRUM »Weißt Du, aber niemand will aus seinem Auto aussteigen und vor dieser bescheidenen Türe parken, vor der es nicht einmal einen Bürgersteig gibt, manchmal haben die Straßen keinen Bürgersteig. Sie wollen ihr Auto nicht in solchen Straßen stehen lassen, weil es gefährlich ist, es ist gefährlich.” (2007/7/52)

In der Ablehnung und Vermeidung einer Kontaktaufnahme mit diesen Stadträumen verdichtet sich mehr und mehr eine Haltung der Gleichgültigkeit, Empathielosigkeit und Verdinglichung. Sie führt in der Folge dazu, dass die Favelas im Wahrnehmungshorizont der Menschen der ›formalen Stadt‹ lediglich abstrakt und unerlebt existieren. Sie gelangen erst gar nicht in den Wahrnehmungsraum oder verschwinden daraus, sie werden unsichtbar und geltungslos: »Sie sind wirklich unsichtbar und sie [die Reichen] werden sich nie Gedanken machen, warum sie arm sind, warum ich reich bin, warum ich reich bin und sie arm sind. Sie [die Reichen] werden niemals begreifen, dass wenn man seine Hand einer Person in der Favela reichen würde, dass man damit jemand etwas ermöglichen könnte, man muss [ihn] nicht [gleich] adoptieren und mit nach Hause nehmen.« (2007/8/62)

Im Kontext der Wahrnehmungssphäre erscheint daher die kategoriale Dualität von sichtbar versus unsichtbar eine Möglichkeit zu bieten, Räume bzw. deren darin lebende Subjekte anerkennungstheoretisch reflektieren zu können. Eine konzeptionelle Fokussierung auf das Moralempfinden im Kontext von Nähe und Distanz im urbanen Raum von Brasilien wäre über eine Reflexion von »Geographien der Moral« (vgl. Korf 2006; Smith 1999, 2000a, b) sicherlich erkenntnisreich, sprengt jedoch hier den Rahmen der Analyse.3 »Die Favela ist ein getarnter Raum. Es ist nicht so, dass sie nicht existieren würde, sie ist getarnt. Sie sind hinter Mauern, weil sie auch in der Nähe von reichen Vierteln sind, verstehst du das? In der Nähe von Vierteln der oberen Mittelschicht, Mittelschicht und Oberschicht. Also sind sie [die Mauern] notwendig. Diese Leute, die dort ohne Bildung leben, ohne eine Ausbildung, sie sind notwendig, dafür, dass die Leute, welche in den besser ge-

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Das Konzept »Caring at a distance« begründet die Spendenbereitschaft von Individuen in Form der Fürsorge einer distanzierten Anerkennung und positiven Zurkenntnisnahme von Armen, von Hunger und Katastrophen betroffenen Subjekten im Globalen Süden. Die Frage der Fürsorge benachteiligter Bevölkerungsgruppen im eigenen Land und sogar direkter Nachbarschaft erscheint in moraltheoretischer Perspektive anderen Logiken zu gehorchen.

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stellten Vierteln leben, in der besser gestellten Gesellschaftsschicht, ihre Dienste nutzen können« (2007/2/15).4

Die Frage, ob Räume einen Wert, im Sinne anerkennender Sichtbarkeit mit einer gesellschaftlichen Relevanz haben, hat auch Konsequenzen für die kartographische Existenz von Räumen. Dass Favelas in Brasilien kartographisch negiert werden zeigen folgende beiden Abbildungen. Diese beiden illustrieren unterschiedliche visuelle Realitäten. Abbildung 18 repräsentiert den Ausschnitt aus einem handelsüblichen Stadtplan von Rio de Janeiro mit dem Stadtteil Botafogo im Zentrum. Der Bereich der Hanglage nordwestlich davon, der namentlich mit Morro Santa Marta bezeichnet ist, zeigt keine Siedlungssignatur. Demgegenüber stellt die photographische Aufnahme (Abbildung 19) vom Corcovado deutlich sichtbar die Favela Dona Marta im Vordergrund dar.5 Ist hier festzustellen, dass die Favelas unsichtbare Räume darstellen, da in ihnen das Paradoxe des Urbanen sichtbar wird? All jenes, was das herrschende Bürgertum mit vereinten Kräften von sich weist und von sich ablöst. Es ist das Verdrängte, Unbekannte, Ausgegrenzte, Ungeordnete und das in Eigengesetzlichkeit Strukturierte.

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Vgl. hierzu auch: »Hier im Campo Grande, zwischen Canela und dem Vale do Canela gibt es eine Favela, die niemand wahrnimmt. Ich bin gekommen, um den Karneval kennen zu lernen, als niemand durch das Campo Grande gekommen ist, da hat eine Frau zu mir gesagt ›Ich kenne einen Weg‹. Eine Favela, die zementiert ist. Die Straßen sind nicht breiter als 1,5m, die Straßen sind so eng, als wären sie Zimmer eines größeren Bauwerks. Es ist eine Favela. Es ist wie ein kleiner Weg, es reicht für ein Gässchen, ich glaube dass Seu Barbosa es nicht mal weiß, dass es im Canela existiert. Canela ist ein Viertel der Oberschicht. Campo Grande ist ein Viertel der Oberschicht. Und diese Favela liegt genau zwischen den Gebäuden, es ist eine Favela die schon an die Kanalisation angeschlossen ist, es ist eine Favela, die schon überall asphaltiert ist, weil sie so in der Nähe [der Oberschicht] liegt und [damit] so notwendig ist, dass sie erhalten wurde, dass sie bewahrt und sich um sie gekümmert wurde. Daneben gibt es aber auch Favelas, die aus Zink bestehen, aus Planen oder Karton, die befinden sich aber mehr in der Peripherie.« (2007/2/16)

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Auch Jaguaribe & Hetherington (2004) haben in Ihrem Beitrag zu Mapless Representations of the Real in Rio de Janeiro auf diese nicht repräsentierte Repräsentation der Favelas in Rio de Janeiro hingewiesen.

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Abbildung 18: Favelas als unsichtbare Stadträume: Ausschnitt aus dem Stadtplan von Rio de Janeiro (Melhoramentos 2000: Rio de Janeiro.)

Abbildung 19: Rio de Janeiro: Blick vom Corcovado in Richtung Botafogo; © Eberhard Rothfuß (09/2006)

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Visuelle Sichtbarkeit und soziale Unsichtbarkeit In diesem Kapitel soll die Dialektik zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren thematisiert werden. Diese bezieht sich nicht auf ein räumliches/optisches Sehen bzw. Nicht-Sehen, sondern auf ein soziales Nicht-Sehen. »Die Schwarzen sind ein unsichtbares Volk für die Mittel- und Oberschicht! Wenn man nicht auf irgendeine Art auffallen kann, indem man studiert oder sich darstellt, wird man immer weiter zu der Statistik der Unsichtbaren gehören, zu den Personen... die so denken ›ah, in der Favela da gibt es nichts, das brauchbar ist‹.« (2007/8/58)

Diese Aussage einer dunkelhäutigen Frau entfesselt eine kollektive Wahrnehmung bezüglich ihres eigenen gesellschaftlichen Status. Unsichtbarkeit einer Person bedeutet eine unzweifelhafte Empfindung der Irrelevanz und der Wertlosigkeit. Als inexistent zu gelten, stellt einen unerträglichen Subjektstatus dar. Die Tragik der Alltäglichkeit von personaler Irrelevanz veranschaulichen die folgenden beiden Bilder.

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Abbildungen 20 & 21: Die Alltäglichkeit des Elends: Soziale Unsichtbarkeit? © Eberhard Rothfuß (10/2007). Zeigt sich hier einerseits die emotionale wie wahrnehmungsbasierte »Abstumpfung« und die »Blasiertheit« des Städters im Sinne von Simmel (1906) und andererseits des irrelevanten sowie sozial- und anerkennungstheoretisch unsichtbaren Subjekts, das sich auf dem Gehweg platziert um zumindest seine (körperlichmaterielle und damit sichtbare) Existenz zu demonstrieren und um der armutsbedingten Einsamkeit in einem kapitalistischen Staat zu entgehen? Ist dies ein letztes Mittel um auf sich aufmerksam zu machen, sich der eigenen Existenz zu versichern? Ist damit auch eine moralische »Anrufung« im Sinne von Althusser (1977) an die Erbarmungslosigkeit der brasilianischen Alltagswirklichkeit impliziert? »Es fehlt das Gefühl der Sensibilität, der Verantwortlichkeit, ich glaube, dass betrifft alles insgesamt. Verantwortlichkeit, Sensibilität, es fehlt an Nächstenliebe, das gehört alles zusammen und das schafft dieses Gesamtgefüge an fehlendem Mitgefühl. Nicht Emotionen, nur Vernunft, so gehen sie oft damit um und die Situation, dass man in der gleichen Stadt lebt und denkt, dass es hier Arme gibt, dass es Bedürftige gibt, geht vorbei.« (2007/8/63)

Kulturgeschichtlich gibt es viele Zeugnisse von Situationen, in denen Herrschende ihre soziale Überlegenheit gegenüber den Untergebenen dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie vorgaben, sie nicht wahrzunehmen. Dürr (1988) hat beispielsweise in seinem Werk Nacktheit und Scham gezeigt, dass es Adeligen gestattet war, sich vor ihrem Dienstpersonal zu entkleiden, da sie in einer bestimmten Art und Weise als nicht anwesend, letztlich als inexistent galten.

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Auf den modernen Kapitalismus bezogen, beschreibt Castells (1990, S. 213) den Zustand der personalen Irrelevanz hinsichtlich der Entwicklungspfade einer »zweigeteilten Stadt« von Arm und Reich in Lateinamerika, den USA und Europa: »Wir bewegen uns von einer Situation sozialer Ausbeutung zu einer Situation funktionaler Irrelevanz. Wir werden einen Tag erleben, an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden, denn noch schlimmer als Ausbeutung ist, ignoriert zu werden.«

Auch für Offe (1996, S. 274) sind es die »Überflüssigen« (vgl. diesbezüglich auch Bude & Willisch 2006, 2008), die es im engeren Sinne von den »Verlierern« zu unterscheiden gilt. Denn die Verlierer sind immer noch Teilnehmer am gesellschaftlichen Spiel um Ressourcen und um Anerkennung im sozialen Raum; die Überflüssigen hingegen sind von der Teilnahme an diesem Spiel gänzlich ausgeschlossen, sie sind nicht (mehr) von Relevanz und haben nicht einmal mehr die Chance, zu den Verlierern zu gehören. Gewinner und Verlierer gehören zum Inklusionsbereich, während die Überflüssigen im Exklusionsbereich anzusiedeln sind (Schroer 2001, S. 36; vgl. Nassehi 2000). Im konzeptionellen Teil der Arbeit wurde eingehend das intersubjektive Paradigma der Anerkennung dargelegt. Das menschliche Grundbedürfnis nach intersubjektiver Anerkennung in einer Gesellschaft bzw. die nicht gewährte Anerkennung und deren Folgen wird auch implizit damit jedoch nicht weniger eindrücklich in dem Roman Der unsichtbare Mann von Ellison (2003) thematisiert. Darin beschreibt der dunkelhäutige Protagonist als Ich-Erzähler seine erfahrenen Empfindungen. Er ist mit einer sehr subtilen Form der rassistischen Demütigung durch die Weißen im Amerika der 1960er Jahre konfrontiert: Einer Form der Unsichtbarkeit und der Irrelevanz, die nicht mit physischer Nichtpräsenz, sondern mit Nichtexistenz in einem sozialen Sinne zu tun hat und ein »Hindurchsehen« als »intentionales Nicht-Sehen« (Honneth 2003) und damit eine subtile moralische Missachtungsform bedeutet: »Ich bin ein Unsichtbarer. Nein, keine jener Spukgestalten, die Edgar Allan Poe heimsuchten, auch keins jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood hergestellt werden. Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – und man könnte sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will. [...] Meine Unsichtbarkeit wird auch nicht durch eine besondere biochemische Beschaffenheit meiner Haut bedingt. Die Unsichtbarkeit, die ich meine, ist die Folge einer eigenartigen Anlage der Augen derer, mit denen ich in Berührung komme, des Baus ihrer inneren Augen, jener Augen, mit denen sie durch ihr körperliches Auge die Wirklichkeit sehen. Ich beklage mich nicht, ich protestiere auch nicht. Manchmal hat es sogar sein Gutes, unsichtbar zu sein, aber meist ist

190 | E XKLUSION IM Z ENTRUM es sehr bedrückend. Man stößt dauernd mit denen zusammen, die schlecht sehen können. Manchmal hat man sogar Zweifel an seiner eigenen Existenz.« (Ellison 2003, S. 7f.)

Der Ich-Erzähler erklärt sich die gemachte Erfahrung von Unsichtbarkeit, indem er einen bestimmten »Bau« des »inneren Auges« der Weißen dafür verantwortlich zeichnet, die dauernd durch ihn hindurchschauen. Es sind dabei nicht die »körperlichen Augen« derer, die ihn für unsichtbar halten, also äquivalent einer tatsächlichen Blindheit, sondern einer Art inneren Disposition, die sie ihn nicht wahrnehmen lasse.6 In dem Prolog des Buches artikuliert er wenig später seine Reaktionen auf die erfahrene Unsichtbarkeit, indem er sich selbst in seiner Existenz zu vergewissern versucht, indem er ständig handgreiflich »Umsichschlagen« muss. Darin möchte er »die Anderen«, für die er unsichtbar ist, provozieren, dass sie ihn »erkennen« (ebd., S. 7f.). Es ist ein im übertragenen Sinne auf sich aufmerksam Machen des von Unsichtbarkeit betroffenen Subjektes. Es sind sichtbare Reaktionen, mit denen der Protagonist die »Anderen« um Aufmerksamkeit geradezu nötigt, da ihm diese verwehrt wird. Ist dieses handgreifliche Tun mit der passiven körperlichen Präsenz der Menschen auf den Gehwegen Brasiliens nicht auch vergleichbar? Die bewusste Konfrontation mit dem prekären Körper zwingt die Fußgänger zumindest über diese zu steigen, um ihren Weg fortsetzen zu können. Sie stellen sich den Gehenden als materieller Widerstand entgegen. Es ist eine letzte Form des mahnenden Protestes sich gegen die bestehenden Verhältnisse zu wehren. In einem etwas abgemilderten aber nicht weniger eindringlichen und damit vergleichbaren Duktus zum »Unsichtbaren Mann« artikuliert eine Frau aus Calabar ihr Empfinden über ihren alltäglich erfahrenen Subjektstatus in der Gesellschaft. Es ist das »HindurchSehen« der Umwelt, was sie als machtvolles Gefühl der Demütigung wahrnimmt. »Ja, manchmal reicht ein Blick schon aus, dass man sich verlegen fühlt, verstehst du, verlegen so im Sinne von unterlegen (...). Es gibt solche Geschäfte, da gehst du hinein und niemand beachtet dich. Wenn du eine Verkäuferin ansprichst, einen Wunsch hast, dann sehen sie durch dich durch, als ob du Luft wärst.” (2005/7/69)

Das »intentionale Nicht-Sehen« der Unterklasse durch die Mittel- und Oberklasse (und z.T. sicherlich auch der Unterklasse), also deren erfahrene soziale Irrelevanz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft Brasiliens, könnte das disziplinierende Gegenkonzept zum Sklavenpranger darstellen, an dem bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Sklaven öffentlich zur Machtdemonstration vorgeführt, bestraft und zur Abschreckung und Kontrolle sichtbar gemacht wurden.

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Vgl. hierzu auch Honneth (2003, S. 10ff.)

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Abbildung 22: Der Pelourinho (Sklavenpranger) in Vila do Conde, Nordportugal: Instanz der Machtausübung durch Sichtbarmachung zur Disziplinierung und Demütigung; © Eberhard Rothfuß (09/2010). Der Name pelourinho zeugt von einem früheren Ort der Rechtsprechung und des Strafvollzugs. So wurde in Vila do Conde (Nordportugal) eine steinerne Säule auf dem Platz vor der Pfarrkirche genannt und galt in (kolonial-)historischer Zeit als Schandpfahl. In Salvador da Bahia war der Pelourinho am gleichnamigen Largo do Pelourinho, dem damaligen Sklavenmarkt, bis 1835 in Gebrauch (vgl. Abbildung 23. In Brasilien wurde 1888 die Sklaverei durch das goldene Gesetz endgültig abgeschafft. In der Folge löste sich das feudale Gesellschaftssystem auf, die hierarchische Status- und Klassengesellschaft blieb aber erhalten. Es mussten daher andere Herrschaftsmittel wie die sichtbare Disziplinierung und Beschämung der Sklaven entwickelt werden, um den Machtanspruch und die Privilegien der Eliten weiterhin durchsetzen und rechtfertigen zu können. Wäre hier als Gegenmodell die soziale Unsichtbarkeit den Nachfahren der Sklaven gegenüber zu behaupten, das auf subtile und opake Art und Weise den Wert und die Geltung der marginalisierten Mehrheit innerhalb der Gesellschaft unterminiert und zu defensiven Attitüden der Apathie, Scham und Resignation nötigt?

192 | E XKLUSION IM Z ENTRUM »Ich fühle mich am meisten ausgeschlossen, als ob ich einfach nicht da wäre, wenn einem die Leute nicht den geringsten Wert beimessen. Wenn man eine Arbeit sucht, reicht es schon zu sagen: ›Ich wohne in Calabar‹, und die Leute wollen dir keine Arbeit geben, weil sie denken, das Viertel ist schlecht, also bist Du aus dieser Welt auch schlecht.« (2005/13/100)

Abbildung 23: Largo do Pelourinho, ehemaliger Sklavenmarkt von Salvador da Bahia; © Eberhard Rothfuß (04/2004). Das Subjekt nimmt seine soziale Unsichtbarkeit insofern wahr, als anerkennende Reaktionsweisen der sozialen Umwelt ausbleiben, die jedoch menschlich erwartbar sind, da Expressionen der positiven Zurkenntnisnahme unabdingbar für das Subjekt per se sind. Hinter den empirischen Aussagen erlittener sozialer Unsichtbarkeit steht ein anerkennungstheoretisches Phänomen der kolonialhistorisch basierten Peripheren Moderne Brasiliens. Honneth (2003, S. 10) begreift »soziale Unsichtbarkeit« als ein moralisches Epistem von Anerkennung. Der Begriff der Unsichtbarkeit folgt damit nicht einem im kognitiven und optischen, sondern einem im sozialen Sinne definierten Tatbestand. Es wird deutlich, dass im Modus dieser moralischen Missachtung in Form der Wertlosigkeit der Unterklasse – Souza (2006) spricht von der ralé (»Gesocks, Pack«), der subcidadania als »menschlichem Müll« – eine grundle-

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gende Deformation im notwendigerweise auf Wechselseitigkeit beruhendem Anerkennungsprozess besteht. Noch drastischer schreibt Mattos (2006, S. 115) vom brasilianischen Typus der »Nicht-Menschen«: »Der Begriff ›Nicht-Mensch‹ wird in bewusst provokanter Weise verwendet, um diejenigen Menschen zu bezeichnen, die aufgrund fehlenden marktrelevanten Wissens ihren Körper dem Markt anzubieten haben. Als Beispiele für Arbeiten, die auf dem Körpereinsatz basieren, haben wir: Hausangestellte; Prostituierte; Arbeiter bei Umzugsfirmen, die keinerlei Maschinen benutzen, um beim Einpacken und Transport von Lasten zu helfen; Autowäscher, die auf der Straße arbeiten; mobile Verkäufer etc. Von den Personen dieser Kategorie, die in prekärer Form in den Markt integriert sind, gibt es diejenigen, die formell in den Arbeitsmarkt eingebunden sind, wie auch diejenigen, die von informellen Beschäftigungen leben. Die Unterklasse wird zudem auch von Personen gebildet, die in keiner Weise am Arbeitsmarkt beteiligt sind und durch Almosen und Sozialprogramme überleben.«

Dieser Vollzug der selektiven Missachtung und Demütigung der Bevölkerungsmehrheit durch eine Minderheit der Privilegierten ist seit dem Beginn des Kolonialismus ab dem 16. Jahrhundert etabliert worden. Grundsätzlich wird in dem Dualismus der anthropologischen Kategorie Sichtbarkeit – Unsichtbarkeit der Unterschied zwischen Erkennen und Anerkennen deutlich: »Während wir mit dem Erkennen einer Person deren graduell steigerbare Identifikation als Individuum meinen, können wir mit ›Anerkennung‹ den expressiven Akt bezeichnen, durch den jener Erkenntnis die positive Bedeutung einer Befürwortung verliehen wird.« (Honneth 2003, S. 15)

Die Folgen dieser erlittenen Unsichtbarkeit, also verweigerter Anerkennung eines Wertes und einer Geltung des Subjektes, münden in einer Verweigerung der positiven Zurkenntnisnahme der Favelabewohner durch die Privilegierten und einer (möglichen) Verinnerlichung einer negativen Selbstbeziehung der Missachteten. Räumliche Unsichtbarkeit als Voraussetzung für Geographien des Möglichen Auch hier steht die Ambivalenz Pate der empirischen Analyse: Aus der Irrelevanz und Unsichtbarkeit von Subjekten und Räumen können mögliche Geographien entstehen, die unter Kontrolle, panoptischer Sichtbarmachung und Disziplinierung nicht zu machen wären. Hierin liegt also auch ein Moment von Freiheit, Selbstbestimmung und Spontanität. Im residuellen Stadtraum Favela lebt es sich unter Umständen unbeschwerter und konventionsloser.

