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German Pages 390 Year 2014
Katrin H. Sperling Nur der Kannibalismus eint uns
Image | Band 22
Für Pet.
Katrin H. Sperling studierte Ethnologie, Religionswissenschaften und Grafik & Malerei an der Philipps-Universität Marburg und hat im Rahmen des Promotionskollegs »Formations of the Global: Globalisierung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive« an der Universität Mannheim promoviert.
Katrin H. Sperling
Nur der Kannibalismus eint uns Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung: Brasilianische Kunst auf der documenta
Die vorliegende Arbeit wurde 2010 an der Universität Mannheim unter dem Titel »Só a antropofagia nos une. Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Anthropophagie. Brasilianische Kunst auf der documenta« angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Katrin H. Sperling Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1768-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 9 1
Über die disziplinäre Basis und Perspektive | 13
1.1 1.1.1 1.2 1.2.1 1.2.2
Kulturwissenschaft(en) | 13 Kulturwissenschaft(en) und Kunst | 17 Die (globale) Kunstwelt in der Fachliteratur | 20 Die (globale) Kunstwelt in der Soziologie | 21 Die (globale) Kunstwelt in den Kunstwissenschaften | 22
1.2.3 1.2.4 1.2.5
Die (globale) Kunstwelt in der Ethnologie | 25 Die (globale) Kunstwelt in der Philosophie | 30 Die (globale) Kunstwelt in der Ökonomie | 31 Die ethnologische Perspektive | 33
1.3 1.3.1
1.3.3
Ethnologische Selbstreflexivität und die Internationalisierung der Kulturwissenschaft(en) | 33 Differenz und Fremderfahrung: methodische Kernelemente der Globalisierungsforschung | 37 Über das Verhältnis von Ethnologie und Kunst | 44
2
Kunstwelt | 53
2.1
Becker, Luhmann und Bourdieu: Zur Definition der Kunstwelt als gesellschaftliche Sphäre | 55 Howard Becker: Art Worlds | 60 Niklas Luhmann: Kunstsystem | 62 Pierre Bourdieu: Kunstfeld | 65 Dynamische Stabilität | 72 Weltbegriff | 80 Diskurs | 83 Die Kunstwelt: Eine Definition in drei Schritten | 87 Die Kunstwelt als institutionelles Gefüge | 87 Die Kunstwelt als diskursives Netzwerk | 90 Die globale Kunstwelt | 91
1.3.2
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 3
Weltkunst, Globalität und Globalisierung | 95
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Weltkunst: Kunst der Welt? | 97 Weltkunst bei Niklas Luhmann | 100 Weltkunst im Kontext der Kunstwissenschaften | 103 Weltkunst im ethnologischen Kontext | 106 Die documenta als Weltkunstausstellung | 108
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3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Globalität: Möglichkeiten und Begrenztheit von Welt | 110 Mondialisierungen und Heteromundus | 114 Globalização sem globalidade: Provincianismo Global | 116 The Outside of the Global | 120 Globalisierung: Eine kulturwissenschaftliche Skizze | 124 Ein kulturwissenschaftlicher Globalisierungsbegriff | 124 Über die ökonomische Dimension von Globalisierung | 130 Kulturelle Differenzen im Globalisierungskontext | 161 Kulturelle Differenzen in der globalen Kunstwelt | 172
4
Die globale Kunstwelt. Brasilianische Kunst auf der documenta | 209
4.1
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Die documenta: Entstehung einer internationalen Großausstellung | 210 documenta I-11 | 210 documenta 12 | 218 Die Globalisierung der documenta durch ökonomische Aspekte | 230 Über die Finanzierungsstrategien der documenta | 232 documenta GmbH und Sponsoren | 233 documenta-Foundation | 236 documenta und Kunstmarkt | 240 Kulturelle Differenz im Globalisierungskontext der documenta | 246 documenta I | 247 documenta II-8 | 253 documenta IX-11 | 255 documenta 12 | 268
4.3.5
documenta und antropofagia | 276
4.4
Globale Zeitgenossenschaft – Brasilianische Kunst auf der documenta | 280 Die brasilianische Kunstwelt | 281 Brasilianische Kunst: Von der Moderne zur Gegenwart | 282 Brasilianische Kunst auf der documenta [I]-11 | 308 Die brasilianischen Beiträge auf der documenta 12 | 319
4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
Fazit | 345 Anhang | 351 Nachweise der Bildzitate | 355 Literatur | 357
D ANKSAGUNG
|7
Danksagung
Eine Dissertation ist nie das Werk eines Einzelnen. Grundsätzlich sind am Prozess der Wissensaneignung und des Zusammenfügens der vielen einzelnen Aspekte zu einem Ganzen zahlreiche Personen beteiligt. Das vorliegende Projekt wurde vor allem durch die Begegnungen innerhalb des interdisziplinären Promotionskollegs »Formations of the Global« an der Universität Mannheim geprägt. Mein erster Dank geht damit an die am Kolleg beteiligten ProfessorInnen und KollegiatInnen. Die Zusammenkunft so unterschiedlicher Disziplinen wie Literatur-, Sozial-, Medien-, Kunst-, Geschichts- und Sprachwissenschaft(en) sowie der Philosophie und schließlich der Ethnologie schuf einen einmaligen Kontext für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem hier behandelten Thema. Ganz besonders möchte ich mich bei Prof. Dr. Ulfried Reichardt bedanken, der mein Projekt von Beginn an begleitet und unterstützt hat. Die anregenden Gespräche und Diskussionen, die in Seminaren, Kolloquien und zahlreichen Unterhaltungen stattfanden und sich stets an den Schnittstellen von bildender Kunst, Literatur und verschiedenen Ansätzen von Kultur- und Globalisierungstheorien trafen, haben die Arbeit maßgeblich bereichert. Herrn Prof. Dr. Thomas Fillitz danke ich ebenfalls herzlich für die ausgezeichnete Betreuung, durch die vor allem der ethnologische Blick auf Gegenwartskunst außerhalb Europas geschärft und erweitert wurde. Aus dem Kreise der KollegiatInnen möchte ich zunächst Anne Kerebel, Anja Pelzer, Il-Tschung Lim, Frederike Felcht, Matthias Rauch, Karin Fischer und Dominik Schreiber hervorheben – vielen Dank für viele gute, anregende Gespräche und die tolle Zeit in Mannheim. Bei Florentina Hausknotz möchte ich mich explizit für die schönen, langen philosophischen Konversationen bedanken, die nicht nur meine Arbeit bereichert und inspiriert haben. Vera Lauf danke ich für die fruchtbaren Unterhaltungen über Kunst und die Welt und die hervorragende Zusammenarbeit beim Ausarbeiten diverser Vorträge und den Vorbereitungen zur Konferenz »The Thrill of the Still. Analyzing Global Processes between Immobility and Mobility« im Jahr 2008. Sebastian Schickl, Markus Sommer und Claudius Werry danke ich für die einmalige Zusammenarbeit in unserem ›Büro‹, ihre Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft, den regen Aus-
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tausch sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf menschlicher Ebene und vor allem ihren Humor, ohne den sich eine Doktorarbeit kaum bewältigen lässt. Danke für die grandiose Freundschaft, die dabei entstanden ist. Zudem bin ich all jenen zu Dank verpflichtet, die außerhalb des Kollegskontexts wichtige AnsprechpartnerInnen für mich waren. Dazu gehört insbesondere Angela Weber, mit der ich unzählige Gedanken zu Ethnologie und Kunst besprechen konnte und die ihr großes Wissen und ihre reichen Erfahrungen auf dem Gebiet der Kunstethnologie mit mir geteilt hat. Darüber hinaus danke ich Michael Kraus und Lara Hecker vor allem für das Lektorieren des Textes und die freundschaftlichen Bande aus Marburger Zeiten. Bei Normann Müller bedanke ich mich nicht zuletzt für sein Bemühen, einer Geisteswissenschaftlerin den Sinn für klare Formulierungen zu vermitteln und für so manch andere erhellende Einsicht. Neben vielen anderen, hier nicht genannten Personen, gilt mein Dank schließlich meiner Familie. Insbesondere möchte ich meinem Patenonkel Peter Seyfried für seine Unterstützung, sein Vertrauen und seine unermüdlichen Ermutigungen danken, die mich während der Promotionsphase bis zuletzt begleitet haben. Innig verbunden bin ich meinen großartigen Geschwistern, Johannes Sperling, Lisa Sperling und Luzie Sperling, die immer für mich da waren. Meinen Eltern, Uta Sperling, Hans-Peter Sperling und Anne Schütz-Sperling, danke ich für alles.
Einleitung
A arte pode se dar de várias formas. Pode se dar até por contradição dela mesma. Pode fazer sentido, ou pode ser sentida. Pode se perder na fantasia, ou estar completamente incrustada na realidade. Pode representar, pode ser. Pode estar. Dependendo do período histórico, a arte pode valer por certas características que, em outros períodos, nada valém. De todo modo, arte e contexto são indissociáveis. RUBENS PILEGGI SÁ1
Ähnlich wie in anderen kulturellen Feldern lassen sich im Bereich der bildenden Kunst Entwicklungen beobachten, die den weltumspannenden Bewegungen von Menschen, Dingen, Ideen, Geschichten, Bildern, Klängen und nicht zuletzt auch Finanzen geschuldet sind. Man spricht von Globalisierung. Von der Globalisierung des Ausstellungswesens, des Kunstmarkts, der Bilder und im nächsten Atemzug vom globalen Ausstellungswesen, vom globalen Kunstmarkt und von globalen Bildern. Von globaler Kunst und, wenn es denn richtig international konnotiert sein soll, von global art und global art world(s).2 Die vorliegende Studie widmet sich der Untersuchung des Phänomens der Globalisierung im Kontext der bildenden Kunst. Nicht die Kunst selbst
1
2
»Kunst kann sich auf unterschiedliche Art und Weise ereignen. Sie kann sogar im Widerspruch zu sich selbst geschehen. Sie kann Gefühle auslösen, oder gefühlt werden. Sie kann sich in der Fantasie verlieren oder vollständig in der Realität gefangen bleiben. Sie kann darstellen, sie kann werden. Sie kann sein. Abhängig von der jeweiligen historischen Periode kann die Kunst durch bestimmte Eigenschaften an Wert gewinnen, die zu anderen Zeiten nichts wert sind. Alles in allem sind Kunst und Kontext untrennbar miteinander vereint.« (Pileggi Sá 2007; Übersetzung K.S.). Siehe Belting/Buddensieg 2009; Bydler 2004.
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gerät dabei primär in den Fokus der Untersuchungen, sondern ihre diskursive Rahmung. Die Autorin geht von der Existenz einer globalen Kunstwelt aus, die sich im Fortschreiten diverser Globalisierungsprozesse als diskursiver Raum entwickelte und jeder lokalen Kunstwelt sowohl inhärent als auch übergeordnet ist. Im Zusammenhang mit dieser Behauptung ergeben sich Fragen, die eine genaue Bestimmung der globalen Kunstwelt erfordern und damit die Analyse der Bezeichnungen global, Globalität und Globalisierung beanspruchen. Wie lässt sich die globale Kunstwelt verstehen? Was bedeutet Globalisierung? Welche Dimensionen von Globalisierung sind besonders wichtig? Vor dem Hintergrund des hier vertretenen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes wird zuletzt die Frage nach dem Umgang mit kulturellen Differenzen in der globalen Kunstwelt gestellt. In Ausstellungsprojekten wie der documenta, die sich als so genannte ›Weltkunstausstellung‹ alle fünf Jahre der Bilanzierung des weltweiten Kunstschaffens verschrieben hat, manifestiert sich die globale Kunstwelt. Hier laufen wesentliche, die zeitgenössische bildende Kunst betreffende kunsthistorische, kunstkritische, kunsttheoretische, kuratorische und kunstökonomische Diskursstränge zusammen und bilden ein komplexes, diskursives Geflecht. Die documenta wurde aus diesem Grund für die Analyse gewählt. Die vorliegende Studie gliedert sich insgesamt in vier Kapitel. Mit dem ersten Kapitel wird die disziplinäre Einordnung und Perspektivierung der Forschung vorgenommen. Diese ergibt sich als interdisziplinärer, kulturwissenschaftlicher Ansatz ethnologischer Prägung. In diesem Zusammenhang wird auch ein Überblick über die bereits existente Literatur zum Thema der (globalen) Kunstwelt gegeben. Das zweite Kapitel vermittelt die Grundlagen für die Definition der globalen Kunstwelt auf der Basis hauptsächlich soziologischer Ansätze, insbesondere von Howard Becker, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu. Auf diese Weise wird die globale Kunstwelt als gesellschaftliche Sphäre greifbar, deren Strukturen sich durch die stetige Interaktion der beteiligten Akteure und Institutionen (re-)formieren. Im darauf folgenden dritten Kapitel wendet sich die Autorin der ausführlichen Analyse der Begriffe Weltkunst, Globalität und Globalisierung zu, um die Frage nach der Entstehung und der Beschaffenheit der globalen Kunstwelt theoretisch zu grundieren. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf kulturtheoretische Ansätze, die sich mit der Aushandlung kultureller Differenzen im Globalisierungskontext beschäftigen. In diesem Zusammenhang gerät das brasilianische Konzept der antropofagia, der (kulturellen) Anthropophagie (Menschenfresserei, Kannibalismus), in den Blick. In der Formulierung eines kreativen Modells für den Umgang mit kultureller Diversität, das bewusst mit Binarismen wie dem ›Westen‹/›Nicht-Westen‹ bricht und kulturellen Unterschieden und Konflikten (selbst-)kritischironisch begegnet, wird es für die kulturwissenschaftliche Globalisierungsforschung als erweitertes Hybriditätskonzept attraktiv.
E INLEITUNG
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Die globale Kunstwelt soll schließlich im letzten und vierten Kapitel am Beispiel der documenta analytisch erfasst werden. Um dabei dem speziellen Interesse am Umgang mit kultureller Differenz nachzukommen, werden exemplarisch die Beiträge brasilianischer KünstlerInnen auf der documenta beleuchtet. Bevor es jedoch zur expliziten Betrachtung der brasilianischen Kunst auf den documenta-Ausstellungen IX-12 kommt, wird die Geschichte der documenta seit ihrer Gründung im Jahr 1955 bis zur »documenta 12« hinsichtlich ihrer Globalisierungsdimensionen erläutert. Gerade in den letzten Abschnitten des letzten Kapitels kommt es zu einem Zusammenspiel der theoretischen Rezeption und der erneuten Reflexion der antropofagia, die als kulturelles Narrativ in den künstlerischen und theoretischen documentaBeiträgen der BrasilianerInnen eingeschrieben ist und auf verschiedene Arten reproduziert und (neu-)verhandelt wird.
1 Über die disziplinäre Basis und Perspektive
1.1 K ULTURWISSENSCHAFT ( EN ) 1 Es fehlt […] eine Kultur der Re-Integration solcher einzelwissenschaftlichen Perspektiven in einen dynamischen, dichten Verweisungszusammenhang, von dem aus die disziplinären Grenzziehungen und Stile selbst immer neu und grundsätzlich problematisiert werden können. JENS BADURA
Ähnlich wie die im englischsprachigen Raum entwickelten Cultural Studies2 konstituiert sich das Feld der Kulturwissenschaft(en) nicht als ein klar um-
1
2
Der Begriff Kulturwissenschaft(en) wird in seiner doppelten Bedeutung als Singular und Plural verwendet, da beide Varianten in der Literatur kursieren. Da keine signifikanten Widersprüche zwischen den jeweiligen Begriffsbestimmungen bestehen, erscheint der synonyme Gebrauch von Kulturwissenschaft und Kulturwissenschaften hier eher nützlich als problematisch. Die Entwicklung der Cultural Studies lässt sich bis nach England Mitte der 1950er Jahre zurückverfolgen. Grundlegend für die zunächst als BirminghamSchule bekannte Bewegung war die Ausweitung eines elitären Kulturbegriffs von Hochkultur auf Populärkultur. Das Studium der industriellen Massenkultur wurde zum zentralen Forschungsgebiet der Cultural Studies. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehörten in der Anfangszeit Stuart Hall, Raymond Williams, Edward Thompson und Richard Hoggart. Ende der 1960er Jahre wurden die Ideen der englischen Cultural Studies vor allem von postmodernen TheoretikerInnen im US-amerikanischen Raum aufgenommen (siehe z.B. Leslie Fiedler). Auch der New Historicism entwickelte sich als ein eigener Zweig der Cultural Studies in den Vereinigten Staaten (siehe z.B. Stephen Greenblatt). Insgesamt geht es den Cultural Studies neben der Abschaffung des elitären Begriffs von Hochkultur und einem neuen Zugang zur Populärkultur vor allem »um eine Neuordnung des
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rissenes akademisches Fachgebiet. Vielmehr werden in diesem Bereich verschiedene Disziplinen miteinander in Verbindung und Verhandlung gebracht. Auch wenn es Stimmen gibt, die explizit eine Kulturwissenschaft im Singular, das heißt eine akademische Institutionalisierung, propagieren3, bleibt das Kernanliegen doch die Dialogisierung verschiedener Wissensund Wissenschaftsgebiete und nicht die Errichtung einer Einzelwissenschaft. Insgesamt »läßt sich der Terminus ›Kulturwissenschaft(en)‹, dessen Verwendungsweisen in den aktuellen Debatten in der Praxis – im Singular wie im Plural – sehr heterogen sind, bislang trotz der zahlreichen Bemühungen schon deshalb nicht eindeutig definieren, weil darunter eine Vielfalt von unterschiedlichen Forschungseinrichtungen und -tendenzen insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften subsumiert wird, weil er als Sammelbegriff für einen offenen, dynamischen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang fungiert und weil seine Reichweite umstritten ist.«4
Das offene Feld der Kulturwissenschaft(en) bleibt eben deshalb so weitläufig und dynamisch, weil die Disziplinarität einzelner Fächer nicht aufgehoben, sondern im Dialog gestärkt wird. Denn das Projekt der Kulturwissenschaft(en) wird nur dann lebendig gehalten, so bemerkt Doris BachmannMedick treffend, »wenn es sich über den ›diffusen Gesamtanspruch‹ einer im Singular verstandenen Kulturwissenschaft hinaus profiliert: als eine ausdrücklich fächerüberspannende Orientierung, deren Verankerung in den verschiedenen Disziplinen unverzichtbar ist.«5 Genau in diesem Moment eines fächerübergreifenden »In-den-Dialog-Tretens« verdeutlicht sich die eigene Position innerhalb des wissenschaftlichen Feldes. Das maßgeblichste Charakteristikum der Kulturwissenschaft(en) ist ihre Funktion als diskursiver Rahmen, innerhalb dessen verschiedene, sich auf der Suche nach theoretischer und methodischer Orientierung befindende Disziplinen in Austausch miteinander stehen. Neben diesem offenkundigen Anspruch auf Inter- bzw. Transdisziplinarität als das »ureigene Charakteristikum«6 der Kulturwissenschaft(en) sei auf einige weitere Aspekte verwie-
3 4 5 6
literarischen Kanons […], an dem soziale und kulturelle Minderheiten verstärkte Rechte der Teilhabe einklagen. Die Cultural Studies verstehen Kultur als einen Kampfplatz der Wertungen, Umwertungen und Identitätspolitik, auf dem sie selbst agieren.« (Assmann 2006: 25) Hier liegt der Unterschied zu den Kulturwissenschaft(en), deren primärer Forschungsgegenstand die Kultur selbst bleibt, den es zu kontextualisieren gilt, »d.h. die kanonisierten (und damit automatisch entkontextualisierten) Texte und Artefakte in jene größeren kulturellen Zusammenhänge zurückzubetten, in denen sie entstanden sind.« (Assmann 2006: 25). Böhme/Matussek/Müller: 2000. Nünning/Nünning 2003a: 5. Bachmann-Medick 2006: 12. Stierstorfer 2005a: 9.
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DIE DISZIPLINÄRE
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sen, die als Rahmenbedingungen kulturwissenschaftlicher Forschung bezeichnet werden können und damit die in diesem Buch vorgenommenen Überlegungen prägen. Direkt mit dem Anspruch auf einen fächerübergreifenden Austausch ist das Festhalten am Moment der Heterogenität des kulturwissenschaftlichen Feldes verbunden, das heißt die Aufrechterhaltung von jeweils konkreten Forschungsmethoden und -objekten einzelner Fachrichtungen. Klaus Stierstorfer resümiert zum Ende seiner Einleitung des Bandes »Kulturwissenschaft interdisziplinär«7, »dass Interdisziplinarität nach wie vor kritisch und reflektiert konstruierte, im Wandel begriffene und flexibel erhaltene Disziplinen benötigt, die bei aller interdisziplinärer Offenheit – ja gerade um Offenheit überhaupt als sinnvollen Begriff führen zu können, da nur Geschlossenes, klar Umgrenztes sich um Offenheit bemühen kann – nach präziser Definition und Zielformulierung streben.«8
Als eine besonders dringliche Angelegenheit stellt sich hierbei die Klärung zentraler und konstitutiver Begriffe dar. Denn schließlich, so vermerkt auch Jörn Rüsen, macht »theoretische Unklarheit […] die Methoden prekär: Ohne klare Begriffe lassen sich keine methodischen Verfahren entwerfen und praktizieren, die zu geltungsstarken Erkenntnissen führen.«9 Um theoretische Klarheit zu gewinnen, wird die Abarbeitung von Begriffen wie Globalisierung, Globalität oder Kunstwelt im zweiten und dritten Kapitel »an den Dingen selbst, an den Phänomenen der menschlichen Welt«10 erfolgen. Darüber hinaus ist es notwendig, Begrifflichkeiten in einen übergreifenden kulturwissenschaftlich-diskursiven Zusammenhang zu stellen. Auf diese Weise kann ein innovatives Vokabular geschaffen werden, welches den disziplinären Austausch unterstützt und fördert. Anhand der Verwendung bestimmter Begriffe innerhalb des kulturwissenschaftlichen Forschungsgebiets lassen sich bestimmte theoretische Strömungen und Veränderungen, das heißt Transformationen des kulturwissenschaftlichen Diskurses ausmachen, die auch verschiedentlich als turns bezeichnet werden.11 Gleichzeitig wird durch ein möglichst einheitliches Vokabular die Internationalisierung der Kulturwissenschaft(en) erleichtert und intensiviert. Das unmittelbare Erkennen ähnlicher Forschungsinteressen auf einer sowohl fächer- als auch raumübergreifenden Ebene führt zu einer größeren Beachtung lokaler Wissensund Wissenschaftsbereiche, die bislang lediglich im Schatten der europäischen und US-amerikanischen Forschungszentren existierten. Rüsen ver-
7 8 9 10 11
Stierstorfer 2005b. Stierstorfer 2005a: 17. Rüsen 2004: 534. Rüsen 2004: 534. Siehe dazu Bachmann-Medick 2006.
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weist im Zusammenhang seines Plädoyers für eine »Kultur der Anerkennung« in der/den Kulturwissenschaft(en) auf ein herrschendes Defizit sowohl kulturvergleichender Untersuchungen in den aktuellen Forschungsroutinen als auch auf einen Mangel intensiver und bewusst vollzogener interkultureller Kommunikation über deren leitende Fragestellungen und Interpretationsrahmen:12 »Ohne methodische Einführung eines Kulturverständnisses, das der regulativen Idee wechselseitiger Anerkennung von Differenz verpflichtet ist, erliegen die Kulturwissenschaften (oft ohne es zu wissen), der Traditionsmacht ethnozentrischer Sinnbildung, statt sie in neuen Formen von Verständigung hinein aufzubrechen.«13
Die Anschlussfähigkeit an internationale Theorieansätze ist damit ein weiteres wichtiges Ziel einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Trans- und Interdisziplinarität verbunden mit der Aufrechterhaltung disziplinärer Heterogenität, die Schaffung einer übergeordneten diskursiven Basis durch das Erkennen gemeinsamer Begrifflichkeiten und zentraler Thematiken und die damit verbundene Forderung nach einem gesteigerten internationalen Austausch in den Wissenschaften werden hier als Kernaspekte kulturwissenschaftlicher Orientierung interpretiert. Sie lassen sich gleichzeitig als Symptome einer sich globalisierenden Welt deuten, in der sich Fragen sowohl nach (Sinn-)Zusammenhängen als auch Differenzen in allen Bereichen des Lebens stellen. Ohne einem insgesamt universalistischen Kulturkonzept zuzustimmen, werden die Kulturwissenschaft(en) als »die Analyse und Reflexion der Beziehungen, Interaktionen, Dependenzen und Korrelationen in historisch-diachronen wie synchronen ›Schnitten‹ und Sequenzen durch den kulturellen Gesamtprozeß [begriffen], der zwar niemals als Ganzer erfaßbar ist, der aber in ›offenen‹ Kontextualisierungen als Zusammenhangs-Struktur einsehbar wird.«14
Wissenschaftsbereiche wie die Ethnologie funktionieren in Zeiten der so genannten Globalisierung, der Postmoderne und des Postkolonialismus nicht mehr als isolierte Einzeldisziplinen. Zwar greifen je nach Forschungsmaterial und Position immer noch spezifische disziplinäre Ansätze, die auf den wissenschaftlichen Traditionen einzelner Fächer basieren. Jedoch werden diese Ansätze und Untersuchungsfelder sowie ihre Gegenstände unter Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher Perspektiven und den sich daraus
12 Vgl. Rüsen 2004: 538. 13 Rüsen 2004: 539. 14 Fiala 2004: 62.
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entwickelnden Theorien und Methoden anders betrachtet15 und in neue Zusammenhänge gestellt, die einer zeitgemäßen Kulturforschung entsprechen. 1.1.1 Kulturwissenschaft(en) und Kunst Innerhalb der Kulturwissenschaft(en) erfolgt die Auseinandersetzung mit Kunst meistens in einem bild- oder medienwissenschaftlichen Kontext. Auch für den Bereich der bildenden Kunst werden Einzelphänomene vornehmlich in ihrer Eigenart als (ästhetische, symbolische, erkenntnistheoretische) Bildmedien beleuchtet. Das heißt es geht hier vor allem um Fragestellungen und Diskussionen über den Kunstbegriff sowie über den Stellenwert, die Bedeutung und Wirkung von Kunst als visuellen Gegenstand. Das Stichwort Kunst ist in diversen Einführungen in die Kulturwissenschaft(en) zu finden: In dem von Friedrich Jäger herausgegebenen »Handbuch der Kulturwissenschaften«16 wird Kunst in drei Aufsätzen thematisiert17; in dem Band »Grundlagen der Kulturwissenschaften: interdisziplinäre Kulturstudien«, herausgegeben von Elisabeth List, stößt man unter der Rubrik »Wahrnehmung – Ästhetik – Medien« auf drei Titel, die (bildende) Kunst thematisieren18; in der »Einführung in die Kulturwissenschaften«19 erörtert Markus Fauser den Umgang mit bildender Kunst in Bildwissenschaft und Bildanthropologie, die als theoretische Rubriken der Kulturwissenschaft(en) besprochen werden. Für den Bereich der Kulturwissenschaft(en) insgesamt zeigt sich jedoch, dass die Bildmedien der Alltagskultur (z.B. den Massenmedien) – ähnlich wie in der Tradition der Cultural Studies im englischsprachigen Raum – deutlich mehr Aufmerksamkeit genießen als künstlerische Objekte und deren Umfeld. Dies gilt insbesondere für das Gebiet der bildenden Kunst. Stefan Rieger sieht eine Begründung dafür in der Bewertung des Charakters von Kunst als nahezu ›altertümlich‹ – im Gegensatz zu den modernen Medien: »Die Semantik der Medien scheint dem Versprechen der Moderne näher, als es die Kunst ist, verheißt sie doch Aktualität und Brisanz, Relevanz und damit Anschlüsse, die gegenläufig dazu der Kunst und ihrer Wissenschaft gelegentlich in Abrede gestellt werden.«20 Einige Seiten weiter heißt es in seinem Aufsatz »Kunst, Medien, Kultur. Konjunkturen des Wissens«21, der im zweiten Band des »Handbuchs der Kulturwissenschaften« erschien:
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Siehe dazu auch Bachmann-Medick 2006: 12. Jäger 2004. Pankoke 2004; Rieger 2004; Sonderegger 2004. Jauk 2004; Tragatschnig 2004; Wrentschur 2004. Fauser 2003. Rieger 2004: 642. Rieger 2004.
18 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Medien gelten als modern, während die Künste immer noch die Altlasten ihrer Programmierung zu verwalten und eben auch zu tragen haben: dass sie etwas mit Stil zu tun haben, dass dieser der authentische Ausdruck eines autonomen und mathematisch gesprochenen eineindeutigen (sic!) Individuums, diesem Lieblingskind aller Aufklärung und Geisteswissenschaft, sind. Medien werden zu Störfällen dieser Idyllen einer Eigentlichkeit, ohne dass es diese Idyllen ohne Medien je hätte geben können. Es kommt daher zum nahe liegenden und auch immer wieder beschworenen Argument der Ablösung, das vor dem Hintergrund der Medien die Künste mit einem Verfallsdatum versieht und in den Orkus der Antiquiertheit schickt. Es scheint nicht ganz einfach, sich dem Sog der Mediensemantik zu entziehen und den sie ermöglichenden Organismus gegen die Künste auszuspielen, deren Obsoletwerden zu behaupten und gar von deren historischer Überflüssigkeit zu reden.«22
Auch wenn der Autor anschließend auf »Versuche alternativer Bestimmungen« in Bezug auf die Thematik verweist, so ist die Tendenz erkennbar, Kunst unter einen bestimmten, vorherrschenden Medienbegriff 23 zu subsumieren bzw. zu relativieren oder sie gar den zeitgenössischen Medien als überkommen oder unzeitgemäß gegenüberzustellen. Ein weiteres Indiz hierfür zeigt sich am Ende des Lexikonartikels zum Stichwort Kunst im »Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und In-
22 Rieger 2004: 648. 23 Die Verwendung des Begriffs Medium erfolgt innerhalb der Kulturwissenschaft(en) oft sehr breit gefächert: »Ob Medien technische Apparate oder deren massenmediale Verwendung in modernen Gesellschaften, ob sie den Ausbreitungsraum elektromagnetischer Wellen oder das Radio selbst, ob sie spiritistische Ausnahmeerscheinungen oder gar den Menschen in seiner alleralltäglichsten Normalität betreffen – alles ist dabei gleichermaßen möglich.« (Rieger 2004: 642) Geläufig ist aber insbesondere der Gebrauch des medienwissenschaftlich geprägten Begriffs in Bezug auf die technischen (Massen-)Medien. Die sich hieraus ergebende neuere Semantik der Medien bezieht sich auf zwei dominante Untersuchungsfelder: die Ausrichtung an der Technik und die Verwendungsweise vor allem von Massenmedien. »Beide erzeugen je eigene Narrationen, die im Fall der Technik auf eine Evolution optimierter Apparaturen, im anderen Fall auf eine Evolution gesteigerter Manipulation abzielen und in Einlösung eines häufig damit einhergehenden Kulturpessimismus in gesteigerter Form der Entfremdung münden.« (Rieger 2004: 642) Insbesondere im Bereich der Bildwissenschaft herrscht ein technischer Medienbegriff vor: »Ist in deutschsprachigen Forschungsbeiträgen von Bildkultur die Rede, dann häufig vor dem Horizont der ›neuen‹ Bildkultur, die ihren Neuheitsgrad dem Einsatz elektronischer, vor allem digitaler Medien verdankt. Bildkultur findet also meist Verwendung als Kürzel für Bildmedienkultur und weist sich damit als integraler Bestandteil von Technikkultur aus.« (Mersmann 2004: 92).
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stitutionen seit 1945«24, wenn von einem »Bedeutungsverlust der K.-Bilder im Zeitalter technischer (Massen)medien« gesprochen wird: »Nur die wenigsten Bilder der Gegenwart sind noch Bilder der K. So wird innerhalb der K.-Wissenschaft bereits darüber debattiert, diese zur Bild- bzw. Medienwissenschaft zu erweitern.«25 Gewiss entwickelte(n) sich die Kulturwissenschaft(en) im Zuge einer Umrüstung der traditionellen Geisteswissenschaften und der damit einhergehenden verstärkten Fokussierung auf die Medien: »Während der Begriff ›Geist‹ darauf gerichtet war, einen emphatisch menschlichen Faktor des Kulturprozesses zu identifizieren, zu isolieren und zu affirmieren, verlagert die Kulturwissenschaft ihr Augenmerk auf Strukturen, Prozesse und Praktiken in einem Umfeld, das von vorneherein als technomorph gedacht wird. Im Mittelpunkt dieses neuen Paradigmas steht das Axiom von der Konstruktivität der Medien, die nicht mehr als Darstellungsformen, sondern als genuine Weisen der Welterzeugung verstanden werden.«26
Jedoch weder die Auffassung von Kunst als vermeintlich antiquierte Form visueller Darstellung und damit ihre Abgrenzung von den zeitgenössischen Medien, noch eine Subsumierung oder Relativierung unter einen übergreifenden Medienbegriff, wird dem Stellenwert der zeitgenössischen bildenden Kunst wirklich gerecht. Kunstwerke lediglich auf den Aspekt einer reinen Bildlichkeit und Bildwirkung hin zu begrenzen und ihnen damit letztlich ihren Stellenwert als künstlerische Objekte abzusprechen, ist schlichtweg oberflächlich und nicht zu rechtfertigen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es einer Revision der Betrachtung von Kunst, insbesondere der kunstwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich neuer Entwicklungen im kulturellen Bereich durch Globalisierungsprozesse bedarf, wie sie Hans Belting bereits in »Das Ende der Kunstgeschichte«27 1995 diskutierte. Auch dass die Kunstwissenschaften zunehmend mit Bild- und Medienwissenschaften zusammenarbeiten ist nur zu begrüßen. Die im letzten Satz des zitierten Lexikonartikels getroffene Aussage, die gegenwärtige Entwicklung zeige an, die Idee der Kunst sei selbst zunehmend zweifelhaft geworden28, erscheint allein angesichts der auf einer Auktion im Mai 2010 erzielten Summe von 106 Millionen Dollar für das Werk »Nude, Green Leaves and Bust« von Pablo Picasso oder auch im Hinblick auf den bis heute wirkungsmächtigen Mythos um die »Mona Lisa« nahezu naiv. Ebenso wenig wären Ausstellungsprojekte wie die documenta überhaupt noch existent,
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Schnell 2000. Schnell 2000: 284. Assmann 2006: 21. Belting 1995. Schnell 2000: 284.
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hätte das Phänomen Kunst in der zeitgenössischen Gesellschaft seine Bedeutung verloren. Ein Kunstwerk allein durch seine »ikonische Differenz« (Gottfried Boehm) von anderen Bildern zu unterscheiden, ist heute sicherlich nicht (mehr) sinnvoll bzw. möglich. Auch dies lässt sich anhand der soeben aufgeführten Beispiele verdeutlichen: weder der gigantische Preis für »Nude, Green Leaves and Brust« noch die Anziehungskraft der »Mona Lisa« lassen sich allein mit formalästhetischen Kriterien begründen. Es ist das komplexe, diskursive Zusammenspiel verschiedener Faktoren aus unterschiedlichen Bereichen wie wirtschaftlichen, politischen, sozialen, wissenschaftlichen Kontexten, das das internationale Feld der Kunst, das hier mit dem Begriff der globalen Kunstwelt bezeichnet wird, bestimmt. Die Analyse von Kunst und ihrem unmittelbaren Umfeld verlangt nach einer Erweiterung des Blickfelds im Kontext der interdisziplinären und internationalen Ausrichtung der Kulturwissenschaft(en). Die globale Kunstwelt schneidet sich an vielen Stellen mit der Welt der Massenmedien, so dass bildende Kunst auch im Bereich der Alltagskultur immer mehr Raum einnimmt. Keinesfalls also wird ihre spezifische Rolle unter anderen Bildmedien obsolet.
1.2 D IE ( GLOBALE ) K UNSTWELT IN DER F ACHLITERATUR Im Verlauf der folgenden Kapitel wird ausgehend von verschiedenen Studien mit ihren je spezifischen disziplinären Perspektivierungen ein Ansatz generiert, der im Sinne der Kulturwissenschaft(en) einen transdisziplinären Blick auf die globale Kunstwelt und ein Verständnis ihrer internen Abläufe ermöglicht. Deshalb soll zunächst ein Überblick über die Literatur gegeben werden, in der sich WissenschaftlerInnen aus diversen universitären Disziplinen mit der (globalen) Kunstwelt – verschiedentlich auch als Kunstsystem, Kunstbetrieb, Kunstfeld, Kunstszene o.ä. bezeichnet – beschäftigen. Da die verschiedenen Ansätze keiner einheitlichen Definition der (globalen) Kunstwelt folgen, unterscheiden sie sich in vielen Aspekten voneinander, weisen aber eine deutliche Kohärenz ihrer Untersuchungsgegenstände auf. Nicht alle der hier aufgeführten Beiträge werden später in gleicher Ausführlichkeit zu Rate gezogen und diskutiert. Für eine grundlegende Definition der globalen Kunstwelt sind die soziologischen Ansätze besonders wichtig, da die Kunstwelt mit ihrer Hilfe als ein gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang darstellbar wird, der sich aus mehreren gesellschaftlichen Elementen (Akteuren, Institutionen, Diskursen, Transferprozessen etc.) formiert. Betrachtungen aus anderen disziplinären Zusammenhängen wie der Kunstgeschichte, der Ethnologie und der Philosophie ergeben sich jedoch als wichtige Ergänzungen für die Darlegung der Vielschichtigkeit der globalen Kunstwelt. Neben den geistes- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist auch die Kenntnis wirtschaftswissenschaftlicher Analysen der öko-
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nomischen Distributionsweisen von Kunst für ein Verständnis der globalen Kunstwelt unerlässlich, da die Ökonomie eine wichtige Dimension von Globalisierung darstellt. In ihrer Gesamtheit soll die hier vorgenommene Studie als Ergänzung und Erweiterung der bisher existierenden Beiträge fungieren. 1.2.1 Die (globale) Kunstwelt in der Soziologie Die Soziologie befasst sich vor allem mit Vermittlungs- und Verhandlungsstrukturen von Kunst über diverse Akteure und Institutionen. Ästhetische Aspekte sind meistens von sekundärer Bedeutung, es sei denn, sie werden bezüglich ihrer Kommunikationsfunktion verhandelt wie beispielsweise in den systemtheoretischen Ansätzen Niklas Luhmanns. Daraus ergibt sich der Blick auf ein gesellschaftliches Gesamtgefüge, das sich nicht allein als Zusammenspiel ästhetischer Diskurse – seien diese kunstgeschichtlich, philosophisch, bildanthropologisch oder bildwissenschaftlich konnotiert – definieren lässt. 1982 verfasste der Soziologe und Professor für Kunstwissenschaften (Arts and Sciences) an der Northwestern University in Chicago Howard Becker eine Studie, die einen Einstieg in das komplexe Netzwerk der Kunstproduktion und -rezeption aus soziologischer Perspektive liefert. Sie trägt den Titel »Art Worlds«29. Von Bedeutung ist vor allem Beckers Definition der Kunstwelt(en) und schließlich auch der Kunst selbst als Gesamtheit und Zusammenwirken ihrer Akteure. Auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dessen Forschungsperspektive unter anderem von Erfahrungen ethnographischen Arbeitens geprägt ist, geht in seiner Publikation »Die Regeln der Kunst«30 den Ordnungen künstlerischen Wirkens nach, die aus einer spezifischen Logik des sozialen Feldes der Kultur heraus erwachsen. Das von Bourdieu beschriebene Kunstfeld setzt sich aus verschiedenen Bereichen zusammen: Theater, Literatur und bildende Kunst. Der Autor bezieht sich in seinen Ausführungen hauptsächlich auf das literarische Feld Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gibt damit wertvolle Hinweise auf die Komplexität der Strukturen, die innerhalb des Kunstfeldes entstehen. Die Ergebnisse lassen sich jedoch auch auf die Bereiche Theater und bildende Kunst übertragen. Interessant ist vor allem die Erörterung von ästhetischen und diskursiven Gesichtspunkten im Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten künstlerischen Schaffens. Der Fokus Niklas Luhmanns Werk »Die Kunst der Gesellschaft«31 liegt auf einer soziologisch-theoretischen Erörterung der Funktion und Bedeutung von Kunst für die Gesellschaft. In einem eigenen Kapitel geht Luhmann der Genese des
29 Becker 1982. 30 Bourdieu 1999, die französische Erstausgabe erschien bereits 1992. 31 Luhmann 1995.
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Kunstsystems und dessen Akteuren und Einrichtungen nach32 und liefert damit eine ausführliche Beschreibung des sich in Europa ausbildenden Kunstsystems als Zusammenschluss verschiedener Institutionen. Bis auf Becker, der aus einem US-amerikanischen Kontext heraus schreibt, widmen sich die bisher genannten Autoren auf die Darstellung, die Analyse und die Genese der Kunstwelt in Europa. Obwohl sowohl Bourdieu als auch Luhmann internationale Bewegungen in ihre Überlegungen mit einbeziehen und ihre Ansätze durchaus auf Gesellschaften außerhalb Europas übertragbar sind, werden Entwicklungen in einem globalen Zusammenhang nicht konkret verfolgt. Neuere soziologische Arbeiten wie beispielsweise die Publikationen »The Global Artworld, Inc. On the globalization of contemporary art«33 von Charlotte Bydler aus dem Jahr 2004 oder »Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert«34 von Nina Tessa Zahner von 2005 beziehen sich explizit auf ein internationales Netzwerk der Kunst vermittelnden und Kunst verhandelnden Institutionen, das als internationales Kunstsystem bezeichnet werden kann. Bydler geht dabei vor allem auf sozioökonomische Aspekte von Globalisierung ein, während Zahner die Ansätze Bourdieus zur Beschreibung von Entwicklungen im Kunstfeld New Yorks im Zeichen der pop art heranzieht. Beide Arbeiten sind in Teilaspekten interessant, die hier vorgenommene Definition der globalen Kunstwelt wird aber vor allem auf der Grundlage von Becker, Luhmann und Bourdieu entwickelt. 1.2.2 Die (globale) Kunstwelt in den Kunstwissenschaften Im Bereich der Kunstwissenschaften finden sich bislang wenige Publikationen, die die Kunstwelt(en) theoretisch als Konzept, System oder Netzwerk erfassen. Eines der raren Beispiele ist das zweibändige Werk »Vom Bild zum Kunstsystem«35 von Beat Wyss aus dem Jahr 2006. Der Kunsthistoriker aus der Schweiz analysiert darin die historischen Bedingungen für die Ausbildung des Kunstsystems in Europa und die in diesem Kontext angelegten Konditionen für ein Verständnis bestimmter Bildwerke als Kunst. Er erklärt eine globale Anschlussfähigkeit des von ihm beschriebenen Kunstsystems, die jedoch von einem Globalisierungsbegriff im Sinne von Europäisierung ausgeht – auch wenn dies nicht direkt vermerkt, aber zwischen den Zeilen zu lesen ist. Grundlagen für seine Schlussfolgerungen bilden die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Betrachtungen zur Semiotik von Charles Peirce.
32 Kapitel 4: »Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems« (Luhmann 1995: 215 ff). 33 Bydler 2004. 34 Zahner 2005. 35 Wyss 2006.
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Seit den 1990er Jahren geraten in kunstwissenschaftlichen Untersuchungen vermehrt Sachverhalte und Gegenstände in den Blick, die sich mit der internationalen Verbreitung und Verknüpfung von Kunstinstitutionen und der Verdichtung interkultureller Kunstdiskurse herausbilden. Der übergeordnete Gesamtzusammenhang, in dem sich diese Prozesse abspielen, wird häufig als globale Kunstwelt (global art world) bezeichnet. Zur Reflexion der Entstehungszusammenhänge und der aktuellen Formatierung dieses Gesamtgefüges kam es bisher jedoch nicht. Viele kunstwissenschaftliche Auseinandersetzungen, die sich Globalisierungsprozessen in der Kunstwelt annähern, richten ihren Blick vor allem auf Ausstellungspraktiken und die zugehörigen Institutionen, insbesondere Museen. Im deutschsprachigen Raum haben sich auf diesem Gebiet vor allem Hans Belting, Peter Weibel und Andrea Buddensieg mit ihren Arbeiten hervorgetan. Im Rahmen des 2006 ins Leben gerufenen Projekts »Global Art and the Museum«36 am Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe wurden bereits zahlreiche internationale Konferenzen, Seminare, Summerschools und Workshops zum Thema verwirklicht. Mittlerweile sind auch zwei Sammelbände erschienen, die einen breiten und gleichzeitig multiperspektivischen Überblick über rezente Forschungsansätze zu Globalisierung und Kunst liefern. Der erste im Jahr 2007 herausgegebene Band »Contemporary Art and the Museum. A Global Perspective«37 enthält unter anderem Essays von Forschern/innen, die sich im Rahmen ihrer Studien bereits seit geraumer Zeit mit der Rolle von (zeitgenössischer) Kunst und Künstlern/innen in einer globalisierten Welt beschäftigen, zum Beispiel der Künstler und Kunstkritiker Rasheed Araeen38, der Kunsthistoriker Hans Belting39 und der Kunstwissenschaftler John Onians40. Belting und Araeen generieren einen dezidiert kritischen Blick auf die in der globalen Kunstwelt herrschenden kulturellen Hierarchisierungsprozesse und ungleichen Machtverhältnisse, die durch Polarisierungsmechanismen zwischen den vermeintliche Zentren der globalen Kunstwelt und deren Peripherien entstehen. Die zwei Jahre später publizierte Aufsatzsammlung »The Global Art World. Audiences, Markets, and Museums«41 zeigt eine deutliche Erweiterung der Forschungsansätze, die sich nunmehr auch auf die Rezipienten und die ökonomischen Verhältnisse innerhalb der globalen Kunstwelt beziehen. Die nationale und kulturelle Vielstimmigkeit verweist erneut auf die Pluralität der globalen Kunstwelt und die Notwendigkeit einer flexiblen Reflexion der zusammentreffenden Diskurse. Nur die gleichberechtigte Wahrnehmung und Anerkennung von kul-
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http://www.globalartmuseum.de/site/home, 30.06.2010. Weibel/Buddensieg 2007. »Our Bauhaus Other’s Mudhouse« (Araeen 2007). »Exhibiting Cultures« (Belting 2007). »A New Geography of Art Institutions« (Onians 2007). Belting/Buddensieg 2009.
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turellen Differenzen können den eurozentrischen Blicken auf die globale Kunstwelt diametral entgegenwirken. Da in der vorliegenden Studie exemplarisch auf brasilianische Gegenwartskunst innerhalb der Diskurse der globalen Kunstwelt eingegangen wird, sind vor allem lateinamerikanische bzw. brasilianische Stimmen und deren Reflexion globaler Kunstweltbewegungen von besonderer Bedeutung. Einen in diesem Zusammenhang interessanten Ansatz liefert die brasilianische Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin Ana Letícia Fialho. In dem Artikel »Gesammelte Tropen. Zur Integration brasilianischer Kunst in einer internationalen Institution«42 referiert sie über ihre Forschung zur Eingliederung und Verbreitung brasilianischer Gegenwartskunst innerhalb der Kreisläufe der globalisierten Kunstwelt. Sie eröffnet dabei eine weite Perspektive auf das gegenwärtige »Weltkunstszenario« und die beteiligten Akteure und Institutionen: »Das Thema lässt sich aus verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten: die Integration von KünstlerInnen im internationalen Markt, die Analyse internationaler Ausstellungen, die Präsenz und Darstellung der brasilianischen Kunst durch die internationale Fachpresse, Forschungsprojekte und akademische Publikationen zum Thema, sowie die Teilnahme brasilianischer KritikerInnen und KuratorInnen an internationalen Projekten.«43
Die im vierten Kapitel vorgenommene Analyse der Beiträge diverser brasilianischer KünstlerInnen auf der documenta seit 1992 ist ein Versuch, die komplexen Mechanismen von Integration und Verhandlung kultureller Differenzen innerhalb der globalen Kunstwelt und damit Prozesse ihrer Globalisierung offenzulegen. Ein Ansatz wie der Fialhos bietet fruchtbare Ansatzpunkte für dieses Vorhaben. Zuletzt sei auf ein Buch verwiesen, das im Jahr 2009 unter dem Titel »Globalisierende Kunstmärkte. Das Phänomen Kunst im 21. Jahrhundert aus globaler Perspektive«44 erschien. Ein weiterführender, zweiter Untertitel lautet »Zum Ende des hegemonialen Anspruchs des westlichen Kunstsystems und zum Anfang einer post-globalen Kultur«. Es handelt sich um die Studie der Kunsthistorikerin Sarah Khan, die sich mit der Globalisierung des »westlichen Kunstsystems« auseinandersetzt. Indem sie die Entwicklungen der Kunstproduktion in China, Indien, Südafrika und Brasilien vorstellt, wird auf die lokalen Unterschiede künstlerischer Praktiken innerhalb eines globalen Zusammenhangs verwiesen. Statt die Globalisierungsmechanismen jedoch in den komplexen Verknüpfungen und im Austausch der einzelnen Positionen zu erkennen und zu beschreiben, werden sie anhand von
42 Fialho 2005. 43 Fialho 2005: 35. 44 Khan 2009.
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Prozessen beschrieben, die eher unter dem Begriff ›Verwestlichung‹ mit dem Fokus auf die globale Ökonomisierung in kapitalistischer Manier zu erfassen wären. Wie es der ausführliche Titel des Buches verheißt, wendet sich die Autorin in ihrer Darstellung gegen die Hegemonieansprüche des so genannten ›Westens‹ und proklamiert in diesem Sinne den Beginn einer post-globalen Ära, in der sie eine Verschiebung bestehender Machtverhältnisse erkennt. Allein durch die permanente Kontrastierung von ›Westkunst‹ und Kunst aus ›Schwellenländern‹, die sich durch alle Kapitel hindurch zieht, scheint ein solcher Wandel aber kaum in Sicht zu sein. Um oberflächlichen Deutungen von Globalisierungsprozessen dieser Art zu entkommen und einen differenzierten Blick auf die globale Kunstwelt zu ermöglichen, bezieht sich die hier vorgelegte Studie auf verschiedene, theoretische Ansätzen kultureller Globalisierungsforschung. 1.2.3 Die (globale) Kunstwelt in der Ethnologie Die Kunstethnologie beschränkte ihre Untersuchungen zunächst auf Formen visuellen Ausdrucks außereuropäischer, indigener Gesellschaften und deren Sinn und Bedeutung im entsprechenden lokalen Kontext. Das Blickfeld wurde in dem Moment erweitert, in dem die Einwirkungen und Überschneidungen der ›ursprünglichen‹ Untersuchungsgegenstände der EthnologInnen mit anderen Kunstsystemen, insbesondere der globalen Kunstwelt, nicht mehr zu ignorieren waren. Das äußerte sich beispielsweise im Verkauf von indigenen Objekten auf dem internationalen Kunstmarkt als auch in der Hinwendung indigener KünstlerInnen zu Materialien und Ästhetiken der bildenden Kunst aus Europa und schließlich in ihrer Präsenz innerhalb der Institutionen und Diskurse der internationalen Kunstwelt. Brigitta Benzing wies bereits 1978 in dem Buch »Das Ende der Ethnokunst. Studien zur ethnologischen Kunsttheorie«45 auf die Notwendigkeit einer »globalen Betrachtung« der Kunstäußerungen aller Gesellschaften hin. Insbesondere für die Deutung der Rezeption so genannter ›nicht-westlicher‹ Kunst in Europa sei laut Benzing eine Neuorientierung kunstethnologischer Forschungen gefordert. Dabei müsse man an verschiedenen Stellen ansetzen: sowohl das Interesse europäischer KünstlerInnen an diversen außereuropäischen Kunstformen (seit der Moderne) als auch die Bedeutung der von ihr als »Ethnokunst« bezeichneten Werke als Waren auf einem internationalen Markt sind von Bedeutung. Das Buch Benzings wurde allerdings nur wenig rezipiert, die kunstethnologische Forschung blieb vor allem im deutschsprachigen Raum lange in alten Mustern verhaftet. Die im Zuge sich verdichtender Globalisierungsprozesse und der Postkolonialismusforschung der 1980er und 1990er Jahre aufgekommenen ethnologischen Studien sind von Diskursen geprägt, die sich gegen die
45 Benzing 1978.
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Binarisierung des so genannten ›Westens‹ und ›nicht-Westens‹ wehren. Ende der 1980er Jahre unternahm James Clifford in »The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art«46 erste Schritte zur Beleuchtung des »Art-Culture Systems«47. Er beschreibt ein sich von Europa und später den USA her ausbreitendes Kunst-Kultur-System, das im 19. Jahrhundert die Kontrolle über die Bestimmung der Authentizität, des Werts und über die Zirkulation von Kunst weltweit übernahm – »A Machine for Making Authenticity«48. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Clifford dabei den so genannten ›westlichen‹ Sammel-Systemen, zusammengefasst dargestellt in seinem Aufsatz »On Collecting Art and Culture«49. In seiner Gesamtheit ist »The Predicament of Culture« als Beispiel für eine kritische Ethnographie des so genannten ›Westens‹ und dessen Austauschbeziehungen mit verschiedenen kulturellen Räumen zu betrachten. Damit stellt es eine Wegmarke auf dem Pfad der ethnologischen Selbstreflexion dar. »And so expanding the range of activities qualified as ethnographic, or as art/culturecollecting, was an attempt to decenter canonical Western styles. And if this was all done from within a changing ›West‹, and with theoretical tools of selfcritique, it was done with an ear out for non-Western, and partially-Western, voices.«50
In dieser Tradition ist auch der im Jahr 1995 erschienene Sammelband »The Traffic in Culture. Refiguring Art and Anthropology«51 zu verorten. Die Herausgeber George E. Marcus und Fred R. Myers argumentieren in der Einleitung für die Erweiterung des Blickfeldes (kunst-)ethnologischer Auseinandersetzung. Die Beachtung lokaler Formen künstlerischen Schaffens sei unbedingt mit den übergeordneten Zusammenhängen internationaler Kunstproduktion und -verhandlung sowie deren Kontexten, kurz, der globalen Kunstwelt (art world), in Verbindung zu bringen: »In this regard, the very specific anthropological critique would concern the art world’s manner of assimilating, incorporating, or making its own cross-cultural difference. The goal would be to relativize art-world practices by showing effectively the broader contexts of activity in which the art world’s appropriations are located.«52
Marcus und Myers weisen besonders auf die parallele Entwicklung der Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin und der modernen Kunst hin. Die
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Clifford 1988. Clifford 1988: 12-13, 215. Clifford 1988: 224. Clifford 1988: 215 ff. Clifford 2003: 28-29. Marcus/Myers 1995. Marcus/Myers 1995: 33.
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Begrifflichkeit und Diskussion des ›Primitiven‹ spielt hierbei eine wichtige Rolle. Die Ethnologie sei aufgrund ihrer thematischen Nähe besonders prädestiniert für eine reflektierte Betrachtung der im internationalen Kunstfeld herrschenden Diskurse vor allem über die so genannte ›nicht-westliche Kunst‹. In dem Aufsatz »Collectivity and nationality in the anthropology of art«53, spricht sich der australische Kulturanthropologe Nicholas Thomas explizit für eine stärkere Fokussierung internationaler Kunstwelten neben den nationalen aus. Gerade die Untersuchung der Kunst der »westlichen Gesellschaften« (Western societies) sollte aufgrund der Wirkungen von Globalisierungsprozessen, die sich in den engen Verflechtungen von so genannter ›westlicher‹ mit ›nicht-westlicher‹ Kunst zeigen, zur Aufgabe kunstethnologischer Arbeiten avancieren. »[R]esearch needs to be extended to art within ›Western‹ societies, not least because the Western/non-Western distinction has become confused by increasing cultural exchange. Art has been highly significant in the process of interaction, which suggests that much might be gained from the study of national and international art worlds, and of the movements and changing meanings of art works through these contexts.«54
Vier Jahre nach der Publikation von Marcus und Myers skizzierte Arjun Appadurai einen Ansatz, die globale Kunstwelt insgesamt unter der Prämisse ethnologischer Globalisierungsforschung zu erfassen. In seinem Text »Traditionsängste im globalen Kunstkontext«55 führt Appadurai in Ergänzung zu seinen bereits Anfang der 1990er Jahre vorgestellten fünf Dimensionen globaler kultureller Flüsse (ethnoscapes, mediascapes, technoscpaes, financescapes und ideoscapes)56 den Terminus artscapes ein. Er nimmt dabei nicht allein Bezug auf die institutionalisierte Kunstwelt und deren Infrastruktur, sondern spricht von einer Gesamtheit der »Kunstkontexte«, die von Kulturproduzenten/innen in der ständigen Auseinandersetzung mit der Gegenwart geschaffen werden: »Wenn ich also von ›Artscapes‹ spreche, so meint das nichts anderes als Bilder des Hier und Jetzt – Bilder, welche den tatsächlichen Kunstwerken aus der gegenwärtigen postkolonialen Welt zugrunde liegen und diese motivieren.«57 Die sechs scapes (Landschaften) existieren parallel bzw. ineinander verwoben oder auch in Konflikt miteinander. Durch die Einführung der artscapes wird dem Bereich der Kunst im globalisierten Gefüge ein spezieller Status zugesprochen, der sich von den ebenfalls bildzentrierten ideoscapes (politische Dimension) und mediascapes (Dimension bildlicher und narrativer Massenmedien) abhebt. Appa-
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Thomas 1997. Thomas 1997: 256. Appadurai 1999. Appadurai 1990; Appadurai 1996. Appadurai 1999: 55.
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durais Modell bietet die Möglichkeit die globale Kunstwelt in der Betrachtung der Wechselverhältnisse zwischen dem Feld der artscapes und den fünf anderen Dimensionen globaler Flüsse als komplexen Mechanismus globaler Dispositionen zu beschreiben. Insgesamt thematisieren rezente kunstethnologische Arbeiten zunehmend die übergreifenden, globalen Kontexte, die die künstlerische Produktion, Distribution und Rezeption an allen Orten der Welt beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist die Publikation »Zeitgenössische Kunst aus Afrika. 14 Künstler aus Côte d’Ivoire und Bénin«58 von Thomas Fillitz. Der Wiener Ethnologe setzt sich in seiner Studie zu Kunst aus Afrika im Zeitraum von 1996 bis 1998 ausführlich mit der Globalisierungsthematik in Bezug auf afrikanische Kunst auseinander59 und skizziert dazu die sich daraus ergebenden »Perspektiven zur Sozial-/Kulturanthropologie«: »Scheinbar ist der Begriff des Kontexts innerhalb der Sozial-/Kulturanthropologie der Kunst sehr eng gefaßt, und wird auf die kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten eingeschränkt, die den allgemeinen Gegenstand von sozial- und kulturanthropologischen Forschungen bilden. ›Kommerzialisierte traditionelle Kunst‹, ›popular culture‹ oder ›airport art‹ sind damit bevorzugte Forschungsgebiete.«60
Entscheidend sei nun aber, »die Komplexität des heterogenen Kunstschaffens in den verschiedensten Lokalgesellschaften und Staaten zu berücksichtigen, und die Komplexität der mit einer Kunstform verbundenen Kontexte.«61 Fillitz schlägt für eine Betrachtung der globalen Vernetzungen und Bedeutungstransfers neben der Vorstellung einzelner, »lokalisierter Kunstwelten« den Begriff »Welt der Kunst« vor. Dieser ergibt sich als imaginierter, deterritorialisierter, interaktiver Raum, in dem die Diskurse über »Möglichkeiten von Kunst« weltweit ausgetragen werden.62 Einen kritischen Blick auf die globale Kunstwelt, insbesondere auf Kunstdiskurse, Kunstpraxis und Kunstmarkt, entwickelt auch die Professorin für afrikanische Kunstgeschichte Sidney Littlefield Kasfir an der Emory University in Atlanta. In ihrem Beitrag »Jenseits von Schattenwürfen und Spiegelungen: Das Verständnis von Lokalität in einem globalisierten Kunstdiskurs«63 stellt sie »drei aktuelle theoretische Positionen im Hinblick auf Globalisierungsprozesse und Kunst«: das Konzept der Kreolisierung, die Dialektik globaler Strömung und die Wechselwirkungen zwischen Diskurs
58 Fillitz 2002a. 59 »Globalisierung – Die Konstruktion des kulturellen Raumes« (Fillitz 2002: 205 ff); »Globalisierung – Kunstwelten und Welt der Kunst« (Fillitz 2002a: 247 ff). 60 Fillitz 2002a: 309-310. 61 Fillitz 2002a: 317. 62 Siehe Fillitz 2002a: 216. 63 Kasfir 2003.
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und Markt. 64 Gleichzeitig weist sie auf die Notwendigkeit hin, die Auswirkung von Globalisierungsprozessen in einzelnen Bereichen des Kunstfeldes differenziert zu betrachten. Auf diese Weise zeigten sich nämlich erst die verschiedenen Dimensionen von Globalisierung: »Sofern wir nicht Saskia Sassens (2001 : 260) Vorbehalt akzeptieren, dass Globalisierung immer ein unvollständiges Projekt ist, was zur akademischen Strenge des Konzeptes beiträgt und gleichzeitig seine analytische Nützlichkeit beeinträchtigt, können wir sagen, dass die elitäre Kunstwelt, im Gegensatz zu der Volks- oder Touristenversion, noch nicht sehr globalisiert ist, auch wenn Kuratoren und Kritiker es gerne so hätten. Im Spektrum der gerade erwähnten Elemente, aus denen die Kunstwelt besteht – Praxis, Ausstellung, Konsumption, Diskurs – ist eigentlich die Praxis der Kunst das am wenigsten globalisierte Element, da sie am meisten Träger lokaler Bedeutung und Strukturen ist. Der Kunstdiskurs ist wahrscheinlich am globalsten, obwohl auch er durch Realitäten wie Armut in der Dritten Welt und ihre Auswirkung auf die Verfügbarkeit von Büchern, Katalogen und Journalen erschwert wird.«65
Kasfir spricht in diesem kurzen Absatz zwei Punkte an, die für die Reflektion der globalen Kunstwelt bedeutend sind: Sie verweist sowohl auf die verschiedenen Elemente der Kunstwelt als auch darauf, dass diese auf unterschiedliche Weise von Globalisierungsprozessen beeinträchtigt werden. Um die Komplexität der globalen Kunstwelt zu erfassen bzw. sie überhaupt erst als global zu bezeichnen ist es notwendig, Globalisierung und Globalität nicht als gleichförmigen Prozess und statische Zustandsbeschreibung zu begreifen. Im Jahr 2006 erschien der Sammelband »Exploring World Art«66, herausgegeben von Robert L. Welsch, Eric Venbrux und Pamela Sheffield Rosi. Man findet hier eine Zusammenschau ethnographischer Fallstudien aus verschiedenen Regionen der Welt, die diverse Kunstwelten sowohl aus ihrer lokaler als auch aus vergleichender globaler Perspektive beleuchten. Um einer Antwort auf die Frage nach neuen Parametern, die schließlich eine »Weltkunst« (world art) bestimmen, näher zu kommen, erörtern die AutorInnen Thematiken wie die visuelle Kultur als künstlerisches Tätigkeitsfeld, neue Kunstformen und Medien, Arenen kultureller Produktion oder auch die Rolle der Geschlechter in diesen Zusammenhängen. Auf diese Weise beleuchtet jeder Beitrag einen anderen Aspekt internationaler Prozesse, durch die Kunstwerke – hergestellt in einem sozialen Kontext, verkauft in einem anderen – ihre Bedeutung erlangen. Ein Jahr später wurde in Wien das Buch »Blickwechsel. Lateinamerika in der zeitgenössischen Kunst«67 publiziert. Der Sammelband, der vom VIDC (Wiener Institut für Entwicklungsfragen
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Kasfir 2003: 47. Kasfir 2003: 60. Welsch/Venbrux/Rosi 2006a. VIDC/Kulturen in Bewegung 2007.
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und Zusammenarbeit)/ Kulturen in Bewegung herausgegeben wurde, thematisiert unter anderem den Zugang lateinamerikanischer KünstlerInnen zum internationalen Kunstmarkt. Hier schreibt Thomas Fillitz in dem Aufsatz »Zur Dekolonialisierung der globalen Kunstwelt. Eine Kritik europäischamerikanischer Hegemonieansprüche«68: »Die europäisch-amerikanische zeitgenössische Kunstwelt beansprucht heute, der Raum einer universalistischen Weltkunst zu sein. Allerdings ist dieser Anspruch erstens Produkt globaler kapitalistischer Markstrategien, und zweitens ein ideologisches Konstrukt, das auf einer kolonialen Denkmatrix beruht.«69
Diese These markiert noch einmal die grundsätzlich kritische Haltung der meisten Kunstethnologen/innen gegenüber der globalen Kunstwelt. Dies mag an der besonderen Perspektive liegen, die EthnologInnen in der Kenntnis der Situationen und Ansichten derjenigen Protagonisten der Kunstwelt einnehmen, die sich im globalen Kontext in einer benachteiligten oder peripheren Lage befinden. 1.2.4 Die (globale) Kunstwelt in der Philosophie In dem Aufsatz »The Art World«, der 1964 im Journal of Philosophy erschienen war, gebrauchte Artur Danto zum ersten Mal den Begriff Kunstwelt (art world). Er erklärte die Kunstwelt als Sphäre künstlerischer Theorie (»atmosphere of artistic theory«) und Wissen der Kunstgeschichte (»knowledge of the history of art«)70. Indem Danto hier konstatiert, dass Kunst nur durch künstlerische Theorie möglich sei, beschreibt er die Kunstwelt als diskursiven Raum. Dabei sind die Beziehungen einzelner Kunstwerke untereinander von besonderer Bedeutung, die wiederum durch theoretische Aussagen geschaffen werden. Jedes neue Kunstwerk sei eine Bereicherung für die Kunstwelt, denn mit jedem Werk erweitere sich die Stilmatrix und damit auch der Diskurs. Die Aussagen des US-amerikanischen Philosophen und Kunstkritikers beziehen sich allerdings auf die Kunstgeschichte und die Kunstwelt des Abendlandes. Eine globale Kunstwelt wird nicht beschrieben, auch wenn der Kunstwelt eine sich steigernde Komplexität durch die steigernde Pluralität ihrer Mitglieder und der ihr inhärenten Kunstwerke diagnostiziert wird. Die Definitionskriterien lassen sich jedoch grundsätzlich auf die Vorstellung einer globalen Kunstwelt übertragen. Da Danto auf potentielle Konflikte nicht eingeht, werden jegliche hierarchischen Faktoren innerhalb des Kunstdiskurses allerdings übergangen. Diesen Aspekt findet man in der institutionellen Theorie George
68 Fillitz 2007. 69 Fillitz 2007: 25. 70 Danto 1964: 580.
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Dickies, die er zuerst 1975 in seinem Werk »Art and the Aesthetics: An Institutional Analysis«71 darlegt und durch in den 1980er und 1990er Jahren publizierten Schriften erweitert. Dickie beschreibt die Kunstwelt (»the artworld«) als Institutionszusammenhang, innerhalb dessen die Bestimmung eines Objekts zum Kunstwerk bzw. die Erklärung eines Objekts zum Gegenstand eines ästhetischen Urteils (»status of candidate for appreciation«)72 erfolgt. Hier ist der öffentliche Präsentationsrahmen ausschlaggebend und die Stimmen des involvierten Publikums. Bei Dickie erhalten auch Aspekte von Machtausübung innerhalb der geführten Diskurse Bedeutung. Sowohl Danto als auch Dickie bieten wichtige Einblicke in das Konzept der Kunstwelt, die in ihrer philosophischen Ausrichtung relativ weit an soziologische Ansätze heranreichen. Für eine Beschreibung der globalen Kunstwelt greifen die Beschreibungen allein allerdings zu kurz. 1.2.5 Die (globale) Kunstwelt in der Ökonomie Hinsichtlich der großen Wirkungsmacht ökonomischer Triebkräfte auf die Mechanismen des globalen Kunstsystems ist es unvermeidbar, auch Studien aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften zu berücksichtigen. Seit sich in Folge des Kunstmarktbooms der 1980er Jahre die Ausdehnung des internationalen Kunstsystems in der Wirtschaft deutlich bemerkbar macht, werden Kunst als Ware und damit verbunden vor allem die Dynamiken des globalisierten Kunstmarktes zu Untersuchungsgegenständen ökonomischer Studien. Das Hauptinteresse der sich ab Mitte der 1980er Jahre entwickelnden Kunstökonomie richtet sich vor allem auf die Frage nach Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit der Werte von Kunstwerken. Eine erste ausführliche Studie über kunstmarktliche Prozesse lieferte 1990 Christian Herchenröder mit »Die Neuen Kunstmärkte«73. Weitere Publikationen zu dieser Thematik veröffentlichten Manfred Tietzel, »Kunst und Ökonomie«74 (1992), Bruno Frey und Werner Pommerehne, »Musen und Märkte. Ansätze einer Ökonomik der Kunst«75 (1993), Ulrike Klein, »Der Kunstmarkt. Zur Interaktion von Ästhetik und Ökonomie«76 (1993), Holger Bonus und Dieter Ronte, »Die wa(h)re Kunst. Markt, Kultur und Illusion«77 (1997) und Max Hollein, »Zeitgenössische Kunst und der Kunstmarktboom«78 (1999).