194 | E XKLUSION IM Z ENTRUM »Wenn wir Feste feiern wollen, feiern wir sie. (...) alles spielt sich auf der Straße ab, da kann jeder dabei sein und niemanden stört die Musik. Nirgends lebt es sich so frei wie hier. In gewisser Weise sind wir doch privilegiert hier in Calabar! Wohnen in der Innenstadt nahe am Shopping Center und dem Strand. Wir haben hier alles was wir brauchen zum Leben. Und keiner stört uns hier. Die Reichen würden ja nie einen Fuß in die Favela setzen! Auch die Polizei ist hier nicht sehr präsent. Die haben Angst zu uns rein zu kommen. Wir fühlen uns in den verwinkelten Gassen wohl.« (2006/18/269)

An voriger Stelle wurde bereits eingehend der Entstehungs- und Strukturierungscharakter des organischen Raumes von Calabar reflektiert. Die bauliche Umwelt des Verschachtelten, Unzugänglichen und Labyrinthischen ermöglicht den darin lebenden Menschen Schutz und Integrität vor der Ablehnung und Beschämung von außen. Diese Schutzfunktion bestätigt auch Deffner (2010b, S. 183f.) in ihrer empirischen Analyse: »Für die Favela-Bewohner stellt die Favela jenseits ihrer beschämenden Seite allerdings auch ein vor Scham und Beschämung schützender Raum dar.« »Hier ist ein guter Ort, du kommst an und knüpfst sofort Bekanntschaften. Ich bleibe eigentlich immer hier, mit meinen Freunden, dort am Eck’ bei Pedrinho, da trinken wir dann unsere Bierchen, eins hier, das andere dort und das letzte zu Hause. (...). Ich habe schon auch Freunde in anderen Vierteln …aber ich bin einfach lieber hier.« (2006/18/274)

Deffner (2010b, S. 184) argumentiert jedoch weiter, dass die Favela für ihre Bewohner als Möglichkeits- und Schutzraum unintendiert eine »Selbst-Exklusion« darstellen würde und damit die gesellschaftliche Teilung bzw. soziale Ungleichheit reproduziert würde. Dem ist einerseits sicherlich zuzustimmen, auch im Sinne De Certeaus (1988, S. 31) Diktum »Wenn man nicht das hat, was man liebt, muss man lieben was man hat.«, könnte andererseits aber nicht auch aus einer anderen Perspektive begründet werden, dass die Bewohner der Favelas in ihrer freien Zeit einfach das tun, was ihnen Spaß macht und wonach ihnen der Sinn steht? Dort Bier zu trinken, wo es am meisten geteilte Freude und am wenigsten Stress verursacht? Hier könnte Deffner durchaus einer ›self-fulfilling prophecy‹ erliegen sein, den eigenen bürgerlichen Blickwinkel über die empirischen Daten zu stülpen und das Handeln der Menschen entsprechend der argumentativen Vorgabe und Kohärenz einseitig zu determinieren. Diese Interpretation wird dann zu einer monolithischen und statischen Kritik, ohne die Subjekte selbst als bewusst Handelnde zu berücksichtigen und damit ernst zu nehmen. Aber wäre es nicht auch möglich, dass aus erlittener Unsichtbarkeit auch Empfindungen des Irrelevanten den Privilegierten gegenüber resultieren können?

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Diese gehen mit einer Abwertung der Lebenswelt der Anderen und einer Aufwertung der eigenen einher. »Zu wissen, dass ich das persönliche Leben von Ihnen hätte, gefiele mir; Geld zu haben um ein besseres Leben zu führen, auszuruhen, aber ich möchte nicht das Leben von denen haben: Ohne Gesellschaft, wenige Freunde, Einsamkeit – also ich glaube sie sind zum Teil einfach unglücklich.« (2007/17/145)

Es ist die Habgier, die Unzufriedenheit und ein Leben ohne Freude, was den Mittelschichten der Nachbarschaft von den Menschen aus Calabar attestiert wird. Sie würden nicht über diesen Raum des Freiseins verfügen und wären daher unglücklich. »Und ich, ich bin mit dem Wenigen, das ich habe, sehr viel mehr zufrieden und glücklich damit, weil ihre Zufriedenheit besteht daraus Geld auf dem Konto zu haben. Und oft wenn man das genauer betrachten würde, wenn man in eines ihrer Apartments gehen würde, haben sie nicht mal was zu essen, weil sie ihr gesamtes Geld aufsparen. Die Habsucht ist so groß, dass sie darauf verzichten, ein besseres Leben, das sie haben könnten, zu führen. Und ich, der weniger verdient, man kann es nicht vergleichen, ich versuche zufrieden zu sein mit dem was ich habe, ich feiere Feste zuhause, bin mit der Familie zusammen... und sie machen all das nicht, sie haben diesen Freiraum nicht, weil sie nicht wollen. Sie wissen nicht, was ihnen entgeht. Sie schätzen diese Zufriedenheit nicht.« (2007/17/145)

Es wird hier ein Selbstbewusstsein zum Ausdruck gebracht, das die bürgerlichen Errungenschaften des materiellen Wohlstandes in Frage stellt und diesem ein Zufriedenheits- und Wohlgefühl trotz Mangel an Besitz und Status entgegensetzt. Mit diesen artikulierten Empfindungen der »Schwachen« ist auch die Frage nach Anerkennung verknüpft. In gesamtgesellschaftlichem Kontext abgelehnt und für irrelevant erklärt zu werden, ermöglicht immerhin noch innerhalb der eigenen (räumlichen) Lebenswelt Anerkennung und Respekt zu erfahren und zu geben. Favela als Anerkennungsraum »In Calabar respektiert mich jeder und ich respektiere jeden.« (2007/17/150)

Hier wird die positive Konnotation des eigenen Viertels hervorgehoben. Die Favela wird als respektspendender Schutzraum empfunden, der seinen Bewohnern Sicherheit zu geben scheint. Der gemeinsam bewohnte und belebte Raum fordert gegenseitige Achtung – in Art einer Schicksalsgemeinschaft gegen das ablehnende und missachtende ›Außen‹. Respekt als zentrale Kategorie der internen Handlungsweisen wirkt insofern konstruiert, als auch die Favela selbst ein Universum mit allen lebensweltlich positiven wie negativen Attributen urbaner Exis-

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tenz aufweist. Die Aussage hat dennoch Gültigkeit, da mit ihr eine alltägliche Erfahrung und Perzeption verbunden ist, die den dort lebenden Subjekten ihre bejahende Zurkenntnisnahme garantiert, ganz im Gegensatz zu den öffentlichen und privaten Räumen der ›formalen Stadt‹. »Ich kämpfe wirklich dafür, ich kämpfe gegen die Ungleichheiten. Ich bin Teil von Jugendgruppen hier in Calabar und ich versuche etwas gegen soziale Ungleichheit und alles andere. Aber hier ist das sehr schwierig, dadurch dass die Leute hier keine Möglichkeiten haben. Aber nichts ist unmöglich. Der Kopf der Jugend heute ist sehr verdreht. Sie gehen durch ein Problem und sie glauben, dass sie aus diesem Problem nicht mehr rauskommen, von da stürzen sie sich in die Drogen, in das Gaunerpack. Das ist, was sie wollen, was die Regierung will, dass die Schwarzen alle Drogendealer, Gauner werden und bleiben, damit sie mit dem Schwarzen abschließen können, weil sie nur unter sich bleiben wollen. Wir müssen kämpfen, sehr stark kämpfen, damit wir ihnen diesen Gefallen nicht tun. Und das ist das, was ich mache, ich steuere meinen Teil bei, ich bin Teil von Jugendgruppen, von Pagode Bands, ich versuche die Jungen zu animieren, die jetzt hinzukommen, ich nehme sie zu mir, damit wir Musik machen, damit sie ein Instrument spielen lernen, damit ihre Gedanken beschäftigt sind, und sie nicht zum Gaunerpack gehen. Ich mache immer, was ich kann.« (2007/17/151)

Die Thematisierung sozialer Ungleichheit und die Aufnahme des Kampfes innerhalb der eigenen – in der Favela praktizierten – Möglichkeiten, symbolisiert den Willen für Gerechtigkeit einzustehen. Es ist jenes »faire avec«, eine pragmatische Wendung des »Mit-Machens« um »etwas damit zu machen«, wie es De Certeau (1988, S. 31) formuliert hat. Es ist keine Resignation, sondern ein bejahendes Tätig-Sein, das hier zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus stellt die Alltagswelt Favela eine weitere positive Bezugnahme seiner Bewohner dar: Die sich darin hervorbringenden Akte kultureller Praxis und Kreativität. »Die Kultur ist sehr ausgeprägt. Wir sind sehr reich an Kultur hier. Wir machen Musik, wir singen, wir spielen Instrumente, alles gibt es dort. Theater, was man sich vorstellen kann, gibt es dort. Verschiedenste Arten von Künstlern gibt es dort, aber sie gehen nicht fort von dort. Es gibt eine Capoeira-Gruppe dort. Alle Capoeira-Gruppen aus Salvador, aus dem Viertel, präsentieren sich wo immer Platz dafür ist, sie reisen und machen diese Sachen eben.« (2007/16/31)

Diese Kreativität und sozialkulturelle Praktiken stärken wiederum in gewisser Weise den Stolz auf das Eigene, ohne Unterstützung von außen etwas geschaffen zu haben. Es ist auch ein klares Bewusstsein darüber, in einem vernünftigen Stadtraum unter vernünftigen Nachbarn zu leben, der jedoch vollkommen vernachlässigt ist und aus diesem Grunde größere Probleme aufweist als andere.

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»Das hier ist kein Ort im Urwald! Es ist ein Ort wie jeder andere, der soziale Probleme hat, es gibt Verbrechen, es gibt alles, aber es ist nur ein bisschen mehr, weil es keine Unterstützung gibt, es gibt niemanden der irgendetwas für diese Leute, die vom rechten Weg abkommen, tut.« (2007/17/146)

I NTUITIV GEGEBENE G ERECHTIGKEITSVORSTELLUNGEN DER ›S CHWACHEN ‹ Vorhergehende Ausführungen haben in vielfältiger Weise dargelegt, wie und wo sich Anerkennungsvergessenheit in Salvador vollzieht. Diejenigen, die unter verweigerter Anerkennung zu leiden haben, sind sich darüber vollkommen im Klaren. »Weißt du, rebellisch zu sein, ohne Grund ist furchtbar. Weil die Widerspenstigkeit, die Wut, eine Position gegenüber der Gesellschaft einnimmt, den Dingen begegnet. Situationen zu ertragen, gefangen zu gehen…Es muss einen Grund geben. Man kann nicht einfach kritisieren um etwas nieder zu machen.« (zitiert in: Hölldampf 2010, S. 173)

Konstitutive Voraussetzung für eine widerständige Alltagspraxis, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse stellt, ist ein Bewusstsein über die eigene Inferiorität, Benachteiligung und Subalternität zu besitzen. Wie es bereits Freire (1973) beschrieben hat, bildet erst dieses Bewusstsein die Möglichkeit, einen Kampf zu beginnen, der die intransparenten Strukturen der gesellschaftlichen Ungleichheit zu erkennen vermag, um daraus neues Potential für gerechtere Verhältnisse zu generieren. Die empirischen Erkenntnisse, die im Folgenden ausgeführt werden, attestieren ein ausgeprägtes Empfinden für bestehendes Unrecht. Diese bestätigen Honneth (1992, S.99), der vom »Unrechtsempfinden der Unterklassen« schreibt, die sich durch die sozialen Erfahrungen von Erniedrigung und Missachtung konstituieren. So ist der Bezugspunkt einer reaktualisierten Kritischen Theorie der Frankfurter Schule aus seiner Sicht nicht die habermassche Orientierung an positiv formulierten Moralprinzipien, sondern die Erfahrung der Verletzung von »intuitiv gegebenen Gerechtigkeitsvorstellungen« (ebd.). Und diese Intuition als humane Kondition liege dem sozialen Protestverhalten und Unrechtsempfinden von Unterschichten motivational zugrunde. Daher sieht Honneth auch im Unterschied zu Habermas im Erwerb sozialer Anerkennung die fundamental gelagerte normative Voraussetzung allen kommunikativen Handelns. Die Befragten äußern diesbezüglich in vielen verschiedenen Dimensionen die Existenz von unrechter Behandlung im Alltagsleben. Insbesondere die for-

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maljuristische Dimension wird artikuliert: »Die brasilianische Gerechtigkeit ist keine echte Gerechtigkeit, es ist eine Gerechtigkeit, die nur auf dem Papier existiert.« (2007/21/170) Der gesellschaftliche Anerkennungs- bzw. Missachtungsstatus wird am intensivsten entlang der Demarkation der Hautfarbe zwischen Weiß und Schwarz festgemacht. Dieser wird in Korrelation zu Bildung und Unbildung gesetzt. Es würden etwa im Karneval nur die Schwarzen von der Polizei geschlagen, was jedoch keinesfalls gerecht und rechtlich ist: »Keiner hat das Recht eine andere Person zu schlagen, eine andere Person anzugreifen. Wenn eine Person zuschlägt, selbst wenn die Person stiehlt, darf man das nicht machen, auf jemanden zu gehen und ihn schlagen [mit den Worten:] ›Ah, er ist schwarz, du Vagabund.‹. Er kann sogar zuschlagen, aber auf dem Papier steht ›Keiner hat das Recht eine andere Person zu schlagen‹. (2007/21/169)

Die Weißen, als Töchter und Söhne von Doktoren oder Richtern wüssten im Gegensatz jedoch zu den Dunkelhäutigen ihre bürgerlichen Rechte problemlos einzufordern. »Die Polizei, z.B., wird wenn Karneval, ist keinen Weißen schlagen, sie wird einen Schwarzen schlagen, weil der Weiße bessere Schulen [besucht] hat, er hat eine gute Erziehung genossen, daher kann er reden. Der Weiße kann sogar schlägern beim Karneval, aber er wird nicht gefasst werden, wird nicht geschlagen werden, weil er reden kann, weil er auf den besten Schulen war, vielleicht ist er Sohn eines Arztes, vielleicht eines Anwaltes. Und der Soldat wird sich nicht auf ihn stürzen, er wird den Schwarzen schnappen. Der Schwarze wird sich nicht ausdrücken können, er wird nicht wissen wie er sein Recht suchen kann, denn der beste Fall ist, wenn man sein Recht kennt. Es ist mehr der Weiße, in diesem Fall macht er nichts. Und von dort kommt die Diskriminierung, aber sie ist nicht weiß, sondern schwarz.« (2007/21/168)

Die alltäglichen Erfahrungen von Diskriminierung und gesellschaftlicher Anerkennungsverweigerung über die Hautfarbe wirkt für die Betroffenen allgegenwärtig. Das Vorurteil, dass die Schwarzen Diebe seien scheint unüberwindlich: »Denn in jener Epoche war der Schwarze ein Dieb, diejenigen die am meisten stahlen, waren die Schwarzen. Und bis heute hat diese Person, die Autorität keine Möglichkeit gefunden, die Diskriminierung zu bekämpfen, weil jeder sagt, der Schwarze sei ein Dieb, der Schwarze sei jener.” (2007/21/166)

In persönlicher Erfahrung von Respektlosigkeit artikuliert eine Rezeptionistin:

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»Was kann ich sagen, über die [schwarze] Hautfarbe, sie glauben ich bin Müll. Weil ich nur Hilfs-Rezeptionistin in der Verwaltung bin. Durch die Hautfarbe glauben sie, dass ich Müll bin. Also, das ist Ungleichheit.« (2007/19/156)

Ein Leben in Desillusion scheint kollektiv geteilt zu sein. Die empfundene Ungerechtigkeit und Diskriminierung durch Rassismus ist allgegenwärtig. Empörend wirkt dabei, dass sehr oft keine Bestrafung aus diskriminierenden Handlungen folgt. Der Glaube in einen gerechten Staat ist in Brasilien tief erschüttert: »Dies geschieht oft, denn ich glaube, dass es in Brasilien an sich keine Gerechtigkeit gibt. Denn wenn dies geschieht, gibt es einige Fälle die bis in die Justiz vordringen, nur dass dies nicht offiziell ist, es müsste bestraft werden, da die Rassendiskriminierung oder soziale oder jegliche andere Art von Diskriminierung ein Verbrechen ist. Es ist ein Verbrechen, gesetzlich ist es ein Verbrechen, nur dass es nicht immer bestraft wird. Was geschieht? Ich glaube, dass noch immer sehr viel diskriminiert wird, da es nicht so rigoros bestraft wird, wie es eigentlich sein sollte. Daher gibt es immer noch so viel Diskriminierung.« (2007/20/162)

Häufig wird die Diskriminierung als versteckt wahrgenommen und dabei wird der Ungleichheitsstatus an der Art der Arbeit zwischen Weiß und Schwarz aufgespannt. Die ›Konsumwelt Einkaufszentrum‹ verdeutliche eindeutig, wer arbeite und wer dort seine Freizeit verbringe. Die Schwarzen sind dort die Wachdienste, VerkäuferInnen und niederen Angestellten, die Weißen sind die Konsumenten: »Es handelt sich mehr um eine versteckte und indirekte Diskriminierung. Im McDonalds, z.B. und in vielen Shopping-Centern hier, vor allem hier in Bahia. In Bahia ist Salvador die Stadt, in der es die meisten Schwarzen gibt, aber es ist auch die Stadt, in der es die meisten Anzeichen für Diskriminierung gibt, hier in Salvador. Im Shopping Barra z.B., sind die Schwarzen Polizisten, Sicherheitspersonal oder arbeiten in Kleidergeschäften um Sicherheit zu gewährleisten. Aber im Shopping, im McDonalds, sieht man nicht viele Weiße arbeiten, man sieht nur... oder wenn man nicht viele Schwarze arbeiten sieht, dann sieht man mehr Weiße. Die Polizisten sind mehrheitlich Schwarze. Aber in den Geschäften sieht man nicht viele Weiße arbeiten.« (2007/21/168)

Unter all diesen Erfahrungen sind sich die Schwachen dennoch gewahr ihres humanen Status in einer Gesellschaft, in der »alle Menschen gleich sind«: »In dem Film ›Ó pai ó‹, ein nationaler Film von hier, da gibt es eine Stelle, hast Du ihn gesehen? Da gibt es sogar ein paar Sachen die gut für deine Studie wären. Da gibt es eine Stelle, ein Schauspieler, Lázaro Ramos ist aus Salvador und Wagner Moura ist auch von hier, aus Salvador. Da gibt es eine Stelle, in der Wagner Moura, er ist weiß, es gibt eine

200 | E XKLUSION IM Z ENTRUM Stelle, in der nennt er diesen Schwarzen einen Schwarzen: ›Du bist schwarz, du bist schwarz, du bist Schwarz.‹ Darauf sagt der Schwarze, ›Blutest du nicht wenn du dich schneidest? Auch der Schwarze blutet. Wenn du Bier trinkst, trinkt der Schwarze auch. Wenn du pinkelst, pinkelt der Schwarze auch.‹ Es ist eine Sache wie diese, es ist alles das gleiche. Wenn Du dich schneidest, wirst du bluten, oder nicht? Es ist zwar nicht das gleiche Blut wie meins, aber du wirst bluten.« (2007/16/138)

In einer politischen Perspektive sind sich die Menschen an der unteren Leiter der gesellschaftlichen Stratigraphie bewusst, dass die Eliten Brasiliens keinerlei Interesse an einer Angleichung der Lebensverhältnisse zeigen würden. Warum auch? Warum sollten sie freiwillig oder gar aus Überzeugung auf ihre Privilegien verzichten? Die ehemalige Mitarbeiterin der Bürgervereinigung von Calabar artikuliert ein sehr klares und reflektiertes Plädoyer über den Status und den Erhalt der ungerechten Lebensbedingungen durch die politische Klasse in Brasilien, welche sie lediglich als »Palliativ-Politiker« (2007/15/110) bezeichne: »Es ist zwar so, dass die Schwarzen befreit wurden, aber was für eine Qualifikation hatten sie? Sie hatten keine Qualifikation und so blieben sie weiter Sklaven. Jetzt waren sie zwar frei, aber nun waren sie Sklaven für Kapital, da sie sonst nicht überleben konnten. Obwohl politische Maßnahmen geschaffen werden, sind diese nur palliative Maßnahmen, keine effektiven Maßnahmen, um der Ungleichheit ein Ende zu setzen. Es sind politische Maßnahmen, die nur die kleinen Problemchen lösen sollen, die Situation abschwächen, um die Bürger zu täuschen, aber in Wahrheit – das sage ich Dir – sind die Eliten daran interessiert diese Ungleichheit zu erhalten, damit ihr Status quo erhalten bleibt. Das ist meine Sichtweise.« (2007/15/111)

Die Menschen sind sich im Klaren darüber, dass brasilianische Politik sich nicht um grundlegende Reformen der ungerechten Strukturen bemüht, sondern lediglich ›schmerzlindernde‹ Eingriffe in das ungerechte System vornimmt und damit die Aufrechterhaltung des status quo gewährleistet, was ein seit Jahrzehnten unveränderter hoher Ungleichheitsindex unmissverständlich und statistisch nachweisbar bestätigt. Es wird jedoch über die Ungleichheit auch paradox argumentiert. Also nicht nur die Festschreibung des sozialen Status über die Hautfarbe, sondern der Wert und die Anerkennung des Menschen im kapitalistischen Brasilien würden über den materiellen Besitz egalisiert werden können, im Sinne von ›Geld macht gleich‹: »Da der Wert hier in Brasilien bedeutet, dass nur der Mensch, der etwas besitzt, etwas wert ist. Also, mit Geld kann man schwarz oder weiß sein.« (2007/21/169) Es ist hier eine antikulturalistische Argumentation in Anschlag gebracht, die eine »Kultur der Armut« (Lewis 1969) entlarvt.

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Auch hinsichtlich Ihres Wohn- und Lebensraumes sind sich die Calabari über die Stigmatisierung und Diskriminierung bewusst. Das Desinteresse insbesondere der schwarzen Eliten, seien es nun die wenigen Intellektuellen aus Calabar, Lokalpolitiker der Präfektur von Salvador, oder auch Gilberto Gil7, würde sich darin zeigen, dass sie sich von den Schwachen, trotz gemeinsamer Wurzeln, abwenden und sich nicht mehr ausreichend für ihre Belange einsetzen. Dies impliziert eine tiefe Enttäuschung und einen Verrat an der gemeinsamen Sache, der auch hier wiederum die Ungleichheit fortschreibt. »Wie viele schwarze Stadträte schauen nicht in Calabar vorbei? Wie viele Bürgermeister Kandidaten schauen nicht in Calabar vorbei? Solche Personen kommen nur nach Calabar zu Zeiten von Wahlen. Sie kommen dort hin, vergeben eine Sache, wenn die Wahl zu Ende ist, verschwinden sie wieder. Und heute sehe ich sie im Fernsehen. Das existiert nicht. Pelé, hast Du Pelé gesehen, was ist er? Schwarz und extrem reich. Dort ist er. Gilberto Gil, Kulturminister hier in Salvador. Geburtstag der Stadt Salvador. Gilberto Gil nahm nicht daran teil, er hatte eine Show hier in Barra. Er hat nicht teilgenommen. Ich hatte schon mal die Chance an einem kulturellen Event einer Samba Gruppe teilzunehmen, die Gilberto Gil gefiel, er liebte meine Gruppe, den Samba, Samba Semente. Meine Gruppe gewann dort im Canto A. (...) Er blieb, um Calabar zu besuchen. Wo ist das? Er war noch nie in Calabar. Wenn er schon mal einen Tag dort gewesen sein sollte, wusste ich es nicht.« (2007/15/135)

Unverblümt spüren die Bewohner von Calabar, dass ihr »armes Viertel« (bairro pobre) von allen Personengruppen des öffentlichen Lebens in Salvador weitgehend gemieden wird und damit mehr und mehr einem Stigma der Respektlosigkeit anheimfällt. »Und auch in den Medien, die Medien lieben es Calabar in die Schlagzeilen zu bringen. (…) Wenn etwas passiert, stellen sie es so dar, als sei es in Calabar passiert, immer stellen sie es so dar. Auch die Polizisten, wenn sie hier hineinkommen, respektieren sie niemanden. Einige wohnen hier, die sehr gebildet sind, aber es gibt welche [andere], die sie wirklich nicht respektieren. Jemand kann die beste Person von allen sein, aber sie wird von ihnen nicht respektiert. Sie gehen und greifen an, schlagen weil es ein armes Viertel

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Ehemaliger Protagonist der »Black Consciousness Bewegung« aus Salvador da Bahia und von 2003 bis 2008 Staatsminister für Kultur.

202 | E XKLUSION IM Z ENTRUM ist. Wenn sie das jetzt in Graça, in Barra, in Vitória, machen würden, sie machen es nicht. Da kommt es immer zur Diskriminierung.« (2007/19/158)8

S CHAM

UND NEGATIVE

S ELBSTBEZIEHUNG

Aus einer dauerhaften Verweigerung von Anerkennung und damit einer Zurückweisung der positiven Zurkenntnisnahme der Favelabewohner durch die Privilegierten kann die Verinnerlichung einer negativen Selbstbeziehung der Betroffenen folgen. Diese zeigt sich z.B. in der folgenden Aussage einer Hausangestellten über ihren eigenen Status: »Es ist der schwache Wille (...). Wenn du arm bist und nichts hast, ist auch dein Wille schwach (...) und die Leute hier sind eben alle arm. (...) es ist meine eigene Schuld, weißt du, dass ich mich nicht genug angestrengt habe, mich ordentlich zu bilden und so eine bessere Arbeit zu bekommen.« (2005/12/98)

Die Menschen der beherrschten Klassen bilden die Mehrheit der brasilianischen Gesellschaft. Sie haben von Generation zu Generation, mehrere Jahrhunderte lang, die Vorurteile und Beschämungen verinnerlicht, in sich aufgenommen und akzeptiert, welche die herrschenden Klassen über sie ausgebreitet haben. Scott (1985) würde in diesem Falle vom »ideological support« der Subalternen sprechen, der eine Bejahung und Anerkennung der hegemonialen Verhältnisse bein-

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»Du kannst an dem gewalttätigsten Ort hier wohnen, aber wenn du gebildet bist, wenn du gerecht bist, ehrlich bist, kannst du zu jedem Ort, wo auch immer, hingehen. Es wird immer Ungleichheit und Diskriminierung geben, das ist OK solange man weiß wie man das überwindet, man muss wissen, wie man damit umgeht, auch wenn man nicht die Freundschaft dieser Person will, aber man muss wissen wie man das bewältigt, damit die Person vergisst was da gerade passiert. Denn wenn man sich in die Situation mit hineinziehen lässt, wird man nicht vorankommen. Wenn der Schwarze das nicht kann, wird er eingesperrt. Also darum geht es, Gerechtigkeit muss auferlegt werden, das muss genauer untersucht werden.« (2007/21/169) In jüngster Zeit wird Calabar wieder stärker Mittelpunkt medialer Berichterstattung. In verblüffender Ähnlichkeit zu »Inszenierungen« von Interventionen der Militärpolizei z.B. in Rocinha oder Dona Martha in Rio de Janeiro zur Demonstration eines starken und tatkräftigen Staates, der gegen Drogenkriminalität vorgeht, zeigen sich dort vergleichbare Repräsentationen (vgl. hierzu auch zwei Kurzberichte auf youtube: www. youtube.com/watch?v=FtSAYcUxKX0&feature=player_embedded; www.youtube.com/ watch?v=nMWprAIkvLM&feature=related).

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haltet. Eine Folge verweigerter Anerkennung artikuliert sich darin, dass die Beschämten ihrerseits beschämen. Diese Beschämung erfolgt innerhalb der missachteten Gemeinschaften. Die Schwarzen achten und schätzen sich untereinander nicht mehr. Dies wird ebenso als Rassismus gewertet wie jener zwischen Weiß und Schwarz. »Die Schwarzen selbst mögen sich nicht untereinander. Der Schwarze macht keinen Eindruck auf seinen Ort, auf Seinesgleichen. So entsteht die soziale und auch die Rassendiskriminierung.« (2007/21/168) »Die Sklaverei wurde 1888 abgeschafft, jedoch erfahren die Schwarzen bis heute viel Diskriminierung gegen sich, weil sie wenige Möglichkeiten in der Schule haben zu studieren, eine gute Arbeit zu bekommen. Und bis heute haben die Arbeitgeber keinen Weg gefunden, wie sie die Rassen- und soziale Diskriminierung in Brasilien bekämpfen können.« (2007/21/166)

Eine Verinnerlichung negativer Selbstbeziehung über Generationen durch die strukturelle Ungleichheit der Sklaverei entblößt damit auch heute noch die verinnerlichten Ordnungsmodi von unten und oben in den Alltagspraktiken der Subalternen. »Ich glaube, dass sich nichts verändert hat, quasi nichts. Die Sklaverei existiert weiterhin. Nur auf dem Papier gibt es sie nicht mehr, nur die Befreiung.« (2007/16/138) Die Beherrschten haben mehrheitlich den Glauben an ihre eigene Unfähigkeit »inkorporiert«, wodurch sich ein Kollektivmodus »sozialer Scham« (Neckel 1991) der Unterlegenen etablieren konnte. Neckel legt in Status und Scham (1991) dar, dass die Bedeutung von Scham- und Unterlegenheitsgefühlen für die Produktion, insbesondere für die symbolische Reproduktion sozialer Ungleichheit in modernen, auf der Ideologie der Leistung und des Wettbewerbs basierenden Gesellschaften wesentlich sind. Neckels Untersuchung zeigt ausgehend von konkreten empirischen Beispielen vor allem die Bedeutung der sozialen Anerkennung in Rekurs auf Honneth (1992) auf, die in unmittelbarem Zusammenhang zum Erleben von Scham und Beschämung innerhalb der sozialen Stratigraphie steht. Daher ist für ihn eine »kritische Theorie der Scham« letztlich nur in Form einer »Kritik von Herrschaft« möglich (ebd., S. 191). Insofern entsteht soziale Scham aus dem Erleben des eigenen »defizitären Status« (Neckel 1991). »In diesem Fall könnten wir eine Rechtfertigung auf die schwarze Klasse aussprechen. Auf der anderen Seite könnte man auch seine eigene Rechtfertigung aussprechen. Und eine andere Sache, die ich zu verstehen gelernt habe, nicht nur aus diesen RechtfertigungsT-Shirts ›100 % Schwarz‹, sondern die Mehrheit der Schwarzen, die tatsächlich schwarz sind, sie heiraten selten andere schwarze Frauen, sie verheiraten sich nicht mit einer anderen schwarzen Frau, sie haben keine Beziehung zu anderen schwarzen Frauen. Was

204 | E XKLUSION IM Z ENTRUM machen sie denn dann? Sie suchen sich eine Europäerin. Das bedeutet, sie fliehen von sich, sie leugnen ihre Herkunft, schämen sich dafür.« (2007/14/110)

Innerhalb eines sozial hierarchisch gegliederten Systems erfolgt die individuelle Wertschätzung, das Sozialprestige entlang allgemein anerkannter, gesellschaftlich sanktionierter Normen. Je stärker moderne, kapitalistische Gesellschaften von Individualisierungstendenzen gekennzeichnet sind, umso größer wird das Risiko, dass sich das Individuum selbst beschuldigt für seinen sozialen Status und das Nicht-Erreichen bestimmter Leistungen. Das Paradoxon der sozialen Scham in modernen Gesellschaften liegt daher in der Unsichtbarkeit des Umstandes, dass der »ungleichen Verteilung sozialer Anerkennung, die sich in der Scham der Unterlegenheit zum Ausdruck bringt, [...] eine machtgestützte Ungleichverteilung von Lebenschancen« entspricht, »die ihren kulturellen Widerspruch in den verallgemeinerten sozialen Ansprüchen einer autonomen Individualität findet« (Neckel 1991, S. 193). In analoger Interpretation haben Elias & Scotson (2002, S. 26) darauf hingewiesen, »dass das Aufwachsen in einer Gruppe von stigmatisierten Außenseitern zu bestimmten intellektuellen und emotionalen Defiziten führen kann«. Die Außenseitergruppe, in Brasilien paradoxerweise die Bevölkerungsmehrheit, leidet unter einem Mangel, der nicht nur ökonomischer, sondern vor allem sozialer Natur ist. Es ist für Elias & Scotson (2002, S. 32) ein Defizit an Selbstliebe und Selbstachtung. Das profunde Anerkennungsdefizit erschwert dabei ganz wesentlich den Aufbau eines Selbstwertes. Es kann sich in einer kollektiv geteilten negativen Selbstbeziehung manifestieren. Diese ist damit Ausdruck der Anerkennung der eigenen Unterlegenheit, und insofern suggeriert der Akt der Beschämung dem oder der Beschämten die Überlegenheit des Anderen. Die Außenseiter bilden als Beschämte ihrerseits eine Gruppenidentität aus: Sie formen feste Beziehungen innerhalb der Gruppe und Zugehörigkeitsgrenzen nach außen hin. Damit ist die Beziehung zwischen Etablierten und Außenseitern durch Segregation voneinander und Binnenintegration innerhalb der Gruppe gekennzeichnet. Neckel (1991) bezeichnet die persönlichkeitsbezogene Beschämung auch als wirkungsvolles Mittel, das im Kampf um Anerkennung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zum Einsatz kommen kann. Damit funktioniert die soziale Beschämung durch die privilegierten Klassen als effektives Instrument zur Sicherung des ungleichen Machtverhältnisses. Es führt zu einer beidseitigen Aufrechterhaltung des ungerechten Systems: Die Herrschenden empfinden ihre Wertungen und ihr Handeln nicht als moralisch verwerflich, die Scham der Unterlegenen verhindert kollektive Widerständigkeit und Protest, da die Beschämung wie auch die Scham als vorreflexive Formen dem Bewusstsein und damit der Aktion der Handelnden unzugänglich sind (ausführlich und mit substantiell empirischer Fundierung vgl. Deffner 2010b, S. 169ff.).

Alltagsleben und Widerständigkeit

P ARADOXIEN

DES BRASILIANISCHEN

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Verdient die heutige lateinamerikanische Stadt den Namen Stadt vielleicht letztlich nur noch innerhalb ihrer marginalisierten Schattenräume? Nur dort scheint es ein heterotopes, diverses und ambivalentes Leben im öffentlichen Raum zu geben, dort existieren durchaus sozioökonomische Unterschiede in einer urbanen Sphäre; dort werden Paradoxien deutlich und Homogenisierungstendenzen greifen weit weniger. Borsdorf & Hidalgo (2005) haben berechtigterweise die These von der Antithese der Stadt für die rezenten Entwicklungen und Verhältnisse im urbanen Lateinamerika vertreten. Die zunehmende Fragmentierung des Raumes in den »cities of walls« wie sie Caldeira (2000) für São Paulo metaphorisch beschrieben hat, entsteht durch Abschottung, Entsolidarisierung und klassenbezogener Selbstbezüglichkeit. Favela-Diskurse und Favela-Freiheitsgrade Für Foucault (1973) ist ein Diskurs ein wissensgenerierendes System, das »gewußte[s] und sagbare[s] Wissen« über einen sozialweltlichen Gegenstand beinhaltet. »Diskurse sind charakterisiert durch die Fähigkeit, Beziehungen zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen.« (Foucault 1997, S. 68) Nach Laclau & Mouffe (1985) ist ein Diskurs eine temporäre Fixierung von Bedeutung durch ihre stetige »Artikulation«. Zeitlich verfestigte und wirkmächtige Diskurse, die ganz bestimmte Bedeutungen quasi naturalisieren, d.h. mehr oder weniger als natürlich gegeben und damit unhinterfragt erscheinen lassen, bezeichnen Laclau und Mouffe als hegemonialen Diskurs. Ziel der Diskursforschung ist es grundsätzlich, Prozesse der sozialen Konstruktion, Kommunikation und Legitimation von Sinnstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen oder kollektiven Akteuren zu rekonstruieren (Keller 2006; auch Reuber & Mattissek 2004; Glasze & Mattissek 2009).

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In Brasilien herrscht ein über die Medien vermittelter Diskurs vor, nach dem die Favelas unregierbare und gesetzesfreie Gewalt- und Drogenräume sind, die eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft darstellen. Die Konstruktion des kulturell Anderen – das Othering der Favelabewohner – als Sicherheitsrisiko und gesetzlose Masse wird meinungsbildend betrieben. Dabei bestimmen durchaus auch biologistische Metaphern die Wahrnehmungsmuster, mit der die Armenviertel betrachtet werden. »Sie [die Favelas] sind schon längst nicht mehr nur ein harmloses Geschwür. Alle Übel der Zivilisation haben sich in den Armenvierteln und in den illegalen Siedlungen eingenistet.« (Batista 2006) Sobald also aus konkreten Phänomenen eine, wie auch immer geartete, jedoch negativ konnotierte, ›Kultur‹ konstruiert wird, sobald aus der Qualität einer sozialen Praxis eine Eigenschaft eines Kollektivs wird, die dann tautologisch diese soziale Praxis beinhalten und erklären soll, ist dies keineswegs notwendig, sondern dem Zweck des Zugriffs, der Kontrolle und Macht geschuldet. In einer ›Kultur der Angst‹ stellen die Favelas Keimzellen des organisierten Verbrechens dar und werden damit zum zentralen Problem Brasiliens. Im Zeichen der öffentlichen Sicherheit findet eine Militarisierung der Polizeistrategie statt, die in allererster Linie die ärmere Bevölkerung trifft (Wacquant 2005). 2007 erfasste allein die Statistik der Metropole Rio de Janeiro 1330 Mordfälle, über 80 % davon in der Nordzone, der informellen Stadt (vgl. Human Rights Watch 2009). Nach Statistik der Sicherheitskräfte werden jährlich rund 1000 Menschen – v.a. junge schwarze Männer – durch Schussgefechte mit der Militärpolizei in Rio getötet und rund 7 von 10 Häftlingen in Brasiliens Gefängnissen sind dunkelhäutig. Wacquant (2009) spricht zutreffend von der »Bestrafung der Armen« in den Favelas Brasiliens. Die Logik der brasilianischen »Fobópole«, wie sie de Souza (2008) bezeichnete, besteht darin, dass sich die Mittel- und Oberschicht zunehmend in einen Prozess der Selbst-Exklusion begibt. Das heißt, dass wir es dort nicht nur mit einer exkludierten Bevölkerung in den Favelas zu tun haben, sondern auch mit einem Inklusionsbereich, der sich in zunehmendem Maße selbst (nach außen) vor den wachsenden Exklusionszonen abschottet, indem die Selbst-Exklusion gewählt wird. Damit bilden die gated communities das Pendant zu den US-amerikanischen Ghettos und den brasilianischen Favelas. Allerdings sind diese Enklaven aufgrund ihres Privatisierungscharakters weitestgehend sicher vor Kriminalität, was für Ghettos und Favelas nicht zutrifft. Wenn sich demnach eine ›Kultur der Angst‹ überall imaginär verinnerlicht, ist nur noch Schutz möglich, indem private, ummauerte Städte gebaut werden, in die sich die Wohlhabenden zurückziehen. Paradox ist dies insofern, als nicht mehr nur das im hegemonialen Diskurs Abnormale weggesperrt und bestraft wird, sondern das vermeintlich Normale sich selbst einschließt. Sicherheit

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wird damit zu einer Privatangelegenheit: Diejenigen, die es sich leisten können, schützen sich vor urbaner Gewalt. »Wer in Jardim Apipema wohnt oder in Graça, ab einer bestimmten Uhrzeit kann der nicht mehr auf die Straße gehen, vor lauter Angst überfallen zu werden. Wir können zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Straße herumlaufen, wir müssen uns solche Sorgen nie machen.« (2005/13/104) »Es ist für die Reichen wesentlich schwieriger in ein armes Viertel zu gehen. Es ist viel leichter für die Armen in Reichenviertel zu gehen, als für Reiche in Armenviertel.« (2007/11/92)

Die beiden vorangestellten Zitate zeigen eine weitere Paradoxie: In der Phobopolis, die durchsetzt ist mit einem Unsicherheitsempfinden der Mittelklassen, sind es nur noch die Mittellosen und Prekären, die frei und unbeschwert durch den Stadtraum gehen können. Die Favela sowie Teile des öffentlichen Raumes werden damit – etwas idealisiert – zum Freiheitsraum. Es bringt sich hier der stimmlose gegen den hegemonialen Diskurs in Stellung und artikuliert sich jenseits von Gewalt- und Unsicherheitsnarrationen in der brasilianischen Stadt als durchaus selbstbewusst: Die Favelados halten dem räumlich angrenzenden Bürgertum ihre Angstneurosen vor und deuten darin auf eine Position hin, die ihnen hilft, ihre eigene Würde zumindest teilweise zu wahren. Es sind die kleinen »weapons of the weak« und »arts of resistance« der Schwachen, wie sie Scott (1985; 1990) beschrieben hat: Es ist damit eine widerständige Umdeutung des medialen Diskurses im Alltagsleben angedeutet. Das Alltagsleben ist der Ort, die Sphäre, in dem Sinn durch Erfahrung hergestellt wird. »Wir wissen doch, dass in unserem Viertel nicht alles gut läuft! Aber wir sind keine Diebe und Verbrecher. Sie [Mittelschicht in der Nachbarschaft] wissen einfach nichts über unser Leben hier! Dann sollen sie doch in Angst leben. Ich habe keine Genugtuung darüber, aber wer fragt uns denn, wie es uns hier geht? Niemand!« (2007/8/89) »Natürlich sind hier manche jungen Männer im Drogenhandel aktiv; aber wer konsumiert denn das Zeug? Unsere Kinder haben nicht das Geld dafür. Und wenn es Tote gibt wegen dem Drogenhandel, dann doch hier, und nicht in den Reichenvierteln.« (2007/8/89)

Die Menschen aus der Favela wissen genau, dass ihr Alltagsleben mehrheitlich ein vernünftiges und moralisch integeres ist. Ihre Erfahrungen decken sich nur sehr begrenzt mit dem herrschenden Mediendiskurs über den eigenen Lebensraum. Sie müssen das entwürdigende Schreiben und Sprechen über sich erdul-

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den, ziehen daraus ihre Rückschlüsse und gewinnen aus der Freiheit des Denkens und ihrem Alltagswissen ein Bewusstsein, das ihnen sicherlich hilft, sich gegen die negativen Zuschreibungen ›abzuschirmen‹. Die Mittelschicht hingegen, zumal jenes Kollektiv der in räumlicher Nähe zu Calabar lebenden Befragten, greift allzu gerne den Stigmatisierungsdiskurs der Print- und TV-Medien auf, um sich gesellschaftlich von den Menschen dort abzugrenzen. Die eigene Angst vor Gewalt und sicherlich auch unbewusste Angst vor einem drohenden Statusverlust, einem Abgleiten in die untere Mittelklasse, fördern machtvoll die Reproduktionspraxis der Zuschreibung des Abnormen, Devianten und Gewalttätigen. Keiner der zwölf Befragten aus Jardim Apipema hat jemals die Nachbarschaft Calabar betreten, wenngleich deren Wohnzimmer z.T. nur 20 bis 30 Meter entfernt von den Wohnungen der Calabari liegen. »Ich kenne eine Favela, hier kenne ich eine. Ich kenne die Favela, sie ist sehr weit entfernt, dort in Uruguai, in Bate Estaça, in der Cidade Baixa, ich kenne die Favela in Roça da Sabina, hier in Calabar… das kenne ich, aber dort will ich nicht reingehen, auf gar keinen Fall. Reingehen auf gar keinen Fall. Wie verrückt muss man sein, dort reinzugehen? Drogenhandel, alles was man sich vorstellen kann, gibt es da. Es gibt anständige Leute, aber man weiß ja nicht wer wer ist. Diese hier ist noch die, die am wenigsten schlimm ist, aber die von denen ich rede, Bate Estaça dort in Uruguai, die ist schrecklich. Baixa do Santo in San Martin, ich bin dort einmal vorbei gefahren, dann nie mehr.« (2007/5/38)

Es ist unschwer nachvollziehbar, dass insbesondere die befragten Individuen von Jardim Apipema ein ausgeprägtes Angstgefühl aufweisen. Die Lokalzeitungen, etwa die A Tarde, Correio da Bahia oder die Tribuna da Bahia sind voll von Beschreibungen über die prekären Stadtviertel wie Calabar. Folgende Schlagzeilen deuten dies an: »Die Polizei schreibt die Tötung von Jugendlichen dem Drogenkrieg in Calabar zu.« (Correio da Bahia 2005) »Paar in Federação durch Schüsse exekutiert.« (A Tarde 2007) »Tötungsdelikte haben um 58,1 % in der Metropolregion Salvador zugenommen.« (A Tarde 2008)

Und es ist tatsächlich so, dass die Zahl der Raubmorde in Salvador in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat. Dennoch bringt sich die brasilianische Mittelschicht damit um eine gewisse Sorglosigkeit, sie reproduziert kollektiv ihre Angst und bestätigt sich diese untereinander alltäglich immer wieder aufs Neue.

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Es sind mitnichten die privilegierten Stadtviertel, die unter Gewalt, Mord und Lynchjustiz leiden, sondern es sind die benachteiligten zentralen und peripheren Lebenswelten, die dieser alltäglichen Unsicherheit und Besorgnis um das eigene Leben ausgesetzt sind, ohne etwas daran ändern zu können. Es soll hier keine akademische Armutsromantik oder Pauperismus betrieben werden, indem die Reflexionskraft der Schwachen und die Borniertheit der Starken einseitig hervorgehoben wird. Vielmehr dienten diese knappen Überlegungen dazu, das Paradoxe im Alltagsleben urbaner Ungleichheit in Salvador sichtbar zu machen und damit einer pauschalen Täter-Opferlogik zu entgehen, was bedeutet, dass die Schwachen nicht immer schwach sind und die Starken nicht immer stark. Brasilianidade – Favelakultur als Nationalkultur Die nun folgenden Ausführungen versuchen eine Annäherung an die so genannte brasilianidade. Welches sind zentrale kollektive Selbstzuschreibungen der Brasilianer und Brasilianerinnen? Konzepte wie jenes von Holanda (1995) über den »herzlichen Menschen«, der eine »Kultur des Gefallens« berschrieben hat, oder der »Plastizität« der brasilianischen Kultur von Freyre (1982 [1933]) sind stark in die brasilianische Identitätskonstruktion im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingegangen. Vergegenwärtigt man sich die Identitätskonstruktionen der brasilianidade näher, so wird eine Antinomie gesellschaftlicher Wirklichkeit deutlich. Die kollektive Ablehnung und Tabuisierung der Lebenswelt Favela von Seiten der bürgerlichen Klassen stehen einer anderen empirischen Realität gegenüber. Wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, stellen sich die sozio-kulturellen Praktiken der Favelabewohner konstitutiv für die ›Brasilianität‹ dar, wie auch Berenstein Jacques (2004, S. 61) bekräftigt: »Es ist immer ein Tabu gewesen, kulturelle und vor allem ästhetische Fragen zu den Favelas zu berühren, obwohl man wusste, dass der Samba und der Karneval [und verschiedene weitere volkstümliche und religiöse Fest], die beispielhaft sind für die brasilianische Kultur, in diesen Räumen entstanden und direkt mit ihnen verbunden sind […].«

Hier wird eine Paradoxie des brasilianischen Alltagslebens deutlich. Zum Schutz vor Diskriminierung wird die Favela für ihre Bewohner zu einem Raum der Integrität und Inklusion. In ihm vollziehen sich die kulturellen Praktiken als Identitätsstifter einer Zugehörigkeit zur afrobrasilianischen Kultur. Der candomblé, ein afro-brasilianischer Religionsritus oder die capoeira, ein auf die Sklaverei in den Plantagen Nordostbrasiliens zurückgehender Kampftanz, dienen für die Favelabewohner dazu, eine gemeinsame Identität und Kollektivität zu leben (Schaeber 2003).