71 72 73 74 75 76 77 78
Dickie 1975. Dickie 1975: 34. Herchenröder 1990. Tietzel 1992. Frey/Pommerehne 1993. Klein 1993. Bonus/Ronte 1997. Hollein 1999.
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Ein Sammelband mit dem Titel »The Economics of the Arts«79, herausgegeben von Victor A. Ginsburgh, erschien 1996; in Zusammenarbeit mit David Throsby kam 2006 das »Handbook of the Economics of Art and Culture«80 auf den Markt. Bruno Frey publizierte im Jahr 2003 das Buch »Arts and Economics. Analysis and Cultural Policy«81. In der ersten Dekade des 21. Jahrhundert erschienen zudem zahlreiche Einführungen in die komplexen Mechanismen des Kunstmarktes. Diese populärwissenschaftlichen Sachbücher richten sich zumeist an Einsteiger und Fortgeschrittene im Bereich des Sammlungswesens. Als Beispiele seien hier die Publikationen »Wie Kunstmärkte entstehen«82 von Katja Blomberg (2005) und »Hype! Kunst und Geld«83 von Piroschka Dossi (2007) genannt. Die Kunstwelt erscheint aus der wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive vor allem als ein Zusammenschluss derjenigen Institutionen, die unmittelbar an den wirtschaftlichen Wertbildungs- und Distributionsprozessen von Kunst beteiligt sind. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang noch auf das Buch »Arts under Pressure. Promoting Cultural Diversity in the Age of Globalization«84 von Joost Smiers verwiesen. Auch wenn der Politikwissenschaftler keinen rein ökonomischen Ansatz vorstellt, sei die Studie erwähnt, da sie auf den Zyklus der Herstellung, Distribution und Rezeption zeitgenössischer Künste unter Einwirkung von Prozessen der ökonomischen Globalisierung blickt. Smiers bezieht sich in seiner Betrachtung nicht auf ein bestimmtes Teilgebiet künstlerischer Produktion, sondern diskutiert seine Thesen anhand zahlreicher Beispiele aus allen Bereichen der Künste (bildende Kunst, Film, Fernsehen, Musik, Theater, Poesie, virtueller Kunst etc.) aus weiten Teilen der Welt. Durch die Fokussierung auf die wirtschaftlichen Dynamiken und die internationale Bandbreite der Fallbeispiele ergeben sich aufschlussreiche Einblicke in einzelne Teile des globalen Kunstsystems, zum Beispiel den Kunstmarkt oder das diskursive Feld um kulturelle Diversität innerhalb der verschiedenen künstlerischen Bereiche. Damit wird dezidiert auf die Verflochtenheit von ökonomischen und kulturellen Mechanismen innerhalb der Kunstwelt verwiesen.
79 80 81 82 83 84
Ginsburgh 1996. Ginsburgh/Throsby 2006. Frey 2003. Blomberg 2005. Dossi 2007. Smiers 2003.
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ETHNOLOGISCHE
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P ERSPEKTIVE Kulturanthropologie ist die Wissenschaft von (fremden) Kulturen, von ihrer Erfahrung, Analyse und Darstellung. Seit den 1970er Jahren ist sie zu einer Leitdisziplin für die Kulturwissenschaften geworden. DORIS BACHMANN-MEDICK I’m always astonished and chagrined to find how little ethnography and ethnographic history people in the academy and art world at large actually know. JAMES CLIFFORD
Das Interesse an der gesteigerten kulturellen Vielstimmigkeit innerhalb der Kunstwelt und der daraus entstehenden Diskurse impliziert, die Verhandlung kultureller Differenzen als eine Dimension von Globalsierung in den Vordergrund der Untersuchungen zu stellen. Diese Herangehensweise resultiert nicht zuletzt auf der ethnologischen Perspektive der Autorin. Im Verlauf dieses Abschnitts werden diejenigen allgemeinen ethnologischen Paradigmen und die damit verbundenen spezifischen, im Bereich der Kunstethnologie entwickelten Aspekte vorgestellt, die wichtige Wegmarken theoretischer und methodischer Orientierung für die vorliegende Studie darstellen. Mit dem Anspruch, den kulturwissenschaftlichen Blickwinkel nicht nur interdisziplinäre, sondern auch international zu erweitern und aufgrund der Fokussierung brasilianischer Kunst im documenta-Kontext, werden auch Beiträge lateinamerikanischer, insbesondere brasilianischer KulturforscherInnen mit in den theoretischen Diskurs mit einbezogen. 1.3.1 Ethnologische Selbstreflexivität und die Internationalisierung der Kulturwissenschaft(en) Eher ist es die Entwicklung der modernen Kulturanthropologie seit den 1970er Jahren, die mit ihren lebhaften Methoden- und Kulturdebatten eine Selbstreflexion der Disziplinen in ihren kulturspezifischen Erkenntnisweisen und Forschungspraktiken angeregt hat. DORIS BACHMANN-MEDICK
Ab den 1970er Jahren kam es zu einer Neukartierung des Theorien- und Methodenkanons ethnologischer Forschung, eine Bewegung, die sich sukzessiv auf andere Fächer der Geisteswissenschaften übertrug. Häufig wird in diesem Zusammenhang von einem cultural turn oder mehreren cultural
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turns – über den linguistic turn bis hin zu einem iconic turn – innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften gesprochen: »Die Rede ist von bahnbrechenden Neuorientierungen, die zuerst im Feld der Kulturanthropologie ausgebildet wurden wie interpretive turn, performative turn und reflexive turn und die dann im Wechsel der Leitdisziplinen einen postcolonial turn ebenso wie einen spatial turn und einen iconic turn/pictorial turn hervorgebracht haben – neuerdings auch einen translational turn.«85
Sehr knapp zusammengefasst lässt sich sagen, dass es insbesondere die Infragestellung eines essentialistischen Kulturkonzepts, die Diskussion um eine adäquate Repräsentation von Kultur(en) und die Hinwendung zu disziplinenübergreifender Forschung waren, die zu besagten Neuorientierungen oder turns anregten. Diese Prozesse sind mittlerweile hinlänglich bekannt und ausformuliert worden86. An dieser Stelle gilt es, das Moment der Selbstreflexion, welches die ständige Revision bestehender theoretischer und praktischer Motive auslöst, als maßgebliches Element eines zeitgemäßen, international ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Arbeitens hervorzuheben. Denn, so formuliert es Iris Därmann treffend, ist das, »[w]as die Kulturwissenschaften in programmatischer Hinsicht ganz zu Recht nicht müde werden kategorisch einzuklagen, nämlich einen ›Perspektivenwechsel‹ hin zu einer ›nicht-europazentrischen Historie‹, die Aufarbeitung und Ächtung eines mehr oder minder subtilen wissenschaftlichen Kolonialismus und die (zum ständigen Gemeinplatz gewordene, aber allerorts unausgeführte) ›Dekonstruktion‹ okzidentaler Praktiken, […] also auf dem Niveau der wissenschaftlichen Praxis, der methodischen Ausrichtung, konkreten Forschung und inhaltlichen Debatten bisher mehr oder minder folgenlos geblieben.«87
Nur äußerst selten werden in deutsch- und englischsprachigen kulturwissenschaftlichen Studien Beiträge von nicht-europäischen und nicht-USamerikanischen Forschern/innen rezipiert, ein Phänomen, das bisher weitgehend unkommentiert hingenommen wurde. Eine kosmopolitisch ausgerichtete Kulturforschung wird in der Kulturanthropologie dagegen schon länger proklamiert und die eigene Disziplin einer kritischen Reflexion unterzogen. So macht der brasilianische Kulturanthropologe Gustavo Lins Ribeiro darauf aufmerksam, dass die akademische Anthropologie der nördlichen Hemisphäre keinen ausreichenden Horizont für die Produktion ethnologischen Wissens auf globaler Ebene darstellt. »I view anthropology as a cosmopolitics about the structure of alterity that pretends to be universal but that, at the same time, is highly sensitive to its own limitations and to the
85 Bachmann-Medick 2006: 7-8. 86 Siehe dazu z.B. Bachmann-Medick 2003; Bachmann-Medick 2006. 87 Därmann 2007: 19.
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efficacy of other cosmopolitics.«88 Diese Aussage impliziert die Forderung nach Anerkennung von und kritischer Auseinandersetzung mit Beiträgen, Konzepten und Theorien der vom Autor als »non-hegemonic« bezeichneten Anthropologen/innen in den hegemonialen Wissenschaftszentren. Ribeiro führt hier den Begriff der Heteroglossie ein. Auch James Clifford hatte in der Einleitung des Bandes »The Predicament of Culture« den Begriff der heteroglossia von Mikhail Bakhtin aufgegriffen, um die globale Situation zu beschreiben, die er als Herausforderung einer selbstkritischen Ethnologie versteht: »With expanded communication and intercultural influence, people interpret others, and themselves, in a bewildering diversity of idioms – […]. This ambiguous, multivocal world makes it increasingly hard to conceive of human diversity as inscribed in bounded, independent cultures.«89 Ribeiro setzt den Begriff nun zur Beschreibung der Methode anthropologischer Wissensproduktion im globalisierten Weltgeschehen ein – einer Methode mit dem Ziel fruchtbaren Austauschs von Wissen auf internationaler Ebene –, die darüber hinaus nicht allein auf das akademische Feld beschränkt bleibt: »Heteroglossia in anthropological production should start with the recognition of an enormous production in different world locales that needs to gain visibility if we take seriously the role of diversity in the construction of denser discourses and crossfertilization. […] Finally, it should also mean an intellectual critique, and subsequent critical action, on the mechanisms that sustain such uneven exchanges not only within the academic milieu but also without it, involving other forms of knowledge production, other cosmopolitics about otherness.«90
Mit diesem Vorgehen wird die anthropologische Disziplin im globalen Weltgefüge und dessen Geschichte verortet und reflektiert. Es wird dabei keinesfalls übersehen, dass sie sich als europäische Wissenschaft herausgebildet hat, die dominante Stellung der daraus erwachsenen Ansätze jedoch hinterfragt und aufgebrochen: »Anthropology, from its inception, is a cosmopolitics with a Western origin. […] The fact that anthropology expanded from the North Atlantic region to other corners of the world does not mean it cannot benefit from its many different existing versions and from the different tensions it created with pre-existing local systems.«91
Zusammen mit dem kolumbianischen Kulturanthropologen Arturo Escobar ist Ribeiro Herausgeber des Bandes »World Anthropologies. Disciplinary
88 89 90 91
Ribeiro 2006: 365. Clifford 1988: 22. Ribeiro 2006: 371-372. Ribeiro 2006: 374.
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Transformations within Systems of Power«92. Die darin zusammengestellten Beiträge thematisieren den aktuellen Status ethnologischer Forschung und ihrer jeweiligen Modifikationen innerhalb verschiedener regionaler Kontexte, »in order to assess the diversity of relations between regional or national anthropologies and a contested, power-laden Western discourse.«93 Es sei hier angemerkt, dass die ethnologische Ausbildung auf internationaler Ebene zweifelsfrei auf euroamerikanische theoretische Grundlagen der Ethnologie bzw. der Cultural Anthropology zurückgeht. Im unmittelbaren regionalen Umfeld unterliegen ethnologische Konzepte und Methoden in ihrer Anwendung und Diskussion allerdings Einflüssen, die zu einer spezifischen Prägung regionaler und nationaler Ethnologien führen. In diesem Sinne sprechen Ribeiro und Escobar von Anthropologien im Plural, die sich durch ihre kontextspezifische Färbung vom ethnologischen Kanon in Europa und den USA abheben. Das Projekt »World Anthropologies« verfolgt zusammengefasst zwei zentrale Ziele: Zum einen bemüht es sich um die kritische Betrachtung des sich verändernden Gefüges verschiedener so genannter ›westlicher‹ Diskurse und Praktiken innerhalb und über nationale und internationale Machtfelder hinaus; zum anderen tritt es für die Schaffung einer vielfältigen Landschaft von Anthropologien ein, die weniger von den bisher dominierenden Hegemonien beherrscht und offener für das mehrstimmige Potential ist, welches durch weltweite Entwicklungen entsteht. Es steht für die Förderung internationaler Kommunikation bei gleichzeitiger Akzeptanz unterschiedlicher existierender wissenschaftlicher Perspektivierungen: »It is time to strive for polycentrism and heteroglossia in lieu of monological hegemony. A world anthropologies perspective is precisely about reworking existing divides without obliterating the real differences that exist.«94 Dabei werden vor allem Fragen nach Entwicklung und Bedeutung des institutionellen Kontextes, dem Umgang mit der Moderne, dem Umgang mit Diversität und Fremdheit und damit verbunden nach Versuchen der Geschichtsschreibung unterschiedlich kodierter ethnologischer Theorie und Praxis aufgeworfen. Der von den drei Sozialanthropologen/innen und Soziologen/innen Shalini Randeria, Martin Fuchs und Antje Linkenbach herausgegebene Sammelband »Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu Indien.«95 kann als ein ähnliches Unternehmen betrachtet werden. Es stellt den Versuch einer zeitgemäßen Betrachtung von Moderne als einem ursprünglich europäischen Konstrukt und ihrer unterschiedlichen regionalkontextuellen Prägungen dar. Die in dem Buch zusammengetragenen Beiträge stammen neben denjenigen aus der Sozialanthropologie zu einem großen Teil aus der Soziologie, der Politikwissenschaft und den Geschichtswissenschaften und wid-
92 93 94 95
Ribeiro/Escobar 2006. Ribeiro/Escobar 2006: Klappentext. Ribeiro/Escobar 2006: 14. Shalini/Fuchs/Linkenbach 2004.
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men sich alle der Moderne im indischen Regionalkontext. Im Aufdecken der spezifischen Konfiguration einer indischen Moderne wird insgesamt für ein Konzept multipler oder alternativer Modernen argumentiert. Die AutorInnen plädieren mit ihren Beiträgen ebenso für die Förderung eines kontinuierlichen Dialogs zwischen Sozialwissenschaftlern/innen unterschiedlicher regionaler Kontexte, denn nur auf diese Weise ist es letztendlich möglich, vorherrschende, hegemoniale Diskurse – nicht nur bezüglich der Moderne – aufzubrechen.96 Grundsätzlich gilt es, sich als WissenschaftlerIn darüber bewusst zu sein, dass auch das Feld der Wissenschaft(en) keine neutrale Sphäre darstellt, sondern ebenfalls von hegemonialen Dynamiken bestimmt ist. Die eigene Position und damit die wissenschaftliche Perspektivierung und Herangehensweise sind dahingehend zu reflektieren. 1.3.2 Differenz und Fremderfahrung: methodische Kernelemente der Globalisierungsforschung Es ist die Kategorie des Fremden, mit der die Kulturanthropologie eine Pluralität von Kulturen behauptet und mit der sie einen interkulturellen Untersuchungshorizont abgesteckt hat, der auch für andere Kulturwissenschaften fruchtbar geworden ist. DORIS BACHMANN-MEDICK Why should we cherish heterogeneity and diversity more than homogeneity and uniformity in anthropology? We should do so not only because we are professionally sensitive to issues of cultural and political difference but also because, as scholars, we know that diversity and creativity feed on each other, that a greater pool of different perspectives represents greater capacity for invention. GUSTAVO LINS RIBEIRO/ARTUR ESCOBAR
Wie mittlerweile alle Gegenstände, die unter dem Label kultureller Produktion zusammengefasst werden können, erweist sich auch Kunst durch ihre Einbindung in international übergreifende Netzwerke als Sujet, das nur noch vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen richtig erfasst werden kann: »Really there is no longer any such thing as a cultural isolate, since all the spaces occupied and symbolized by humanity are now being analysed in
96 Vgl. Shalini/Fuchs/Linkenbach 2004.
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a global context.«97 Neben der räumlichen Ausbreitung von Kunstinstitutionen und der zunehmenden Mobilität von Künstlern/innen und ihrer Kunstwerke werden Globalisierungseffekte vor allem in der kontinuierlichen Erweiterung und Verdichtung der Diskursführung sowohl auf lokaler als auch globaler Ebene evident. Im Diskurs werden nicht allein die äußerlichen, räumlichen Globalisierungsdimensionen sichtbar, sondern die wechselseitigen Einflüsse kulturell unterschiedlicher Positionen und Traditionen. Zudem offenbaren sich die damit verbundenen Kontroversen und nicht zuletzt die impliziten Machtverhältnisse im globalen Feld der Kunst. Durch die Aufschlüsselung der Diskurse werden Globalisierungsmechanismen in ihrer Komplexität greifbar. Über das Internet, das Fernsehen oder die Printmedien sind die Übertragungen und Verknüpfungen verschiedener Stimmen aus allen Teilen der globalen Kunstwelt sehr viel schneller und breiter gefächert möglich als die visuellen Botschaften von Kunstwerken über feststehende Institutionen wie Museen oder Universitäten. Dies bewies jüngst das Zeitschriftenprojekt der »documenta 12«, das mehr als 90 Redaktionen diverser Medien zu einem global übergreifenden Diskursfeld zusammengeschaltet und damit einen weltweiten Austausch künstlerischer, kunstwissenschaftlicher, kunstkritischer etc. Beiträge stimuliert hatte. Zur diskursiven Vorbereitung der Ausstellung wurden ein Jahr vor ihrer Eröffnung vier Symposien in Europa, Indien, der Karibik und Afrika ausgetragen, das heißt der Leiter der »Documenta11« war den Diskursen auf vier verschiedenen Kontinenten regelrecht entgegen gereist. So wurden auch diejenigen KünstlerInnen und TheoretikerInnen direkt in den documenta-Diskurs eingebunden, die nicht nach Kassel reisen konnten – vor allem aufgrund ökonomischer Bedingungen. Nicht zu Unrecht hat Sidney Littlefield Kasfir also darauf hingewiesen, dass der Kunstdiskurs als ein Element der Kunstwelt »wahrscheinlich am globalsten«98 ist. Fragen nach den diskursiven Rahmenbedingungen für die globale Produktion, Vermittlung, Rezeption und Bewertung von Kunst induzieren die Auseinandersetzung mit vorherrschenden Divergenzen in der globalen Kunstwelt – seien diese nationalstaatlich, ethnisch, geographisch, historisch, ideologisch, gesellschaftlich, politisch oder formalästhetisch konnotiert. Besonders brisant ist hierbei die kritische Hinterfragung bestimmter Paradigmen, die in engem Zusammenhang mit der Vormachtstellung der europäischen und US-amerikanischen Zentren der globalen Kunstwelt stehen. Okwui Enwezor hatte diese Debatten mit der »D11« 2002 gezielt in den Vordergrund des Ausstellungsprojekts gestellt und zu einem Kernthema des Globalisierungsdiskurses der Kunstwelt erhoben. Bis heute hat die Problematik der hegemonialen Einflüsse und Ungleichgewichte innerhalb der kulturell pluralen Kunstwelt nicht an Aktualität verloren.
97 Augé/Colleyn 2006: 15. 98 Kasfir 2003: 60.
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Die Untersuchung differierender kultureller Formen und Prozesse erfordert das Vermögen, das ›Anderssein‹ eines Gegenübers aus der eigenen, reflektierten Position heraus zu erkennen und zu begreifen. Dieses als relationale Fremderfahrung bezeichnete Konzept stellt ein methodisches Kernelement ethnologischer Forschung dar. Es gründet auf der Tradition des Faches als der »Wissenschaft vom kulturell Fremden«99, die in der Anfangsphase der ethnologischen Forschung formuliert wurde und die ethnologische Perspektive bis heute prägt: »Denn bei der Untersuchung jener kleinen, homogenen und relativ isolierten menschlichen Gruppen wurden Sichtweisen entwickelt, die sich bald auch bei der Untersuchung verwandter sozialer Phänomene in der eigenen Gesellschaft bewährten. Der durch das Studium fremder Kulturen geschulte ethnologische Blick wirkt verfremdend, sobald er sich der eigenen Kultur zuwendet. Relationale ›Fremdheit‹ kann so in den Rang eines methodischen Prinzips erhoben werden. Gerade darin besteht eine der großen Entdeckungen der Ethnologie: eine Perspektive entwickelt zu haben, die es erlaubt, die eigenen sozialen Institutionen, Normen und Werte, Gewohnheiten und kulturellen Selbstverständlichkeiten aus der distanzierten Sicht eines von außen kommenden Beobachters zu betrachten.«100
Die Sicht eines von außen kommenden Beobachters impliziert dabei die Reflexion der eigenen Position an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Kontext und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Außerdem ist die Fokussierung auf bestimmte kulturelle Dispositionen aus dieser relationalen Sicht heraus immer als spezifische Momentaufnahme zu denken. Gerade für den Zweig der kulturanthropologischen Globalisierungsforschung, der sich unter anderem der Aufschlüsselung aktueller Prozesse von kultureller Differenzierung und Assimilierung in verschiedenen Lebensbereichen widmet, behält dieses aus der Perspektive anderer Fachgebiete oft kritisierte Konzept elementare Bedeutung. James Clifford bemerkt in Reaktion auf Edward Saids Werk »Orientalism«101, dass trotz strikter Kritik an essentialistischen Kulturkonzepten und der Aufrechterhaltung oppositioneller Denkstrukturen (Orient/Okzident) keine Notwendigkeit bestünde, »to discard theoretically all conceptions of ›cultural‹ difference, especially once this is seen as not simply received from tradition, language, or environment but also made in new political-cultural conditions of global relationality.«102 Das globalisierte Weltgefüge ist als der alles prägende Hintergrund jeglicher Dispositionen menschlichen Lebens zu verstehen, der sowohl Differenzen generiert als
99 100 101 102
Siehe Kohl 2000. Kohl 2000: 96-98. Said 1979. Clifford 1988: 274.
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auch miteinander verbindet, auflöst und im Dialog wieder neu entstehen lässt: »The global framework is now an interactive space of difference.«103 Die globale Kunstwelt wird hier als ein Teilbereich dieses übergeordneten interaktiven Differenzraumes verstanden, zu dem es sich analog verhält. Manchmal sind kulturelle Unterschiede deutlich erkennbar, beispielsweise durch konkrete Bildinhalte und Formensprachen, eine bestimmte Darstellungsform einzelner Kunstwerke und/oder eine spezifische Etikettierung der Objekte (national, ethnisch, geographisch, religiös etc.). Häufig verschwinden sie aber auch unter der formalästhetischen Oberfläche bildender Kunst, die grundsätzlich alle Formen visuellen Ausdrucks in jedem Kontext ermöglicht und kulturell bedingte Unterschiede nicht notwendigerweise exponiert. Durch die methodische Fokussierung der Arbeiten brasilianischer KünstlerInnen in den documenta-Ausstellungen seit 1992, der dazugehörigen Katalogtexte und zuletzt der in den »documenta 12 magazines« erschienenen Beiträge brasilianischer AutorInnen wird es im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit möglich, kulturell spezifische Momente brasilianischer Gegenwartskunst innerhalb eines globalen Zusammenhangs auszuloten. Diese werden vor allem auf einer (verbal-)diskursiven, kulturtheoretischen Ebene evident und nehmen damit eine bedeutende Rolle für den Globalisierungsdiskurs ein. Die Konzepte und Denkweisen, die sich mit der brasilianischen Kunstgeschichte entwickelt haben, tragen zu einem Verständnis der globalen Anschlussfähigkeit brasilianischer Kunst innerhalb der Kunstwelt bei und erlauben zudem eine fruchtbare Reflexion der globalen Kunstwelt insgesamt als einem kulturell pluralen Interaktionsraum. Die bewusste Hervorhebung von Differenzen – in positiver wie negativer Hinsicht – spielt grundsätzlich eine erhebliche Rolle für die Definition und Bewertung von bildender Kunst im Bereich der Kunstkritik und auf dem Markt, denn nur durch Differenzierung wird die Spannung zwischen Objekten erzeugt, die die Wertigkeit dieser definiert: »Art critics produce their stories and sensibilities as part of larger, ideological concerns about art and the world: chiefly, it would appear, against the threat of ›mass culture‹, ›kitsch‹, ›the market‹, and ›commodification‹. Yet the work of critics is deeply embedded in a capitalist marketplace, fueled by novelty and ›difference‹ to offer buyers.«104
Es geht in dieser Studie eindeutig nicht darum, übereifrig möglichst zahlreiche (kulturelle) Differenzen zwischen brasilianischem und nicht-brasilianischem Kunstschaffen aufzudecken. Anhand der aufgeführten Beispiele soll vielmehr die Bedeutung künstlerischer Auseinandersetzungen auf einer globalen Ebene erklärt werden, die über die visuellen Aspekte von Kunst hinausgehen. Denn wie es der Autor und Kunstkritiker Thomas McEvilley
103 104
Filltiz 2002b: 221. Myers 1995: 79.
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es beschreibt, gewinnen die bildenden Künste ihre globale gesellschaftliche Bedeutung heute relativ unabhängig von formalen Begriffen der ästhetischen Oberfläche.105 Der Blick für bestehende Ungleichheiten soll geschärft, ein zu starres Differenzdenken jedoch vermieden werden. Nur auf diese Weise kann in der heutigen Situation ein Gleichgewicht globalisierter (kultureller) Verhältnisse entstehen: »A more genuinely global array of voices and visions comprises its project of cultural balancing. While it affirms cultural difference as too real to be ignored, this process also relativizes them, denying that any of them amounts to an absolute or universal, or can ever again pretend to such a transcendent status.«106
1.3.2.1 Anleihen aus der brasilianischen Kulturtheorie Zu einem möglichst umfassenden Verständnis der gegenwärtigen Diskussionen innerhalb der internationalen Kunstwelt sollen verschiedene Konzepte herangezogen werden, die sich der Problematik der (kulturellen) Überlagerungen und Aushandlungen von Differenzen im Zuge der so genannten Globalisierung stellen. Zu einem besseren Verständnis der brasilianischen Diskurse ist nicht zuletzt auch die Reflexion lateinamerikanischer, insbesondere brasilianischer Ansätze aus der Kulturforschung durchaus sinnvoll. Die Kenntnis theoretischer Entwürfe der brasilianischen Kulturanthropologie, die auf Konzepten wie der fricção interétnica (interethnische Reibung) – in den 1960er Jahren von Roberto Cardoso de Oliveira formuliert und sich vor allem mit den Folgen des Aufeinandertreffens der brasilianischen Gesellschaft mit den indigenen Gruppen Brasiliens auseinandersetzend – aufbauen, oder Überlegungen, die auf den zahlreichen Studien der afrobrasilianischen Kulturformen basieren, sind für das Projekt weiterführend.107 Der Umgang der brasilianischen Kulturanthropologie mit Differenzen, dem Anderen, dem Fremden etc. entfaltete sich aufgrund der starken Beschäftigung mit der eigenen gesellschaftlichen Konstellation des Landes und deren Entwicklungsgeschichte anders als in der in Europa oder den USA betriebenen Ethnologie. »For Brazilian anthropologists it has been difference, whether social or cultural, and not exoticism, that has provided the focus of attention when they look for alterity. This characteristic perhaps explains why, as opposed to the place where exoticism is
105 106 107
Vgl. McEvilley 1992: 129. McEvilley 1992: 11-12. Zur Entwicklung der brasilianischen Anthropologie siehe Melatti 1984; Cardoso de Oliveira 1998; Peirano 2005.
42 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS threatening to destroy the discipline or, at least, displace it, Brazilian anthropologists tend to share an optimistic perspective.«108
In Brasilien entwickelte sich das Konzept der minimalen Alterität109 oder des nahen Fremden. Das ›nahe‹ Fremde ist in gewisser Hinsicht immer Teil des Eigenen und erlaubt einen dezidierten Blick auf Unterschiede und damit auch die Wahrnehmung unterschiedlicher Dimensionen von Differenzen: »While in canonical terms it was radical to the point of (ideally) being foreign, when acculturated in other latitudes alterity has often translated into relative rather than exotic differences. Whether near or far, these differences can be cultural, social, economic, political, religious, territorial. In other words, the process that in the metropolitan centers took a century to develop – that is, bringing the discipline home from abroad – in Brazil took no more than three decades.«110
Die Betrachtung globaler Systeme wie z.B. der Kunstwelt setzt das Erkennen naher Differenzen voraus, da sich solche Systeme gerade durch ihre Dichte an kulturellen Unterschieden und ihre Präsenz an vielen Orten der Welt auszeichnen. Der Umgang der brasilianischen Ethnologie mit Differenzkonzepten entpuppt sich dabei offensichtlich als viel unbekümmerter – dabei keineswegs unkritischer – als beispielsweise in Europa, da der Aspekt des Exotismus selbst nie eine problematische Rolle eingenommen hat: »In Brazil, though exoticism has never been an issue in itself, some dimension of alterity has and continues to be a basic trait of anthropology.«111 Möglicherweise kann es durch die Orientierung an einer brasilianischen Sicht auf die Dinge auch gelingen, der Kategorie des Fremden seinen Exotenbonus abzusprechen und sie als weniger essentialistisch und damit weniger argwöhnisch zu betrachten. Neben brasilianischen Kulturanthropologen/innen beschäftigten und beschäftigen sich vor allem auch KünstlerInnen mit der Thematik der Überlagerung, Vermischung und Veränderung kultureller Ausdrucksformen. Von besonderem Wert für die Auseinandersetzung mit der Rolle brasilianischer Gegenwartskunst im internationalen Kunstbetrieb ist das Konzept der antropofagia (port.: Menschenfresserei, Kannibalismus). Es entwickelte sich im Kontext einer kulturellen Bewegung der brasilianischen Moderne, deren Manifest im Jahr 1928 von Oswald de Andrade verfasst wurde112. Mit seiner Kannibalismus-Metaphorik, die den Prozess vom Verschlingen und Ausscheiden kultureller Elemente beschreibt, bietet es einen besonderen Zugang zur Beschäftigung mit den Mechanismen von Differenzierung und
108 109 110 111 112
Peirano 2005: 69-70. Peirano 2005: 65 ff. Peirano 2005: 55. Peirano 2005: 54. Andrade 1928.
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Assimilierung, vor allem im Umgang mit Hybridität. Viele der in Brasilien entwickelten Kulturkonzepte sind eng mit der Suche nach einer brasilianischen Nationalität verbunden im Sinne einer kulturellen Identität, die auf dem Zusammenwirken verschiedener kultureller Elemente unterschiedlicher Herkunft beruht. Schließlich gilt es zu beachten, dass Differenzen und Alteritäten immer im Sinne dynamischer Konstrukte oder Konstruktionen verstanden werden. Dieses Verständnis entspringt vor allem der Auffassung, die sich gegen die Idee eines essentialistischen Kulturkonzepts richtet. Es gilt zu beachten, dass man sich auch als ForscherIn immer in einem gewissen Grade an solchen Konstruktionsmechanismen beteiligt, indem man seinen eigenen Forschungsgegenstand wählt und definiert, selbst wenn heute die Definitionen ethnologischer Forschungsobjekte nicht mehr auf der strikten Unterscheidung von Eigenem und Fremden beruhen. Thematisiert man zum Beispiel gezielt brasilianische Gegenwartskunst, setzt man eine oder mehrere bestimmte Unterscheidungen zu anderen zeitgenössischen Kunstwerken voraus, die aus einer anderen Perspektive möglicherweise keine Bedeutung haben, nicht wahrgenommen oder gar verurteilt werden. Differenzierung bedeutet immer auch Ab- und Ausgrenzung, dessen sollte man sich gerade als KulturwissenschaftlerIn stets bewusst sein: »Wer die Definitionsmacht hat, der zieht Grenzen.«113 Für die Ethnologie hatte Werner Schiffauer folgende Warnung formuliert: »Die Ethnologie kann am Begriff des Anderen festhalten, muß sich aber gewahr sein, daß dies immer problematisch und im Grenzfall gefährlich ist – und daß sie sich damit schuldig macht.«114 Aber eben erst durch die Konstruktion bzw. die Wahrnehmung eines Anderen ergibt sich die Möglichkeit der Abgrenzung zur (Selbst-)Definition, ohne die, so Birgit Mersmann, »jeder Denkversuch […] zum Scheitern verurteilt wäre«115. Die Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin hatte ein solches Verständnis von Kultur als Differenz bereits für die deutschsprachige Bildwissenschaft formuliert: »Im Rahmen einer Euro- und Ethnozentrismuskritik gilt es, den monolithischen Block der Bildkultur des Westens, der seine eigene Kultur für potentiell universal und daher übertragbar hält, aufzubrechen und für Bildkulturdifferenzen zu sensibilisieren. […] Eine Redefinition von Bildkultur, wie sie hier angedacht wird, stützt sich auf das differenztheoretische Modell: auf Kultur als Differenz und damit auf die Differenzen von Kulturen. […] Wenn Kultur bildvermittelt ist, dann sind Bilder gleichermaßen kulturvermittelt.«116
113 114 115 116
Niekisch 2002: 29. Schiffauer 1997: 170. Mersmann 2004: 98. Mersmann 2004: 96-97.
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Um die Diskussionen in diesem Bereich transparenter und verständlicher zu machen, gilt es, bestimmte differenztheoretische Modelle anzuwenden, nicht nur bezogen auf bildvermittelte (kulturelle) Besonderheiten: »[D]ifference goes well beyond inequality and […] diversity is an asset to be cherished on epistemological, cultural, social, and ecological grounds.«117 Denn letztlich kann es auch nicht das einzige Ziel kulturanthropologischer Untersuchungen sein, die nicht-Universalität, das heißt die kulturelle Besonderheit jeglicher künstlerischer Produktionen zu beweisen.118 1.3.3 Über das Verhältnis von Ethnologie und Kunst There is an affinity between art and anthropology as discursive arenas for comprehending or evaluating cultural activity. Art and anthropology are rooted in a common tradition, both situated in a critical stance toward the ›modernity‹ of which we are both part. GEORGE E. MARCUS/FRED R. MYERS Anthropology’s articulation with modernism has been long-term, and it is only recent that anthropologists have become fully aware of the complexities of that relationship. HOWARD MORPHY & MORGAN PERKINS
Die Kunstethnologie oder im englischsprachigen Raum die anthropology of art119 hatte sich als Subdisziplin der Ethnologie (Deutschland)/Sozialanthropologie (Großbritannien)/Kulturanthropologie (USA) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zeichen der Untersuchung außereuropäischer
117 118 119
Ribeiro/Escobar 2006: 24. Vgl. Marcus/Myers 1995: 9. Der Begriff Kunstethnologie wurde im Jahr 1969 durch das Werk »Kunstethnologie: Grundbegriffe, Methoden, Darstellung« (Haselberger 1969) von Herta Haselberger im deutschsprachigen Raum eingeführt. Erst 1981 prägte Robert Layton die Bezeichnung anthropology of art im englischsprachigen Raum durch die Veröffentlichung des Buches »Anthropology of Art« (Layton 1981). Diese relativ späte Einführung der Termini weist mitunter darauf hin, dass bis vor kurzem kaum ein systemisches Konzept für das kulturanthropologische Studium von Kunst vorlag. Bis heute kann man nicht von einer Existenz einer spezifischen Perspektivierung der Kunstethnologie oder der anthropology of art sprechen. (vgl. Damme 2006 : 69).
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Formen von Kunst und Ästhetik und deren unmittelbaren kulturellen Kontexten entwickelt. Ausgehend von Franz Boas’ Schlüsselwerk »Primitive Art«120 aus dem Jahr 1927 formierte sich mit dem Begriff der ›ursprünglichen‹ oder ›primitiven‹ Kunst der klassische Gegenstand kunstethnologischer Studien. Die Bezeichnung und das Konzept des Primitiven wurden spätestens ab den 1960er/70er Jahren zwar stark kritisiert und ihre Verwendung zur Definition des Gegenstands kulturanthropologischer Forschung eingestellt die Debatten um das Phänomen des Primitivismus in der modernen Kunst und der Ethnologie sind jedoch geblieben.121 Auch beschränken sich kunstethnologische weiterhin auf Untersuchungen außereuropäischer, ethnisch definierter Gruppen und ihrer ›traditionellen‹ bzw. ›authentischen‹ Kunstformen: »In contrast with almost every other area of anthropological enquiry, research on art has persisted in focusing upon small-scale, tribal societies; virtually no work has been done on European or American art, either for a contemporary or any earlier body of work; while writing on Islamic, Asian or Mesoamerican art has tended to be curatorial and art-historical rather than anthropological.«122
Das Erscheinen von Elementen moderner europäischer Kunstpraxis in Afrika, Asien, Ozeanien, Lateinamerika etc. wurde entweder gar nicht erst thematisiert oder als negativer Einfluss auf die ›Unberührtheit‹ außereuropäischer Kunst degradiert. Die Analyse eines Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen mündete zudem in vielen Fällen in der Gegenüberstellung der rhetorischen Figuren des so genannten ›Westens‹ und ›nicht-Westens‹. So wurden gegenseitige, wenn auch durch die europäische Hegemonialstellung geprägte und daher eher asymmetrische, jedoch trotzdem durchaus fruchtbare Austauschprozesse kultureller Praktiken zu wenig beachtet. Sie scheinen erstaunlicher Weise lange nicht explizit in den Kontext kunstanthropologischer Studien gehört zu haben. Genauso wenig mag eine Hinwendung zur europäischen Kunstgeschichte und deren Einfluss auf das Kunstschaffen außerhalb Europas dem ethnologischen Kanon entsprochen haben, sich für den Erhalt der traditionellen Kulturformen außereuropäischer Gesellschaften einzusetzen. Im Zuge der gesteigerten Aufmerksamkeit anthropologischer Studien auf durch Globalisierung generierte Prozesse und Phänomene kommt es seit Ende der 1980er Jahre jedoch verstärkt zu einer Verschiebung des. Er richtet sich nun bewusst auf ein breites Spektrum gegenwartsbezogener künstlerischer Arbeiten und die Mechanismen ihrer weltweiten Rezeption und Verbreitung. Die Betrachtung zeitgenössischer Kunst im Globalisierungskontext erhält und erschließt damit eine neue Dimension kunst-
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Boas 1955. Zur Primitivismus-Debatte siehe z.B. Clifford 1988; Price 1989; Hiller 1991; Marcus/Myers 1995; Errington 1998. Thomas 1999: 263.
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ethnologischer Forschung, die eindeutig über den Horizont der vorher fast ausschließlich regional fokussierten Studien hinausreicht. Damit werden insgesamt neue Perspektiven auf globale Dispositionen eröffnet, die auch auf andere Bereiche der kulturellen Globalisierungsforschung übertragbar sind: »The anthropological study of art has recently had an important impact on anthropological studies of social change and processes of globalization. The impact has been in two main areas: in the study of processes of trade and exchange, and in the discourse on the process of globalization, including the conceptualization of cultural boundaries.«123
Immer weniger geht es nun um die Interpretation einzelner künstlerischer Objekte und ihre Bedeutung und Verwendung im unmittelbaren Umfeld ihrer Herstellung. Relevant werden vielmehr aktuelle Debatten um zeitgenössische Kunst aus allen Teilen der Welt, die als international übergreifende Diskurse einzelne lokale Kunstkontexte maßgeblich prägen und sie im selben Moment in ein globalisiertes Gefüge künstlerischer Produktion und Diskussion einordnen. Kulturelle Differenzen werden vor allem in den innerkunstweltlichen Dialogen evident und die globale Kunstwelt avanciert zu einem neuen ethnologischen Forschungsfeld. »In contemporary cultural life, art is becoming one of the main sites of cultural production for transforming difference into discourse, for making it meaningful for action and thought.«124 Im Zuge dieser Entwicklungen kommt es zu Neuorientierungen theoretischer und methodischer Herangehensweisen, die eng mit der Reflexion der wissenschaftlichen Position und Perspektive kunstanthropologischer Forschung im Verhältnis zu ihrem Gegenstand verbunden sind. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich dieses Verhältnis als relativ vielschichtig und ambivalent. Grundlegend hierfür ist die Erkenntnis oder vielmehr das Eingeständnis, dass kunstethnologische Kategorien und Praktiken selbst auf der Basis eines abendländischen Verständnisses von Kunst entwickelt wurden. So bemerkt der Kulturanthropologe José António Dias: »É que no modo como consideramos os artefactos não ocidentais não é independente das concepções ocidentais de arte. Os modos europeus de ver, de avaliar e de classificar os objectos exóticos, e as transformações por que passaram ao longo dos últimos cinco séculos que marcam o tempo da globalização, mas também da construção de um domínio artístico específico e relativamente autónomo, espelham
123 124
Morphy/Perkins 2006b: 18. Marcus/Myers 1995: 34-35.
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as nossas noções de arte e as transformações por que estas passam, também, no mesmo período.«125
1.3.3.1 Refiguring Art and Anthropology Die beiden US-amerikanischen Kulturanthropologen George E. Marcus und Fred R. Myers haben im Einleitungstext des Bandes »The Traffic in Culture. Refiguring Art and Anthropology«126 Analogien und Überschneidungen der Bereiche der modernen Kunst und der Ethnologie erörtert. Aus dieser Gegenüberstellung leiten sie Argumente für die adäquate Anwendung ethnologischer Methoden zur Untersuchung künstlerischer Phänomene der Gegenwart und insbesondere ihrer Kontextualisierung innerhalb der internationalen Kunstwelt ab. Das enge Verhältnis der beiden Gebiete gründet laut Marcus und Myers auf der gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung wichtiger Konzepte ethnologischer und künstlerischer Theorie und Praxis seit dem Aufkommen der Moderne in Europa. Besonders wichtig sind zunächst die Einwirkungen der klassischen Moderne und der mit ihr verbundenen theoretischen Ansätze auf kulturanthropologische Konzepte, was den beiden Autoren zufolge am offensichtlichsten in der US-amerikanischen Cultural Anthropology zu erkennen ist. Dazu zählen sowohl ästhetische Theorien, im speziellen die Wiederbelebung des Neu-Kantianismus in der deutschen Geschichtsschreibung, als auch Doktrinen der modernen Kunst, welche vor allem Begriffe wie Kreativität und Individuum valorisieren sowie eine neue Wertschätzung der Form äußern.127 »The borrowings are clearer still after World War II, when modernist understandings come to have a prominent place in anthropological cultural theory, especially within forms of symbolic analysis. One thinks of Geertz’s (1973) borrowings of the concept of ›significant form‹ from Langer (1942, 1953), who developed it specifically to justify aesthetics as a way of knowing in contrast to logical reason; of Turner’s (1969) interest in ritually produced communitas as a means of transcending the fragmented (or divided) condition imposed by the categories of everyday life; and of the univer-
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»Es ist so, dass die Art und Weise wie wir über nicht-westliche Artefakte denken, nicht unabhängig von westlichen Kunstkonzepten ist. Die europäischen Verfahrensweisen, exotische Objekte zu sehen, zu beurteilen und zu klassifizieren sowie die Veränderungen, denen sie in den vergangenen, von der Globalisierung und der Konstruktion eines spezifischen, relativ autonomen künstlerischen Machtfeldes gekennzeichneten fünf Jahrhunderten unterlagen, spiegeln unsere Begriffe von Kunst und ihre Modifikationen wider, denen diese in der gleichen Zeitspanne ausgesetzt sind.« (Dias 2001: 107, Übersetzung K.S.). Marcus/Myers 1995. Vgl. Marcus/Myers 1995: 11-14.
48 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS salization of the ›problem of meaning‹ (see Asad 1983) in an existentialism-based symbolic anthropology.«128
Als noch bedeutender aber beschreiben die Autoren die Geschichte des Verhältnisses zwischen Kunst und Ethnologie in umgekehrter Richtung, nämlich die Wahrnehmung und Verarbeitung kulturanthropologischer Interessen in Kunstdiskursen der Moderne. Am besten lässt sich dies anhand der engen Verbindung der Entwicklung moderner Kunst und der Figur des ›Primitiven‹ nachvollziehen: »The ›primitive‹ has been a token of ›otherness‹, and thereby an image from which projects of cultural criticism could be developed. Once the central province of anthropology’s identity and scholarly location, the ›primitive‹ has also been a central figure in modernist art practice. In so doing it has partially replaced the figure of ›otherness‹ embodied in classical antiquity for the Renaissance and by medieval Europe for the ›arts and crafts movement‹.«129
Auch jetzt noch erfreut sich der Begriff des ›Primitiven‹ in vielen Bereichen der Kunstwelt seiner rhetorischen Mächtigkeit, die erst langsam aufzubrechen scheint. Die Konstruktion einer einheitlichen ›ursprünglichen‹, ›authentischen‹ oder eben ›primitiven‹ Kunst »ist bis heute eine mächtige und populäre Denkfigur, an der sich noch immer Museen und Ausstellungen orientieren.«130 Anfänglich fungierte das Konstrukt des ›Primitiven‹ im Bereich der modernen Kunst als subversives Element kultureller Kritik: »Thus, by defining ›difference‹, figures such as the ›primitive‹, the ›exotic‹, or the ›tribal‹, albeit descoupled from any sense of culture as the context that shapes them as a different form of life, served to disrupt dominant conventions during several moments in the history of modern art.«131 Die Garantie für die Stichhaltigkeit und die Stabilität solcher radikalen Differenzkonzepte lieferte die Kulturanthropologie durch ihr Studium der so genannten ›primitiven‹ Kulturen. Bereits die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs des ›Primitiven‹ im Kontext ethnologischer Öffentlichkeitsarbeit trug zur breiten und zunächst weitgehend unreflektierten Akzeptanz des PrimitivismusKonzepts bei. Es gilt aber zu beachten, dass seine Anwendung in moderner Kunst und Ethnologie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts divergierte: »Anthropologist draw the line, however, at one dimension of modernist’s construction of the ›primitive‹: they rejected the ethnocentrism of Modernist artists’ attribu-
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Marcus/Myers 1995: 13. Marcus/Myers 1995: 14. Förster 2003: 222. Marcus/Myers 1995: 16.
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tions of meaning to ›primitive‹ African and Oceanic art, especially when the artists resorted to a language that verged on racism itself (›the genius of the race‹) in an effort to place these images as an expressive challenge to conventional rationality.«132
Im Zuge der Postmoderne änderte sich das Verhältnis zwischen moderner Kunst und Kulturanthropologie durch einen aufkommenden Skeptizismus und die machtvolle Kritik an verschiedenen Formen ihrer Repräsentationsrhetorik und -praxis nachdrücklich. Diejenigen Kategorien und diskursiven Praktiken, die jenes Verhältnis aufrechterhalten hatten, wurden radikal destabilisiert. Dazu zählten vor allem solche, die Differenz, Alterität oder Andersheit (otherness) systematisch zu bedeutenden Formen kultureller Kritik machten. Obgleich die Autoren immer wieder die enge Verwobenheit moderner Kunst und Kulturanthropologie durch die Überschneidung ihrer verschiedenen diskursiven Ebenen unterstreichen, verweisen sie auch gezielt auf die unterschiedliche Verortung von Kunst und Ethnologie im Feld der Wissensund Werteerzeugung durch ihre jeweilige Verknüpfung mit bestimmten Institutionen und Akteuren: »That is, art discourse and art production are very close to significant instrumentalities – large vectors of power and money – from which anthropology is relatively distant.«133 In diesem ambivalenten Verhältnis jedoch liege schließlich das Potential einer Neuverhandlung der kulturanthropologischen Perspektive auf das Feld der Kunst unter den Prämissen postmoderner Erschütterungen bei gleichzeitiger Selbstreflexion der eigenen disziplinären Positionierung: »In the future, then, the critical functions of art and anthropology, once more or less closely aligned, are certain to become more divergent. In this divergence arises the possibility of a connected but distanced ethnographic perspective on art that has, at the same time, dialectic possibilities for reflecting back on anthropology’s own positioning.«134
Vor diesem Hintergrund formulieren Marcus und Myers das Konzept einer kritischen Ethnographie der Kunstwelt(en). Diese konzentriert sich vor allem auf die Untersuchung diskursiver Kontexte der zeitgenössischen Kunstproduktion sowie ihrer Präsentation und Rezeption auf internationaler Ebene. »In this regard, the very specific anthropological critique would concern the art world’s manner of assimilating, incorporating, or making its own cross-cultural difference.«135 Der Aufsatz von Marcus und Myers ist für einen kulturwissenschaftlichen Blick auf die globale Kunstwelt mit ethnologischem Fokus von maßgeblicher Bedeutung.
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Marcus/Myers 1995: 18. Marcus/Myers 1995: 26. Marcus/Myers 1995: 31. Marcus/Myers 1995: 33.
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1.3.3.2 Contemporary Art and Anthropology Neuere Ansätze in der Kunstethnologie regen eine gegenseitige Übernahme von Methoden und Praktiken künstlerischer Positionierungen an. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Strategien der Repräsentation (nicht nur) visueller Kultur(en): »As anthropology continues to explore the existence of different visual cultures and ways of seeing it needs to simultaneously explore a wider range of visual strategies in gathering, producing, and exhibiting work. This will only be achieved through the development of new practices.«136
Arndt Schneider und Christopher Wright argumentieren in der Einleitung des im Jahr 2006 erschienenen Sammelbands »Contemporary Art and Anthropology«137, dass sowohl die Arbeiten von Ethnologen/innen als auch die von Künstlern/innen schließlich komplexe Übersetzungen fremder Realitäten sind. Das Oppositionspaar von Subjektivität und Objektivität in Übertragung auf Anthropologie und Kunst sei deshalb nicht länger tragbar: »Artists and anthropologists are practitioners who appropriate from, and represent, others. […] The status of their respective representational strategies, when compared with each other, has changed, and differences and similarities between ethnographic authority and artistic authorship have similarely refigured.«138
Insgesamt erscheint eine solche Sichtweise durchaus plausibel und anregend. Die vorliegende Studie orientiert sich allerdings an dem eben dargestellten ethnologischen Konzept einer relativen Distanz. Weniger geht es um die Darstellung eines bestimmten kulturellen Anderen, sondern darum, die Mechanismen und Kategorien aufzudecken, in denen oder durch die kulturelle Differenzen im Kunstsystem sichtbar werden. Abhandlungen, in denen eine Überschneidung der Methoden von Kunst und Ethnologie die Repräsentation von Differenzen betreffend verhandelt werden, dienen daher eher selbst als Untersuchungsobjekte, das heißt als tief in die Diskurse über zeitgenössische Kunst eingebunden. Relative Distanzierung bedeutet allerdings nicht, dass die eigene (wissenschaftliche) Position als neutral angenommen werden darf. Allein die eben dargestellten Überschneidungen zweier verschiedener Systeme kultureller Produktion sprechen dagegen. Der ethnologische Blick auf Diskurse innerhalb der globalen Kunstwelt erfolgt aus einer Position, die selbst durch ähnliche Diskurse bestimmt bzw. erschüttert wird. Er generiert sich als selbstkritisch beobachtender Blick und erlaubt es des-
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Schneider/Wright 2006: 25. Schneider/Wright 2006. Schneider/Wright 2006: 26.
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halb, sich überschneidende, in die gleiche Richtung laufende Linien, aber auch gezielt gegenläufige Positionen zwischen den in beiden Feldern geführten Diskursen zu erkennen und letztendlich auch füreinander fruchtbar zu machen. Dies wird sich vor allem in der theoretischen Aufarbeitung des Konzepts der antropofagia zur Erweiterung eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes zeigen. Denn das in den 1920er Jahren entwickelte künstlerische Konzept der Aneignung kultureller Differenzen erweist sich speziell für die Analyse brasilianischer Kunst und Kunstdiskurse im Rahmen der documenta einerseits als besonders effektiv, erweitert aber gleichzeitig das gesamte Spektrum kulturwissenschaftlicher Globalisierungsforschung aus hauptsächlich europäisch und US-amerikanisch geprägter Perspektive.
2 Kunstwelt
Art worlds typically devote considerable attention to trying to decide what is and what isn’t an artist; by observing how an art world makes those distinctions rather than trying to make them ourselves we can understand much of what goes on in that world. HOWARD BECKER
Kunstwelt ist zunächst als abstrakter Begriff zu verstehen. Er leitet sich aus verschiedenen Ansätzen aus dem europäischen, soziologischen Wissenschaftskontext ab und wird im Folgenden als komplexes Konstrukt beschrieben, das sich aus einzelnen, diskursiv miteinander in Verbindung stehenden Teilelementen zusammensetzt. So wird auch das Denken verschiedener (lokaler) Kunstwelten möglich, die sich durch ihre spezifische Formation der Teilelemente und der ihnen inhärenten Diskurse auszeichnen. Ein Beispiel ist die brasilianische Kunstwelt, auf die im späteren Verlauf der Arbeit noch Bezug genommen wird. Die hier verwendete Bezeichnung Kunstwelt lehnt also an bereits bestehende Begrifflichkeiten und Lesarten an, die sich alle auf eine bestimmte Weise auf die Sphäre der Kunst beziehen, ist aber keine exakte Übernahme eines bereits bestehenden Terminus und der damit verbundenen Definition. Denn sowohl die Möglichkeit, sich auf eine schon existierende Version zu beziehen oder aber verschiedene Bezeichnungen synonym zu verwenden – zum Beispiel Kunstsystem, Kunstbetrieb oder Kunstfeld – gestaltet sich aufgrund der jeweils sehr engen Bindung an bestimmte Theorieansätze als problematisch. Rezente ethnologische Arbeiten operieren vor allem mit dem Begriff Kunstwelt (art world), wenn sie sich mit Gegenwartskunst und deren zunehmender Internationalisierung beschäftigen. Die US-amerikanischen Kulturanthropologen Fred Myers und George Marcus widmeten sich Mitte der 1990er Jahre dieser Thematik, da sie in ihren eigenen Feldforschungserfah-
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rungen zunehmend auf die enge Verbindung indigener Kunstwelten mit der globalen Kunstwelt aufmerksam wurden. Aus diesem Interesse entstand 1995 der Reader »The Traffic in Culture. Refiguring Art and Anthropology«1: »The phenomenon which probably most generated our interest in putting together this book has been the recent fascination of the art world with the ›appropriation‹ of value-producing activity on an international scale, with the assimilation of the ›art‹ of the Third and Fourth World societies anthropologists have traditionally studied.«2
Es ist zu vermerken, dass sich Marcus und Myers in ihren Überlegungen explizit auf die europäische Kunstwelt und deren Globalisierungstendenzen beziehen und keine Definition einer globalen Kunstwelt vorlegen. Die beiden Anthropologen trugen dennoch maßgeblich dazu bei, die Entwicklung der sehr spezifischen, sich in Europa generierten Kunstwelt in die ethnologische Beschäftigung mit (post-)modernen Kunstwelten mit zu integrieren: »We should state at the outset that, in thinking through the relationship between anthropology and modern art worlds, we have in mind a very specific historically situated art world: namely the contemporary, Western-centered tradition of fine arts that began with the birth of modernism and a transformed art market out of the previously dominant Academy system in nineteenth century France.«3
Die globale Kunstwelt, wie sie im Folgenden definiert wird, erschließt sich eindeutig aus einem westeuropäischen Blickwinkel heraus, denn sie basiert auf Definitionen, die im westeuropäischen Wissenschaftskontext entstanden. Die Definition einer ›westlichen‹ Kunstwelt, die sich mit der Zeit globalisiert hat, ist damit jedoch nicht gemeint.
1 2 3
Marcus/Myers 1995. Marcus/Myers 1995: 4. Marcus/Myers 1995: 3.
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2.1 B ECKER , L UHMANN UND B OURDIEU : Z UR D EFINITION DER K UNSTWELT ALS GESELLSCHAFTLICHE S PHÄRE Art worlds consist of all the people whose activities are necessary to the production of the characteristic works which that world, and perhaps others as well, define as art. HOWARD BECKER Die Kommunikation zwischen Künstlern und Kunstkennern und -genießern ist als Kommunikation ausdifferenziert, und sie findet nur im Kunstsystem statt, das sich auf diese Weise etabliert und reproduziert. NIKLAS LUHMANN Das literarische (usw.) Feld ist ein Kräftefeld, das auf alle einwirkt, die es betreten, und zwar je nach der Position, in die sie sich begeben […], in verschiedener Weise; und zugleich ist es eine Arena, in der Konkurrenten um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes kämpfen. PIERRE BOURDIEU
Kunstszene, Kunstbetrieb, Kunstsystem, Kunstfeld, Kunstwelt bzw. Kunstwelten: jeder dieser Begriffe bezieht sich auf das diffuse Gebiet der Kunstproduktion, -distribution, -präsentation etc., jedoch jeweils mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Der Ausdruck Kunstbetrieb verweist vornehmlich auf die Mechanismen der Vermarktung von Kunst, während sich die Bezeichnung Kunstszene vor allem auf das unmittelbare gesellschaftliche Umfeld von Künstlerinnen und Künstlern bezieht. Kunstwelt, Kunstsystem und Kunstfeld sind sehr häufig gebrauchte Begriffe in den in der aktuellen, westeuropäischen Wissenschaftstradition geführten Diskussionen über bildende Kunst und deren Kontexten. In der vorliegenden Studie geht es nicht um Bildanalyse, sondern um die diskursive Auseinandersetzung mit zeitgenössischer bildender Kunst, die im Zusammentreffen unterschiedlichster Akteure und im Zusammenhang einer sich immer weiter global institutionalisierenden Kunstwelt entstehen. Aus diesem Grund erweisen sich vor allem soziologische Ansätze als besonders fruchtbar. Howard Becker, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu haben mit ihren soziologischen Arbeiten innerhalb der letzten 25 Jahre dazu beigetragen, Kunst als ein Phänomen zu begreifen, das eigene gesellschaftliche Kontexte formt bzw. selbst erst in spezifischen gesellschaftlichen Kontexte
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geformt wird. Diese Kontexte werden schließlich als Kunstwelten (Becker), Kunstsystem (Luhmann) oder Kunstfeld (Bourdieu) beschreibbar. Gerade in rezenten Auseinandersetzungen innerhalb der Kunstwissenschaften werden vermehrt die Theorien Luhmanns und Bourdieus aufgegriffen und für ein besseres Verständnis der zeitgenössischen Kunst und der Kunstwelt konfiguriert. 4 Auch in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen finden sich diesbezüglich nützliche Ansätze. Beispielsweise basiert die sehr häufig im kunstethnologischen Kontext gebrauchte Bezeichnung Kunstwelt (art world) auf den kunstphilosophischen Überlegungen von Arthur Danto5 und George Dickie6 in den 1960er/70er Jahren. Der Us-amerikanische Kunstkritiker Danto und der US-amerikanische Philosoph Dickie definierten die Kunstwelt als den Kontext, in dem Kunst erst geformt wird und sahen damit von der gängigen, rein ästhetischen Theorie zur Bestimmung von Kunst ab. »Da sich der Begriff Kunstwelt auf die an einem Kunstdefinitionsprozess Beteiligten bezieht, die mit ihrer Interaktion die Kunstwelt erst konstituieren, kann die Frage des Definitionsprozesses von Kunst nicht mehr abstrakt – in Bezug auf die Qualität des Werkes – beantwortet werden, sondern muss von Fall zu Fall untersucht werden. Erst durch eine empirische Untersuchung von Kunstdefinitionsprozessen kann festgestellt werden, wo die Grenzen einer Kunstwelt zu ziehen sind, welchen Einfluss die ver-
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5 6
In der vierten Ausgabe der Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaften kritische berichte des Jahres 2008 sind zum Beispiel 15 Beiträge zusammengestellt, die die Kunstwissenschaften in Rekurs auf die Luhmannsche Systemtheorie unter verschiedenen Aspekten kritisch beleuchten. »Allein die Diskussion über eine Re-Formulierung des Werkbegriffs entlang systemtheoretischer Konzepte zeigt, wie sie einerseits die wissenschaftstheoretische Reflexion des Faches Kunstwissenschaft beflügeln kann und andererseits grundlegende Paradigmen der Disziplin zu bedrohen scheint. Diese Gleichzeitigkeit von produktiver Perspektiverweiterung, gerade im Hinblick auf eine deutlichere Ausrichtung der Kunstwissenschaft auf kultur- und bildwissenschaftliche Fragestellungen, und empfindlicher Infragestellung von Kernthemen des Faches charakterisiert die aktuelle Auseinandersetzung von Kunstwissenschaft und Systemtheorie.« (kritische berichte 4.2008) Der im gleichen Jahr erschienene Sammelband »Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik« (Bismarck/Kaufmann/Wuggenig 2008), vereint Beiträge, die das Potential der soziologischen Ansätze Pierre Bourdieus für die Kunstwissenschaften in verschiedenen Bereichen erörtern. Wie ergiebig vor allem Bourdieus Kunstfeldtheorie hinsichtlich der Betrachtung moderner Kunst sein kann, zeigt die Soziologin Nina Tessa Zahner in ihrem Buch »Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert« (Zahner 2005). Danto 1964. Dickie 1975.
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schiedenen Akteure in einem spezifischen Definitionsprozess hatten und welche Objekte sie schließlich als Kunst anerkannten und welche nicht.«7
In der Auseinandersetzung mit Kunst in unterschiedlichen Gemeinschaften – seien diese ethnisch, religiös, sozial, national, beruflich etc. kodiert – bietet sich dieser von Danto geprägte Begriff der Kunstwelt für die Kunstethnologie geradezu an. Durch die Rückbindung des Begriffs an den Kontext des jeweils spezifischen Kunstdefinitionsprozesses wird der Kunstbegriff aus den Schranken der rein europäischen Ästhetik befreit und auch für Umfelder außerhalb der europäischen Wissenstradition anschlussfähig. Die Idee, eine Kunstwelt als soziales Konstrukt zu betrachten, ist hier klar vorgeführt. Die Kunstwelt in ihren einzelnen Elementen und die verschiedenen Prozesse der Kunstdefinition und Hierarchienbildung innerhalb des Feldes zu beschreiben, fällt bei Danto jedoch weniger konkret aus als zum Beispiel bei Becker oder Bourdieu. Die Ansätze Dantos und Dickies werden deshalb nicht explizit vorgestellt, bieten aber wichtige Ergänzungen für die spätere Definition des Kunstweltbegriffs. Auch der britische Sozialanthropologe Victor Turner liefert mit seinen Studien sozialer Prozesse mit dem Fokus auf symbolische Handlungen im Ritual8 wertvolle Elemente für ein Verständnis sozialer Felder als Arenen permanenter Auseinandersetzungen, die den Ausführungen Bourdieus über das Kunstfeld sehr nahe kommen. Turners Schlussfolgerungen hinsichtlich seiner Beobachtungen von Ritualen als liminale Phasen, die für die Strukturierung und den Fortbestand von Gesellschaften eine entscheidende Rolle spielen, ähneln den Einsichten Beckers, Luhmanns und Bourdieus, soziale Felder wie die Kunstwelt(en), das Kunstsystem bzw. das Kunstfeld als dynamische und kontingente soziale Gefüge zu betrachten. Der direkte Bezug auf den Kunstweltbegriff erfolgt bei Turner aber nicht, auch wenn er Kunst durchaus als eine Form symbolischer Handlung auffasst. Insgesamt wurde der Blick kunstethnologischer ForscherInnen bis in die 1990er Jahre nur sehr zurückhaltend auf die Institutionalisierung der globalen Kunstwelt gelenkt und damit fehlen die Fundamente zur Beschreibung dieses Gebiets weitgehend. In der Auseinandersetzung mit Kunst außerhalb Westeuropas und im Erkennen alternativer und sich miteinander überlappender Kunstwelt(en) liegt jedoch das Potential einer reflektierten Erweiterung der wiederum stark europazentrierten soziologischen Perspektiven. Die Ethnologie hatte sich von Beginn an mit künstlerischer Theorie und Praxis beschäftigt, jedoch weniger im westeuropäischen Kontext, sondern ausschließlich in der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Gesellschaften, das heißt in ihrer Konzentration auf das ›Andere‹ oder ›Fremde‹ und in der Abkehr des unmittelbar ›Eigenen‹. Viel zu selten kam es in der Vergangenheit dazu, konkrete Zusammenhänge zwischen den Kunstwissen-
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Zahner 2005: 47-48. Turner 1974.
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schaften und ethnologischen Arbeiten herzustellen und das Potential gegenseitiger Bereicherung zu erkennen. Eine vorbildliche Ausnahme bildet die Arbeit Birgitta Benzings, die bereits 1978 in ihrem Buch »Das Ende der Ethnokunst. Studien zur ethnologischen Kunsttheorie«9 für eine neue Perspektivierung der Kunstethnologie eingetreten war: »Gerade die Ethnologie steht heute nicht nur vor der Notwendigkeit, in ihre künstlerische Materialfülle die Rezeption kunsttheoretischer Überlegungen einzubringen, sondern sie hat auch die Aufgabe, der kunsttheoretischen Diskussion entscheidende Impulse zu geben aus einer anders geratenen komparatistischen Sicht. Der Forderung der Kunstsoziologen nach Einschließung aller künstlerischer Ausdrucksformen kann sie beim jetzigen Stand der Erforschung der Kunst aller Gesellschaften – oder zumindest aller außereuropäischen Gesellschaften – nicht nachkommen. […] Wenn sich die Kunstethnologie ihres für Kulturvergleiche einzigartigen Materialreichtums und unverarbeiteten Vorrats bewußter wäre, könnte sie der bisherigen Kurzatmigkeit der allzusehr auf die abendländische Entwicklung fixierten Kunsttheoretiker abhelfen.«10
Ihr Plädoyer für ein Studium von Kunst und deren jeweiligen sozialen Kontexte in allen Gesellschaften, einschließlich der europäischen, und dem kritisch-reflektierten Umgang mit ihrem Gegenstand als auch der Kunstethnologie selbst, wurde bislang selbst im deutschsprachigen Raum leider nur wenig rezipiert. Die frühere Beachtung solcher Gedanken hätte es auf der einen Seite erlaubt, die in der Theorie für lange Zeit so strikt aufrechterhaltene Separation der Kunst des ›Westens‹ und des ›Rests‹ zu relativieren und auf der anderen Seite das plumpe Überstülpen so genannter ›westlicher‹ Theorien auf die Kunstpraxis außereuropäischer Gesellschaften zu vermeiden. Jedoch auch Benzing liefert wenige Grundlagen zur Definition einer Kunstwelt, die sich als spezifisches (institutionalisiertes) Gefüge zeitgenössischer Kunstproduktion, -distribution und -rezeption generiert. Ihr Plädoyer, Kunst nie isoliert, sondern »in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang« zu begreifen, verweist aber immerhin auf die Möglichkeit einer Beschreibung eines bestimmten (sozialen) Bereichs von Kunst. Dafür bedarf es eben nicht nur der eingängigen Untersuchung der Gegenstände, sondern auch der Kontexte, z.B. der mit dem Objekt verbundenen Diskurse in Form von Beschreibungen, Vergleichen oder bereits vorhandenen interpretierenden Untersuchungen. »Ohne ausreichende Beschriftung spricht auch der greifbare Gegenstand nicht für sich selbst, so wenig der Kunstgegenstand spricht, ohne das Vorhandensein eines Kommunikationssystems.«11 Vor allem der Verweis auf ein bestimmtes Kommunikationssystem
9 Benzing 1978. 10 Benzing 1978: 11 11 Benzing 1978: 13.
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in Bezug auf Kunst erlaubt die Vorstellung einer spezifischen gesellschaftlichen Sphäre, wie sie die Soziologen Howard Becker, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu als Kunstwelten, Kunstsystem und Kunstfeld definieren. Die Ausführungen aller drei Autoren gründen auf der Absicht, Kunst als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Den zentralen Bezugspunkt bilden daher nicht primär die Kunstwerke, deren Inhalt und deren immanente Ästhetik, sondern die sozialen Kontexte, in denen künstlerische Theorie und Praxis generiert werden und die sich damit als spezifische soziale Welt(en) bzw. spezifische(s) soziale(s) System(e) oder Feld(er) erfassen lassen. »[D]en Soziologen geht es nicht darum, Kants Behauptungen zu widerlegen, wonach das Schöne ist, was ›ohne Begriffe‹ Gegenstand eines ›allgemeinen Wohlgefallens‹ wird, sondern die sozialen Bedingungen auszumachen, die eine derartige Erfahrung ermöglichen, dann diejenigen zu bestimmen, für die sie möglich ist, die Kunstliebhaber oder Menschen ›mit Geschmack‹, und schließlich die Grenzen zu beschreiben, innerhalb derer sie als solche bestehen kann.«12
Nicht die Objekte, sondern die unmittelbar beteiligten Akteure, deren Handeln bzw. die Kommunikation stehen so im Fokus der Untersuchungen. Gleichzeitig muss aber betont werden, dass es sowohl Becker als auch Bourdieu und Luhmann bewusst vermeiden, einzelne Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ausschließlich gesellschaftsdynamische Auseinandersetzungen thematisieren – wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichen Ebenen. Die an den Anfang dieses Abschnitts gestellten Zitate weisen auf die differierenden Zugangsweisen der Autoren hin. Trotz der Konzentration auf die benannten soziologischen Arbeiten, geht der ethnologische Blick nicht verloren. Die Leistung der Ethnologie liegt im kritisch-reflexiven Potential der von Benzing postulierten »anders gearteten komparatistischen Sicht«13. Diese Sichtweise erleichtert den Zugang zu einer globalen Kunstwelt und damit gleichzeitig zu der Differenzierung verschiedener Kunstwelten, indem sie sich nicht auf den weiterhin vorherrschenden eurozentristischen Blickwinkel der Kunstwissenschaften reduziert. So stellen auch die unterschiedlichen Perspektivierungen Beckers, Luhmanns und Bourdieus kein Hindernis dar, sondern bieten die Chance, die vielen Facetten einer Kunstwelt herauszustellen und ihre Komplexität zu verdeutlichen. Die Grundlage hierfür bilden die jeweiligen Hauptwerke der drei Soziologen zu dieser Thematik: »Art Worlds« von Howard Becker (1982)14, »Die Kunst der Gesellschaft« von Niklas Luhmann (1995)15 und
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Bourdieu 2006: 162. Bourdieu 2006: 11. Becker 2008. Luhmann 1995.
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»Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes« von Pierre Bourdieu (1992)16. 2.1.1 Howard Becker: Art Worlds Der US-amerikanische Soziologe Howard Becker erkennt den Charakter der Kunstwelten (art worlds) insbesondere in ihrer Eigenschaft als Netzwerke kooperierender Personen: »[…] we can think of an art world as an established network of cooperative links among participants.«17 Um die gruppendynamischen Aktivitäten von Personen innerhalb unterschiedlicher Kunstwelten empirisch zu beleuchten, bezieht Becker seine Daten weitgehend aus Interviews und eigenen Beobachtungen. Er beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Bereich von Kunst, sondern integriert verschiedene Kunstgattungen (Musik, bildende Kunst, Theater etc.) und deren jeweilige Subkategorien in seine Analysen, die jeweils als eigene Kunstwelten definiert werden können. Dies ist der Grund warum er konsequent mit dem Begriff Kunstwelten im Plural operiert. »My data, my examples, only had to cover a wide enough variety of situations and art forms so that I could feel I was not leaving out anything obvious that could make my analytic framework more complex. Complexity was my goal. Not generalizability.«18 Maßgeblich für Beckers Beschreibung der Kunstwelten ist das Erkennen bestimmter Konventionen (z.B. ästhetische), an denen sich die Koordination kunstweltlicher Aktivitäten orientiert und durch die erst bestimmt wird, was als Kunst gelten darf und was nicht. »Works of art, from this point of view, are not the products of individual makers, ›artists‹ who possess a rare and special gift. They are, rather, joint products of all the people who cooperate via an art world’s characteristic conventions to bring works like that into existence.«19 Kunstwelten bestehen damit allein durch sich selbst, das heißt durch spezielle Normen und Regeln, die das Handeln der beteiligten Personen in Gruppen bestimmen. Entscheidungen über Berechtigung und Anerkennung für Kunstwerke, KünstlerInnen, Schulen, Genres und Medien innerhalb der Kunstwelten bilden sich schließlich in einem Prozess komplexer, in sich verflochtener Handlungen der beteiligten Akteure heraus. »They single out from the mass of more or less similar work done by more or less interchangeable people a few works and a few makers of works of special worth. They reward that special worth with esteem and, frequently but not necessarily, in more material ways too. They use reputations, once made, to organize other activi-
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Bourdieu 2001. Becker 2008: 34-35. Becker 2008: xix. Becker 2008: 35.
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ties, treating things and people with distinguished reputations differently from others.«20
Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Reputation von Künstlern/innen und Kunstwerken ist die Distribution der Werke: »Distribution has a crucial effect on reputations. What is not distributed is not known and thus cannot be well thought of or have historical importance. The process is circular: what does not have a good reputation will not be distributed.«21 Becker zeigt an verschiedenen Beispielen auf wie sehr die Anerkennung künstlerischen Schaffens auf der Abhängigkeit von Distributionssystemen beruht, wobei hier vor allem auch Momente ökonomischer Natur mit ins Spiel kommen. Nur gut ausgebildete Verteilungssysteme garantieren die Integration von Künstlern/innen in die Gesellschaft. Indem Kunstwerke für ein Publikum zugänglich gemacht werden, das schließlich für den Genuss der Werke genügend zahlt, wird das Fortbestehen der künstlerischen Arbeit garantiert. »As the examples suggest, participation in the established distribution system is one of the important signs by which art world participants distinguish serious artists from amateurs.«22 Der permanente Rekurs auf die Kunstwelten als kollektive Handlungszusammenhänge (collective action) macht insgesamt deutlich, wie stark ihre soziale (Gruppen-)Dynamik hervorgehoben wird: »I have made art worlds my central concern, treating them as the producers of art works, looking at their careers, workings, and results, rather than at those of individual artists.«23 Insgesamt stellen sich Kunstwelten bei Becker nicht als strikt von anderen Bereichen der Gesellschaft getrennt dar. Sie bestehen als Kooperationsnetzwerke der Beteiligten selbst, nicht als definierbare Strukturen, Organisationen oder gar Räume. »Art worlds do not have boundaries around them, so that we can say that these people belong to a particular art world while those people do not. […] The world exists in the cooperative activity of those people, not as a structure or organization, and we use words like those only as shorthand for the notion of networks of people cooperating.«24
Einzig die Konventionen bestimmen das Handeln der Akteure. Wie diese Konventionen letztlich entstehen, wird von Becker allerdings nicht konkret thematisiert. Die historischen Zusammenhänge der Entwicklung der Kunstwelten bleiben überhaupt verborgen. Seine Beobachtungen konzentrieren
20 21 22 23 24
Becker 2008: 352. Becker 2008: 95. Becker 2008: 97. Becker 2008: 351. Becker 2008: 35.
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sich lediglich auf ihre zeitgenössische Situation. Vorausgesetzt wird allerdings, dass Kunstwelten einem ständigen Wandel ausgesetzt sind: »Art worlds change continuously – sometimes gradually, sometimes quite dramatically. New worlds come into existence, old ones disappear. No art world can protect itself fully or for long against all the impulses for change, whether they arise from external sources or internal tensions.«25
Kunstwelten unterscheiden sich nach Becker zudem in ihrer Größe, »from small, local esoteric groups to large, inclusive international ones«26. Grundsätzlich wendet Becker zur Beschreibung der Kunstwelten Kriterien an, die auch für andere gesellschaftlichen soziale Welten gelten können: »What I have said about art worlds can be said about any kind of social world, when put more generally; ways of talking about art, generalized, are ways of talking about society and social process generally.«27 2.1.2 Niklas Luhmann: Kunstsystem Auch bei Niklas Luhmann dominiert die Idee des Netzwerkes, wenn er von Kunst als einem sozialen System spricht. Dabei richtet er jedoch sein Augenmerk nicht auf das Handeln der Akteure, sondern einzig auf die Kommunikation. Das von Luhmann beschriebene Kunstsystem ergibt sich als reines Kommunikationssystem, als autonomes und in sich selbst durch die Kommunikation aufrechterhaltendes Gesellschaftssystem (autopoietisches System), das sich in seiner funktionalen Spezifikation ausdifferenziert und das er auch einfach »Sozialsystem Kunst« nennt. Einzelne Akteure und Institutionen, das heißt Einrichtungen wie etwa Museen, Galerien, Ausstellungen etc., finden bei Luhmann wenig Aufmerksamkeit. Sie erscheinen nicht als konstituierende Elemente des Systems, sondern werden lediglich als Rahmenbedingung für die Annäherung an Kunst dargestellt und in ihrer Gesamtheit als Kunstbetrieb bezeichnet. Mit den Worten Luhmanns formuliert stellt das Kunstsystem »Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw. Aber das ist nur die erste Stufe der Annäherung.«28
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Becker 2008: 300. Becker 2008: 364. Becker 2008: 368. Luhmann 1995: 249.
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Das, was als Kunstsystem beschrieben wird, bezieht sich primär auf die spezielle Kommunikationsform Kunst und auf nichts anderes. In seinem Werk »Die Kunst der Gesellschaft«29 erfolgt eine dezidierte, systemtheoretische Darstellung der prozessualen Entwicklung des Kunstsystems. Viel stärker als Becker positioniert sich Luhmann dabei in einem methodischtheoretischen Kontext, indem er seinen Darstellungen zunächst eine ausführliche Herleitung der verwendeten Begrifflichkeiten (Kunst, Kommunikation, Medium, Form) sowie eingehende Bemerkungen zu den methodischen Grundlagen seiner Betrachtungen (Beobachtung erster und zweiter Ordnung) vorausschickt. Die Erklärung der »Welt der Kunst« als eine imaginäre, »von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann«30, verweist zum Beispiel auf den besonderen funktionalen Charakter von Kunst und einzelnen Kunstwerken, den Luhmann diesen innerhalb der Gesellschaft zuschreibt: Kunst erlaubt die Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung von Welt, nämlich eine Beobachtung des Unbeobachteten. Dieser Auffassung liegt ein spezifischer Weltbegriff zugrunde, auf den im Verlauf dieses Kapitels noch eingegangen werden wird. Zunächst gilt es aber, die sehr komplexe Darstellung des Kunstsystems Luhmanns für einen Vergleich mit Becker und Bourdieu zugänglich zu machen. Herkunft und Geschichte des Kunstsystems sind bei Luhmann relativ genau verortbar. Die funktionale Ausdifferenzierung des Systems erfolgte in Westeuropa und lässt sich vor allem ab dem 16. Jahrhundert konkret nachvollziehen. Der Luhmannschen Erklärung zufolge hatte sich zu dieser Zeit die enge Bindung der Kunst an das Sakrale bzw. die Religion und damit aus einem strikten Abhängigkeitsverhältnis von der Kirche weitgehend gelöst. In der zunehmenden Unabhängigkeit künstlerischer Praxis war damit der erste Schritt zu einem autonomen Kunstsystem vollzogen. »Im Laufe einer längeren Selbstbeobachtung kann das Kunstsystem auf der Ebene von Kompositions- und Stilfragen Eigenständigkeit gegenüber dem Auftraggeber beanspruchen, also die Beurteilungskriterien in die eigene Hand nehmen und dynamisieren.«31 Parallel zu diesen Entwicklungen entfaltete sich auch die Kunsttheorie. Einen weiteren Schub in die Richtung der Autonomie erfuhr die Kunst durch die Entwicklung eines Kunstmarktes, der das vormalige (zunächst kirchliche, dann aber auch säkularisierte) Patronagesystem ergänzte bzw. in weiten Teilen ersetzte. »Die Anlehnung an die Wirtschaft gibt der Kunst, das sollte man nicht unterschätzen, sehr viel mehr Freiheit als die Anlehnung an Mäzene wie Kirchen oder Fürsten oder führende Adelshäuser. Sie führt zu einer themenunabhängigen Einschätzung der Kunstwerke.«32 Die Bewertung von Kunst nach Kriterien des Marktes erweiterte den Radius der Kunstdistribution. Die Valorisierungskriterien von
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Luhmann 1995. Luhmann 1995: 229. Luhmann 1995: 262. Luhmann 1995: 266.
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Kunsttheorie und Ökonomie jedoch begannen sich deutlich zu unterscheiden. »Die Marktorientierung führt einerseits zur größeren Spezialisierung des Angebots und andererseits zu defensiven Reaktionen«33, was wiederum zu einer gesteigerten Unsicherheit im Bereich der Bewertungskriterien führte. Luhmann sieht in dieser Entwicklung den »irreversiblen Übergang zur funktionalen Differenzierung«34 des Kunstsystems verortet, das sich so mehr und mehr als unabhängiger, von Wirtschaft und Theorie weitgehend abgegrenzter Bereich, verstehen ließ: Die Kunst hatte »die Unmittelbarkeit des Bezugs auf das Weltverhältnis der Gesellschaft verloren und ihre eigene Ausdifferenzierung zur Kenntnis zu nehmen […]. Sie kann immer noch eine Universalkompetenz für alles und jedes in Anspruch nehmen; aber nur noch als Kunst, also nur noch auf der Basis einer spezifischen, eigenen Kriterien folgenden Operationsweise.«35
Damit waren laut Luhmann die Voraussetzungen für das aktuelle Verständnis des Kunstsystems gegeben: Es etablierte und reproduzierte sich schließlich als »Kommunikation zwischen Künstlern und Kunstkennern und -genießern«36, das heißt als ein autopoietisches Funktionssystem, das völlig autonom auf sich selbst beschränkt bleibt: »Die gesellschaftliche Unterstützung der Kunst besteht jetzt darin, daß jedes Funktionssystem sich mit seiner eigenen Funktion beschäftigt, jedes Funktionssystem für die eigene Funktion einen Primat in Anspruch nimmt und keine darüber hinausgehenden Kompetenzen entwickelt.«37 Im Falle der Kunst ist diese Beschränkung auf das besondere Potential von Kunst als spezielle Kommunikationsform bezogen, der es unabhängig von Sprache gelingt, imaginäre Formen von Realität als Kehrseite der gängigen Weltwahrnehmung zu vermitteln und zu kommunizieren. Autopoiesis bedeutet allerdings nicht, dass das autonome System völlig unabhängig von anderen sozialen Funktionssystemen agiert. Beispielsweise könnte das Kunstsystem ohne das Wirtschaftssystem an seiner Seite kaum existieren. Ausdifferenzierte Systeme bestehen also zwar autonom nebeneinander, aber nicht völlig autark. Innerhalb des Systems selbst können sich neuartige Gruppierungen bilden, die ihre Selbstbestätigung jedoch nur innerhalb der Gruppe und nicht durch einen Außenhalt finden. Zur Vorstellung einer Systemeinheit von Kunst kam es Luhmann zufolge erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorher fand sie aufgrund der offenkundigen Verschiedenheiten und der heterogenen Operationswei-
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Luhmann 1995: 268. Luhmann 1995: 268. Luhmann 1995: 269. Luhmann 1995: 270. Luhmann 1995: 270.
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sen innerhalb des Systems (bildende Kunst, Text, Musik etc.) skeptische Ablehnung. So entstand eben in der spezifischen funktionalen Ausdifferenzierung des Kunstsystems – bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung zahlreicher Teilsysteme wie z.B. dem Literatursystem – die Einheit der Kunst. Erst von dieser Zeit an sprach man auch »von Beaux-Arts oder schöner Kunst – und verwendet damit die Bezeichnung für die Produktion des Produkts. Die Einbeziehung des moralisch Schönen wird aufgegeben mitsamt der Idee, daß es auf Imitation ankomme. Und erst jetzt firmiert die Reflexionstheorie des Kunstsystems als ›Ästhetik‹.«38
Ähnlich wie Becker beschreibt Luhmann das Kunstsystem insgesamt als (funktionales autonomes) System von Gesellschaft. In der Betonung seiner Einzigartigkeit, das heißt seiner spezifischen funktionalen Beschränkung, grenzt sich das Kunstsystem jedoch deutlich von anderen Gesellschaftssystemen ab und ist in seiner Funktion und Beschaffenheit auch nicht mehr mit diesen vergleichbar. Im Kunstwerk spiegelt sich das System wider: »Das Kunstsystem ist in seiner Einzigartigkeit und thematischen Offenheit, in seiner operativen Konkretion und in seinem Unfestgelegtsein zugleich das, was in jedes einzelne Kunstwerk hineincopiert wird.«39 Letztlich entspricht das Kunstwerk und seine Entstehung der Idee der Luhmannschen systemtheoretischen Bildung des Kunstsystems selbst, indem es durch seine Formbildung Struktur schafft und damit einen vorher unmarkierten Raum definiert, aber nie als abgeschlossene, unveränderbare Einheit. Kunstbezogene Praxis bedeutet das »Bilden und Löschen von Formen«40. Es handelt sich um das systemtheoretische Operieren im Sinne von permanentem Ein- und Ausschluss, wobei das Ausgeschlossene – die andere Seite – zwar stets als andere Möglichkeit der Realität reflektiert wird, aber in diesem Moment immer als das nicht Beobachtbare, das Unerreichbare verbleibt. Dieser Moment rekurriert auf die Wahrnehmung von Welt als Paradox: die Welt wird nie als Einheit beobachtbar oder erreichbar. »Der Unerreichbarkeit der Welt entspricht die Schließung des Kunstwerks – schließlich des Kunstsystems.«41 2.1.3 Pierre Bourdieu: Kunstfeld Während bei Howard Becker Kooperation und bei Niklas Luhmann Kommunikation die entscheidenden Aspekte für die Definition von Kunstwelt(en) bzw. des Kunstsystems darstellen, steht bei Pierre Bourdieu der
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Luhmann 1995: 291. Luhmann 1995: 292. Luhmann 1995: 59. Luhmann 1995: 95.
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Begriff der Praxis hinsichtlich der Darstellung des Kunstfelds im Vordergrund.42 Auch wenn der Ansatz durch die stärkere Konzentration auf die Akteure dem Beckerschen empirischen Ansatz zunächst näher erscheint als dem Luhmanns, so unterscheidet er sich doch wesentlich durch einen viel stärker ausgeprägten theoretischen Unterbau. Beiden Ausführungen ähnlich ist allerdings die Fokussierung des gruppendynamischen Agierens des sozialen Akteurs und weniger seines individuellen Verhaltens. Grundlegend hierfür ist im Falle Bourdieus die Habitustheorie, die als Konstitutionstheorie sozialer Praxis gilt. Die Ausbildung des Habitus beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen und ist demnach gesellschaftlich und historisch bedingt. Er formiert sich als Pool von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata einer jeden Person, das heißt der soziale Akteur wird im Laufe seines sozialen Lebens mit systematisch strukturierten Anlagen ausgestattet, die ihn in seinem Denken und Handeln leiten. Das Kunstfeld wird als eine gesellschaftliche Struktur untersucht, in der sich Akteure positionieren und in Wechselwirkung miteinander treten. Bourdieu vergleicht das Universum der Kunst zum Beispiel mit einem wohlgeregelten Ballett, »bei dem die Individuen und Gruppen stets in Wechselbeziehung zueinander ihre Figuren zeichnen: bald von Angesicht zu Angesicht, dann wieder im Gleichschritt nebeneinander, dann wieder sich den Rücken zuwendend: dabei Trennungen vollziehend, die nicht selten eklatanten Charakter gewinnen – und so immer weiter: bis in unsere Tage…«43
Ähnlich verweist auch die immer wieder herangezogene Assoziation des Agierens innerhalb des Feldes mit einem Spiel nach bestimmten Spielregeln auf die Orientierung der Akteure an spezifischen, feldimmanenten Regeln. Pierre Bourdieu hat seine Untersuchungen beispielhaft im literarischen Feld unternommen, bezieht seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen, die in dem Band »Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur der literarischen Feldes«44 zusammengefasst sind, jedoch auf alle Subfelder künstlerischer Praxis (bildende Kunst, Theater, Musik, Films etc.); er spricht daher immer vom »literarischen (usw.) Feld«. Wie bei Luhmann findet sich auch hier eine detaillierte Nachzeichnung der Entwicklung des Kunstfeldes – wie es der Titel des Buches bereits verheißt. Die historische Analyse stellt ein sehr wichtiges Moment der Bourdieuschen Betrachtungen dar. So schreibt er:
42 Bourdieus Ansätze waren unter anderem durch ethnologische Feldforschungserfahrungen geprägt, die er zu Beginn der 1960er Jahre in Algerien durchgeführt hatte. 43 Bourdieu 2001: 187. 44 Bourdieu 2001.
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»Wann immer sich ein derartiges autonomes Universum etabliert – ein künstlerisches, ein wissenschaftliches oder irgendein anderes spezifisches Feld –, spielt der hierin geronnene historische Prozeß die gleiche Rolle: er zieht eine Quintessenz. So daß die Analyse der Geschichte des Feldes an sich die einzige legitime Form der Wesensanalyse sein dürfte.«45
Mehr als Luhmann geht Bourdieu bei seiner geschichtlichen Darstellung der Entwicklung des Feldes gezielter auf einzelne Sektoren, Gruppen von Akteure, Institutionen usw. und deren Verhältnis zueinander ein, was an seinem größeren Interesse an der genauen Strukturierung des Feldes liegen mag. Grundsätzlich spricht Bourdieu im Hinblick auf die Kunst auch von einem spezifischen sozialen Bereich, der sich spätestens im 19. Jahrhundert im europäischen Westen, insbesondere im Moment der bewussten Abspaltung von der ökonomischen Sphäre und der Etablierung des l’art pour l’art, als autonomes Feld entwickelte: »Daß das literarische Feld an Autonomie gewonnen hat, erweist sich daran, daß Ende des 19. Jahrhunderts die Rangfolge der Gattungen (und Autoren), die sich aus den spezifischen Urteilskriterien der literarischen peer group ergibt, derjenigen nahezu entgegengesetzt ist, die sich aus dem kommerziellen Erfolg ableitet – und zwar im Unterschied zu dem, was sich im 17. Jahrhundert beobachten läßt, wo beide Rangfolgen einander fast entsprachen, dergestalt, daß sie die anerkanntesten literarischen Gebildeten, insbesondere die Dichter und Gelehrten, auch die höchsten Ehrengehälter und Vergünstigungen erhielten.«46
Ähnlich wie es auch Luhmann anerkennt, wenn er dem Kunstsystem zwar völlige Autonomie, aber nicht Autarkie zuspricht, sind auch in der Feldtheorie gegenseitige Einflüsse und Wechselwirkungen von unterschiedlichen sozialen Feldern wie z.B. dem wirtschaftlichen und dem künstlerischen denkbar, was sowohl die Komplexität als auch die Offenheit seines Ansatzes erhöht. Die Autonomie des Feldes zeichnet sich darüber hinaus durch die Etablierung einer Pluralität der Blickpunkte im Feld selbst aus. Bourdieu illustriert diese Entwicklung mit dem Beispiel des französischen Malers Edouard Manet, der sich in einem revolutionären Akt von der Académie Royal in Paris, der damaligen obersten Autorität innerhalb des Feldes, und deren starren Reglement lossagte. »Der Monotheismus des (lange Zeit von der Académie verkörperten) zentralen Gesetzgebers weicht der Konkurrenz vieler ungewisser Götter. Die Infragestellung der Académie setzt eine scheinbar an ihr Ende gelangte Geschichte einer künstlerischen Produktion wieder in Gang, die in einer geschlossenen Welt vorbestimmter Möglichkeiten gefangen war und öffnet so den Weg zur Erforschung eines unendlichen Uni-
45 Bourdieu 2001: 224. 46 Bourdieu 2001: 187-188.
68 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS versums von Möglichkeiten. Manet vernichtet die gesellschaftlichen Fundamente des starren und absoluten Blickpunkts des künstlerischen Absolutismus (wie er auch die Vorstellung von einer privilegierten Lichtquelle zerstört: fortan zerstreut es sich über die gesamte Oberfläche der Dinge): Er etabliert die Pluralität der Blickpunkte, die der Existenz des Feldes innewohnt.«47
Diese proklamierte Diversität innerhalb des Kunstfeldes verheißt allerdings auch Konfrontation. Insgesamt – und dies ist an dieser Stelle ein entscheidender Aspekt – betrachtet Bourdieu das Kunstfeld als Kräftefeld, Feld der Macht oder auch als Arena, in der ständig Kämpfe um die Definition von Kunst, die Bewertungskriterien von Kunst und um die hierarchische Positionierung sowie die potentielle Machtausübung der Akteure ausgetragen werden. Das Feld befindet sich damit in einem Dauerzustand des Oszillierens zwischen Beständigkeit und Wandel. »Das literarische (usw.) Feld ist ein Kräftefeld, das auf alle einwirkt, die es betreten, und zwar je nach der Position, in die sie sich begeben (etwa, um Extrempunkte zu benennen, die eines Boulevardstückeschreibers oder eines avantgardistischen Lyrikers), in verschiedener Weise; und zugleich ist es eine Arena, in der Konkurrenten um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes kämpfen.«48
Die Geschichte des Feldes wird auch als »Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien«49 beschrieben. Diese Kämpfe oder Auseinandersetzungen folgen nach Bourdieu im Wesentlichen einer zeitlich basierten Logik, was sich schließlich im Ausdruck »Epoche machen« konkretisiert. Es geht hier allerdings weniger um das einfache Überholen der Vergangenheit durch die Gegenwart und deren Konsekrationsprinzipien, sondern um die Synchronisierung der durch Zeit und im Bezug zur Zeit getrennten Akteure und Institutionen in der Zeitgenossenschaft, das heißt im Kampf selbst: »Das Altern der Autoren, Werke oder Schulen ist etwas ganz anderes als ein mechanisches Abgleiten in die Vergangenheit: es wird erzeugt im Kampf zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht. Epoche machen, das heißt untrennbar damit auch: eine neue Position jenseits der etablierten Positionen, vor die-
47 Bourdieu 2001: 216. 48 Bourdieu 2001: 368. 49 Bourdieu 2001: 253.
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sen Positionen, als Avantgarde entstehen zu lassen und mit der Einführung der Differenz die Zeit zu schaffen.«50
Diese Passage verdeutlicht, wie stark die Ausdifferenzierung des Feldes, das heißt die Positionierung der Akteure und letztlich auch die Bewertung von Werken allein aus den sozialen Interaktionen innerhalb des Feldes entstehen. Bourdieu geht noch weiter und konstatiert, dass der »Künstler, der das Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes geschaffen wird: durch all jene nämlich, die ihren Teil dazu geben, daß er ›entdeckt‹ wird und die Weihe erhält als ›bekannter‹ und anerkannter Künstler – die Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthändler usw.«51 Die sich in diesem Zusammenhang ergebende nach der Konsekrationsmacht, bzw. nach deren Ursprung oder nach einem Schöpfer, wird mit der Erklärung beantwortet, das Feld selbst ergäbe sich als das Glaubensuniversum, welches den Wert des Kunstwerks produziert: »Die Grundlage der Wirksamkeit von Konsekrationsakten liegt im Feld selbst, und nichts wäre vergeblicher, wollte man den Ursprung der ›schöpferischen‹ Macht, dieses von der Tradition unermüdlich zelebrierte mana oder unsagbare Charisma, woanders suchen als in diesem sich schrittweise institutionalisierenden Spiel-Raum, das heißt in dem System der objektiven Beziehungen, aus denen er besteht, in den Auseinandersetzungen, deren Arena er darstellt, sowie der Form von Glauben, der darin erzeugt wird.«52
Auch jede Form von Ästhetik, das heißt ein ästhetischer Wahrnehmungsmodus, entsteht mit der gesellschaftlichen Konstruktion des Kunstfeldes – er besteht nicht a priori und prägt damit die Entwicklung des Feldes, sondern umgekehrt. »Die gesellschaftliche Konstruktion autonomer Produktionsfelder geht einher mit der Konstruktion spezifischer Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien der natürlichen und sozialen Welt (sowie der literarischen und künstlerischen Repräsentationen dieser Welt), das heißt mit der Erarbeitung eines genuin ästhetischen Wahrnehmungsmodus.«53
Die Kunstwerke selber werden von Bourdieu dann lediglich als »stumme Spuren«54 der Interaktionen und Wechselbeziehungen innerhalb des Feldes
50 51 52 53 54
Bourdieu 2001: 253. Bourdieu 2001: 271. Bourdieu 2001: 273. Bourdieu 2001: 215. Vgl. Bourdieu 2001: 259.
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erklärt. Diese Auffassung hebt sich von derjenigen Luhmanns ab, wenn dieser behauptet, das Kunstsystem selbst würde in das Kunstwerk hineinkopiert. Während bei Luhmann die Kunstwerke Auslöser und Träger jeglicher Kommunikation, das heißt des Systems selbst, sind, werden sie bei Bourdieu lediglich als Indizien der sozialen Auseinandersetzungen innerhalb des Kunstfeldes beschrieben, die in Ihrer von Bourdieu diagnostizierten Stummheit offensichtlich nicht für sich selbst sprechen. In der Hinwendung Bourdieus zum sozialen Akteur sowie seiner konsequenten Abwendung von der bildimmanenten Bedeutung von Kunst und der Konzentration Luhmanns auf die Kunst als Kommunikation wird der Unterschied zwischen den beiden soziologischen Ansätzen besonders deutlich. Wie bei Becker und Luhmann, erscheint jedoch der Punkt »[d]aß sich die Arbeit der symbolischen Produktion nicht auf den vom Künstler vollzogenen materiellen Herstellungsakt reduzieren läßt«55, auch als maßgeblich für Bourdieus Sicht auf die Kunst. Betont wird die Abhängigkeit der KünstlerInnen von den übrigen Akteuren und der sich ausbildenden Institutionen und Medien des Kunstfeldes und – wie es auch bei Becker schon angeklungen war – die Bedeutsamkeit der Distribution der Kunstwerke, hier sogar im Hinblick auf ihre internationale Verbreitung: »Die Herausbildung eines noch nie dagewesenen Komplexes von Institutionen zur Registrierung, Bewahrung und Untersuchung von Kunstwerken (Reproduktion, Kataloge, Kunstzeitschriften, Museen, die die neuesten Werke aufnehmen, usw.), der immer größere Personenkreis, der sich voll oder partiell der Zelebrierung des Kunstwerks widmet, die raschere Zirkulation der Werke der Künstler – mit den internationalen Ausstellungen und der Vermehrung von Galerien, die Filialen in diversen Ländern eröffnen –: dies alles wirkt dabei mit, daß sich ein noch nie dagewesenes Verhältnis zwischen den Interpreten und dem Kunstwerk entwickelt.«56
Ein wesentlicher Teil der Handlung der Akteure ist damit die diskursive Handlung und zwar für die Entstehung von Kunstwerken selbst. Für Bourdieu stellt der Diskurs über das Kunstwerk nicht nur ein »unterstützendes Mittel […] zum Erfassen und Würdigen« dar, sondern »ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts«.57 Nicht nur die Produktion des Kunstwerks, sondern die Produktion, Reproduktion und damit die Begrenzung des Feldes wird diskursiv bestimmt. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu Luhmann, der sich in seiner Kunstsystemtheorie auf Diskurse durch Kunst und nicht auf diejenigen über Kunst bezieht. Bourdieus Charakterisierung des Kunstfeldes als Arena ständiger Kämpfe lässt die Schlussfolgerung zu, dass man es hier mit einer hohen Diversität
55 Bourdieu 2001: 275. 56 Bourdieu 2001: 276. 57 Bourdieu 2001: 276.
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an Definitionen von Kunst und dem Feld zu tun hat und damit von einer relativen Dynamik der Grenzen des Feldes ausgehen kann. Keine dem Feld immanente Definition kann deshalb universellen Anspruch erheben, denn sie ist an die jeweilige Situation, Kontext und den Zeitpunkt gebunden, in der sie gegeben wird. »Wenn demnach universell gilt, daß das literarische (usw.) Feld die Stätte eines Kampfes um die Definition des Schriftstellers (usw.) ist, dann gibt es keine universelle Definition des Schriftstellers, und die Untersuchung wird stets nur auf Definitionen stoßen, die dem jeweiligen Stand des Kampfes um die legitime Definition des Schriftstellers entsprechen.«58
So legt Bourdieu nahe, dass jede konkrete Beschreibung des aktuellen Zustands des Kunstfeldes sich nur als eine Momentaufnahme ergeben kann und diese auch nur eine von vielen ist. Diese Auffassung deckt sich mit dem Prinzip der Autonomie des Kunstfeldes, die diese Pluralität der Blickpunkte zulässt und sich als unendliches Universum von Möglichkeiten darbietet. An dieser Stelle sei auf die Analogie Bourdieus Ausführungen zu den ethnologischen Theorien Victor Turners verweisen: »In the present context, ›fields‹ are the abstract cultural domains where paradigms are formulated, established, and come into conflict. Such paradigms consist of the sets of ›rules‹ from which many kinds of sequences of social action may be generated but which further specify what sequences must be excluded. Paradigm conflict arises over exclusion rules.«59
Zwar bezieht sich Turner nicht explizit auf das Kunstfeld, seine Feldtheorie ist aber durchaus mit derjenigen Bourdieus vergleichbar. Darüber hinaus verwendet Turner ebenfalls den Begriff Arena, wenn er von den Feldern als Domänen gesellschaftlicher Konflikte spricht. Stärker als Bourdieu bezieht er sich dann aber auf die Entwicklung konkreter Metaphern und Symbole, die in den feldimmanenten Machtkämpfen eine große Rolle spielen. »›Arenas‹ are the concrete settings in which paradigms become transformed into metaphors and symbols with reference to which political power is mobilized and in which there is a trial of strength between influential paradigmbearers.«60 Der Blick auf Metaphern und Symbole ist in Bezug auf einen diskursanalytischen Ansatz besonders aufschlussreich, da diese die Rhetoriken der Diskurse deutlich prägen.
58 Bourdieu 2001: 355. 59 Turner 1974: 17. 60 Turner 1974.
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Alle drei Soziologen setzen sich mit Kunst als einer Sphäre gesellschaftlichen Lebens auseinander. Sie wird damit neben Bildung, Wirtschaft, Politik, Religion etc. als soziales Moment behandelt, das innerhalb der Gesellschaft einen eigenen Bereich der Produktion und Reflexion beansprucht. Anders als in den Kunstwissenschaften richtet sich der Blick stärker auf die sozialen Akteure, die sich aus unterschiedlichen Positionen und Motivationen heraus und in wechselseitigen Beziehungen zueinander mit Kunst auseinandersetzen, das heißt diese produzieren (materiell wie ideell) und damit in ihrer Gesamtheit die Kunstwelt(en), das Kunstsystem bzw. das Kunstfeld generieren. Durch unterschiedliche Perspektivierungen ergeben sich unterschiedliche Bezugspunkte zur Thematik: Der empirische Ansatz Beckers bezieht sich auf den direkten Umgang der Partizipanten und fokussiert damit die aktive Kooperation der Akteure auf einer Mikroebene. Luhmanns kommunikationstheoretischer Ansatz ist dagegen auf einer viel abstrakteren Ebene angesiedelt. Er betrachtet gesellschaftliche Systeme nicht als Personenkonstellationen oder als Bereiche, zu denen sich bestimmte Personen zuordnen lassen, sondern als Kommunikationsformen. Auf diese Art und Weise gelingt es ihm, übergeordnete, funktionale Zusammenhänge des Kunstsystems als eigenes Kommunikationssystem zu erkennen und Kunst insgesamt als sehr spezifischen gesellschaftlichen Kommunikationsmodus darzustellen. Bourdieus Interesse an der habituellen Praxis fordert einen sehr nahen Bezug zu den Akteuren, gleichzeitig ergibt sich aus der Suche nach konkreten Strukturen und Machtrelationen ein Blick auf das Kunstfeld aus der Mesobzw. sogar Makroperspektive. Die folgenden Abschnitte stellen den Versuch dar, einige Aspekte der jeweiligen Ausführungen gegenüberzustellen. Dabei sollen sie kritisch hinterfragt und ihre Relevanz für die Definition des hier verwendeten Kunstweltbegriffs geprüft und füreinander fruchtbar gemacht werden. Howard Becker, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu haben ihren Blick direkt auf Kunst im jeweils europäischen bzw. nordamerikanischen gesellschaftlichen Kontext gerichtet und damit ihre Beschreibungen von Kunstwelten, Kunstsystem und Kunstfeld im Erkennen der dort vorherrschenden Dispositionen formuliert. Es ist der Anspruch dieser Studie, den Horizont für die Betrachtung von Kunstwelten zu erweitern und schließlich eine globale Kunstwelt zu beschreiben. 2.1.4 Dynamische Stabilität In der Auseinandersetzung mit Kunst als gesellschaftlichem Phänomen im Sinne Beckers, Luhmanns und Bourdieus werden Koordinaten bestimmbar, die es erlauben, einen spezifischen sozialen Bereich abzustecken, der als Kunstwelt(en), Kunstsystem oder Kunstfeld definierbar wird. Konventionen (Becker), Regeln (Bourdieu) oder auch bestimmte Kommunikationsflüsse (Luhmann) werden in ihrer Eigenschaft, Strukturen und Grenzen zu formieren, als derartige Orientierungspunkte erkennbar.
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Howard Becker zufolge werden jegliche Aktivitäten innerhalb der Kunstwelten in Bezug auf ein Corpus konventionellen Verständnisses koordiniert. Letzteres bildet die Basis für das Erschaffen von Kunst. Becker behauptet außerdem, selbst das Erleben von Kunst sei erst in der Kenntnis bestimmter, kollektiv anerkannter Konventionen möglich: »[…] the possibility of artistic experience arises from the existence of a body of conventions that artists and audiences can refer to in making sense of the work.«61 Festgelegte Konventionen erlauben es sowohl Spezialisten als auch Laien, Kunst wahrzunehmen und damit am Geschehen in den Kunstwelten teilzunehmen: »Most important, they [conventions, K.S.] allow people who have little or no formal acquaintance with or training in the art participate as audience members – to listen to music, read books, attend films or plays, and get something from them. Knowledge of these conventions defines the outer perimeter of an art world, indicating potential audience members, of whom no special knowledge can be expected.«62
Auch wenn Becker das Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Aktivitäten verschiedenster Akteure in der Konstitution der Kunstwelten betont, so besteht für ihn doch kein Zweifel, wer den allgemein anerkannten Kanon etabliert. Die Entscheidungen darüber, was als Kunst gilt und was nicht sowie die Möglichkeiten ihrer Einschätzung und (monetären) Bewertung liegen in den Händen einer elaborierten Gruppe von Wissenschaftlern/innen und Theoretikern/innen: »For reputations to arise and persist, critics and aesthetics must establish theories of art and criteria by which art, good art, and great art can be distinguished and identified. Whithout those criteria, no one could make the judgements of works, genres, or media on which the judgements of artists depend. [...] Likewise, historians and scholars must establish the canon of authenticated works which can be attributed to an artist, so that the rest of us can base our judgements on the appropriate evidence. The distribution system relies on these scholarly judgements to ratify its choices of what to distribute (and at what price).«63
Valorisierungs- und Distributionsmechanismen sind demnach an bestimmte Akteure und Institutionen gebunden. Becker weist jedoch klar darauf hin, dass jede Form der Reputation von Kunstwerken das Produkt eines allgemeinen Konsens’ ist, das heißt letztlich das Produkt kollektiver Akzeptanz eines etablierten Kanons. Bourdieu diagnostiziert in ähnlicher Weise, dass das Kunstwerk seinen Wert nur »durch einen kollektiven Glauben als kol-
61 Becker 2008: 30. 62 Becker 2008: 46. 63 Becker 2008: 360.
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lektiv produzierte und reproduzierte kollektive Verkennung gewinnt.«64 Grundlegend hierfür ist wiederum die Anerkennung spezifischer Voraussetzungen. »Die Teilhabe an den konstitutiven Interessen der Zugehörigkeit zum Feld (das sie voraussetzt und zugleich durch sein Funktionieren hervorbringt) impliziert das Akzeptieren einer Gesamtheit von Vorannahmen und Postulaten, die als undiskutierte Voraussetzung der Diskussion per definitionem vor der Definition geschützt bleiben.«
Die Betrachter von Kunst bedürfen »der dazu erforderlichen ästhetischen Einstellung und Kompetenz«65, die allerdings nicht statisch festgelegt ist, sondern sich innerhalb des Kunstfeldes durch eine ständige Aushandlung durch die involvierten Akteure und Institutionen generiert. Der im Folgenden zitierte, etwas längere Absatz veranschaulicht die Bandbreite und die hohe Diversität der an der Produktion dieses Glaubensuniversums66 beteiligten Akteure und Institutionen und damit auf die hohe Komplexität des Feldes: »Kritiker, Kunsthistoriker, Verleger, Galeristen, Händler, Konservatoren, Mäzene, Sammler, Mitglieder von Konsekrationsinstanzen wie Akademien, Ausstellungsstätten, Kunstjurys usw., ferner die Gesamtheit der politischen und administrativen Stellen, die in Kunstfragen mitzureden haben (die je nach Epoche zuständigen Ministerien, Musemsdirektionen, Akademieleitungen), die durch ihre gelegentlich mit wirtschaftlichen Vorteilen (Ankauf, Subvention, Preise, Stipendien usw.), gelegentlich mit anderen Maßnahmen (steuerliche Vorteile für Mäzene oder Sammler usw.) gekoppelten Entscheidungen den Kunstmarkt beeinflussen können; nicht zu vergessen die Mitglieder der Institutionen, die zur Produktion der Produzenten (Kunsthochschulen usw.) und zur Produktion von Konsumenten beitragen, die fähig sind, ein Kunstwerk als solches, das heißt als Wert, anzuerkennen, angefangen bei den Lehrern und den Eltern, die für das erste Einprägen künstlerischer Dispositionen verantwortlich sind.« 67
Das Kunstwerk wird gesellschaftlich instituiert, indem ein allgemeiner Glaube an den Wert der Kunst produziert wird. Keinesfalls geschieht dies jedoch willkürlich. Insbesondere die Bildungsinstitutionen (z.B. Schulen, Universitäten, Akademien etc.) tragen maßgeblich zu einer Kanalisierung von künstlerischer Wahrnehmung und Sehgewohnheiten bei. Welch große Rolle die pädagogische Autorität spielt, belegt eine Studie, die Bourdieu in
64 65 66 67
Bourdieu 1999: 277. Bourdieu 1999: 362. Vgl. Bourdieu 1999: 362. Bourdieu 1999: 362.
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Bezug auf die Frage nach den sozialen Bedingungen der Kunstbetrachtung in Museen unternommen hat, sehr anschaulich.68 Bourdieu beschreibt die Felder kultureller Produktion in Analogie zur Physik als Kraftfelder oder in Analogie zur Sprache des Sports auch als »Spiel-Räume«. Felder sind demnach autonome Sphären, in denen nach bestimmten Spielregeln gehandelt wird: »Gleich den Spielen im Sport unterstehen auch die sozialen ›Spiele‹ spezifischen Regeln, die man wohl eher als konstitutive denn als regulative Regeln bezeichnen muss, da sie festlegen, was im Rahmen des Spiels möglich und was unmöglich ist, was erlaubt und was unerlaubt ist, was also das jeweilige Spiel in seiner Gesamtheit definiert und konstituiert.«69
In dieser Analogie wird besonders deutlich, wie Regeln zur Voraussetzung für die Spezifizierung des Feldes werden. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung, den Regelbegriff nicht ausschließlich in seiner einschränkenden Funktion zu begreifen, sondern als Möglichkeitsbedingung. Regeln stecken den Rahmen möglicher und unmöglicher Spielpraktiken ab, das heißt sie erhalten damit eine Art Zwangscharakter, dem sich die Mitspieler nicht entziehen können. In eben dieser Funktion machen sie das Spiel aber überhaupt erst möglich. Der starre Regelbegriff wird darüber hinaus durch den Strategiebegriff entschärft, der auf die individuelle Beweglichkeit innerhalb des Regelwerks hinweist. Die Spielzüge werden also nicht ausschließlich durch ein starres Reglement vorherbestimmt, »sie liegen vielmehr im strategischen Ermessen der Spieler.«70 Jedes kulturelle Produktionsfeld stellt für Bourdieu einen Raum der Möglichkeiten dar, in dem das Streben der Akteure durch eine vorgegebene Problematik geleitet wird, die in – bewusstem oder auch unbewusstem – Aufeinanderbezugnehmen und in der Beachtung bestimmter Regeln verhandelt wird. Dieser Raum der Möglichkeiten »funktioniert wie eine Art gemeinsames Bezugsystem, welches bewirkt, dass, selbst wenn sie sich nicht bewusst zueinander in Beziehung setzen, die zeitgenössischen Schöpfer in dem Maße aufeinander bezogen sind, wie sie allesamt zu demselben System intellektueller Koordination, intellektueller Orientierungspunkte in Beziehung gesetzt sind.«71
In seiner Entwicklung als Bezugsystem ist der Raum der Möglichkeiten das Produkt der eigenen Geschichte des Feldes und »stellt das Universum der Probleme, der Bezugnahmen, der intellektuellen Orientierungspunkte (die oft die Namen herausragender Persönlichkeiten sind), der ›Ismen‹ dar, die
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Bourdieu/Darbel 2006. Schwingel 2003: 83. Schwingel 2003: 83-84. Bourdieu 1989: 131.
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man im Kopf – was nicht heißen will, im Bewusstsein haben muss, um im Spiel, um mit von der Partie zu sein.«72 Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien strukturieren also die Wahrnehmung und Bewertung der vom Feld vorgegebenen unterschiedlichen Positionen und ermöglichen damit auch die Verortung der Akteure im Feld. Nach Bourdieu entspricht jedem Akteur, jeder Produktions- und jeder Produktform »ein (bereits existierender oder zu schaffender) natürlicher Ort im Feld der Produktion« – diejenigen, die von diesem Platz abweichen, »sind mehr oder weniger zum Scheitern verurteilt«.73 Der Aspekt der Begrenzung des Feldes durch ein vorherrschendes Regelwerk wird damit besonders deutlich. Wie aus den zitierten Passagen Beckers und Bourdieus bisher abzuleiten ist, entstehen die die Kunstwelten oder das Kunstfeld umgrenzenden Konventionen in der kollektiven Aushandlung durch Akteure. Es sind darüber hinaus jeweils bestimmte (die Diskussionen dominierende) Instanzen präsent, die spezifische Kriterien und Kategorien zur Definition und Bewertung von Kunst aufstellen. Dieser Prozess der Festschreibung weist auf die jedem System grundlegende Statik hin, ohne die es nicht bestehen könnte, unterliegt aber gleichzeitig einer gewissen Dynamik, da er sich als ständiges Ringen um hierarchische Strukturen gestaltet. In direktem Bezug auf das Zusammenspiel von Stabilität und Dynamik seien hier noch einige Aspekte der Theorie Niklas Luhmanns aufgegriffen, auch wenn es möglicherweise auf den ersten Blick problematisch scheint, seine Vorstellungen der Ausdifferenzierung des Kunstsystems direkt auf diejenigen Bourdieus und Beckers zu beziehen.74 Auch wenn Luhmann nicht direkt von der Ausbildung konkreter Regeln oder Prinzipien des Kunstsystems ausgeht, die zu seiner spezifischen Charakterisierung und Funktion beitragen, so sind seine Überlegungen zur Ausdifferenzierung des Kunstsystems als einer autonomen, das heißt in gewisser Weise auch stabilen, bestimmbaren Kommunikationssphäre von Interesse, wenn es um die Frage nach der gesellschaftlichen Sphäre der Kunst als einem kollektiven Glaubensuniversum geht, wie es Bourdieu formuliert. »Der Zusammenhang von funktionaler Spezifikation und Ausdifferenzierung von Funktionssystemen ist in jedem Falle ein gesellschaftsgeschichtlicher Zu-
72 Bourdieu 1989: 130. 73 Bourdieu 1999: 267. 74 Dies liegt vor allem daran, dass die Beschreibung des Kunstsystems auf einer stark abstrakten systemtheoretischen Ebene verläuft und dem konkreten Handeln von Akteuren und der Ausbildung einzelner Institution nur sekundäre Bedeutung eingeräumt wird. Regeln und Stilvorstellungen sind für Luhmann beispielsweise einem dem Kunstsystem spezifischen (binären) Kodierungssystem untergeordnet – darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden – und für die Bestimmung des Funktionssystems »weitgehend entbehrlich«. Statt auf vorherrschende Regeln legt Luhmann sein Augenmerk auf konkrete Ereignisse, d.h. konkrete Operationen (Wahrnehmung, Kommunikation).
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sammenhang, der für lange Zeit auf eine Protektion durch geläufige Kontexte angewiesen bleibt.«75 Das, was innerhalb des Kunstsystems geläufig wird und damit Bestand hat, ist nach Luhmann das Ergebnis einer rekursiven Wiederverwendbarkeit von Ereignissen. »Nur auf der Ebene elementarer Ereignisse hat das Kunstsystem Realität.«76 Mit Ereignissen meint er Operationen wie bewusste Wahrnehmungen und Kommunikationen. Durch ein Wiedererkennen sich wiederholender und schließlich organisierter Operationen wird Beständigkeit erzeugt, die zur Ausbildung und zur Stabilität eines autonomen Systems beitragen. Stabilität entsteht laut Luhmann also letztlich nicht durch das statische Verharren einzelner Momente sondern durch stetige Wiederholung und Neuformierung von Ereignissen. Das Kunstsystem beruht »auf dem Dauerzerfall seiner Elemente, auf der Vergänglichkeit seiner Kommunikationen, auf einer Art alles durchdringender Entropie, gegen die dann das, was Bestand gewinnt, organisiert sein muß.«77 In dieser Organisation gewinnt das System seine Festigkeit und Dauerhaftigkeit. Interessant ist hierbei die Annahme, dass die dem Kunstsystem inhärente Organisation auf der Anerkennung sich wiederholender Ereignisse basiert. Der Aspekt des Dauerhaften und Festgelegten entsteht damit nicht zuletzt als Moment des Gewohnten. Die Rückführung dieser Stabilität auf die Folge permanent stattfindender elementarer Ereignisse und der Organisation von Beständigem lässt ein Begreifen des Kunstsystems als einem organisierten, letztlich aber auch stark dynamischen Gefüge zu. Die Stabilität eines Systems, das seine Basis in zeitpunktgebundenen Ereignissen hat, kann deshalb nach Luhmann nur »dynamische Stabilität« sein und beruht auf einem »ständigen Auswechseln seines Bestandes«.78 Dies mutet zunächst paradox an, entspricht aber dem, was auch Becker und Bourdieu im Hinblick auf die Kunstwelten bzw. das Kunstfeld diagnostizieren. Die Strukturierung oder Organisation von Kunstwelten, Kunstfeld oder Kunstsystem ist keinesfalls statisch, sondern wird permanent neu ausgehandelt und unterliegt damit ständigem Wandel. »Art worlds change continuously – sometimes gradually, sometimes quite dramatically. New worlds come into existence, old ones disappear. No art world can protect itself fully or for long against all the impulses for change, whether they arise from external sources or internal tensions.«79
Während Luhmann die Ausdifferenzierung des Kunstsystems auf einer neutralen Kommunikationsebene wähnt und die Prozesse dynamischer Stabilisierung fast schon automatisiert schildert, begreift vor allem Bourdieu das
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Luhmann 1995: 226. Luhmann 1995: 84. Luhmann 1995: 84. Luhmann 1995: 84. Becker 2000: 300.
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Kunstfeld als stark hierarchisch geprägtes Feld des Kampfes. Das Attribut dynamisch verweist in diesem Falle nicht nur auf dauernden Austausch einzelner Elemente und deren Festigung durch rekursive Wiederholbarkeit, sondern auf permanenten Konflikt. »The literary or artistic field is a field of forces, but it is also a field of struggles tending to transform or conserve this field of forces.«80 In seiner Beschreibung des Kunstfeldes als Spielfeld ist die Möglichkeit des Aufkündigens bestehender Spielregeln durchaus implizit, wenn es zu Konflikten zwischen den Gegenspielern kommt, die partikulare Interessen verfolgen. Auch Begriffe wie Macht und Prestige, die bei Luhmann keine Rolle spielen, gewinnen hier an Gewicht. Der Wandel innerhalb des Kunstfeldes gründet nach Bourdieu auf zwei gegenläufigen Strategien innerhalb des Feldes: »die ›Erhaltungsstrategien‹, die von den etablierten Akteuren innerhalb des Feldes eingesetzt werden, um ihre (herrschenden) Positionen aufrechtzuerhalten, und die ›Strategien der Häresie‹ (SF 109), der Infragestellung der etablierten Ordnung, die darauf zielen, ihrerseits herrschende Positionen zu erobern und dadurch die momentan Herrschenden aus ihrer Dominanz zu verdrängen.«81
Die ständigen Auseinandersetzungen um die Beschaffenheit des Kunstfeldes sind also durchaus sehr stark von subversiven Elementen durchzogen. Bei eingehender Lektüre von Bourdieu, aber auch von Becker und sogar Luhmann wird außerdem klar, dass Momente des Wandels der/s Kunstwelten, -felds und -systems notwendig für ihr Weiterbestehen ist. Beispielhaft wird immer wieder auf die Avantgarde-Bewegungen des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts Bezug genommen, die grundlegend für die Ausbildung oder Ausdifferenzierung der Kunst als autonomen Bereich innerhalb der Gesellschaft waren. »Die Manifestationen und Manifeste all derer, die seit Beginn dieses Jahrhunderts ein neues, durch einen Begriff auf -ismus bezeichnetes künstlerisches Regime oktroyieren suchen, zeugen davon, daß die Revolution sich tendenziell als das Modell des Zugangs zur Existenz im Feld durchsetzt.«82
Nicht umsonst beschreibt Bourdieu, gestützt auf die Geschichte des Impressionisten Manets, der sich gegen die etablierten Regeln der Académie Royale stellte und damit eine neue Kunst schuf, die Institutionalisierung der Anomie als konstitutiv für das Kunstfeld: »The constitution of the field is, in the true sense of the word, an institutionalization of anomie.«83 Selbst Luhmann konstatiert, dass »Kunst, wenn sie als eigenes autopoietisches System
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Bourdieu 1993a: 30. Schwingel 2003: 98. Bourdieu 1999: 204. Bourdieu 1993b: 252.
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ausdifferenziert wird, immer etwas Neues«84 anbieten muss, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten und damit das Moment der ständigen Wiederholbarkeit regelmäßig aufgebrochen werden muss. Diese Neuheit kann sowohl durch neue Kunstwerke, aber auch durch sich variierende Betrachtungen vorhandener Werke hervorgebracht werden. In sich bleibt das System allerdings geschlossen und lässt sich in seiner Reproduktion seiner Reproduktionsbedingungen nicht unterbrechen. Auch revolutionäres Aufbegehren, wie es von Becker und Bourdieu beschrieben wird, wirkt sich keinesfalls destruktiv auf Kunstwelten und Kunstfeld aus. »Und tatsächlich werden durch die ständigen Teilrevolutionen, die im Feld stattfinden, die Grundlagen des Spiels selbst, seine Grundaxiomatik, der Grundstock letzter Überzeugungen, auf denen das ganze Spiel beruht, nicht in Frage gestellt.«85 »Revolutions do not change every pattern of convention-mediated cooperative activity. If they did, we would not call them revolutions but rather would see them as development of an entirely new art world.«86 Die Stabilität von Kunstwelten, Kunstfeld und Kunstsystem lässt sich in der Zusammenschau der Gedanken Howard Beckers, Niklas Luhmanns und Pierre Bourdieus als dynamisch beschreiben. Die Stabilität konstituiert sich aus der dynamischen Verkettung von Theorie und Praxis, Kooperation und Kommunikation, Akzeptanz und Subversivität, Beständigkeit und Wandel, Anpassung und Innovation. Die Macht der Gewohnheit spielt ebenso eine große Rolle wie das bewusste Festhalten an oder das Aufbegehren gegen bestehende Kriterien oder Dispositionen – ob man sich nun auf rein kunsttheoretische Aspekte und Kunstpraxis innerhalb oder auf die Beschaffenheit und Struktur diverser Kunstwelten selbst beziehen mag. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation der globalen Kunstwelt, die sich durch unzählige Konflikte auszeichnet, drängt es sich geradezu auf, die Prozesse dieses Oszillierens zwischen Konvention und Innovation näher zu beleuchten. Es ist jedoch nicht damit getan, der globalen Kunstwelt dynamische Stabilität zu diagnostizieren, sondern diese konkreter zu analysieren. Insbesondere Pierre Bourdieu hat sich in seinen Untersuchungen dezidiert der Dynamik des künstlerischen Feldes gewidmet. In »Die Regeln der Kunst« und zahlreichen weiteren Publikationen zum Thema Kunst finden sich Modelle, die das Kunstfeld als Arena des Kampfes um Macht, Prestige, Anerkennung und Geld eindrucksvoll versinnbildlichen. Sein wohl wichtigster Beitrag in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung eines Verständnisses kultureller Produktionsfelder im Sinne ökonomischer Praxis. Bourdieu operiert hier mit dem Kapital-Begriff, den er nicht nur auf seine wirtschaftswissenschaftliche Bedeutung reduziert, sondern auch auf soziale und kulturelle Komponenten überträgt.
84 Luhmann 1995: 85. 85 Bourdieu 1976: 124. 86 Becker 2008: 307.
80 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder unmöglich ist. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.«87
In seiner Unterscheidung dreier verschiedener Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles und soziales – insgesamt als symbolisches Kapital zusammenzufassen) und deren Beziehung zueinander gelingt es ihm, sehr komplexe Zusammenhänge und Mechanismen der Wertbildungs- und Transformationsprozesse innerhalb des Kunstfeldes und die Rolle der involvierten Akteure und Institutionen auf verschiedenen Ebenen recht schlüssig nachzuvollziehen 2.1.5 Weltbegriff Angesichts der inhaltlichen Unterschiede der Begrifflichkeiten Kunstwelten, Kunstsystem und Kunstfeld liegt in der Favorisierung eines einzigen Begriffs ebenso wenig Überzeugungskraft wie in dem Argument, die jeweiligen Bezeichnungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunter zu brechen und sie damit synonym zu verwenden. Die endgültige Entscheidung für den Begriff Kunstwelt für diese Studie hat mehrere Gründe. Zum einen wird er in den meisten aktuellen kunstethnologischen Arbeiten gebraucht. Die in diesem Kontext verwendete Bezeichnung Kunstwelt (im englischsprachigen Raum art world) basiert auf den kunstphilosophischen Überlegungen von Arthur Danto88 und George Dickie89. Den vorgestellten soziologischen Ansätzen ähnlich heben Danto und Dickie die am Kunstdefinitionsprozess beteiligten Akteure in den Vordergrund und entziehen sich damit den abstrakten, ausschließlich auf die Kunstwerke bezogenen Konstruktionen von Kunst und Kunstwelt. Vor allem Bourdieus Beschreibungen des Kunstfelds kommen sehr nah an die von Dantos Kunstwelt heran. Auch bei Howard Becker finden sich deutliche Ansatzpunkte: »All artistic work, like all human activity, involves the joint activity of a number, often a large number, of people. […] The forms of cooperation may be ephemeral, but often become more or less routine, producing patterns of collective activity we can call an art world.«90
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Bourdieu 1997: 50. Danto 1964. Dickie 1975. Becker 2008: 1.
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Ein tragendes Argument für die Verwendung des Kunstweltbegriffs liegt darüber hinaus in der Konkretisierung des Weltbegriffs. Welt verweist im Rahmen der zitierten soziologischen Arbeiten auf den kooperativen bzw. kommunikativen sozialen Kontext, in dem Kunst entsteht. »The world exists in the cooperative activity of those people, not as structure or organization, and we use words like those only as shorthand for the notion of networks of people cooperating.«91 Welt ereignet sich nach dieser Auffassung im menschlichen Zusammenleben bzw. durch Interaktion. Eine eingehendere Reflexion des Begriffs findet sich bei Becker jedoch nicht, bei Bourdieu wird der Begriff überhaupt nicht direkt verwendet. Die Theorien Niklas Luhmanns hingegen basieren letztendlich sehr konkret auf einem Verständnis von Welt als einer kontingenten, im sozialen Agieren entstehenden Wahrnehmung und gehen damit über die einfache soziologische Definition von Welt als menschliches Zusammenleben hinaus. Für Luhmann stellt die Welt den »Gesamthorizont« dessen dar, was als Beschreibung der Welt selbst angefertigt werden kann.92 »Die Welt der modernen Gesellschaft ist eine Hintergrundunbestimmtheit (›unmarked space‹), die Objekte erscheinen und Subjekte agieren lässt.«93 In Kommunikationsprozessen werden Formen von Welt sichtbar, das heißt, die Welt ereignet sich in der Kommunikation. Durch die Annahme der Welt als einem Gesamthorizont alles Möglichen und weil jeder in die Welt bzw. in die Wahrnehmung von Welt im Kommunikationsprozess eingebunden ist, wird die Beobachtung von Welt als einem Ganzen unplausibel: Wer die Welt beobachtet, kann nicht gleichzeitig sich selbst beobachten, das heißt eine vollständige Wahrnehmung der Welt ist unmöglich. Welt ist weder als Entität, noch als Unendlichkeit, noch als absoluter Raum oder als die absolute Zeit beschreibbar. »Sie ist vielmehr eine unfaßbare Einheit, die auf verschiedene und nur auf verschiedene, Weisen beobachtet werden kann.«94 Die Beschreibung von Welt ist damit unterschiedlich möglich und auch die Welt selbst ändert sich im ständigen Fluss der Kommunikationen. »Sofern die Welt für alle Beobachter (für jede Wahl einer Unterscheidung) dieselbe ist, ist sie unbestimmbar. Sofern sie bestimmbar ist, ist sie nicht für alle Beobachter dieselbe, weil Bestimmung Unterscheidung erfordert.«95 Ein solches Verständnis von Welt als eine kontextbezogen ausdifferenzierte Gestalt unterstreicht den Charakter des hier beschriebenen Kunstweltbegriffs. Sowohl die dynamische Stabilität, als auch die Positionsbestimmtheit des Beobachters werden in Luhmanns Weltbegriff zusammengefasst. Überträgt man dieses Verständnis von Welt nun auf den Begriff der Kunstwelt so wird damit eine differenzierte Sichtweise auf den Bereich Kunst und
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Becker 2008: 35. Vgl. Luhmann 1997a: 153. Luhmann 1997a: 148. Luhmann 1997a: 155-156. Luhmann 1997a: 155.
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die mit ihr verbundenen Diskurse übertragen. Die Wahrnehmung der globalen Kunstwelt, wie sie hier beschrieben wird, kann in diesem Sinne also nur eine unter mehreren sein. Sie kann nicht als endgültig feststehende Einheit erfasst werden, sondern ist nur situativ und abhängig vom Beobachterstandpunkt beschreibbar. Allein in der Wahrnehmung und Anerkennung alternativer Sichtweisen ist die globale Kunstwelt überhaupt erst sinnvoll erfassbar. Gerade für eine kunstethnologische Perspektive ergibt sich diese Auffassung als eine Grundmaxime, wie sie der australische Ethnologe Nicolas Thomas in Bezug auf den Umgang mit indigener zeitgenössischer Kunstproduktion treffend beschrieben hat: »Anthropologists have long sought to represent the so-called native point of view, or at least have deployed this notoriously problematic claim rhetorically. An anthropology engaged with contemporary art could give this claim new credibility, in the sense that artists are presented not as informants but as co-interpreters of the issues that preoccupy anthropology and cultural historians.«96
Es darf an dieser Stelle allerdings nicht der Eindruck entstehen, der Begriff Kunstwelt decke sich mit dem Luhmannschen Begriff des Kunstsystems. Mit dem von hier verwendeten Begriff der globalen Kunstwelt wird ein ganz bestimmter Bereich von Kunst, vordergründig die institutionalisierten Domänen der Repräsentation und Distribution von (Gegenwarts-)Kunst auf internationaler Ebene, umrissen. Luhmanns Systemtheorie beschreibt keinen abgrenzbaren Bereich in diesem Sinne; den speziellen Bereich der Kunstproduktion und -distribution weist er als Kunstbetrieb aus, den das Kunstsystem lediglich zur Verfügung stellt. Seine systemtheoretischen Ausführungen gestalten sich insgesamt eher als Metatheorie, die den Prozess der Ausdifferenzierung bestimmter funktionaler (Kommunikations-)Systeme innerhalb der Gesellschaft nachvollziehbar macht. Darüber hinaus ist die Idee der Funktionssysteme bei Luhmann universal angelegt97, das heißt er verwendet den Begriff Weltgesellschaft und überträgt sein Theoriengebäude auf alle existenten Gesellschaften. Mehrere, unterscheidbare Kunstsysteme gibt es bei Luhmann also nicht. Gerade im Hinblick auf das Phänomen der Globalisierung, das Luhmann eng mit seinem Modell der Weltgesellschaft verbindet (alle Funktionssysteme tendieren zur Globalisierung98), kann man ihm dennoch zugutehalten, dass sein Modell der Weltgesellschaft immerhin regionale Unterschiede erkennt und akzeptiert. So diagnostiziert er beispielsweise das Scheitern eines universalen Museums: »Und überall gelten heute Museen oder musealisiertes Wissen als Kontext, vor dem und gegen den sich neue Kunst als neu durchzusetzen hat; aber zugleich ist die Idee
96 Thomas 1999b: 4. 97 Vgl. Luhmann 1997b: 809. 98 Luhmann 1997b: 809.
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des universalen Museums gescheitert, und die Kontexte, die funktional äquivalent das Sehen von Neuem ermöglichen, werden in zahllosen, auch regionalen Brechungen immer wieder neu erfunden. Nur die Struktur Werk/Kontext hat sich weltgesellschaftlich durchgesetzt, aber gerade sie ermöglicht nun auch die Differenzierung der Kontexte, die unterschiedlichen Innovationen unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten bieten.«99
Diese Differenzierungen ergeben sich allerdings lediglich aus »Unterschieden der Teilnahme an und der Reaktion auf die dominanten Strukturen des Weltgesellschaftssystems«100 und sind nicht mit möglichen alternativen Vorstellungen von Gesellschaftssystemen zu erklären. Das Kunstsystem differenziert sich damit überall in ähnlicher Weise als funktionales System heraus, kann sich aber in regional unterschiedlichen Ausformungen der Kunstkommunikation durch variierende Kontexte variabel ausbilden. Zusammenfassend beschreibt Luhmann mit dem Kunstsystem eine spezifische Kommunikationsform, die sich als eigenes System gesellschaftlichen Zusammenlebens ausdifferenziert. In diesem Sinne unterscheidet sich seine Perspektive deutlich von derjenigen Beckers und Bourdieus, die gezielt auf Akteure und Institutionen der Kunstwelt bzw. des Kunstfelds Bezug nehmen. Sie liefert dennoch eine Definition von Welt, die für die Bedeutung der in dieser Studie gebrauchten Bezeichnung Kunstwelt eine entscheidende Rolle spielt. Während der Weltbegriff für Luhmann zum Basisvokabular seiner systemtheoretischen Ausführungen gehört, wird er hier zur Beschreibung kleinerer Analyseeinheiten verwendet. Wie wichtig eine differenzierte Sichtweise auf die Welt im Großen und analog dazu auf einzelne Kunstwelten im Kleinen gerade in Bezug auf die Globalisierungsthematik ist, wird im dritten Kapitel verdeutlicht. Der Weltbegriff erweist sich in diesem Sinne als abstraktes, offenes Konzept zur Beschreibung verschiedenster Bereiche menschlichen Zusammenlebens. Schließlich ist die Welt »nicht durch Grenzen geschlossen, sondern durch den ihr aktivierbaren Sinn.«101 Gerade in der wissenschaftlichen Konstruktion analysierbarer Forschungsbereiche erweist sich eine solche Beschreibung von Welt in der Reflexion der jeweiligen Beobachterperspektive besonders fruchtbar. 2.1.6 Diskurs Ein Aspekt, der für die Darstellung der globalen Kunstwelt eine wichtige Rolle spielt, ist die Diskursführung. Es wird kein bestimmter disziplinärer Diskurs (philosophisch-ästhetischer, bildanalytischer etc.) untersucht. Die
99 100 101
Luhmann 1997b: 163. Luhmann 1997a: 167. Luhmann 1997a: 153.
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globale Kunstwelt formiert sich vielmehr durch die Überschneidung von Diskursen diverser Kunstwelten, die sich z.B. im Zeitschriftenprojekt der »document 12« deutlich abzeichnet. Daraus entsteht ein Globalisierungsdiskurs, der wiederum dem Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure der lokalen und globalen Kunstwelt/en (KünstlerInnen, KuratorInnen, KritikerInnen, KunstwissenschaftlerInnen, SammlerInnen etc.) geschuldet ist. Deshalb gründet die Kunstweltdefinition vornehmlich auf soziologischen Ansätzen und nicht auf kunstwissenschaftlichen oder philosophischen Theorien. Insgesamt gilt zu beachten, dass der Diskursbegriff im Zusammenhang mit Kunst immer in mindestens zwei Dimensionen denkbar ist. Diese können genau genommen nie exakt voneinander unterschieden werden, doch besteht die Möglichkeit, bzw. die Notwendigkeit, sie methodisch getrennt zu beschreiben und zu analysieren. Zum einen werden Diskurse in der Kunst selbst, das heißt in oder durch die Werke hergestellt. Dieser Diskursebene widmet sich vor allem die Kunstgeschichtsschreibung. Auch Luhmann bezieht sich in seinen Ausführungen ausschließlich auf diese erste Dimension. Wenn er von einem Kunstsystem als Kommunikationssystem spricht, so ist mit Kommunikation nicht die sprachliche Kommunikation gemeint, sondern die der Kunst eigene Kommunikation über oder durch Formen. »Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, daß sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache, also auch unter Vermeidung all der an Sprache hängenden Normalitäten durchzuführen. Ihre Formen werden als Mitteilungen verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation.«102
Das Kunstwerk selbst wird »ausschließlich als Mittel der Kommunikation hergestellt«103, wobei Sprache völlig umgangen und die Form zum kleinsten gemeinsamen Nenner der Kommunikation wird. In der Wahrnehmung bestimmter Formenabhängigkeiten und Formzusammenhänge entsteht laut Luhmann nicht nur eine Verbindung zwischen Werk und Betrachter, sondern auch eine kommunikative Beziehung zwischen KünstlerIn und BetrachterIn. Die Kopplung erfolgt auf einer gemeinsamen Basis der Formenbeobachtung. Zwar können die Urteile, Geschmacksrichtungen oder die ästhetischen Präferenzen der jeweiligen BeobachterInnen variieren, die Formen bilden aber einen Fixpunkt der Beobachtung und Wahrnehmung. »[I]n der Formenabhängigkeit und in der Fixierung der Formzusammenhänge durch das Kunstwerk selbst besteht, ähnlich wie im Falle der Sprache, genug Gemeinsamkeit, daß man von Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter sprechen kann.«104 Das Reden und Schreiben über Kunst wird von Luhmann lediglich als sekundäre Kommunikation bezeichnet.