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Abbildung 24 & 25: Capoeira-Gruppe in Calabar und Candomblé-Zeremonie in Plattaforma;© Eberhard Rothfuß (05/2006) & © Veronika Deffner (06/2006).

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Als zentraler Teil der ›schwarzen Kultur‹ stehen beide Praktiken Pate für die brasilianische Tourismuswerbung und eine strategische Vereinnahmung zum Zwecke der nationalen Repräsentation des Authentischen der brasilianischen Kultur. Dies gilt auch für den Straßenkarneval, den Samba und die Liebe für den Fußball. Es handelt sich damit um eine Vermarktung kultureller Praxis, die die nationale Identität konstruiert und damit einen Schleier über die soziale Ungleichheit und den strukturellen Klassismus legt. Darüber hinaus stellt sich die brasilianische Lebenswelt als eine Gesellschaft dar, die wenig Lebensstile zur Distinktion ausdifferenziert hat, wie auch Craanen (1998) belegt. Die Abgrenzungsmodi sind vorgegeben in der Hautfarbe, der Klasse, des Besitzes und den Räumen. Da sie weitgehend strukturell wie institutionell und diskursiv naturalisiert sind, benötigen sie keine feinen Unterschiede mehr im bourdieuschen Sinne, da jeder seinen Platz in der Gesellschaft innehat. Folgende Aussagen führen vor Augen, wie sich die Selbstbeschreibungen der Befragten aus Unter- und Mittelschicht darstellen. Diese werden zu Identitätskonzepten zusammengefasst, die weitgehend klassenunabhängig artikuliert wurden. Kollektive Identität – Emotionalität, Zärtlichkeit und Leidenschaft Diese kursorische Darstellung eines »sozial homogenen Typus« des Brasilianers wie Souza (2008) es formuliert hat, muss notwendigerweise unvollständig und pauschalierend ausfallen, zeigt sie dennoch ansatzweise eine kollektiv geteilte Sicht der habituellen Gleichheit der Brasilianer als »herzliche« und »gefühlvolle« Menschen: »Der Brasilianer ist sehr gefühlvoll. Sehr warmherzig, leidenschaftlich, empfänglich, das ist der Brasilianer. Und er lacht über alles. Wir nehmen selbst Tragödien mit Humor, denn es geht einfach nicht [anders]… Also nehmen wir alles mit Fröhlichkeit, wir sind wirklich ein fröhliches Volk.« (2007/10/81)

Kühn (2006), der über die alltägliche Lebensführung unter sozialer Ungleichheit in Salvador eine explorative Studie durchgeführt hat, bestätigt, dass die befragten Akteure auf die Fähigkeit, trotz widriger Rahmenbedingungen zu feiern statt zu wehklagen, durchaus Stolz seien. »Sie sehen darin eine besondere Qualität von Brasilianern, die flexibel, fröhlich, warmherzig und anpassungsfähig seien.« (ebd., S. 137) Es ist hier eine Lebensleichtigkeit, ein Lebenswillen und eine affektive Emotionalität angesprochen, die die Menschen sich unproduktiv verausgaben lassen (vgl. Maffesoli 1986, S. 29). Dieser irrationale Habitus, der mit Begriffen wie der des Mythos, des Imaginären oder auch des Kollektiven arbeitet, schafft eine Sphäre der Zugehörigkeit, die allenthalben wiederholt und reproduziert werden.

212 | E XKLUSION IM Z ENTRUM »Wir genießen sehr, gehen gerne aus, spazieren, verlieben uns, jeder mag das gerne. Hier ist es noch mehr so, das Volk ist liebevoller. Aber es gibt den Anspruch des ›Gut Seins‹.« (2007/18/157) »Da geht es um Persönlichkeitsbildung, um Gefühle. Das brasilianische Volk hat sehr große Gefühle, ein sehr großes Herz. Wird jemand wütend wegen irgendetwas, aber wenn ich z.B. ein Fußballspiel umsonst anbiete, dann beruhigt sich jeder schon wieder. Was auch immer er für eine Sache macht… es geht ihm nicht ums verletzen, es geht ihm nicht ums Kämpfen, er ist nicht wie andere Völker, wie z.B. die Argentinier. Erst vor kurzer Zeit haben die Argentinier eine Revolution begonnen. Die Brasilianer nicht, sie sind friedfertiger, sie sind ruhiger, gelassener, der Brasilianer ist nicht für Gewalt, er kämpft nicht gerne. Dies gilt für das Volk im Allgemeinen.« (2007/6/45)

Das Spielerische und das Kindlich-Naive erlauben als elementares Verlangen sich von der entfremdeten und rationalisierten Welt zu entfernen, Perspektiven aufzuzeigen und den Horizont zu weiten. Das Spielerische eines vom Begehren und der Begierde getriebenen Menschen ermöglicht »die Versöhnung von Eros und Logos, von Natur und Kultur« (Lefebvre 1990, S. 186). Die individuellen Aussagen kulminieren zu einem kollektiv geteilten hedonistischen Gemeinschaftsgefühl, das dem geteilten und getrennten Gesellschaftlichen der Klassen einen mythologischen und zugleich leibphänomenologischen Zusammenhalt und Sinn, in Form kollektiv geteilter Leidenschaft, verleiht. »Ich kenne auch verschiedenste Länder auf der Welt, weil ich auch schon gereist bin. So etwas kann man nur in Brasilien beobachten. Man kann manchmal einen Brasilianer viel mehr verletzen, wenn man nicht mehr mit ihm redet, als wenn man ihm mit der Faust ins Gesicht schlagen würde. Wie oft trifft man hier jemanden, der gleich nach dem ersten Treffen dein Freund wird, dich mit zu sich nach Hause nimmt, Kaffee trinkt bei der einen Person, dann bei der anderen.« (2007/6/45) »Der Brasilianer ist sehr offen für so etwas, denn er hat ein sehr großes Herz, er ist nicht jemand der gerne streitet. Streit ist für den Brasilianer der letzte Schritt.« (2007/6/45) »Das brasilianische Volk ist sehr friedlich, es hat nicht diese Macht gegen etwas zu kämpfen, sich präsent zu zeigen. Es ist sehr bequem.« (2007/13/100)

Obige Selbstbeschreibungen benennen die gelebte Vorherrschaft des Gefühls und der Emotionen gegenüber dem rationalen und gefühlsarmen Kalkül. Hierin grenzen sie sich von den Zuschreibungen zur Zentralen Moderne ab. Diese Dichotomisierung schafft eine Demarkation und kollektiviert damit das Eigene als etwas national Eigenes. Hierzu gehört auch die Artikulation das Leben als

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Fest zu begreifen in impliziter Abgrenzung zu den oft als pessimistisch empfundenen Lebenswelten in Europa: »Ich glaube, dass die Leute hier sehr für die Feste leben. Heute passiert ein wichtiges Ereignis, aber morgen findet ein Fest statt, also wird das Ereignis schon bald vergessen. Das Gedächtnis des Brasilianers ist sehr klein.« (2007/8/56) »Selbst mit unseren Problemen und Schwierigkeiten, ich glaube dass wir ein optimistisches und fröhliches Volk sind.« (2007/20/163)

Diese machtvolle Identitätskonstruktion, die fortwährend verbal und praktisch aktualisiert wird, stellt einen gemeinsam geteilten Wahrnehmungs- und Bewertungsraum her, der die soziale Ungleichheit und differenzielle Anerkennung zwischen den Klassen neutralisiert. Dies ermöglicht ein Zusammenleben trotz gravierender sozialer, ökonomischer und symbolischer Distanz, indem ein lebensbejahender, vielleicht auch oberflächlicher Optimismus praktiziert wird, worin wenig Platz für Empörung, Auflehnung und Kritik ist: »Der Brasilianer ist sehr offen für so etwas, denn er hat ein sehr großes Herz, er ist nicht jemand der gerne streitet. Streit ist für den Brasilianer der letzte Schritt. An dem Tag, an dem das Volk eine Revolution anzettelt, wird die Welt schon untergegangen sein, denn das ist keine Eigenschaft des Brasilianers.« (2007/6/45)

Die bürgerlichen Mittelschichten grenzten sich an früherer Stelle im Kontext ihrer Leistungsideologie und (vermeintlichen) Tugendhaftigkeit in deutlicher Weise von den Unterschichten ab. Im Falle der Konstruktion einer nationalen Identität wurden Attribute thematisiert, die in Abgrenzung zur Zentralen Moderne als positiv bewertet wurden. In der Ausgelassenheit und im rhythmischen Fluss des Straßenkarnevals in Salvador verbinden sich paradoxerweise Arm und Reich und damit die Hautfarben weiß und schwarz zu einer einzigen: »In Salvador gibt es mehr Schwarze als an irgendeinem anderen Ort, verstehst du das? Es ist eine Schicht von Personen. Bei uns herrscht eine Stimmung vieler tausender Einwohner, eine Stimmung, gekennzeichnet durch Events, Shows, Musik, dann sieht man hier, dass beide Seiten diese Veranstaltungen frequentieren. In diesem kulturellen Kontext zeigt sich Salvador sehr oft, verstehst Du? Diesen Kontext der Feste, der Kultur, der Freude, frequentieren sowohl Schwarze als auch Weiße, alle. (...) Der Bahiano mag Musik sehr, verstehst du, er mag sehr gerne Rhythmen, das ist das was am meisten verbindet, der Karneval, das existiert, nicht wahr? Der Karneval ist das populärste Fest auf dem Planeten, oder?« (2005/1/5)

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Dies ist ein Hinweis auf eine intentionale Begründung klassenbezogener Positionierung im sozialen Raum der Gesellschaft. In Abgrenzung zu Argentiniern, Amerikanern oder Europäern stellen Brasilianer ihre verbindende, emotionale und in ihrer Einmaligkeit als bemerkenswert zu sehende Identität zur Schau. Wohingegen innerhalb der eigenen Gesellschaft insbesondere die privilegierten Klassen den Nichtprivilegierten die Attribute Feste feiern, Affektivität und mangelnde Selbstkontrolle über die Emotionen und Körper zuweisen, um damit ihren eigenen herausgehobenen Status von Wohlstand und Besitz legitimieren zu können. Im folgenden Kapitel wird der Blick nun wieder auf die Deklassierten gerichtet. Hierbei geht es darum, die alltäglichen Praktiken der Lebensführung in einen Kontext der Bewältigung von sozialer Ungleichheit zu stellen. Zu unterscheiden sind dabei unreflektierte und reflektierte Handlungsrationalitäten, wenngleich diese Trennung Konstruktionscharakter aufweist und Übergänge fließend sind. Boa aparéncia – Der Fetisch der ›Erscheinung‹ Der Schönheitsmythos in der populären Kultur Brasiliens wirkt demokratisch und sozial gleich. In allen Medien, der Literatur, den Zeitungen, dem Internet und den Telenovelas wird das moderne Märchen in Form des immer wiederkehrenden Motivs der Schönheit und der ›Erscheinung‹, der boa aparéncia thematisiert. »Aber die Erscheinung des Körpers zählt sehr viel, nicht wahr?« (2006/14/215) »In Brasilien lebt das Erscheinungsbild – Es ist ein Land des Äußeren und Äußerlichen.« (2007/10/79) »Stehen Frauen unter Druck wenn sie einen schönen Körper haben? Brasilien ist eine Gesellschaft, in der das Aussehen des Körpers sehr viel zählt, oberflächlich, es geht nur darum, dass der Körper schön ist, … ich weiß nicht, aber es ist die Wahrheit, dass Brasilien oberflächliche Werte hat, der Körper [zählt], wenn eine Frau schön ist … ist das eine Eigenschaft der Gesellschaft?« (2007/19/63)

Brasilien stellt eine Kultur der Selbstdarstellung und des demonstrativen Konsums dar. Diese Form der äußerlichen Aufmerksamkeit als Faszination ist ein klassenübergreifendes Phänomen. In einem Land das mit mehr als 200 Schönheitsoperationen pro 100.000 Einwohner aufwartet, wird deutlich welchen gesellschaftlichen Stellenwert diese Veräußerlichung besitzt (vgl. Silverio 2004). »Man muss immer versuchen, positiv auf sich aufmerksam zu machen. Um sein Feld abzugrenzen. [...] immer eine gute Erscheinung abgeben, immer gut riechen, ein schönes Lächeln haben, eine angenehme Erscheinung eben, das ist Pflicht.« (2006/5/79)

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»Ob das zählt? Es zählt. Es gibt viele Arbeitsstellen bei denen es hauptsächlich um das Aussehen geht. Wenn du weiß bist, glatte, helle Haare hast, wirst du eingestellt. Und wenn du dunkel bist, auch wenn du hübsch bist, denn viele dunkle sind hübsch, Bescheidenheit [jetzt mal] beiseite, aber es gibt viele Arbeitgeber die nur nach gutem Aussehen einstellen. Ganz unabhängig davon…Wie nehmen wir ›gutes Aussehen‹ wahr? Eine zurecht gemachte, sehr ordentliche Person. In anderen Orten ist das nicht so. Man fällt auf, allein dadurch, dass man an sich schön ist. Allen voran Wahrnehmung. Orte an denen die Wahrnehmung nur vom Äußeren abhängt.« (2007/19/163)

Wird der Blick in die Favela gerichtet, so stellt sich hier der Fetisch der Erscheinung in einem ganz eigenen Begründungszusammenhang dar. In den Favelas ist der Zugang zu guter Bildung stark limitiert. Es bleiben dort nur sehr begrenzte Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Dort wird der ästhetische und schöne Körper zum primären Kapital und letztlich zur Grundlage von Identität, Selbstwert und Status (vgl. Koppetsch 2000a,b). Er wird insbesondere bei Frauen zu einer kollektiven Form der Hoffnung. Die Verbindung von Schönheit mit den Machtkategorien der Lebensrealität mag dann die anhaltende Hochkonjunktur der Schönheitsoperationen erklären. Sie suggerieren nicht nur den körperlichen Wandel, sondern zugleich die Erfüllung der Phantasmagorien vom sozialen und ökonomischen Aufstieg und damit gesellschaftlicher Anerkennung durch die erforderliche boa aparéncia, für einen individuellen Erfolg. Sie steigert den persönlichen Marktwert in einem Brasilien der Äußerlichkeiten und wirkt damit auch wie ein Indiz zunehmender Verdinglichung. »Die Mehrheit der Brasilianer stellt sich gerne dar, sie mögen es präsent zu sein. ›Ich bin so, und Du nicht.‹,› Ich habe eine hübsche Frau.‹ und diese ganzen Sachen. Die Leute fühlen das Machtvolle daran, sie glauben sie könnten alles tun. Dort schaut jemand [als wollte er sagen] ›Verdammt, die Person mag ich nicht.‹. Und warum? Man ist eifersüchtig. Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Es ist weil er sich so über allem sieht.« (2007/21/174)

In einer Gesellschaft, die sich derart dem Äußerlichen verschrieben hat, liegt die Krux nicht primär im mangelnden Selbstbewusstsein der ›einfachen Menschen‹, sondern in der zementierten Ungleichheit, die Statusgewinn über Bildung (für nicht privilegiert Gruppen) nicht zulässt. In der stratifizierten Gesellschaft Brasiliens mit ihrer ausgeprägten sozialen Ungleichheit, die in sämtlichen Institutionen reproduziert wird und sich auch in der Ungleichbehandlung aufgrund des Aussehens ausdrückt, wird aus Sicht des Individuums evident, dass letzten Endes nur über diese Stellschraube die soziale Ungleichheit mit Hilfe der frei zugänglichen Schönheitsindustrie überwunden werden kann. Neben den Attributen Emotionalität, Herzlichkeit und Offenheit,

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die die brasilianidade konstituieren, tritt die physische, insbesondere die weibliche Schönheit und männliche Muskelkraft und Athletik als grundlegende Dimension der modernen Identität Brasiliens auf. Das nationale Ideal von Schönheit manifestiert sich im kulturellen Paradigma der mestiçagem. Diese Mischung ist historische Realität und ästhetischer Mythos. Der Mythos ist gewachsen durch das jahrhundertelange Zusammenleben von Kolonialisierten und Kolonialisten und verinnerlicht worden durch die kollektiv konstruierte Geschichte, die u.a. von Freyre (1982[1933]) und Holanda (1995 [1936]) dikursiv implementiert wurde. Im Ideal von Freyre überwindet die mestiçagem die Spaltung des Bewusstseins zwischen Schwarz/Indigen und Weiß durch das einschließende moralische und ästhetische Ideal der morenidade, der ›Braunheit‹. Die morenidade wurde als inklusives Prinzip konzipiert und beinhaltet verschiedene Hautfarben und deren Nuancen entlang eines breiten Hautfarbenkontinuums. Innerhalb der morenidade ist die Hautfarbe veränderlich und nicht von Geburt an festgelegt, denn »Geld macht heller«, so besagt es eine brasilianische Redewendung. Die stratigraphische Mobilität des Individuums verändert die Wahrnehmung der Hautfarbe (branqueamento) und entblößt diese damit als ein soziales und äußerst wirkmächtiges Konstrukt der Macht. Die morenidade bedeutet damit nicht lediglich ›braun‹ zu sein, sondern verkörpert auch eine harmonisierende und erotisierte Hybridität, die ein wesentliches Symbol in der Herausbildung der modernen nationalen Identität Brasiliens wurde: Moreno ist ›braun‹, damit weder schwarz (benachteiligt, unterdrückt) und auch nicht weiß (herrschend, unterdrückend). Dieser Typus ist vermischt, er wird als ästhetisch und letztlich brasilianisch wahrgenommen und die ultima ratio impliziert damit eine gleiche und gerechte Gesellschaft.

A LLTAGSPRAKTIKEN ALS » UNPRODUKTIVE V ERAUSGABUNG « Das Alltagsleben stellt sich als eine Struktur von Bedeutungen dar, das in der Regel nicht bewusst zugeschrieben werden kann. Es folgt einem unhinterfragten Sinn, der lebensweltlich stetig aufs Neue produziert und reproduziert wird. Die Darlegung kollektiver Selbstkonstruktion der brasilianidade hat bereits die Leichtigkeit, Heiterkeit und Emotionalität als zentrale Kategorien offen gelegt. Diese Identitätskonstruktion würde bei den frühen Protagonisten der Kritischen Theorie hochverdächtig sein. »Vergnügt sein heißt Einverstanden sein.« (Horkheimer & Adorno 1988, S. 153) Einverstanden mit den herrschenden Impe-

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rativen zu sein, artikuliert sich im unkritischen Konsum der »Kulturindustrie«, wie uns die Dialektik der Aufklärung eindringlich gelehrt hat. Das Potential zur Widerständigkeit und Aneignung im Alltagsleben entfaltet sich jedoch nicht in erster Linie auf der Bewusstseinsebene; es kann daher nicht gegen ideologische Strukturen opponieren, wie es sich die (post-)marxistische Kritik wünschen würde, sondern erfolgt weitgehend vorreflexiv. An dieser erkenntnistheoretischen Differenz zwischen der pessimistischen Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie von Horkheimer bis Honneth und der Theorie des Alltagslebens in den Ausprägungen von Lefebvre, De Certeau oder Maffesoli spalten sich daher auch deren Annahmen, wie Gesellschaftskritik zu formulieren und umzusetzen wäre. Diese Ambivalenz und letztlich Unaufhebbarkeit ist der vorliegenden Studie inhärent, da sie bewusst beide Konzeptionen verfolgt, um den Paradoxien urbanen Alltagslebens unter ungerechten Lebensbedingungen realiter Rechnung tragen zu können. Und daher ist nicht umhinzukommen, wie die Perspektive und Handlungsrationalität der Unterdrückten und vorgeblich blinden Konsumenten ist, wie diese mit den sie umgebenden machtvollen Strukturen verfahren. Dionysische Praxis – Kollektiver Rausch und Orgiasmus »Wenn wir Feste feiern wollen, feiern wir sie. (...) alles spielt sich auf der Straße ab, da kann jeder dabei sein und niemanden stört die Musik. Nirgends lebt es sich so frei und ungezwungen wie hier. In gewisser Weise sind wir doch privilegiert hier in Calabar! Wohnen in der Innenstadt nahe am Shopping Center und dem Strand. Wir haben hier alles, was wir brauchen zum Leben und zum Lieben. Und keiner stört uns hier. Die Reichen würden ja nie einen Fuß in die Favela setzen! Auch die Polizei ist hier nicht sehr präsent. Die haben Angst, zu uns rein zu kommen. Wir fühlen uns in den verwinkelten Gassen wohl.« (2006/18/269) »Die Straße ist ein einziges Fest! Du erinnerst Dich? Das war doch perfekt, oder die Party vor Pedrinhos und Bonfims Bar! So was mögen wir eben. Dabei fühlen wir uns wohl, so gefällt es uns zu leben. Du kannst an Orte gehen, die wir nicht besuchen können. Für uns muss es immer etwas einfacher sein; da sind die Leute meistens viel heiterer als dort [bei den Reichen] (…).« (2005/19/167)

In Calabar herrscht entsprechend der beiden Aussagen regelmäßig Ekstase und Verzückung. Es scheint die »Selbstvergessenheit des Rausches« auf, wie Nietzsche (1980, S. 256) die ordnungslose und emotionale Kraft von Dionysos beschreibt. Darin ist die Individualität aufgehoben, die Menschen lassen sich im Kollektiv treiben und erleben sinnliche Erfahrungen des Miteinanders. Dionysos offenbart sich im Alltagsleben der Favela als häufig wiederkehrend in Form der

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unzähligen lavagem, Straßenfeste, die an einzelnen Orten der Favela, in den so genannten becos, den verwinkelten Straßenzügen das ganze Jahr über und in großer Regelmäßigkeit stattfinden. Dort zirkuliert das Bier, es zirkulieren Gespräche, Begegnungen und Verabredungen.