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Luhmann 1995: 39. Luhmann 1995: 41. Luhmann 1995: 76.
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»Diese sekundäre Kommunikation auf der Ebene der Kunstkritik und der Kunstkommentierung, des Bekanntmachens, des Empfehlens oder Ablehnens von Kunstwerken hat ihren eigenen Sinn, besonders in einer Zeit, in der Kunstwerke kommentarbedürftig geworden sind (Gehlen).«105
Bourdieu trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn er über zwei in der sozialen Welt produzierten, sich gegenseitig nährende »Realitäten« als »the work of art as an object of belief, and the critical discourse on the work of art«106 referiert. Er verknüpft die beiden Dimensionen Kunstwerk und verbalen Kunstdiskurs allerdings direkt miteinander, indem er den Diskurs über die Werke als konstitutives Mittel ihrer Entstehung betrachtet. »Der Diskurs über das Kunstwerk ist kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts.«107 Anders als Luhmann fokussiert Bourdieu nicht das Kunstwerk in seiner Funktion als Kommunikationsmedium, sondern den sozialen Kontext, in dem sich das Werk in der Ausbildung kollektiver Übereinstimmung zum Kunstwerk entwickeln kann. Wie bereits im Abschnitt »Dynamische Stabilität« erläutert, zählt Bourdieu somit »Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthändler usw.« zu denjenigen, die auch den Künstler innerhalb des Kunstfeldes überhaupt erst als solchen ausweisen. Damit ist erneut darauf verwiesen, »daß sich die Arbeit der symbolischen Produktion nicht auf den vom Künstler vollzogenen Herstellungsakt reduzieren läßt […]. Die künstlerische Arbeit in ihrer neuen Definition macht die Künstler stärker als je zuvor abhängig von einem ganzen Gefolge von Kommentaren und Kommentatoren, die kraft ihrer Reflexion auf eine Kunst, die häufig selbst eine Reflexion auf die Kunst verkörpert, und auf eine künstlerische Arbeit, die immer auch die Arbeit des Künstlers an sich selbst beinhaltet, direkt zur Produktion des Kunstwerks beitragen.«108
Die Beachtung der Diskurse über Kunst ist für die vorliegende Untersuchung entscheidend. Kommentare zu oder über Kunst in gesprochener oder geschriebener Form gehören dabei ebenso zum Quellenmaterial wie Zeugnisse wirtschaftlicher Valorisierung von Kunstwerken. Relativ gut nachvollziehen lassen sich Mechanismen, die die (verbalen) Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Kunst beeinflussen und lenken, anhand der Beiträge Bourdieus, da dieser sich eingehend mit den Rollen verschiedener Akteure und Institutionen sowie den Prozessen der Beurteilung und Wertbeimessung von Kunst beschäftigt hat. Grundlegend hierfür ist seine Habitustheorie, welche sich als Konstitutionstheorie sozialer Praxis ergibt. Diese richtet sich
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Luhmann 1995: 40. Bourdieu 1993: 239. Bourdieu 1999: 276. Bourdieu 1999: 275.
86 | NUR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »nicht, wie rationalistische Theorien des (instrumentellen, strategischen oder kommunikativen) Handelns, auf das von gesellschaftlichen Bedingungen und Einflussfaktoren losgelöste, nur seiner individuellen Ratio verpflichtete Subjekt, sondern auf den durch seine Position und seine spezifische Laufbahn innerhalb der Sozialstruktur einer Gesellschaft geprägten sozialen Akteur. Diesem sind, bei aller gesellschaftlicher Prägung, bestimmte individuelle Variationsspielräume gegeben.«109
Es wurde bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung des Kunstfelds von der Vorstellung sozialer Felder als Spielräume gesprochen, die sich als Möglichkeitsräume generieren. Diese sind jeweils durch äußere materielle, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen und »deren verinnerlichte Transformationen in habituelle Denk-, Erwartungs- und Handlungsstrukturen«110 geprägt und begrenzt. Indem Bourdieu sein Augenmerk auf die Akteure in spezifischen gesellschaftsdynamischen Zusammenhängen richtet, gelingt es ihm auch im speziellen Fall des Kunstfeldes, Instrumentarien zur Erkennung grundlegender Muster und Dispositionen zu entwickeln, die das Feld und die inhärenten Handlungen und Diskurse bestimmen. Besonders wertvoll an der Idee des Habitus ist außerdem die Möglichkeit, situativ kontextbezogene Bedingungen des Alltags mitzudenken. »Die erkenntnissoziologischen Implikationen der Habitustheorie brechen mit dem gängigen handlungstheoretischen Intellektualismus, der den sozialen Akteuren ein reflektierendes, Präferenzen oder ›gute Gründe‹ rational abwägendes Verhältnis zur sozialen Welt unterstellt. Demgegenüber wird die Implizitheit, Unbewusstheit, Instinkthaftigkeit, kurz: die Unreflektiertheit der alltäglichen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen des Habitus hervorgehoben.«111
Dies lenkt den Blick direkt auf konkrete Handlungsprozesse oder auch Diskurse, ohne diese im Vorhinein durch ein übergeordnetes theoretisches Schema zu definieren. Um eine Diskursführung innerhalb einer Kunstwelt sinnvoll nachvollziehen und beschreiben zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, einen sehr sensiblen Blick auf die dort herrschenden Machtverhältnisse zu entwickeln. Diskursive Prozesse der Konsekration und Etikettierung von Kunstwerken und Künstlern/innen werden meistens von dominanten Stimmen beherrscht, Gegenstimmen können sie oft nur sehr bemüht und sehr langsam durchdringen oder gar übertönen. Die Situation der globalen Kunstwelt zeichnet sich durch eine sehr hohe Diversität von Kunstformen und Stilen aus, die zudem sehr unterschiedlich kulturell kodiert sein können. Zu einem umfassenden Verständnis ist es deshalb unerlässlich, auch solche
109 110 111
Schwingel 2003: 73-74. Schwingel 2003: 69. Schwingel 2003: 74.
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Elemente aufzuspüren, die den vorherrschenden Kanon aufzubrechen und zu verändern suchen. Die folgende Definition von Kunstwelt basiert auf den in den vorherigen Abschnitten zusammengefassten Ansätzen Beckers, Luhmanns und Bourdieus. Dieses Vorhaben stellt allerdings nicht den Versuch dar, aus den drei sehr unterschiedlichen Kunstsoziologien ein neues Theoriengebäude zu entwerfen. Die Vorstellung der drei Kunstsoziologien sollte in einem ersten Schritt dazu verhelfen, eine Kunstwelt als ein komplexes gesellschaftliches Phänomen erfassbar zu machen. Ihre Eigenschaften als soziales Gebilde sowie ihr Facettenreichtum wird in der Zusammenschau der Divergenzen der drei soziologischen Gedankengebäude besonders gut sichtbar. Zur Konkretisierung der bestehenden Basisüberlegungen werden nun Beiträge aus anderen Disziplinen herangezogen, so zum Beispiel aus der Philosophie und der Ethnologie.
2.2 K UNSTWELT – E INE D EFINITION DREI S CHRITTEN
IN
2.2.1 Kunstwelt als institutionelles Gefüge Vor dem Hintergrund der vorgestellten soziologischen Theorien wird eine Kunstwelt als ein gesellschaftliches Kooperations- und Kommunikationsgefüge vorstellbar, das sich durch permanente Verhandlungsprozesse auszeichnet. Dies unterstreicht die Vorstellung der Kunstwelt als einer sozialen Arena, in der ständig um die Positionen und die Bewertung von Kunst und Künstlern/innen gerungen wird. In der Verwendung des Begriffs Arena werden die Ansätze Bourdieus (Kunst-)Feldtheorie aufgegriffen, die sich in allgemeinerer Formulierung auch bei dem Ethnologen Victor Turner finden. »In the present context, ›fields‹ are the abstract cultural domains where paradigms are formulated, established, and come into conflict.«112 Auch Turner spricht in diesem Bezug von Arenen als Schauplätze solcher Konflikte. Der direkte Hinweis auf die Formulierung und Etablierung von Paradigmen innerhalb der sozialen Felder ist hier von besonderem Gewicht, da er auf ihre primär diskursive Verhandlung Bezug nimmt. Das Ringen um die Anerkennung von Kunstwerken und ihrem Wert und das Erkämpfen von Neuerungen bündelt sich in der Synchronisierung der widersprüchlichen, Zeit und Raum übergreifenden Auseinandersetzungen und fügt sich zu jenem Zustand zusammen, der als Zeitgenossenschaft bezeichnet werden kann. Bourdieu bezeichnet diesen Vorgang als Prozess des »Epoche Machens«. Ob man allerdings angesichts der Komplexität und Diversität innerhalb von Kunstwelten, insbesondere in der Vorstellung einer
112
Turner 1974: 17.
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globalen Kunstwelt, überhaupt von der Herausbildung einzelner Epochen sprechen kann, ist mindestens fragwürdig und für die gegebene Fragestellung nicht notwendig. Globalisierung wird hier nicht als Begriff zur Darstellung einer Epoche gebraucht. Der Begriff der Zeitgenossenschaft im Sinne Bourdieus wird im Globalisierungskontext dann interessant, wenn bezüglich der Zusammenführung kulturell unterschiedlicher Produktionen bildender Kunst weltweit die Frage nach der Herausbildung einer globalen Zeitgenossenschaft gestellt wird. Die Kontroversen um Kunst finden grundsätzlich nicht in einem neutralen Raum statt, sondern sind jeweils an bestimmte Einrichtungen oder Ereignisse gekoppelt. Nach einem in Europa vorherrschenden Verständnis werden Kunstwerke in einem öffentlichen, kontextuellen Rahmen präsentiert, ohne den sie nicht als Kunstwerke (an-)erkannt werden würden. Dieser Rahmen bildet sich aus Institutionen, die die Produktion, Präsentation und Distribution von Kunst garantieren. George Dickie konstatiert von seinem kunstphilosophischen Standpunkt aus, dass das Schaffen von Kunst unmittelbar mit dem Öffentlichen verbunden ist, da es zu Präsentationszwecken hergestellt würde: »In creating art an artist is always involved with a public, since the object he creates is of a kind to be presented to a public. […] What is to be emphasized here is that the created object is of a kind which is made for presentation.«113 Die von Dickie im Zusammenhang mit seiner Institutionentheorie beschriebene Kunstwelt zeichnet sich damit insgesamt als Präsentationsrahmen für Kunstwerke von KünstlerInnen für ein Kunstweltpublikum aus.114 Nach Bourdieu lässt sich Kunst zum »institutionalisierten Kulturkapital« zählen, das sich in seiner offiziell anerkannten und garantierten »Kompetenz« vom »einfachen Kulturkapital«115 unterscheidet. »Literature, art and their respective producers do not exist independently of a complex institutional framework which authorizes, enables, empowers and legitimizes them. This framework must be incorporated into any analysis that pretends to provide a thourough understanding of cultural goods and practices.«116
Mit dem Begriff institutionell bezieht sich Bourdieu allerdings nicht ausschließlich auf öffentliche Einrichtungen, sondern auf übergeordnete, gesellschaftlich generierte Institutionen. Wenn ich von Institutionen spreche, meine ich Institutionen, die als offizielle Einrichtungen existieren und damit auch an bestimmte Räume bzw. räumliche, das heißt regionale oder kulturelle Kontexte gebunden sind. Ein Beispiel ist die documenta, die regelmäßig alle fünf Jahre in der Stadt Kassel stattfindet. Trotz seiner internationalen Ausrichtung bleibt das Ausstellungsprojekt immer an einen Ort gebun-
113 114 115 116
Dickie 1984: 71. Vgl. Dickie 1984: 82. Vgl. Bourdieu 1997: 62. Johnson 1993: 10.
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den, der sich sowohl durch seine konkrete Topographie als auch seine historischen und sozialpolitischen Bezüge definiert und damit als geographischer und diskursiver Rahmen besteht. Die institutionelle Bindung der Kunst an strukturierte, hierarchisierte und hierarchisierende, durch Gesellschaftsverhältnisse herausgebildete Räume wird seit den 1970er Jahren im Zuge der so genannten Institutionskritik angeprangert, was sich sowohl in der Kunsttheorie als auch in der Kunstpraxis in verschiedenen Formen niederschlägt, z.B. in den Arbeiten des deutschen Künstlers Hans Haacke oder der US-amerikanischen Künstlerin Andrea Fraser. »In dem Maße, wie ein Ort als eine Formation aus Verhältnissen verstanden wird, beabsichtigt Institutionskritik nicht nur die substanziellen, sichtbaren Manifestationen dieser Verhältnisse zu transformieren, sondern deren Struktur und die Formen von Macht und Herrschaft, symbolischer und materieller Gewalt, die von diesen Hierarchien produziert werden.«117
Indem die Institutionskritik die Hierarchisierungsprozesse und die damit verbundenen Mechanismen der institutionellen Machtverteilung (ausschließende Mechanismen der Institutionen, Elitenbildung) problematisiert, werden diese in Ihrer Wirkungsmacht bestätigt. Institutionen wie Kunstakademien, Museen, Ausstellungsprojekte, Galerien oder auch Auktionshäuser und Kunstmessen gehören schließlich zu den Orten, an denen öffentliche Diskurse durch und über Kunst provoziert, ausgetragen und gebündelt werden. Natürlich geht der diskursive Umgang mit Kunst auch weit über den öffentlichen Raum hinaus. So genannte Laien setzen sich im privaten Bereich ebenfalls mit Kunst und Künstlern/innen auseinander und auch der persönliche Diskurs der KünstlerInnen ist nicht allen frei zugänglich. Der private Kunstdiskurs ist jedoch ebenso von öffentlichen, institutionellen Diskursen beeinflusst, z.B. werden bereits in der Schule Grundlagen für das Verstehen von Kunstwerken vermittelt. Da es hier ganz konkret um die Wirkung öffentlich zugänglicher Kunstdiskurse geht, soll der Kunstweltbegriff primär mit der Vorstellung eines Netzwerks verbunden werden, das sich aus dem Zusammenwirken der unterschiedlichen, öffentlichen Institutionen, an die die öffentlichen Diskurse gekoppelt sind und die sich als Koordinatenpunkte dieses Netzes ergeben, bildet. In Rekurs auf diese konkreten Koordinaten wird die globale Kunstwelt als komplexes, aber gleichzeitig in einzelnen Punkten verortbares Gefüge denkbar. Eindeutige Definitionsgrenzen für eine Kunstwelt im allgemeinen gibt es natürlich nicht. Es gibt Grenzfälle, in denen es schwer zu entscheiden ist, ob ein bestimmtes Ereignis, eine Veranstaltung oder ein Projekt als Institution einer Kunstwelt gelten kann oder nicht. Darüber hinaus ist es grundsätz-
117
Fraser 2005: 88.
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lich schwierig, Grenzen zu beschreiben, anhand derer künstlerische Praktiken und Theorien außerhalb oder innerhalb einer Kunstwelt zu verorten wären – gerade im Moment einer Kunstweltdefinition, die sich vor allem auf den institutionellen Charakter bezieht. Die Arbeiten von Künstlern/innen, die sich bewusst vom institutionalisierten Kontext abwenden, wie die AnhängerInnen der oben genannten Institutionskritik, wirken schließlich wieder in das Institutionsgefüge hinein und lassen durch ihre oppositionelle Haltung Veränderungen zu. 2.2.2 Kunstwelt als diskursives Netzwerk Das theoretische Konstrukt einer Kunstwelt wird in der Präsenz ihrer Institutionen und deren Verbindungen als soziales Gefüge erfassbar. Die Vernetzung erfolgt zum einen durch die Bewegung von Objekten und Personen, vor allem aber durch die permanente, raumübergreifende Diskursführung – die ökonomische Diskursführung in Form von Preisbildungsprozessen mit inbegriffen. Arthur Danto betrachtet die Kunstwelt in ihrer Gesamtheit als einen »institutionalisierten Diskurs der Gründe«118. Mit dem Diskurs der Gründe ist die Zusammenschau der Argumente gemeint, die einem Kunstwerk seinen Status als Kunstwerk verleihen. Für das Kunstsein einer Sache gibt es laut Danto »eine Reihe von Gründen, und nichts ist außerhalb des Systems von Gründen, das ihm seinen Status verleiht, ein Kunstwerk: Kunstwerke sind nicht von Natur aus.«119 Erst der Diskurs der Gründe überträgt den Status von Kunst auf Dinge, »die sonst alltägliche Dinge geblieben wären.«120 Ein Mitglied der Kunstwelt zu sein bedeutet, an diesem Diskurs der Gründe teilzunehmen. Dieser Ansatz deckt sich mit der Auffassung Bourdieus, der den Diskurs als Moment der Produktion eines Kunstwerks beschreibt. Dantos Beschreibung der Kunstwelt bezieht sich in ihrer philosophischen Ausrichtung im Gegensatz zu Bourdieu tatsächlich ausschließlich auf die diskursive Ebene. Die Kunstwelt ist der Diskurs, bzw. sie entsteht nur da, wo der Diskurs über Kunst stattfindet. In dem Moment, in dem Danto ähnlich wie Bourdieu die Kunstwelt mit einem Spiel assoziiert, spricht er daher von einem Sprachspiel: »In gewissem Sinne läßt sich der Diskurs der Gründe für die jeweilige Kultur mit einem Sprachspiel vergleichen, das bestimmten Regeln unterliegt. Und entsprechend der Regeln, daß es nur Gewinner und Verlierer und Spieler geben kann, wenn es ein Spiel ist, existiert Kunst nur da, wo es eine Kunstwelt gibt.«121
118 119 120 121
Danto 1996: 62. Danto 1996: 54. Danto 1996: 55. Danto 1996: 62.
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Interessant ist hier vor allem der deutliche Verweis auf kulturelle Unterschiede, die nach Danto innerhalb der Kunstwelt herrschen. Auch wenn weder Danto noch Bourdieu konkret von der Existenz kulturell unterschiedlich kodierter Kunstwelten bzw. Kunstfelder sprechen – sie sprechen ausdrücklich von der (einen) Kunstwelt und deren Subfeldern –, so wird die kulturelle Diversität innerhalb der Kunstdiskurse doch mitgedacht oder zumindest angedeutet. Danto konstatiert ganz klar, dass Mitglied der Kunstwelt zu sein heißt, »die Bedeutung der Teilnahme am Diskurs der Gründe für seine jeweilige Kultur zu kennen.«122 Diese Annahme verweist vor allem darauf, dass ein einheitlicher Kunstdiskurs und damit ein einheitlicher Kunstkanon auch innerhalb einer spezifisch definierten Kunstwelt nicht vorstellbar sind. Weder innerkunstweltliche noch eine Kunstwelt überschreitende Diskurse sind damit als bruchlos kontinuierliche Diskurse zu denken. So gestaltet sich eine Kunstwelt als kontingentes und darüber hinaus nie als völlig einheitliches soziales Gefüge, worauf mit der Zuschreibung der dynamischen Stabilität bereits verwiesen wurde. 2.2.3 Die globale Kunstwelt Der Globalisierungsbegriff impliziert die Vorstellung wechselseitiger, mehrdimensionaler Verknüpfungen unterschiedlicher Kunstwelten, die sich in verschiedenen Ländern und Regionen der Welt entwickelt haben. Darauf aufbauend ergibt sich die Vorstellung einer globalen Kunstwelt, deren wesentliches Merkmal zunächst die Vernetzung lokaler Kunstwelten über diverse Kunstinstitutionen, vor allem in Form von Museen und Biennalen sowie kunstmarktlicher Einrichtungen wie Auktionshäusern und Kunstmessen ist. Es gilt zu betonen, dass mit der Definition einer globalen Kunstwelt nicht die Idee von der Globalisierung der europäischen Kunstwelt gemeint ist. Neben der äußerlichen, vorwiegend infrastrukturellen Ebene, sind auch die inneren Strukturen, das heißt die diskursive Ebene globaler Prozesse von Bedeutung für die Ausbildung der globalen Kunstwelt. Hierzu zählen sowohl Preisbildungsmechanismen auf dem internationalen Kunstmarkt als auch international geführte künstlerische, kunsttheoretische oder kuratorische Diskussionen. Der diskursive Gehalt von Globalisierung erweist sich gegenüber dem Argument der räumlichen, oberflächlichen Ausdehnung als ungleich komplexer. Im Diskurs offenbaren sich die wechselseitigen Einflüsse künstlerischer Produktion innerhalb einer bzw. von unterschiedlichen (lokalen) Kunstwelten und lassen die Auffassung einer eindimensionalen, von Europa oder den USA ausgehenden Globalisierung deutlich verblassen. Darüber hinaus wird angesichts der Konflikte und Problematiken, die im Moment des Aufeinandertreffens von Akteuren aus unterschiedlichen kultu-
122
Danto 1996: 62.
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rellen Räumen entstehen, die beinahe romantisch anmutende Vorstellung von Globalisierung als Resultat weltweiter Annäherungen, Zusammenschlüsse und Verbindlichkeiten und schließlich der Einebnung jeglicher Differenzen (durch Mechanismen der ›Europäisierung‹, ›Amerikanisierung‹ oder gar ›Verwestlichung‹) auf den Prüfstand gestellt. Wie wenig überzeugend eine solche Auffassung wäre, zeigt beispielsweise Thomas Fillitz, indem er in Bezug auf das rezente Kunstschaffen von Künstlern/innen mit Herkunft aus afrikanischen Staaten diagnostiziert, dass die »Verfügbarkeit von Materialien, von Technologien, der Zugang zu Informationen, die Möglichkeit des Ausstellens« in Afrika viel zu unterschiedlich im Vergleich zu den Voraussetzungen in der europäisch-amerikanischen Kunstwelt sind »als daß man von einer weltumspannenden, durch den Westen dominierten Kunstwelt reden könnte.«123 So lässt sich auch in Bezug auf Brasilien von einer brasilianischen Kunstwelt sprechen, die sich durch ihre spezifische historische, kulturelle und geographische Entwicklung umreißen lässt, und die wiederum als ein Teil einer als global definierten Kunstwelt gelten kann. Um noch einmal mit den Worten Fillitz’ zu argumentieren, »erscheint eine Unterscheidung von Kunstwelten hilfreich, um das Kunstschaffen der Welt und die mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Prozesse als Neukonzeption von Differenz als relationales Konstrukt durch Beziehungen zu überdenken.«124 In der Annahme eines damit der Kunstwelt inhärenten Facettenreichtums können letztlich auch Globalisierungsprozesse differenzierter dargestellt werden, ohne einfach auf den Begriff der Internationalisierung – im Sinne der Präsenz kunstweltlicher Institutionen in mehreren Ländern der Erde – reduziert zu werden. Diskurse auf der Ebene einer globalen Kunstwelt sind trotz allem bis heute von Kontroversen geprägt, die immer wieder eine Binarisierung der so genannten ›westlichen‹ und ›nicht-westlichen‹ Kunstwelten vornehmen. Ob mit dieser bewussten Unterscheidung positiv oder kritisch auf die vermeintliche Dominanz des so genannten ›Westens‹ eingegangen wird, beides greift für ein Verständnis der globalen Kunstwelt zu kurz. Eine zeitgemäß überzeugende Beobachtung der globalen Kunstwelt im kulturwissenschaftlichen Kontext erfordert eine differenziertere Auseinandersetzung und vor allem die Abkehr von überholten binären Narrativen. Ein Ziel ist es, eine relativierte Sichtweise auf Globalisierungsprozesse zu generieren, die die globale Kunstwelt in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit erscheinen lassen und die nicht allein auf die Ausbreitung und Etablierung so genannter ›westlicher‹, das heißt insbesondere westeuropäischer oder US-amerikanischer Denkmuster, Produkte, Institutionen etc. fixiert ist. Die Bezeichnungen ›westlich‹ und ›nicht-westlich‹ werden grundsätzlich vermieden, da sie einer zeitgemäßen Sichtweise auf die globale Struktur der Welt nicht gerecht werden.
123 124
Fillitz 2002: 275. Fillitz 2002: 275-276.
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In erster Linie wird die globale Kunstwelt in ihrer Eigenschaft als diskursives Gefüge betrachtet. Anhand der Analyse aktueller Diskurse lassen sich ihre Eigenschaften und ihre eigenen Kriterien für die Definition von Zeitgenossenschaft im Zeichen von Globalisierung am besten bestimmen. Das Attribut global ergibt sich nicht allein im Hinblick auf die Ausbreitung und Vernetzung einzelner Institutionen weltweit, sondern vor allem im Zusammenspiel der geführten Diskurse, die in der Dialogisierung unterschiedlicher Kunstwelten entstehen. Das anschließende Kapitel wird die Begriffe Globalität und Globalisierung beleuchten und problematisieren.
3 Über Weltkunst, Globalität und Globalisierung
In a basic and trivial sense, the term globalization describes a process where relations of mutual influence or dependence join particular events and phenomena around the world. The concept is part of the core vocabulary in many fields, not least of all in academia, even if authorization by dictionary lags behind. CHARLOTTE BYDLER Globalização, neste sentido corrente, é a ação ou o efeito de globalizar. Globalizar é integrar em uma posição global; considerar em conjunto, sem diferenciar aspectos ou detalhes, o que significa, em outras palavras, fazer uma síntese que permita ver tudo.1 OSVALDO LÓPEZ RUIZ
Der Globalisierungsbegriff etablierte sich ab den 1980er Jahren zunächst in den Wirtschaftswissenschaften, gehört aber seit geraumer Zeit auch zum Standardvokabular kultur- und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen sowie zum ganz alltäglichen Sprachgebrauch. Sobald bestimmte Prozesse, Ereignisse oder Objekte in die Sphäre internationaler Vernetzungsstrategien eingetreten sind oder daraus hervorgehen, werden sie häufig wie
1
»Globalisierung meint in diesem geläufigen Sinne die Handlung oder die Wirkung des Globalisierens. Globalisieren meint, etwas in eine globale Position zu integrieren; insgesamt betrachtet, ohne bestimmte Aspekte und Details zu differenzieren, hieße dies in anderen Worten, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus es erlaubt ist, alles zu betrachten.« (Ruiz 2000: 84, Übersetzung K.S.).
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selbstverständlich mit dem Etikett ›global‹ versehen. Der Ambivalenz des Begriffes ist man sich bewusst – neben den Lobpreisungen der neuen globalen Verhältnisse sind auch negative Aspekte von Globalisierung wiederholt dargestellt und diskutiert worden. Der positive Globalisierungshype wird mittlerweile sogar untergraben, indem das Ende der Globalisierung konstatiert oder gar von Ent-Globalisierung gesprochen wird. Dieses Bewusstsein seines ambivalenten Charakters löst das Problem der adäquaten Anwendung des Begriffs aber nicht auf – die Frage nach dem konkreten Gehalt von Globalisierung, nach dem, was Globalisierung ist und wann man tatsächlich von Globalisierung sprechen kann, ist nicht eindeutig zu beantworten. Ganz vermeiden lässt sich der Globalisierungsbegriff jedoch auch nicht: »Nevertheless, since the word ›globalization‹ has become the order of the day, it has become impossible to avoid it.«2 Es mag nun völlig plausibel klingen, von einer globalen Kunstwelt zu sprechen, wenn man sich hiermit auf diejenigen, mittlerweile auf der ganzen Welt verbreiteten, Kunstinstitutionen und Kunstdiskurse bezieht, die in ihrem Zusammenspiel einen übergreifenden Kanon und ein Wertesystem zeitgenössischer bildender Kunst erzeugen. Dementsprechend wirkt auch die Verwendung der Begriffe Weltkunst oder Globalkunst auf den ersten Blick nicht befremdlich. Dennoch tun sich Fragen auf: Inwiefern lässt sich von Globalisierung oder gar von Globalität in Bezug auf die Kunstwelt reden, wenn man die starken Reglementierungen, Normen und die hegemonialen Verhältnisse innerhalb des globalen Kunstbetriebs bedenkt? Ist es wirklich berechtigt, von einer globalen Kunstwelt sprechen, wenn der Zugang durch eine Vielzahl von Faktoren beschränkt wird, die primär nichts mit Kunst zu tun haben? Warum sind lateinamerikanische GegenwartskünstlerInnen auf einer globalen Ebene weniger erfolgreich als europäische? Und welche Bedeutung kommt dann vor diesem Hintergrund dem recht populären Begriff Weltkunst zu? Euphorische Stimmen preisen die Mobilität von Künstlern/innen und Kuratoren/innen, das Auftauchen von Biennalen3 in Teilen der Welt, die bislang als peripher galten und anderer Institutionen, die sich der Repräsentation von bildender Kunst auf internationaler Ebene widmen. Diese Entwicklungen lösen jedoch den Eindruck des weiterhin bestehenden Gefälles zwischen Kunstzentren der nordwestlichen Hemisphäre und den anderen Teilen der Welt nicht einfach auf. »What appears as the emergence of a global art field turns out to be the business of dyadic regionalization – […]. The talk about the globalisation of art in important respects seems to refer to no more
2 3
Smiers 2003: 15. Allein im Jahr 2005 ist die Anzahl der Biennalen weltweit von 6 auf 49 angestiegen: »19 in the Northwest, 10 in the Northeast, 9 in the Southeast and 11 in the Southwest. This process clearly indicates a tendency of globalization.« (Buchholz/Wuggenig 2007).
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than a myth.«4 Natürlich lässt sich nicht verneinen, dass sich ein Wandel vollzieht, der die weiterhin hegemonialen Strukturen im Zusammenhang verschiedener Kunstwelten rund um den Globus aufzubrechen scheint und die dringliche Forderung nach gleichberechtigter Anerkennung von Kunst unterschiedlicher Provenienz auf einer globalen Ebene signalisiert. Von Globalisierung als einem Mythos zu sprechen mag in dieser Hinsicht nahezu übertrieben anmuten. Man kann sogar behaupten, dass Diskurse über die Auflösung der Hegemonialstellung der europäischen und US-amerikanischen Zentren im Bereich der bildenden Kunst besonders fruchtbar und weit fortgeschritten sind. So bemerkt der Ethnologe Dieter Kramer: »In kaum einer anderen Sphäre der Kultur ist die Verschränkung von Nord und Süd, von Ost und West so intensiv wie in der bildenden Kunst.«5 Wie lässt sich aber nun die globale Kunstwelt konkret beschreiben? In Anbetracht dieser Situation ist gezielt nach den Globalisierungsprozessen zu fragen. Ein Ziel dabei wäre es, die wechselseitigen Auseinandersetzungen mit bildender Kunst aus verschiedenen regionalen und kulturellen Kontexten besser nachvollziehen zu können. Sind diese mit dem Globalisierungsbegriff hinreichend beschrieben? Woran erkennt man konkrete Globalisierungsprozesse der Kunstwelten? Welche Rolle spielen kulturelle Divergenzen in der globalen Kunstwelt? Der häufig in diesem Zusammenhang auftauchende Begriff Weltkunst bietet hier eine erste Angriffsfläche für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung von Globalisierung und Globalität in Verbindung mit bildender Kunst. Dieses dritte Kapitel nimmt deshalb zunächst Bezug auf die Begrifflichkeiten Weltkunst und Globalität. Daran schließen sich Überlegungen zu Globalisierung im Allgemeinen und zu bestimmten Globalisierungsdimensionen an, die die Entwicklung der Kunstwelt maßgeblich bestimmen und sie schließlich als einen spezifischen globalen Raum beschreibbar und als Untersuchungsfeld definierbar machen.
3.1 W ELTKUNST – K UNST
DER
W ELT ?
Der Begriff Weltkunst tauchte ursprünglich im Kontext der Vorstellungen einer universalen Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts auf, wie sie sich beispielsweise in den Werken Friedrich Schillers ausdrückt. Wie Niklas Luhmann in der Einleitung seiner Schrift »Weltkunst« schreibt, hatten der deutsche Idealismus und die Romantik »den Gedanken einer Weltkunst entdeckt und gefördert, ihn aber dadurch blockiert, daß sie ihn, das Individuum selbst als Weltkunstwerk interpretierend, auf den ganzen Menschen bezo-
4 5
Buchholz/Wuggenig 2007. Kramer 2001: 178.
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gen.«6 In der kunstwissenschaftlichen Literatur taucht der Begriff heute häufig dann auf, wenn Kunst als globales Phänomen thematisiert und eine Erweiterung bzw. Neuformulierung der eurozentrischen Kunstgeschichtsschreibung gefordert wird. So spricht Hans Belting in seiner Revision der Kunstgeschichte aus dem Jahr 1995 beispielsweise von den neuen Ansprüchen einer »Weltkunstgeschichte, in der alle Erdteile und Kulturen vertreten sind«.7 Vor allem Kataloge oder Nachschlagewerke mit dem Anspruch, einen Überblick über Kunstwerke und Kunstpraktiken weltweit zu schaffen, bedienen sich häufig der Wortschöpfung Weltkunst. Sie suggeriert die Ausweitung eines eingrenzenden, europäisch kodierten Kunstbegriffs und gleichzeitig den Einbezug eines vermeintlich globalen Spektrums künstlerischen Schaffens. So wird sie laut Belting zum »Symbol einer neuen Welteinheit«8. Die Definition des Weltkunstbegriffs bleibt dennoch oder gerade deshalb relativ ungenau. Auch die Suche nach einer geläufigen Definition des Begriffs Weltkunst in diversen Lexika der Kunst- oder der Kulturwissenschaft(en) erweist sich als erfolglos – wohingegen sich Einträge zum Begriff Weltliteratur oder Weltmusik interessanter Weise gleich in mehreren Nachschlagewerken finden.9 Schon bei einer ersten oberflächlichen Sichtung unterschiedlicher Medien der Kunstwelt mit Fokus auf den Weltkunstbegriff erkennt man eine starke Ambivalenz hinsichtlich seiner Bedeutung und Kontextualisierung. So betitelt er seit 1930 beispielsweise sehr plakativ eines der bekanntesten deutschen Kunstmagazine. Im Geleitwort der ersten Ausgabe nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Jahr 1949 ist Folgendes zu lesen: »Weltkunst, das heißt zugleich Wiederanknüpfung aller, für die das Künstlerische ein hohes geistiges Erlebnis ist, wo auch immer sie zu Hause sind, wie auch immer sie sich mit ihm befassen. Und so möge die Weltkunst mithelfen, den Weg zu bereiten, auf dem die geistigen Menschen aller Länder wiederum friedlich einander begegnen: den schönen Weg der Liebe zur Kunst, der Pflege, des Studiums der ewigen Sprache vergeistigter Form als einer Sprache, die über alle Grenzen hinaus dringt.«10
Während sich der hier zitierte Weltkunstbegriff ganz klar an die klassische Bedeutung von Weltkunst anlehnt, findet man in aktuellen Ausgaben des (Internet-)Magazins, dessen Beiträge und Hintergrundberichte vornehmlich im Kontext der aktuellen Bewegungen am Kunstmarkt stehen, eine deutlich nüchternere Einführung:
6 7 8 9 10
Luhmann 1990: 7. Belting 1995: 70. Belting 1995. Siehe z.B. Schnell 2006; Nünning 2008. Preetorius 1949: 2.
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»Hier erfahren Sie alles, was Sie zu Kunst und Antiquitäten wissen müssen. Von der Antike bis zu den Zeitgenossen. Aktuelle opulent bebilderte Beiträge zu Kunstmessen, Ausstellungen und Auktionen sowie Hintergrundberichte vermitteln ein Gefühl für die verschiedesten (sic!) Themen rund um Kunst, Künstler und Antiquitäten.«11
Unter dem Label Weltkunstausstellung läuft seit ihrem Gründungsjahr 1955 auch die documenta, die »im internationalen Urteil als die weltweit bedeutendste, aufsehenerregendste und folgenreichste Ausstellungsreihe für Gegenwartskunst«12 gilt und unter anderem deshalb zum Untersuchungsgegenstand der Arbeit wird. Inwiefern sich die Assoziationsräume von Weltkunst im Vergleich zum Weltkunstmagazin verschieben, zeigt sich allein in der Auswahl der Bestände der Kunstwerke, die hier als Weltkunst zusammengefasst werden. Während es sich die documenta von Beginn an zur Aufgabe gemacht hatte, moderne und zeitgenössische, vielfach noch wenig bekannte Kunst in einen Weltkunst-Zusammenhang zu stellen – nicht völlig losgelöst von den Mechanismen des Kunstmarktes, jedoch nicht primär von ihm beeinflusst –, werden in der Zeitschrift gerade diejenigen Kunstwerke in den Status Weltkunst erhoben, die eine deutliche Marktpräsenz zeigen, die also erst über die Marktmechanismen für ein breites Publikum sichtbar werden. Dabei handelt es sich dann bei einem sehr großen Anteil um ältere und antike Kunst, das heißt um solche Kunstwerke, die bereits geraume Zeit in der Kunstwelt zirkulieren, sich etabliert und über diese Prozesse schließlich eine bestimmte Wertigkeit erhalten haben. Die Maßstäbe, die angeben, was als Weltkunst gilt und gleichzeitig was nicht, differieren in beiden Medien deutlich. Der Weltbezug scheint jeweils ein anderer zu sein – er changiert offenbar zwischen der Idee von Weltbekanntheit hinsichtlich des Kunstmarktmagazins und von Weltoffenheit und Innovation bezüglich der documenta. Desweiteren divergiert der Gebrauch des Begriffs hinsichtlich der Reflexion desselben – nämlich einer sehr kritischen einerseits und einer völlig unkritischen Verwendungsweise andererseits. In dem Maße, in dem das Weltkunst-Magazin scheinbar sehr selbstverständlich seit nunmehr fast 80 Jahren mit dem Begriff hausieren geht, ist gerade in Bezug auf die letzte documenta in der fast gänzlichen Vermeidung des Begriffs eine deutliche Kritik bestimmter Protagonisten der Kunstwelt spürbar. Allein anhand einer so simplen Gegenüberstellung unterschiedlicher Verwendungen und Kontextualisierungen des Weltkunstbegriffs offenbart sich seine Ambivalenz. Auch wenn er deshalb nicht als eine Bezugsgröße für die folgende Analyse geeignet sein kann, so bleibt die Notwendigkeit einer differenzierten Annäherung an verschiedene Definitionen, Umgangsformen und Bezugsfelder, ohne bereits bestehende Definitionen von Weltkunst auf ihre Validität hin zu überprüfen, um eine neue Begriffsbestimmung zu erarbeiten. Vielmehr gilt es zu
11 http://www.weltkunst.de, 27.05.2008. 12 Kimpel 2007: 9.
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demonstrieren, wie unterschiedlich die Auffassungen von Welt respektive Globalität zu deuten sind, die mit dem Begriff Weltkunst assoziiert werden. Die Arbeit stellt sich in ihrer Fokussierung der documenta und der brasilianischen Beiträge im übergeordneten Sinne schließlich grundlegenden Fragen zur Wahrnehmung von »Gegenwartskunst in Weltperspektive«13 – um hier eine Formulierung der Kunsthistorikers Claus Volkenandt zu verwenden. 3.1.1 Weltkunst bei Niklas Luhmann Wie kann man von ›Weltkunst‹ sprechen? NIKLAS LUHMANN
Eine der sicherlich bekanntesten Abhandlungen über und auch gleichzeitig mit dem Titel »Weltkunst« stammt von dem Soziologen Niklas Luhmann. Erschienen war der Artikel in dem Band »Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur«14 im Jahr 1990. Er zeichnet sich durch seine sehr theoretische Auseinandersetzung mit dem Weltbegriff aus, die allerdings (noch) nicht im Zeichen von Globalisierung steht, jedoch einen Bezug zur Diskussion um das rhetorische Konstrukt Weltkunst herstellt, der später wieder aufgerufen und während der folgenden Lektüre stets mitgedacht werden soll. Luhmann leitet die Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage »Wie kann man von ›Weltkunst‹ sprechen?« ausgehend von seinen systemtheoretischen Überlegungen her. Er stützt sich dabei auf ein philosophisches Weltmodell, eine »Errungenschaft der Transzendentalphilosophie«15, die seit der Neuzeit – so Luhmann – das rein kosmologisch begriffene Weltbild (die Gesamtheit des Sichtbaren und Unsichtbaren) abgelöst hatte.16 Welt wird hierbei »zu einem endlosen Netzwerk von empirischen Kausalitäten, das als ein Schema
13 Volkenandt 2004b: 11. 14 Luhmann & Bunsen & Baecker 1990. 15 »Solange die Welt dinghaft begriffen wurde – als Gesamtheit der Dinge oder als Schöpfung –, mußte alles, was rätselhaft blieb, in der Welt vorgesehen sein – als Gegenstand von admiratio: als Wunder, als Geheimnis, als Mysterium, als Anlaß zu Schrecken und Entsetzen oder zu hilfloser Frömmigkeit. Dies ändert sich, wenn die Welt nur noch ein Horizont, nur noch die andere Seite der Bestimmung ist. Dieser Weltbegriff war spätestens mit der Philosophie des transzendentalen Bewußtseins erreicht. Dann kann das Mysterium ersetzt werden durch die Unterscheidung marked/ unmarked im Alltagsgebrauch von Beobachtern, ohne daß sich die Gesamtheit des Markierten aufsummieren oder gar mit dem Unmarkierten gleichsetzen ließe. Die Welt der modernen Gesellschaft ist eine Hintergrund-unbestimmtheit (›unmarked space‹), die Objekte erscheinen und Subjekte agieren läßt.« (Luhmann 1997: 147-148).
16 Vgl. Luhmann 1990: 7.
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benutzt wird, mit dem erst noch festzustellen (heute würde man sagen: zuzurechnen) ist, was womit zusammenhängt.«17 Auf diese Weise gestaltet sich für Luhmann Welt als ein transzendentes, abstraktes, analytisches Denkkonzept und nicht als vollkommen erfassbare Entität: »Die Welt ist nun nicht mehr eine Menge von eindeutig bezeichenbaren Objekten, ja nicht einmal ein Ganzes, das mehr ist als die Summe dieser Objekte. Sie ist auch nicht etwas, was jede Operation als ›noch größer‹ oder ›noch kleiner‹ beschreiben müßte. Deshalb verlieren Aussagen ihren Sinn, die behaupten, die Welt sei als das Umfassende ›größer‹ als das, was sie einschließt – so als ob ihre Einheit auf einer Ebene quantitativer Vergleichbarkeit läge mit den Objekten oder Operationen, die auf sich selbst angewandt, also zum Beispiel ihre endlose Iterierbarkeit als solche mit endlichen Operationen erfassen und bezeichnen können.«18
Die Welt als ein unbestimmter Bereich von Möglichkeiten lässt sich nicht als Ganzes beschreiben. Jeder Beobachter von Welt ist selbst Teil dieser und damit ist ein Beobachten der Welt von außen nicht möglich. Sie wird als das »Unbeobachtbare par excellence vorausgesetzt, mag sie nun endlich sein oder unendlich.«19 Die einzige Möglichkeit, durch die die Welt – im wahrsten Sinne des Wortes – Form annehmen kann, ist in den Augen des Systemtheoretikers Luhmann ein Verständnis von »Welt als Differenz«20: »Form ist danach ein Einschnitt, eine Verletzung eines unbestimmten Bereichs von Möglichkeiten durch eine Unterscheidung, eine Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität. […] Form ist immer ›Zwei-SeitenForm‹, immer Differenz.«21 Durch die Form werden Unterschiede sichtbar und bestimmbar, und zwar von beiden Seiten. Solche Formen können durch Kunstwerke erzeugt werden – wobei zu bedenken ist, dass diese immer individuell, selektiv und damit im Prinzip zufällig geschaffen werden. Ohne an dieser Stelle näher auf die systemtheoretische binäre Logik der Unterscheidbarkeit einzugehen, soll hier Luhmanns These festgehalten werden, dass nämlich durch die Vorgabe von Unterscheidungen durch Kunst ein Beobachten der Welt ermöglicht wird. Dabei kann, so Luhmann, sogar zwischen der so genannten »realen Realität« und der »fiktionalen Realität« unterschieden werden, das heißt selbst das Unsichtbare der Welt wird sichtbar gemacht: »Man kann deshalb Kunst als Sichtbarmachen des Unsichtbaren auffassen, allerdings mit der Maßgabe, daß das Unsichtbare erhalten bleibt.«22 Form wird so als eine Einheit einer Differenz verständlich, die ihrerseits Welt erzeugt:
17 18 19 20 21 22
Luhmann 1990: 7-8. Luhmann 1990: 8. Luhmann 1990. Luhmann 1990: 10. Luhmann 1990. Luhmann 1990: 14.
102 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Welt muß dann verstanden werden als die in allen Unterscheidungen vorausgesetzte Einheit, als das Nichtschematische der Schemata oder als der blinde Fleck aller Beobachtungen, also das, was man nicht sehen kann, wenn man das, was man beobachtet mit Hilfe einer bestimmten Unterscheidung bezeichnet. Bei allem Operieren bleibt die Welt selbst in ihrer Unzulänglichkeit erhalten. Sie bleibt transzendental vorausgesetzt.«23
Es sind nach Luhmann eben diese Überlegungen, die es erlauben, »Kunst als Weltkunst zu beschreiben.«24 Denn Kunst leistet erst das Sichtbar- und Unsichtbarmachen der Welt. »Weltkunst existiert positiv, also nicht als Repräsentation, sondern als Setzung. Sie arbeitet mit den Beschränkungen, die sich aus ihren eigenen Operationen ergeben. Sie existiert aus sich selbst heraus – was nicht gleich heißen muß: aus ihrer selbst willen.«25
Wie bereits angedeutet, ergibt sich der hier definierte Weltkunstbegriff als ein analytisch abstrakter. Luhmanns Konzept einer Weltkunst erweist sich als ein universales, übergeordnetes Konstrukt – insbesondere hinsichtlich des von ihm verwendeten Kunstbegriffs. Sowohl aufgrund seines universalen Verständnisses von Kunst als auch durch die starke philosophischtheoretische Ausrichtung hebt es sich von anderen, populären Verwendungen des Weltkunstbegriffs ab. In Bezug auf letztere betont das der Kunst beigefügte Wort Welt vor allem den Aspekt der Internationalisierung zeitgenössischer Kunst26 und verweist damit – mal mehr, mal weniger – auch auf kulturelle Unterschiede diverser Kunstpraktiken. Wie im Folgenden noch deutlicher zu sehen sein wird, entspringen auch diese Bezeichnungen von Weltkunst natürlich der gleichen Idee von Kunst als einem universalen Aspekt menschlichen Lebens. Mit den vor allem im Postkolonialismus aufgekommen Diskussionen werden jedoch sowohl der Kunstbegriff an sich als auch der Weltbegriff kritischer verhandelt und die Auffassung von Kunst als universales, europäisch kodiertes Konzept aufgebrochen. Diesen Anspruch hat Luhmanns Beitrag nicht. Sein Umgang mit dem Weltbegriff erscheint aber gerade im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung von Welt bzw. dem Globalen im Kontext der zeitgenössischen Kunstwelt interessant. Insbesondere das Denken von Welt als unbestimmter
23 24 25 26
Luhmann 1990: 20. Luhmann 1990. Luhmann 199023. Siehe hierzu z.B. den 1992 erschienen Band »Weltkunst – Globalkultur. Beiträge zum interkulturellen Dialog und Verständnis«, herausgegeben von Paolo Bianchi. Weltkunst wird hier im Kontext einer neuen globalen Perspektive diskutiert. In einem eigenen Kapitel mit dem Titel »Weltkunst« werden interkulturelle (Welt-)Ausstellungen besprochen. (Bianchi 1992).
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Bereich von Möglichkeiten wird später wieder aufgegriffen werden bzw. durch andere verwendete Texte um Globalität wiederholt durchschimmern. Auch wenn der Luhmannsche Weltkunstbegriff nicht direkt auf Globalisierungs- oder Internationalisierungsprozesse eingeht, lassen sich einzelne Elemente dennoch auf die aktuelle Globalisierungsforschung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive übertragen. 3.1.2 Weltkunst im Kontext der Kunstwissenschaften Der Weltkunstbegriff im Kontext der europäischen Kunst und der Kunstwissenschaften leitete sich zunächst vom idealistischen Weltkunstbegriff des 19. Jahrhunderts ab, der sich durch die Vorstellung universaler ästhetischer Ausdrucksformen definiert. Laut Claus Volkenandt lässt sich unter dem Stichwort ars una die »ästhetisch orientierte Arbeit an dem Konzept einer Weltkunst«27 als eine der wirkungsreichsten Traditionslinien der Kunstgeschichte bis in die 1960er Jahre prägnant zusammenfassen. Definitionen von Weltkunst und Weltkunstgeschichte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschten, finden sich beispielsweise in den Werken von Oskar Beyer, Arnold Worringer und André Malraux.28 Auch wenn diesem Kunstbegriff ein universales Ästhetikkonzept zugrunde lag, so mag es verwundern, dass der europäischen Kunst in den Darstellungen einer so genannten Weltkunstgeschichte – von der Steinzeit bis in die Gegenwart – bis heute eine Sonderstellung zukommt. Exemplarisch aufgeführt sei hier die Buchreihe »Ikonen der Weltkunst«29, herausgegeben von Peter Stepan. Der Kunst Europas sind 7 Bände gewidmet, während ansonsten bisher ausschließlich ein weiterer Band zu afrikanischer Kunst erschienen ist. Die Verwendung dieses vermeintlich universalen Weltkunstbegriffs ist vor allem im Zuge der postkolonialistischen Studien und der Globalisierungsdebatten in der globalen Kunstwelt mittlerweile deutlich in die Diskussion geraten. Bereits im Jahr 1992 erschien ein Band aus der Serie »Kunstforum International«, der den Titel »Weltkunst – Globalkultur. Beiträge zum interkulturellen Dialog und Verständnis«30 trägt. Die hier versammelten Aufsätze sowie die vorgestellten Kunstwerke und -projekte stellen sich der Herausforderung, Kunst im Kontext zunehmender Globalisierungsprozesse in neuen Kategorien und aus neuen Blickwinkeln heraus zu denken: »Weltkunst – Globalkultur ist ein Kurs-Logbuch, um eingefahrenes Einheitsdenken aufzubrechen, um überkommene Muster und Formen zu knacken und um sich gleichsam in den Zwischenräumen disparater Disziplinen zu bewegen. Vielfältige Streifzü-
27 28 29 30
Volkenandt 2004b: 14. Siehe zum Beispiel Beyer 1923; Worringer 1929; Malraux 1947. Stepan 2002 & 2004. Bianchi 1992.
104 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS ge stehen im Angebot, die Ein-, Aus- und Durchsichten auf eine immer rapider sich verändernde und global sich vereinheitlichende Weltkultur ermöglichen.«31
Ein neueres Beispiel dafür, wie sich die deutsche Kunstgeschichtsschreibung kritisch mit der Bezeichnung Weltkunst auseinandersetzt32, ist der Tagungsband »Kunst oder Weltkunst? Die Kunst in der Globalisierungsdebatte«33, herausgegeben von Detlef Hoffmann. Darin schreibt die Kunsthistorikerin Barbara Paul: »Das Fach Kunstgeschichte (auch) in der Bundesrepublik Deutschland muss diese vielfältigen Herausforderungen angehen und vermehrt transdisziplinäre Arbeitszusammenhänge schaffen, um perspektivisch einen Umgang mit der Kunst der Welt möglichst jenseits kultureller Dichotomisierungen, Stereotypisierungen und Hierarchisierungen zu praktizieren. Von besonderer Bedeutung wird es sein, sinnfällige Übersetzungsarbeit zu leisten, die eine hierarchisch strukturierte Weltordnung und einen ›westlich‹ definierten, inadäquaten ›Weltkunstbegriff‹ wirksam entkräften.34
Ähnlich formuliert findet sich die Forderung nach dem gezielten Überdenken kunsthistorischer Konzepte hinsichtlich eurozentristischer Denkmuster und der Ablehnung des etablierten Weltkunstbegriffs im Sinne universaler Denkmuster im von Ulrich Pfisterer herausgegebenen »Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe«35 unter dem Stichwort »Postkolonialismus«: »Eine ›Weltkunstgeschichte‹, wie sie in den 1920er Jahren diskutiert wurde, erscheint heute wenig erstrebenswert, solange davon nur die Integration nichtwestlicher Kunst in eine eurozentristische Kunstwissenschaft zu erwarten war. Wichtiger als eine globale, stoffliche Erweiterung der Gegenstandsbereiche ist die wissenschaftliche Reflektion der Kriterien des Kanons und des Standpunktes, von dem aus das Fach seine Aus- und Einschlüsse vornimmt.«36
Der Kunsthistoriker Markus Brüderlin verweist in dem Artikel »Westkunst ↔ Weltkunst. Wie lässt sich der Dialog der Kulturen im Ausstellungskontext inszenieren?«37 auf die weiter andauernde Problematik des Ungleich-
31 Bianchi 1992: 75. 32 Es sei an dieser Stelle zu bemerken, dass es im Bereich der Kunstwissenschaften nur wenig Literatur gibt, die sich kritisch mit dem Begriff Weltkunst auseinandersetzt. Die vorhandenen Debatten sind vor allem in den Bereich der Postkolonialismus-Forschung einzuordnen. 33 Hoffmann 2002. 34 Paul 2002: 48. 35 Pfisterer 2003. 36 Pfisterer 2003: 281. 37 Brüderlin 2003.
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gewichts der Dialogführung vor dem Hintergrund der Behauptung von Weltkunst als einem weltweit gültigen Kunstverständnis: »Wir werden bei der Frage nach der ›Weltkunst‹, auch wenn es anders wünschbar wäre, noch absehbare Zeit auf die traditionellen westlichen Institutionen angewiesen sein und sollten dabei die Asymmetrie des Dialoges nicht verleugnen. Noch ist es vor allem der bevorteilte Westen, der im Spiegel des Fremden etwas über sich und seinen Moderne-Begriff erfährt, während sich die nichtwestliche Kunst am traditionellen Kunstbegriff misst und abarbeitet.«38
Wie begrenzt auch das heutige Verständnis von Weltkunst sein kann, zeigt der 2004 von John Onians zusammengestellte »Atlas of World Art«39. Dieser hat den Anspruch, das Kunstschaffen auf allen Erdteilen ab dem Jahr 5000 v. Chr. zu dokumentieren. Tatsächlich tritt aber auch hier wieder die bekannte Dichotomie deutlich zutage: »But even in this work, the art from numerous local art traditions in small scale societies receives less attention than European art with its much better known traditions.«40 Die aus der Kunstethnologie vorgebrachte Kritik gemahnt an die Notwendigkeit einer umfassenderen Kenntnis und Akzeptanz verschiedener Kunstpraktiken weltweit. Trotz seiner nicht zu übersehenden Mängel ist das Unternehmen John Onians’, einen Überblick über das weltweite Kunstschaffen zu geben, auch als positiv zu bewerten. Das Anliegen des Autors ist es schließlich, möglichst viele Wissensfelder zu vereinen, die sich jeweils mit bestimmten Kunstformen auseinandersetzen und damit einen neuen Kontext für ein aktuelles Verständnis bildender Kunst zu schaffen: »When art is viewed as a worldwide phenomenon it includes many fields, the knowledge of each controlled by a different group of specialists. […] This is why the Atlas of World Art sets out to offer a new framework, one in which every specialist can present his or her knowledge, but in a way that relates to those of others. […] The new framework used here for the presentation of knowledge about art also offers a new context for its understanding.«41
Die Veröffentlichung des Bandes »World Art Studies. Exploring Concepts and Approaches«42 von Kitty Zjilmans und Wilfired van Damme im Jahr 2008 ergreift schließlich die bereits vor mehreren Jahren für die Kunstgeschichte eingeforderte Initiative eines erweiterten Erfassens von Weltkunst aus kultureller, globaler und zeitlicher Perspektive. Die hier vorgestellten
38 39 40 41 42
Brüderlin 2003: 134. Onians 2004 . Welsch/Venbrux/Rosi 2006b: 13. Onians 2004: 10. Zjilmans & Damme 2008.
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Beiträge lehnen sich insgesamt an Verfahren und Konzepte aus dem Bereich der Musik- und Literaturwissenschaft an, das heißt an die Auseinandersetzung mit Weltmusik bzw. Weltliteratur. Entscheidend hierbei sind der breit gefächerte, fachübergreifende Ansatz und die bewusste Abkehr von einer ›westlich‹-zentrierten Kunstgeschichtsschreibung: »This timely volume challenges the narrow Western-centrism of most art historical models. Archaeologists have found that, for tens of thousands of years, all human cultures have shared a desire for visual representation or expression. Yet the study of art history has traditionally focused on Western artworks of the past few centuries. World Art Studies examines the phenomenon of art through a broader cultural, global and temporal perspective, bringing together a uniquely exhaustive range of perspectives on art and borrowing approaches from the study of neuroscience, evolutionary biology, anthropology and geography as models – alongside more conventional art historical perspectives. In musicology or linguistics, using such diverse viewpoints for reflection and research is considered part of the normal process. In that spirit, this volume goes beyond abstract models, using case studies to demonstrate and examine specific methods of investigation.«43
Im Zuge dieser Entwicklungen wäre es vielleicht sogar möglich, in zukünftigen Ausgaben diverser kunst- und kulturwissenschaftlicher Lexika den Begriff Weltkunst neben dem der Weltmusik und der Weltliteratur anzutreffen. Der Weltkunstbegriff wird in weiten Teilen der Kunstgeschichtsschreibung, vor allem in neueren Ansätzen postkolonialistischer Prägung, gerade aufgrund seiner problematischen Anwendung gemieden. Als Substitut für einen bestehenden allgemeinen Kunstbegriff kann er sich als einschränkend erweisen (nur bestimmte Kunstwerke sind auch Weltkunstwerke), als subversiv-kritisch (der Zusatz Welt verweist auf die Kritik an einem universellen Kunstbegriff) oder aber gänzlich hinfällig erscheinen (die Bedeutung des Weltkunstbegriffs stimmt mit dem vorherrschenden Kunstbegriff überein). Eine dominierende Sichtweise gibt es offenbar nicht. 3.1.3 Weltkunst im ethnologischen Kontext Die Kunstethnologie hat mit ihrem Fokus auf außereuropäische Kunst die zeitgenössischen Diskurse innerhalb der Kunstwissenschaften wesentlich beeinflusst. Unter dem Begriff Weltkunst werden im Kontext der Ethnologie meistens alle auf der Welt existierenden Kunstformen zusammengefasst. Dazu zählen insbesondere auch Kunstwerke außereuropäischer KünstlerInnen, die als klassische ethnologische Forschungsobjekte gelten dürfen und die – im zwar längst überholten, aber bis heute zum Teil weiterhin üblichen
43 http://www.artbook.com/9789078088226.html, 04.06.2008.
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Jargon – als ›tribale‹ oder auch ›primitive‹ Kunst bezeichnet werden. Auch die so genannte airport art oder Touristenkunst sowie kunsthandwerkliche Objekte im Allgemeinen fallen unter den ethnologischen Weltkunstbegriff. Diese Auffassung gründet auf einem sehr breit angelegten Verständnis von Kunst überhaupt, das im Prinzip auch auf der universalen Definition von Kunst europäischen Ursprungs beruht, aber weitgehend von den wirkungsmächtigen Ein- und Ausschlussprinzipien der dominanten Kunstdiskurse in Europa und den USA unbeeinflusst bleibt: »[T]he anthropology of art is not simply the study of those objects that have been classified as art objects by Western art history or by the international art market. Nor is art an arbitrary category of objects defined by a particular anthropological theory; rather, art making is a particular kind of human activity that involves both the creativity of the producer and the capacity of others to respond to and use art objects, or to use objects as art.«44
In der kunstethnologischen Forschung der letzten Jahre lässt sich indessen eine Tendenz ausmachen, die speziell den in der Kunstwelt und den Kunstwissenschaften gebräuchlichen Weltkunstbegriff referiert. Es wird genau dann explizit von Weltkunst gesprochen, wenn eine gezielte Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst innerhalb der Kreisläufe der globalen Kunstwelt erfolgt. Achtzehn Beiträge von Vertretern/innen dieses Zweigs der Kunstethnologie sind in dem Sammelband »Exploring World Art«45, im Jahr 2006 von Robert L. Welsch, Eric Venbrux und Pamela Sheffield Rosi herausgegeben, zusammengestellt: »[T]he contemporary visual arts of non-Western people are increasingly part of a capitalistic global art world with diverse gatekeepers, tastes, venues, individuation of artists, and hybrid sources of inspiration. This collection explores several dimensions of this developing phenomenon we call world art.«46
Alle in dem Band vorgestellten AutorInnen stellen sich der Aufgabe, neue Parameter für eine Definition von Weltkunst zu sondieren. Als ethnologisches Unterfangen begriffen beinhaltet dies die Auseinandersetzung mit den Problematiken, die sich ergeben, wenn es um die Konzeptualisierung der Erschaffung neuer kultureller Formen durch Akteure distinkter, aber miteinander verbundener Lebenswelten geht: »Producers and consumers of world art may be worlds apart, but they are nevertheless mutually involved, either directly or indirectly, in the global process of cultural production.«47 Das Phänomen Weltkunst, auf das sich die ForscherInnen in ihren jeweiligen
44 45 46 47
Morphy/Perkins 2006b: 12. Welsch/Venbrux/Rosi 2006a. Welsch/Venbrux/Rosi 2006a: 21-22. Welsch/Venbrux/Rosi 2006a: 22.
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Fallstudien beziehen, ergibt sich aus einem komplexen Geflecht sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Faktoren, das heißt interkulturellen Beziehungen, Bedeutungen und Bewegungen von Materialien, Ideen, Stilen und Personen. All jene Mechanismen finden im Spannungsfeld zwischen der lokalen Kontextualisierung von Kunst und Künstlern/innen und ihrer Einbindung in die globale, insbesondere durch den Markt beherrschte Kunstwelt statt. 3.1.4 Die Documenta als Weltkunstausstellung Der Gründer Arnold Bode hatte den Weltkunstbegriff bereits für die erste im Jahr 1955 stattfindende documenta geltend gemacht. Aus dem Anliegen, in der bzw. durch die abstrakte Kunst (Malerei und Skulptur) der Moderne eine international kommunizierbare Weltsprache zu finden und zu vermitteln, entstand eine regelrechte Weltkunstideologie. Im Rückgriff auf den im 19. Jahrhundert entwickelten Weltkunstbegriff im Sinne einer universalen Ästhetik und Formensprache orientierte sich Bode in der Ausarbeitung des Ausstellungskonzepts beispielsweise an den Schriften André Malraux’ und seiner Idee des »Imaginären Museums«48: »hier versucht er [Malraux, Anm. K.S.] die Herausbildung zeitgenössischer künstlerischer Formensprachen in Beziehung zu setzen mit einer als universell postulierten Wahrnehmung der Kunst ›aller Zeiten und Kulturen‹ unter der konzeptuellen Maßgabe einer so benannten Kategorie des ›style‹.«49 Auch wenn sich über die Jahre der kuratorische Anspruch der documenta immer wieder gewandelt hat, blieb die Ausstellung dem Weltkunstbegriff treu. »Als Arnold Bode am 15. Juli 1955 eine Ausstellung mit dem Namen documenta in Kassel eröffnete, konnte er nicht ahnen, dass daraus einmal eine der bedeutendsten regelmäßig veranstalteten Weltkunstausstellungen werden würde. Weltkunst bedeutet heute, einen sich stetig verändernden und erweiternden Diskurs mit den unterschiedlichsten Kulturen zu führen.«50
Gerade im Kontext der letzten vier documenta-Projekte (IX, X, 11, 12) lässt sich ein gewandeltes Verhältnis zu der Bezeichnung Weltkunstausstellung vermuten, auch wenn eine gezielte Verhandlung oder Kritik seitens der Ausstellungsmacher selbst nicht erfolgt ist. Es scheint jedenfalls so, als würde er bewusst vermieden, was letztlich sicherlich auf den bereits skizzierten Entwicklungen innerhalb der Kunstwissenschaften und auch der Kunstwelt basiert, die einen universalen, vom europäischen Kanon dominierten (Welt-)Kunstbegriff ablehnen. Ganz verschwunden ist er aber kei-
48 Malraux 1949. 49 Bahmer 2008: 70. 50 Block/Zeller 2005: 6.
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neswegs. Hartnäckig schimmerte der Begriff immer wieder durch die Oberfläche der Ausstellung und der Diskussionen über zeitgenössische Kunst weltweit hindurch. Hin und wieder taucht er auch sehr bestimmt auf, in der Pressemappe der documenta scheint er zum gängigen Vokabular zu gehören.51 In einer der ersten Pressemitteilungen zur »d12« heißt es: »Der Aufsichtsrat der documenta (und Museum Fridericianum Veranstaltungs-) GmbH hat heute einstimmig Herrn Buergel zum Leiter der Weltkunstausstellung gewählt und folgte damit der Empfehlung der internationalen Auswahlkommission.«52 Mit ähnlichen Worten wurde die Wahl Carolyn Christov-Bakargievs »zur Leiterin der Weltkunstausstellung documenta 13«53 verkündet. Die künstlerische Leitung der »documenta 12« verwandte die Bezeichnung in einer der ersten Informationsbroschüren der »d12« selbst: »In jedem Fall ist die documenta 12 ein Ort der Affekte, ein Ort, der hitzige Debatten ebenso provozieren will wie entrückte Kontemplation. Beides lässt sich in einer Großausstellung nur verbinden, wenn man die Ausstellung als Medium begreift – als Möglichkeitsraum, der nicht fertig ist, sondern eine Gestaltung einfordert. Ein Blick in die Geschichte dieser Weltkunstausstellung verrät etwas über die Koordination dieses Möglichkeitsraumes.«54
Ist die documenta nun also eine Weltkunststellung, oder nicht? Ist der Begriff eine adäquate Bezeichnung für die Kunst, die auf der documenta gezeigt wird? Die Problematik der Anwendung und Interpretation des Begriffs im documenta-Kontext und schließlich in Bezug auf die globale Kunstwelt insgesamt, lässt sich letztlich auf die wankelmütige Definition des Attributs Welt und der damit verbundenen Assoziation von Universalität zurückführen. Damit wird man erneut auf die Frage zurückgeworfen, was Welt respektive Globalität und Globalisierung im Kontext der Kunstwelt bedeuten und wie man die Bezeichnungen interpretieren und schließlich sinnvoll für eine situative Beschreibung der Kunstwelt einsetzen kann. Der Weltkunstbegriff ist damit nicht Gegenstand, sondern Ausgangspunkt der folgenden
51 Ein Beispiel für die konkrete Auseinandersetzung mit dem Begriff Weltkunst im Kontext der »documenta 12« findet sich in Form eines Audiobeitrags von Susanne Leeb im Rahmen eines documenta-Workshops des sfb626 der Freien Universität Berlin. Leeb wirft den Ausstellungsmachern vor, in unzeitgemäßer und unkritischer Weise auf den im 19. Jahrhundert aufgekommen Weltkunstbegriff sowie auf die zum Ende des 19. Jahrhunderts in der Kulturanthropologie entwickelten Kulturkreislehre zu rekurrieren. (Leeb 2007). 52 Bernd Leifeld: Mitteilung an die Medien. Kassel, den 03. 12. 2003 (www.documenta12.de/fileadmin/pdf/d12_ press_031203_ger.pdf, 19.04.2006). 53 http://www.documenta.de/d13_leitung.html, 19.01.2011. 54 Auszug aus einem Folder zur »d12«, der im Voraus der Ausstellung im Internet herunterzuladen war. (o.A.).
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Untersuchungen, die sich zunächst der näheren Erörterung des Konzepts von Globalität widmen, um im darauffolgenden Kapitel wieder auf die documenta zurückzukommen.
3.2 G LOBALITÄT : M ÖGLICHKEITEN B EGRENZTHEIT VON W ELT
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Rather, the global itself is always already structured by its own impossibility of ever achieving its fullness. URS STÄHELI No world system is global, in the sense that all parts articulate evenly with one another, regardless of whether the role they play is central or peripheral. JANET L. ABU-LUGHOD Comparisons between the different views of globality expose their contingencies. Each occasion defines the beginning of and the specific monuments to the globalization story. CHARLOTTE BYDLER […] anthropology has much to gain from an understanding of why the global appears and disappears in discourse, especially if this is not the case in reality. JONATHAN FRIEDMAN
Nicht neu erfunden, aber maßgeblich geprägt wurde der Globalisierungsbegriff durch einen im Jahr 1983 im Harvard Business Review veröffentlichten Artikel des Wirtschaftswissenschaftlers Theodore Levitt mit dem Titel »The Globalization of Markets«55. Globalisierung bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die weltweite Ausbreitung von Märkten und damit auf die gleichzeitige Vernetzung aller Erdteile durch ein transnationales Wirtschaftssystem. Diese auch über den Bereich der Ökonomie hinaus rasch populär gewordene Verwendung des Globalisierungsbegriffs erzeugt eine ganz bestimmte Sichtweise von Globalität, die insbesondere durch die geographische Dimension wirtschaftlicher Entwicklung assoziiert wird: die (ökonomische) Welt erscheint in ihrer Verbundenheit als Totalität.
55 Levitt 1983.
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Gerade jene Totalitätskonnotation jedoch, das heißt die Idee von (ökonomischer) Globalität als Vereinheitlichung (Homogenisierung) durch die geographische Ausweitung von Kapital und Marktprozessen, erweist sich als höchst problematisch. Sie wird zweifelhaft, sobald man sie zum Beispiel um eine soziale Dimension erweitert: »In the beginning, the capitalist universe consisted of southern Europe, with extensions to South and Central America. With expanding overseas markets and trade partners, it gained territorial and demographic involvement. But already the fact that there is no necessary connection between extension – usually, nation-states – and the inhabitants (citizens, resident aliens, or illegal immigrants) provides grounds for disagreement on the totality of capitalism.«56
Sobald sich also der Blick nicht mehr nur auf geographische, transnationale Diffusionsprozesse von Kapital und Märkten richtet, sondern auch auf gesellschaftliche Phänomene, wird die Vorstellung der globalen Verbreitung des Kapitalismus in ihrer Totalität entschärft. Verliert sich der Aspekt einer allumfassenden Durchdringung, könnte der Anspruch auf Gültigkeit jeglicher Globalisierungs- und Globalitätskonzepte allerdings grundsätzlich in Frage gestellt oder gar gänzlich obsolet werden: »If globalization means that the world is a seamless unity in which everyone participates equally in the economy, obviously it has not taken place.«57 Jedoch sind die Begriffe Globalisierung und Globalität in ihrer vereinheitlichenden Bedeutung selbst so mächtig, dass man ihre Existenz und ihren Geltungsanspruch nicht einfach verneinen kann. So findet man in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur die Behauptung, »das Neue an der zeitgenössischen Phase der Globalisierung«58 sei eben jenes Bewusstsein einer »Gesamtheit der Welt«59: »This is an awareness that is produced quite generally in certain quarters of the world system where declining hegemony and disorder, combined with increasing intensity of communication, have pressed the global upon everyday consciousness.«60 Der Philosoph Oliver Marchart spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Aussicht auf einen durch und durch globalen Globus«, hervorgerufen durch den permanenten Verweis auf einen »angeblichen Zustand globaler Alternativlosigkeit« durch hegemoniale Diskurse des Globalismus.61 Ein Beispiel für eine relativ unkritische Definition des Globalitätsbegriffs innerhalb der Sozialwissenschaften liefert der Soziologe Ulrich
56 57 58 59 60 61
Bydler 2004: 204. Smiers 2003: 13. Breidenbach/Zukrigl 1998: 34. Breidenbach/Zukrigl 1998. Friedman 1994: 205. Marchart 2006: 36.
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Beck. In dem 1998 erschienenen Band »Was ist Globalisierung?«62 beschreibt er Globalität als einen faktischen und irreversiblen »Ist-Zustand« einer vernetzten Welt. Globalität kennzeichnet nach Beck das Leben in einer Weltgesellschaft, in der die Vorstellungen geschlossener Räume fiktiv werden.63 Der Begriff impliziert auf diese Weise Vorstellungen von Ganzheit und Grenzenlosigkeit – zum Beispiel durch die Auflösung der Nationalstaaten – und suggeriert damit grenzenlose Verbundenheit aller Menschen auf der Erde. Natürlich ist Becks Definition nicht falsch. Bewegungen im globalen Raum machen bestehende – räumliche und fiktive – Grenzen durchlässig, transparent oder lösen sie gänzlich auf. Bei genauerem Hinsehen erscheint sie in ihrer allumfassenden Absolutheit aber wenigstens prekär, da die Bedeutung spezifischer, für die Ausbildung von Identität wichtige Räume nicht mehr oder zu wenig bedacht wird. Frühen kartographischen Abbildungen ähnlich, entstehen aufgrund solch unreflektierter Interpretationen und Darstellungsweisen von Globalität zu einheitliche und systematische, oft eindrucksvoll dekorierte Bilder der Welt als zusammenhängendes Ganzes. Ein Betrachter, der über weiter reichende Kenntnisse verfügt und andere Vorstellungen und Perspektiven von Welt und auf die Welt besitzt, wird ein solches Weltbild allerdings als völlig verzerrt oder gar falsch wahrnehmen. »Lack of information, in itself, can be used as a sensitive indicator of world perspective, particularly when it is presented in good faith. It is possible for example, to use gross inaccuracies in the accounts of Arab geographers or European travelers in the Middle Ages to draw a relatively accurate map of the world they knew, either personally or through the eyes of informants with first-hand experience.«64
Vor allem das erhaltene Kartenmaterial aus der Zeit der Entdeckungsreisen – häufig als erste Phase der Globalisierung bezeichnet – ergibt sich als ein Sammelsurium sich wandelnder Abbildungen des Globus. Ein Beispiel hierfür ist die 1519 erstellte Weltkarte des portugiesischen Kosmo- und Kartographen Lopo Homem (Abb. 1). In ihrer Heterogenität, ihrer Tendenz zur Idealisierung sowie der Offensichtlichkeit hegemonialer Ansprüche sind sie zeitgenössischen Kartierungen von Welt innerhalb diverser Diskurse über Globalisierung und Globalität im übertragenen Sinne sehr ähnlich.65
62 63 64 65
Beck 1998. Beck 1998: 26-27. Abu-Lughod 1989: 31. Eine umfangreiche Zusammenstellung und Erläuterung des Kartenmaterials, das im Rahmen der von Portugal ausgehenden Expansion ab dem 15. Jahrhundert entstand, findet sich im Katalog zur Ausstellung »Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen«, die vom 24. Oktober 2007 bis zum 10. Februar 2008 im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen war. (Kraus/Ottomeyer 2007).
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Abbildung 1: Weltkarte. Lopo Homem. 1519
Quelle: Atlas Miller; siehe Kraus/Ottomeyer 2007
Es lässt sich schließlich eine Reihe von Indizien zusammentragen, die am vermeintlichen Ist-Zustand von Globalität stark zweifeln lassen. Beispiele hierfür sind kriegerische Auseinandersetzungen, die der Verteidigung bestehender Grenzen dienen oder Neueingrenzungen fordern und vielen Menschen sogar das Überschreiten von Grenzen und die Teilnahme an einem globalen Weltgeschehen schlichtweg verwehren. Die Ethnologinnen Joana Breidenbach und Ina Zukrigl bemerken: »Globalität wird von immer mehr Menschen als unrevidierbares Faktum erkannt und anerkannt. Von einer vollständig globalisierten Welt, in der alle Menschen weltweit einander verstehen, sind wir jedoch, sollte es sie überhaupt jemals geben, weit entfernt.«66 Auf diese Weise stellt Globalität »für die meisten Menschen und Gesellschaften weniger eine Zustandsbeschreibung als ein Potential«67 dar. Sowohl um einer vorschnellen Globalitätsromantik68 zu entgehen, als auch einer ebenso vorschnellen Aburteilung des Begriffs und seines Bedeutungspotentials vorzubeugen, muss eine genauere und kritische Reflexion erfolgen. Denn auch in der Feststellung ihres kritischen Potentials ergibt sich noch keine Antwort auf die Frage nach der konkreten Beschaffenheit einer Gesamtheit der Welt, das heißt von Globalität oder dem Globalen. Aufgrund der vielfältigen Dimensionen von Globalisierung (geographisch, politisch, wirtschaftlich, sozial, künstlerisch etc.), die selbst wiederum in verschiedenen Bereichen unterschiedlich verläuft und konnotiert ist, macht es darüber hinaus wenig Sinn, nach einer einzigen möglichen Definition von Globalität zu suchen. Vielmehr bietet es sich an, von der Existenz einer
66 Breidenbach/Zukrigl 1998: 226. 67 Breidenbach/Zukrigl 1998: 223. 68 Breidenbach/Zukrigl 1998: 224.
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Vielzahl (kontingenter) Globalitätsvorstellungen innerhalb dieser Bereiche auszugehen. Aufgrund solcher Überlegungen soll hier weder für die Notwendigkeit einer konkreten Globalitätsdefinition, noch für eine Dekonstruktion des Globalitätsbegriff plädiert, sondern für ein Verständnis von Globalität als multiple und kontingente Form von Weltsicht oder Weltwahrnehmung argumentiert werden. Man könnte so auch von Globalität im Plural oder gar multiplen Globalitäten sprechen. 3.2.1 Mondialisierungen und Heteromundus Jens Badura liefert eine sehr schlüssige Erläuterung des Globalisierungsbegriffs, indem er gerade von einer »Nichtdefiniertheit des Begriffs ›Globalisierung‹«69 ausgeht. Der Philosoph begreift Globalisierung im weitesten Sinne als »eine Vielzahl von Transformationen, die nicht nur lebenspraktisch konkrete Auswirkungen zeitigen, sondern auch Auswirkungen auf die Validität der verfügbaren Inventare zur Deutung der Lebenswelt haben.«70 Diese Lebenswelt, und dies ist hier das entscheidende Kriterium, wird an sich bereits als dynamisiert-interaktive Pluralität verstanden, die sich aus der Erfahrung einer mannigfaltigen Menge von Möglichkeiten, Mensch innerhalb dieser Welt zu sein, ergibt. Badura unterscheidet zwei Kategorien von Globalisierung: Globus und Mundus. Die Bezeichnung Globus nimmt Bezug auf die physikalischräumlichen Dimensionen, die vornehmlich die pauschale Rede von Globalisierung prägen, der Mundus auf die kulturelle(n) humane(n) Welt(en). Der Autor fokussiert die Transformationsprozesse den Mundus betreffend. Dazu führt er den Neologismus Mondialisierungen ein, der im weiteren Sinne mit der bereits geläufigen Begriffskombination der kulturellen Globalisierung assoziierbar, wenn auch sicherlich nicht eins zu eins übertragbar ist. »Mondialisierungen bezeichnen diesen zur Normalität gewordenen Ausgriff der humanen Welt über den gesamten Globus hinweg, der in Permanenz Verweisungs- und Verwiesenheitszusammenhänge von je verwirklichten Möglichkeiten des Menschseins generiert.«71
Mit der Wortneuschöpfung Mondialisierungen soll auf das Defizit der gebräuchlichen, eindimensionalen Rede von Globalisierung aufmerksam gemacht werden, die diejenigen »hochgradigen bedenkenswerten Transformationsbewegungen« ausblendet, »die lebensweltliche Strukturrealitäten, Kategorien und Erfahrungsbestände in substantieller Weise vor Modifikations-
69 Badura 2006a: 12. 70 Badura 2006b: 49-50. 71 Badura 2006a: 13.
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und Revisionsherausforderungen stellen – im Denken wie im Handeln.«72 Die menschliche Lebenswelt, die sich als »Wirkraum der Vielheiten von Möglichkeiten des Menschseins«73 gestaltet, wird von Badura als Heteromundus bezeichnet. Auf diese Weise erscheint dem Betrachter die humane Welt als ein im Wesentlichen kontingenter Möglichkeitsraum74 und zwar in doppelter Hinsicht: sowohl die Perspektive auf die Welt, als auch die Beschaffenheit der Welt selbst werden für die Wahrnehmung von Welt relevant.75 »Der Mundus offenbart sich somit immer als gleichermaßen gemacht und angenommen.«76 Auf der Basis dieser Überlegungen lässt sich auch Globalität als eine spezifische Wahrnehmung von Welt als Gesamtheit im Spannungsfeld von Konstruktion und Voraussetzung verstehen. Durch die Erfahrung immer neuer Möglichkeiten erweist sich das Denken von Globalität bzw. von verschiedenen Globalitäten in je unterschiedlichen Kontexten als unabschließbare Interpretationsaufgabe. Im Prinzip generiert die Teilung der Globalisierungskategorien von Globus und Mundus bereits zwei Sichtweisen von Globalität, die aber in ihrer kontextuellen Ausformung innerhalb des Mundus selbst ins Unendliche erweitert werden. »Es gibt keinen Weg, der den Mundus vermessen, abschließend umrunden, ihm ein festes Koordinatensystem zuschreiben könnte – es gibt nur jene unendlichen Passagen, ›Seewege‹ ohne festen Boden, ohne festen Verlauf, die immer neu zu machen, nicht aber vorzufinden und in definitiver Weise zu beschreiben sind.« 77
Badura führt den Ausdruck Globalität ausschließlich auf die Kategorie des Globus zurück: »Für die wissenschaftliche Untersuchung der Mondialisierungen bedarf es zunächst einer Dekonstruktion dieser Reduktion des Mundus auf seine Globalität, um den Mundus in seiner Eigenwirklichkeit überhaupt erst sichtbar und denkbar zu machen.«78 Für die vorliegende Studie wird der Begriff Globalität, wie bereits angedeutet, als Bezeichnung für eine multiple und kontingente Form von Weltsicht oder Weltwahrnehmung im Allgemeinen verwendet, die sich aus dem kontingenten Möglichkeitsraum, dem Mundus ergibt. Badura spricht in diesem Sinne von Mondialität
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Badura 2006a: 12. Badura 2006b: 53. Vgl. Badura 2006b: 56. Badura unternimmt hier bewusst eine konsequent heuristische Konzeptualisierung des Heteromundus vor, »die diesen als genau jene Spannung zwischen Deutungspraxis und dem diese Praxis affizierenden Deutungsgegenstand begreift – zugleich aber beide als prinzipiell kontingent, je anders möglich denkt.« (Badura 2006b: 57). 76 Badura 2006b: 57. 77 Badura 2006b: 57. 78 Badura 2006a: 14.
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statt von Globalität. Auch wenn die Argumentation Baduras für die Neueinführung des Mondialitätsbegriffs vollkommen nachvollziehbar ist, wird die Bezeichnung Globalität beibehalten. Dies geschieht vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Begriff in seiner Vielheit aktuell gebräuchlich ist und es hier keinen Sinn machen würde, ihn durch einen möglicherweise theoretisch schärferen, aber gleichzeitig auch abstrakteren zu ersetzen. 3.2.2 Globalização sem globalidad: Provincianismo Global79 Der brasilianische Soziologe Osvaldo Ruiz spürt in dem Text »Provincianismo global: A globalização sem globalidade«80 einer klar kontextabhängigen und in sich selbst stark begrenzten Vorstellung von Globalität nach. Er stellt die These auf, dass Globalitätsvorstellungen und damit auch Globalisierungsideologien heute vielfach auf einer eingeschränkten Sicht der Welt beruhen, das heißt vor allem auf Diskursen, die nicht wirklich global geführt werden. Diese Unterstellung formuliert er in komprimierter Form schließlich als »Globalisierung ohne Globalität«: »O ›espaço do fluxo‹ e o ›tempo intemporal‹ das redes de informação-comunicação, nas quais são desenvolvidas hoje as práticas sociais dominantes, constituem uma dimensão espaço-temporal, em muitos casos, não-globalizante; pelo contrário, promovem a generalização de uma visão do mundo: uma globalização sem globalidade.«81
Ähnlich wie Badura verweist Ruiz auf die Mangelhaftigkeit ideologischer Diskurse über Globalisierung, die die Welt in ihrer Komplexität ignorieren. Allerdings legt der Soziologe in seinen Erläuterungen ein besonderes Gewicht auf den räumlichen Aspekt von Globalität. Den Ausgangspunkt für seine Überlegungen bildet das Buch »The Borderless World: Power and Strategy in the Interlinked Economy«82 von Kenichi Ohmae aus dem Jahr 1990. Letzteres lässt sich in eine Serie von Büchern einreihen, die von der globalen Ökonomie und der Logik der weltweiten Märkte jenseits nationalstaatlicher Grenzen sprechen. Es gehört damit zu einem Literaturtypus, der mit dem Anspruch produziert wurde, Rechenschaft über die tiefgängigen Veränderungen der Welt abzulegen und
79 »Globalisierung ohne Globalität – Globaler Provinzialismus«. 80 Ruiz 2000. 81 »Der ›Raum des Flusses‹ und die ›unzeitgemäße Zeit‹ der Informations- und Kommunikationsnetze, in denen heute die dominanten sozialen Praktiken entwickelt werden, konstituieren eine raum-zeitliche Dimension, die in vielen Fällen als nicht-global bezeichnet werden kann; ganz im Gegenteil fördern sie die Verallgemeinerung einer partiellen Weltsicht: einer Globalisierung ohne Globalität.« (Ruiz 2000: 73, Übersetzung K.S.). 82 Ohmae 1990.
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basiert weitgehend auf dem bereits weiter oben erläuterten Globalisierungsbegriff von Theodore Levitt. Ruiz stößt bei der Lektüre von »The Borderless World« auf deutliche Indizien, die eine stark beschränkte Auffassung von Globalität seitens des Unternehmensberaters Kenichi Ohmae belegen – ohne dass sich Ohmae allerdings bewusst dazu äußert. Innerhalb eines Textabschnitts, in dem Ohmae eine Urlaubsepisode schildert, werden für den kritischen Leser überraschend (räumliche) Grenzen erkennbar, die in der gewöhnlichen Globalitätsideologie der von Ruiz als Oberschicht bezeichneten Führungspersonen der Wirtschaft – er bezeichnet diese verallgemeinernd als »Ohmaes« – eigentlich verneint oder vielmehr ausgeblendet werden. Die Entscheidung für die Fahrt in einen kleinen abgelegenen Ort an der kanadischen Westküste im Rahmen eines Familienurlaubs entpuppt sich für Ohmae als fast unüberwindliches Hindernis. Er glaubt sich offensichtlich völlig außerhalb seiner Vorstellung von (s)einer zivilisierten Welt zu befinden, nämlich in der totalen Wildnis. »A imagem dada pelos Ohmaes, considerando que são os maiores consultores e managers do mundo, é a de timoneiros quase todo-poderosos, sem medo de nada, com a capacidade de dirigir de seus celulares os destinos de países e continentes em decições instantâneas. No entanto, precisam quatro anos para decidir fazer um adorável journey de quatro horas a Campbell River no superdesenvolvido Canadá!«83
Die Geschichte legt nach Ruiz folgende Problematik offen: »a patética falta de conhecimento do mundo de toda uma classe de dirigentes, os mais poderosos, os mais influentes, os que acreditam ser ›os globalizados‹.«84 Der Ort Campbell River befindet sich zwar nicht völlig außerhalb der Weltvorstellung der »Ohmaes« – er ist auf gewöhnlichen Wegen erreichbar und auch in Bezug auf andere Aspekte an die ihn umgebende Welt angebunden –, markiert aber die Grenze zu einer anderen Räumlichkeit. Diese grenzt sich vom Kosmos der Führungseliten, zu der auch Ohmae zählt, deutlich ab: auf ihrer globalen Landkarte ist der Ort nicht verzeichnet. Zur genaueren Bestimmung dieses Kosmos als spezifischen Raum bezieht sich Ruiz auf das ethnologische Konzept der Nicht-Orte von Marc
83 »Das durch die Ohmaes vermittelte Bild, allein sie seien die größten Berater und manager der Welt, ist dasjenige fast allmächtiger Steuermänner, die vor nichts Angst haben und die Fähigkeit besitzen, durch ihre unmittelbaren Entscheidungen das Schicksal einzelner Länder und ganzer Kontinente per Mobiltelefon zu lenken. Jedoch benötigen sie ganze vier Jahre, um sich zu einer wunderbaren, vierstündige Reise nach Campbell River im hoch entwickelten Kanada durchzuringen!« (Ruiz 2000: 77, Übersetzung K.S.). 84 »[…] die erbärmliche Unkenntnis der Welt seitens einer Klasse von Führungspersönlichkeiten, der Mächtigsten, der Einflussreichsten, die von sich selbst glauben, sie seien ›die Globalisierten‹.« (Ruiz 2000: 77, Übersetzung K.S.).
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Augé. Nicht-Orte definieren sich zunächst als Räume des Verkehrs von Gütern, Personen und damit auch Informationen. Sie existieren überall in der zeitgenössischen Welt des Alltags – Beispiele sind Shopping-Center, Flughäfen, Autobahnen etc. Die Nicht-Orte können darüber hinaus auch als Räume des Flusses (espaços de fluxos) beschrieben werden, was sich vor allem durch die ihnen inhärenten Komponenten nicht-physischer Räumlichkeit ergibt (z.B. elektronische Informations- und Kommunikationsnetze). Durch diese deterritorialisierte Räumlichkeit eröffnet sich die Möglichkeit der Ko-Präsenz verschiedener sozialer Akteure innerhalb eines klar definierten räumlichen Kontextes, auch wenn sie sich an unterschiedlichen Orten auf der Welt aufhalten. Ruiz umschreibt anhand des Konzepts der NichtOrte den Wirkungsbereich der »Ohmaes« als einen begrenzten und klar umschriebenen Raum, der sich gleichzeitig über die gesamte Welt erstreckt, also eine globale Dimension einnimmt. Kenichi Ohmae stellt damit ein typisches Beispiel für Personen dar, die sich permanent an solchen Nicht-Orten aufhalten. Zusammenfassend ergibt sich nach Ruiz: »O que se pretende demonstrar, por conseguinte, é que os ›espaços de fluxos‹ onde habitam os Ohmaes, é uma unidade especial circunscrita – além de ter entre alguns de seus componentes certo grau de imaterialidade física – e o suporte material concreto das práticas socias dominantes. Esses espaços têm as caraterísticas de ›não-lugares‹ e, como tais, conformam um novo espaço antropológico: o lugar antropológico ocupado pelas elites dominantes. [...] o ›não-lugar‹ [é] uma espécie de ›território portátil‹ com caraterísticas e códigos comuns, padronizados além das fronteiras nacionais e da especificidade cultural de locais particulares. Como moradores de uma espacialidade restrita, a visão do mundo destes grupos é, portanto, uma visão ›provinciana‹.«85
Mit dem Adjektiv »provinziell« bzw. dem Substantiv »Provinzialismus« verweist Ruiz auf einen Typus begrenzten Denkens, »uma mentalidade que, em geral, é produzida a partir de uma identidade forte, centrada no grupo ao qual o sujeito pertence e nos usos, costumes e formas de organizar a
85 »Es ließe sich folglich zeigen, dass die ›Räume des Flusses‹, in denen sich die Ohmaes aufhalten, sich als spezifisch begrenzte Einheiten – auch wenn einige ihrer Komponenten einen gewissen Grad an physischer Immaterialität aufweisen – und als konkrete materielle Träger dominanter sozialer Praktiken darstellen. Diese Räume weisen Charakteristiken von ›Nicht-Orten‹ auf und bilden damit einen neuen anthropologischen Raum: den anthropologischen Raum, der von den dominanten Eliten besetzt ist. […] der ›Nicht-Ort‹ stellt sich als eine Art ›tragbares Territorium‹ mit allgemeinen Charakteristiken und Regeln dar, die außerhalb nationaler Grenzen und kultureller Spezifizität bestimmter Lokalitäten normiert werden. Als Bewohner einer begrenzten Räumlichkeit erweist sich die Weltsicht dieser Gruppen folglich als ›provinzielle‹ Sicht.« (Ruiz 2000: 80, Übersetzung K.S.).
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realidade das pessoas deste grupo.«86 Jede kontextuell gebundene provinzielle Lesart von Welt ergibt sich auf diese Weise als die einzige oder die legitime. Mit dem Neologismus globaler Provinzialismus betitelt Ruiz jene Denkart, für die Kenichi Ohmae wiederum ein Exempel statuiert. »Este tipo de provincianismo é ›global‹ apenas porque seu espaço-tempo se dissemina pelo mundo tudo, no entanto, não é verdadeiramente global em seu olhar. O ponto de vista não é mundializado, pelo contrário, consiste apenas em uma versão sui generis de visão provincial.«87
Entscheidend ist der Gedanke, dass, sobald sich die Auffassung von Welt aus der eben beschriebenen Mentalität ergibt, das heißt auf der Basis einer begrenzten Räumlichkeit sowie eines begrenzten Verständnisses von Welt, Globalität in ihrer Bedeutung als umfassende Gesamtheit nicht mehr stimmig erscheint. Globalität erscheint nur noch als vermeintliche Globalität, hinter der sich eine stark eingeschränkte Denkart verbirgt. Solche Mechanismen vollziehen sich dabei keineswegs bewusst, sondern entstehen durch die Unkenntnis der eigenen Grenzen: »Discursos como o de Ohmae legitimam sua cosmovisão a partir de um aparente conhecimento do mundo. A crença na detenção deste conhecimento só é possível a partir de um profundo desconhecimento dos próprios limites.«88 Der provincianismo global verweist somit direkt auf die vermeintliche Globalität vermeintlich globaler Diskurse. Ruiz gelangt letztlich zu der Aussage, im Kontext des globalen Provinzialismus ergäbe sich die Vorstellung von Globalisierung ohne Globalität (globalização sem globalidade). Globalisierungserzählungen wie die in dem Buch »The Borderless World« von Kenichi Ohmae entpuppen sich als trügerischer Diskurs (discurso falaz), der mit dem Etikett Globalisierung lediglich seine Unvollständigkeit verschlei-
86 »einer Mentalität, die sich im Allgemeinen ausgehend von einer gefestigten Identität ausbildet, konzentriert auf die Gruppe, der das Individuum angehört sowie auf die Gewohnheiten, Verhaltensformen und Formen der Wirklichkeitsorganisation der dieser Gruppe zugehörigen Personen.« (Ruiz 2000: 80, Übersetzung K.S.). 87 »Dieser Typus von Provinzialismus erscheint nur deshalb global, weil sich seine Raum-Zeit über die ganze Welt erstreckt, ist gleichzeitig aber in der eigenen Wahrnehmung auch wiederum nicht wirklich global. Der Blickwinkel ist nicht weltweit ausgerichtet, sondern beruht auf einer Version provinzieller Sicht sui generis.« (Ruiz 2000: 82, Übersetzung K.S.). 88 »Diskurse wie die von Ohmae legitimieren ihre Weltanschauung ausgehend von einer offensichtlichen Kenntnis der Welt. Der Glaube an die Aufrechterhaltung dieser Kenntnis ist nur aufgrund einer grundlegenden Unkenntnis der eigenen Grenzen möglich.« (Ruiz 2000: 82, Übersetzung K.S.).
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ert: »a falta de uma leitura global da realidade do mundo de hoje.«89 Im aktuellen Zeitgeschehen zeigt sich der globale Provinzialismus insgesamt als hegemonialer Diskurs, ein ideologischer Diskurs, der eine Idee von Globalisierung konstruiert, ohne die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen: »É um discurso pré-formativo que globaliza os olhares e os dispõe, os modula, para mirar unidimensionalmente o que deve se entender por global. O outro não existe, só existe a província globalizada pelos fluxos entre não-lugares; o ›mundo feliz‹ do conhecido, do planejável, do certo, do não selvagem.«90
Letztendlich, so Ruiz, bedürfe eine Theorie der Globalisierung einer utopischen Dimension, um wirklich global zu erscheinen. 3.2.3 The Outside of the Global Die Logik der Ganzheitlichkeit (logic of completeness) eines allgemein gültigen Globalitätsverständnisses wird von Urs Stäheli schon ganz zu Beginn seines Aufsatzes »The Outside of the Global« als rein imaginäre Totalität innerhalb theoretischer Globalisierungsdiskurse demaskiert: »The narratives put forward understand the global as teleological process, awaiting its fulfillment in the imaginary totality of an all-encompassing globality.«91 In dieser alles durchdringenden, totalisierenden Geste sieht der schweizer Soziologe die Undenkbarkeit eines Außen des Globalen vermittelt: »discourses on globalization often resemble a teleological world view, claiming that ever more social spheres are becoming globalized, leaving nothing untouched by the hegemony of the global.«92 Mit dem Anreiz, einem Außen des Globalen dennoch nachzuspüren, richtet der Soziologe seinen Blick gezielt auf den Gebrauch der Begriffe global und Welt innerhalb zeitgenössischer Globalisierungstheorien und auf die totalisierenden Effekte, die sie hervorbringen. Ziel ist es, das herauszufiltern, was in der Rede vom Globalen ausgeschlossen bleibt, um zu ermitteln, wie diese konstitutiven Ausschlüsse die Möglichkeit von Globalität überhaupt erst bestimmen. Stäheli analysiert diesbezüglich zunächst politische Diskurse und Diskussionen über die binä-
89 »das Fehlen einer weltumfassenden Lektüre der zeitgenössischen Welt.« (Ruiz 2000: 84, Übersetzung K.S.). 90 »Es ist ein präformativer Diskurs, der die Sichtweisen globalisiert, sie disponiert, sie moduliert, um genau das recht eindimensional zu spiegeln, was sich unter global verstehen lässt. Das Andere existiert nicht, es existiert nur die unmittelbare Umgebung [die Provinz], die durch die Flüsse zwischen den Nicht-Orten globalisiert ist, die ›glückliche Welt‹ des Bekannten, des Absehbaren, der Sicherheit, des nicht Wilden.« (Ruiz 2000: 86, Übersetzung K.S.). 91 Stäheli 2003: 1. 92 Stäheli 2003: 2.
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re Opposition des Globalen und Lokalen innerhalb der Cultural Studies. Anschließend erörtert er Konzepte von Welt bei Niklas Luhmann und Jean-Luc Nancy, um schließlich eine Möglichkeit der Definition eines Außen des Globalen zu formulieren. Ausschlaggebend ist auch hier wiederum der Gedanke, die Vorstellung von Welt als Einheit als kontingente Vorstellung anzunehmen, hervorgerufen durch weltumspannende Kommunikationsflüsse: »This contingency is the mode of being of ›worldly‹ communications, always threatened by their representations as global processes. Representations of the world such as ›world views‹ are totalizing devices, suspending the world they are trying to represent.«93 Herauszustellen auf welche Weise die so entstandenen Weltbilder wirken sei letztlich eine der wichtigsten Aufgaben sozialer und kultureller Theorie: »How does a world view institute itself as the instance of the global? Which strategies are used in order to make the particularity of the global invisible?«94 An dieser Stelle gewinnt die Idee eines Außen des Globalen seine besondere Bedeutung. Es lässt sich in den Momenten ausmachen, an denen sich stets neue, kontingente Auffassungen des Globalen innerhalb der steten Kommunikationsflüsse formieren können. Solche Momente werden von Stäheli als Bifurkationspunkte (points of bifurcation) erkannt: »It is the point of bifurcation, opening up the systemic logic of communication, that points to a radical contingencies within these flows.«95 An diesen Punkten werden andauernde Bedeutsamkeiten, wirkungsvolle Rhetoriken – übertragen durch sich vereinheitlichende Kommunikationsflüsse – durch das Auftauchen unvorhergesehener Möglichkeiten in ihrem weiteren Verlauf aufgebrochen: »Bifurcation points, then, are sites where the resonance of the world becomes visible, going beyond the calculated and expected possibilities of the system.«96 In der Wahrnehmung von Diskontinuitäten innerhalb globaler Flüsse entgeht man einem zu stark auf Homogenisierung basierenden Verständnis globaler Prozesse. Es wird ein Außen des Globalen erkennbar, das sich nicht als Gegenpart des Globalen darstellt – wie es zum Beispiel diverse Definitionen des Lokalen in Opposition zum Globalen vor Augen führen –, sondern diesem stets implizit ist: »[…] the very distinction between the local and the global implodes if we take seriously the idea of ›points of bifurcation‹. The outside of the global, then, is not simply the local rearticulation of the global, but rather a certain spatio-temporal configuration of flows of communications.«97 Die Bereiche des Lokalen und Globalen oder auch die Dimensionen Mikro und Makro sind nicht als trennscharfe Sphären zu verstehen, sie konstituieren sich vielmehr als zwei unterschiedliche Perspektiven
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Stäheli 2003: 15. Stäheli 2003: 15. Stäheli 2003: 18. Stäheli 2003: 17. Stäheli 2003: 18.
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in Bezug auf das gleiche Phänomen. In diesem Sinne erscheint das Lokale nicht als ein Außen des Globalen, das sich in räumlichen Begriffen definieren ließe. Ebenso wird die Vorstellung des Globalen als vollständig konstituierte teleologische Entität ausgeschlossen: »Rather, the global itself is always already structured by its own possibility of ever achieving its fullness.«98 Das Globale ist damit immer gerade auch das, was es nicht ist. Schließlich ist der Diskurs des Globalen als Form der Beobachtung und Regulierung von Kommunikationsflüssen zu verstehen, die eine bestimmte Weltsicht entstehen lässt. Diese ist nie endgültig und als Einheit zu fassen, sondern sie formiert sich durch die sporadische Wahrnehmung ihres Außen, das heißt der Bruchstellen innerhalb der sie konstituierenden diskursiven Flüsse, immer wieder neu. Anhand der vorgestellten Ansätze von Badura, Ruiz und Stäheli wird die Idee von Globalität als multiple und kontingente Wahrnehmung von Welt greifbar. Baduras Vorstellung des Mundus als pluraler Möglichkeitsraum bildet hierfür die Grundlage. Ruiz verdeutlicht, wie sich die Wahrnehmung von Welt innerhalb globalisierter, aber durchaus begrenzter Räumlichkeiten, zu sehr spezifischen Deutungen von Globalität verdichten kann. Durch die Erörterung eines Außen des Globalen verweist Stäheli schließlich explizit auf die Mechanismen permanenter Aushandlung kontingenter und in sich nie ganzheitlicher globaler Weltsichten auf der Basis dessen, was jenseits des jeweils aktuellen Globalitätsverständnisses existiert. Insgesamt zeigen sich mehrere Schnittstellen und Übereinstimmungen in den Auslegungen der Autoren. Ein Aspekt, der neben der Betonung der Kontingenz als wichtiger Punkt im Ausbildungsprozess einer Weltsicht in allen drei Abhandlungen anklingt, ist der Verweis auf die imaginäre Dimension von Globalitätsvorstellungen, die wiederum auf die Dimension des Möglichen zurückgeht. So beschreibt Badura die Welt als »ein zwischen Phantasie und Realität des Optionalen oszillierendes Nebeneinander möglicher Wirklichkeiten«99 – sie ist also »nicht mehr als eine heuristisch konstituierte Quasi-Entität«100; Ruiz verweist auf die Notwendigkeit einer utopischen Dimension, die es erlaubt, eine Globalisierungstheorie überhaupt zu denken; Stäheli erfasst Globalität von vorneherein als imaginäre Totalität. Dieser Verweisungszusammenhang des Möglichen auf eine imaginäre Vorstellung von Welt im Kontext kultur- und sozialwissenschaftlicher Globalisierungstheorien ist keineswegs neu. Ein direkter Bezug kann zum Beispiel zu den globalisierungstheoretischen Auseinandersetzungen Arjun Appadurais hergestellt werden, der die Imagination als grundlegende soziale Praxis im Rahmen kultureller Globalisierungsprozesse annimmt:
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Stäheli 2003: 18. Badura 2006b: 52. Badura 2006b: 57.
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»[…] the imagination has become an organized field of social practices, a form of work (in the sense of both labor and culturally organized practice), and a form of negotiation between sites of agency (individuals) and globally defined fields of possibility. […] The imagination is now central to all forms of agency, is itself a social fact, and is the key component of the new global order.«101
Die Imagination, verstanden als Motor für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, avanciert für Appadurai auch zu einem Fundament der Ethnographie, »die in einer transnationalen, enträumlichten Welt Gehör finden will.«102 So kommt die Idee, Globalität weniger als eine Zustandsbeschreibung, sondern eher als Potential zu begreifen, zum Tragen. Der Wunsch nach Verwirklichung unterschiedlich möglicher Arten des Menschseins erweist sich als die treibende Kraft zur Überwindung des Horizonts103, das heißt der Modifikation von Weltwahrnehmung auf der Basis eines Möglichkeitshorizonts – von Badura als Mundus beschrieben: »Erst mit der Idee des Mundus konnte das Schiff gebaut und auf den Horizont zugesteuert werden, weil hinter ihm ein Mögliches erwartbar geworden war.«104 Zur sinnvollen Erfassung der Rolle der Imagination im sozialen Leben gilt es schließlich auch eine spezifische Form der Ethnographie zu praktizieren, die nicht lokalisierend vorgeht, sondern die Wirkung imaginärer Entwürfe auf gesellschaftliche Realitäten in einem übergreifenden Zusammenhang erkennt: »Natürlich spricht vieles für das Lokale, für den Einzelfall, für das Zufällige – darin lag stets die Stärke der besten ethnographischen Arbeiten. Wenn aber das Leben teilweise mit und durch verschiedene ›Realismen‹ imaginiert wird und die Fähigkeit, Leben zu inspirieren auf ganz offizielle Weise funktioniert und in großem Ausmaß, dann muß der Ethnograph nach neuen Wegen suchen, wenn er die Verknüpfung zwischen Imagination und sozialem Leben darstellen will.«105
Die hier zusammengetragenen Gedanken bilden die Grundlage für alle weiteren Überlegungen bezüglich der globalen Kunstwelt. Globalität lässt sich offenbar aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich definieren, so dass die Übertragung des Attributs global wenig aussagt, wenn die speziellen gegebenen Umstände und die ihnen inhärenten Globalisierungsprozesse nicht erörtert wurden. Von einer globalen Kunstwelt zu sprechen, impliziert deshalb zum einen die Reflexion der Kontexte, aus denen heraus sich diese Behauptung ergibt und schließlich rückbezieht. Dazu bedarf es zum anderen aber zunächst eines theoretischen Gerüsts, das eine bestimmte Perspektive
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Appadurai 1990: 49. Appadurai 1998: 23. Vgl. Badura 2006b: 52. Badura 2006b: 52. Appadurai 1998: 24.
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auf globale Prozesse bzw. eine Definition von Globalisierung und Globalität ermöglicht.
3.3 G LOBALISIERUNG :
EINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE
S KIZZE
Zwar ist der Kunstwelt im zweiten Kapitel bereits das Attribut global bescheinigt worden, um sie als ein Konstrukt zu erfassen, das sich nicht auf einen bestimmten lokalen Kontext bezieht, sondern das sich in der Entstehung und Vernetzung verschiedener Kunstwelten manifestiert. An dieser Stelle soll die Kunstwelt nun noch einmal genauer als eine Struktur bzw. als ein Raum skizziert werden, der durch bestimmte Globalisierungsmechanismen beeinflusst und kontinuierlich geformt wird. Dies geschieht aus einer besonderen kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus, die sich bewusst einer interdisziplinären Herangehensweise öffnet und in der Rezeption brasilianischer kulturtheoretischen Ansätze auch ihren lokalen Horizont eines vornehmlich europäisch und US-amerikanisch geprägten Wissenschaftsfeldes erweitert. Dazu wird zunächst erläutert, wie der hier verwendete Globalisierungsbegriff aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu verstehen ist, um anschließend zwei Dimensionen von Globalisierung zu besprechen, die zu einem Verständnis globaler Prozesse die Kunstwelt betreffend von besonderem Interesse sind. Die erste Dimension umfasst die wirtschaftlichen Aspekte globaler Distribution und Vernetzung, die zweite Dimension bezieht sich auf das Zusammentreffen kultureller Differenzen durch grenzüberschreitende Bewegungen und raum-zeitliche Verdichtungen innerhalb globaler Räume. In diesem speziellen Kontext wird besonders ein brasilianisches kunst- und kulturtheoretisches Konzept virulent, das sich im Umfeld der brasilianischen Modernebewegungen der 1920er Jahre entwickelte und von diesem Zeitpunkt an zu einem prägenden Moment der brasilianischen Kultur geworden ist: die antropofagia. 3.3.1 Ein kulturwissenschaftlicher Globalisierungsbegriff Der Globalisierungsbegriff ist als ein abstraktes, komplexes, übergeordnetes Konstrukt zu verstehen, das sich auf alle Lebensbereiche bezieht und damit zum Gegenstand nahezu jeder kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird.106 Dieses Konstrukt lässt sich nicht als Gesamtkomplex beobachten
106
Eine schlüssige Kurzdefinition von Globalisierung hat Jens Badura vorgelegt, die bereits in einem vorhergehenden Abschnitt zitiert wurde. Globalisierung, verstanden als Zusammenschau einer großen Menge von Transformationen, zeitigt nach Badura einerseits lebenspraktische konkrete Auswirkungen und wirkt gleichzeitig bestimmend auf die Gültigkeit der verfügbaren
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und definieren, sondern es sind immer nur einzelne Mechanismen und vor allem die daraus hervorgehenden Effekte von Globalisierung, die in ihrer genauen Betrachtung nachvollziehbar werden. In diesem Sinne konzipiert sich eine kulturwissenschaftliche Sicht auf Globalisierung, so dass man explizit von Globalisierung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sprechen kann. Geht man noch einen Schritt weiter, so lässt sich von Globalisierung als kulturwissenschaftliche Perspektive sprechen: Globalisierung geht hier über den Status einer deskriptiven Kategorie hinaus und wird zur analytischen Kategorie. Auf diese Weise wird eine neue Beschreibung von kulturellen Ausdrucksformen im erweiterten Sinne möglich.107 Diese Sichtweise ist grundlegend für die hier angestellten Überlegungen. Die Betrachtung von Prozessen und Effekten von Globalisierung aus mehreren Blickwinkeln lässt es zu, unterschiedliche Dimensionen108 des Phänomens zu erkennen (ökonomische, politische, soziale, religiöse etc.), ohne dass von unterschiedlichen Globalisierungen ausgegangen werden muss. Dabei lassen sich »spezialisierte Diskurse und unterscheidbare Handlungs-, Politik- und Wissensfelder«109 erkennen, die aber keineswegs trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Globalisierung wirkt auf jeden Bereich, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise. Es macht daher keinen Sinn davon auszugehen, es handle sich bei der so genannten wirtschaftlichen Globalisierung um eine andere Globalisierung als bei der so genannten kulturellen, oder die eine löse die andere aus. Kulturwissenschaftliche Forschung, die Globalisierung in mehrere Globalisierungen aufspaltet und die kulturelle Globalisierung als getrennt von anderen Globalisierungen begreift, birgt die Gefahr einer Verengung des Blickwinkels: »Wenn in Geschichte, Gesellschaft und Politik die Ökonomie, das Soziale und das Politische keine große Rolle neben dem Kulturellen mehr spielen, dann geraten Fra-
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Mittel zur Deutung der Lebenswelt ein. (Vgl. Badura 2006b: 49-50) Diese sind je nach Kontext unterschiedlich, so dass sich nie eine einzige, allgemeingültige Deutung von Welt und damit auch von Globalisierung ergeben kann. Siehe dazu Reichardt 2008b. Ich möchte darauf verweisen, dass die Idee, verschiedene Dimensionen von Globalisierung zu unterscheiden, sich nicht unmittelbar an die Theorie Anthony Giddens’ anlehnt, der in seiner Beschreibung der Globalisierung der Moderne vier Dimensionen der Globalisierung unterscheidet. Es handelt sich bei Giddens lediglich um die Unterteilung institutioneller Dimensionen (kapitalistische Weltwirtschaft, System der Nationalstaaten, militärische Weltordnung und internationale Arbeitsteilung), die den Bereich des Kulturellen nicht direkt mit einschließen. Giddens begreift die kulturelle Globalisierung als gesonderten, wenn auch grundlegenden Aspekt, der aber »hinter jeder der bisher genannten institutionellen Dimensionen steht« (Giddens 1990: 100). Fuchs 2002: 5
126 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS gen der Anerkennung, der politischen, sozialen und ökonomischen Ausgrenzungen oder Integration schnell aus dem Blick.«110
Der Globalisierungsbegriff beinhaltet zudem mehr als lediglich eine umfassende Beschreibung diverser Internationalisierungsmechanismen. Auch wenn Internationalität ein wichtiges Kriterium ist, ist es dennoch nicht das einzig ausschlaggebende für die Charakterisierung von Globalisierungsprozessen. Globalisierung meint verschiedene Formen und Systeme von Vernetzung, die auch jenseits (inter-)nationaler Kodierungen funktionieren wie z. B. die Kommunikation ethnischer Vereinigungen oder Netzwerke bestimmter Berufsgruppen auf globaler Ebene. Hier seien einige Punkte aufgeführt, die für ein derzeitiges Verständnis von Globalisierung als einem kulturwissenschaftlichen Definitionsbegriff für die zeitgenössischen Konstellationen der Weltbewegungen unerlässlich sind: Bedeutend ist zunächst das bewusste Empfinden von Globalität – auch wenn man insgesamt, wie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt, nicht von einer einzigen Globalität sprechen kann. »Das Bewußtsein, einer Welt anzugehören, ist heutzutage als Kollektiverfahrung allen Menschen gemeinsam und stellt das bahnbrechend Neue an der zeitgenössischen Phase der Globalisierung dar.« 111 Erst in dem Bewusstsein, weltweit, das heißt global handeln zu können und zu müssen, bildeten sich in den 1980er Jahren jene Rhetoriken heraus, mit denen die Globalisierung überhaupt erst benennbar wurde und somit auch ihren narrativen Wirklichkeitsgehalt erlangte. Oder wie der Soziologe Armin Nassehi es ausdrückt, wird »mit dem Gedanken der Globalisierung und weltgesellschaftlicher Ausdehnung von gesellschaftlichen Prozessen die Hoffnung verbunden, eine welthistorisch neue Realität zu begreifen.«112 Die Grundlage bzw. die Voraussetzung für dieses globale Bewusstsein und damit das, was Globalisierung als spezifisches Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts auszeichnet, ist die Möglichkeit der Erschließung der Welt als einem (vermeintlich) Ganzen.113 Diese Möglichkeit ergibt sich vor allem aus der mittlerweile weltweiten Verfügbarkeit verschiedener Transportmittel und Kommunikationsmedien, die die Erschließung von Welt gleichzeitig aus und in alle Richtungen, in hoher Geschwindigkeit und in unzähligen Facetten und Dimensionen erlauben. Vorher gekannte Raum- und Zeitgefüge strukturieren sich permanent neu und immer komplexere Interdependenzen werden erzeugt. Appadurai spricht diesbezüglich von der Welt als einem interaktiven System, das auffallend neu wirkt: »[…] the world has been
110 111 112 113
Fuchs 2002: 24. Breidenbach/Zukrigl 2000: 34. Nassehi 2003: 190. Im vorherigen Abschnitt zum Thema Globalität wurde bereits deutlich gemacht, dass die Welt nie als eine Einheit betrachtet werden kann, sondern sie sich immer als ein Raum von Möglichkeiten ergibt, die es erlauben, verschiedene Weltsichten bzw. Globalitäten zu erzeugen.
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congeries of large scale interactions for many centuries. Yet today’s world involves interactions of a new order and intensity.«114 So heben sich Globalisierungsbewegungen vor allem durch ihre Intensität und ihre raum- und zeitübergreifenden Effekte von vorherigen Strategien diverser Grenzüberschreitungen wie beispielsweise den Völkerwanderungen der Spätantike, den zahlreichen Eroberungskriegen, dem Ausbau von Handelsrouten seit der Antike und den großen Entdeckungsreisen im 16. und 17. Jahrhundert ab, die insgesamt aber sicherlich als Vorläufer bzw. Wegbereiter der heutigen Globalisierungsvorgänge gelten dürfen. Anthony Giddens bemerkt dazu, dass unser Weltzeitalter anders sei, als alle vorangegangenen Versionen: »Die Weltreiche waren z.B. niemals wirklich global, sie deckten nur einen Teil der Welt ab.«115 Zu beachten gilt außerdem, dass solche globalisierenden Erschließungsprozesse im kulturellen Bereich nicht ausschließlich als Vorgänge der Gleichmachung oder Universalisierung beschreibbar sind. Die Möglichkeit der Erschließung der Welt als einem Ganzen bedeutet nicht die Gleichschaltung ihrer Teilelemente. Durch weltweite Interaktion und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit zahlreichen (Neu-)Einflüssen kommt es vielmehr zur weiteren Ausdifferenzierung bestehender Lebenswelten oder anderen institutionalisierten Strukturen. Allerdings kristallisieren sich durch die sich so entwickelnde, den Globus umspannende Sicht auf die Dinge darüber hinaus doch auch spezifische, übergeordnete Thematiken heraus, die schließlich zu globalen Angelegenheiten werden und damit einen gewissen universellen Charakter erlangen (z.B. Klimaschutz, Menschenrechte etc.). Max Fuchs deutet diesen Mechanismus – in Bezug auf die Rede von einer »Weltkultur« – auch als einen »Hinweis auf gewisse Gemeinsamkeiten oberhalb der notwendigen Differenz«.116 Es entwickeln sich globale Referenzsysteme (z.B. Klimabündnis, UNO etc.), die sich der Verhandlung dieser übergeordneten Thematiken annehmen. Einzelne Zustände und Abläufe werden dann automatisch in die universalen Systeme eingespeist und zu den innerhalb dieser globalen Ordnungen zirkulierenden Themen in Beziehung gesetzt: »Weltweit werden individuelle und nationale Themen relativiert, indem sie zu globalen in Beziehung gesetzt werden. Wir interpretieren militärisch-politische Ereignisse im Rahmen einer ›Neuen Weltordnung‹, ökonomische Probleme werden in Verbindung zur ›internationalen Rezession‹ gebracht, Marketing lanciert ›Weltprodukte‹ auf dem ›Weltmarkt‹. Bürger aller Staaten orientieren sich an universellen Menschenrechten, und Umweltschützer rufen zur ›Rettung der Erde‹ auf. Menschen, ob in Singapur oder Österreich, werden durch die ständige (faktische oder mediale) Präsenz
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Appadurai 1990: 46. Giddens 2003: 35. Fuchs 2002: 30.
128 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS anderer Lebensformen zur Relativierung ihrer eigenen Standpunkte fast schon gezwungen.117
Die Relativierung einzelner Perspektiven meint letztlich ihre Positionierung in einem Netzwerk global relevanter Diskurse und nicht automatisch deren Angleichung an oder Subordination unter eine bestehende Ordnung: »Globalizar é integrar em uma posição global.«118 Auch wenn diese Diskurse stets von dominierenden Kräften bestimmt werden, so zeigt sich gerade in der zunehmend globalen Interaktion das Potential der Veränderung und des Aufbruchs bestehender Dominanzen durch die Akzeptanz und die zunehmende Wertschätzung von Diversität. Die Ethnologinnen Joana Breidenbach und Ina Zukrigl sprechen diesbezüglich von einer sich ausbildenden »Globalkultur«, die ein System von Kategorien darstellt, »innerhalb derer wir kulturelle Unterschiede definieren müssen, um einander zu verstehen und gegenseitige Anerkennung zu erlangen.«119 Man kann hier auch auf Stähelis Konzept der Bifurkationspunkte verweisen, an denen durch Aufeinanderprallen unterschiedlicher Auffassungen (von Welt) Veränderungen des eingespielten Kommunikationsflusses stattfinden und damit permanent neue Weltsichten bzw. neue Sichtweisen des Globalen entstehen. Die Welt als ein Pool unendlich vieler Möglichkeiten – ähnlich formuliert es auch Badura – stellt so eine denkbar schlechte Ausgangsposition zur Etablierung einer einzigen, universalen globalen Weltanschauung dar. Auch die Massenmedien, können auf einen zweiten Blick nicht darüber hinwegtäuschen. Vor diesem Hintergrund scheint es nun völlig unzureichend, den Globalisierungsbegriff einfach mit Begriffen wie ›Verwestlichung‹ oder gar ›Amerikanisierung‹ zu übersetzen. Der eindimensional ausgerichtete Blick auf von Europa und den USA ausgehende Mechanismen der Ausbreitung diverser ökonomischer, politischer und kultureller Muster verklärt die Sicht auf gleichzeitig stattfindende Prozesse, die in die andere Richtung verlaufen und nicht weniger prägend auf die Neuordnungen der Welt sind. Durch die unreflektierte Annahme, der so genannte ›Westen‹ dränge dem ›Rest der Welt‹ seine Normen und Werte schlichtweg und gewalttätig auf, bleiben häufig komplexe Dynamiken verschleiert, die eine globale Anschlussfähigkeit dieser Muster überhaupt erst erlauben. Letztere werden häufig nicht brutal auferlegt, sondern automatisch transformiert und adaptiert – ein Prozess, der in umgekehrter Reihenfolge ebenso stattfindet, ohne dass aber viel Aufhebens darum gemacht wird. Die Beobachtung und die Beschreibung von Globalisierung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, die sich bewusst von den hartnäckigen binären Theorieansätzen des Kulturimperialis-
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Breidenbach/Zukrigl 2000: 34. »Globalisieren meint die Integration in eine globale Position.« (Ruiz 2000: 83). Breidenbach/Zukrigl 2000: 36.
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mus abhebt, kann so durch den Blick über den Tellerrand der ›großen Erzählungen‹ zur Überwindung festgelegter Betrachtungsweisen und zur Aufdeckung bisher wenig beachteter Dynamiken beitragen. Insgesamt gilt es, ein Phänomen zu erfassen, das erst in den letzten drei Jahrzehnten durch seine Taufe auf den Namen Globalisierung zum Gegenstand alltäglicher und wissenschaftlicher Diskussion wurde. Man hat es mit einem Begriff zu tun, der allgegenwärtig zu sein scheint, aber eigentlich erst relativ kurz existiert. »Man muss nur etwa fünfzehn Jahre zurückgehen, um festzustellen, dass kaum jemand den Begriff ›Globalisation‹ im Englischen überhaupt benutzt hätte. […] D.h., im Laufe eines Zeitraums von ungefähr fünfzehn Jahren ist der Begriff der Globalisierung von nirgendwo nach überall gewandert.«120 Für die Soziologie hat Armin Nassehi diesen Fall folgendermaßen formuliert: »Wie bei all diesen erfolgreichen Begriffen, mit denen die Soziologie in der medialen Öffentlichkeit reüssiert, früher Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, heute Risiko- oder Wissensgesellschaft oder Individualisierung, dient offensichtlich auch der Globalisierungsbegriff dazu, einen komplexen, uneindeutigen, intransparenten Gegenstand mit einem einfachen, eindeutigen und Transparenz simulierenden Begriff zu belegen und ihn durch seine Benennbarkeit zu domestizieren.«121
Weniger als Bezeichnung für eine spezifische Epoche der Weltgeschichte lässt sich Globalisierung in erster Linie als ein rhetorisches Konstrukt behandeln, mit dem sich die gegenwärtigen Mechanismen der Welterschließung bzw. der gegenwärtige Zustand der Welterschließung ausdrücken lassen. Oder um es hier in den Worten Baduras auszudrücken: »Was sich dann ab Anfang des 20. Jahrhunderts durch Flugverkehr, Satellitenkommunikation und Internet zu einem im substantiellen Sinne mondialen Raum hin exponentiell beschleunigt entwickelte, ist also nur der derzeit aktuelle Status quo jenes Werden des Mundus, im Zuge dessen die Intensität der interkonnexiven Relationen eine im Wortsinn globusumspannende Eigendynamik erlangte.«122
Globalisierung ist nicht als eine Ganzheit zu erfassen. Sie offenbart sich vielmehr facettenhaft in Momentaufnahmen, spezifischen Situationen und Kontexten. Erst in der Summe solcher Einzelbilder verdichtet sie sich zu jenem Narrativ der Darstellung von Welt zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Blick auf Globalisierung erfolgt damit stets situativ und kontextbezogen, nie universell. »É claro que não é imagninável pensar numa teoria da globalização escrita de nenhum lugar e de todos ao mesmo tempo. Sempre se escreve de um lugar e com um olhar determinado.
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Giddens 2003: 33-34. Nassehi 2003: 190. Badura 2006b: 51.
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[...] É impossível e ininteligível dizer tudo sobre tudo, neste caso, tudo sobre ›o mundo‹.«123 Die Beschreibung einer globalen Kunstwelt ist damit allein durch die Analyse kleiner Einheiten möglich. Aus diesem Grund widmet sich die vorliegende Studie der Untersuchung einzelner Diskurse im Rahmen der documenta, in denen sich die Dimensionen von offenbaren. 3.3.2 Über die ökonomische Dimension von Globalisierung Kunst = Kapital. JOSEPH BEUYS
Globalisierung lässt sich im übergeordneten Sinne als eine Verdichtung unterschiedlicher, eng miteinander verwobener, sich räumlich und zeitlich überlagernder Dimensionen denken, die sich auf verschiedene Bereiche des menschlichen Zusammenlebens beziehen. Eine dieser Dimensionen umfasst die Ökonomie. Wie bereits erläutert, bezog sich der Globalisierungsbegriff selbst zunächst ausschließlich auf den Bereich internationaler Wirtschaftsentwicklungen, denn eine eigene Bezeichnung für die Wahrnehmung und die Beschreibung weltweit übergreifender Prozesse entstand zuerst im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext der 1980er Jahre. Auch wenn der Begriff etwa seit den 1990er Jahren auch in anderen Disziplinen und in anderen Kontexten verwendet wird, die nicht primär ökonomisch konnotiert sind, herrscht die Kopplung Globalisierung-Ökonomie im Allgemeinen vor. Dieser (Über-)Bewertung wirtschaftlicher Potenzen begegnete man vor allem in den Kultur- und Geisteswissenschaften mit Ablehnung. Dies äußerte sich in der harschen Kritik am Globalisierungsbegriff respektive am kapitalistischen Wirtschaftssystem als treibende Kraft der Globalisierung, gepaart mit dem Vorwurf des Eurozentrismus so genannter kapitalistischer Gesellschaften. Das Ergebnis war schließlich die Ausklammerung ökonomischer Aspekte in globalisierungsbezogenen Forschungsansätzen und die Herausbildung alternativer Globalisierungstheorien, die auf einer konzeptuellen Differenzierung des (pejorativ besetzten Begriffs des) Globalen vom (positiv besetzten Begriff des) Lokalen basieren. Das Lokale definiert sich hierbei als Widerstand gegen die vor allem durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung hervorgerufenen und beschleunigten Globalisierungsprozesse, die die Existenz des Lokalen in seiner kulturellen Spezifizität und Partikularität zugunsten globaler Homogenisierung und Universalisierung bedrohen. Jedoch auch solche, auf binären Oppositionen basierende Modelle, können komplexe Globalisierungsphänomene kaum ausreichend erfassen.
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»Natürlich ist es weder vorstellbar, eine Globalisierungstheorie ausgehend von keinem, noch von allen Orten gleichzeitig zu denken. Man schreibt immer von einem Ort aus und aus einem bestimmten Blickwinkel. […] Es ist unmöglich und auch unklug, alles über alles sagen zu wollen, in diesem Fall, alles über ›die Welt‹.« (Ruiz 2000: 85).
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Gerade wirtschaftliche Aspekte in kulturwissenschaftlichen Analysen dürfen nicht außen vor gelassen werden. Sie sollten in theoretische Überlegungen einfließen oder zumindest bedacht werden – in welchem Maß und auf welchen Bereich bezogen hängt vom jeweiligen Forschungsgegenstand ab –, um die zumeist sehr komplexen kulturellen Gegebenheiten innerhalb einer globalisierten Welt besser nachvollziehen zu können. Dass ökonomisches Denken in keinem Falle ein Phänomen ist, das nur in der nordwestlichen Hemisphäre vorkommt, sollte man als KulturwissenschaftlerIn ebenfalls bedenken. Globalisierungsprozesse sind zwar keineswegs auf ökonomische Prozesse reduzierbar, die wirtschaftliche Dimension spielt aber eine tragende Rolle in der Entwicklung der so genannten globalisierten Welt. Insbesondere die weltweiten Bewegungen von Menschen und Dingen sind meistens eng an wirtschaftliche Aspekte gekoppelt. Auch die globale Kunstwelt lässt sich kaum ohne die Einwirkung wirtschaftlicher Faktoren begreifbar machen, denn nicht zuletzt ist die weltweite Zirkulation von Kunstwerken auf dem Kunstmarkt oder im Rahmen stark kommerzialisierter Events wie internationaler Großausstellungen eine sie maßgeblich prägenden Eigenschaften: »In the last twenty years contemporary art has become a specialised industry with its own rules and a network of professional operators. Artists are drawn into the international dynamics of a highly competitive system. This places them in competition with artists from widely different backgrounds but demands they speak a global and commercial language.«124 3.3.2.1 Über die globale Anschlussfähigkeit ökonomischen Handelns Wenn man Distributionsmechanismen und Vernetzung als wesentliche Momente der Globalisierung erachtet, dann macht es gerade aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wenig Sinn, ökonomische Prozesse auszublenden. Die meisten Begebenheiten transregionalen, transnationalen und schließlich transkontinentalen Kontaktes und Austauschs – welchen Charakters auch immer – zwischen einzelnen Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen waren schon immer und überall von wirtschaftlichen Aspekten begleitet, wenn auch nicht durch und durch von diesen geprägt oder abhängig. Diese Feststellung beschränkt sich keineswegs nur auf das Verhältnis von Ländern, Staaten oder Nationen der nordwestlichen Hemisphäre des Globus, sondern auf die weltumspannenden Austauschbeziehungen zwischen kulturellen, ethnischen, sozialen etc. Einheiten. Die Wirtschaftsethnologie beschäftigt sich als ein – wenn auch sehr kleiner – Teilbereich der Ethnologie mit ökonomischen Phänomenen in allen Teilen der Welt. »Das besondere der Wirtschaftsethnologie ist, daß hier die wirtschaftlichen Vorgänge in sehr
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http://www.strozzina.org/artpriceandvalue/, 03.02.2009.
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engem Zusammenhang mit den sozialen Institutionen und Beziehungen sowie den Gedanken und Wertesystemen und noch anderen Aspekten der betreffenden Kulturen behandelt werden.«125 Wirtschaftliche Handlungsweisen werden als ganz bestimmte Umgangsformen des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, die aber nicht unabhängig von anderen sozialen Praktiken vollzogen werden. Aus der Zusammenschau einzelner Studien und deren Vergleichen konnte mit der Zeit ein recht umfassendes theoretisches Grundlagenwissen hinsichtlich wirtschaftlichen Verhaltens und ökonomischer Strukturen in verschiedenen Kulturen herausgefiltert werden. Distribution Ein wichtiger Aspekt wirtschaftlichen Austausches bildet das Moment der Distribution. Unter diesem Begriff werden Prozesse, in denen der Fluss von Gütern und Leistungen vor sich geht, zusammengefasst. Es lässt sich nachweisen, dass Menschen überall auf der Welt in gewissem Maß in ein Geflecht übergreifender Distribution einbezogen sind, so dass es folglich keine völlig autarken Einheiten menschlichen Zusammenlebens gibt, die nicht durch ökonomische Strukturen mit anderen verbunden wären – und seien diese noch so lose oder unstet. Die Formen der Verteilung von Objekten sind dabei natürlich kulturell geprägt, das heißt sie unterliegen jeweils bestimmten Regeln und können auch in ihren Bedeutungsgehalten stark variieren. Dem Ethnologen Jürgen Jensen zufolge lassen sich drei übergeordnete Distributionsregelungen mit Austausch beschreiben: die Reziprozität, die Redistribution und der Marktaustausch. Bei der Reziprozität handelt es sich um einen Austausch von Gütern im Rahmen sozialer Bindungen (z.B. im familiären, freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Rahmen). Hierbei müssen weder die Tauschobjekte genau gegeneinander abgewogen werden können, noch muss die Übergabe beider Seiten zur gleichen Zeit stattfinden. »Darin zeigt sich, daß es keineswegs nur um den reinen augenblicklichen Bedarf geht – es wird viel mehr und viel häufiger ausgetauscht, als es die Notwendigkeit erfordern würde. Es geht eben um das weiterreichende Ziel der Anknüpfung und Aufrechterhaltung von permanenten engen sozialen Beziehungen zwischen den jeweiligen Partnern; diese Beziehungen umfassen aber viel mehr als den rein ökonomischen Austausch; sie fördern die soziale Sicherheit durch vielfältige soziale Kontakte, in denen die Güter und Leistungen häufig wichtiger durch ihre Funktion als Symbol des Prinzips der Gegenseitigkeit sind als durch ihren augenblicklichen Nutzen.‹126
Reziproker Austausch kann dabei auch über Vorgänge des Alltags hinausreichen. Der zeremonielle Gabenaustausch, das heißt der Austausch von
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Jensen 1998: 110. Jensen 1998: 127.
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Leistungen und Gütern zu außergewöhnlichen Anlässen und in zeremonieller Weise ist ebenso eine soziale Form ökonomischen, reziproken Transfers. Ein bekanntes Beispiel stellt das so genannte kula-System im Gebiet der Trobriand-Inseln (Neuguinea) dar. Im Verlauf umfangreicher periodisch stattfindender Expeditionen zirkulieren Muschelketten und Armreifen in jeweils gegenläufiger Richtung zwischen Tauschpartnern auf den verschiedenen Inseln der Massim-Inselgruppe. Insgesamt stellt kula127 ein sehr komplexes, regionales System des Austauschs von Wertgegenständen bzw. Prestigeobjekten dar. »These valuables acquire very specific biographies as they move from place to place and hand to hand, just as the men who exchange them gain and lose reputation as they acquire, hold, and part with these valuables.«128 Kula kann also als eine Form des Austausches angenommen werden, die keinen primär kommerziellen, sondern eher einen sozialen Charakter aufweist, jedoch trotzdem als wirtschaftliches Handeln beschrieben werden kann. Der Sozialanthropologe Edmund Leach hat das kula-System in einem Aufsatz mit den Tausch- bzw. Handelsaktivitäten der modernen so genannten ›westlichen‹ Kunstwelt verglichen,129 die sich ebenso als komplexes Beziehungsgeflecht verschiedener Akteure darstellt und deren Charakter zwischen ökonomischen, sozialen und rituellen Zügen oszilliert. Im Gegensatz zur Reziprozität setzt die Redistribution bereits einen kontinuierlichen Fluss von Waren oder auch Leistungen voraus. Der Austausch verläuft hier nicht direkt, sondern über zentralisierte, meist politische Institutionen und ist in allen hierarchisch aufgebauten Sozialsystemen in mehr oder weniger hohem Maß nachweisbar. Die involvierten Personen und/oder Institutionen stehen grundsätzlich in einem »dauerhaften Verhältnis von Über- und Unterordnung im Rahmen hierarchisch sozialer Strukturen«.130 Die Folgen dieses Machtgefälles zeigen sich letztlich meistens in der ungleichen Zuteilung von Gütern und Leistungen durch die Redistributionszentralen, z.B. innerhalb von Feudalsystemen. Jedoch auch Staaten mit einer Zentralverwaltungswirtschaft können als Beispiele für das Funktionieren von Redistributionsmechanismen stehen. Am striktesten geregelt ist der Marktaustausch. Er ereignet sich stets zwischen zwei gleichberechtigten Partnern – dabei kann es sich um Einzelpersonen, aber auch um Institutionen handeln –, die Güter oder Leistungen untereinander austauschen, die wiederum genau abgemessen bzw. gegeneinander aufgewogen werden können, kurz: deren Wert sich entspricht. Soziale Beziehungen sind wie auch im Falle der Redistribution keine Voraussetzung, Bedingung ist lediglich der Besitz des Veräußerungsrechts der jeweiligen Partner. Der Marktaustausch gestaltet sich zumeist als zunehmend komplexes System, in das mehrere Akteure sowie verschiedenartige Medien
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Siehe dazu Malinowski 1922. Appadurai 1986: 18. Leach 1983: 535-536. Jensen 1998: 128.
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des Austauschs eingebunden sind (diese reichen von Naturalien bis zu Geld oder Wertpapieren), das nach bestimmten Regeln verläuft und sich häufig über weite Entfernungen erstreckt. »Insgesamt zeigt sich, daß in fast allen bisher existierenden Gesellschaften der Marktaustausch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen eine eher ergänzende Funktion zur Subsistenz und den anderen Austauschregelungen hat. Erst die westliche Kultur mit der als Kapitalismus bezeichneten Wirtschaftsstruktur und die nach diesem Vorbild umgestalteten Strukturen anderer Gesellschaften (z.B. Japan) und Sektoren der übrigen, seit der Kolonialzeit in ein internationales Geflecht einbezogenen Kulturen zeigen eine starke Dominanz des Marktaustausches.«131
Die gerade mit dem kapitalistischen Wirtschaftsystem als der mittlerweile global vorherrschenden Form des Marktaustauschs verbundenen Problematiken sind hinlänglich bekannt. Durch die Monopolstellung einzelner Akteure können sich starke Machtgefälle herausbilden, die bekanntlich das gesamte Weltgefüge und nicht nur einzelne Unternehmen betreffen, wie es die letzte Wirtschaftskrise klar vor Augen geführt hat. Am deutlichsten zeigt sich dies im klassischen hegemonialen Verhältnis der stark an ökonomischem Wachstum orientierten industrialisierten Staaten zu wirtschaftlich weniger schnell aufstrebenden Gesellschaften. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Prozesse wirtschaftlichen Handelns, mit welcher kulturellen Kodierung auch immer, überall und zu jeder Zeit auf der Welt bestanden haben und bestehen. Man kann daraus schließen, dass der Tausch von Objekten und Leistungen grundsätzlich ein global anschlussfähiges Muster sozialer Kontakte darstellt. Erst auf dieser Basis konnte sich der Kapitalismus als eine spezielle kulturelle Form des Wirtschaftens auf der Welt ausbreiten. So lässt sich behaupten, dass die Dominanz des neoliberalistischen Denkens und Handelns zwar eng mit der Entwicklungsgeschichte der politischen Machtpositionen seiner Hauptverfechter verbunden, seine Anschlussfähigkeit jedoch in einem hohen Maß im Vorhandensein ökonomischer Anknüpfungspunkte weltweit begründet ist. Arjun Appadurai spricht diesbezüglich in der Einführung zu dem Band »The social life of things. Commodities in cultural perspective«132 aus dem Jahr 1986 vom so genannten »silent trade phenomenon«: »[…] the commodity context, as a social matter, may bring together actors from quite different cultural systems who share only the most minimal understandings (from the conceptual point of view) about the objects in question and agree only about the terms of trade.«133 Gegenstand dieses Einführungsessays mit dem Titel »Commodities and the politics of value« sind die komplexen Mechanismen
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Jensen 1998: 132. Appadurai 1986. Appadurai 1986: 15.