Abbildung 26: Lavagem, ein Straßenfest in Calabar; © Eberhard Rothfuß (09/2007). Das Orgiastische stellt in diesem Zusammenhang das Verschmelzen des Individuums mit dem Kollektiv zu einer spontanen räumlichen Ordnung sich begegnender und vereinender Körper. Darin kommt die ganze Bandbreite von intersubjektiven Expressionen wie Emotionen, Affekten und Erregungen zum Ausdruck. Es ist die Zirkulation der kollektiv geteilten Leidenschaften im Alkohol, in der offenen Begegnung von Frauen und Männern, Männern und Männern, Frauen und Frauen. In einer ständigen Wiederkehr des Gleichen zum Wochenende hin produzieren die Menschen einen Orteraum im Sinne von De Certeau, um sich dem Spiel der Geschlechter hinzugeben, fließend den Raum zu durchwandern, herzustellen und immer bereit zu sein zum Straßenpalaver, zum Flirt, zum Biertrinken an der Straßenbar oder des gemeinsamen Schauens der allgegenwärtigen Telenovelas. Diese kollektive, selbstbezügliche und unproduktive Verausgabung bestätigt auch Kühn (2006, S. 137): »Um auch angesichts schwieriger sozialer Rahmen-

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bedingungen die gute Laune nicht zu verlieren, bilden Feste, Liebeleien […]« wichtige Bezugspunkte zur Selbstversicherung geteilter Werthorizonte. »Hmm, man bringt alle zusammen und dann fängt man zu reden an, man trinkt ein bisschen, hört Musik, tanzt… Hier könnte das am Strand passieren, oder vielleicht in einem anderen Viertel, das könnte auch auf irgendeinem Fest von irgendjemandem in einem Viertel wie Calabar sein. Lavagem do Beco…Erinnerst du Dich? Chiclete com Banana, Daniela Mercury… war das nicht toll? So etwas in der Art mögen wir. Wir setzen uns gerne hin, wir leben gerne. Du frequentierst Orte die wir nicht frequentieren, es kann einfacher sein, wo die Leute fröhlicher sind als dort, weil alles ist, ich weiß nicht, was es ist, aber das kann man nicht machen, man kann nicht tanzen, man kann nicht mitmachen, wenn die anderen nicht reden, kann man nicht reden, ich finde das nicht gut… ich finde es auch nicht besser.« (2006/11/166)

Es ist eine »hervorbrechende Gewalt des Generell-Menschlichen« (Nietzsche 1980, S. 134), eine Gegenbewegung zum Verdrängen, welche an die Stelle der rationalistischen, kontrollierten und instrumentellen Vernunft tritt und damit das bürgerliche Ideal des Leistungsprinzips, der Kontrolle über den Körper und den Alltag negiert. Im Begehren und Begehrtwerden spüren die Menschen ihr Mensch-Sein, vergessen den prekären Alltag und gleiten zeitweise in Emotionen der Heilung und Loslösung von der Sorge. »Wir sind nicht eifersüchtig, weil, wir haben eine bestimmte Fröhlichkeit, wir haben mehr Spaß, wir haben Freude daran, besser und ausgelassener zu leben, was andere nicht haben, nicht wahr? Alle sind so extrem verschlossen, alles ist voll mit Zwang, wir sind hier alle fröhlich, alles wird improvisiert, wir veranstalten ein kleines Fest.« (2005/17/135)

Es ist eine lebensbejahende Kraft, eine Wallung damit verbunden, die unsichtbar und letztlich vorreflexiv zur Geltung kommt, da ihr kollektiv Geltung zukommt. Diese Interpretation nimmt Anleihe an die Beschreibung der dionysischapollinischen Dyade in Nietzsches Werk Wille zur Macht (1988, S. 666ff.). Das Apollinische fußt auf dem Bewusstsein, der Kontrolle und der rationalen Selbstbeherrschung. Es ist die Moral des bürgerlichen Milieus. Die Moral ist zumeist die Seele der herrschenden Ordnung. In Rekurs auf Marx, der dies auf die Bourgeoisie münzte, hat die Bourgeoisie keine Moral, sondern sie bedient sich lediglich einer Moral. Mit »Bürgerlichkeit« meint Maffesoli (1986, S. 20) eine Gewohnheit, die alles und jedes mit der »Elle der Nützlichkeit misst und für alles verständnislos ist, was der Ordnung des Verlustes und des unproduktiven Lebens entstammt«. Das Dionysische hingegen ist die Seele und die Welt der Unterklasse. Es übernimmt den finsteren, ungeordneten und sinnlichen Widerpart zu Apollo. Es ist der Immoralismus der Massen in den Favelas, der sich listig und zäh wider-

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setzt. Maffesoli (1986, S. 19) rekurriert in Der Schatten des Dionysos ebenfalls auf Nietzsche und spricht vom »orgiastischen Lebensgefühl«, das seine Alltäglichkeit wie seine ausgefallenen Erscheinungsformen und die Heiterkeit (»O brasileiro é alegre.« 2007/10/81) sowie des carpe diem in der »ständigen Wiederkehr des Gleichen« feiert und »auf das wirtschaftliche und politische Planungskalkül pfeift« (ebd.). »Wir verbringen unsere freie Zeit hier in Calabar. Freizeit heißt Bier trinken, sich unterhalten, sehen, wer kommt und geht. So geht das hier. Was interessiert uns die Welt?« (2006/17/248)

Das orgiastische Lebensgefühl legt damit die »Unwirksamkeit von TugendIdeologien« bloß, die meinen, die Leidenschaften zu lenken, zu zähmen und rationalisieren zu können und es doch »nie in den Griff bekommen können« (ebd., S. 19). Die Praxis eines »ethischen Immoralismus« deutet eine Widerständigkeit an und wird damit zu einer Waffe der Schwachen. »Jenseits der großen ökonomischen und politischen Strukturen, mit denen wir täglich zu tun haben, ermöglicht uns der Orgiasmus, jene Angst auszuleben, die vom ›Da-sein‹, wie Heidegger sagt, und der ›Geworfenheit‹ herrührt. Eine solche Gespaltenheit machen Promiskuität und die Wirrung, in die der Körper fällt, für eine Zeitlang vergessen. Sicherlich ist dies die wichtigste Lehre, die uns die Unordnung, der Wahnsinn und der Unruhestifter Dionysos zu geben haben.« (Maffesoli 1986, S. 153f.; Herv.i.O.)

Der ›Immoralismus‹ dient aber nicht einer kollektiven Empörung über die erlittene moralische Verachtung und Anerkennungsverweigerung, sondern ermöglicht auf einer Ebene des individuellen aber kollektiv anerkannten Gefühlshaushaltes eine Bewältigungsmöglichkeit sozialer Ungerechtigkeit. Im räumlich nahen Zusammenleben der Favelabewohner liegt die Möglichkeit, daraus eine Intimität des Orgiastischen herzustellen. Dieser Raum eröffnet im Vergleich zu den hermetisch abgeriegelten Stadtwelten der Mittel- und Oberschichten differentielle Möglichkeiten, die die Menschen versuchen, für sich zum Positiven zu wenden. »Kontrolle der Qualität, das ist es, dass wir viele Probleme mit Krankheiten, die über Geschlechtsverkehr übertragen werden, haben. Wie ist es in einer feiernden Stadt, hm, feierreichen Stadt, in der von Montag bis Montag Feste stattfinden, oder nicht? Als ich hier her kam, in dieser Zeit, die sehr heiß ist, da schlafen die Leute alle miteinander, Sex ist überall, also versorgen wir die Leute mit Verhütungsmitteln, weil wir wissen, dass überall hier miteinander geschlafen wird. Viele sexuelle Beziehungen, oft ungeschützt.« (2006/20/279)

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Nietzscheanisch gewendet, wird hier eine Art ewiger Lust des Werdens selbst zu sein gefeiert, die jedoch auch die Vernichtung in sich birgt; einer ewigen Wiederkehr des Gleichen erfolgt eine hohe Bestimmung, ekstatisch im ausgelebten Trieb der Geschlechter, sich hingebend im Rausch bacchantischer Freuden und Vergnügens, die die leidenschaftliche Lebenslust widerspiegelt. Die ewige Wiederkehr bleibt aber ziellos und als unproduktive Verausgabung selbstbezogen und kehrt in sich selbst zurück; der Mensch vergeht in ihr (Nietzsche 1988). »Und es gibt zudem viele Mädchen, die sehr frühreif sind, weil sich die Mutter nicht um das Mädchen kümmert, sie hängt in Barra rum, niemand kann sie mit ihren 14 Jahren einsperren, am Strand…die Männer...sie machen [wer weiß was], sie machen Sex für Geld, verstehst Du?« (2006/14/212)

Nun sollte diese Form der zwischenmenschlichen Artikulation nicht im philosophischen Interpretationsraum idealisiert und unkritisch betrachtet werden. Die Körperbezogenheit und die erotischen Wallungen sind häufig maskuline Phantasien und Wertschätzungen, die die Frauen, um anerkannt zu werden, mittragen. Die empirischen Erkenntnisse sprechen hier eine eindeutige Sprache. Der Fetisch der Körperlichkeit und der Promiskuität ist ein weitgehend männlicher. »Wenn hier Männer zusammenstehen, eine Runde von Freunden, dann sprechen sie nur über Frauen. Frauen und Musik, Frauen und Fußball.« (2007/17/151) »Die Vergangenheit in meinem Leben war recht gut, weil ich gute finanzielle Mittel hatte, nur dass ich in dieser Zeit nur an Frauen gedacht habe.« (2007/16/133) »Frauen sind etwas Wunderbares.« (2007/17/150)

Nicht umsonst werden viele Männer mit Attitüden von Frauenhelden als »mulherengos« (»Schürzenjäger«) bezeichnet. »Normalerweise haben hier die Männer viele Frauen und sie prahlen damit. Es gibt viele Frauen, es wird viel Geld für Frauen auf der Straße ausgegeben, was er besitzt, wird für Frauen auf der Straße ausgegeben; Prostituierte. Es könnte sogar sein, dass es keine Prostituierten sind, vielleicht sind es Frauen aus der Familie. [...] Es ist also normal, dass der Mann für die Frauen hier erscheint, der Typ, der fünf oder sechs Frauen nimmt, sagt: ›Wow, ich nehme mir die oder die, ich bin mit der und mit der zusammen.‹« (2007/16/126)

Die Konsequenzen dieser dionysischen Praktiken stellen nicht selten die familialen und Beziehungsstrukturen auf eine große Belastungsprobe. Die Prekarisierung der Lebenswelt in der Favela schreitet fort, die Herausforderungen für

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die Menschen, v.a. für die Frauen, die Mütter und Versorgerinnen zugleich sind, werden größer. »Die Männer übernehmen keine Verantwortung mehr. Sie verfolgen nur egoistisch ihren Weg. Konsumieren Frauen; Frauen natürlich manchmal genauso auch Männer! Siehst Du hier funktionierende Familien? Wo die Kinder mit Mutter und Vater gemeinsam aufwachsen? Dies wird immer seltener. Es ist beschämend, wie wenig die Männer sich hier um ihre leiblichen Kinder kümmern.« (2007/8/78)

Anästhetische und palliative Praxis Der Alltag stellt jenen Raum dar, in dem die Massenproduktion Massenkonsumenten findet und eine Uniformierung von Individualismus und Banalität erfolgt (Korff 2009). Die brasilianische Moderne ist eine durch Konsum geprägte Moderne. Dies gilt klassenübergreifend und bedeutet, dass auch statistisch gesehen, ein Drittel der Brasilianer, die in prekären urbanen Verhältnissen leben, einen großen Konsummarkt darstellen. Die Verlockungen der konsumtiven Moderne evozieren alltägliche Praktiken, die mit der erfahrenen sozialen Ungleichheit oft eher ›schmerzlindernd‹ und ›narkotisch‹ verfahren als oppositionell und aktivistisch. Eine derartige Perspektive muss notwendigerweise fragmentarisch und unvollständig bleiben. Es erscheint daher nur möglich, einzelne empirisch erkannte Phänomene im Lichte der Fragestellung zu beschreiben und zu interpretieren. »Wir sind ein Volk, das ständig konsumiert. In allen möglichen Formen. Kaufen alles auf Kredit. Kennst Du ein Haus hier in der Favela das keinen Fernseher oder DVD-Spieler hat? Wir sind maßlos, obwohl wir eigentlich wenig hätten zum Ausgeben. Maßlos im Kaufen, Reden, Lieben, Verlieben, Trennen, Trinken und so fort. Endlos.« (2007/11/90)

Diese konsumtiven Praktiken sind für die spätkapitalistische Zentrale wie Periphere Moderne sicher nicht außergewöhnlich. Erstaunlich erscheint dabei insbesondere der Wille zum Konsum trotz stark limitierter Ressourcen. Kann hier ein unbewusster Wille zum kompensatorischen Verdrängen abgeleitet werden? Konsum bedeutet in einer kapitalistischen Gesellschaft eine anerkannte Praktik. Um respektierter Teil dieser Gesellschaft zu sein, ist materieller Konsum und Besitz wesentliche Voraussetzung. Die hohen Schuldenstände vieler armer Haushalte einerseits und der Verkauf von Konsumartikeln in geringsten Ratenzahlungen,

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ohne jegliche Anzahlung andererseits, und höchsten Verzinsungsraten, leistet hierzu sicherlich Vorschub.1 »Manchmal hat man so seine Problemchen, aber man löst sie. Es gibt viele Leute, die das nicht schaffen, ja sogar die Mehrheit ist so. Voller Schulden, sie schulden Gott und der Welt Geld, aber sie sind da. Man sieht sie, am Wochenende trinken, ausgehen, spazieren (...) wir sind optimistisch diesbezüglich. Das ist es. Das reicht aus.« (2007/20/163, 164)

In einer palliativen Praxis des Alltagslebens (die Palliation oder palliative Behandlung und Betreuung ist der medizinische Fachausdruck für eine lindernde Behandlung im Gegensatz zu einer kurativ-heilenden oder prophylaktischen Behandlung) die mit einer anästhetischen Praxis (die Anästhesie als die Lehre von der Betäubung oder Narkotisierung) zu verbunden sein scheint, offenbart sich eine kollektive Praxis. Beide Termini sind von befragten Brasilianern selbst in den Gesprächen benannt worden, um das Alltagsleben in den Favelas zu beschreiben und entsprechen methodisch so genannten »In-Vivo-Codes« nach Strauss & Corbin (1996). Sie bringen in metaphorischer Weise eine Grundkondition alltäglicher Lebenswelt in den Favelas zum Ausdruck. »Weißt Du, es ist immer der Alkohol. …Überall ›cerveja bem gelada‹ [gut gekühltes Bier]. Es geht nicht ohne. Irgendeiner hat immer Geld in der Tasche und gibt Bier aus. So zirkulieren die Ausgaben und jeder hat immer was davon.« (2007/18/151) »Wir leben, um zu verdrängen. Und wir wählen dabei nicht die Depression, sondern die Überschwänglichkeit der Begegnung, der Kommunikation. Siehst Du Brasilianer ein Buch lesen? Siehst Du Brasilianer still dasitzend? Das sind wohl nur die wenigsten.« (2006/14/170)

Der brasilianische Baile Funk, der von den so genannten Funkeiros mit Drumcomputern und traditionellen Rhythmen kreierte Sound, ist in den Favelas von Rio de Janeiro entstanden. Dort wird er in großen Hallen gespielt. Die Texte im Baile Funk handeln, ähnlich explizit wie im amerikanischen Gangsta Rap, von Sex, Drogen und Kriminalität; sie sind oftmals gewaltverherrlichend und spie-

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»Consumers can buy anything from a fridge to groceries in five or twenty installments, while even the keenest eye needs glasses to see the overall price written in very small print. Consumers often end up paying double the price of an item through long installment plans at interest rates of up to 31 % a year. The number of people with debt over 5.000 reais ($3.150) has risen about 47 % since December 2005, according to central bank data, while mortgage lending, although coming from a low base, was up 26,5 % in the 12 months to May. © (Mail & Guardian 2008)

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geln den prekären Alltag in den Favelas wider. Die große Mehrheit der Baile Funk-Künstler stammt aus den Favelas. Sneed hat sich in Favela Utopias. The Bailes Funk in Rio’s Crisis of Social Exclusion and Violence (2008) mit der Funktion des Funk für die Favelabewohner auseinandergesetzt. Obgleich die ethnographischen Beschreibungen z.T. idealisierend wirken, stellt der Baile Funk für ihn einen Ort dar, an dem die Jungen mit den Alten zusammenkommen, gemeinsam feiern und an dem die sozialen Hierarchien umgekehrt werden. Die Kollektivimagination lässt nach seinem Dafürhalten die alltägliche Gewalt erträglicher machen. Er artikuliert diese Interpretation in seinen »utopian solutions«, die der Funk für die sozialen Probleme der Favela bereithalte, wobei Sneed insofern Utopie nicht als Bezeichnung für die Idee einer besseren Welt verstanden wissen will, sondern vielmehr als Kreation eines zeitlich begrenzten Raumes, in dem man kollektiv erleben kann, wie es sich anfühlen würde, in einer vollkommenen Welt zu leben (Auer 2011; vgl. Lanz 2008). Es ist die ständige Wiederkehr der Suche nach dem Rausch, der Kompensation und der Verdrängung als anästhetische Bewältigungsstrategie. Einerseits stellt der Alltag als Fest einen durchaus anerkannten, da praktizierten Lebensmodus in der Favela dar, andererseits determinieren die Perspektivlosigkeit am Arbeitsmarkt und der notorische Mangel an Möglichkeiten für die Favelabewohner, kurz- und mittelfristige Ziele (z.B. Aus- oder Weiterbildung) zu formulieren und umzusetzen. Scott (1985; S. 325) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer »Attitude of pragmatic resignation«, als eine Akzeptanz der bestehenden Strukturen, in deren Rahmen versucht wird, sich bestmöglich zu arrangieren und sich gegebenenfalls mit Kompensationsstrategien zu zerstreuen, und einem »ideological support«, der eine Bejahung und Anerkennung der hegemonialen Verhältnisse beinhaltet. Letzteres würde ein Einverständnis der Subalternen mit dem Verhalten des dominanten Bevölkerungssegments bedeuten, das heißt ein genuines Annehmen der asymmetrischen Machtverhältnisse. Könnte damit auch die palliative und anästhetische Alltagspraxis des Müßiggangs eine Absetzbewegung zum ›kleinbürgerlichen‹ Lebensalltag darstellen, der der Unterordnung unter die Zwänge der prekären Lohnarbeit auf der Höhe eines Mindestlohnes im Monat gehorcht, und mindestens sechs Tage der Woche beansprucht? Eine andere Form der passiven Bewältigung durch Zerstreuung stellt das Fernsehen und die internetbasierte Interaktion in sozialen Netzwerken wie z.B. Orkut, das brasilianische Pendant zu Facebook, dar. »Die Jungen sitzen nur noch vor dem Computer. Treffen sich immer weniger im wirklichen Leben, sondern teilen sich nur noch über Orkut mit. Es ist verrückt. Und die, die kei-

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nen Computer zu Hause haben, gehen zu Freunden oder ins Internetcafe; davon haben wir hier in Calabar und Alto das Pombas sogar welche.« (2011/17/143)

Eine Studie von Flörke (2009, S. 41) über das Nutzungsverhalten des Internets von Favelabewohnern in den Stadtviertelen Complexo do Alemão und Rocinha in Rio de Janeiro hat herausgefunden, dass 55 % der Befragten mehr als zwei Stunden am Tag im Internet verbringen und 24 % sogar mehr als sieben Stunden. »Das Einschalten des PCs wird für die junge Generation zum Metronom des täglichen Lebensrhythmus. Orkut ist dabei zum festen Bestandteil ihres alltäglichen Kommunikationsablaufes geworden.« (ebd.; Herv.i.O.) Für die Jugendlichen ist ein soziales Netzwerk unverbindlicher Kontakte, die fast ausschließlich innerhalb der geteilten Lebenswelt der Favela vernetzt sind, hilfreich für die Bewältigung des Alltags. Denn die Erosion familialer Strukturen schafft ein intersubjektives Vakuum, das durch intensive virtuelle Kommunikation kompensiert wird. Diese Form der sozialen Interaktion verdrängt auch in den benachteiligten Vierteln von Brasilien mehr und mehr das Fernsehen, einer Alltagsinstanz, die seit jeher den Zeitvertreib an den Nachmittagen und Abendstunden darstellte. »Weißt Du, wir versuchen manchmal einfach die Misere des Alltags zu vergessen…Wir sehen die Telenovelas immer und überall und sprechen darüber…es ist eine regelrechte Sucht und Flucht. Aber es tut gut und es macht Spaß. Es ist wie es ist. Wir machen uns dennoch unser eigenes Bild über die Welt, auch wenn die Welt in den Telenovelas nicht die unsrige ist.« (2007/15/54)

Aus dem letzten Absatz der Passage geht hervor, dass der TV-Konsum von den Menschen der Favelas nicht kritiklos angenommen wird, somit die mediale Manipulation keine absolute sein kann. Der Konsument macht seinen eigenen Gebrauch von den Dingen, die er konsumiert. So muss zum Beispiel die Analyse der vom Fernsehen verbreiteten visuellen Vorstellungen und Ideologien durch eine Untersuchung dessen ergänzt werden, was der TV-Konsument aus diesen Bildern für eigene »Mythologien« im Sinne Barthes' (2010) »fabrizieren« (vgl. hierzu auch die Arbeiten der cultural studies der Birmingham School, insbesondere Hall 2000). Diese Art der »Fabrikation«, die hier nur angedeutet werden kann, ist eine unabhängige Produktion und Poiesis. Der Gegenentwurf zur rationalisierten, expansiven und spektakulären Medienproduktion ist eine andere Produktion bzw. Fabrikation, die De Certeau (1988) als »Konsum« bezeichnet.

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A LLTAGSPRAKTIKEN ALS T AKTIKEN DIE »W AFFEN DER S CHWACHEN «

ODER

»Schwarz sein, das bedeutet stark zu sein, oder? Widerstand zu leisten, zu kämpfen.« (2007/16/138)

Diese einleitende Aussage impliziert eine historisch etablierte Dimension der Unterdrückung, gegen die es sich auch heute noch zu wehren gilt, da die rassistische Diskriminierung in Brasilien noch immer in den verschiedensten Lebensbereichen existiert. Es ist der Aufruf Widerstand gegen die etablierten, hegemonialen und normalisierten Diskurse der brasilianischen Gesellschaft zu kämpfen: »Resistance as acts of people that attack established protocolor understandings and oppose hegemonic normalcy to help to create new ways to view, be and act.« (Wilson 2007, S. 131) Die Formen und Artikulationen von Protest und Widerstand sind überaus vielfältig. Sie sind einerseits offen und zeigen sich als Gehorsamsverweigerung z.B. als Streiks, Proteste, Aufstände oder auch Randale. Sie können sich andererseits aber auch als alltäglicher Widerstand im Sinne einer vorgeblichen Gehorsamkeit ausdrücken, etwa in Form von Verzögerungstaktiken, kleinen Diebstählen, schlechter oder falscher Ausführung von Arbeit, übler Nachrede oder auch in Form von Sabotage (vgl. Scott 1985, S. 304ff.). Relevant ist dabei die Handlungsabsicht der widerständigen Akteure und nicht das Resultat der Praktik. Die Intention alltäglicher Widerstandsformen liegt darin begründet, dass diese Praktiken nicht ›bewiesen‹ werden können und ihnen daher keine Sanktion folgt. »Besonders ehrwürdig ist das Verhalten nicht, jedoch ist das eine der wenigen verfügbaren Mittel einer untergeordneten Klasse die Taten des Widerstands in eine sichere Verkleidung von äußerem Gehorsam zu verpacken.« (Scott 1985, S. 78) Den offenen und alltäglichen Widerständigkeiten liegt eine intuitiv gegebene Gerechtigkeitsvorstellung und damit ein Unrechtsempfinden der Subjekte zugrunde, die die alltäglichen Erfahrungen von Verletzung, Demütigung und Anerkennungsverweigerung erfahren müssen. Alltägliche Handlungsweisen der Widerständigkeit zeichnen sich durch ein taktisches Vorgehen aus. Vor jeder Finte, vor jeder List und Taktik steht die Einsicht derer, dass ihnen Unrecht, Respektlosigkeit und Misstrauen entgegengebracht wird und wurde. Die gedemütigten Klassen in Brasilien haben offensichtlich ein genaues Gespür für Anerkennungsverweigerungen und eine entsprechende moralische Urteilskraft. Strategien beschreiben hingegen ein absichtliches Vorgehen, welches sich aus einer einflussreichen und privilegierten Position heraus entwickelt.

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Forschungspraktisch und erkenntnistheoretisch liegt hier ein Problem vor. Möchte man die Taktiken der Schwachen empirisch erforschen, müssten die Betroffenen darüber explizit Auskunft geben können und wollen, und der Forscher müsste die Möglichkeit haben, die Taktiken der Schwachen umfänglich beobachten zu können. Nun entziehen sich diese Alltagspraktiken dem Beobachter weitgehend, da sie unsichtbar und verborgen vonstattengehen. Gardiner (2000, S. 177) formuliert diesen Umstand hinsichtlich der Theorie des Alltagslebens von De Certeau folgendermaßen: »This helps to explain why everyday practices are highly resistant to translation and codification into formalized, authoritative language, and why the basic grammar of tactics can be traced back many thousands of years.« Letztlich ermöglicht dies nur eine fragmentarische und vage Skizzierung der sozialen Wirklichkeit, die noch abertausend andere Praktiken im Repertoire hält. Diese Grenzen der Erkenntnis werden vom Alltagsleben vorgegeben, in das die betroffenen Menschen ihre Subversivität, ihren autonomen Eigensinn und ihre Selbstbestimmung einbringen. »Alltägliche Widerstandsformen machen keine Schlagzeilen. So wie Millionen von Polypen ein Korallenriff kreieren, so kreieren tausende von Individuen mit ihren Formen des Ungehorsams ihr eigenes politisches oder wirtschaftliches Barrier Reef. Und dabei gibt es kaum Dramatik, kein Moment der es eine Schlagzeile wert wäre. Und um die Metapher weiterzuführen: Wenn das Schiff des Staats auf Grund des Riffs läuft, dann wird die Aufmerksamkeit in der Regel auf das Schiffswrack gelenkt und nicht auf das Aggregat winziger Taten, die das möglich gemacht haben. Die Sicherheit liegt also in der Anonymität.« (Scott 1985, S.90)

Malandragem und jeitinho brasileiro – Ausgleichende Gerechtigkeit Bezeichnenderweise gibt es für taktische Praktiken in Brasilien einen eigenen Typus, das malandragem. Es impliziert einen Lebensstil des Müßiggangs, des schnellen Lebens und der Kleinkriminalität, der traditionell im Samba besungen wird. Der Exponent dieses Lebensstils ist der malandro2. Er bezeichnet den brasilianischen Gauner und Lebemann, der eine Existenz zwischen Legalität und Illegalität führt und die Frauen liebt.

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Die Ópera do malandro von Chico Buarque de Hollanda, die in den 1970er Jahren in Rio de Janeiro uraufgeführt wurde, wäre hier als wichtige Institution der Identitätskonstruktion des malandro zu bezeichnen.

228 | E XKLUSION IM Z ENTRUM »Alle sind da, um Spaß zu haben und um zu schauen. Die Natur strahlt, und da fangen viele an, sich zu verlieren. Ich sehe viele Paare, die sich am Strand streiten, weil eine Frau vorbei lief und der Mann ihr nachschaute. (...) Nun, es ist ja nicht, weil man verheiratet ist und diese schöne Frau vorbeiläuft… so schön, aber es ist unangebracht, dies öffentlich bekannt zu machen. Man kann ja versteckt schauen.« (2007/7/54)

Auf diesen schmalen Grad beziehen sich auch die Begriffe Gürtelspiel (jogo de cintura), Seiltanz (cordel de bamba) und das brasilianische Geschick oder die nötige Flexibilität und Plastizität (jeitinho), die den Brasilianern im täglichen Überlebenskampf abverlangt werden. Das jeitinho leitet sich ab von dar um jeito (›die Fähigkeit eine Lösung finden‹). Es impliziert die Nutzbarmachung von bestehenden Ressourcen, ebenso persönliche Kontakte und Kreativität im Handeln. Malandragem bezeichnet hingegen ein Bündel von eher subalternen Strategien. Im Sinne von De Certeau handelt es sich damit eindeutig um Taktiken, die genutzt werden, um Gewinn aus determinierten Situationen zu erzielen. Zusammen mit dem Konzept des jeitinho kann malandragem durchaus als eine brasilianische Handlungstypik sozialer Navigation gesehen werden. Anders als beim jeitinho wird beim malandragem die Integrität der Institutionen und Individuen effektiv in Frage gestellt. Es steht für ein Handeln unter ungleichen Lebensbedingungen und rechtfertigt sich durch ein ausgleichendes Streben nach personaler Gerechtigkeit. Diese Taktiken erfolgen, indem Institutionen und Herrschende durch semi-legale Gesetzübertretungen o.ä. überlistet werden. In dieser Lesart ist der malandro der typische brasilianische Heroe (vgl. Da Matta 1979). Als intellektuelle Ressource wird malandragem durch benachteiligte Individuen mit geringem sozialen Status und Einfluss genutzt, um temporär illizite Profite zu generieren. De Certeau postuliert für die »Schwachen« der zentral-modernen Gesellschaft die Unterscheidung zwischen Taktiken und Strategien. In Brasilien können dazu konzeptionelle Analogien erkannt werden. Intention des malandragem ist dabei nicht die mutwillige Schädigung eines Anderen, sondern dem eigenen Leben eine als gerecht empfundene Wendung zu geben und Unglücksfälle zu vermeiden. Es ist eine Form der Wendigkeit, ein typischer Kniff bzw. Kunstgriff eines Antihelden. »Der Brasilianer will nur seinen Vorteil aus etwas ziehen. Und speziell in Bahia hat sich das Volk schon so dran gewöhnt, im Elend zu leben, dass sie nur an Feste feiern denken. Aber sie sind dabei irgendwie auch geschickt, das Nötige und Richtige zu tun, um ein Leben zwar nicht im Luxus, aber doch lebenswert zu führen. Sie denken nicht daran zu schuften wie nochmal was, für ihre Rechte zu kämpfen, ein Ziel zu haben, nein. Ist es, weil sie keine Arbeit haben? Nein, weil der Brasilianer das Arbeiten nicht erfunden hat, und

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vor allem der Bahianer nur feiern will, er weiß nicht, wie man für seine Rechte kämpft.« (2007/5/37)

Eine »Kultur des Schweigens« als Taktik? Auf eine ganz andere Form der Taktik verweisen folgende Ausführungen. Die Bezeichnung »Kultur des Schweigens« wurden von dem bekannten brasilianischen Befreiungspädagogen aus Recife, Paulo Freire in Pädagogik der Unterdrückten (1973) formuliert. Der Grundgedanke des Werkes besteht darin, dass soziale Beziehungen durch ein Konkurrenzverhältnis geprägt werden und der dadurch entstehende Rahmen der sozialen Macht, Unterdrücker und Unterdrückte entstehen lässt. Die Unterdrückung hat ihren Ursprung in dieser Relation und bewirkt beim Unterdrückten das Gefühl der Unfähigkeit und Minderwertigkeit. Zentral bei diesem pädagogischen Ansatz ist die Befreiung und Emanzipation des Unterdrückten aus dem dominanten Verhältnis, was mit der Erkenntnis, der Bewusstwerdung und dem Lernen einhergeht, dass Veränderung möglich ist. Freire (1973) nennt die Kultur des ländlichen Proletariats und der Favelabewohner in Brasilien eine »Kultur des Schweigens«, worunter er eine Schicksalsergebenheit der unterprivilegierten Subjekte versteht. »Es ist Gottes Wille.« oder »Nein, normalerweise beschwere ich mich nicht, weil ich glaube, dass wir uns bei Gott dafür bedanken müssen was er uns gegeben hat.« (2006/18/262) Seiner Ansicht nach verfallen sie dem Mythos, schlechtere Menschen zu sein. Sie vertrauten ihren Unterdrückern, z.B. den Gutsherren oder dem Stadtadel blind. Die Folge daraus ist, dass die Unterdrückten Bildung ablehnen würden und im Grunde zu Befehlsempfängern ihrer Unterdrücker werden. Seiner Argumentation folgend ist das Ziel dieser anti-dialogischen Erziehung, den Menschen an die gegebenen ungerechten Verhältnisse anzupassen, eigenes Denken zu eliminieren sowie Kreativität und Kritikfähigkeit zu unterminieren, um letztlich den Fortbestand der unterdrückerischen Gesellschaftsordnung und die Vormachtstellung der herrschenden Eliten zu gewährleisten. Insofern gehören zu den hegemonialen Diskursen auch Mythen, die in erster Linie der Aufrechterhaltung des Status quo dienen. Diese theoretische Anschauung von Freire wird auch von Deffner (2010b, S. 178) über die soziale Praxis von Beschämung und der Reaktion von Scham empirisch bestätigt: »Die Beschämung dient den herrschenden sozialen Klassen zur Erlangung und Sicherung ihrer Überlegenheit – und damit zur Kontrolle über die Unterlegenen […].« Zu den Mythen zählen etwa, dass (1) die unterdrückerische Ordnung eine freie Gesellschaft sei, (2) alle Menschen die Freiheit hätten zu arbeiten, wo sie wollen, (3) die existierende Ordnung die Menschenrechte respektiere, (4) jeder Fleißige selbst Unternehmer werden könne, (5) die herrschenden Eliten die Ent-

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wicklung des Volkes förderten, (6) die Unterdrücker fleißig, die Unterdrückten hingegen faul, unehrlich und unredlich seien und (7) es eine natürliche Unterlegenheit der Unterdrückten gegenüber den Unterdrückern gebe (Freire 1973). Diese immer wieder aufs Neue reproduzierten Mythen seien ein wesentlicher Bestandteil einer den Unterdrückten aufoktroyierten »Kultur des Schweigens«. Da die Eliten über die Definitionsmacht des Wortes und der Schrift verfügen, seien die Massen unfähig, sich in einer ihrer eigenen Realität entsprechenden Möglichkeit zu artikulieren. Für ihn führt damit Sprachlosigkeit letztlich zu Apathie und Anomie. Um die derart persistenten Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen, bedarf es daher einer Entmythologisierung. Nur diejenigen sind dazu in der Lage, die lesend, schreibend und sprechend über ihr eigenes Wort verfügen. Im Mittelpunkt der Befreiungstheologie steht die Frage nach dem ›Warum‹. Die Menschen sollen »die Kraft [entwickeln], kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren [...]. Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozess sehen, in der Umwandlung.« (Freire 1973, S. 67) Zentraler Begriff in Freires Konzeption ist die conscientização, die Bewusstwerdung. Es ist der Lernvorgang, »der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen« (ebd., S. 25). »Wir verhalten uns wie sie uns brauchen, dann passiert auch nichts.« (2006/2/19) Oder die Akzeptanz der sozialen Ordnung drückt sich in Unsicherheit und Ängsten der Unterdrückten aus, wenn eine Frau aus Calabar unumwunden sagt: »[…] es [Verhaltensweisen] gibt sie eben, wegen dem Schwarzsein. Das kommt von unseren Vorfahren, den Sklaven. Die waren halt immer schon ängstlich, unsicher, wenn sie unter lauter Weißen waren. […] Die Schwarzen verstecken sich in der Ecke, um ja kein Aufsehen zu erregen. Am liebsten möchten sie verschwinden oder unsichtbar werden.« (2006/10/152)

Sollte hier jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Argumentation möglicherweise als zu einseitig aufgefasst werden kann? Die hier vorliegenden empirischen Erkenntnisse belegen, dass die Unterdrückten und Schwachen ein hohes Maß an Unrechtsempfinden und moralischer Urteilskraft besitzen, darüber was gerecht ist und was nicht. Auch haben sie ein genaues Bewusstsein über die sehr begrenzten Möglichkeiten des Opponierens und der Auflehnung. Daraus wäre teilweise zumindest der Schluss zu ziehen, dass die moralische Urteilskraft der Favelabewohner weitgehend dazu führen kann, dass diese pragmatisch und im Grunde rational mit der in ihren Augen unüberwindlichen sozialen Ungleichheit

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verfahren. Die ungerechte Klassenstratigraphie zu akzeptieren, meint nicht zwangsläufig, alles hinzunehmen bzw. in Agonie zu verfallen (vgl. Hall 2000; Fiske 1989). »[...] Was können wir denn tun gegen das ungerechte System? Also ignorieren wir die Reichen genauso wie sie uns ignorieren. Die Welt der Reichen interessiert uns nicht.« (2006/8/120) Diese Haltung beschreibt Scott (1985, S. 325) als »attitude of pragmatic resignation«. Indem die Anderen also ihrerseits für inexistent erklärt werden, gelingt den Favelabewohnern eine kollektiv geteilte Selbstbezüglichkeit, die jedoch die strukturell bereits getrennten Welten zusätzlich auf einer psychischen Ebene isoliert. In der erlittenen Verweigerung von Anerkennung etablieren sich in der Unterklasse neben den demütigenden Mustern auch Abgrenzungsweisen, die sich z.T. in einer Widerständigkeit den Herrschaftsverhältnissen gegenüber ausdrücken. Eine abgrenzende Verhaltensweise zur Selbstversicherung wird durch die Abwertung der privilegierten Gegenwelt und Aufwertung der eigenen erreicht: »Die Welt der Reichen ist doch schlecht. (...) Die sind reich, aber krank. Haben so viele Sorgen um ihr Geld, dass sie sich einbunkern müssen und alle Depressionen bekommen. Die dort [in den Hochhäusern] haben doch keine Lebensfreude. Die möchte ich nicht eintauschen gegen schicke Autos, bessere Kleidung, eine größere Wohnung. Ich brauche keinen Luxus.« (2006/18/262) »Die Schwarzen? Einige, (...) einige, andere nicht, andere haben mehr im Kopf. Sie sind ähnlich wie die Weißen, die mehr Geld haben. Ich mag keinen Luxus. Ich bin revolutionär.« (2006/11/61)

Die aseptischen Welten der gated communties (condominios fechados), ihre räumliche Hermetik und ihren Kontrollzwang aus Angst vor Überfällen etc. wird von den Favelabewohnern genau wahrgenommen und auf eine eigene Art und Weise interpretiert: »Eigenartige Welt dort. (...) Die haben alles, wissen nicht wohin mit ihrem Geld und werden krank davon. Die Menschen dort in den Hochhäusern leben wie in einem selbstgewählten Gefängnis. Die wirken doch irgendwie leblos und haben doch keine Lebensfreude.« (2006/18/263)

Darin artikuliert sich Identität mit dem Eigenen und eine Herstellung von Sinn bezüglich der eigenen Lebenswelt. Die Favela wird damit zum klassenbezogenen Identifikations- und Anerkennungsraum. Es zeigt sich hier eine ganz andere Perspektive zum hegemonialen Stigmatisierungsdiskurs über die Gewalt, die Unsicherheit und das Prekariat der Favela. Dem räumlich angrenzenden Bürgertum werden seine Kleinkariertheit und selbst verursachten Angstneurosen vor-

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gehalten. Dies deutet darauf hin, dass die Subalternen ihre eigene Integrität und Würde zumindest teilweise wahren können. Auch dies sind Waffen der Schwachen, die hier im städtischen Kontext der Armen Brasiliens listig und selbstbewusst aufscheinen. »Auch wenn einer ein Appartement besitzt, weißt Du, so ein Luxusgut oder ähnliches, und vielleicht nicht glücklich ist, oder? Ich rede auch viel mit diesen Leuten, sie sagen mir auch, manchmal würden sie gerne an meiner Stelle sein, weil sie weder das Privileg für Privatsphäre noch für Glück haben. Man fühlt sich glücklich, man fühlt sich manchmal einer Person nahe, weil man keine anderen Personen zum Reden hat, man hat keinen... jeder hat jemanden ... die Menschen nähern sich durch jene Person an, aufgrund des Geldes, das alles ist [ein Problem]... die Leute beschweren sich oft, ja. Ich glaube, dass (...) ich mich nicht sehr zu diesen extrem teuren Sachen hingezogen fühle.« (2006/18/262)

Ein taktisches Widersetzen den herrschenden Verhältnissen gegenüber, besteht durchaus. Dies impliziert ein Bewusstsein über die Klassenlage jedoch ohne kollektive Empörung und Widerständigkeit, sondern vielmehr ein individuelles Agieren und Taktieren an verborgenen Stellen nach eigenem moralischem Empfinden, Gerechtigkeit einzufordern: An Stellen, an denen es den Eliten vielleicht vordergründig gar nicht auffällt. »Wir haben keine Angst, wir nehmen die Reichen so an, wie sie sind, auch wenn sie uns immer diskriminieren.« (2006/2/19) Praktiken der Widerständigkeit und der Drogenhandel »When you got nothing, you got nothing to lose.« (Bob Dylan)

Die Artikulationsformen des sozialen Protestes und eines wie auch immer gearteten Widerstandes sind verankert in den Praktiken. Aus Praktiken entstehen Strukturen und diese wiederum wirken auf die Praktiken zurück. Bereits bei einer bloßen Betrachtung des strukturellen und gebauten Stadtraumes in Brasilien wird deutlich, dass die reine Existenz von Favelas in innerstädtischen, z. T. wertvollen Siedlungslagen eine Form territorialer Widerständigkeit der Schwachen und Exkludierten darstellt. Der Kampf der zumeist afrobrasilianischen Bevölkerung, dort ein Leben zu führen und von den ökonomischen Möglichkeiten der Innenstadt durch Handel und Dienstleistungen zu profitieren, zeigt ihren Kampf und ihren Willen, für ein »Recht auf Stadt« einzutreten. Um ein Leben in der innerstädtischen Favela zu führen, mussten lange Kämpfe um deren Legitimation geführt werden. Die Favela Calabar blickt auf eine jahrzehntelange Geschichte der Resistenz zurück.

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»Communidade da resistência« Das Werk von Fernando Conceição Cala a boca Calabar (»Halt’s Maul Calabar«) (1986) beschreibt eindrücklich den lokalen Widerstand der Bewohner gegen eine Zerstörung ihrer Heimat und eine Umsiedlung in die urbane Peripherie von Salvador. Fernando Conceição hat durch diese Publikation eine »soziokommunitäre Identität« (Giudice 1999, S. 31) etabliert, die sicherlich ganz wesentlich dazu beigetragen hat, den Widerstandskampf des ehemaligen Quilombo dos Calabari, den afrodeszendenten Bewohner, in seinem Status zu legalisieren (vgl. Conceição 1986, S. 22). Ziel war insbesondere die Schaffung einer gerechteren Gesellschaft, die allen ein Bürgerrecht auf Stadt gewährleisten solle. Im Jahr 2007 wurde in Calabar das Jubiläum eines 30-jährigen kommunitären Kampfes der Bewohner gefeiert.