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der Verwandlung von Dingen in Waren (commodities), deren Entwicklung und den damit verbundenen Wertbildungsprozessen. Die folgenden Überlegungen basieren nun auf der Idee, die Ökonomie als ein spezifisches System des Austauschs, das heißt im weitesten Sinne sogar als Kommunikationssystem zu betrachten, das im Prozess der Verwandlung von Dingen oder auch (Dienst-)Leistungen in Waren spezifische Diskurse hervorbringt. Diese sind auch mit kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen erfassbar und können damit zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Globalisierungsforschung werden. So fassen Fabian Scholtes, Jens Badura und Lothar Rieth die Ökonomie als dominante Grammatik (insbesondere grenzüberschreitender) sozialer Praxis134 auf: »Während Kulturen und ihre Pluralität Differenzen, aber auch Suchräume zwischen den Akteuren prägen, so kann in der ökonomischen Sphäre die Herkunft eines Großteils der zunehmenden Interdependenzen vermutet werden: Die Ökonomie ist zugleich Medium und Motor eines weltweiten Austausches geworden.«135
Kommunikation und ökonomische Wertbildung Mit dem Begriff Kommunikation wird gemeinhin der Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehreren Personen bezeichnet. Der Kulturjournalist und Kunstkritiker Stefan Lüddemann spezifiziert den Begriff in der Einleitung seines Buches »Mit Kunst kommunizieren. Theorien, Strategien, Fallbeispiele«136 folgendermaßen: »Kommunikation wird hier verstanden als komplexer Vorgang, in dessen Verlauf Sinnangebote unterbreitet und in vielfältigen Rückkopplungen von Kommunikationspartnern mit dem Ziel bearbeitet werden, zu einer gemeinsamen Orientierung im gesellschaftlichen Miteinander zu gelangen. […] Kommunikation besteht darin, Angebote zu gemeinsamer Orientierung zu machen (vgl. Schmidt 2003b: 69) und über deren Akzeptanz Verstehen herbeizuführen.«137
Im vorherigen Abschnitt ist bereits mehrfach von Austausch im wirtschaftlichen Sinne die Rede gewesen, das heißt es ging um den wechselseitigen Transfer von Objekten oder Leistungen. Ein wichtiger Aspekt in Bezug auf die Formen ökonomischer Austauschbeziehungen ist die Herausbildung von Werten innerhalb von bzw. durch Tauschprozesse/n. Es handelt sich dabei also ebenfalls um Prozesse der Erzeugung gemeinschaftlicher Orientierung durch ein gegenseitiges Übereinkommen hinsichtlich bestimmter Angebote. Ökonomischer Transfer verläuft kaum als stumme Übergabe bestimmter
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Scholtes/Badura/Rieth 2005b: 1. Scholtes/Badura/Rieth 2005b: 3. Lüddemann 2007. Lüddemann 2007: 10.
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Objekte, sondern schließt Verhandlungen über deren Werte mit ein, die man als kommunikative Akte beschreiben kann.
Exkurs 1: Wert
Die Bezeichnung Wert beschränkt sich keineswegs nur auf die ökonomische Sphäre. Wert muss nicht zwangsläufig in Verbindung mit monetären Wertbildungsprozessen stehen – man spricht gemeinhin ja z.B. gerne auch von ideellen Werten o.ä. Werte ergeben sich aus Vergleichen und dienen im Allgemeinen der Strukturierung von Situationen. Im Falle der Ökonomie ist es die Aushandlung von Preisen, die letztlich auf dem Vergleich verschiedener Objekte bzw. Waren basiert, so dass man auch von Tauschwert sprechen kann. Werte können nie absolut sein, denn sie werden stets situativ, das heißt kontextbezogen und von einem bestimmten Standpunkt aus neu ausgehandelt. Gerade bei der Bildung von monetären Werten kommt es zu einer Überschneidung diverser Wertvorstellungen (verschiedene Formen ideeller Wertigkeit, Gebrauchswert), die sich in der abstrakten Form eines Preises zusammenfassen lassen. Die Ermittlung des Wertes eines Kunstwerks beispielsweise ist ein sehr komplexer Vorgang, auf den im weiteren Verlauf des Textes noch eingegangen wird.
Die Verhandlungen über Werte, die zuvor als kommunikative Akte bezeichnet wurden, müssen nicht zwangsläufig im gleichen Sinne verbal verlaufen wie eine konkrete Gesprächssituation zwischen zwei oder mehreren Personen. Wertbildungsprozesse, die über abstrakte Medien wie z.B. Bargeld, Wertpapiere oder Kredite ausgehandelt werden, drücken sich vielmehr durch Zahlenwerte aus, die zwar in Worte gefasst werden können, aber durch Digitalisierung sowie ihre Einbindung in die komplexen und eigendynamischen Mechanismen an den Börsen einen völlig anderen Charakter erhalten. Die (automatischen) Wechselwirkungen und das permanente Aufeinanderbezugnehmen der bloßen Zahlenwerte stellen zwar eine eigene Form von (rechnerischer) Kommunikation dar. Jedoch sind eben diese Entwicklungen mathematisch berechenbarer Wertbildung mit verbalen Auseinandersetzungen ideologischer Art und Ereignissen nicht-wirtschaftlichen Charakters so eng verzahnt, dass sich aus beiden Ebenen spezifische wirtschaftliche Kommunikationsformen ergeben, die den bloßen Warentausch begleiten und die schließlich auch als wirtschaftliche Diskurse erfassbar und analysierbar werden. In Bezug auf die Kunstwelt können solche wirtschaftlichen Diskurse Vorgänge der Preisbildung für Kunstwerke, die Festsetzung von Versicherungskosten für Kunst oder auch die Aushandlung der Gage eines/r KünstlerIn sein. Auch die Bewertung von Kunstwerken durch Spekulationen an der Börse oder die Aufstellung bestimmter Rankings, Tabel-
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len und Diagramme als Hilfestellungen für die Beurteilung von Kunstwerken auf dem Markt sind als spezifische Diskursformen zu betrachten. All diese Mechanismen werden sowohl durch kommerzielle als auch nichtkommerzielle Argumente in Gang gesetzt, sind insgesamt zunächst aber vorwiegend wirtschaftlichen Charakters. Die Idee, dass auch ökonomisches Handeln als Diskurs betrachtet werden kann, findet sich bereits in Formulierungen der Literaturtheoretikerin Barbara Herrnstein-Smith aus dem Jahr 1988. In dem Band »Contingencies of Value«138 spricht die Autorin von einem so genannten »double discourse of value«, der seit jeher das Denken der humanistischen Wissenschaften bestimmt. Die allgemeine Tendenz zu dualistischem Denken, so HerrnsteinSmith, »yields the binarized reifications of ›culture‹ and ›economy‹, their polarized opposition-segregation into separate discourses of value, and their separate physical and metaphoric sites: the temple and the marketplace.«139 Herrnstein-Smith begreift den Markt als Arena der Verhandlung, Verwandlung und Neuverteilung von Wert, sozial-symbolisch-kulturelle Werte mit eingeschlossen. Der Markt wird aus dieser Perspektive als ein eigenes Diskursfeld beschrieben, in dem sich mehrere Diskursebenen schneiden. Die beiden Sphären Kultur und Wirtschaft sind damit nicht als Gegensatzpaar zu betrachten. »Viewed merely as calculative processes, in other words, the two kinds are not absolutely or essentially distinguished from each other except from the perspectives that produce them and in the discourses that inscribe them.«140 Diese Auffassung ist vor allem in den Kunstwissenschaften, aber auch in der/n Geistes- und Kulturwissenschaft(en) kaum rezipiert worden. Hier wurde die strikte Trennung der Wertgebungsverfahren Kultur und Ökonomie aufrechterhalten bzw. ihre Berührungspunkte, Schnittmengen oder gar ihre strukturellen Ähnlichkeiten wenig beachtet, als nicht vergleichbar abgeurteilt, wenn nicht sogar vehement bestritten. »Die Kunstgeschichte hat sich gegenüber Bewertungskategorien, die vom Diskurs über die ästhetischen und rezeptionsspezifischen Bedingungen eines Werkes nicht erfasst werden, weitgehend abgegrenzt. Sie hat Überlegungen zum finanziellen Wertezuwachs eines Kunstwerks als ›feindliche Welten‹ abgewehrt, nicht zuletzt, um Spekulationen über die Kommodifizierung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft bis in die späte Moderne hinein zu entschärfen.«141
Jedoch erst in der Beachtung beider Sphären und deren Wechselwirkungen ergibt sich ein sinnvolles Bild von Wertbildungsprozessen, insbesondere hinsichtlich der Untersuchungen von Globalisierungsdynamiken. Als überall anerkannte Verhandlungsweisen lassen sich die spezifischen öko-
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Herrnstein-Smith 1988. Herrnstein-Smith 1988: 130-131. Herrnstein-Smith 1988: 133. Frohne 2006: 15.
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nomischen Kommunikations- und Diskursformen als global anschlussfähige Muster zur Herausbildung von Werten beschreiben. Die Abstraktheit der Medien, über die diese Werte ermittelt, gemessen und verteilt werden, verstärkt den Aspekt globaler Anschlussfähigkeit. Mit der Einführung des Geldes als weltweit gültiges Zahlungsmittel wurde sie endgültig konsolidiert. Diskurse ökonomischen Charakters beinhalten damit automatisch ein Globalisierungsmoment bzw. -potential, welches natürlich durch die jeweiligen Kontexte, in die sie eingebettet sind, geprägt ist. Vor diesem Hintergrund gilt es, die ökonomische Sphäre als diskursives Feld zu beschreiben und ihre Relevanz für die kulturwissenschaftliche Globalisierungsforschung aufzuzeigen. 3.3.2.2 Über das Verhältnis von Kunst und Wirtschaft Die Produktion von Wert im Bereich der Kunst ist eines der am häufigsten bemerkten, jedoch am wenigsten untersuchten Phänomene des aktuellen Kunstbetriebs. URSULA FROHNE
Kunst und Wirtschaft in einem Atemzug zu nennen gilt bis heute in manchen Kreisen als heikle Angelegenheit. Ökonomische Einflüsse in der Kunst werden sehr gerne geleugnet, als würde nur der Hauch wirtschaftlichen Gebarens im Zusammenhang mit Kunstwerken die angebliche Autonomie einer reinen, freien Kunst kontaminieren. In einem 1998 verfassten Aufsatz schreibt der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Walter Grasskamp, dass es in manchem kunsthistorischen Institut »bis vor kurzem noch als geschmacklos« galt, »über die Marktgebundenheit von Kunst zu reden«.142 Auch über zehn Jahre später hat sich diese Einstellung bei vielen VertreterInnen der Kunstwissenschaften kaum geändert. Der enge Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft liegt allerdings auf der Hand und wird von anderen Akteuren innerhalb der Kunstwelt auch nicht bestritten. Dass sich sowohl KünstlerInnen als auch KuratorInnen durchaus bewusst und öffentlich mit dieser Thematik auseinandersetzen, zeigte jüngst die Ausstellung »Art, price and value. Contemporary art and the market«143, die vom 14. November 2008 bis 11. Januar 2009 im Centro di Cultura Contemporanea Strozzina in Florenz zu sehen war. Die Kritikerin Piroschka Dossi und die Ausstellungsleiterin des Strozzina Zentrums Franziska Nori präsentierten eine Zusammenschau zahlreicher Arbeiten zeitgenössischer KünstlerInnen und deren Zugangswei-
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Grasskamp 1998: 20. http://www.strozzina.org/artpriceandvalue/, 03.02.2009.
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se zu der potenziell unendlichen Debatte über das oft paradoxe Verhältnis von Wirtschaft und Kunst.144 Mehr als deutlich sind die Verknüpfungen von Kunst und Ökonomie im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 zutage getreten. Der Kunstmarkt blieb von den Auswirkungen des Zusammenbruchs der globalen Finanzwelt nicht unberührt. Auch hier platzten zahlreiche Spekulationsblasen. Nicht nur die Institutionen der globalen Kunstwelt, die direkt mit dem Markt verbunden sind, wie Auktionshäuser und Galerien, Kunstmessen etc. und die einen direkten ökonomischen Schaden durch die Krise erlitten, waren und sind von den Auswirkungen betroffen. In einem ZEIT-Artikel vom April 2009 schrieb Hanno Rauterberg: »Die Nebenfolgen der Kunstmarktkrise gehen an das, was man die geistige Substanz nennen könnte. Sie verändern unser Denken und Reden über die Kunst in all ihren Facetten – und damit auch die Vorstellung davon, was uns Kunst bedeutet.« 145 Die Fragen nach den Kategorien und Instanzen der Wertbildung von Kunst werden nun vielfach neu gestellt. Gerade wenn es um die Bewertung und die Anerkennung von Kunstwerken auf internationaler Ebene geht, stellen ökonomische Aspekte wesentliche Faktoren dar. Distribution und Austausch von Kunst verläuft in der Regel nie ohne wirtschaftliche Bezüge – selbst die Aufwendungen für Transport- oder gar Versicherungskosten sind schon Teil der Bewertung einzelner Kunstwerke, das heißt der Wertdiskurse. Geht es in der Literatur um die Verbindung von zeitgenössischer bildender Kunst und Wirtschaft beschränkt man sich allerdings meistens auf die Betrachtung des Kunstmarktes. Jedoch ist der Marktaustausch nur eine Form wirtschaftlicher Handelsbeziehungen. Gerade im Bereich der Kunstwelt wirken neben den Marktmechanismen andere Distributionsmuster, die für Analysen von Kunstwerken seitens der Kunstwissenschaften, insbesondere der Kunstgeschichte, selten eine Rolle spielen, wie z.B. die Aufwendungen von Reisekosten oder die Verteilung der Gagen von Künstlern/innen, die Finanzierung von Ausstellungsprojekten, die Veröffentlichung und der Vertrieb von Kunstbüchern und -katalogen etc. Schließlich stellt die ökonomische Dimension eine allgemeingültige Verhandlungsbasis dar, die vor allem die Distribution von Kunst ermöglicht und damit in gewissem Maße auch zur Anerkennung unterschiedlichster Kunstwerke weltweit beiträgt.
144 145
Siehe hierzu auch Ludovico 2009: 25. Rauterberg 2009a: 1.
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Exkurs 2: Kunstwert
Die Ermittlung des Wertes eines Kunstwerks ist sehr komplex. Er ergibt sich aus dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren (Ästhetik, Symbolik, Material, Medien, Stellung der/s Künstlers/in, Stil etc.) innerhalb eines bestimmten Rahmens (institutionell, geographisch, temporär etc.). Im Falle der Betrachtung zeitgenössischer bildender Kunst auf internationaler Ebene kann man die dominierenden Institutionen und Akteure der globalen Kunstwelt als maßgebende Einheiten für die Bewertung betrachten. Zusammen bilden sie ein Netzwerk, in dem Bewertungsmaßstäbe permanent diskutiert werden. Der Kunstmarkt spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um die kommerzielle Schätzung von Kunst geht. Als einflussreiche Entscheidungsinstanz bestimmen die Gesetze des Marktes, was als Kunst gelten darf und was nicht. Mit der Veräußerung bestimmter Kunstwerke zu sehr hohen Preisen geht außerdem die Ausbildung einer ganz bestimmten Art von Wert einher: ökonomischer Wert verwandelt sich durch den Konsum von Kunst als spezifisches Objekt mit hohem symbolischen und ästhetischen Gehalt, jedoch von geringem praktischen Nutzwert, in Prestigewert. Dem Kunstwerk kommt damit eine weitere Wertdimension zu, die sich durch seine kommerzielle Vermarktung in bestimmten Kreisen formiert. Es wird zu einem gehobenen Luxusartikel. Jean Baudrillard hat diesen Vorgang am Beispiel der Kunstauktion im fünften Kapitel seiner »Kritik der politischen Ökonomie des Zeichens« beschrieben.146 Der Prestigewert spielt oft eine wesentliche Rolle für die Veröffentlichung und Distribution von bildender Kunst, vor allem wenn diese von nichtstaatlicher Finanzierung abhängig ist. Beispiele für durch ihren Prestigewert populär gewordene Kunst gelten Werke von Vincent van Gogh, Pablo Picasso, Andy Warhol oder jüngst von Damien Hirst. Vor allem durch unverhältnismäßig hohe Verkaufspreise auf Auktionen erlangten sie ihren hohen Bekanntheitsgrad auf der Ebene einer sehr breiten, gar weltweiten Öffentlichkeit. Selbst wenn solch hochdotierte Werke letztlich in Tresoren oder Privathäusern verschwinden und damit der Öffentlichkeit praktisch wieder entzogen werden, sorgt ihre Präsenz in den Medien für die Aufrechterhaltung ihres Prestiges und Ruhms. Die Vergleichbarkeit von Werten anhand von Preisen liefert ein einfaches Schema der Beurteilung von Kunst, welches mittlerweile universal lesbar und verständlich ist. Auf diese Weise wird die Anerkennung zeitgenössischer Kunst auf einer globalen Ebene möglich.
146
Baudrillard 1981: 112-122.
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3.3.2.3 Kunstmarkt Der internationale Handel mit Kunstwerken ist nicht erst eine Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, sondern so alt wie die Kunstwerke selbst. BRUNO S. FREY & WERNER POMMEREHNE Das Geschäft mit Kunst floriert wie früher das Geschäft mit Gold. Die Künstler selbst können diese Entwicklung nicht stoppen. RICHARD SHIFF Meine Hypothese ist, dass der Wert von Kunstwerken an den Schnittstellen von Kunst und Markt konstruiert wird. RAYMONDE MOULIN
In der europäischen Geschichte war Kunst schon sehr früh auch mit finanziellem Interesse verbunden. Bereits im Mittelalter wurden künstlerische Arbeiten als Auftragsarbeiten angefertigt. Auftraggeber waren neben Privatleuten vor allem die Kirchen, aber auch andere (öffentliche) Einrichtungen wie Krankenhäuser, Gilden etc., die Künstler zur Ausstaffierung ihrer Gebäude mit Gemälden oder Skulpturen engagierten. Eigene Märkte für Kunst – allen voran für Gemälde – bildeten sich in Europa zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert heraus. Gemälde wurden zwar auch vorher schon gehandelt, allerdings meistens zusammen mit anderen Waren, das heißt es gab keine auf den Kunstverkauf spezialisierten Händler. Anhand von Archivmaterial ist belegbar, dass der Kunstmarkt bereits um 1750 von Institutionen gelenkt wurde, die auch heute noch den Kunsthandel bestimmen.147 Erste kunstmarktliche Aktivitäten lassen sich in der Renaissance für Florenz und Brügge nachweisen. Während in Florenz der regionale Einzelhandel vorherrschte, so entstanden in Brügge sehr früh spezielle Institutionen, die den Handel leiteten, vereinfachten und kontrollierten. KünstlerInnen hatten sich in ihrer damaligen Eigenschaft als Handwerker den gleichen Handelsrestriktionen zu unterwerfen wie alle anderen Marktteilnehmer, so dass die Institutionalisierung des Kunsthandels vorprogrammiert war. An Internationalität gewann der Kunstmarkt in Brügge ebenfalls frühzeitig, da die Stadt im 15. Jahrhundert das bedeutendste Handelszentrum Westeuropas darstellte, jährlich eine internationale Messe stattfand und damit bald eine Infrastruktur und die Institutionen überregionalen Handels vorhanden waren. Diese erweiterten sich in den folgenden beiden Jahrhunderten und auch
147
Vgl. Throsby 2006: 13.
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die Kunstproduktion wurde umfangreicher: »institutions and mechanisms for the bulk marketing of images also developed, or were adapted for the purpose.«148 Im 16. und 17. Jahrhundert gewann darüber hinaus Paris zunehmend an Bedeutung im Gemäldehandel, zudem sind erste Formen des transatlantischen Kunsthandels zwischen Antwerpen, Spanien und Amerika nachweisbar. Letzterer entwickelte sich aus dem Transfer von Gemälden spanischer Maler und religiösen Druckgraphiken aus Antwerpen in die Neue Welt149, wo sie zunächst als Auftragsarbeiten direkt an die spanischen Vizekönige bzw. an die Missionsstationen in den Kolonien geliefert wurden. Später entfaltete sich ein Handel mit professionellen Händlern, »who shipped paintings and prints along with escritorios (writing desks), cabinets with doors and tiny drawers to which small paintings on copper were affixed, painted keyboard instruments, books, textiles (including tapestries) and clothing.«150 Um diese Zeit sind also Mechanismen von Internationalisierung des Kunstmarkts im großen Stil auch über die europäischen Grenzen hinweg zu erkennen. Die involvierten Akteure mussten sich bereits damals als geschickte Mediatoren zwischen unterschiedlichen Formen der Kunstproduktion und visuellen Traditionen beweisen: »The professional merchants involved were not dealers making forays into markets a day or two distant, but integrated international traders in paintings, involved in production, yet obliged also to be sensitive to buyers’ wishes. In having to translate preferences expressed in Spanish into the Flemish of the artists who would fill the orders, dealers found themselves mediating not just between different language communities but between distinct production and visual traditions. That is what the international agents of patrons and collectors had always done, only now it was being accomplished in bulk, not item by item.«151
Auch wenn bestimmte Mechanismen des Kunsthandels wie z.B. Auktionen, viel älteren Ursprungs und nicht per se europäischen Ursprungs waren, so lässt sich doch konstatieren, dass die Vermarktung von Kunst ein deutlich europäisches Phänomen ist, das sich seit der Renaissance ausbildete und rasch internationale Züge annahm.152 Diese Internationalität wurde vor allem durch die im Kolonialismus geschaffene Infrastruktur, die Präsenz von Europäern im außereuropäischen Ausland und durch deren Bereitschaft, europäische Kunstwerke zu erstehen, stark vorangetrieben. Es sind aber nicht nur die Wege europäischer Kunst in die außereuropäischen Gebiete, die schließlich das internationale Netzwerk des Kunstmarkts bildeten. Für eine schlüssige Betrachtung der Entstehung des Kunsthandels
148 149 150 151 152
Marchi/Miegroet 2006: 87. Siehe Creischer/Hinderer/Siekmann 2010: 24-25. Marchi/Miegroet 2006: 96. Marchi/Miegroet 2006: 97. Vgl. Marchi/Miegroet 2006: 71.
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sind auch die sich zeitgleich entwickelnden Handelsbewegungen mit außereuropäischen Kunstwerken in Richtung Europa zu beachten. Die Wurzeln der globalen Kunstwelt liegen in der Ausbildung der Handelsbeziehungen in unterschiedliche Richtungen und auf unterschiedlichen Ebenen und nicht in der eindimensional verlaufenden Belieferung der Welt mit europäischer Kunst. Auch die regionalen Märkte für Kunst sind in das internationale Gefüge des Kunstmarktes mit eingebunden und bilden praktisch die Basis für den Vertrieb von Kunst auf breitem Niveau. Natürlich ist die Thematisierung der geschichtlichen Entwicklung des Vertriebs außereuropäischer Kunstwerke zunächst heikel. In der frühen Kolonialzeit und auch noch später wurden viele Objekte aus afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern sowie auch aus weiten Gebieten Nordamerikas schlichtweg von ihren Eigentümern geraubt und nach Europa verbracht. Diese Entwicklungen mit kritischem Blick zu betrachten ist deshalb unbedingt notwendig und der Vorwurf des Eurozentrismus gegenüber einem europäisierten Kunsthandel ist hier absolut gültig. Auf der anderen Seite darf jedoch nicht vergessen werden, dass gerade der Handel mit und der Tausch von Kunstobjekten kein grundsätzliches Tabu darstellte. Wie bereits weiter oben im Text gezeigt, war und ist es in weiten Teilen der Welt keineswegs unüblich, mit Objekten zu handeln, die als Kunstgegenstände betrachtet werden können. Auch nicht alle Objekte, die zwischen 1500 und 1900 in die europäischen Museen wanderten, waren geraubt. EthnologInnen haben z.B. sehr früh damit begonnen, Artefakte für ethnologische Studien zu sammeln, das heißt direkt zu tauschen oder für Geld zu erwerben. Im frühen 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an außereuropäischer Kunst sehr stark, vor allem seitens der KünstlerInnen der europäischen Moderne, was den Handel mit außereuropäischen Kunstgegenständen und ihren Transfer nach Europa stimulierte. Auch die Herstellung von Kunstwerken, die allein für den Verkauf bestimmt waren, entwickelte sich z.B. in afrikanischen Ländern relativ frühzeitig als lukratives Geschäft. Aus dem Interesse für diese so genannte ›Ethnokunst‹, ›Stammeskunst‹ oder auch ›primitive Kunst‹ seitens renommierter KunstsammlerInnen entwickelte sich schließlich eine spezifische Sparte des Kunstmarktes, deren Entwicklung in keinster Weise unproblematisch verlief, aber trotzdem nicht unwesentlich zur Internationalisierung des Kunsthandels beigetragen hat. Schon lange beschränkt sich der Handel außereuropäischer Kunst nicht mehr auf traditionelle Kunstobjekte, die heute zu einem Großteil als Antiquitäten auf dem Markt kursieren. Die Werke zeitgenössischer außereuropäischer bildender KünstlerInnen finden steigenden Absatz auf dem internationalen Markt. Zusammenfassend lässt sich hier herausstellen, dass der Kunstmarkt sich zunächst in Europa entwickelte. Er erwies sich schließlich als weltweit anschlussfähiges System und dies nicht nur im engsten Kreise der Europäer oder der europäischen Siedler im außereuropäischen Ausland. Letztendlich bestätigt die zeitgenössische Kunstwelt, wie stark sich künstlerische Sphären aus allen Teilen der Welt überlagert und gegenseitig beeinflusst haben.
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Die Distribution von unterschiedlichen künstlerischen Sichtweisen und Ästhetiken ist auch in diesem Zusammenhang zu einem wesentlichen Teil an Marktprozesse geknüpft, was häufig in Vergessenheit gerät. Entscheidend für die Entwicklung des globalen Kunstmarktes ab dem 18. Jahrhundert waren die Gründungen der beiden großen Auktionshäuer Sotheby’s und Christie’s. Während James Christie 1766 explizit ein KunstAuktionshaus eröffnete, errichtete Samuel Baker 1744 zunächst ein BuchAuktionshaus, welches erst mit der Zeit seine Geschäfte auf Kunstwerke konzentrierte und auch erst später seinen jetzigen Namen durch John Sotheby, den Neffen Bakers, erhielt. Die beiden Institutionen erlangten vor allem in der Zeit nach den beiden Weltkriegen ihre besondere Bedeutung. Nachdem sich der Kunstmarkt im Jahr 1952 von seiner Stagnation durch die Kriegsjahre erholt hatte, befand sich das Weltzentrum des Kunsthandels zunächst in Paris. Die Marktführung musste aber bald an Großbritannien abgetreten werden, denn die Londoner Auktionshäuser dominierten von nun an den Markt. In den 1960er Jahren expandierte das Unternehmen Sotheby’s mit dem Kauf des US-amerikanischen Auktionshauses Parke-Bernet in die USA und wurde damit zum größten US-amerikanischen Auktionshaus. Neben Europa hatten sich in den USA bereits seit einigen Jahrzehnten marktführende Kunstinstitutionen ausgebildet. Gehandelt wurden bis in die 1960er/1970er Jahre vorwiegend Alte Meister und Impressionisten aus dem europäischen Raum. Auktionen, auf denen Gegenwartskunst angeboten wurde, blieben bis in das Jahr 1973 ohne großen Erfolg. Erst die Versteigerung einer Auswahl der Bestände des amerikanischen Sammlerehepaars Robert und Ethel Scull am 18. Oktober 1973 bei Sotheby’s gab den Startschuss für das regelmäßige Abhalten von Auktionen für zeitgenössische Kunst im angloamerikanischen Raum.153 In dieser Zeit stieg auch das Interesse an außereuropäischer und außer-US-amerikanischer Gegenwartskunst. Auch wenn die Auktionshäuser sicherlich bis heute zu den wichtigsten Gliedern des Kunstmarktes gehören, da über sie der An- und Verkauf von Kunst im großen Stil abläuft, bestimmen sie nicht allein das Marktgeschehen. Mit der Zeit haben sich alle in den Kunsthandel involvierten Institutionen (Galerien, Kunstmessen, Auktionshäuser etc.), Akteure (Kunstsammler, Kunsthändler, Kunstkritiker, Kuratoren, Museumsdirektoren etc.) und Medien (Kunstzeitschriften, Online-Magazine, Verlage etc.) zu einem internationalen Netzwerk verflochten. »Since the end of the 1960s, works of art have been bought and sold largely on a worldwide market and international trade represents the ›very heart‹ of the market. The main institutions of the contemporary art world, i.e., museums and art galleries, operate within a vast international network.«154
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Vgl. Hollein 1999: 23. Quemin 2006: 35.
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Durch die zirkulierenden Informationen innerhalb dieses Insiderkreises, kanalisiert durch die herrschenden Meinungsführer, werden KünstlerInnen regelrecht ›gemacht‹. »Der Kunstmarkt ist mithin primär Kommunikationsbzw. Reputationsmarkt und erst sekundär Warenhandel.«155 Kommunikation ist daher der wichtigste Informationstransmitter des Marktes. Die immer dichter werdende »Interaktion von Galeristen, Sammlern, Museumsexperten, Kritikern und Führungskräften internationaler Wirtschaftsunternehmen, die sich auf Kunstmessen, Biennalen, Retrospektiven sowie bei Eröffnungen wichtiger Überblicksdarstellungen begegnen und sich gegenseitig aufmerksam in ihrem Kaufverhalten beobachten«156, hat spätestens seit den 1980er Jahren dazu geführt, dass »der Kunstmarkt zumindest vorläufig keine wirtschaftliche Randerscheinung mehr ist«157. Die Investitionen in Kunst sind seitdem vehement gestiegen. Dies hängt nicht zuletzt mit dem seit den 1970er Jahren sich steigernden Interesse an zeitgenössischer bildender Kunst seitens eines zahlungskräftigen Publikums weltweit zusammen. Bis dahin galten kontemporäre Werke als wenig sichere Investitionsquelle, zu riskant schienen die Vorhersagen einer Wertsteigerung, da man noch nicht auf eine gefestigte Reputation der jungen KünstlerInnen zurückgreifen konnte. Außerdem – und das ist wohl entscheidend – fehlte jegliche, seitens der führenden Institutionen aufgestellte Etikettierung und Einordnung gefragter KünstlerInnen in Rangordnungen, die als Orientierung im Dschungel der Vielfalt gegenwartskünstlerischen Schaffens dienen konnten. Die mittlerweile bekannteste Auflistung internationaler GegenwartskünstlerInnen ist der Kunstkompass, der seit 1970 jährlich als Liste der (nach den Kriterien des Kunstkompass158) 100 begehrtesten KünstlerInnen der Gegenwart veröffentlicht wird. Er gilt deshalb als der renommierteste Indikator für das Ansehen zeitgenössischer KünstlerInnen, da er sich nicht an den Preisen orientiert, sondern »vor allem anhand der Zahl von Ausstellungen und Rezensionen«159 ermittelt: »Gerade weil sich der Kunstkompass nicht an den Moden des Marktes orientiert, nicht an Preisrekorden und Auktionsspektakeln, sondern an der langfristigen Entwicklung des Ruhmes eines Künstlers, findet das Informationssystem international höchste Anerkennung. So schrieb das ›Wall Street Journal‹, der Kompass sei ›das einzige zuverlässige Messinstrument für zeitgenössische Kunst‹.«160
155 156 157 158 159 160
Klein 1993: 238. Frohne 2006: 19. Frohne 2006. Zur ausführlichen Methode des Kunstkompasses siehe www.managermagazin.de/kunstkompass/, 15.03.2009. Rohr-Bongard 2008: 196. Rohr-Bongard 2008: 196.
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Der Kunstkompass gestaltet sich somit auf den ersten Blick nicht als Messinstrument des ökonomischen Werts aktueller Kunst, sondern der Reputation zeitgenössischer KünstlerInnen. Die enge Verzahnung mit dem Markt ist jedoch offensichtlich: Bis zum Jahr 2007 erschien er parallel zur Art Cologne im Wirtschaftsmagazin »Capital«, seit 2008 publiziert ihn das »manager magazin« jährlich im November. Darüber hinaus weichen die Listen, die sich an den Verkaufszahlen der Kunstwerke orientieren, kaum von den Aufstellungen des Kunstkompass ab. Die Publikation verfehlt damit niemals den Effekt, sich als eine »self-fullfilling prophecy«161 des Marktes zu gestalten – wie es der Soziologe Alain Quemin sehr treffend formuliert hat. Die Leiterin der Kunstberatung im Privatkunden-Vermögensmanagement der Deutschen Bank, Christina Schroeter-Herrel, bemerkt im Zusammenhang mit der 2009 aufgekommenen Wirtschaftskrise, dass zwar ein Teil des Marktes Verluste verbuchen musste, nach wie vor jedoch »Spitzenstücke arrivierter Künstler, wie sie beispielsweise der Kunstkompass ausweist«162, begehrte Investitionen darstellen. »Das Ruhmesbarometer der Größten weltweit zeigt seit nunmehr fast 40 Jahren die richtige Kunst im Sinne der Geldanlagen.«163 Insgesamt befriedigt der Kunstkompass das Verlangen nach Etikettierung und nach Aufstellungen von Rangordnungen, was vor allem den Auktionsmarkt für Gegenwartskunst stärkt.164 Die Ausweisung der Herkunftsländer der KünstlerInnen verweist hierbei deutlich auf die offensichtlich gewichtige Bedeutung der geopolitischen Kriterien für die Bewertung. Dass er nach wie vor insbesondere auf die Kunstproduktionen der nordwestlichen Hemisphäre bezieht, zeigt sich an der drastischen Mehrheit der aufgenommenen europäischen und nordamerikanischen KünstlerInnen. »[H]owever, Western artists are by far the best represented. […] This factor indicates once again that nationality plays an important role in commercial dealings, even though this role is rarely overt.«165 Die Ausgabe des Kunstkompasses im Jahr 2009 überraschte allerdings mit einem vorher nicht gekannten Zuwachs von 46 Newcomer-KünstlerInnen. »Die Novizen kommen aus über 20 Ländern, darunter China, Indien, Pakistan, Südafrika oder Algerien. Die meisten von ihnen waren dem westlichen Publikum vor Kurzem noch völlig unbekannt.«166 Die Kunstkompass-Autorin Linde Rohr-Bongard diagnostizierte daraufhin unmittelbar in einer Spezialausgabe des »manager magazins« vom Juni 2009, diese Erfolgsgeschichten seien »Teil einer faszinierenden Entwicklung: der Globalisierung der Kunst.«167 Diese Konstatierung
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Quemin 2006: 43. Schroeter-Herrel zitiert in Rohr-Bongard 2009: 175. Rohr-Bongard 2009b: 175. Vgl. Hollein 1999: 112. Quemin 2006: 44-48. Rohr-Bongard 2009a: 6. Rohr-Bongard 2009a: 6.
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der Globalisierung der Kunst erscheint in diesem Zusammenhang deshalb so plötzlich, da sie relativ unvorhergesehen und dabei so unmissverständlich präsentiert wurde: »Früher waren die wichtigsten Künstler der Welt westlich, weiß und männlich. Vorbei. Kunst entsteht inzwischen fast überall auf der Erde, und sie wird fast überall beachtet.«168 Noch im vorhergehenden Ranking war von diesen Entwicklungen in der Kunstwelt laut Kunstkompass wenig zu bemerken. Während es beispielsweise der Brasilianer Ernesto Neto 2007 noch auf Rang 99 schaffte, tauchte im Jahr 2008 kein/e brasilianische/r KünstlerIn in der Liste der 100 Größten auf. Ein Jahr später wurde der Aufstieg des amerikanisch-kubanischen Künstlerpaars Allora & Calzadilla als »schönste Überraschung auf der Liste« ausgewiesen und als »wunderbarer Fall von Wandel durch künstlerische Annäherung«169 gepriesen. Darüber hinaus fand sich seltsamer Weise trotz des Asien-Booms in den letzten Jahren nicht einmal ein/e einzige/r chinesischer KünstlerIn auf den Plätzen 1 bis 100. Im Jahr 2009 schaffte der chinesische Künstler Ai Weiwei, der im Jahr 2007 große Präsenz auf der documenta gezeigt hatte, einen »beeindruckenden Aufstieg«170. Allen Globalisierungstendenzen zum Trotz räumt Rohr-Bongard zum Ende ihrer Laudatio für die Internationalisierung der Kunstwelt ein, dass Deutschland mit 28 Personen »das größte Kontingent an Kompass-Künstlern [stellt]. Die USA belegen, etwas abgeschlagen, mit 25 Artisten den zweiten Platz in der Nationenwertung, gefolgt von Großbritannien (12), Italien (4), der Schweiz (4) und China (3).«171 Die Etikettierung des Kunstkompasses als Gradmesser für globale Entwicklungen, vor allem in Bezug auf den Kunstmarkt, zeugt von einer sehr speziellen Interpretation von Globalisierungsmechanismen und schließlich von Globalität. Die zuletzt gesteigerte Wertschätzung und Distribution von Gegenwartskunst der so genannten »Newcomer« könnte allerdings maßgeblich dazu beitragen, das sichtliche Ungleichgewicht zu nivellieren. Dass außereuropäische bildende Kunst der Gegenwart längst Eingang in die kunstweltlichen und damit auch marktlichen Distributionsmechanismen gefunden hat, lässt sich am Vertrieb lateinamerikanischer Kunst bei Sotheby’s seit Ende der 1970er Jahre ablesen. Im Frühjahr 1977 wurde die erste internationale Auktion mexikanischer Kunst in New York abgehalten. Die sehr erfolgreiche Versteigerung 152 moderner Kunstwerke führte zur Gründung einer eigenen Abteilung für lateinamerikanische Kunst. Mit den Jahren erweiterte sich das Angebot auf eine breite Werkspalette von Künstlern/innen aus allen Regionen Lateinamerikas – vom Rio Grande bis an die südlichste Spitze des Kontinents, von der pazifischen Küste bis in die Karibik. Die Arbeiten stammen sowohl aus der Kolonialzeit, der Moderne als
168 169 170 171
Rohr-Bongard 2009a: 6. Rohr-Bongard 2009a: 9. Rohr-Bongard 2009a: 6. Rohr-Bongard 2009a: 9.
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auch der Gegenwart.172 An den in diversen Medien des Kunstmarkts veröffentlichten Zahlen lässt sich allerdings deutlich feststellen, dass lateinamerikanische zeitgenössische Kunst längst nicht so hoch dotiert und so zahlreich verkauft wird wie europäische oder nordamerikanische Kunst.173 Es bleibt zu bedenken, dass trotz Eingliederung lateinamerikanischer Kunst in die Kreisläufe der renommiertesten Auktionshäuser der Gegenwart174, ihr Verkauf bis heute immer noch in gesonderten Auktionen stattfindet. Die besondere Behandlung lateinamerikanischer Kunst in einer speziellen Abteilung spricht zwar für eine steigende Aufmerksamkeit, grenzt sie jedoch gleichzeitig von denjenigen Werken von Künstlern/innen anderer Provenienz ab. Statt sie gleichberechtigt in die Bewertungsprozesse der großen Auktionshäuser und damit des internationalen Kunsthandels zu integrieren, bleiben sie an exponierter Stelle vertreten. »Das Postulat ›lateinamerikanischer Kunst‹ suggeriert, daß es eine solche tatsächlich gibt, und festigt dadurch möglicherweise ein Klischeedenken und eine Ghettoisierung, die vielmehr durchbrochen werden müssen.«175 Die sehr hohe Pluralität künstlerischer Auffassungen in Lateinamerika, die sich allein durch kulturelle und regionale Unterschiede ergeben, wird auf diese Weise ebenfalls relativiert. Ohne näher auf andere wichtige Bausteine des Kunstmarktes wie Galerien, Kunstmessen, private KunsthändlerInnen etc. einzugehen, lässt sich zusammenfassend bemerken, dass man den Kunstmarkt als sehr spezifische Sphäre der Kunstwelten, insbesondere der globalen Kunstwelt, beschreiben kann. Die in der besonderen Vermischung von künstlerischen, kunsttheoretischen und wirtschaftlichen Diskursen entstehende Dynamik der Wertbildungsprozesse hebt den Kunstmarkt nicht nur von den übrigen Kunstinstitutionen ab, auch innerhalb der Wirtschaft formt sich der Kunstmarkt als spezieller Bereich ökonomischer Wert- und damit Kapitalbildung. Der Journalist und Kunstmarktexperte Christian Herchenröder hat dieses Zusammenspiel auch als »paradoxe Union aus ästhetischen und ökonomischen Triebkräften«176 beschrieben. Prozesse der Wertbildung für Kunst folgen hier ihren eigenen Regeln der Ökonomie von Angebot und Nachfrage. Die Versteigerung von über 200 Werken des britischen Künstlers Damien Hirst innerhalb von zwei Tagen ist ein einschlägiges Beispiel. Obwohl die Chancen nicht gut standen – »Von den 23 Hirst-Werken, die in jüngster Zeit zur Auktion kamen, erzielten nur wenige den erwarteten Preis, und ein Viertel er-
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175 176
Vgl. Sotheby’s 2002: 7. Siehe dazu beispielsweise die Internetplattformen www.artnet.com und www.artprice.com. Siehe http://www.sothebys.com/app/live/dept/DepartmentGlobal.jsp?dept_id =30, 20.01.2011; http://www.christies.com/departments/latin-american-art/, 20.01.2011. Haupt 1995: 23. Herchenröder 1990: 9.
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wies sich sogar als unverkäuflich.«177 – schaffte es Hirst am 15. und 16. September 2008 alle von ihm zur Versteigerung bereitgestellten Objekte für insgesamt 111,3 Mio Pfund zu veräußern. Der Künstler brach damit bewusst die bisher gängigen Gesetze des Kunstmarktes und sieht darin die natürliche Entwicklung der zeitgenössischen Kunst: »Das eigentlich Bemerkenswerte ist aber, dass erstmals in der Auktionsgeschichte ein Künstler seine Arbeiten direkt versteigerte – und damit das ungeschriebene Gesetz des Kunstmarktes überschritt und seine Galeristen überging. Damit zwingt er seine Galeristen Jay Jopling und Gagosian in die Bieterrolle, um von seinen neuen Werken etwas abzubekommen.«178
So schafft es die Kunst immer wieder, den Kapitalismus auf der einen Seite ad absurdum zu führen, indem ihre eigenen (unvorhersehbaren und oft paradoxen) Dynamiken den Markt bestimmen. »Regeln, die zum Beispiel vorsehen, dass auf der Auktion auch Diamanten aus Glas versteigert werden – natürlich für eine Summe, mit der man echte Steine kaufen könnte. Man könnte sagen, Hirst rettet die Autonomie der Kunst vor der Allmacht des Geldes.«179 Andererseits bleibt natürlich doch zu bedenken, dass ohne die durch den Kapitalismus herrschenden Verhältnisse und Vorgehensweisen wirtschaftlichen Handelns solche Aktionen gar nicht erst möglich wären. Die Produktion von besonders auffallenden oder provozierenden Kunstwerken ist so zum Beispiel nicht allein durch eine gesellschaftskritische Haltung der KünstlerInnen zu erklären. Simple wirtschaftliche Axiome wie Angebot und Nachfrage und vor allem das Prinzip der Knappheit regen stets zu Innovation an, das heißt zur Weiterentwicklung und zum Übertrumpfen des bisher Dagewesenen – und dies geht dann häufig ins Extreme, auch was die Finanzierung angeht. Auch Konkurrenz unter Künstlerkollegen/innen hat neben gegenseitiger Inspiration eine ähnliche Wirkung. Man kann behaupten – so bestätigen es Katy Siegel (Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin) und Paul Mattick (Philosoph) –, dass sich Kunst, das heißt das, was sie ist und wie sie funktioniert, »nur verstehen [lässt], wenn man sie im Zusammenhang mit der Konsumgesellschaft betrachtet, in der sie existiert.«180 Das, was wir als Kunst begreifen, ist eben auch ein Produkt derselben historischen Entwicklung, »die uns auch eine vorrangig an Gewinn orientierte Gesellschaft beschert hat. Die Wurzeln der modernen Kunst liegen in der italienischen Renaissance. […] Der gewaltige Aufschwung schöpferischer Tätigkeit in bildender Kunst, Architektur, Literatur und Musik, den wir heute mit diese Epoche in Verbindung bringen, erwuchs aus
177 178 179 180
Rauterberg 2008: 55. Komarek 2008. Rauterberg 2008: 55. Siegel/Mattick 2004: 16.
150 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS einer Gesellschaft, die statt auf feudalen Beziehungen zunehmend auf Geldgeschäften und Handel – aber auch auf Krieg – basierte, und die Künste beschleunigten diese Entwicklung.«181
Nur aus diesem Grund konnte sich schließlich die Wirtschaftskrise im Jahr 2009 auch auf die Kunstwelt so negativ auswirken. Das renommierte Kunstauktionshaus Sotheby’s musste Millioneneinbußen hinnehmen. »Der Auktionsgigant meldete im ersten Halbjahr 2009 einen Umsatz von 1,1 Milliarden Dollar, 66 Prozent weniger als im Jahr zuvor.«182 Auch seit Jahren geplante Großprojekte fielen in sich zusammen. »Miami war auf dem besten Weg zur heimlichen Kunsthauptstadt der USA zu werden.«183 Doch das Geld für den alles entscheidenden Bau des Miami Art Museum fehlte. Roger M. Buergel, der Kurator der »documenta 12« im Jahr 2007, hätte der Direktor werden sollen. »Wo vorher Geld war, sind jetzt Löcher: es rächt sich, dass dieses Museum auf nichts gebaut ist als auf Spendenwilligkeit. Wenn es überhaupt noch Geld gibt, dann für das neue Bauwerk. Vom Aufbau einer komplexen Sammlung, erst recht von einer Kunstpolitik, wie sie Buergel vorschwebte, ist keine Rede mehr. Und so hat sich der Direktor entschieden, kein Direktor mehr sein zu wollen. Buergel verlässt Miami, das binnen Monaten wieder zur Kunstprovinz schrumpfte.«184
In den letzten 30 Jahren hat sich bildende Kunst definitiv zu einem Wirtschaftsfaktor entwickelt, insbesondere aufgrund der Bewegungen am Markt in den 1970er und 1980er Jahren. »Art works are now universally regarded as an important means of investment. Wisely chosen art works appreciate substantially, sometimes doing better than more conventional alternatives.«185 Durch die rege Tätigkeit der Auktionshäuser, Galerien und Museen sowie durch die Präsentation von Kunst auf Kunstmessen und in zahlreichen Publikationen, das heißt der Verbreitung durch Kommunikation und Medien für Kunst, wurde die Internationalisierung des Marktes stark vorangetrieben. Inwiefern das Fehlen notwendiger ökonomischer Mittel auf der anderen Seite die Verwirklichung global ausgerichteter Pläne der Kunstwelt verhindern kann, zeigt das Beispiel Miami. Dieser grobe Abriss über die Entwicklungen des Kunstmarktes sollte aufzeigen, wie sehr bildende Kunst in Distributionsprozesse wirtschaftlicher Art eingebunden ist. Institutionen des Marktes verbanden sich insbesondere seit den 1980er Jahren von Europa und den USA aus zu einem internationalen Netz, in dem Kunstwerke aus weiten Teilen der Welt zirkulieren. Die
181 182 183 184 185
Siegel/Mattick 2004: 17. Rohr-Bongard 2009: 176. Rauterberg 2009b. Rauterberg 2009b. Becker 1982: 114.
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Erschließung des Werts einzelner Werke ergibt sich aus einem komplexen Diskursgeflecht, in dem sich wirtschaftliche mit künstlerischen, kunstkritischen und kunsttheoretischen Diskursen sowie mit den Interessen und dem Geschmack der KunstkäuferInnen schneiden. Letztendlich ist aber der kommerzielle Wert in Form eines ausgehandelten Preises von ausschlaggebender Bedeutung, wenn es um die internationale Valorisierung auf dem Markt geht. Diese Form der Wertschätzung erhält innerhalb des sich bereits globalisierten Systems des Finanzwesens eine spezielle Globalisierungsdimension: Kunstwerte werden auf der Ebene der Ökonomie verständlich und Kunstwerke lassen sich damit in spezielle Muster einschreiben, die in ihrer übergeordneten Abstraktheit globale Gültigkeit erhalten. Die Distribution von Kunst durch ein ökonomisches System und die Möglichkeit einer international verständlichen Wertung ergeben sich als zwei wichtige Faktoren der Globalisierung der Kunstwelten insgesamt. Es war darüber hinaus ein Anliegen, darzustellen, das die Prozesse des Kunstmarktes keine eindimensionalen Bewegungen darstellen, die vor allem die Vermarktung von Kunst aus Europa und den USA betrifft. Auch wenn der Kunstmarkt sich in Europa entwickelte, verliefen die Wege des Handels nicht statisch von West nach Ost bzw. von Nord nach Süd. Mit der Zeit bildete sich ein dynamisches Gefüge heraus, das mittlerweile die Verbreitung von Kunst aus allen und in alle Richtungen ermöglicht. Die Vormachtstellung der europäischen und nordamerikanischen Marktinstitutionen ist dabei nicht zu leugnen. Als wirkmächtiges System gestaltet sich der Markt als einflussreiches Instrument der Bewertung von bildender Kunst, auch in Bezug auf ästhetische Aspekte: »It is not just that art is implicated; the fact of money value as fundamental or as inextricably entwined with aesthetic value is more apparent and undeniable than it ever has been (see Ratcliff 1988; Solomon-Godeau 1988). Judging from recent issues of the principal art journals, it has become impossible to talk of aesthetics without talking of money.«186
Die über den Kunstmarkt hinausreichenden Verbindungen von Kunst und Ökonomie werden dieses Statement noch unterstreichen.
186
Marcus/Myers 1995: 23.
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3.3.2.4 Verbindung von Kunst und Ökonomie jenseits des Kunstmarktes: Kunstförderung durch die Wirtschaft Kunst ist Teil unseres sozialen Umfeldes, und sie verändert sich mit dessen Anforderungen. Die Situation, mit der Künstlerinnen und Künstler sich bei der Herstellung und Vermarktung ihrer Werke konfrontiert sehen, unterliegt ökonomischen Zwängen, über die der Einzelne sich kaum im Klaren ist. KATY SIEGEL/PAUL MATTICK Fully developed art worlds, however, provide distribution systems which integrate artists into their society’s economy, bringing art works to publics which appreciate them and will pay enough so that the work can proceed. HOWARD BECKER
Neben den Distributionsmechanismen, die durch den Verkauf von Kunst erreicht werden, sind noch andere Momente der Verschränkung von Kunst und Wirtschaft zu benennen, die häufig nicht als solche thematisiert werden. Kunstförderung durch den Staat, die Wirtschaft oder Privatleute wird zwar als wirtschaftlicher Faktor bezüglich Kunstproduktion und -distribution anerkannt, wenn es aber um konkrete Analysen von Kunstwerken geht, so werden auch sie gerne beiseitegelassen. Sie scheinen mit den kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten von Künstlern/innen und Kunstwerk, die dann im Vordergrund jeglicher Diskussionen um Aussagekraft, Bedeutung und Bewertung des Objektes stehen, wenig zu tun zu haben. Mehr denn je ist die Finanzierung von Veranstaltungen und der künstlerischen Arbeit jedoch ein wichtiger Faktor für die Entstehung, die Distribution und damit schließlich auch für die Rezeption der Werke geworden: die Materialien werden teurer, zurückzulegende Wege weiter, Kosten für Transport und Reise höher, die Möglichkeiten der Präsentation und Publikation eingeschränkter etc. Auch die Exklusivität der KünstlerInnen selbst entspricht heute sehr oft ihrer finanziellen Situation. Hier sei zunächst noch einmal auf das bereits weiter oben angerissene Thema der »Ächtung der Ökonomie« seitens zahlreicher Akteure der Kunstwelt verwiesen. Diese »weltfremde Leugnung ökonomischer Einflüsse in der Kunst«187 entpuppt sich bei genauem Hinsehen zunächst als Paradox, hervorgerufen durch die widersprüchliche oder auch zwiespältige Haltung gegenüber der kommerziellen Sphäre vor allem seitens der KünstlerInnen:
187
Grasskamp 1998: 20.
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»Künstler stehen dem Geschäftemachen seit jeher zwiespältig gegenüber: Sie umwerben Geschäftsleute als potentielle Käufer und verspotten sie gleichzeitig für ihre Fixierung aufs Geldverdienen. Sie sind stolz auf ihren Status als freie KunstUnternehmer und streben doch nach staatlicher Förderung und Sponsoren. Sie tauschen zunehmend die Aura bohemienhafter Zügellosigkeit gegen die Sicherheit von Verträgen und das Plus auf dem Konto. Mancher Künstler bewahrt sich eine Haltung des Zorns oder auch nur der Distanz gegenüber der Macht, die ihn bezahlt. Andere kommen nur zu gern dem Wunsch der Besitzenden nach kultureller Abrundung – oder Wiedergutmachung – nach. Und wieder andere bringen gar das Kunststück fertig, sich für den Biss in die Hand, die sie füttert, auch noch bezahlen zu lassen.«188
Der Grund hierfür liegt in der Befürchtung, eine zu offensichtliche Kommerzialisierung von Kunst gefährde das autonome, jeglichen ökonomischen Kalküls enthobene Prinzip des l’art pour l’art. Doch allein die Tatsache, dass bildende Kunst schon immer im Umfeld der wohlhabenden Bevölkerungsschichten kursierte und besonders gefördert wurde – bereits die KünstlerInnen und KunsthandwerkerInnen der frühen Jahrhunderte arbeiteten für den schwierigsten aller Märkte, den des Luxus und der feinen Leute189 –, lässt gerade die Idee des l’art pour l’art recht fadenscheinig wirken. Schon im 19. Jahrhundert ist die Verschmelzung von Ästhetik und Ökonomie in der Wertschätzung von bildender Kunst offensichtlich: In Frankreich kursierten Kunstwerke in den so genannten Salons, halböffentlichen Räumen, die allein dem Kunstgenuss und dem Kunstdiskurs im Kreise der höheren bürgerlichen Gesellschaft vorbehalten waren. Die Darstellung des Prestiges des Gastgebers durch die Zurschaustellung von Kunstobjekten war dabei das primäre Anliegen solcher Veranstaltungen, hinter dem die tatsächliche Diskussion der Ästhetik oder des Inhalts der Werke nahezu zweitrangig scheint: »Musik und bildende Kunst eigneten sich vorzüglich dazu, die neuen Machtverhältnisse darzustellen. Für das Bürgertum bestand die Aufgabe nun darin, im eigenen Haus mithilfe von Dekoration und inszenierten Ereignissen seine Machtposition innerhalb eines der ›Spiele‹ der Gesellschaft zur Schau zu stellen: etwa die ›Macht‹ des Eigentümers, sich mit Klängen und Bildern zu umgeben, oder die ›Macht‹ des Kenners, über Klangkörper, Tonwerke, Künstler und Bildwerke zu urteilen.«190
Der Erfolg der Salons verdankt sich also weniger ihrer herausragenden oder überraschenden künstlerischen Arrangements, sondern ihrer Eigenschaft als Räume der Machtausweisung einer ganzen Schicht von Menschen sine nobilitate. Der Begriff des Salons wurde in der bildenden Kunst schnell mit einem frühen Typus der Verkaufsausstellung für zeitgenössische Kunst ver-
188 189 190
Siegel/Mattick 2004: 137. Vgl. Grasskamp 1998: 20. Hutter 2002: 58.
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bunden: »Die Leistung der Betreiber lag in der Bedeutungs- und Wertaufladung der gezeigten Bilder.«191 Der Salon avancierte damit zu einem bedeutenden Wertesystem für bildende Kunstwerke – die Bestimmung von Verkaufswerten mit eingeschlossen – und entzog sich damit eigentlich der Regel des l’art pour l’art. Als besonderes Beispiel ist der Salon d’Apollon im Louvre zu nennen, der von der Academie Royale de Painture et Sculpture unterhalten wurde. Genau jene oft als widersprüchlich wahrgenommene oder gar geleugnete Überschneidung der künstlerischen und der wirtschaftlichen Sphäre lässt sich besser erfassen, wenn man nicht von einem Paradox, sondern einfach von der Vielschichtigkeit des Wirkungspotentials bildender Kunst ausgeht, die sich natürlich nicht nur auf die Verwobenheit von Kunst und Wirtschaft beschränkt. Der folgende Abschnitt widmet sich allerdings explizit dieser Thematik, indem hierzu einige Beispiele aufgezeigt werden. Eine der frühesten Verbindungen von Kunst und Wirtschaft verkörpert die Figur des Kunstmäzens. Schon im Mittelalter war die Förderung künstlerischer Arbeit durch Mäzene absolut üblich. »In a patronage system, some person or organization supports the artist entirely for a period during which the artist contracts to produce specific works, or a specified number of works, or even just possibly to produce some works.«192 Im 17. Jahrhundert waren es vor allem Geistliche, die als Mäzene von Künstlern/innen aktiv waren, so dass ein beträchtlicher Teil der Kunst aus dieser Zeit religiösen Charakters ist. Erst als Reichtum und Macht des päpstlichen Staats nachließen, traten Mäzene auf, die nicht an der üblichen Mythologie und dem religiösen Symbolismus festhielten und andere Motive bevorzugten. Das Mäzenatentum hat sich bis heute aufrechterhalten, auch wenn sich sowohl die Bandbreite künstlerischen Schaffens als auch der Kreis der Kunst fördernden Personen und Institutionen erheblich erweitert und differenziert hat. Insgesamt lässt es sich als komplexes System beschreiben, das aus der Verflechtung verschiedener Aspekte wie Kapital, Bildung, Geschmack, der Art und Weise der Förderung seitens des Mäzens sowie schließlich der künstlerischen Arbeiten selbst und den Einstellungen des/r KünstlerIn entsteht. Dass auch Prestigebildung und die Demonstration von Macht durch Kunstförderung eine entscheidende Rolle spielt, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. »Patrons want artists to make what they have learned to appreciate and prize as the elements of fine art, so how the wealthy and powerful are educated becomes an important determinant of what they will pay artists to produce. The ability to pick the best artists and commission the best work shows the nobility of spirit and character
191 192
Hutter 2002: 58. Becker 1982: 99.
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the powerful and wealthy think they possess, so that being a good patron supports the claim to high rank.«193
Im Idealfall verfügen KünstlerInnen auch innerhalb eines solchen Verhältnisses finanzieller Unterstützung noch über ihre künstlerische Freiheit. Meistens bestehen jedoch bestimmte Konventionen zwischen beiden Parteien, die das künstlerische Schaffen immer auch in gewisser Hinsicht beeinflussen, wenn nicht gar einschränken können. Dies ist zum Beispiel bei staatlicher Kunstförderung der Fall, jedoch auch die Ansprüche nichtstaatlicher kultureller Sponsoren sind meistens sehr spezifisch und folgen klaren Ein- und Ausschlussprinzipien. Die Motive der Kunstförderung durch Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen sind jeweils unterschiedlicher Natur. Besondere Aufmerksamkeit erhält das Beispiel der Kunstförderung durch Unternehmen, da sich diese Motive hier vereinen und sich viele Facetten der Fusion von Kunst und Wirtschaft aufzeigen lassen, die nicht unmittelbar an der Preisbildung auf dem Kunstmarkt beteiligt sind. Kunstförderung durch Unternehmen Kunst ist der Inbegriff menschlicher Produktivität, sie eignet sich kaum wie etwas anderes zum Spekulieren und zur Verschmelzung ökonomischer und kultureller Werte, in denen eine Business-Gesellschaft ihre Ambitionen darzustellen versucht. KATY SIEGEL & PAUL MATTICK
Unternehmen können als moderne Mäzene betrachtet werden. Die finanzielle Unterstützung von Künstlern/innen, das Sponsoring von Kunst- und Ausstellungsprojekten oder auch der Aufbau von unternehmensinternen Kunstsammlungen sowie das Präsentieren von Kunst direkt am Arbeitsplatz sind seit einiger Zeit feste Bestandteile der Strategien zur Entwicklung der corporate identity vieler großer und mittelständiger Unternehmen. »Die Kunst soll die Wirtschaft nicht etwa nur kritisch reflektieren oder Manager über ihr eigenes Tun aufklären, sondern ihr wird zugetraut, als eine Art von Motor oder Raffinerie zu wirken – als Instanz, die ökonomische Prozesse aktiviert und optimiert.«194
193 194
Becker 1982: 100. Ullrich 2004: 170.
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Häufig werden Kunstprojekte auch von Unternehmen selbst initiiert. Man kann dieses Vorgehen durchaus als mehrdimensionale Angelegenheit betrachten, das in mancher Hinsicht durchaus auch über rein ökonomische Motive hinausgeht. Denn »[w]enn man das kulturelle Engagement der Wirtschaft auf rein ökonomische Motive reduziert, pflegt man nämlich ein eindimensionales Menschenbild, das gerade in den Künsten erstaunen muß, hat doch der bürgerliche Roman zu zeigen versucht, daß Menschen nie aus nur einem Motiv heraus handeln.«195
Allein das Ausgeben von (Firmen-)Geldern für Kunst ist im strengen Sinne unökonomisch, da Kunst außer ihrem ideellen Wert keinen Gegenwert, wie z.B. einen praktischen Nutzwert aufweisen kann. So kann das Anlegen von Vermögen in etwas, für das es nach Auffassung vieler Menschen keine Gegenleistung gibt, durchaus als Vernichtung von Kapital gesehen werden. Georges Bataille hat dies die »Ökonomie der Verschwendung« genannt.196 Ob es sich letztendlich nicht doch immer um eine geschickte Art der Gewinnmaximierung handelt, wenn sich große Wirtschaftsunternehmen der Sammlung und Förderung von Kunst verschreiben, sei hier dahingestellt. Der Wirkungsbereich der Kunstförderung durch Unternehmen richtet sich sowohl nach innen als auch nach außen. Innerbetrieblich wird Kunst z.B. zur Motivierung der Mitarbeiter, zur Förderung von Kreativität oder auch als Kommunikationsmittel eingesetzt. So werden durch die Installation von Kunst am Arbeitsplatz zum einen die Arbeitsräume aufgewertet. Durch Debatten über Kunst kann zudem die kollegiale Kommunikation gefördert und kreatives Potential freigesetzt werden, insbesondere wenn durch Kunstbetrachtung radikal neue Blickwinkel herbeigeführt werden können und damit neue Ideen entstehen. »Das jeweilige ›Set von Wertevorstellungen‹ (Wagner 1999: 17), das sich in regelrechten ›Weltbildern‹ (Antal 1991: 11) von Unternehmen ausprägen kann, ist meist fest gefügt und widersteht Veränderungen, zumal es Orientierung und Halt im turbulenten Alltag bietet. Solche Stabilität behindert jedoch immer wieder kreative Entwicklung. Kunst kann helfen, weil ihre Werke das Feld der Bedeutungen in Fluss bringen.«197
Nach außen hin wird Kunst häufig dazu genutzt, ein bestimmtes Prestige aufzubauen. »Kunst spielt im ökonomischen Bewusstsein der Maximierung der persönlichen und öffentlichen Reputation eine wachsende Rolle. Der Besitz von Kunst ist in Westeuropa und Nordamerika in den Rang eines
195 196 197
Grasskamp 1998: 45. Bataille 1975. Lüddemann 2007: 147.
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prinzipiell die Lebensqualität steigernden Gutes gerückt.«198 Darüber hinaus können durch das Ausstellen von Kunst in Firmengebäuden, durch das Anlegen einer eigenen Sammlung oder durch Sponsoring öffentlicher Veranstaltungen wie Ausstellungen auch bestimmte Botschaften vermittelt werden, denn Kunst kann klassische Formen der Kommunikation und des Marketings »um ein Feld von großer assoziativer Kraft und sinnlicher Ausstrahlung«199 ergänzen. »Vor allem mit der Wahl bestimmter Kunstwerke kann ein Unternehmen gewünschte Selbstbilder und Botschaften effektiv kommunizieren und zugleich glaubhaft machen.«200 Gleichzeitig kann so ein positiver Imagetransfer erreicht werden, indem durch die gezielte Auswahl bestimmter Kunst eine öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt wird und damit ein Image abgegeben wird, »das sich in der öffentlichen Wahrnehmung auf das gesamte Unternehmen überträgt.«201 Die Möglichkeit des Austauschs von Kunst aus firmeninternen Sammlungen, z.B. der Verleih von Kunstwerken an andere Unternehmen, an Zweigstellen oder für firmenunabhängige Ausstellungsprojekte, fördert zudem die Kommunikation zwischen verschiedenen Betrieben. Oft befinden sich Tochterunternehmen von Firmen im Ausland, der Austausch von Kunst kann dann sogar zu einem »Medium interkulturellen Dialogs«202 avancieren, das der Intensivierung wirtschaftlicher Beziehungen verhilft. Die Bayer AG verfolgt solche Ziele beispielsweise bereits seit über 100 Jahren. Das Unternehmen verfügt mittlerweile über eine Sammlung von insgesamt ca. 5500 Werken moderner und zeitgenössischer Kunst, darunter etwa 2000 Kunstwerke international anerkannter KünstlerInnen. »Since the 1950s, Bayer has organized regular exhibitions featuring top-ranking artists such as Pablo Picasso or Joseph Beuys, focusing on specific regions, or introducing the work of well-known gallery owners and collectors.«203 Raum für regelmäßig stattfindende Ausstellungen bietet vor allem das so genannte Erholungshaus in Leverkusen. Es versteht sich als »Forum für selten Gezeigtes und Außergewöhnliches aus der Welt der Kunst. Von Beckmann bis Vostell, von der Kunst der Aborigines bis zur zeitgenössischen Kunst aus vielen Ländern, in denen Bayer vertreten ist; von Malerei und Grafik bis zur Fotografie und Karikatur: Nach all den Jahren können die Wände des Erholungshauses viele Kunstgeschichten ›erzählen‹!«204
198 199 200 201 202 203 204
Frohne 2006: 21. Lüddemann 2007: 147-148. Lüddemann 2007: 148. Lüddemann 2007: 149. Frohne 2006: 26. http://www.culture.bayer.com/en/intro-art-collection.aspx, 16.01.2008. http://www.culture.bayer.com/downloads/6553/6559/Bayer_Spielzeit_ 2008-2009.pdf, 16.01.2008.
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Ein Beispiel für ein Projekt, das im Kontext der Förderung des kulturellen Dialogs durch Kunst zu verstehen ist, ist die von der Kulturabteilung Bayer Leverkusen und der Bayer S.A. São Paulo anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Konzerns verwirklichte Ausstellung mit dem Titel »Brasilianische Kunst der Gegenwart«. Als Auftakt eines vierteiligen Zyklus über bildende Kunst Lateinamerikas wurden im Herbst 1996 in den Räumlichkeiten des Stammhauses der Bayer AG in Deutschland, das heißt »im unmittelbaren Wirkungsbereich der Mitarbeiter«205, Werke fünf brasilianischer GegenwartskünstlerInnen gezeigt. Dem Ausstellungskatalog ist zu entnehmen, dass es dem Unternehmen ein »besonderes Anliegen« war, die brasilianische Gegenwartskunst »einem internationalen Publikum auch außerhalb des südamerikanischen Kontinents nahezubringen.«206 Die ausgewählten Kunstwerke sollten durch die Berücksichtigung der Unterschiede verschiedener Regionen und Stilrichtungen die zeitgenössische Kunstszene Brasiliens repräsentieren, wobei die Aufmerksamkeit vor allem auf die durch sie wiedergegebenen »Züge der nationalen Kultur«207 gelenkt wurde. »Die Darstellungen zeigen die zahlreichen Facetten der brasilianischen Realität auf. Wir erleben diese in der Umsetzung von Künstlern, die auch als Interpreten und Suchende bei der Definition brasilianischer Wesensart verstanden werden müssen.«208
Das Unternehmen präsentierte sich als Förderer lateinamerikanischer Kultur und tat damit einen Schritt zur Festigung der mittlerweile bereits seit über 110 Jahren bestehenden Beziehungen zu Lateinamerika auch auf kultureller Ebene – wobei eine gewisse positive Selbstinszenierung nicht zu überlesen ist. »Trotz der großen räumlichen Distanz sind wir gerade in Lateinamerika in den hundert Jahren unserer Präsenz auf dem Subkontinent schon früh mit den Menschen dort, ihrem Wesen und ihrer Kultur verwachsen, haben mit ihnen Höhen und Tiefen durchlebt und ihnen Vertrauen in Bayer vermitteln können.«209
Firmenintern hatte dies gewiss vor allem einen positiven Effekt auf die lateinamerikanischen MitarbeiterInnen, die sich auf diese Weise leichter mit ihrem Arbeitsumfeld identifizieren konnten. Die Präsentation lateinamerikanischer, hier explizit brasilianischer Kunst auf internationaler Ebene wirkte sich außerdem auf die Karrieren der KünstlerInnen aus und lenkte darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf den Standort Brasilien. Der damalige Geschäftsführer der Bayer-Gruppe in Brasilien Helge Karsten Reimelt be-
205 206 207 208 209
Reimelt 1996: 4. Reimelt 1996: 4. Lacerda Soares 1996: 8. Reimelt 1996: 4. Pfleger 1996: 1.