Abbildung 27: »Calabar – 30 Jahre kommunitärer Kampf«; © Eberhard Rothfuß (08/2007). Conceição (1986, S. 22) deutete die Favela Calabar in seinem Werk als Symbol des Widerstandes über die »Neosklaverei« des 20. Jahrhunderts, indem eine Handvoll Menschen um ein Stück städtischen Landes kämpften, um dort ihre Existenz aufzubauen. In der Retrospektive erscheint Fernando Conceição durchaus als ein »organischer Intellektueller« im Sinne Gramscis (1986), der als charismatische Figur im

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Kampf um ein Bleiberecht der Calabari entscheidende identitätsstiftende und kollektiv wirksame Impulse für die communidade geliefert hat (vgl. Korff & Rothfuß 2009b, S. 363).3 Auch in der Außensicht der Mittelschicht wird Calabar durchaus Anerkennung hinsichtlich des kommunitären Kampfes der Bewohner für urbane Entwicklung und Infrastrukturmaßnahmen der letzten Jahrzehnte entgegengebracht: »Calabar, im speziellen, ist ein Viertel, das...es ist ein Viertel, das durch den Kampf seiner Bewohner um ihre Probleme im Bereich der Stadtentwicklung gekennzeichnet ist, im Bereich der Stadtentwicklung [da geht es um die], grundsätzliche, strukturelle und organisierte sanitäre Einrichtungen. Das Ganze ist ein Kampf, es wurde im Laufe der Jahre erreicht. Jedoch, wenn durch diese Reife Verbesserungen erreicht werden, werden diese Veränderungen auch die Probleme erhöhen, weil jeder auch immer seine Ziele durchsetzen möchte.« (2007/13/105)

Der Großteil der Bewohner von Calabar bezahlt heute die öffentlichen Dienstleistungen wie die städtische Gebäude- und Grundstückssteuer IPTU (Imposto sobre a propriedade predial e territorial urbana), ebenso Strom und Wasser. »Calabar ist ein Viertel in dem viele Leute wohnen, die in der Gemeinschaft leben wollen, aber es gibt auch egoistische Leute, die von nichts wissen wollen, sie wollen nichts von Calabar wissen, denen geht es nur um sich. Sie laufen durch die Gegend und sehen nichts, aber die Mehrheit ist eine Gemeinschaft.« (2007/17/152)

Es geht dort heute also nicht mehr um die Widerstandskämpfe eines Existenzund Bleiberechts, sondern um die alltäglichen Kämpfe, von den urbanen Ressourcen unter spätkapitalistischen Bedingungen zu profitieren. Vom Standpunkt der Subalternität und einem stark begrenzten, letztlich unerreichbaren formellen Arbeitsmarkt aus betrachtet, stellen sich widerständige Praktiken eher in der Form der äußerlichen Konformität und mentalen Resistenz dar. »The conformity

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Und dennoch mischen sich heute auch mehr und mehr Misstöne über Conceição in die Bemerkungen der Calabari. Ihm wird seine Abwendung von Calabar durchaus nicht verziehen. »Er [Fernando Conceição] wohnt in Calabar. Er wurde dort geboren und ist in Calabar aufgewachsen. Er hat seinen Schulabschluss an einer Schule in Calabar gemacht. Also, heute gibt es leider Leute, und wenn ich das sage, es gibt Leute, die denken dass ich sehr rassistisch gegenüber den Schwarzen bin, aufgrund meiner Hautfarbe, durch meinen Lebensstil, durch meine finanziellen Mittel. Ich bin aber nicht rassistisch, ich bin ehrlich, weil ich [auch] hier lebe.” (2007/15/135)

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of subordinate classes rests primarily on their knowledge that any other course is impractical, dangerous, or both.” (Scott 1985, S. 320) Die empirischen Erkenntnisse bestätigen diese Form der Anpassung. Vordergründig werden von den Schwachen die gesellschaftliche Ordnung und die damit verbundenen hegemonialen Werte und Normen anerkannt. »Wir haben keine Angst, wir nehmen die Reichen so an wie sie sind, auch wenn sie uns immer diskriminieren. Wir müssen uns einfach so verhalten wie sie uns brauchen, dann passiert auch nichts.« (2006/12/66)

Dies bedeutet, dass die Mehrheit der alltäglichen Praktiken in den ›Schattenraum‹ verschoben wird, worin sich dann individuelle und kollektive Freiheit vollziehen kann. Damit ist auch impliziert, dass bereits der Konsument durch Umwidmung und Zweckentfremdung auf der Basis von Möglichkeiten oder Notwendigkeiten agieren kann. Die populäre Imagination der Favela besitzt durchaus die Fähigkeit, einen utopischen Raum zu schaffen und aufrecht zu halten, der einer totalen Assimilierung oder Vereinnahmung durch die Herrschenden widersteht und worin sich Gerechtigkeit für die Schwachen vollzieht. Letztlich können damit die Starken entthront werden, zumindest symbolisch. Diese Praxisformen bringen eine populäre Ratio ins Spiel, eine Art und Weise, das Denken auf das Handeln zu beziehen, eine Kombinationskunst, die untrennbar von einer »Kunst im Ausnützen« ist (De Certeau 1988). Im spätmodernen Kapitalismus der Zentralen wie der Peripheren Moderne haben sich die Tendenzen zur Individualisierung, Diversifikation und Pluralisierung der Gesellschaft immens verstärkt. Die Taktiken, die von Konsumenten vollzogen werden, sind kaum mehr überschaubar. Es erscheint daher unmöglich, eine tragfähige empirische Grundlage zu schaffen, mittels dieser eine Typologisierung von Taktiken abzuleiten wäre. Es gelingt daher nur über eine kursorische und fragmentarische Annäherung und anhand verschiedener Einzelbeispiele die Logik der Taktik in der Favela sichtbar zu machen. »Faire de la perruque« An früherer Stelle wurde eingehend dargelegt, inwiefern sich De Certeau in seinem Konzept des Alltagslebens von den Studien Foucaults zur Disziplinargesellschaft unterscheidet. Foucaults ganzes Prinzip der Disziplinierung fußt in einer durch und durch zeitlich strukturierten Ökonomie. Für De Certeau (1988, S. 105) ist sie aber zugleich immer der Ort eines faire de la perruque, eine Art versteckter Müßiggang, der sich gerade nicht kontrollieren lässt. Auch das Seelenleben, das für De Certeau immer Rückzugs- und Möglichkeitsraum von Eigensinn,

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Kreativität, Erfindungsreichtum und Widerständigkeit bleibt, wird für Foucault zum möglichen »Korrelat einer Machttechnik« (Foucault 1976, S. 129). Was wäre nun konkret unter der Praktik faire de la perruque zu verstehen? Eine »Perücke aufsetzen« ist eine Metapher für den Freiraum und die Performance des Arbeiters oder der Angestellten am Arbeitsplatz unter den Augen und der Kontrolle des Chefs zu agieren. Nichts von Wert wird gestohlen; was zum Gebrauch und zum Nutzen herangezogen wird, ist die Dimension der Zeit. De Certeau (1984, S. 25) beschreibt dies folgendermaßen: »It differs from absenteeism in that the worker is officially on the job. La perruque may be as simple a matter as a secretary’s writing a love letter on ›company time‹ or as complex as a cabinetmaker's ›borrowing‹ a lathe to make a piece of furniture for his living room.«

Es geht darum, aus dem Bestehenden taktisch Gewinn zu ziehen, ohne die gängigen Formen der Unterordnung in Frage zu stellen. Die empirische Analyse bringt ein fast identisches Beispiel hervor: »Ich arbeite hier als Rezeptionistin in einem Krankenhaus, hier in der Nähe, für einen einzigen Mindestlohn im Monat. Monat für Monat. Warum soll ich hier arbeiten wie nochmal was? Da man meinen Bildschirm vom Computer nicht sehen kann, gehe ich ständig ins Internet, in Orkut und tausche mich mit meinen Freundinnen, Freunden und meiner Familie darüber aus.« (2007/19/157) Ganz ähnlich schildert hierzu Scott (1985, S. 87; Herv.i.O.) in seinem Werk Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance: »[…] denkt daran, ihr verkauft eure Arbeitskraft und diejenigen die diese kaufen, wollen sehen, dass sie dafür etwas bekommen. Also arbeitet, wenn jemand bei euch ist und ruht euch aus, wenn er weggegangen ist, aber seid euch sicher, dass es immer so aussieht als würdet ihr arbeiten, wenn die Aufseher da sind.«

Eine andere Form der alltäglichen Widerständigkeit stellt der Rückzug in die schattigen und ruhigen Gassen der Favela dar. Dieser ermöglicht einen kontemplativen Zeitvertreib, der sich im stundenlangen Domino- oder Kartenspiel äußert. Es ist eine kontemplative Existenz außerhalb der Sichtbarkeit des Feindes im Labyrinth der Favela. Ein Raum der Freiheit, der im Intentionslosen seinen Weggefährten gefunden hat. Fiske (1989, S. 33) würde hierzu umstandslos zustimmen: »The landlord provides the building within we dwell, the department store our means of furnishing it, and the culture industry the texts we ›consume‹ as we relax within it«.

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Abbildung 28 & 29: Das Spiel und Musizieren als Kontemplation; © Eberhard Rothfuß (05/2006 und 09/2007).

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Als ein plastisches Beispiel fintenreicher Praktik der Schwachen ist der regelmäßige Wechsel der Mobilfunkanbieter. Bei einem Neuerwerb einer SIM-Karte bieten die Telekommunikationsunternehmen einen Einstiegskredit an, den die Favelabewohner nutzen, um gratis zu telefonieren. Das malandragem spiegelt sich in vielen unterschiedlichen Praktiken wider. Der Taschendiebstahl ist hierbei sicher eine der ›prominentesten‹ Aktivitäten: »Na, was soll ich sagen…Wir versuchen halt die wenigen Möglichkeiten zu nutzen. Es wird Dir niemand was schenken im Leben. Die Reichen schon gar nicht. An Karneval ist eine gute Zeit, um kleine Gewinne,…Du weißt schon, zu machen. Ich mach das nicht, aber es ist etwas, was gut läuft. (2007/16/138)

Nun soll mit dieser exemplarischen Interpretation keinerlei Romantisierung und Verharmlosung des Alltagslebens in der Favela heraufbeschworen werden. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass die Menschen ihre realistisch einzuschätzen wissen und daher ihre Zeit neben anästhetischer und dionysischer Praxis in spielerisch ›gewinnbringender‹ Form gestalten. »Aber wenn man mal innehält, um sich auch mal umzuschauen, was wir für ein Land sind mit kontinentalen Ausmaßen, mit einer riesigen Bevölkerungszahl und einem Volk, das eine sehr ruhige und stille Natur besitzt, um sich dies suchen zu können. Auch wenn ich denke, dass es an Bildung fehlt, und man sie ihm ermöglichen würde und er eine Hängematte mit einer Kokospalme daneben finden würde, würde er bleiben ... er würde es vorziehen in der Hängematte mit der Kokospalme daneben zu bleiben. Es gibt viele Leute, die sich an das gute Leben - nichts zu tun – gewöhnen.« (2007/2/17)

Demgegenüber stellt der Straßenhandel in Brasilien in seiner Eigenlogik ein produktives taktisches System dar, das den Favelabewohnern Existenz und Einkommen ermöglicht. Der Straßenhandel nutzt temporär und unvorhersehbar den ›Raum der Starken‹. Durch seine Flexibilität und relative Unsystematik nutzt er die urbanen Nischen des Profites für sich. Der Straßenhandel widersetzt sich den Einhegungsversuchen der Stadtverwaltungen, diesen an festen Orten als populärer Einzelhandel in Einkaufszentren (camelôdromos oder shopping populares genannt) zu positionieren, um damit Kontrolle ausüben zu können. Die räumliche ›Fluidität‹ des Straßenhandels ist jedoch konstitutiv für seinen Erfolg, Gewinne im urbanen Raum generieren zu können. Die ephemere und taktische Nutzung von neuralgischen Punkten in der Stadt ermöglicht Lageprofite durch Spontanität. Dies bestätigen auch Redepenning, Neef & Torres Aguiar Gomes (2010), die in ihrer Analyse des brasilianischen Straßenhandels attestieren, dass in den Bewegungen der Händler häufig ein Moment von Unsicherheit von Seiten der Stadtverwaltungen gesehen wird, da diese sich einer allgemeinen Planbar-

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keit, Eindeutigkeit und damit auch Kontrolle entziehen. Aus Sicht der Straßenhändler liegt jedoch gerade in diesen Bewegungen eine soziale und ökonomische Sicherheit, da durch sie soziale Netzwerke reproduziert und ein standortvariables Einkommen ermöglicht werden kann (vgl. hierzu auch Etzold, Bohle, Keck & Zingel 2009 und deren Reflexionen zur (In-)formalität als soziale Praxis und Handlungsfähigkeiten im Straßenhandel). Der Drogenhandel – »Auf der richtigen Seite im falschen Leben«4 Als weiteres taktisches System stellt der Drogenhandel – insbesondere für männliche Jugendliche – eine verheißungsvolle, wenngleich fatale Alternative dar, um durch ein relative gutes monetäres Einkommen eine gewisse Freiheit, Macht und Anerkennung in einer ansonsten perspektivlosen und zugleich kapitalistischen Lebenswelt zu erlangen. »Geld ist das Hauptproblem. Weil, die Jugend, das liegt in ihrer Art des Seins, will immer auf irgendeiner Party sein und einen drauf machen, sie wollen immer dabei sein… dafür braucht man Geld in der Tasche … damit man immer da sein kann, dort oder da sein kann. Man hört immer ›Was passiert? Wo findet eine Show statt?‹ (...) Jeder wird hingehen wollen. Es gibt Leute, die wollen zwar, können es sich aber nicht leisten – Vater. Das ist es… die größte Schwierigkeit…das ist das Geld.« (2006/17/245)

Die Aussage »Auf der richtigen Seite im falschen Leben« charakterisiert in ganz typischer Weise die innere Verfasstheit zum Drogenhandel. Diese ähnelt dem prominenten Zitat aus Adornos Minima Moralia (2003) »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Es zeigt jedoch, dass es aus Sicht der Favelabewohner durchaus ein richtiges Leben gibt, nämlich wohl jenes der Strategien und dem Ort des Eigenen, welches ihnen jedoch verwehrt ist. Die List der Taktiker wird hier aber als moralisch gut bewertet, da sie auf der richtigen Seite, der im Grunde Guten stehen, die sich lediglich aufgrund ihrer nicht gewährten Möglichkeiten dem Drogenhandel verschreiben müssten. Sehen wir hier nicht das volle Bewusstsein über die eigene subalterne Lebenslage, um daraus das Mögliche zu machen? Die Stigmatisierungsdiskurse über die Favela als kriminelle Orte mit überbordender Gewalt durch den Drogenhandel wird dieser im Grunde zutiefst »vernünftigen Welt« im Sinne Goffmans (1959) keineswegs gerecht, da letztlich nur ein kleiner Kreis in diese Aktivitäten einbezogen ist. Der Begriff Favela ist heute

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Gängiges Sprichwort unter den im Drogenhandel involvierten Akteuren: »Das Leben eines Verbrechers – auf der richtigen Seite im falschen Leben.« (»A vida do crime – do lado certo na vida errada.«)

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oft nicht mehr nur Ausdruck für ein Arbeiterviertel mit prekären Lebensverhältnissen, sondern konnotiert fast ausschließlich einen Ort des Drogenhandels (vgl. Bill & Athayde 2006, S. 119). Die wichtigsten Drogenkartelle z.B. in Rio de Janeiro sind das Terceiro Commando (Drittes Kommando) und das Commando Vermelho (Rotes Kommando), dem seinerzeit auch Marcinho VP aus dem Stadtviertel Botafogo, der Favela Dona Marta angehörte. Seine Geschichte ist außergewöhnlich: Obwohl er in Bezug auf Gewalttätigkeit und Kaltblütigkeit anderen Drogenführern in nichts nachstand, betonte er immer seinen eigenen Sozialauftrag: »Das Richtige ist das Richtige, niemals das Falsche oder das Zweifelhafte! [...]. Meine Brüder [...] sind nicht für Geld und Macht gestorben, sie sind für den Frieden gestorben, den wir uns nicht nehmen lassen wollten. Sie sind für die Gerechtigkeit gestorben, die sich nur gegen uns, das Volk, wendet. Und sie starben für die Freiheit unserer kleinen fremden Länder in dieser rassistischen Gesellschaft [...]. Ich bin nicht des Geldes oder der Macht wegen hier! Die Boca [Ort des Drogenhandels] ist mir nicht wichtiger als die Bewohner und die Brüderlichkeit. Wir sind nicht nur Herrscher. Wir sind Führer von unseren eigenen Familien und der Gemeinschaft, der Vater der Waisen, der Bruder des Volkes. [...] Die Geschichte wird über uns richten, Brüder. Möge sie nicht über uns richten, sondern sich vor uns verbeugen.« (Barcellos 2007, S. 519f.)

Mit der Aussage von Marcinho VP wird deutlich, dass die Ausgegrenzten eine auf ihre eigenen Möglichkeiten zugeschnittene Parallelgesellschaft geschaffen haben. Werte wie Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit interpretieren und propagieren sie auf eine eigene Weise. Finanziert wird ihr System und dessen Erhalt auf dem einzigen Wege, der schnell die erforderlichen liquiden Mittel bereitstellt, durch den Drogenhandel. Diese Möglichkeit in der Parallelgesellschaft mit Hilfe des Drogendealens zu Respekt und Geld zu kommen, nennt Zaluar (2002a, S. 34) eine »perverse soziale und ökonomische Integration«. Es ist auf der einen Seite nicht zu verleugnen, dass Drogenbosse für die Favelas durchaus nützlich sind. Sie üben insofern eine gouvernementale Macht aus, als sie Kriminalität (z.B. Diebstahl oder Vergewaltigungen) nicht dulden und hart bestrafen. Dies geschieht jedoch nicht aus einem Gerechtigkeitsgefühl heraus, sondern aus der Angst, dass ihre eigenen Geschäfte in der Favela durch Polizeiinterventionen, sozialer Instabilität und ›Öffentlichkeitswirksamkeit‹ gestört werden könnten. Besonders teuer werden Drogen nicht durch einen Anstieg der Produktionskosten, sondern durch den Transport und das Risiko sie zu vertreiben. Interessanterweise ist bei Drogen die normale Preisabsatzfunktion nicht gültig, denn es kommt keinesfalls zu einer sinkenden Nachfrage, wenn der Preis steigt (The Economist 2009).

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Auch kann der Preis für Kokain in Favelas, die für ihre Gewalt und Gefahr bekannt sind und von der Polizei fast nie betreten werden, ganz erheblich niedriger sein. Nach eigener informeller Recherche variieren in Salvador die Preise für Drogen kaum: Schuhkleber kostet 2 R$, Marihuana ca. 5 R$/g, Crack zwischen 5– 10 R$/g, Kokain zwischen 10-20 R$/g je nach Qualität und Menge. Ein einfacher Drogenhändler verdient in seiner ersten Arbeitswoche ca. 50 R$, in der zweiten bereits 100 R$, wenn er das Vertrauen rechtfertigt, ist ein Gehalt von 200 R$ in der Woche durchaus üblich, was einem halben Mindestlohn entspricht. Im Drogenhandel ist eine Gewinnspanne von 500 % möglich, so dass mit dem Verkauf von 200g Kokain bereits der Kaufpreis für ein Kilogramm Kokain beim Zwischenhändler abgedeckt werden kann. Die Hierarchie im Drogenhandel ist sehr strikt. Wird das Vertrauen gebrochen oder die Kompetenz überschritten, werden die Beschuldigten bestraft. Der Drogenboss wird dono do morro (Herrscher des Hügels) genannt und bekommt 50 % des Gewinns. Ihm unterstellt sind ein oder zwei gerentes (Geschäftsführer), die jeweils den Verkauf von Marihuana oder Kokain in der boca überwachen. Daneben gibt es mehrere Mittelsmänner, vapores (Dampf, Dunst) genannt, die kleinere Quantitäten von Kokain an die aviões (Flugzeuge) verteilen, die die Drogen zu den Endkonsumenten bringen. Erstere bekommen ein festes Gehalt oder einen festen Prozentsatz vom Verkaufserlös. Letztere erhalten einen kleinen Anteil der Drogen, den sie weiterverkaufen können (Zaluar 2002a, 2002b). Um die Geschäfte nachts in Ruhe abwickeln zu können, müssen oft Zivilund Militärpolizei bestochen werden, deren Bezahlung meist am Wochenende erfolgt. Sie erhalten zwischen 2000-2500 R$ pro Woche für ihre Verschwiegenheit (Bill & Athayde 2007, S 225, 247). Manche Quellen gehen davon aus, dass 80 % der Bediensteten der Militärpolizei in Korruption verwickelt ist. Obwohl diese Zahl überzogen sein dürfte, ist zu berücksichtigen, dass der monatliche Lohn von Polizisten, Militärs und Ermittlern sehr gering ist. So verdienen ein Polizist ca. 100 € und ein Ermittler ca. 400 € pro Monat bei seinem öffentlichen Arbeitgeber. Dementsprechend verlockend sind die hohen Summen, die die Drogenhändler bieten, auch wenn sie auf mehrere Personen aufgeteilt werden. Es ist jedoch auch zu konstatieren, dass am Ende der Verwertungslogik die Kleinhändler der Favelas stehen. Sie sind der ärmste Teil einer langen Kette von Profit und Interessen, die selbst Unterdrückte sind und häufig wiederum andere unterdrücken. Die ökonomische Widerständigkeit durch Drogenhandel weist nach und nach auf sich selbst zurück. Die› Schwachen‹ profitieren zwar, bleiben in diesem taktischen System aber letztlich die Leidtragenden. Denn die exzessive mediale Stigmatisierung der Favelas als reine Orte des Drogenhandels lässt die ›schweren‹ Händler außerhalb der Favelas unbeachtet, insbesondere auch jene, die national und international agieren. Es kann dennoch nicht verschwiegen werden, dass die Favelas in den Metropolen

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Brasiliens durch ihre immense logistische Position ausgesprochen wichtig sind für Händler, die im Kreislauf des Drogenkleinhandels operieren. De Souza (2012) führt hierzu drei typische Kriterien der Favelas an, die prädestiniert für den Drogenhandel sind: (1) Die Lage der Favelas in direkter räumlicher Nähe zu den Vierteln der Mittelschicht als den eigentlichen Konsumentenräumen von Kokain und anderen Drogen, (2) ihre interne räumliche Struktur (kleine unübersichtliche und chaotische Straßengeflechte, die so genannten becos, die nur sehr schwierig unter polizeiliche Kontrolle zu bringen sind), (3) ihre sozio-ökonomische Charakteristik als billiges Arbeitskräftereservoir v.a. Jugendlicher und junger Erwachsener zur Rekrutierung für unterschiedliche Aktivitäten im Drogenhandel. Es verwundert daher nicht, dass die Drogenbosse wenig bis kein Interesse daran haben, dass durch bauliche Aufwertungsmaßnahmen die innere Struktur und die Anbindung zu anderen Vierteln der Favelas geöffnet und damit kontrollierbarer für den Staat werden.5 Für Calabar in Salvador stellt die räumliche Struktur der Favela in einer Kessellage mit nur einem befahrbaren Eingang, der zentral in einer Sackgasse mündet ein ›idealer‹ Rückzugsraum für Aktivitäten des Drogenhandels dar. Obgleich in Calabar der Anteil der in den Drogenhandel direkt oder indirekt involvierten Personen nicht mit den Ausmaßen in Favelas in Rio de Janeiro oder São Paulo zu vergleichen ist, sind die zu erzielenden ökonomischen Profite doch erheblich, wie bereits weiter oben dargelegt wurde. Vergleicht man diese mit dem sonst üblichen Mindestlohn von 360 R$ im Monat, etwa für Tätigkeiten als Pförtner oder Gärtner in den Anlagen der benachbarten Mittelschichtsviertel, dann wird die Attraktivität und Anziehungskraft dieser Einkommensquelle durchaus verständlich.

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Souza (2012) bestätigt, dass das Favela-Bairro Programm in Rio de Janeiro ab Mitte der 1990er Jahre als ein wahres Laboratorium zur Erforschung von Aushandlungsprozessen zwischen formeller Staatsmacht und informeller Macht der donos do morro bezeichnet werden kann.

Schlussbetrachtung

G EOGRAPHIEN DES M ÖGLICHEN – D ER W ILLE ZUR RÄUMLICHEN M ACHT Die strukturelle und soziale Existenzform der brasilianischen Metropole ist ohne die innerstädtischen Favelas nicht (mehr) zu denken. Die Favelas haben sich über die Jahrzehnte des 20. und 21. Jahrhunderts unübersehbar und phänomenologisch wirkmächtig in die urbane Landschaft und in das Alltagsleben eingeschrieben. Sie stellen das kulturelle und auch ökonomische Rückgrat der Städte dar und es ist ihr Sieg gegen die diskursiv hergestellte und im Alltagsleben umgesetzte Ablehnung, Demütigung und Missachtung durch die Privilegierten. Die Favelabewohner artikulierten ihr »Recht auf Stadt« um damit von der innerstädtischen Lage ökonomisch zu profitieren, indem sie ihren Willen zur räumlichen Macht geltend machten. In einem empirisch abgeleiteten Modell (Abbildung 30) werden die zentralen Erkenntnisse der theoretisch und empirisch fundierten Studie im Überblick dargestellt. Zuerst galt es, auf der Makroebene der Gesellschaft die Anerkennungsverhältnisse innerhalb der drei honnethschen Dimensionen verschiedene Formen von Missachtung, Demütigung und Marginalisierung der Favelabewohner zu identifizieren. In der Anerkennungssphäre von Liebe und Freundschaft zeigten die empirischen Ergebnisse, dass auf dieser ersten Anerkennungsstufe das wechselseitig entwickelte Selbstvertrauen zur Grundlage einer autonomen Teilnahme und selbstbewussten Artikulation am und im öffentlichen Leben wurde. Das Bewusstsein der Favelabewohner darüber, sich als Vollbürger innerhalb der Gesellschaft zu fühlen und entsprechende Rechte einzufordern, war in der afrobrasilianischen Bevölkerung wenig verinnerlicht. Diese mangelhafte Verinnerlichung einer positiven Selbstbeziehung ist Resultat der spezifischen Anerkennungssphäre des Rechts in Brasilien. Es offenbarte sich, dass die differentielle Wertigkeit menschlichen Le-

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bens, in Salvador insbesondere die Hautfarbe schwarz betreffend, im Generellen der soziale Status der Unterklasse, eher mit jenem von Hunden oder Hühnern zu vergleichen wäre als mit jenem von Menschen (Souza 2007a, S. 39). Über Jahrhunderte lang wurde von außen ein herabgesetzter Wert und eine Beschämung der Afrobrasilianer praktiziert. Diese führten in der Folge zu einer kollektiven Scham aufgrund ausbleibender Anerkennung (vgl. Deffner 2010b). In der Anerkennungssphäre der Wertegemeinschaft und Solidarität wurden die Favelabewohner und ihr Lebensraum von Seiten der Eliten kulturell differentiell konstruiert. Die hegemonialen Zuschreibungen erfolgten als Grenzziehungen zwischen dem normalen Stadtraum, der formalen Stadt und dem abnormalen Raum, der Favela sowie durch soziale und kulturelle Differenzierungen zwischen einem sozialen Innen, dem Eigenen, und einem sozialen Außen, dem Anderen. Die Favela wurde als der ›Ort der Anderen‹ hergestellt, um damit die Identitätskategorie des ›bürgerlichen Wir‹ definieren zu können. Die Konstruktion einer borderline, die entlang einer sozialen Praxis als unterschiedliche Kultur kreiert wurde, war letztlich dazu da, die Identität des Bürgertums und dessen Leistungsideologie im Kontrast zu einer Kultur der Bequemlichkeit der Unterklasse aufzuzeigen. Damit sollten die eigenen Privilegien gerechtfertigt werden und Sanktionen durch eine »Bestrafung der Armen« in Form einer Militarisierung des urbanen Raumes legitimiert werden. Die Strategie steht auf der Seite der Starken. Es ist ihnen vorbehalten über Raum, Zeit und der Akkumulation von Wert(en) zu bestimmen. Den Stadtraum dominiert die Mittel- und Oberschicht durch Prozesse der Selbstexklusion sowie der medialen Stigmatisierung der Favelas. Aus der Perspektive des Alltagslebens, der von Anerkennungsverweigerung Betroffenen, zeigten sich zweierlei Reaktionsweisen. Einerseits führte die Ablehnung von Anerkennung durch Beschämung und Zuschreibung einer »Kultur der Armut« zu Verhalten der Scham, negativer Selbstbeziehung und Minderwertigkeit. Andererseits, und dies ist bemerkenswert, besaß die populäre Imagination in der Favela die Fähigkeit, einen utopischen Raum zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Der utopische Raum leistete einer totalen panoptischen Kontrolle, Überwachung und Vereinnahmung durch die Beherrschenden Widerstand und es vollzog sich damit zumindest teilweise urbane Gerechtigkeit. Die empirischen Erkenntnisse haben gezeigt, dass die Favelabewohner einen Willen zur räumlichen Macht und eine Widerständigkeit besitzen und über Jahrzehnte besaßen. De Certeaus Konzept der Taktiken, wonach die Schwachen weder über einen Ort, Zeit noch Akkumulationsmöglichkeiten verfügen würden, ist zumindest für ihren Lebensraum Favela nicht zutreffend. Die Favelas in Brasilien sind die sichtbarsten Stadträume. So unsichtbar hingegen die Favelas in der

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lebensweltlichen Perzeption der Mittelschichten auch waren, so präsent wurden diese diskursiv hergestellt und als Angst- und Gewalträume bedrohlich für die Mittelschichten und damit zu einer Phantasmagorie des Schreckens. Dem Stigmatisierungsdiskurs über die Favela stand paradoxerweise ein hoher Grad an Freiheit im Alltagsleben der Favelabewohner gegenüber. Letztlich wurden die Starken symbolisch von den Schwachen entthront. Die Verweigerung der Anerkennung von Seiten der Privilegierten und den reaktiven Empfindungen der Minderwertigkeit, beziehungsweise die Herrschaft durch Beschämung, erwiesen sich in Brasilien zweifelsohne als ein sehr machtvolles Instrument der Perpetuierung sozialer Ungleichheit. Was aber bleibt am Ende des Tages von Relevanz für die Menschen in den marginalisierten Stadtvierteln? In beschämter Doxa durch die städtische Welt zu gehen, oder sich der Subalternität bewusst zu werden, um dann das Beste daraus zu machen? Das intuitiv gegebene Unrechtsempfinden der Unterklasse äußerte sich in einem nietzscheanischen Willen ganz Mensch zu sein und damit für die eigene Integrität und Würde zu kämpfen. Die ihnen von machtvoller Seite zugewiesene Position der Scham gelang daher nur unvollständig. Die Beschämten zeigten sich widerständig und ließen sich nicht darauf reduzieren und domestizieren. Die Aussagen der Favelabewohner und die empirischen Beobachtungen zeigten vielmehr eine pragmatische Wendung des »Mit-Machens«, um »etwas damit zu machen«. Es war ein »faire avec« wie es De Certeau (1988) formuliert hat. Das bereits an früherer Stelle zitierte »Wenn man nicht das hat, was man liebt, muss man lieben was man hat« erlangte im Rückblick fundamentales Gewicht. Die Erkenntnis, dass Erscheinungsformen widerständiger und auch vordergründig angepasster Sozialität die herrschende Ordnung nicht überwinden, sondern viel eher dazu dienen, mit ihr zu verfahren und sie zu ertragen, ist insbesondere für den Kontext der Peripheren Moderne Brasiliens wirkmächtig. In den Alltagspraktiken der Schwachen offenbarten sich Dionysos statt kollektiver Empörung und anästhetische Praktiken statt kollektivem Aufbegehren. Den Alltag als Fest zu begreifen, mit listigen Finten und taktischen Manövern den Starken etwas abzuringen, zeichnete den malandro aus. Wird in einer synoptischen Betrachtung das Alltagsleben der Starken mit dem Alltagsleben der Schwachen verglichen, so ist zu konstatieren, dass paradoxerweise die Starken mehr und mehr Geographien der Angst (z.B. Selbstexklusion) verfallen, die Schwachen hingegen in ihren marginalisierten Stadträumen in abertausenden Praktiken Geographien des Möglichen hervorbringen, obgleich ihnen die Anerkennung in den verschiedenen Sphären fortwährend verweigert wird. Diese Erkenntnisse sollen weder einer Legitimierung der herrschenden Ordnung dienen, noch einer Entlastung der Unterdrückten bzw. Romantisierung der

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Alltagswelt Favela gereichen. Vielmehr wurde ersichtlich, dass die subalternen Subjekte in einer kolonialhistorisch auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftsordnung einen geringen Spielraum besitzen und alle Möglichkeiten für sich nutzen müssen. Dies entlastet die subcidadania und benennt zugleich die moralische Verantwortung, die den herrschenden Eliten zukommt. Die Empörungsarmut der Favelabewohner, den »herzlichen Menschen« (Holanda 1995) äußerte sich in alltäglichen Praktiken der individuellen Widerständigkeit, den »weapons of the weak« (Scott 1985) sowie den dionysischen, palliativen und anästhetischen Praktiken. Es wurde deutlich, dass diese Formen des Umgangs mit sozialer Ungleichheit letztlich rational und nachvollziehbar waren, die herrschende Ordnung jedoch stabilisiert. Wie wäre der Erkenntnisgehalt der Emotionalen Handlungstheorie nach Souza (2006) im Lichte der empirischen Einsichten zu bewerten? Zweifellos konnte diese Erhellung in die (Ir-)rationalitäten brasilianischen Alltagslebens liefern. Denn die körperbezogene und affektgeleitete Doxa der Brasilianer stellen ein derart wesentliches (unbewusstes) Handlungskalkül dar, das das Alltagsleben fundamental von zentralmodernen Lebenswelten unterscheidet. Dennoch erscheint die Begründungslogik der emotionalen Handlungstheorie einem kulturellen Essentialismus Vorschub zu leisten, letztlich den »herzlichen Menschen« zu naturalisieren. Hingegen deuten die gewonnenen Erkenntnisse sowie die konzeptionelle Engführung auf die Theorie der Anerkennung in Kombination mit einer Theorie des Alltagslebens darauf hin, dass hier praxeologische Rationalitäten nicht kulturalisieren, sondern individuell-kollektive Muster beschreiben können, die fluid und veränderbar sind.

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Abbildung 3:0: Die brasilianische Stadt als schizo space?

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E IN › ZWEIFELHAFTER ‹ A USBLICK : D IE S TADT ALS SCHIZO SPACE ?

BRASILIANISCHE

Die Abbildung 30 stellt die formelle und die informelle Stadt in abhängiger Verbundenheit als schizo space dar. Welche Argumentation liegt einer derartigen Benennung zugrunde? Die umfangreichen Ausführungen haben gezeigt, dass sich die über mehrere Jahrhunderte institutionell, kollektiv und individuell verinnerlichte kolonialhistorische Anerkennungsvergessenheit in die Alltagswahrnehmung und -praktiken der beherrschenden und beherrschten Klassen eingeschrieben haben. Damit wurde im Kolonialzeitalter eine strukturelle Gewalt etabliert und nachkolonial immer wieder aufs Neue bestätigt und reproduziert. Deutlich wurde auch, dass die aktive Bewältigung sozialer Ungleichheit im Alltagsleben der Missachteten zu ganz unterschiedlichen Formen der Widerständigkeit führte. In den Taktiken wurden palliative, anästhetische und dionysische Praktiken sichtbar. Darin konnten die Favelabewohner zumindest in Teilen ihre Integrität und Würde wahren. Diese Pattsituation zwischen Herrschenden und Beherrschten wurde langfristig verinnerlicht und im Alltagsleben und den urbanen Strukturen internalisiert. »Es wird immer dasselbe sein: Wir, die Menschen aus der Favela überleben nicht ohne sie und sie nicht ohne uns. Warum? Weil es die Klasse der Armen ist, die die Angestellten hervorbringt: die Tagesmutter für die Kinder, den Hausmeister, den Pförtner, verstehst Du? Man muss sich nur einmal bewusst machen, dass sie ohne uns nicht überleben können. Also muss es diese Einheit irgendwie immer geben, getrennt können wir alle nicht leben.« (zitiert in Deffner 2008, S. 40f.) »Und die Favelas in São Paulo? Ich habe darüber auch etwas gelesen, vielleicht von einem Wissenschaftler, dass die Favelas genau neben der brasilianischen Mittel- und Oberschicht liegen, die Mittel- und Oberschicht braucht die Schwarzen und die Armen.« (2007/2/14) »Dies ist ein getarnter Raum. Es ist nicht so, dass er nicht existieren würde, er ist getarnt. Sie sind hinter Mauern, weil sie auch in der Nähe von reichen Vierteln sind, verstehst du das? In der Nähe von Vierteln der oberen Mittelschicht, Mittelschicht und Oberschicht. Also sind sie [die Mauern] notwendig. Diese Leute, die dort ohne Bildung leben, ohne eine Ausbildung, sie sind notwendig, dafür dass die Leute, welche in den besser gestellten Vierteln leben, in der besser gestellten Gesellschaftsschicht, ihre Dienste nutzen können.« (2007/2/15)

Die veralltäglichte Trennung urbaner Lebenswelt zeigte sich als ambivalent. Die räumliche Nähe, die ökonomische Verflochtenheit und die soziale Distanz von

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armen und privilegierten Stadträumen in der brasilianischen Stadt offenbarten sich als janusköpfige Existenzform. Diese legt eine differenzierte Interpretation nahe, was obiges Zitat eines jungen Mannes aus der Favela pointiert illustriert. Ist hier eine auf der Individualebene wirksame und tief gespaltene Seelenlage angedeutet, die den Menschen im urbanen Brasilien eine geteilte Identität von Herr und Knecht aufbürdet? In der Handschrift von Hegels Phänomenologie des Geistes (1987[1807], S. 140ff.) kann weder der Herr noch der Knecht ein unabhängiges Selbstbewusstsein erlangen. Beide Bewusstseine binden sich aneinander, aber nicht friedlich, sondern in einem Kampf, in dem es um Anerkennung geht. Es ist eine gespaltene Seelenwelt, die das jeweilig Andere ablehnt, sich aber als ein wahrgenommenes Subjekt in einer gesellschaftlichen urbanen Wirklichkeit nicht von ihm lösen kann. Es ist somit ein ewiges Spannungsfeld angedeutet, in welchem sich das Subjekt befindet. Vergleicht man nun das geteilte Subjekt mit dem brasilianischen Stadtraum, Lindner (2003) würde diesbezüglich vom »Habitus der Stadt« und Berking & Löw (2008) von der »Eigenlogik von Städten« sprechen, so läge der Schluss nahe, die brasilianische Stadt mit einem menschlichen Gehirn zu vergleichen, das an Schizophrenie leidet. Es ist ein Gehirn, das natürlicherweise aus zwei Hälften besteht, diese auch physiologisch eine Einheit bildet, jedoch psychologisch bipolar ist. Die Gehirnhälften bekämpfen sich und sind gleichsam unauflöslich miteinander verbunden. Die in den Strukturen und Lebenswelten verankerte 500-jährige kolonialhistorische Vergangenheit von Herrenhaus und Sklavenhütte, welche sich im urbanisierten Brasilien in den Mittel/-Oberschichtvierteln und Favelas reproduzierte, weisen einen Erklärungsweg zum schizo space. Die kapitalistische Grundordnung, die sich in Brasilien seit 1500 etabliert und postkolonial durch Ausbeutung und Anerkennungsverweigerung breiter Massen durch eine kleine Elite gelenkt und im Alltagsleben stetig implementiert hat, bestätigt auf ihre Art und Weise die Argumentation von Deleuze & Guattari (1992; 1977). Diese haben in ihren prominenten Werken Tausend Plateaus (1992) und Anti-Ödipus (1977) auf den tieferen Zusammenhang von Kapitalismus und Schizophrenie hingewiesen: »In der Tat meinen wir, daß der Kapitalismus im Zuge seines Produktionsprozesses eine ungeheure schizophrene Ladung erzeugt, auf der wohl seine Repression lastet, die sich aber unaufhörlich als Grenze des Prozesses reproduziert.« (Deleuze & Guattari 1977, S. 45) Darin ist eine Analogie zur brasilianischen Lebenswelt zu entdecken, die als hyperkapitalistische Realität, mit einer letztlich über mehr als fünf Jahrhunderte andauernde Kolonialisierung der Mehrheit seiner Subjekte, diese urbanen Räume

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der Abhängigkeit und gleichzeitigen Abstoßung hervorgebracht hat. Die Alltäglichkeit der Taktiken der Schwachen sowie der Strategien der Starken weisen diesen Weg der Unentrinnbarkeit und Ausweglosigkeit und damit dem unvermeidbaren Arrangement mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Dabei zeigte die subalterne Lebenswelt Expressionen des Orgiasmus, des Festes und des Genusses um den ungleichen Bedingungen die Stirn zu bieten. Damit stellte sich die affektive und emotionale Kraft der aparéncia, des Nachahmens sowie der Verwandlung über die Kraft des bürgerlich Rationalen und neutralisierte damit gleichsam das Potential von Empörung und Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse. Steht nun am Ende der Ausführungen eine pessimistische Haltung, der Kritischen Theorie im Sinne von Horkheimer & Adorno (1988, S. 153) noch einmal Recht zu geben indem formuliert wird: »Vergnügt sein heißt Einverstanden sein?« Wie kann ein abschließendes Plädoyer zur Verfasstheit und Zukunftsperspektive der brasilianischen Polis nach all den Ausführungen der vorliegenden Studie aussehen? Letztlich wird nur eine politisch gewollte, langfristige und umfassende Umverteilung von Besitz und Einkommen eine Verringerung der sozialen, ökonomischen und räumlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit der brasilianischen Gesellschaft ermöglichen. Gleichzeitig muss eine gesamtgesellschaftliche Sphäre entwickelt werden, die alle Bürgerinnen und Bürger als Vollbürger anerkennt und damit eine fundamentale Zukunftsoption schafft, die ausgeglichenere Anerkennungsverhältnisse hervorbringt und moralische Achtung in einer Gemeinschaft vollbürgerlicher Wertbezüge für Alle zu befördern vermag. .

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Anhang

L ISTE

DER I NTERVIEWS 2005

Nr

Datum

Seiten

Ort

Interviewpartner

1

12.06.05

1-9

Jardim Apipema

Paulo

2

14.04.05

10-17

Jardim Apipema

Rosa Tambellini

3

15.04.05

18-24

Jardim Apipema

Alessandra

4

16.04.05

25-31

Jardim Apipema

Luisa

5

25.04.05

32-42

Jardim Apipema

Eliana & Edival

6

27.04.05

43-48

Jardim Apipema

Maria Teresa

7

28.04.05

49-55

Jardim Apipema

Ana Luiza

8

21.05.05

56-66

Jardim Apipema

Hermes Teixeira de Melo

9

22.05.05

67-79

Jardim Apipema

Wilson

10

30.05.05

80-82

Jardim Apipema

Ana Guerra & Marco

11

13.06.05

83-88

Jardim Apipema

Sandro

12

14.06.05

89-97

Jardim Apipema

13

12.04.05

98-107

Calabar

Bia

14

27.04.05

108-115

Calabar

Lucimar

15

08.05.05

116-123

Roca da Sabina

Florinda

Gilka Maria de Aranjo Fontes Mello

286 | E XKLUSION IM Z ENTRUM

16

11.05.05

124-130

Roca da Sabina

Bruno

17

19.05.05

131-143

Calabar

Sergio

18

20.05.05

144-154

Roca da Sabina

19

30.05.05

155-178

Calabar

Roseni Santo Espirito & Ana Carmen Simon Reis Yvan (Pipoca)

2006 1

22.03.06

1-8

Calabar

Alana

2

23.03.06

9-16

Calabar

Chicinho

3

24.03.06

17-27

Calabar

Luzinete

4

25.03.06

28-48

Calabar

Rose-Mary

5

26.03.06

49-62

Calabar

João-Vitor

6

29.03.06

63-75

Calabar

Bigi

7

29.03.06

76-86

Calabar

Claudio Lima de Oliveira

8

31.03.06

87-106

Calabar

Ivanilde

9

01.04.06

107-121

Calabar

André

10

04.04.06

122-129

Calabar

Angelo

11

04.04.06

130-142

Calabar

Edival

12

04.04.06

143-154

Porto da Barra

Mario

13

13.04.06

155-166

Porto da Barra

Gilson

14

13.04.06

167-178

Calabar

Jessé

15

13.04.06

179-188

Barra

Viviana

16

15.04.06

189-211

Barra

Eliene Neves da Silva

17

28.03.06

212-233

Barra

18

10.04.06

234-252

Barra

Evanline

19

12.04.06

253-277

Barra

Barbara

Luis P. Barbosa & Elisonete B. da Fária

ANHANG

20

17.04.06

278-289

Francisco

Barra

2007 1

25.09.07

1-11

Barra

Lisa & Luis

2

26.09.07

12-22

Barra

Conceicao

3

27.09.07

23-26

Barra

Angelina

4

27.09.07

27-34

Barra

Marielza Miranda

5

02.10.07

34-40

Barra

Marielza Miranda

6

27.09.07

41-47

Barra

Edimirson

7

10.10.07

48-54

Barra

Fatima

8

03.10.07

55-65

Barra

Barbara

9

03.10.07

66-73

Vitoria

Thelma

10

05.10.07

74-82

Ribeira

Edileide Regina

11

05.10.07

83-93

Bonfim

Leila Marocci

12

05.10.07

94-99

Ribeira

Carmen Momano

13

07.10.07

100-105

Barra

14

28.09.07

106-110

Calabar

Pastor G. da Cruz Costa

15

30.09.07

110-122

Calabar

Justina

16

01.10.07

123-140

Calabar

Paulo

17

04.10.07

141-149

Calabar

Mary

18

04.10.07

150-154

Calabar

Ivo

19

04.10.07

155-159

Calabar

Tanja Oliveira da Silva

20

04.10.07

160-165

Calabar

Renata Oliveira da Silva

21

09.10.07

166-174

Barra

Mauricio

Raimundo

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Urban Studies Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1965-2

Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke) 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1

Florentina Hausknotz Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1846-4

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Urban Studies Felicitas Hillmann (Hg.) Marginale Urbanität: Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung 2011, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1938-6

Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz (2. Auflage) Mai 2012, 200 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2

Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2

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Urban Studies Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen März 2012, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1752-8

Sabin Bieri Vom Häuserkampf zu neuen urbanen Lebensformen Städtische Bewegungen der 1980er Jahre aus einer raumtheoretischen Perspektive September 2012, 502 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1704-7

Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0

Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6

Jörg Heiler Gelebter Raum Stadtlandschaft Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten Januar 2013, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2198-3

Stefan Kurath Stadtlandschaften Entwerfen? Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel der städtebaulichen Praxis 2011, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1823-5

Piotr Kuroczynski Die Medialisierung der Stadt Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945 2011, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1805-1

Guido Lauen Stadt und Kontrolle Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten 2011, 618 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1865-5

Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4

Eva Reblin Die Straße, die Dinge und die Zeichen Zur Semiotik des materiellen Stadtraums Mai 2012, 464 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1979-9

Nikolai Roskamm Dichte Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum 2011, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1871-6

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