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schreibt diesen im Katalog als faszinierendes Land, »das mit neuer Wirtschaftsdynamik und gefestigter Demokratie zunehmend eine Bereicherung der Völkergemeinschaft ist.«210 Die Förderung, Verbreitung und positive Bewertung des brasilianischen Kulturguts durch die Bayer S.A. rückte auf diese Weise besonders das Unternehmen selbst und seinen Standort Lateinamerika in ein günstiges Licht, Brücken zu den deutschen Kollegen/innen in Leverkusen wurden geschlagen und die Arbeiten der brasilianischen KünstlerInnen erhielten internationale Reputation. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, wie sich Kunst und Wirtschaft gegenseitig bereichern können. Kunst und KünstlerInnen profitieren insbesondere von nicht-staatlichen Förderungsprojekten, wenn seitens der Regierungen wenig kulturelles Budget zur Verfügungen gestellt wird – dies gilt mittlerweile bei weitem nicht mehr nur für Länder mit ungleich niedrigerem wirtschaftlichen Wachstum. »Der Mehrwert der Kunst bezeichnet folglich nicht mehr nur die Verkörperung materieller Wertschöpfung durch ihren Erwerb und die Akkumulation in Form von Sammlungen, deren Marktwert kontinuierlich zunimmt. Immaterielle Werte wie Transparenz, soziale Verantwortung, Beziehungsfähigkeit oder Nachhaltigkeit greifen vielmehr in die unternehmerischen Grundsätze ein und integrieren ›kreative‹ Potentiale als Gütezeichen einer fortschrittlichen und verantwortungsbewussten Firmenpolitik, während die klassischen Kunstinstitutionen aufgrund zurückgehender öffentlicher Förderung ihre kulturellen Werte immer mehr dem Wachstumsprinzip privatwirtschaftlicher Unternehmen unterstellen müssen.«211
Die Verbindungen von Kunst und Wirtschaft, die seit jeher bestanden haben, werden auf diese Weise deutlich sichtbar. Kunstinstitutionen wie vor allem die großen Museen machen ebenfalls keinen Hehl mehr daraus, dass die Vermarktbarkeit der Künste ihre einzige Überlebenschance in einer von vorne bis hinten von der Ökonomie durchdrungenen Welt darstellt. Mark C. Taylor hat im siebten Kapitel des Buches »Confidence Games. Money and Markets in a World without Redemption«212 die Anstrengungen des langjährigen Leiters der Guggenheim Foundation Thomas Krens dargestellt, das Guggenheim Imperium durch die geschickte Verbindung von Kunst und Wirtschaft zu einem globalen Unternehmen auszubauen. »Bringing together art, commerce, and finance in unprecedented ways, the Guggenheim emerged as the museum of the future in the 1990s. The rise and fall of the Guggenheim’s fortunes coincide precisely with the rise and fall of the NASDAQ. There
210 211 212
Reimelt 1996: 4. Frohne 2006: 27. Taylor 2004.
160 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS is no better laboratory for understanding the complex relation between art and finance in the late twentieth century than the Guggenheim.«213
Zum Erfolgsrezept Krens’ gehörte vor allem die Sichtweise, die Errichtung eines Museums nicht ausschließlich als kulturelles Projekt zu begreifen, sondern als ein der ökonomischen Entwicklung förderliches Vorhaben. Auf diese Weise erreichte er viel leichter die notwendige politische und finanzielle Unterstützung für seine Vorhaben. Kunstwerke sind nie unabhängig von dem Kontext, in dem sie entstehen und in dem sie schließlich auch rezipiert werden. Zu diesen Kontexten gehören, wie in diesem Abschnitt gezeigt werden sollte, auch ökonomische Aspekte. Den Stellenwert und die Bedeutung, die Kunst in einer Gesellschaft hat, lediglich anhand inhaltlicher und formalästhetischer Diskurse von Kunst zu erschließen, wäre nur eine verkürzte Form einer Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst. Eine Reduktion der Kunstwelt auf den Kunstmarkt sollte allerdings ebenso vermieden werden. Es wird daher keinesfalls behauptet, jegliche Kunstpraxis habe von vorneherein ihre Vermarktung im Blick. Dies ist mitnichten der Fall. Werke im Bereich der Konzeptkunst beispielsweise, deren Schwerpunkte häufig auf gesellschaftspolitischen Fragestellungen liegen und die in Formaten erscheinen, die nur schwer vermarktbar sind (Performances, ephemere Kunst im öffentlichen Raum etc.), beweisen das Gegenteil. Trotzdem ist auch hier die ökonomische Dimension nicht auszuklammern, denn auch Kunst, die bewusst nicht für einen Markt produziert wird, kann im Hinblick auf wirtschaftliche Dimensionen untersucht werden. Der Blick richtet sich dann auf die besonderen Strategien der Finanzierung (durch Sponsoring, Sammlung von Spenden, Privatfinanzierung etc.) – auch im Falle einer vorsätzlich subversiven Haltung gegenüber der Kommerzialisierung von Kunst. Die Aufdeckung des Verhältnisses eines Kunstwerks zu den damit verbundenen ökonomischen Aspekten – seien diese offensichtlich oder nur hintergründig – erlaubt eine genauere Einordnung und Beurteilung des Werks in seinen gesellschaftlichen Zusammenhang. Der direkte Einbezug wirtschaftlicher Aspekte in die Analyse von Kunst und vor allem deren Kontexten bedeutet, so belegen es auch die Kulturanthropologen Marcus und Myers, einen neuen, kritischen Bezug zur Kunst herzustellen, indem die Annahme der völligen Autonomie von Kunst annulliert wird: »A strong sense of the autonomy of art in modernity, on which its authority depended even for avant-garde experiments and social criticism, could be preserved as long as no one participating in the art world looked at their own conditions of production and relationships to structures of capitalist society like market dynamics. […] As long as the possibility of autonomy remained an inherent part not only of art discourse but
213
Taylor 2004: 225.
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also of art production, the art world itself would be very limited in its reflexive critical ability.«214
3.3.3 Kulturelle Differenzen im Globalisierungskontext Culture takes diverse forms across time and space. This diversity is embodied in the uniqueness and plurality of the identities of the groups and societies making up humankind. As a source of exchange, innovation and creativity, cultural diversity is as necessary for humankind as biodiversity is for nature. In this sense, it is the common heritage of humanity and should be recognized and affirmed for the benefit of present and future generations. UNESCO UNIVERSAL DECLARATION OF CULTURAL DIVERSITY, ARTICLE 1
Im Jahr 2001 wurde auf dem 31. Treffen der UNESCO Generalkonferenz einstimmig die »Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt« verabschiedet. Nicht zuletzt um in unmittelbarer Reaktion auf die Ereignisse des 11. Septembers 2001 die Theorie eines unvermeidlichen »clash of cultures and civilizations« zu entschärfen, traten die UNESCO-Staaten mit dieser Erklärung für den interkulturellen Dialog als beste Garantie für Frieden ein. Mehr denn je ist man sich seit den Angriffen auf das World Trade Center und ihren Folgen über die Notwendigkeit einer eindringlichen Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen in einer sich globalisierenden Welt bewusst. »The events of September 11 have made it clear that in a globalised world difference has to come to matter more, not less.«215 Prophezeiungen einer radikalen Einebnung kultureller Unterschiede auf globaler Ebene durch ›Verwestlichung‹ oder ›Amerikanisierung‹ werden durch die geschärfte Wahrnehmung der Problematiken des ständigen Aufeinandertreffens differenter Lebens- und vor allem Glaubensvorstellungen in allen Teilen der Welt schier ad absurdum geführt. Globalisierung bedeutet in jeder Hinsicht zuallererst die Überschreitung von Grenzen – egal welcher Art – und damit Konfrontation. Das heißt auch jedem Homogenisierungsvorgang ist der Umgang mit Differenzen vor- bzw. parallelgeschaltet. Der zu Beginn zitierte erste Artikel der »Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt« rekurriert auf die Potentiale kultureller Diversität als Quel-
214 215
Marcus/Myers 1995: 23. Ien 2003: 32.
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le des Austauschs, der Innovation und der Kreativität. Kulturelle Vielfalt und die damit verbundenen Prozesse der permanenten Differenzierung ergeben sich als eine entscheidende Dimension von Globalisierung, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. Neben der bereits erläuterten ökonomischen Dimension ist die Beachtung von kultureller Diversität für die Analyse von Globalisierungsvorgängen innerhalb der globalen Kunstwelt ein unerlässlicher Schritt – allein deshalb, weil die eine Dimension ohne die andere nicht korrekt gedacht werden kann. Dass beide Dimensionen eng miteinander verwoben sind, zeigt sich nicht zuletzt in der Idee, durch eine friedliche globale Vernetzung auch neue Märkte und Handelsbeziehungen zu schaffen. 3.3.3.1 ›Kulturelle‹ Differenz(en) – Über den verwendeten Kulturbegriff [P]erhaps just as central as the concept of ›culture‹ has been what we might call the concept of ›cultures‹: the idea that a world of human differences is to be conceptualized as a diversity of separate societies, each with its own culture. AKHIL GUPTA & JAMES FERGUSON
Der hier verwendete Kulturbegriff beschränkt sich nicht auf einen ethnisch definierten, sondern flexibel gestalteten Kulturbegriff, der neben ethnischen Aspekten grundlegende Wertesysteme, Verhaltensformen, Gesellschaftsformationen und Formen symbolischer Ausdruckskraft, Interaktion und Selbstdefinition in seine Bedeutung integriert. »[…] we arrive at the concept of culture as non-holistic group culture, with a range of applicability from the tribal through sociocultural to national and transnational group formations. It serves as a flexible frame of coherence and communication, where the central ideas and ideals of human behavior and interaction are negotiated by individuals and social (sub-)groups, although most of this happens anonymously in the manner of Foucauldian discourse formations.«216
Ein solch flexibles und weitgreifendes Konzept von Kultur und kulturellen Differenzen überschreitet die Grenzen der Vorstellung essentialistischer Kulturkonzepte, die Kultur als in sich geschlossene Systeme verstehen, welche sich wiederum in ihrer Geschlossenheit und Unveränderlichkeit radikal von anderen Kulturen abgrenzen (müssen). »›Cultural‹ difference is no longer a stable, exotic otherness; self-other relations are matters of power
216
Breinig/Lösch 2002: 19.
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and rhetoric rather than of essence. A whole structure of expectations about authenticity in culture and art is thrown in doubt.«217 Die in den folgenden Untersuchungen vorgenommene Unterscheidung von brasilianischer und nicht-brasilianischer Gegenwartskunst ist nur eine mögliche Form kultureller Differenzierung und allein der methodischen Vorgehensweise dieser Studie geschuldet. 3.3.3.2 Kulturelle Diversität versus globale Homogenität? The central problem of today’s global interactions is the tension between cultural homogenization and cultural heterogenization. ARJUN APPADURAI We are in need of more subtle differentiations that can be interposed between the Utopian claims that globalization will offer new models of exchange based on transparency, compatibility and consensus. Or the alternately dystopian views that the drive towards a uniform cultural system will lead to the destruction of all the vital, expressive and distinctive forms of social life. NIKOS PAPASTERGIADIS
Ein Moment, das das Phänomen Globalisierung deutlich prägt, ist die ihm inhärente Widersprüchlichkeit. Die meistens unmittelbar mit Globalisierung assoziierte Rede von Homogenisierung durch weltweite Medialisierung und die flächendeckende Ausbreitung dominierender Technologien, Wissensund Glaubenssysteme scheint sich von der Vorstellung gleichzeitig wachsender kultureller Diversität grundsätzlich zu scheiden. Begrifflichkeiten wie die von dem Soziologen George Ritzer geprägte McDonaldization218 sind zu populären Figuren der Beschreibung von Globalisierung geworden und gemahnen an eine radikale Nivellierung kultureller Unterschiede zugunsten einer globalen Universalkultur US-amerikanischer Prägung. So banal dies klingen mag: gerade die Fastfoodkette McDonalds als Paradebeispiel für globale Homogenisierungsffekte zu nennen, greift zu kurz. Denn auch mit der weltweiten Verbreitung eines vereinheitlichenden Konzepts wie das der McDonalds-Restaurants gehen Mechanismen von Differenzierung einher. Das Speisenangebot der McDonalds-Filialen wird beispielsweise jeweils an die lokal vorherrschenden Essgewohnheiten der Kunden ange-
217 218
Clifford 1988: 14. Ritzer 1993.
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passt, wie diese Internet-Annonce der McDonalds-Niederlassungen in Bahrain treffend veranschaulicht: »And since we believe in localization, we have introduced new products that appeal to the local tastes of our customers. These products include the McArabia Chicken and the McArabia Kofta which have so far enjoyed huge success among our cutomers (sic!).«219 Das Konzept McDonalds ist mittlerweile zwar weltweit relativ flächendeckend und damit einheitlich verbreitet, kulturelle Unterschiede sind im jeweiligen regionalen Kontext aber trotzdem erkennbar. Ein anderes plakatives Beispiel, das häufig mit einer globalen kulturellen Gleichschaltung assoziiert wird, ist das Hollywood-Kino. Ähnlich der weitläufigen Verbreitung der McDonalds-Restaurants sind auch die Präsenz und die allgemeine Beliebtheit von Hollywood-Filmen auf der ganzen Welt als homogenisierende Globalisierungseffekte zu verbuchen. Auch lässt sich sicherlich nicht abstreiten, dass die massiv kommerzialisierte Verbreitung von Filmtheatern, die heute eben vor allem das Mainstream-Kino Hollywoods zeigen, andere Unterhaltungsmedien überlagert oder verdrängt haben. Auf der anderen Seite ist es wiederum zu kurz gegriffen, Hollywood im Zusammenhang mit Globalisierungsmechanismen vornehmlich als Instrument globaler Vereinheitlichung zu interpretieren. Wie im Falle McDonalds lassen sich auch hier regionale, das heißt orts- und kontextspezifisch unterschiedliche Momente und Verarbeitungen der vermeintlich alles andere verschlingenden (Konsum-)Maschine Hollywood beobachten. So veranschaulicht eine Studie der UNESCO, dass nicht-US-amerikanische Filmproduktionen, die sich eng an das Hollywood-Kino anlehnen, sich gerade durch ihre Spezifität regional einer ähnlich großen Beliebtheit erfreuen. Bollywood und Nollywood sind mittlerweile die gängigen Bezeichnungen für Filmproduktionen in Indien und Nigeria. Insgesamt produzieren diese Länder im Durchschnitt mehr Filme als die USA. »Nach der UNESCO-Studie waren es im indischen ›Bollywood‹ 1091 Produktionen im Jahr 2006, in Nigeria, wo die Filmindustrie ›Nollywood‹ heißt, 872 Produktionen. Auf dem dritten Platz ist (sic!) die USA mit 485 Großproduktionen.«220 Die kulturelle Vielfalt in diesem Bereich zu fördern ist mitunter ein Ziel der UNESCO und kann als direkte Reaktion auf die »Allgemeine Erklärung der kulturellen Vielfalt« verstanden werden. »›Diese Daten sind ein Beweis dafür, dass der Platz der Kultur auf der politischen Agenda überdacht werden muss‹, sagte UNESCO-Generaldirektor Koïchiro Matsuura. ›Die Film- und Videoproduktion ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie die Kulturindustrie – als Träger von Identitäten, Werten und Inhalten – die Tür zum Dialog und Verständnis von Kulturen öffnen kann.‹«221
219 220 221
http://www.mcdonaldsarabia.com/english/bahrain/nutrition_inov.asp, 04.09.2009. Merkel 2009. Merkel 2009.
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Dass Einzelphänomene wie McDonalds oder Hollywood gewisse Homogenisierungseffekte erzeugen, ist mehr als deutlich. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Anschlussfähigkeit verschiedener Elemente dieser Phänomene – worauf im Zuge der Erörterung der ökonomischen Dimension von Globalisierung bereits verwiesen worden ist.222 Die Frage, ob Globalisierung also nun die vollkommene globale Vereinheitlichung von Kultur(en) bedeutet oder auch die Aufrechterhaltung oder Verstärkung bestehender Unterschiede ein maßgebliches Symptom von Globalisierung sein kann, mündet nicht in eine Entweder-Oder-Entscheidung. Ebenso wenig lässt sich eindeutig prognostizieren, wo die Entwicklung hinführt – in die globale kulturelle Homogenisierung oder eine neue Ordnung der Vielfalt. Die vorgeführten Beispiele zeigen, dass es gerade das die enge Verzahnung kultureller Homogenisierungs- und Heterogenisierungsaspekte ist, die entscheidend dazu beiträgt, zeitgenössischen Prozessen kultureller Veränderung ihren spezifischen Globalisierungscharakter zu verleihen. Dazu gehört nicht zuletzt die Nationalisierung oder Regionalisierung weltweit übergreifender Lebensweisen, Technologien, Nahrungsmittel, Wissenssysteme, Glaubensvorstellungen, Kleidungsstile etc. Arjun Appadurai beschreibt dies folgendermaßen: »The globalization of culture is not the same as its homogenization, but globalization involves the use of a variety of instruments of homogenization (armaments, advertising techniques, language hegemonies, and clothing styles) that are absorbed into local political and cultural economies, only to be repatriated as heterogeneous dialogues of national sovereignty, free enterprise, and fundamentalism […].«223
Das Ineinanderübergreifen von Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozessen macht es nahezu unmöglich, den einen vom anderen Prozess zu unterscheiden. Allein deshalb sind Narrative wie ›Verwestlichung‹, ›Amerikanisierung‹ oder ›Europäisierung‹ und vor allem ihre alleinige Assoziation mit Homogenisierungsprozessen nicht mehr valide. Wie es Dipesh Chakrabarty in der Einleitung des Bandes »Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Histrorical Difference«224 formuliert, ist sogar das intellektuelle aufklärerische Erbe durch die jahrhundertelange Hegemonialstellung Europas zum »globalen Erbe« geworden: »The heritage is now global.«225
222
223 224 225
Inwiefern sich homogenisierende Effekte im (Hollywood-)filmischen Kontext ergeben und sich als weniger übergestülpte denn als global anschlussfähige Momente beschreiben lassen, zeigt die Dissertation »Die Spionage, der Krieg und das Virus – Figuren des Globalen im zeitgenössischen Hollywood-Kino« des Sozialwissenschaftlers Il-Tschung Lim. (Lim 2009.). Appadurai 1990: 58. Chakrabarty 2000. Chakrabarty 2000: 4.
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Der ›Westen‹ als homogenisierendes Narrativ lässt sich nicht mehr geographisch orten und ist damit nicht mehr klar definierbar. »When we speak today of the West, we are usually referring to a force – technological, economic, political – no longer radiating in any simple way from a discrete geographical or cultural center.«226 Vor allem die USA, Japan und Australien lassen sich problemlos in die Begriffsdefinition integrieren. Angesichts dieser Pluralität lässt sich auch das Konzept des ›Westens‹ als einheitliches, homogenes und homogenisierendes Konstrukt aufheben. Die Bezeichnungen ›westlich‹ und ›der Westen‹ werden jedoch weiterhin verwendet und beharrlich mit Europa in seiner historischen Rolle als Ursprungsort aufklärerischen Denkens und Ausgangspunkt jeglicher kolonialer und schließlich globaler Entwicklungen synonymisiert. Das zementiert die binäre Logik des ›Westens gegen den Rest der Welt‹ in der Globalisierungsrhetorik. Wenn Chakrabarty von der Europäisierung der Wissensproduktion spricht, wird dieses Problem nahezu greifbar: »This engagement with European thought is also called forth by the fact that today the so-called European intellectual tradition is the only one alive in the social science departments of most, if not all, modern universities. […] The point, however, is that, fabrication or not, this is the genealogy of thought in which social scientists find themselves inserted.«227
Chakrabarty bezieht sich auf Südasien, wo europäische Theorien asiatische Wissenskonzepte offenbar fast vollkommen verdrängt haben und zeitgenössische WissenschaftlerInnen keinen Zugang mehr zur traditionellen Wissensproduktion im asiatischen Kontext mehr finden. »[C]ontemporary social scientists of South Asia seldom have the training that would enable them to make these concepts into resources for critical thought for the present.«228 Dieses Phänomen lässt sich natürlich auch auf andere so genannte ›nichtwestliche‹ Länder übertragen und damit als Homogenisierungseffekt interpretieren. Wie im Folgenden am Beispiel Brasilien zu sehen sein wird, entspringen der zunächst homogen scheinenden Basis einer sich von Europa aus verbreitenden Wissenschaft jedoch durchaus regional charakteristische Formen wissenschaftlicher Theorien. So haben Momente der Differenzierung bei der Assimilierung der so genannten ›westlichen‹ Wissensproduktion durchaus schon früh eine wesentliche Rolle gespielt. Das Zusammendenken von Homogenisierung und Differenzierung stellt freilich eine spezifische Herausforderung dar. Mit dem Ausdruck »provincializing Europe« umschreibt Chakrabarty provokativ eben jenen mühsamen und durchaus widersprüchlich erscheinenden Prozess der Neuerung des Denkens:
226 227 228
Clifford 1988: 272. Chakrabarty 2000: 6. Chakrabarty 2000: 6.
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»European thought is at once both indispensable and inadequate in helping us to think through the experiences of political modernity in non-Western notions, and provincializing Europe becomes the task of exploring how this thought – which is now everybody’s heritage and which effects us all – may be renewed from and for the margins.«229
James Clifford hat Ende der 1980er Jahre im Zuge seines Versuchs einer Neuformulierung ethnographischen Forschens im 20. Jahrhundert davor gewarnt, Differenzierungsprozesse vor dem Hintergrund der Herausbildung einer allumfassenden globalen Kulturgeschichte aus den Augen zu verlieren – auch wenn das Erkennen neuer Unterscheidungskriterien natürlich ungleich schwieriger ist als das Registrieren des Verlusts traditioneller Differenzierungsmuster. Clifford fordert aus diesem Grund die Beachtung beider Dimensionen: »To reject a single progressive or entropic metanarrative is not to deny the existence of pervasive global processes unevenly at work. The world is increasingly connected, though not unified, economically and culturally. Local particularism offers no escape from these involvements. Indeed, modern ethnographic histories are perhaps condemned to oscillate between two metanarratives: one of homogenization, the other of emergence; one of loss, the other of invention.230
Die Kulturanthropologen Akhil Gupta und James Ferguson präsentierten 1997 mit der Publikation des Readers »Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology«231 eine Reihe von Aufsätzen, die sich gezielt mit der weltweiten Verbreitung dominanter kultureller Praktiken und ihren lokalen Transformationen auseinandersetzen. Die publizierten Beiträge thematisieren bewusst sowohl die homogenisierenden als auch die heterogenisierenden Aspekte kultureller Entwicklung im Zeichen von Globalisierung und betrachten sie in ihrer Beziehung zu den herrschenden Machtverhältnissen. »Rather than opposing autonomous local cultures to a homogenizing movement of cultural globalization, the authors in this volume seek to trace the ways in which dominant cultural forms may be picked up and used – and significantly transformed – in the midst of the field of power relations that links localities to a wider world. [...] Rather than simply a domain of sharing and commonality, culture figures here more as a site of difference and contestation, simultaneously ground and stake of a rich field of cultural-political practices.«232
229 230 231 232
Chakrabarty 2000: 16. Clifford 1988: 14. Gupta/Ferguson 2001b. Gupta/Ferguson 2001b: 5.
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Auch Arjun Appadurai wehrt sich gegen eine strikt getrennte Betrachtung sich angleichender und differenzierender Momente im Globalisierungszusammenhang: »Thus the central feature of global culture today is the politics of the mutual effort of sameness and difference to cannibalize one another and thereby proclaim their successful hijacking of the twin Enlightenment ideas of the triumphantly universal and the resiliently particular.«233 Das Zitat wird im späteren Verlauf des Textes erneut auftauchen. Die Betonung wird dann auf der Metapher des Kannibalismus liegen, die den kreativen Umgang mit den Widersprüchen zeitgenössischer Kulturentwicklung in Brasilien prägt. 3.3.3.3 Plädoyer für einen geschärften Blick auf und für einen zeitgemäßen Umgang mit kulturelle(n) Differenzen Paradoxically, the global world is becoming the world of difference. GERARDO MOSQUERA
Etwa ab den 1960er Jahren, verstärkt jedoch seit den späten 1980er Jahren sind in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zahlreiche Versuche unternommen worden, kulturelle Diversität und vor allem Vorgänge der Vermischung kultureller Aspekte theoretisch zu fassen und zu analysieren. Claude Lévi-Strauss bildet mit dem im Jahr 1962 in Frankreich publizierten Buch »La pensée sauvage«234 und dem darin formulierten strukturalistischen Konzept der bricolage den Auftakt einer Serie differenztheoretischer Auseinandersetzungen. In besagtem Werk – in deutscher Sprache 1973 unter dem Titel »Das Wilde Denken«235 erschienen – entwirft der französische Kulturanthropologe die bricolage anhand des Studiums mythischen Denkens südamerikanischer Indianergesellschaften (mit Fokus auf den Totemismus). Mit dem Begriff bricolage, zu Deutsch Bastelei, wird eine Eigenart des mythischen Denkens beschrieben, Strukturen aus einer Gesamtheit sich bietender, häufig willkürlich und merkwürdig zusammengesetzter Materialien und Werkzeuge zu erschaffen. »[D]ie Welt seiner [des Bastlers, Anm. K.S.] Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d.h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern
233 234 235
Appadurai 1990: 58. Lévi-Strauss 1962. Lévi-Strauss 1973.
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oder zu bereichern oder ihn mit Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder De236 konstruktionen zu versorgen.«
Lévi-Strauss’ strukturalistischer Ansatz erlaubt es, Prozesse und Ergebnisse kultureller Vermischung als komplexe Vorgänge zu beschreiben, die jeweils bestimmte Dynamiken und damit spezifische Eigenschaften entwickeln, die sie dann voneinander unterscheidbar machen. Auf diese Weise lassen sich Kultur(en) durch den spezifischen Zusammenschluss bestimmter Einzelelemente, Erfahrungen und Begebenheiten und deren Vergangenheit charakterisieren. Auch die Disposition jener Teilstücke spielt dabei eine wesentliche Rolle. »Die Eigenart des mythischen Denkens besteht, wie die der Bastelei auf praktischem Gebiet, darin, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten, nicht unmittelbar mit Hilfe anderer strukturierter Gesamtheiten, sondern durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: ›odds and ends‹, würde das Englische sagen, Abfälle und Bruchstücke, 237 fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft.«
Der strukturalistische Ansatz des französischen Ethnologen eröffnete durch diese Darstellung des wortwörtlich ›wilden‹ Denkens einen neuen Blickwinkel auf die Formierung von Kultur(en) aus verschiedenen Versatzstücken. Ende der 1980er Jahre wurden im Zuge der Postkolonialismusforschung vermehrt Ansätze publiziert, die die Thematik der kulturellen Vermischung im direkten Zusammenhang mit den kolonialen Prozessen und ihren Folgen aufgriffen. Im französisch-karibischen Raum entstand das Konzept der créolité, begründet in dem Aufsatz »Eloge de la créolité«238 (1989) von Patrick Chamoiseau, Jean Bernabé und Raphaël Confiant. Die drei Autoren richten sich in ihrem Aufsatz mit Fokus auf die Insel Martinique nicht allein gegen eine eurozentristische Wahrnehmung der karibischen Kultur, sondern auch gegen die radikale Perspektive der négritude, die zuerst von dem französischkaribischen Literaten und Politikers Aimé Cesaire formuliert wurde. Im Zentrum des radikalen Diskurses der créolité stehen die kritische Geste und der Ausdruck kultureller Diversität in der französischsprachigen Karibik. Die créolité ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften von vielen Wissenschaftlern/innen aufgegriffen und auch für die Analyse von Prozessen kultureller Vermischung außerhalb des karibischen Kontextes verwendet worden. Der schwedische Sozialanthropologe Ulf Hannerz formulierte für die Sozialanthropologie das Konzept der creolization239.
236 237 238 239
Lévi-Strauss 1973: 31. Lévi-Strauss 1973: 35. Chamoiseau/Bernabé/Confiant 1989. Siehe Hannerz 1987.
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Im Umfeld der südamerikanischen Kulturforschung wurde 1990 der Begriff der kulturellen Hybridität durch das Werk des argentinischen Kulturanthropologen Néstor Canclini geprägt. In »Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad«240 geht Canclini den Spannungen und Widersprüchen zwischen Modernisierung und Demokratisierung in Südamerika nach. Sein Blick richtet sich auf die Problematiken, die im Aufeinandertreffen von traditionellen und modernen Kulturformen aufkommen. Eine soziologische Sichtweise auf die lateinamerikanische Gesellschaft und Kultur wird durch Canclinis kulturanthropologische Perspektive, deren Fokus auf kultureller Differenz, Diversität und Pluralität liegt, erweitert. Hybridität kann nach Canclini als ein Zwischenraum zweier sich gegenüberliegender und sich überschneidender Pole – zum Beispiel zweier Kulturen – gesehen werden. In diesem Fall steht das Konzept der Hybridität in krassem Kontrast zu kultureller Reinheit oder Homogenität. Andererseits kann Hybridität aber auch als Kontinuum kultureller Vermischung gesehen werden, was die Existenz ideologischer Zonen kultureller Reinheit wiederum überhaupt in Frage stellt. »Instead of hybridity versus purity, this view suggests that it is hybridity all the way down.«241 Ähnlich findet sich der Begriff der kulturellen Hybridität im Werk von Homi K. Bhabha. Der aus Indien stammende Literaturtheoretiker legte mit dem Buch »The Location of Culture«242 eine umfassende Analyse von Literatur vor, die im Kontext postkolonialer Forschung in den 1990er Jahre verfasst wurde. Anhand dieser Analysen entwickelte Bhabha das Modell des »Dritten Raumes« als spezifisches Hybriditätskonzept. In erster Linie greift er damit die auf der europäischen Eroberung und Hegemonialstellung beruhenden Binarismen von Zentrum/Peripherie, zivilisiert/unzivilisiert, Erste Welt/Zweite Welt, West/Ost, Nord/Süd etc. an. Im »Dritten Raum«, verstanden als kultureller Zwischenraum, wird die Auflösung dieser Oppositionen zum subversiven Element, was eine harsche Kritik an vorhandenen Hierarchien herausfordert. Neben den hier kurz vorgestellten Konzepten sei noch auf das Modell der ethnoscapes von Arjun Appadurai verwiesen, das er im ersten Teil des Buches »Modernity at Large«243 aus dem Jahr 1996 vorstellt. Mit seinem konkreten Bezug zu den sich intensivierenden globalen Prozessen sucht Appadurai nach neuen Kategorien zum Erfassen von Mechanismen kultureller Identitätsbildung, die über das Modell nationaler Identität hinausgehen.244
240 241 242 243
Canclini 1990. Rosaldo 1995: xv. Bhabha 1994. Appadurai 1996.
244
Es gibt zahlreiche weitere Begriffe wie cultural flows, Transkulturalität, Synkretismus etc., die die kulturwissenschaftliche Forschungslandschaft prägen. Hinter all diesen Begriffen verbergen sich im Grunde ähnliche, jedoch in sich unter-
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Seit das Thema Globalisierung in aller Munde ist, werden das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen und die sich daraus ergebenden Auseinandersetzungen grundsätzlich als Globalisierungsphänomene beschrieben. Dies legt nahe, nach einem allgemein, das heißt global gültigen Schema für die Erklärung und den Umgang mit kulturellen Differenzen und den Folgen kulturellen Austauschs, Vermischung und möglichen Neuformierungen zu suchen. Die Übertragung einzelner Aspekte und Ideen verschiedener Konzepte auf eine übergreifende Ebene kann zwar sehr sinnvoll und bereichernd sein. Angesichts der unzähligen Ansatzpunkte und Wirkungsweisen globaler Prozesse greift die Entwicklung von Metanarrativen und Metatheorien allein jedoch zu kurz. »[W]e are really in need of new ways of thinking about the process of cultural exchange and recognise the diverse sites in which crosscultural contact occurs.«245 Gerade eine oberflächliche Verkündung von Multikulturalität gilt es aus diesem Grund zu vermeiden – ein vor allem in den zeitgenössischen Medien weit verbreitetes Schlagwort, wenn es um das Herauskehren von Eigenschaften der Globalisierung auf kultureller Ebene geht. »As a strategy for articulating a minority discourse multiculturalism is in decline, but paradoxically it is marching triumphant as a part of the programme in expanding the field of corporate culture for globalisation.«246 Positiv zu verbuchen ist sicherlich die gesteigerte Aufmerksamkeit für Minoritäten und Peripherien und deren Anliegen. Denn, so bemerkt es der Kurator Okwui Enwezor (künstlerischer Leiter der »Documenta11«), »trotz mancher Fehlleistungen des multikulturellen Diskurses ist sein ethisches Projekt zur Durchsetzung von Bürgerrechten, Anerkennung von Differenz, Toleranz und Respekt für andere Kulturen und Lebensformen heute nach wie vor von Relevanz – und dies umso mehr, als nach dem 11. September ein Rückfall in jenen alten asymmetrischen Diskurs des Kampfes der Kulturen eingetreten ist. Auf der Höhe seiner Möglichkeiten ist Multikulturalismus integrativ und entdeckt die vielschichtigen sozialen und kulturellen Kartographien von Gesellschaft im Prozeß ihrer Globalisierung.«247
Ein Sichtbarmachen des Diskurses erfolgt laut dem Journalisten Mark Terkessidis vor allem über die Medien, die mehr Bilder vom Fremden ver-
schiedliche Konzepte. Je nach disziplinärer Ausrichtung, dem spezifischen Forschungsgebiet und vor allem je nach Herkunft der/s WissenschaftlerIn lassen sich eigene Vorgehensweisen und Schwerpunkte im Umgang mit der Thematik erkennen. Die Bezeichnungen schlicht als Synonyme zu verwenden wäre nicht angemessen, denn jeder Ansatz birgt sein eigenes, besonderes Potential, Momente des Aufeinandertreffens kultureller Differenzen kontextspezifisch zu erfassen und zu begreifen.
245 246 247
Papastergiadis 2003: 11. Papastergiadis 2003: 11. Enwezor 2002c: 32.
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fügbar machen als je zuvor. »[I]n der vom Konsum bestimmten öffentlichen Sphäre wird dem Fremden weit mehr Raum zugestanden als früher. Im Gegensatz zur herkömmlichen Hochkultur ist die herrschende Massenkultur der globalisierten Welt zutiefst heterophil.«248 Eine unkritische Positivierung kultureller Diversität im Akt bloßer Exotisierung des Fremden verschleiert jedoch andere, wichtigere Aspekte und Potentiale, die durch das Aufeinandertreffen von Differenzen entstehen. Darüber hinaus rücken die Problematiken und Konflikte in den Hintergrund, insbesondere massive ökonomische Ungleichheiten verschwimmen hinter der Fassade eines bunten, friedlich fröhlichen Karneval der Kulturen. 3.3.4 Kulturelle Differenzen in der globalen Kunstwelt Der Kritiker und Künstler Rasheed Araeen übt rege Kritik an der medialen Verklärung kultureller Diversität als karnevaleskes farbenfrohes Miteinander: »The reality of the world is in fact very different from what is represented by multicultural celebration. Is this celebration not in fact a mask to hide the reality of the extreme economic disparity between rich and poor countries which is now on the increase with globalisation and the activities of multinationals?«249
Araeen richtet seinen Blick direkt auf die Kunstwelt, die von Diskursen über Differenzen auf verschiedenen Ebenen durchzogen ist. Gerade in diesem Bereich lässt sich hervorragend beobachten, wie komplex und vielschichtig der Umgang mit kultureller Diversität sein kann und vor allem wie stark dieser von Hierarchisierungsprozessen geprägt ist. Araeen zufolge ist der Beginn eines Dialoges über kulturelle Differenz innerhalb der Kunstwelt in der Moderne-Bewegung zu finden. Das Werk des spanischen Malers Pablo Picasso, exemplarisch das 1907 fertiggestellte Gemälde »Demoiselles d’Avignon«, ist eines der frühesten und aussagekräftigsten Zeugnisse für die Auseinandersetzung mit der afrikanischen und ozeanischen Formensprache und Ästhetik seitens europäischer KünstlerInnen zu Beginn der 20. Jahrhunderts. »[W]hen Picasso looked at African and Oceanic objects he was not just looking at strange objects for the sake of curiosity, he was drawn into the possibility of an alternative way of representing the world. There then emerged an awareness that the complexity of the experience of the world comprising many different cultures and artistic forms could not be represented faithfully without bringing them together,
248 249
Terkessidis 2001: 134. Araeen 2003: 136.
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which lead many artists in the beginning of the last century to a radically new and different way of seeing and constructing the world.«250
Im Überschreiten ihrer europäischen Grenzen und der Adaption einer in diesem Akt des Ausbrechens aus der abendländischen Ästhetik gefundenen fremden, abstrakten Formensprache gründet der durch die Moderne proklamierte Universalismus. Kulturelle Differenz wurde buchstäblich in den Mainstream der Moderne inkorporiert. Sie bildete damit den Rahmen für die Rezeption verschiedener kultureller Ausdrucksformen und einen in diesem Sinne internationalen, universalen Kunstdiskurs. »However, modernity and modernism set up a common framework based on the ideas of universal progress and advancement through which peoples from all other cultures in the world would be able to advance and express themselves.«251 Jenes Verständnis der europäischen Moderne-Bewegung als fortschrittliche, revolutionäre Kraft wurde in vielen außereuropäischen Ländern übernommen. Es galt dort nicht zuletzt als Möglichkeit der Befreiung von den vermeintlich überkommenen Formen der eigenen Kultur, jedoch auch vom Kolonialismus. Die Idee, europäische und außereuropäische KünstlerInnen bewegten nun gleichberechtigt in einem einheitlichen Diskursrahmen, ist allerdings trügerisch. Die Positionierung der Dialogpartner war von Beginn an durch die Hegemonialstellung Europas, später der USA, geprägt. In der besonderen Ästhetik der außereuropäischen Kunstformen erkannte man nicht etwa eine besondere Form ›moderner‹ Ästhetik. Vielmehr wurden sie von den europäischen KünstlerInnen als die ›primitiven‹ Urformen ästhetischer Darstellung (wieder)erkannt. Die Begründung der Abstraktion als universale Formensprache lag also nicht in der Anerkennung und Bewunderung zeitgenössischer außereuropäischer Kunst, sondern quasi in der Renaissance einer Ästhetik der menschlichen Vor- und Frühgeschichte, die man in Afrika und Ozeanien wiederentdeckt hatte. So ist neben der räumlichen Distanz auch eine Dissonanz der zeitlichen Dimensionen innerhalb des vermeintlich vereinheitlichenden Diskursrahmens zu erkennen. Die Zuschreibung des Prädikats ›primitiv‹ versetzte das künstlerische Schaffen und damit auch den Kunstdiskurs außereuropäischer KünstlerInnen zeitlich in die Vergangenheit, ja in die Ursprünge des Kunstschaffens überhaupt, und bewirkte so beinahe den kompletten Ausschluss aus der Zeitgenossenschaft. Der auf diese Weise besiegelte Ausschluss außereuropäischer KünstlerInnen aus dem modernen Kunstdiskurs führte in dem Moment zu einer Art Kollaps des Diskurses, als außereuropäische KünstlerInnen tatsächlich nach Europa übersiedelten und das Erbe der Moderne auch für sich beanspruchten:
250 251
Araeen 2003: 139-140. Araeen 2003: 140.
174 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Thus, the dialogue which began with cultural difference with Picasso’s Demoiselles d’Avignon and which was then taken up by many other artists, not only in Europe but also in the rest of the world, somewhat ›collapsed‹. It ›collapsed‹ when artists from different cultures came together to claim their common modern heritage. The problem was not the dialogue itself across cultural differences, but the mergence and acceptance of the difference of the others as a subject in modernism.«252
Die in der Moderne gründenden Diskrepanzen sind bis heute spürbar. Das Zelebrieren kultureller Differenz als exotisches Spektakel von Globalisierung und der gleichzeitige Ausschluss des kulturell Anderen sowohl aus der Kunstgeschichtsschreibung als auch aus der Zeitgenossenschaft war im dominierenden zeitgenössischen Kunstdialog der westeuropäischen Länder und den USA lange Zeit eine gängige Praxis. Eine Kanonverschiebung findet trotz der fortschreitenden regionalen Ausdifferenzierung der globalen Kunstwelt nur langsam statt. »Those who argue that the present concern of the art institutions for feminism, for socalled black or Third World art, and so on, does represent a change in society forget that art institutions or museums can and do now collect all sort of material, supplementary or otherwise, without upsetting the dominant structure of the art institution and its ideology, let alone the power of the institution to turn a radical process into a reified object.«253
Auch die Kunstwissenschaften und vor allem die Kunstgeschichte reagieren recht verhalten auf die massiven Einwirkungen von Globalisierungsprozessen und die damit einhergehenden Konflikte. Kunstgeschichtsschreibungen, die außerhalb Europas entstanden, finden nur äußerst selten Erwähnung in kunstwissenschaftlichen Studien und Publikationen, auch wenn diese sich mit dem Prädikat Weltkunstgeschichtsschreibung auszeichnen. Zu präsent ist die Wahrnehmung des in der Moderne zementierten Gefälles innerhalb der globalen Kunstwelt und zu eindimensional der Blick auf die ihr inhärenten Mechanismen des Austauschs. Die Betrachtung der existierenden Kunstwelten auf einer Ebene und der Transferprozesse von Ästhetik und Formen als gegenseitig bedingt, würden die Verwendung der Narrative ›westliche‹ versus ›nicht-westliche Kunst‹ obsolet werden lassen. Die Verbannung letzterer in den Kompetenzbereich der Ethnologie und der Vor- und Frühgeschichte ist ebenso wenig zeitgemäß. Pluralität, Diversität, Differenz und Differenzierung müssen bewusster im Zusammenhang mit der globalen Kunstwelt gedacht werden, ohne sie einer oberflächlichen Assimilationspolitik preiszugeben.
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Araeen 2003: 141. Araeen 2003: 148.
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»Cultural difference at the moment is being celebrated as a sign of Otherness by which the other is assimilated into the system and its critical role pacified. But, by resisting this assimilation and re-vitalising its critical, cultural difference can become the cutting edge of history and of change.«254
Diese kritische Haltung bedeutet keinesfalls die radikale Ablehnung der bestehenden Strukturen, indem man die Geschichte der globalen Kunstwelt gänzlich infrage stellt. Denn dies hieße auch die Auflösung des gemeinsamen Diskursrahmens, der als ein homogenisierender und damit stabilisierender Aspekt funktioniert. Gefordert ist ein zeitgemäßer, strategischer Umgang mit der sich bietenden »globalen Realität«, um es mit den Worten des Drehbuchautors Gabriel Peluffo Linari auszudrücken. »[W]e are still haunted by a model of values whose visual and conceptual habits are deeply connected to the criteria of legitimation operating in the hegemonic centres. This is not a cause for alarm, but a fact of the global reality that should be used strategically in different local contexts.«255
Es gilt, den Umgang mit kulturell differenten Manifestationen von Kunst und den sich daran anknüpfenden diskursiven Strategien zu üben und sie als gleichberechtigte Elemente der globalen Kunstwelt anzuerkennen. Eine komplette Eliminierung des bestehenden Systems ist nicht erforderlich, dringend notwendig jedoch die Etablierung eines neu sensibilisierten, kritischen Denkens und die Anerkennung von Veränderung. 3.3.4.1 Die Biennalisierung der globalen Kunstwelt Die Pluralität innerhalb der globalen Kunstwelt äußert sich unter anderem in der steigenden Anzahl von Biennalen zeitgenössischer Kunst und der daran angeknüpften überregionalen Diskurse. Die Rezeption der hier präsentierten Kunst auf einer globalen Ebene zeugt von einer gesteigerten Wahrnehmung, Wertschätzung und Bedeutung lokaler Kunstproduktionen, deren Kunstgeschichten außerhalb Westeuropas und den USA verwurzelt sind. Im Jahr 1952 wurde bereits die Bienal de São Paulo gegründet. Sie gilt nach der Ursprungsbiennale, der Biennale di Venezia (1895), als zweitälteste Biennale überhaupt. Mit der Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Westeuropa und den USA neben den brasilianischen Beiträgen etablierte sich São Paulo zum repräsentativen Standort und Kunstmetropole. »1952 erstmals veranstaltet und von einem Angehörigen einer italienischen Einwandererfamilie begründet, war sie ganz dem Vorbild der Venedig Biennale verpflichtet
254 255
Araeen 2003: 155. Peluffo Linari 2005: 49.
176 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS und darauf angelegt, einem sich modernisierenden Brasilien die Ikonographien und Innovationen der westlichen Kunstavantgarde zu vermitteln, dabei auch historische Meisterwerke der europäischen Kunst ins Land zu holen und so eine vermeintliche kulturelle Kontinuität und geistige Nachbarschaft zwischen Brasilien und Europa zu dokumentieren.«256
Die beteiligten brasilianischen GegenwartkünstlerInnen erhielten so die Gelegenheit, ihre Werke in einem lokalen und gleichzeitig überregionalen und internationalen Kontext zu präsentieren. Agnaldo Farias sieht in der ersten Biennale von São Paulo sogar ein mit der documenta vergleichbares Projekt, die vier Jahre später ins Leben gerufen wurde.257 Weitere Beispiele sind die Biennial of Sydney/Australien (seit 1978), die Bienal de la Habana/Kuba (seit 1984), die Istanbul Bienali/Türkei (seit 1987), die DakArt/Senegal (seit 1992), die Sharjah Biennial/Vereinigte Arabische Emirate (seit 1993), die Shanghai Biennale (seit 1994), die Gwangju Biennale/Südkorea (seit 1995), die Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst/Russland (seit 2005) oder die Bucharest Biennale/Rumänien (seit 2005). Hervorzuheben ist die kubanische Biennale, die alle drei Jahre in Havanna stattfindet. Während die Biennale von São Paulo sich zunächst dazu verschrieben hatte, ganz bewusst Teil einer internationalen Kunstwelt zu werden, indem sie zeitgenössische Kunstwerke von bereits in der europäischen Kunstwelt etablierten KünstlerInnen ausstellte, lag in Havanna von Anfang an der Schwerpunkt auf der Präsentation nicht-europäischer und nicht-US-amerikanischer KünstlerInnen. Die ausgestellten Werke stammen bis heute hauptsächlich aus Asien, dem mittleren Osten, Afrika, Lateinamerika und der Karibik. Im Wesentlichen geht es den Kuratoren/innen der kubanischen Biennale darum, so genannte marginalisierte Kunst und KünstlerInnen in einen Dialog mit der internationalen Kunstwelt zu bringen und damit gleichzeitig die Hegemonialstellung der dominanten Kunstwelten der nordwestlichen Hemisphäre des Globus in Frage zu stellen. So hatte sich auch die zehnte Ausgabe der Biennale, die vom 27. März bis zum 30. April 2009 in Havanna stattfand, in diesem Sinne der Problematik des Wechselspiels von Integration und Widerstand außereuropäischer Kunst in der globalen Kunstwelt gewidmet. »›Integration and Resistance in the Global Era‹ will be the central topic of reflection. Projects and works from Latin America and the Caribbean, Africa, Asia and the Middle East, and to a lesser extent from North America, Europe and Australia will handle the problems of integrating to a highly complex global world due to the peculiarities of so many societies and cultures and the way in which there is an attempt to resist
256 257
Enwezor 2002: 25. Vgl. Farias 1995: 15.
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the hegemonic trends that strive to homogenize from other territories the repertoire of ideas and forms.«258
Indem die Bienal de la Habana bereits in der ersten Ausstellung im Jahr 1984 so gezielt auf die Anliegen von Künstlern/innen eingegangen war, die jenseits des europäischen und US-amerikanischen Mainstreams der globalen Kunstwelt existieren und die nicht zuletzt ihren eigenen lokalen Standort und die lokale Kunstproduktion hervorhob, fungierte sie als wichtiges Vorbild der in den 1980er und den 1990er gegründeten Biennalen. Der lokale Standort der Biennalen und der direkte Bezug zum unmittelbaren künstlerischen Umfeld ermöglicht es den beteiligten Künstlern/innen zum einen ohne großen finanziellen Aufwand ihre Kunst vor Ort zu präsentieren. Das international etablierte Format erlaubt darüber hinaus, die Kunst im übergreifenden Kontext sichtbar zu machen und damit auch den Anschluss an und die Einmischung in die international geführten zeitgenössischen Diskurse. In jener Kopplung der Präsentation lokaler Kunstproduktionen im Rahmen eines Ausstellungsformats, das in Venedig, also in einem der wichtigsten europäischen Kunstzentren entstand, wird das Spannungsverhältnis zwischen einer vermeintlichen Dominanzkultur und einzelnen Lokalkulturen deutlich sichtbar, das die zeitgenössische globale Kunstwelt prägt. Die Biennalen, konzeptuell an die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts angelehnt, lassen sich laut Oliver Marchart als »riesige[n] Ideologiemaschinen oder besser: Hegemoniemaschinen der – bürgerlichen, nationalstaatlichen, okzidentalistischen, europäistischen – Dominanzkultur«259 beschreiben. Auch am Beispiel der Biennalisierung der globalen Kunstwelt wird die Verzahnung von differenzierenden und homogenisierenden Momenten der Globalisierung sichtbar. Die Instrumentalisierung der Biennalen in einem übergreifenden globalen Kontext mit der Absicht, den Anschluss an die internationale Kunstwelt zu erhalten, lässt sich einerseits als Homogenisierungseffekt diagnostizieren. So bemerkt Enwezor in dem Essay »Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form«260, dass »auch der Impetus zu etlichen internationalen Großausstellungen nicht unbedingt darin [liegt], dem lokalen Publikum dadurch ein reicheres und komplexeres Verständnis künstlerischer Bewegungen zu vermitteln, daß Formen und Konzepte international beachteter Kunstproduktion vorgestellt und in Dialog gebracht werden, sondern schlicht, einen unbedingten Willen zur Globalität zu verkünden.«261
258 259 260 261
http://www.bienalhabana.cult.cu/bienaldelahabana/en/home.php? idbienal=10, 08.12.2009. Marchart 2008 : 7. Enwezor 2002. Enwezor 2002: 26.
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Gleichzeitig kommt es aber gerade durch diesen Effekt zu einer »gegenhegemonialen Verschiebung«262, da die Biennalen trotz allem Plattformen darstellen, in denen Neuheiten im Diskurs – häufig gegenläufig zum dominanten Kanon – artikuliert werden. Laut Enwezor liegt das Hauptmerkmal der Biennalen eben »in der Heterogenität der Strategien und Objekte, die sie versammeln«.263 So erkennt Marchart in der weltweiten Biennalisierung eine »Form sukzessiver Kanonverschiebungen«264 und Enwezor »die Möglichkeit zu einem Paradigmenwechsel […], durch den wir als Zuschauer in die Lage versetzt werden, einer Vielzahl von Experimentalkulturen zu begegnen, ohne sie vollständig zu besitzen.«265 Enwezor weist außerdem darauf hin, dass Großausstellungen wie die Biennalen bis auf wenige Ausnahmen Institutionen darstellen, die sich – auch über die Kunstwelt hinaus – ganz gezielt mit Situationen des Umbruchs befassen. Für viele dieser Veranstaltungen lässt sich nachweisen, dass sie in Zeiten politischer und sozialer Übergangsphasen gegründet wurden. Der Autor bezieht sich in seiner Darstellung beispielhaft auf die Gwangju Biennale in Korea und die Johannesburg Biennale. Gleichzeitig verweist er auf die Gründungsidee und das Konzept der documenta. »Im Fall der Documenta lag das kritische Bestreben in dem Versuch, Deutschlands zerstörter Zivilgesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg wieder eine Basis zu verschaffen und einige der künstlerischen und intellektuellen Verbindungslinien wiederherzustellen, die durch die Pogrome der Nazi-Zeit gewaltsam abgeschnitten wurden, als viele der wichtigsten Denker und Leitfiguren der Avantgarde ins Exil und in den Tod getrieben wurden.«266
Die letzten vier documenta-Ausstellungen und die daran angeschlossenen diskursiven Auseinandersetzungen haben sich der Reflexion der Phase des Umbruchs durch Globalisierungsprozesse gewidmet. Damit machten sie auf die starken Tendenzen einer Umstrukturierung des globalen Kunstdiskurses aufmerksam und zeugten von den Bemühungen, internationale Kunst raumund zeitübergreifend in einen gemeinsamen Dialog zu bringen. Vor allem »[m]it der dX und der D11 verdichtete sich eine bereits latent vorhandene Kanonverschiebung symbolisch zu einem Bruch im Kunstfeld, der durchaus auch progressive Effekte hatte. […] Man kann sie [die so entstandenen Verschiebungen, Anm. K.S.] als Achsen der Politik, der postkolonialen Konstellation, der Theorie und der Education bezeichnen. Vor allem mit der D11 kam es zu einer solch mehrfachen Radikalisierung von Strategien des Ausstellungsmachens in Form einer verstärkten
262 263 264 265 266
Enwezor 2002: 10. Enwezor 2002: 20. Enwezor 2002: 9. Enwezor 2002: 30. Enwezor 2002: 21.
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Politisierung, einer Dezentrierung des Westens, einer kompromisslosen Theoretisierung, sowie der gezielten Berücksichtigung der Vermittlungsarbeit.«267
Die »documenta 12« lässt sich als eine Erweiterung dieser Diskurse verstehen, auch wenn sie seitens der Kuratoren/innen auf den ersten Blick nicht so offensichtlich radikal und subversiv geführt wurden. Trotz des Vorwurfs vieler Kritiker, darunter auch der Philosoph Oliver Marchart, die »d12« entzöge sich durch das Hervorkehren des Ästhetischen und der Form jeglicher Politisierung268, verkennen sie, dass das Gesamtprojekt trotzdem oder gerade deshalb eben jene kritisch geführten Dialoge aktiviert; nicht umsonst haben sich der Leiter Roger M. Buergel und seine Ko-Kuratorin Ruth Noack in Konzeption und Gestaltung der »documenta 12« sehr stark an der ersten documenta orientiert, die von Arnold Bode im Jahr 1955 inszeniert worden war.269 Zudem wird häufig übersehen, dass mit dem angeschlossenen Zeitschriftenprojekt »documenta 12 magazines« eine intensive Diskussion entfacht wurde, die der Ausstellung vor-, parallel- und nachgeschaltet und damit weitreichender war, als je in einem der vorhergehenden documentaProjekte. In der exemplarischen Sichtung einiger Beiträge brasilianischer AutorInnen, die im Rahmen des Zeitschriftenprojekts verfasst wurden, zeigt sich im vierten Kapitel, wie fruchtbringend es zur Kontextualisierung der ausgestellten Kunstwerke sein kann, den musealen Repräsentationsrahmen durch einen breit gefächerten Diskurs zu erweitern.
267 268 269
Marchart 2008: 11. Vgl. Marchart 2008: 12. Siehe Buergel 2007: 31.
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3.3.4.2 Der Fall Brasilien – Vereinende Pluralität Habitante do porto, do vai-e-vem das ondas e das idéas, cresci brasileiro, afirmação carregada de sentidos ambíguos e misteriosos. [...] Somos que somos, apesar de nós, por nós e contra nós. Mas, como outro poeta português de olhos também fixos no mar, sempre soube que não sou um, sou muitos.270 GILBERTO GIL
Mit diesen Zeilen skizziert der ehemalige Kulturminister und Musiker Gilberto Gil auf poetische Weise seine kulturelle Identität als Brasilianer. Er sinniert über das Kommen und Gehen der an die brasilianische Küste geworfenen Wellen und Ideen, über von Mehrdeutigkeit und Geheimnissen umwitterte Bedeutungen. Brasilianer sein heißt nicht eine einzelne Person sein, sondern viele. Es meint den Einschluss des Anderen, die Inkorporation seiner Eigenarten genauso wie seiner Gegensätze. Die Vielheit. Das Unheimliche. In diesen wenigen Worten werden grundlegende Aspekte einer gängigen Idee brasilianischer Identität angesprochen. Letztere verkörpert sich im Ausdruck akzeptierter Widersprüchlichkeit, dem symbiotischen Verhältnis von Ungleichheiten, der Akzeptanz von Divergenzen und des Entfernten. Die positive Konnotation der Aussage lässt ein fast romantisches Bild entstehen, das schließlich auch die damit einhergegangenen Problematiken ehemals kolonisierter Länder verschleiert. Diese Art einer grundsätzlich bejahenden Darstellung der brasilianischen Kultur findet sich auch in Fremddarstellungen, vor allem wenn sie auf die kulturelle Vermischung innerhalb des Landes abzielen. Der österreichisch-jüdische Schriftsteller Stefan Zweig, der die letzten zwei Jahre seines Lebens im brasilianischen Exil verlebte, erkannte in Brasilien gar ein Gegenmodell zum Europa der 1940er Jahre, insbesondere durch seinen ›vorbildlichen‹ Umgang mit dem Rassismus: »Während in unserer alten Welt mehr denn je der Irrwitz vorherrscht, Menschen ›rassisch rein‹ züchten zu wollen wie Rennpferde oder Hunde, beruht die brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung aus der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun
270
»Als Bewohner des Hafens, vom Kommen und Gehen der Wellen und der Ideen begleitet, wuchs ich als Brasilianer auf, zur Bestätigung beladen mit mehrdeutigen und geheimnisvollen Bedeutungen. […] Wir sind was wir sind, außer uns, für uns und gegen uns. Jedoch wie ein portugiesischer Poet mit einem fest auf das Meer gerichteten Blick, wusste ich immer, dass ich nicht einer bin, sondern viele.« (Gil 2005: 9; Übersetzung K.S.).
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und Gelb. Was in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament nur theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen und privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen Raum aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und beim Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon die Kinder, die alle Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln – Schokolade, Milch und Kaffee – Arm in Arm von der Schule kommen zu sehen, und diese körperliche wie seelische Verbundenheit reicht empor bis in die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter. […] Darum bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewußten Negierung aller Farbund Rassenunterschiede durch seinen sichtbaren Erfolg den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über unsere Welt gebracht hat als jeder andere.«271
Aktuelle Illustrationen Brasiliens als Land des Karnevals, des Fußballs und des neuerlichen Wirtschaftsaufschwungs unterstreichen diese Vorstellungen. Dass die Auswirkungen des Kolonialismus dennoch fortwirken und gerade der Rassismus in Brasilien bis heute nicht völlig überwunden wurde, ist vor allem in Regionen sichtbar, wo die ökonomischen Engpässe sich stark auf das soziale Gefüge auswirken. Bekannt sind die Statistiken, die belegen, dass in Großstädten wie Rio de Janeiro dunkelhäutige Menschen dreimal häufiger Opfer von Schusswechseln bei Polizeieinsätzen werden als hellhäutige. Auch oder gerade »im realen Raum« – um eine Formulierung Zweigs aufzunehmen – ist eine staatsbürgerliche Gleichheit mitnichten garantiert. Trotz allem schmückt man sich in Brasilien bis heute öffentlich und selbstbewusst mit der gegebenen kulturellen Pluralität. Sie gilt nicht als trennender, sondern als einender Aspekt von Gesellschaft. Und eben jener Schritt, Identität nicht allein auf eine ›reine‹ Ursprünglichkeit, sondern auf Vermischung zu begründen, kann offensichtlich als besonders charakteristischer, ja fast rebellischer Akt gegenüber der europäischen Welt gedeutet werden. »Uma tradição do pensamento brasileiro, muito justa e injustamente criticada, ousou buscar um caminho diferente para contornar essa condenação à diferenciar separatista e tentou (ou tem tentado) correr o risco de pensar ou propor a invenção de uma outra idéia de indentidade nacional, usando o elogio da mistura, de mestiçagem e do sincretismo – e da troca cultural entre diferentes – para combater a idéia da permanência a todo custo.«272
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Zweig 1997: 13-14 »Eine brasilianische Denkart, sehr zu Recht und zu Unrecht kritisiert, wagte einen ungewöhnlichen Weg einzuschlagen, um jene Unbill separatistischen Unterscheidens zu umgehen. Sie unternahm (oder unternimmt bis heute) den riskanten Versuch, die Erfindung einer anderen nationalen Identität zu denken oder vorzuschlagen. Und dies, um durch die Lobpreisung der Vermischung, der Mestizisierung und des Synkretismus – und des kulturellen Aus-
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In den Formulierungen des Ex-Kulturministers finden sich Begriffe wie »offene Tür« oder »quelloffene Software«273, wenn er auf Kultur und ihre Potentiale für die brasilianische Gesellschaft zu sprechen kommt. Inwiefern sich auch Momente von Ursprünglichkeit und einer damit verbundenen Vorstellung von ›Authentizität‹ in der brasilianischen Selbstdarstellung niederschlagen, wird im Folgenden dargelegt.
Exkurs 3: Zusammensetzung der Bevölkerung Brasiliens
Brasilien zeichnet sich durch eine große Bandbreite an unterschiedlichen kulturellen Komponenten aus. Allein die indigene Bevölkerung lässt sich in viele ethnische Gruppierungen und Sprachgruppen differenzieren. Ab dem 16. Jahrhundert siedelten sich im Zuge der Kolonialisierung zunächst vor allem Portugiesen und später Niederländer in Brasilien an. In der Zeit der Sklaverei kamen schätzungsweise bis zu 2 Millionen Afrikaner unterschiedlichster Herkunft in das Land, die die brasilianische Kultur seit ihrer Ankunft maßgeblich geprägt haben. Arbeitsmigration bereichert Brasilien seit seiner Gründung bis in die heutige Zeit mit zahlreichen Zuwanderern aus allen Teilen der Welt. Die größten Einwanderungsgruppen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verzeichnet werden, bilden Italiener, Portugiesen, Spanier, Deutsche, Österreicher, Russen und Japaner.
Die prägnante Repräsentation Brasiliens als kulturell-plurale Nation geht vor allem aus der ab den 1920er Jahren intensivierten Suche nach einer nationalen Identität in Rekurs auf die Moderne hervor. Im Bereich der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik spiegeln sich die Auseinandersetzungen mit den kulturellen Formierungen und Differenzen innerhalb des Landes besonders deutlich wider. Auch sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze dieser Zeit beziehen sich stark auf die Nationalisierungsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Publikationen »Casa Grande e Senzala«274 von Gilberto Freyre (1933) und »Raízes do Brasil«275 von Sergio Buarque de Holanda (1936) gehören zu den bekanntesten und nachhaltigsten Betrachtungen der soziokulturellen Formierung der brasilianischen Gesellschaft zu dieser Zeit. Insbesondere Freyres Werk, das bis über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt wurde, markierte einen Wendepunkt in der brasilianischen Soziologie. Es zeichnet sich durch eine vielschichtige Methodik der Gesellschaftsanalyse aus, die vor allem den Aspekt der kultu-
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tausch zwischen Ungleichen – der Idee der Dauerhaftigkeit um jeden Preis zu trotzen.« (Vianna 2005: 118; Übersetzung K.S.) Gil 2005: 9. Freyre 1933. Buarque de Holanda 1936.
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rellen Vermischung und die herrschende Sozialstruktur als wesentlich für die Entwicklung der brasilianischen Identität mit einbezieht. »Die revolutionäre Rolle von ›Casa Grande e Senzala‹ kommt daher, dass Gilberto Freyre mit diesem Werk zwei Mythen endgültig abbaute, die auf diesem Gebiet vorherrschten: den arianistischen Mythos von der Überlegenheit des weissrassigen Siedlers und den Mythos, wonach die Gesellschaft nicht von der natürlichen Umgebung bestimmt werde.«276
Für die anschließende Analyse ist der Hintergrund der künstlerischen Ansätze seit der Moderne und der damit verknüpften Ideen von besonderem Interesse. Diese unterscheiden sich nicht grundsätzlich von sozialwissenschaftlichen Entwürfen; insbesondere auf dem Gebiet der Literatur sind die Übergänge zwischen wissenschaftlichen und prosaischen Texten häufig fließend. Insgesamt sind die Debatten innerhalb der Kunst aber nicht so sehr »von der Vereinnahmung der Intellektuellen durch einen autoritären Staat geprägt«277, was sich vor allem bis in die 1980er Jahre deutlich in der brasilianischen Kulturtheorie niederschlägt, sondern repräsentieren die kritischen Gegenstimmen populistischer, gesellschaftspolitischer Rhetoriken. Gerade auf dem Gebiet der bildenden Kunst ist seit der Moderne die kritische Reflexion der eigenen kulturellen Produktion und damit der kulturellen Identität Brasiliens auch im internationalen Kontext besonders deutlich nachvollziehbar. Die in den 1920er Jahren in der brasilianischen Kunstwelt aufkommenden Diskurse erweisen sich durch ihren unmittelbaren Bezug zur Globalisierungsthematik als besonders aufschlussreich für eine kulturwissenschaftliche Analyse der zeitgenössischen internationalen Kunstwelt. 3.3.4.2 Die Ausdifferenzierung einer brasilianischen Identität auf der Basis von kultureller Differenz – Konzepte der Moderne in Brasilien The tree of Western knowledge transplanted to tropical America ceases to be a tree, in the sense of having a structure and an evolution previously defined through a transcendental program. SUELY ROLNIK
Wie viele lateinamerikanische Länder orientierte sich Brasilien stark an europäischen Modellen der nationalen Identitätsfindung. Dem brasilianischen Autor Adriano Bitarães Netto zufolge war es zunächst vor allem die kosmo-
276 277
Vila Nova 1992: 197. Hollensteiner 1994: 161.
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politische Ausrichtung der Kunstszene Frankreichs, die die Entfaltung eines nationalen Empfindens stimulierte. »Através da arte, o cosmopolitismo francês promoveu a nacionalização de muitos países. A abertura de espaço para as alteridades, desencadeada pelos intelectuais europeus, instaurou o fortalecimento de identidades e cedeu voz ao ›instinto de nacionalidade‹ (Assis, 1997: 801-809) tão procurando pelos latino-americanos desde o processo da independência.«278
Entscheidend waren das große Interesse und damit die Wertschätzung von Alteritäten seitens der europäischen Intellektuellen, das heißt besonders der europäischen KünstlerInnen in der Moderne, die das Selbstbewusstsein der nach nationaler Identität dürstenden lateinamerikanischen Länder nachhaltig prägte. Viele brasilianische KünstlerInnen der 1920er/30er Jahre fühlten sich von der Moderne-Bewegung Europas angezogen und hielten sich einige Zeit in den europäischen Metropolen auf. Tarsila do Amaral beispielsweise, die eine der HauptvertreterInnen der brasilianischen Modernebewegung darstellt, studierte unter anderem zwei Jahre in Paris und bereiste West- und Osteuropa. Auch der Maler Cândido Portinari, Sohn italienischer Eltern, verbrachte zwei Jahre seiner künstlerischen Ausbildung in der französischen Hauptstadt. Anita Malfatti absolvierte vier Jahre ihres Kunststudiums in Berlin – auch sie darf als eine der MitbegründerInnen der Moderne-Bewegung in Brasilien gelten. Das ausschlaggebende Interesse der europäischen KünstlerInnen der Moderne wiederum galt insbesondere dem ›Fremden‹ und ›Exotischen‹. Ihre Verzückung angesichts der vermeintlich angetroffenen ›Wildheit‹, des ›Barbarischen‹ und ›Primitiven‹ in der indigenen, außereuropäischen Kunst verhalf Ihnen zur Erzeugung subversiv extravaganter Bilder, die die traditionellen Festschreibungen in der europäischen Kunst des 19. Jahrhunderts maßgeblich provozierten. »O primitivismo dos indígenas e africanos passou a ser não só uma temática em exposição, mais o próprio norteamento estético pretendido pelos intelectuais das vanguardas do início do século, principalmente dadaístas, cubistas e surrealistas.«279 Pablo Picasso wurde bereits als einer der Begründer dieser Bewegungen genannt. Wie er entdeck-
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»Durch die Kunst förderte der französische Kosmopolitismus die Nationalisierung vieler Länder. Die Öffnung des Raumes für Alteritäten, entfesselt durch die europäischen Intellektuellen, förderte das Erstarken der Identitäten und verlieh dem ›Nationalgefühl‹ (Assis, 1997: 801-809), nach dem die Lateinamerikaner seit den Unabhängigkeitsbewegungen so sehr gesucht hatten, eine Stimme.« (Netto 2004: 19; Übersetzung K.S.). »Der Primitivismus der Indianer und Afrikaner wurde nicht nur zu einer Thematik der Darstellung, sondern der eigentliche ästhetische Wegweiser der Avantgarde-Intellektuellen zu Beginn des Jahrhunderts, insbesondere der Dadaisten, Kubisten und Surrealisten.« (Netto 2004: 23; Übersetzung K.S.).
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ten viele EuropäerInnen in den ozeanischen, afrikanischen und amerikanischen ›barbarischen Götzenbildern‹ die (Vor-)Bilder, mit denen sie den erwünschten Bruch in bzw. mit der traditionellen europäischen Kunst herbeiführen konnten. Diese Symbole wirkten wiederum auf die lateinamerikanischen Avantgarden zurück, die sich nach Europa wandten und dort überraschenderweise ihre eigenen künstlerischen Ursprünge entdeckten. »As vanguardas americanas foram buscar na Europa o novo e encontraram a própria tradição.«280 Die Würdigung indianischer und afrobrasilianischer Kunst seitens brasilianischer KünstlerInnen in Brasilien erlangte jedoch eine andere Bedeutung als in den primitivistischen Strömungen der europäischen Moderne. Während in Europa durch die Rezeption ›primitiver‹ Kunst bewusst mit den dort vorherrschenden künstlerischen Traditionen zugunsten der Formulierung einer neuen, universalen Formensprache gebrochen wurde, diente die Wiederbelebung der vorkolonialen künstlerischen Traditionen in Brasilien der Schaffung einer explizit brasilianischen Kunst und Kultur. So ließ sich hier nicht Ablehnung gegenüber Tradition, sondern die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln beobachten. »Se a Europa buscava na arte negra e indígena romper com a tradição de sua cultura secular para instaurar um movimento de ruptura, essa não deveria ser o caminho do Brasil, que não tinha ainda o que destruir, mas estava em nascente processo de construção.«281 Indem die indigenen Kulturen neu wertgeschätzt wurden, gewann die Geschichte Brasiliens auch für die Zeit vor der Kolonialisierung an Bedeutung und erzeugte eine Art vorkolonial geprägtes Selbstbewusstsein. So entwickelte sich der Primitivismus im (An-)Erkennen der Potentiale eigener kultureller Grundlagen zu einem zentralen Thema in der brasilianischen Kunst und Literatur. Der durch die Kulturanthropologie, die Psychoanalyse, die Philosophie und die Avantgarde-Bewegungen transportierte Primitivismusdiskurs führte in Brasilien darüber hinaus zu dem Bewusstsein, dass die eigene Kultur und die nationale Gegenwartskunst der ausländischen Kunst nicht untergeordnet war, sondern ein durchaus repräsentatives Exportmittel darstellte. Diese Erkenntnisse forderten jedoch zahlreiche Widersprüche und damit auch eine gewisse Polemik heraus: »A recorrência do primitivismo foi polêmica no modernismo justamente porque os intelectuais se dividiram em relação a ele: para alguns, esse rótulo era marca da cultura brasileira, para outros era simples réplica do exotismo
280 281
»Auf der Suche nach dem Neuen stießen die amerikanischen Avantgarden in Europa auf ihre eigene Tradition.« (Netto 2004: 19; Übersetzung K.S.). »Während Europa in der schwarzen und der indianischen Kunst einen Bruch mit der Tradition der eigenen weltlichen Kultur suchte, um eine Gegenbewegung einzuführen, sollte dies nicht der Weg Brasiliens sein, das bisher selbst nichts zu zerstören hatte, sondern erst mitten im Prozess der Selbstwerdung steckte.« (Netto 2005: 63; Übersetzung K.S.).
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europeu.«282 Das Oszillieren zwischen kritischer Ablehnung europäischer Einflüsse und ihrer bewussten Inanspruchnahme auf der Suche nach einem ›authentischen‹, international als eigenständig anerkannten Brasilien, das heißt die Auseinandersetzung mit scheinbar unauflöslichen Widersprüchlichkeiten, prägt die brasilianische Kultur bis heute. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Kunstdiskurse haben sich mit der Zeit immer wieder gewandelt, nicht zuletzt durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftspolitischen Standards. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert hatte man sich noch vehement mit der Schaffung einer brasilianischen Identität auseinandergesetzt und nach Formulierungen und Formen der Darstellung einer so genannten Brasilianität gesucht, was mit der vorherrschenden Staatsraison noch in Einklang zu bringen war. Die in den 1960er Jahren entstandene tropicália-Bewegung wandte sich gut dreißig Jahre später nun gerade gegen künstlerische Repräsentationen einer nationalen Identität, die sich mit den Vorstellungen der politischen Führung hätte decken können. Die musik-, kunst-, literatur- und theaterübergreifende Strömung bezog gegen den propagierten neoliberalen Mainstream und die elitäre bzw. konservativ-patriarchalische Kultur der militärischen Führungselite Stellung. Das Interesse der tropicalistas lag nicht mehr in der Suche nach Ursprünglichkeit, sondern allein in dem Moment der kreativen Vermischung verschiedener Kulturelemente: »Die Idee von Ursprung, Original und Authentizität ist obsolet geworden, es geht weder um die Verteidigung oder Erfindung eines Stammbaums der Nation, noch stellt sich länger das Problem der Verbindung von Tradition und Moderne. Das Plädoyer gilt dem Entstehen multipler Identitäten ohne die politische Logik der Vermischung als einer ›natürlichen Geschichte‹. […] Das Entscheidende des Tropicalismo ist es, gerade nicht zur kulturellen Dominante zu werden, sondern die Modelle, die zur Konstruktion kultureller Paradigmen in Brasilien dienen, zu durchkreuzen und durcheinanderzubringen.283
Viel stärker noch als in der Moderne nahm man Bezug auf die DifferenzRelationen einer zunehmend globalisierten Welt und auf die Positionierung Brasiliens im internationalen Kontext. Neben der Selbstfindung und der Selbstdarstellung hat auch die Repräsentation von außen immer eine entscheidende Rolle in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Identität Brasiliens gespielt. »Brazil is not
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283
»Durch die Berufung auf den Primitivismus im Modernismus wurde eine Polemik hervorgerufen, die sich in der Spaltung des Lagers der Intellektuellen widerspiegelte: für einige bedeutete der Rekurs auf das Primitive das Aushängeschild der brasilianischen Kultur, für andere wiederum erschien er als eine einfache Replik des europäischen Exotismus.« (Netto 2005: 66; Übersetzung K.S.). Spielmann 1994: 153.
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›what it is‹ but how it is seen: its reality is imbued with its representation.«284 Gerade zeitgenössische Kunstwerke wie das Video der brasilianischen Künstlerin Sandra Kogut »What Do You Think People Think Brazil Is?« (1990) veranschaulichen, wie stark die Identitätsfindung sowohl auf Selbstdarstellung als auch auf Fremddarstellung gründet. »[…] in the case of Brazil we could say that national identity is specifically constituted by the permanent rephrasing of the question of what Brazil is. It is a question that has been obsessively asked and sung in an impressive number of Brazilian songs, films and poems, and each new answer adds to the substance of the question and prompts a new way of addressing it. […] The question of what we are is closely related to the question of how we are represented both by others and by ourselves, Brazil being a land of ›exoticism‹ in which the whole world projects desires of joy, beauty, nature, and sexual liberation. So the question of Brazil is not only what Brazil is; perhaps the question really is Sandra Kogut’s, ›What do you think People Think Brazil Is?‹«285
Hervorgehoben und positiv besetzt wird hierbei erneut ganz klar das Fragmentarische der kulturellen Identität des Landes. Aufgegriffen wird auch die Praxis der Selbstexotisierung, eine Strategie, die an die ModerneBewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Brasilien angelehnt ist. Gleichzeitig ist hier aber eine kritische Haltung gegenüber Klischees zu beobachten, die auf die starke (Selbst-)Exotisierung des Landes zurückgehen. Während Stereotype einerseits zum Aufbau eines kulturellen Selbstbewusstseins dienen, enthält ihre Darstellung vor allem heute auch ein gewisses Maß an Ironie, was ihr schrittweises Aufbrechen erlaubt. »By exposing stereotypes, we can – at least temporarily – deconstruct them.«286 3.3.4.3 Antropofagia – Über das Prinzip des Einverleibens von Kultur(en) Só me interessa o que não é meu. Lei do homem. Lei do antropófago. OSWALD DE ANDRADE
In der Videoinstallation »Funk Staden« des brasilianisch-schweizerischen Künstlerduos Mauricio Dias und Walter Riedweg, die im Jahr 2007 auf der »documenta 12« im Schloss Wilhemshöhe gezeigt wurde, werden auf drei Leinwänden Aufnahmen einer Tanzparty auf den Dächern einer favela in Rio de Janeiro gezeigt. Die Teilnehmer umtanzen zu dröhnender FunkMusik ein Feuer, in dem sie die Gliedmaßen und einen Torso einer weißen
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Reynaud 2000: 87. Reynaud 2000: 84-85. Reynaud 2000: 85.
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Schaufensterpuppe verbrennen. Die funkeiros spielen tatsächlich neun, zwischenzeitlich in den Film eingeblendete Abbildungen nach, die aus dem Bericht des Landsknechts Hans Stadens stammen. Dieser erlitt im 16. Jahrhundert an der Küste Brasiliens Schiffbruch und wurde daraufhin geraume Zeit von Tupinambá-Indianern gefangen gehalten. In seiner »Wahrhaftige(n) Historia der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute – 15481555« erzählt der mit dem Leben davongekommene Staden in Text und Bild von den Erlebnissen bei den menschenfressenden Indianern Brasiliens. »Dias und Riedweg übertragen diese Geschichte in die Funk-Kultur der Favelas von Rio de Janeiro. Inspiriert vom ›Ibirapema‹, tragen sie drei Kameras, die an der Spitze eines hölzernes Stabs befestigt sind – dieses rituelle Objekt schmückten die Frauen der Tupinambá, bevor die Feinde damit getötet und verzehrt wurden. Die technische Keule wird zu einem Baile-Funk von Hand zu Hand gereicht.«287
Das Kunstwerk thematisiert das historische Aufeinandertreffen von Europa und Brasilien. In der Nachahmung der rituellen Szenen aus der Geschichte Hans Stadens wird die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden. Die anthropophage Praxis der Tupinambá versinnbildlicht den Umgang mit dem Fremden, oder vielmehr das sprichwörtliche Verzehren des Anderen. »Funkeiros verschlingen die elektronische Technologie und benützen sie für ihren überlieferten Kriegsgesang. Die tanzenden Augen der IbiparemaKameras schneiden durch die Schichten von Stereotypen, welche uns vom Anderen trennen und diese Gewalt in dieser Verbindung unterschlagen.«288 Das Video zeigt, wie sich die Praxis des selektiven Einverleibens von fremden Elementen auf den heutigen Umgang mit Differenzen übertragen lässt. Die Parallelsetzung von den in den favelas lebenden funkeiros und den Tupinambá-Indianern aus der Erzählung Stadens macht zudem deutlich, wie stark die Wirkungsweisen von Stereotypen und Klischees durch mediale Darstellungen erhalten geblieben sind. Die filmische Inszenierung als Neuauflage der illustrierenden Holzschnitte des Reiseberichts aus dem 16. Jahrhundert verstärkt diesen Effekt. »The work shows how the representation of the other in the early days of interactions between Europeans and indigenous tribes from the New World probably differs not that much from how nowadays media, in a modern way, use their authority to marginalise certain groups from society to the benefit of political or industrial powers.«289
Die Figur des Anthropophagen hat seit der Entdeckung Brasiliens im Jahr 1500 eine wesentliche Rolle sowohl für die fremde als auch für die eigene
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documenta/Museum Fridericianum 2007a: 232. documenta/Museum Fridericianum 2007a: 232. http://vleeshal.nl/en/tentoonstellingen/dias-riedweg-funk-staden, 07.10.2009.
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kulturelle Wahrnehmung Brasiliens gespielt. Zunächst als Motiv des abschreckenden, fernen und unfassbaren kulturell Anderen, später als ins Positiv verkehrte Basiselement des brasilianischen Selbstbewusstseins. Im Folgenden wird ein Konzept vorgestellt, das im künstlerischen Feld der 1920er Jahre in Brasilien entwickelte wurde und das gerade in der Aufnahme oder vielmehr im Einverleiben äußerer Einflüsse das Potential der brasilianischen Kultur erkannte: die antropofagia. Sie steht als Modell für kreatives Assimilieren vom Fremden und als Absage an Vorstellungen kultureller Reinheit sowie für die absolute Bejahung kultureller Pluralität. »As the modern writer Oswald de Andrade used to say, our cultural functioning is marked by cannibalism. Like tribal warriors who eat their enemies’ hearts to appropriate their power and knowledge, Brazilians are always eating the ›other‹, digesting it, and making it appear in a different form. That is why in the case of Brazil, claims for cultural or ethnic purity can scarcely be made.«290
Es wird sich zeigen, dass diese bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Ideen von hoher Brisanz für die zeitgenössische kulturwissenschaftliche Forschung sein können. Das Konzept der antropofagia erweist sich als außergewöhnlich anschlussfähig an die aktuellen Globalisierungsdebatten. Dabei kann es zum Beispiel als Anknüpfungspunkt für den Umgang mit den sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensivierenden Problematiken kultureller Vermischungen in den westeuropäischen Ländern dienen. Letztere sehen sich aktuell mit Erfahrungen kultureller Konflikte konfrontiert, die in den kolonisierten Gebieten bereits seit dem 16. Jahrhundert das Leben bestimmten. Die deutsche Künstlerin, Kuratorin und Kunsthistorikerin Elke aus dem Moore bemerkt dazu sehr treffend, dass »[d]ie Diskussion über Transfertauglichkeit anthropophager Ideen und Strategien fast unumgänglich [sei] angesichts der enormen Verdauungsprobleme der westlichen Kultur und ihrer Angst vor dem Anderen/Fremden.«291 Im Jahr 1928 veröffentlichte Oswald de Andrade in der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Revista de Antropofagia« das »Antropophagische Manifest«. Der brasilianische Schriftsteller aus São Paulo gilt als einer der Begründer des Movimento Antropófago, das sich im Nachhall der »Semana de Arte Moderna«292 in São Paulo formierte und auch besagte Zeitschrift herausgab, in der das Manifest erstmals abgedruckt wurde. Die Bewegung, die sich aus brasilianischen KünstlerInnen zusammensetzte, suchte im brasilianischen Modernismo eine Möglichkeit, sich gegen die geistige Kolonialisierung zu behaupten. »Peste do chamados povos cultos e cristianizados, é
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Reynaud 2000: 82-83. Moore 2007: 102. Die »Semana de Arte Moderna« fand im Jahr 1922 als erste große Ausstellung moderner brasilianischer Kunst in São Paulo statt.
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contra ela que estamos agindo. Antropófagos.«293 Das von Andrade formulierte Manifest kann jedenfalls als theoretischer Kern der anthropophagen Strömung begriffen werden. Inspiriert wurde Andrade von einem Bild, das ihm seine Frau, die Künstlerin Tarsila do Amaral, im Januar des Jahres 1928 zum Geburtstag geschenkt hatte und das den Titel »Abaporu« trägt. Diese Bezeichnung aus dem Tupí-Guaraní bedeutet übersetzt Anthropophage, Menschenfresser. »Por ser ainda uma imagem que causava desconforto e pânico, o ritual antropofágico passou a circular nas artes como um adequado instrumento de agressão para se criticar a sociedade capitalista, a arte acadêmica e o conceito de civilização dos europeus.«294 Primär ist das »Anthropophagische Manifest« als subversiver Akt zu sehen, als eine Revolte der Kolonisierten gegen die Kolonisatoren. Körperliche Gewalt wird durch aggressive und respektlose sowie sarkastische und parodistische Formulierungen substituiert. Die anthropophage Metaphorik, das heißt das metaphorische Verschlingen des Anderen, des Fremden, steht dabei im Mittelpunkt. Der Kannibalismus, ein Schlüsselthema in der Repräsentation des Primitiven und damit Legitimation der Europäer für Unterdrückung und Gewalt gegen die Indianer, wird nun zur »Waffe gegen repressive gesellschaftliche, politische und intellektuelle Beschränkungen«, um damit »die ursprüngliche, authentische Basis der brasilianischen Gesellschaft wieder frei zu legen.«295 Diese Basis findet Andrade im Ritual der Tupí-Indianer, »den als tapfer und wertvoll angesehenen Feind zu verschlingen, um sich durch die Einverleibung dessen Kräfte und Tugenden anzueignen, um so letztendlich die eigene Autonomie zu sichern.«296 Der Text des Manifests selbst ist anthropophagisch, indem er Vorbilder aus der europäischen Kunst und Literatur für sich in Anspruch nimmt, nicht ohne sie jedoch gleichzeitig zu verunglimpfen. »Tupí or not tupí, that is the question.«297
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»Seuche der sogenannten gesitteten und christianisierten Völker, sie ist es, gegen die wir handeln. Anthropophagen.« (Andrade 1928: Übersetzung K.S.). »Als Bild, das immer noch Unbehagen und Panik auslöste, zirkulierte das antropophagische Ritual in den Künsten als adäquates Angriffsmittel zur Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft, der akademischen Kunst und dem Zivilisationskonzept der Europäer.« (Netto 2004: 27; Übersetzung K.S.). Sandführ 2005: 47. Sandführ 2005: 47. Andrade 1928.
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Exkurs 4: Manifesto Antropófago Só a antropofagia nos une. Soacialmente. Economicamente. Filosoficamente. Única lei do Mundo. Expressão mascarada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiões. De todos os tratados de paz. Tupi, or not tupi that is the question. Contra todas as catequeses. E contra a mão dos Gracos. Só me interessa o que não é meu. Lei do homem. Lei do antropófago. Estamos fatogados de todos os maridos católicos suspeitosos postos em drama. Freud acabou com o enigma mulher e com outros sustos da psicologia impressa. O que atropelava a verdade era roupa, o impermeável entre o mundo interior e o mundo exterior. A reação contra o homem vestido. O cinema americana informará. Filhos do sol, mãe dos viventes. Encontrados e amados ferozmente, com toda a hipocrasia da saudade, pelos imigrados, pelo traficados e pelos touristes. No país da cobra grande. Foi porque nunca tivemos gramáticas, nem coleções de velhos vegetais. E nunca soubemos o que era urbano, suburbano, fronteiriço e continental. Preguiçosos no mapa-múndi do Brasil. Uma consciência participante, uma rítmica religiosa. Contra todos os importatdores de consciência enlatada. A existência palpável da vida. E a mentalidade pré-lógica para Sr. Lévi-Bruhl estudar. Queremos a Revolução Caraíba. Maior que a Revolução Francesa. A unificação de todas as revoltas eficazes na direção do homem. Sem nós a Europa não teria a sua pobre declaração dos direitos do homem. A idade de ouro anunciada pela América. A idade de ouro. E todas as girls. Filição. O contato com o Brasil Caraíba. Ori Villegaignon print terre. Montaigne. O homem natural. Rousseau. Da Revolução Francesa ao Romantismo, à Revolução Bolchevista, à Revolução Surrealista e ao bárbaro tecnizado de Keyserling. Caminhamos. Nunca fomos catequizados. Vivemos através de um direito sonâmbulo. Fizemos Cristo nascer na Bahia. Ou em Bélem ou Pará. Mas nunca admitidos o nascimento da lógica entre nós. Contra o Padre Vieira. Autor do nosso primeiro empréstimo, para ganhar comissão. O rei-analfabeto dissera-lhe: ponha isso no papel mas sem muita lábia. Fez-se o empréstimo. Gravou se o açucar brasileiro. Vieira deixou o dinheiro em Portugal e nos trouxe a lábia. O espírito recusa-se a conceber o espírito sem o corpo. O antropomorfismo. Necessidade da vacina antropofágica. Para o equilíbrio contra as religiões de meridiano. E as inquisiões exteriores. Só podemos atender ao mundo orecular. Tínhamos a justiça codificação da vingança. A ciência codificação da Magia. Antropofagia. A transformação permanente do Tabu em totem.
192 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS Contra o mundo reversível a as idéias objetivadas. Cadaverizadas. O stop do pensamento que é dinâmico. O indivíduo vítima do sistema. Fonte das injustiças clássicas. Das injustiças românticas. E o esquecimento das conquistas interiores. Roteiros, roteiros, roteiros, roteiros, roteiros, roteiros, roteiros. O instinto Caraíba. Morte e vida das hipótesis. Da equação eu. Subsistência. Conhecimento. Antropofagia. Contra as elites vegetais. Em comunicação com o solo. Nunca fomos catequizados. Fizemos foi Caranaval. O índio vestido de senador do Império. Fingindo de Pitt. Ou figurando nas óperas de Alencar cheio de bons sentimentos portugueses. Já tinhamos o comunismo. Já tínhamos a língua surrealista. A idade de ouro. Catiti Catiti Imara Notiá Notiá Imara Ipeju A magia e a vida. Tínhamos a relação e a distribuição dos bens físicos, dos bens morais, dos bens dignários. E sabíamos transpor o mistério e a morte com o auxílio de algumas formas gramaticais. Perguntei a um homem o que era o Diretio. Ele me respondeu que era a garantia do exercício da possibilidade. Esse homem chamava-se Galli Mathias. Comi-o. Só não há determinismo onde há mistério. Mas que temos nós com isso? Contra as hisórias do homem que começam no Cabo Finisterra. O mundo não datado. Não rubricado. Sem Napoleão. Sem César. A fixação do progresso por meio de catálogos e aparelhos de televisão. Só a maquinaria. E os transfusores de sangue. Contra as sublimações antagônicas. Trazidas nas cravelas. Contra a verdade dos povos missionários, definida pela sagacidade de um antropófago, o Visconde de Cairu: - É metira muitas vezes repetida. Mas não foram cruzados que vieram. Foram fugitivos de uma civilização que estamos comendo, porque somos fortes e vingativos como o Jabuti. Se Deus é a consciência do Universo Incriado, Guaraci é a mãe dos viventes. Jaci é a mãe dos vegetais. Não tivemos especulação. Mas tínhamos adivinhação. Tínhamos Política que é ciência da distribuição. E um sistema social-planetário. As migrações. A fuga dos estados tediosos. Contra as escleroses urbanas. Contra os Conservatórios e o tédio especulativo. De William James e Voronoff. A transfiguração do Tabu em totem. Antropofagia. O pater famílias e a criação da Moral da Cegonha: Ignorância real das coisas + fala de imaginação + sentimento de autoridade ante a prole curiosa. É preciso partir de um profundo ateísmo para se chegar à idéia de Deus.
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Mas a caraíba não precisava. Porque tinha Guaraci. O objectivo criado reage como os Anjos da Queda. Depois Moisés divaga. Que temos nós com isso? Antes dos portuegueses descobrirem o Brasil, o Brasil tinha descoberto a felicidade. Contra o índio de tocheiro. O índio filho de Maria, afilhado de Catarina de Médicis e genro de D. Antônio de Mariz. A alegria é a prova dos nove. No matriarcado de Pindorama. Contra a Memória fonte do costume. A experiência pessoal renovada. Somos concretistas. As idéias tomam conta, reagem, queimam gente nas praças públicas. Suprimamos as idéias e as outras paralisias. Pelos roteiros. Acreditas nos sinais, acreditas nos instrumentos e nas estrelas. Contra Goethe, a mãe dos Gracos, e a Corte de D. João VI. A alegria é a prova dos nove. A luta entre o que se chamaria Incriado e a Criatura – ilustrada pela contradição permanente do homem e o seu Tabu. O amor cotidiano e o modusvivendi capitalista. Antropofagia. Absorbção do inimigo sacro. Para transformá-lo em totem. A humana aventura. A terrena finalidade. Porém, só as puras elites conseguiram realizar a antropofagia carnal, que traz em si o mais alto sentido da vida e evita todos os males identificados por Freud, males catequistas. O que se dá não é uma sublimação do instinto sexual. É a escala termométrica do instinto antropofágico. De carnal, ele se toma eletivo e cria a amizade. Afetivo, o amor. Especulativo, a ciência. Desvia-se e transfere-se. Chegamos ao aviltamento. A baixa antropofagia aglomerada nos pecados de catecismo – a inveja, a usura, a calúnia, o assassinato. Peste dos chamados povos cultos e cristianizados, é contra ela que estamos agindo. Antropófagos. Contra Anchieta cantando as onze mil virgens do céu, na terra de Iracema, – o patriarca João Ramalho fundador de São Paulo. A nossa independência ainda não foi proclamada. Frase típica de D. João VI: – Meu filho, põe essa coroa na tua cabeça, antes que algum aventureiro o faça! Expulsamos a dinastia. É preciso expulsar o espírito bargantino, as ordenações e o rapé de Maria da Fonte. Contra a realidade social, vestida e opressora, cadastrada por Freud – a realidade sem complexos, sem loucura, sem prostituções e sem penitenciáras do matriarcado de Pindorama.
Oswald de Andrade Em Piratininga Ano 374 da Deglutinação do Bispo Sardinha298
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Andrade 1928 (Übersetzung im Anhang).
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Der Vorgang des Verzehrens, des Verdauens und des Ausscheidens versteht sich als Allegorie für das kreative Prinzip der Auseinandersetzung mit und des Einbeziehens von fremden kulturellen Einflüssen. Der durch die europäische Moderne stimulierte Primitivismus, der Mythos des barbarischen Wilden, erfährt hier eine Umkehrung, eine positive Re-Formulierung. »In seinem anthropophagischen Manifest fordert Andrade in aggressiver Manier die Autorität des Zentrums heraus, indem er eine radikale Neubewertung der Opposition des zivilisierten Dort und des wilden Hier vornimmt, in welcher das wilde Hier aufgewertet werden soll. Dieses Konzept impliziert die positive Wertung der Anthropophagie und steht damit im Kontrast zur Ablehnung des anthropophagen Primitivismus in der sogenannten zivilisierten Welt.«299
Die Gleichzeitigkeit von Ablehnung und Aufnahme der Kultur der Kolonialherren erweist sich nicht etwa als Widerspruch, sondern als Kernstrategie der modernen Anthropophagen. Die dominante Kultur wird nicht tabuisiert, sondern wie ein gefürchtetes Totemtier rituell verschlungen. Kraft und Energie gehen damit auf den Konsumenten über – das Tabu wird zum Totem. »A transformação permanente do Tabu em totem.«300 Insgesamt wird der Akt des Verzehrens vom Fremden positiv dargestellt. Kulturelle Vermischung und die gegenseitige Einflussnahme wird nicht als notwendiges Übel, sondern als logischer Tatbestand, als einzigartiges Gesetz anerkannt: »Única lei do mundo. Expressão mascerada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiões. De todos os tratados de paz.«301 Im Akt des metaphorischen Verschlingens des Anderen zelebriert die antropofagia das positive Potential von Assimilation. Dabei wird die Vorstellung einer strikten Trennung von Innen und Außen in der Assoziation der kulturellen Assimilation mit der Nahrungsaufnahme gelockert. Völlige Autonomie ist nicht möglich, da zum Überleben immer Elemente von außen eingenommen werden müssen. Es besteht natürlich durchaus immer die Gefahr, etwas Unverdauliches zu sich zu nehmen. Der Vorgang des Ausscheidens von Überflüssigem und Schlechtem wird aber auch als durchaus vorteilhaft beschrieben. Hier tritt das subversive, gewalttätige Element des Ausgrenzens wiederum deutlich zutage. »Para os dadaístas, as metáforas da devoração e da digestão não se limitaram apenas à conotacão antropofágica de absorbção enriquecedora, mas estavam associadas a
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Sandführ 2005: 45. »Die ständige Verwandlung von Tabu in Totem.« (Andrade 1928; Übersetzung K.S.). »Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck aller Individualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.« (Andrade 1928).
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uma prática de higienização da arte. Devorar e digerir não têm, nesse caso, o sentido de assimilar o outro, mas apenas de eliminá-lo, assassiná-lo.«302
Man hat es also keinesfalls mit einer Form friedlicher oder gar romantisierender Hybridisierung von Kultur zu tun. Die Anthropophagie muss in erster Linie als eine rebellische Strategie kulturellen (Über-)Lebens betrachtet werden. Assimilation bedeutet mitnichten die völlige Anpassung, Unterordnung oder Einreihung in das dominierende kulturelle Schema. Die Voraussetzung für anthropophagisches Denken und Handeln ist vielmehr das Bewusstsein für Differenzen, die durch den Akt des Verschlungenwerdens nicht neutralisiert oder aufgelöst, sondern im Verdauungsprozess verwandelt und damit nutzbar gemacht werden. »Die kannibalistische Rede trennt implizit immer zwischen Wir und Nicht-Wir, daher erscheint der Kannibale prädestiniert für die Konstruktion einer Differenz zwischen Eigenem und Fremden und ist in der Tat eine Schlüsselfigur in der Repräsentation des so genannten Primitiven. Kannibalismus wird genutzt, um den anderen auszugrenzen, um Aggression gegen den anderen zu rechtfertigen, der durch seine Andersartigkeit die Körperpolitik bedroht und deshalb verdient, durch Assimilation inkorporiert zu werden.«303
In der bewussten Verstärkung des anthropophagischen Charakters – nicht in seiner Auflösung oder Relativierung! – liegt die Argumentation für die spezifische kulturelle Beschaffenheit Brasiliens. Die Menschenfresserei als »Jenseits-der-Grenze-Phänomen«304 ist das tragende Element des Konzepts der antropofagia. Anders sein wird zur Strategie. Fremdrepräsentationen werden nicht kategorisch abgelehnt, unterdrückt oder aufgelöst, sondern zur Konstruktion des brasilianischen Selbst (um-)funktionalisiert. »Menschenfresser waren und sind ein ›Jenseits-der-Grenze‹-Phänomen. Sie existieren immer nur dort, wo und nur solange wie es eine Grenze gibt zwischen der Welt der Berichterstatter und jener ganz anderen Welt, deren Unkenntnis die Hypothese von der möglichen Existenz des ganz und gar anderen, selbst des Undenkbaren permanent bestärkt.«305
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»Für die Dadaisten beschränkten sich die Metaphern des Verschlingens und der Verdauung nicht nur auf die anthropophagische Bedeutung der bereichernden Aufnahme, sondern wurden mit einer Praxis der Reinigung der Kunst assoziiert. Verschlingen und Verdauen meinte in diesem Sinn nicht, das Andere zu assimilieren, sondern es einfach zu eliminieren, es zu töten.« (Netto 2004: 29). Sandführ 2005: 43. Frank 1987. Frank 1987: 200.
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In diesem Sinne leitet sich das authentisch Brasilianische unter anderem durchaus selbstbewusst aus den häufig übertrieben exotisierenden Darstellungen durch den europäischen Beobachter ab. Auf die europäischen Repräsentationen zurückgreifend und diese für sich selbst nutzbar machend, behält das Brasilianische das ›Exotische‹, das ›Primitive‹ als identitätsstiftende Narrative bei. Dies geschieht nicht ohne (Selbst-)Ironie, wie es in Andrades Manifest ablesbar ist. Sowohl das Bewusstsein als auch die Aufrechterhaltung von Differenzen spielen für die brasilianische Identitätsbildung eine tragende Rolle. Die fast schon trotzige Umkehrung der pejorativen Bedeutung des ›Primitiven‹, der Anthropophagie, dient damit der positiven Selbstrepräsentation. Antropofagia wird zum Aushängeschild Brasiliens – als Fremdrepräsentation importiert und selbstdarstellend exportiert. Das Werk Andrades kann als Meilenstein dafür interpretiert werden, die kulturelle Zerrissenheit des Landes in weiten Teilen untergraben zu und den Export von nationaler Alterität und Differenz auf den internationalen Markt initiiert zu haben.306 Die gegenseitige Abhängigkeit von Selbstdarstellung und Fremddarstellung wird so zum brisanten Anhaltspunkt, der kritische Auseinandersetzung herausfordert. »Era evidente a necessidade de se repensar o nacional em relação à produção estrangeira, tomando sempre como questão de extrema relevância inverter os papéis entre quem assimila e quem é assimilado. Essas inversões propiciaram um discurso agressivo, utópico e, às vezes, ingênou dos antropófagos e dos modernistas em geral.«307
Der selbstreferentielle Blick, der sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet ist, bildet schließlich auch die Grundlage für ein neues Verständnis der Geschichte Brasiliens. Vor allem durch seine tragisch-karnevaleske Darstellungsweise, den Einsatz von Respektlosigkeit und Ironie bricht Andrade in seinem Manifest mit der epischen, positivistischen Geschichtsschreibung und propagiert die Lossagung von einer Historie, die den europäischen Standpunkt privilegiert. »Contra as histórias do homem que começam no Cabo Finisterra. O mundo não datado. Não rubricado. Sem Napoleão. Sem
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Vgl. Netto 2004: 71. »Die Notwendigkeit, das Nationale im Verhältnis zur ausländischen Produktion zu überdenken, schien offenkundig. Dabei stellte sich immer wieder die Frage nach der Relevanz die Rolle desjenigen, der assimiliert und desjenigen, der assimiliert wird, umzukehren. Diese Umkehrungen begünstigten einen aggressiven, utopischen und manchmal naiven Diskurs der Anthropophagen und der Modernisten im Allgemeinen.« (Netto 2004: 76; Übersetzung K.S.).
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César.«308 So fordert er die karibische Revolution. »Maior que a Revolução Francesa. A unificação de todas as revoltas eficazes na direção do homem.«309 Die Rezeption des »Anthropophagischen Manifests« von Oswald de Andrade erfolgte zunächst im Bereich der Künste. Offensichtlich wird dies sowohl in der Literatur als auch in den Werken der bildenden KünstlerInnen, die letztlich in ihrer Gesamtheit die anthropophagische Bewegung formten. Exemplarisch hierfür ist die bereits erwähnte Gemäldeserie Tarsila do Amarals, die sich in ihren Bildern intensiv mit der (sinnbildlichen) Menschenfresserei auseinandersetzte und damit die Gründung der anthropophagischen Bewegung anregte. Die Metapher des Kannibalismus wurde zum Bestandteil verschiedener Avantgarde-Bewegungen Brasiliens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie dem Dadaismus, dem Surrealismus und dem Fauvismus. Über die brasilianischen Grenzen hinaus fand die antropofagia im europäischen Dadaismus Anklang, der sich ebenfalls – wenn auch in einem anderen Kontext – der satirischen Umstülpung konventioneller Ordnungen verschrieben hatte. Als einer der wichtigsten Ansätze der Moderne Brasiliens tauchte das Konzept im Laufe des 20. Jahrhunderts wiederholt in verschiedenen Debatten in der Kunst auf. Bis heute durchdringt es die Arbeiten brasilianischer KünstlerInnen. Nachdem das Konzept der Anthropophagie in den 1960er Jahren im Zuge der tropicália-Bewegung eine Revitalisierung und Erweiterung erfahren hatte, wurde es vor allem in den 1990er Jahren erneut diskutiert. So stand die von Paulo Herkenhoff und Adriano Pedrosa inszenierte 24. Biennale von São Paulo ganz im Zeichen des kulturellen Kannibalismus. Entscheidend war die intensive diskursive Aufarbeitung des Themas nicht nur im Kontext brasilianischer Kunst und Kultur, sondern in verschiedenen kulturellen Räumen. Herkenhoff und Pedrosa konfrontierten Kuratoren/innen, TheoretikerInnen und KünstlerInnen aus Lateinamerika, den USA, Asien und Europa mit der antropofagia und regten sie zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema in ihrem jeweils spezifischen lokalen und/oder fachlichen Kontext an. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Beiträge310 zeugen von einer hohen interdisziplinären und vor allem globalen Anschlussfähigkeit des Ansatzes. Das Konzept des auch als »Bienal da Antropofagia« bekannt gewordenen Ausstellungsprojekts wird im nächsten Kapitel noch weiter erläutert.
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»Gegen die Geschichten der Menschen, die am Kap Finisterre begonnen haben. Die nicht datierte Welt. Nicht eingeteilt. Ohne Napoleon. Ohne Cäsar.« (Andrade 1928; Übersetzung K.S.). »Größer als die Französische Revolution. Die Vereinigung aller erfolgreichen Revolten zugunsten des Menschen.« (Andrade 1928; Übersetzung K.S.). Die Beiträge erschienen in drei die Ausstellung begleitenden Sammelbänden (Fundação Bienal de São Paulo 1998a, b, c).
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3.3.4.4 Antropofagia und die Idee des kulturellen Zwischenraums – antropofagia als alternatives Hybriditätskonzept? Innerhalb der brasilianischen Kulturtheorie werden Texte wie das »Anthropophagische Manifest« Oswald de Andrades heute neu gelesen und vor allem im Rahmen postkolonialer Auseinandersetzungen kritisch rezipiert. Der Kommunikationstheoretikerin Angela Prysthon zufolge lässt es sich als fundamentaler Text der brasilianischen Kulturtheorie auslegen, als eine Art Zeugnis einer frühreifen lateinamerikanischen Postmoderne. Andrades Manifest kann damit beinahe als Fundament der brasilianischen Kulturwissenschaft(en) und als Maßstab für den postkolonialen Diskurs verstanden werden. »Um dos mais influentes críticos brasileiros contemporâneos, Silviano Santiago, por sua vez, propõe o modernismo brasileiro (e particularmente o modernismo de Oswald de Andrade) como recuperção suplementar da tradução européia, como discurso utópico do ›eterno retorno em diferença‹ (SANTIAGO, 1989, 109), como possibilidade de repensar as vanguardas em relação à tradição (fazendo desse modo uma ponte com o pós-moderno através do discurso modernista), como ponto de partida para a constitução de um pensamento pós-colonial que deconstrua a história da dependência.«311
Von diesem Standpunkt ausgehend entwickelte der hier zitierte Romanist und Literat Silviano Santiago bereits 1969 eine Definition eines (kulturellen) »Zwischenraums« (»entrelugar«), die er bis in die 1990er Jahre weiterentwickelte. In der/den europäischen Kulturwissenschaft(en) ist das Konzept des Zwischenraums weitgehend mit dem indischen Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha verknüpft, der den Begriff 1994 mit dem Buch »The Location of Culture«312 etablierte. Der Ausgangspunkt beider Theoretiker ist ähnlich. Beide entwerfen anhand der Analyse kolonialer und postkolonialer Literatur eine Kulturtheorie, die die seit dem Kolonia-
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»Einer der einflussreichsten brasilianischen Kritiker der Gegenwart, Silviano Santiago, schlägt seinerseits vor, den brasilianischen Modernismus (und speziell den Modernismus Oswald de Andrades) als erweiternde Auswertung der europäischen Tradition zu betrachten, als utopischen Diskurs des ›ewigen Verharrens in der Differenz‹ (SANTIAGO, 1989, 109), als Möglichkeit des Überdenkens der Avantgarden in Relation zur Tradition (auf diese Weise eine Brücke über den modernistischen Diskurs zum Postmodernismus schlagend), als Ausgangspunkt für den Aufbau eines postkolonialen Denkens, das die Geschichte der Abhängigkeit dekonstruiert.« (Prysthon 2002: 107, Übersetzung K.S.). Bhabha 1994.
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lismus vorherrschende binäre Opposition zwischen Herr und Knecht bzw. Kolonisator und Kolonisierten, angreift, aushebelt und damit eine neue Perspektive auf die Entwicklung von Kultur vor dem Hintergrund kultureller Hybridität vorschlägt. Aus unterschiedlichen zeitlichen, geographischen und akademischen Kontexten stammend und damit auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen aufbauend, weichen die Darstellungen des kulturellen Zwischenraums jedoch auch voneinander ab. Bhabha leitet seine Beschreibung des »Da-Zwischens« von der Begrifflichkeit des Exils her, mit dem er Entortung und Verlust kultureller Identität verknüpft. Das Subjekt wird in seiner Position innerhalb des kulturellen Zwischenraums, den er auch als Dritten Raum oder kulturellen Schwellenraum bezeichnet und der explizit zwischen der so genannten ›nicht-westlichen‹ und der ›westlichen‹ Welt entsteht, zum hybriden Anderen. Der Zugang oder die Begegnung von Kultur(en) ist damit allein über die zwischenräumliche Position möglich, die jedoch selbst undefiniert und diffus bleibt. Bei Santiago hingegen fungiert der kulturelle Zwischenraum nicht als Übergang zwischen zwei Polen. In der unumgänglichen Anerkennung und Aufbereitung vorhandener kultureller Differenzen in der Position des Dazwischens ergibt sich vielmehr eine Art Überlagerung oder Schnittmenge. Vorhandene Polarisierungen lösen sich in dem Moment des Zusammentreffens auf und erlauben die Herausbildung neuer, multipler kultureller Identitäten, ohne in einer unbefriedigenden, von Verlust und Ortlosigkeit geprägten Übergangssituation zu verharren. »A América Latina institui seu lugar na mapa da civilização ocidental graças ao movimento de desvio da norma, ativo e destruidor, que transfigura os elementos feitos e imutáveis que os europeus exportavam para o Novo Mundo. Em virtudo do fato de que a América Latina não pode mais fechar suas portas à invasão estrangeira, não pode tampouco reencontrar sua condição de paraíso, de isolamento e da de inocência, constata-se com cinismo que, sem essa contribuição, seu produto seria mera cópia – silêncio –, uma cópia muitas vezes fora de moda, por causa desse retrocesso imperceptível no tempo, que fala Lévi-Strauss.«313
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»Lateinamerika besetzte seinen Platz auf der Karte der westlichen Welt dank der abweichenden Bewegung von der Norm, tatkräftig und zerstörerisch, und verwandelte damit die fixen und unveränderlichen Elemente, die von den Europäern in die Neue Welt exportiert worden waren. Aufgrund der Tatsache, dass Lateinamerika seine Tore nicht mehr vor der Fremdeninvasion verschließen und ebenso wenig seinen ›paradiesischen‹, isolierten und unschuldigen Zustand zurückerobern konnte, lässt sich mit Zynismus feststellen, dass ohne diesen Beitrag sein Produkt eine bloße Kopie wäre – Stille –, eine Kopie, die durch das unmerkliche Zurückweichen in der Zeit mehrfach aus der Mode gekommen wäre, wie es Lévi-Strauss ausdrückt.« (Santiago 2000b: 16, Übersetzung K.S.).
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Santiago erläutert, wie Lateinamerika dem Schicksal der vollkommenen Assimilation und Unterordnung und dem Verhängnis, sich lediglich als Analogie zur so genannten ›westlichen‹ Welt behaupten zu können, entging, indem es offensiv und systematisch jegliche Konzepte von Einheit und Reinheit unterwanderte. »Guardando seu lugar na segunda fila, é no entanto preciso que assinale sua diferença, marque sua presença, uma presença muitas vezes de vanguarda.«314 Das ausschlaggebende Moment für eine solche Sichtweise, nämlich die Akzeptanz der untergeordneten Stellung und der Versuch des kreativen Umgangs mit diesem Umstand, leitet sich aus den Ansätzen der Anthropophagie-Bewegung der 1920er Jahre her. Am Beispiel der Erzählung »Pierre Menard, autor del Quijote«315 des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges veranschaulicht Santiago diesen Prozess des Einverleibens und Verdauens vorhandener, fremder Elemente in der Literatur Lateinamerikas. Borges’ Text ist im Stil einer Literaturbesprechung bzw. -kritik der fiktiven Figur Pierre Menards, eines französischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, geschrieben. Indem Borges Menards Bemühungen beschreibt, über die bloße Praxis des Übersetzens des Romans »Don Quijote de la Mancha« von Cervantes hinauszugehen und das Werk selbst neu zu schreiben, werden im Verlauf der Erzählung Fragen nach Autorschaft und Interpretation aufgeworfen. Santiago erkennt hier den Mechanismus des unumgänglichen, kannibalistischen Verwertens bereits bestehender, dominanter literarischer Werke. Der fantastische, ironische und humoristische Charakter der Erzählung unterstreicht die Assoziation mit der (kultur-)anthropophagischen Praxis. »Pierre Menard, romancista e poeta simbolista, mas também leitor infatigável, devorador de livros, será a metáfora ideal para bem precisar a situação e o papel do escritor latino-americano, vivendo entre a assimilação do modelo original, isto é, entre o amor e o respeito pelo já-escrito, e a necessidade de produzir um novo texto que afronte o primeiro e muitas vezes o negue.«316
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»Die Verteidigung seines Platzes in der zweiten Reihe ist jedoch für die Kennzeichnung seiner Differenz und die Markierung seiner Präsenz, einer überaus avantgardistischen Präsenz, notwendig.« (Santiago 2000b: Übersetzung K.S.). Borges 1989. »Pierre Menard, Romanautor und symbolistischer Lyriker, aber auch unermüdlicher Leser, ein Büchervertilger, eignet sich als ideale Metapher, um die Situation und die Rolle des lateinamerikanischen Autors zu verdeutlichen. Letzterer lebt zwischen der Assimilation des originalen Modells, das heißt zwischen der Liebe und dem Respekt für das schon Geschriebene und der Notwendigkeit, einen neuen Text zu produzieren, der dem ersten die Stirn bietet und ihn mehrfach widerlegt.« (Santiago 2000b: 23, Übersetzung K.S.).
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Die wenigen Kapitel, die Menard schreibt (Kapitel 9, 38 und fragmentarisch Kapitel 22), bleiben – so Santiago – in gewissem Sinne zunächst »unsichtbar« (»invisível«), da die Textteile der Geschichte Don Quijotes dem Original völlig gleichen. Es gibt weder Unterschiede in Vokabular und Syntax, noch in der Struktur der beiden Ausführungen. »A obra invisível é o paradoxo do texto segundo que desaparece completamente, dando lugar à sua significação mais exterior, a situação cultural, social e política em que se situa o segundo autor.«317 Die Figur Pierre Menards fungiert als Metapher für den lateinamerikanischen Schriftsteller, dessen künstlerische Freiheit sich nie unabhängig entfalten kann, sondern immer eingeschränkt bleibt, das heißt von einem Original, dem europäischen Vorbild, manipuliert oder kontrolliert wird. Es ist jedoch keinesfalls so, dass Menard den Text Cervantes’ einfach kopiert. In Borges metatextuellen Ausführungen erfährt der Leser, dass es nicht Menards Absicht war, die Geschichte des Don Quijote einfach zu übernehmen, sondern sie durch die Verwandlung der eigenen Identität in die des Schriftsteller Cervantes neu zu schreiben. »Menard hoffte offenbar durch eine derartige Metamorphose von denselben Musen inspiriert zu werden, die einst Cervantes den Don-Quijote-Roman einflüsterten, oder er setzte auf die Magie eines raum-zeitlichen Quantensprungs und wollte mit der Identität des Cervantes dessen Talent und Technik absorbieren.«318 Santiago führt mit dem Beispiel Pierre Menards vor, wie sich die Abhängigkeit des Künstlers nicht nur auf die Anlehnung an die Oberfläche bereits bestehender Werke, sondern auf den gesamten künstlerischen Habitus des Verfassers bezieht. »Semelhante a Robert Desnos, ele [Menard, Anm. K.S.] proclama como lugar de trabalho as ›formas prisões‹ (formes prisons). O artista latinoamericano aceita a prisão como forma de comportamento, a transgressão como forma de expressão.«319 Der Akt der Inkorporation nicht nur des Werkes, sondern auch der Sichtweise und der kontextuellen Positionierung des Autors symbolisiert auf radikale und übertriebene Art und Weise die Gefangenschaft des lateinamerikanischen Schriftstellers innerhalb der durch die Kolonialherren kodierten Muster. Nach anthropophagischer Manier erfährt diese Interpretation jedoch eine positive Erweiterung. An Menards Projekt lässt sich nämlich ebenfalls zeigen, wie sich eine Originalität – im übertragenen Sinne der lateinamerikanische Charakter – durchsetzt und eine multiple Identität entsteht. In der plakativen Inszenierung des Don Quijote
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»Das unsichtbare Werk ist das Paradox eines zweiten Textes, der komplett verschwindet und damit seiner äußerlicheren Bedeutung mehr Raum einräumt, nämlich der kulturellen, sozialen und politischen Situation, in der sich der zweite Autor befindet.« (Santiago 2000b: 24, Übersetzung K.S.). Jarck 2000: 1. »Ähnlich Robert Desnos erklärt er die ›Formen des Gefangenseins‹ (formes prisons) zu seinem Arbeitsort. Der lateinamerikanische Künstler akzeptiert das Gefangensein als Verhaltensform, den Verstoß als Ausdrucksform.« (Santiago 2000b: 25, Übersetzung K.S.).
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durch Menard bzw. Borges wird das Konzept der absoluten künstlerischen Freiheit, ein wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kunstdefinition spätestens seit der Aufklärung, negiert. Die künstlerische Identität Menards und damit im übertragenen Sinne des lateinamerikanischen Künstlers, basiert auf der Gleichzeitigkeit bewusster Verwendung und konsequenter Aberkennung der Autorität traditioneller (europäisch kodierter) Konzeptionen künstlerischen Schaffens. Diese Gleichzeitigkeit erschließt sich als Zwischenraum, den Santiago ähnlich wie Bhabha als »leeren«, nicht konkret definierbaren Raum bezeichnet, in dem sich das anthropophagische Ritual der lateinamerikanischen Literatur vollzieht. »Entre o sacrifício e o jogo, entre a prisão e a transgressão, entre a submissão ao código e a agressão, entre a obediência e a rebelião, entre a assimilação e a expressão, – ali, nesse lugar aparentemente vazio, seu templo e seu lugar de clandestinidade ali, se realiza o ritual antropófago da literatura america-latino.«320
Den im Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen entstandenen Zwischenraum als in sich nicht repräsentierbar, das heißt leeren Raum zu beschreiben, stellt zunächst wiederum eine Parallele zu Homi K. Bhabhas Definition des kulturellen Zwischenraums her. Bhabha beschreibt ihn als Moment der (sprachlichen, symbolischen) Äußerung kultureller Differenzen, der durch die »Ambivalenz im Akt der Interpretation«321 gekennzeichnet ist. Kultur wird damit als diskursives, das heißt flexibles und anpassungsfähiges Moment denkbar. »Eben jener Dritte Raum konstituiert, obwohl ›in sich‹ nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festegelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können.«322
Das Ergebnis der Prozesse der kulturellen Auseinandersetzung, die hier im lateinamerikanischen, insbesondere im brasilianischen Kontext anhand des Prinzips der Anthropophagie erläutert wurden, fasst Bhabha unter dem Begriff der Hybridität zusammen. Jenes Konzept ist vor allem in den Literaturwissenschaften rezipiert worden, da der Autor sich vornehmlich auf die
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»Zwischen Opfer und Spiel, zwischen Gefangenschaft und Verstoß, zwischen gesetzlicher Unterwürfigkeit und Aggression, zwischen Gehorsam und Rebellion, zwischen Anpassung und Ausdruck – hier, in diesem scheinbar leeren Raum, seinem Tempel und seinem heimlichen Ort, realisiert sich das anthropophage Ritual der lateinamerikanischen Literatur.« (Santiago 2000b: 26, Übersetzung K.S.). Bhabha 2000: 55. Bhabha 2000: 57.
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Analyse von Texten bezieht. Jedoch auch in den Kunstwissenschaften, insbesondere im Bereich der postkolonialen Studien, trifft man auf Bhabhas Ansätze. Im Vergleich mit den zuletzt am Beispiel von Santiagos Interpretation von Borges’ Text erläuterten Strategien anthropophagischer Denkweisen lässt sich zeigen, dass Bhabhas Vorschläge für die Analyse zeitgenössischer kultureller Differenzierungsprozesse jedoch in einigen Aspekten zu kurz greifen. Dies sei hier kurz dargelegt. Bhabha zielt mit seiner Verortung der Kultur darauf ab, ein allgemein gültiges, internationales Kulturkonzept zu etablieren, dass sich durch ein Neudenken und damit der Auflösung der durch den Kolonialismus entstandenen binären Strukturen und der damit verbundenen Hierarchien auszeichnet. Die anhand unterschiedlicher literarischer Beispiele abgehandelte komplexe Herleitung seiner Hybriditätstheorie mündet in der Forderung, den »Blick dafür frei [zu] machen, daß die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit des Äußerungsraumes den Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht.«323
Zu beachten ist hier der sehr spezifische Begriff der Hybridität. Während mit dem Konzept der antropofagia Strategien der Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen seit dem ersten Aufeinandertreffen verschiedener kultureller Einflüsse in Brasilien interpretierbar werden, bezieht sich Bhabhas Hybriditätskonzept universell auf die postmoderne Welt des 20. Jahrhunderts. Grundlegend für die Definition des kulturellen Zwischenraums und damit des Hybriditätsbegriffs werden hier vor allem die Begriffe Migration, Flucht, Diaspora und Exil. Weniger die Bereicherung durch das Einverleiben neuer kultureller Elemente im Sinne der kulturellen Anthropophagie steht im Vordergrund, sondern Momente des Verlustes und der Entwurzelung, des »De-plazierens« und »Ent-bindens«324 prägen das Dasein innerhalb des kulturellen Zwischenraums. In der (schmerzlichen) Erfahrung des »Da-Zwischens« wird der, die oder das hybride Andere in die Lage subversiven Aufbegehren gegen die dominante, so genannte ›westliche‹, weiße Vormachtstellung versetzt. Der rigide Kontrast zwischen der ›westlichen Welt‹ und der ›nicht-westlichen‹ Welt, der im Übergang von der einen in die andere Welt erst wahrnehmbar wird, ist bei Bhabha grundlegend für die Definition von Hybridität. Letztere wurde damit besonders anschlussfähig an postkoloniale Studien, die sich mit der Rolle von Künstlerinnen und Künstlern im Exil und der Diaspora befassen. Bhabhas Definition eines hybriden Anderen auf der Basis der Exilerfahrung hat aber auch negative Resonanzen in diesem Kontext hervorgerufen.
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Bhabha 2000: 58. Bhabha 2000: 8.
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Rasheed Araeen hat im Epilog zu dem im Jahr 2002 erschienenen »Third Text Reader«325 eine Kritik formuliert, die sich vor allem auf die Anschlussfähigkeit des Hybriditätskonzepts von Bhabha an die Auseinandersetzungen mit internationaler Kunst der Gegenwart bezieht. Das wesentlichste Problem erkennt Araeen in der Konstruktion des Zwischenraumes oder Drittraumes als spezifischen Raum, in dem so genannte ›nicht-westliche‹ oder ›nichtweiße‹ KünstlerInnen zwar handlungsfähig gegen das dominierende System werden, sie letztlich jedoch in ihrer Rolle des kulturell Anderen in einem unbestimmten »Da-Zwischen« verhaftet bleiben. Araeen beschreibt das postkoloniale Dilemma der Kritik an einem System, von dem man gleichzeitig anerkannt werden will. »The apparent rhetoric of many postcolonial intellectuals may be against the system, and they are good at producing very complicated texts, but in reality they want to be part of the system.«326 Schließlich bedeutet jede Form subversiven Aufbegehrens aus der Position des »Da-Zwischens« das Verharren in der Außenseiterposition. Die kritisierten binären Gegensätze zwischen ›weißen‹ und ›nicht-weißen‹ KünstlerInnen werden damit nicht aufgehoben, sondern aufrechterhalten oder gar verstärkt – ebenso wie die Narrative des ›Westens‹ und des ›NichtWestens‹. »Since his concept of hybridity and in-between space has created a separate space, specified by the cultural differences of non-white peoples, it has created a separation or dividing line between whites and non-whites; the result is that while white artists can carry on with what they always did, appropriating any culture they like and without carrying with them any sign of their cultural identity, non-white artists must enter the dominant culture by showing their cultural identity cards. Even when they interact with the dominant cultural forms, and produce something new, it must display the signs of their Otherness.«327
Die Existenz des Einzelnen im Zwischenraum bleibt nur noch durch seine Andersheit definiert und ist damit kulturell nicht fassbar. Ein grundsätzliches Manko von Bhabhas Formulierungen liegt genau darin, dass sein Konzept des »Da-Zwischens« letztlich in Metaphern der Unordnung328, Ungewissheit329 und der Unentscheidbarkeit330 und damit in der Situation des Übergangs verhaftet bleibt. Damit verlagert sich das Ziel der Herausbildung einer hybriden Kultur in eine ungewisse Zukunft, die Gegenwart verharrt in einem ebenfalls undefinierten Schwellenraum. Während Santiago Ambivalenz als zwischenräumliches, eine neue Kultur konstituierendes Element be-
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Araeen/Cubitt/Sardar 2002. Araeen 2002: 340. Araeen 2002: 341. Bhabha 2000: 187. Bhabha 2000: 187. Bhabha 2000: 188.
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schreibt, stagniert die Möglichkeit einer (Neu-)Definition von Kultur bei Bhabha im selben Moment in einer unbefriedigenden Weise innerhalb des (Übergangs-)Raums. Dies äußert sich in Formulierungen wie dieser: »In dieser Darbietung des Textes habe ich versucht, der artikulatorischen Unordnung der kolonialen Gegenwart, des Schreibens der kulturellen Differenz Ausdruck zu geben. Diese Unordnung ist in der Platzierung des kolonialen Signifikanten in der narrativen Ungewißheit des kulturellen Da-Zwischen begründet zwischen Zeichen und Signifikant, weder das eine noch das andere, weder Sexualität noch Ethnie (race), weder einfach Erinnerung noch einfach Begehren.« 331
Kulturelle (Selbst-)Darstellung und damit eine kulturelle Identifizierung sind in diesem Moment nicht mehr möglich. Die Rhetoriken bestehender kultureller Differenzen scheinen selbst in alten Mustern verhaftet zu bleiben, während alles Neue sich nur noch durch diffuse, ambivalente und in sich widersprüchliche Mischungen (nicht-)definiert. Eine zukunftsweisende Gegenwart bleibt unbestimmt, das Überschreiten der Grenze in die Zukunft damit unüberwindbar. »›Darüber hinaus‹ bedeutet räumliche Entfernung, zeigt Fortschritt an, verheißt die Zukunft; doch unsere Andeutungen eines Überschreitens der Barriere oder Grenze – der Akt des Darüberhinausgehens selbst – sind nicht zu verstehen, nicht zu repräsentieren ohne eine Rückkehr zur ›Gegenwart‹, die im Prozeß der Wiederholung ihren Zusammenhalt und Ort verliert.«332
Der Vorteil der auf dem brasilianischen anthropophagischen Konzept basierenden Ansätze liegt hingegen darin, dass sie sich immer noch auf einen konkreten kulturellen, wenn auch nicht zwangsläufig geographisch festgelegten Ort, nämlich Brasilien bzw. Lateinamerika beziehen. Indem das Konzept in einer Phase der Suche einer nationalen Identität entstand, geht es natürlich nicht um die Auflösung von – in diesem Fall national kodierter – Kultur, sondern um die direkte Neueinschreibung eines in sich selbst hybriden – keinesfalls essentialistischen! – Kulturkonzepts, das sich in seiner einzigartigen Zusammensetzung kultureller Elemente und seiner spezifischen Praxis im Umgang mit kultureller Diversität bewährt. Momente der Unordnung, Ungewissheit, Ambivalenz, Indifferenz etc. werden nicht als (post-) koloniale Dilemmata registriert, sondern als positive und aktive Momente der Identitätsfindung bzw. einer eigenen (kulturellen) Positionierung gedeutet und nutzbar gemacht. Auf diese Weise entfällt die exzentrische Darstellung als undefiniertes, nur durch Verlust geprägtes kulturell Anderes im Gegensatz zu einem überdefinierten dominanten Gegenübers. Die Gegensätze verwischen. Die Verdauungsmetapher umschreibt darüber hinaus die Me-
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Bhabha 2000: 187. Bhabha 2000: 5-6.
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chanismen kultureller Identitätsfindung als kontinuierlichen, lebensnotwendigen Prozess. 3.3.4.5 Antropofagia und Kulturwissenschaft(en) Das anthropophagische Manifest von Oswald de Andrade ist aus kulturtheoretischer Sicht ein Leckerbissen – lässt sich doch an ihm zeigen, wie ambivalent der Diskussionsgegenstand Kultur ist. JENS BADURA
Die in Brasilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Praxis der antropofagia ergab sich als Reaktion auf die Gefahr des Identitätsverlusts durch das Überstülpen einer fremden Kultur von außen, das heißt auf die Gefahr, selbst verschlungen zu werden. Es blieb kein anderer Ausweg, als sich das Andere einzuverleiben, um sich nicht selbst zu verlieren. Es wird zur Notwendigkeit. »O ›Brasil brasileiro‹ se estruturaria a partir do momento em que o país começasse a construir, conscientemente, sua identidade o que ocorreria apenas com a implantação de um processo cultural digestivo, no qual, organicamente, a nação metabolizasse as influências estrangeiras.«333 Im sprichwörtlichen Verdauungsprozess unterliegen die aufgenommenen Elemente Mechanismen der Selektion, der Reinigung, der Vermischung mit bereits Inkorporiertem und der Neuformierung. Der Vorgang selbst ist nicht widerspruchsfrei; Widersprüche werden jedoch nicht vereitelt, sondern – wenn auch häufig mit sarkastischem und ironischem Beiklang – offengelegt und damit konstitutiv für die brasilianische Identität. Der spezifische Charakter brasilianischer Kultur gründet auf dem Pluralen, dem Vielfältigen, dem Vergänglichen, dem Wiederkehrenden. Differenzen sind die Grundbausteine der brasilianischen Identität. Die Figur des Anthropophagen ist gerade durch ihre besondere Art der Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen anschlussfähig an die kulturwissenschaftlichen Debatten zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Natürlich eignet sich das Konzept besonders gut, wenn man sich konkret mit dem zeitgenössischen Brasilien im Kontext von Globalisierung beschäftigt, da der Bezug zu dieser Thematik schon seit dem Beginn der Kolonialzeit hergestellt und diskutiert worden ist. Die Übertragung auf andere, lateinamerikaüberschreitende Forschungsfelder ist aber ebenfalls
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»Das ›brasilianische Brasilien‹ wird von dem Moment an Struktur annehmen, in dem das Land beginnt, selbstbewusst seine Identität zu erschaffen. Dies wird allein mit dem Einsetzen eines kulturellen Verdauungsprozesses geschehen, in dem die Nation die fremden Einflüsse organisch verwertet.« (Netto 2004: 83; Übersetzung K.S.).
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möglich und kann durchaus gewinnbringend sein. Denn, so formuliert es der brasilianische Historiker Ruda Andrade, »[I]n unserer Welt bestehen die größten Probleme darin, dass die Andersartigkeit des Anderen nicht akzeptiert wird: Juden, die Palästinenser nicht dulden, Amerikaner, die den Irak bombardieren, während der afrikanische Kontinent durch Seuchen und Hunger dezimiert wird, neben vielen anderen Problemen. In dieser Welt hat das Brasilien Oswald de Andrades eine globale Mission: seine reiche anthropophagische Erfahrung 334 aus Jahrhunderten mit anderen zu teilen.«
Es sei an dieser Stelle rückwirkend noch einmal auf das Konzept der bricolage von Claude Lévi-Strauss verwiesen, das sich als einer der wichtigsten Vorreiter kulturtheoretischer Ansätze verstehen lässt. Die von LéviStrauss beschriebene Art des kreativen Umgangs bzw. Verwertens vorhandener Dispositionen innerhalb der indianischen Mythologie lässt sich unschwer mit der anthropophagen Praxis vergleichen und sich auf eine sprachübergreifende Ebene kulturellen Lebens übertragen – handelt es sich doch bei beiden nicht zuletzt um an der kulturellen Praxis indigener Gesellschaften Brasiliens orientierten Konzepte. Die bricolage wurde bereits sehr früh innerhalb der hiesigen Geistes- und Kulturwissenschaft(en) rezipiert, was wahrscheinlich durch die starke Präsenz des französischen Kulturanthropologen in der europäischen Welt der Wissenschaften begünstigt war. Neben den zahlreichen anderen entwickelten Theorien bezüglich kultureller Diversität und den Prozessen kultureller Differenzierung überzeugen die bricolage und insbesondere die antropofagia durch ihre Fokussierung des konkreten Umgangs mit kulturellen Versatzstücken innerhalb bestimmter Kontexte, das heißt durch ihren genauen Blick auf die Praxis der permanenten (Neu-)Formierung von Kultur(en). Kultur und damit kulturelle Differenzen konstituieren sich nicht als abgeschlossene Gesamtbilder, sondern in der Praxis des jeweils unterschiedlich kodierten Umgangs mit Veränderungen und Neuerungen. Sie lassen sich deshalb weniger als festgefügte Formen, denn als differente Formen kulturellen Agierens nachweisen – wie auch immer und in welchem Zusammenhang sie letztlich definiert bzw. etikettiert werden: national, regional, religiös etc. Die kulturelle Anthropophagie, die kulturkannibalistische Praxis, besticht als in diesem Sinne auf der konkreten situations- und kontextbedingten Handlung kultureller Vermischung basierendes Konzept. Auch wenn hauptsächlich im künstlerischen und vor allem im literarischen Bereich angewendet, zielt sie nicht allein auf Operationen in diesen Bereichen ab, sondern betrifft alle Ebenen des menschlichen Lebens, die im ersten Satz des »Manifesto Antropófago« von Andrade als drei Kategorien vorgestellt werden: »Só a antropofagia nós une. Socialmente. Economica-
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Andrade 2005: 58.
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mente. Filosoficamente.«335 Es ist in seiner theoretischen Anwendung also keinesfalls auf bildende Kunst und Literatur, das heißt auf kulturelle Ausdrucksformen von Künstlern/innen und Intellektuellen beschränkt, ein Vorwurf, der in Bezug auf Homi K. Bhabhas Hybriditätstheorie mehrfach laut wurde. Ein konkreter Bezug zu Andrades Manifest findet sich in den am häufigsten rezipierten Globalisierungstheorien innerhalb der Kulturwissenschaft(en) nicht. Dem Kannibalismus-Begriff begegnet man jedoch beispielsweise in Arjun Appadurais Abhandlung über die kulturellen Dimensionen von Globalisierung336. »Thus, the central feature of global culture today is the politics of the mutual sameness and difference to cannibalize one another and thereby proclaim their successful hijacking of the twin Enlightenment ideas of the triumphantly universal and the resiliently particular. This mutual cannibalization shows its ugly face in riots, refugee flows, state-sponsored torture, and ethnocide (with or without sate support). Its brighter side is in the expansion of many individual horizons of hope and fantasy, in the global spread of oral rehydration therapy and other low-tech instruments of wellbeing, in the susceptibility even of South Africa to the force of global opinion, in the inability of the Polish state to repress its own working classes, and in the growth of 337 wide range of progressive, transnational alliances.«
Die Verwendung der anthropophagischen Metapher in Bezug auf zunächst widersprüchliche und ambivalente Positionen im Globalisierungskontext bestätigt ihre Einsatzfähigkeit in der kulturwissenschaftlichen Globalisierungsforschung. Die sprichwörtliche Körperlichkeit des Modells macht die antropofagia zu einem greifbaren Ansatz, der sich nicht in einer metatheoretischen Abstraktheit verliert. Eine kulturelle Strategie, die fähig ist, Grenzen zu überwinden und Tabus zu brechen. Entorganisieren um zu Reorganisieren. Entkulturieren, um zu kulturieren. Mischen. Aggregieren. Synkretisieren. Die Unterschiede summieren, um die Knoten der Netzwerke zu stärken, in denen sich die menschlichen Beziehungen ausbreiten. Andere Möglichkeiten des Zusammenlebens mit den Anderen ausleuchten. Verhandlungsfronten für die Reibungsflächen zwischen den vielfältigen Mitgliedern der Gesellschaft zu schaffen. Neue Pfade in den dichten Urwald der Formen des menschlichen Zusammenlebens schlagen, um die Ausbeutung und die Auslöschung des Anderen zu verhindern.338
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»Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch.« (Andrade 1928; Übersetzung K.S.). Siehe Appadurai 1996. Appadurai 1996: 43. Andrade 2005: 58.
4 Die globale Kunstwelt Brasilianische Kunst auf der documenta
Obviously, the art world-system is always global in the sense that it denotes a totality of art practices considered to be relevant. Whether the global art world-system is also world-embracing must be judged by its capacity to incorporate the labour of aspiring artists and curators – including standards of artistic value – in its taxonomy of cores, semiperipheries, and peripheries. CHARLOTTE BYDLER
Um von der reinen theoretischen Beschreibung der globalen Kunstwelt auf eine Ebene der konkreten Betrachtung zu gelangen, wird sich das folgende Kapitel mit der documenta auseinandersetzen. Dieses alle fünf Jahre stattfindende Ereignis hat seit seiner Gründung im Jahr 1955 im globalen Zusammenhang der Kunstwelt einen hohen Bedeutungsgrad erlangt. Mit dem Anliegen, einen regelmäßigen und umfassenden Überblick über die Kunst der Gegenwart zu gewährleisten, hat sich die documenta zu einem global ausgerichteten, dialogorientierten Projekt entwickelt, das weit über seine Funktion als lokal verankerte Ausstellungsplattform hinausgeht. Auf der Grundlage von Fachliteratur, Katalogtexten, Zeitschriftenartikeln und Internetquellen wird die documenta als diskursives Feld vorgestellt, das die Rahmenbedingungen für die zeitgenössische Präsentation und Interpretation von Kunst auf einer globalen Ebene schafft. In der Verbindung künstlerischer, kuratorischer, kritischer und nicht zuletzt auch ökonomischer Diskursstränge, die aus vielen Teilen der Welt in Kassel zusammenlaufen, um sich von dort aus wieder zu verzweigen, verdichten sich in der documenta Strukturen und Mechanismen, in denen sich die globale Kunstwelt schließlich manifestiert. Um die Auseinandersetzungen mit kultureller Differenz im Kontext der documenta zu beleuchten, konzentriert sich die Untersuchung exemplarisch
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auf die Beiträge brasilianischer Künstlerinnen und Künstler, die seit 1992 regelmäßig auf der documenta vertreten waren. Die immer intensiver auf den internationalen Dialog ausgerichtete Konzeptualisierung der letzten drei Projekte hat zur Einbindung brasilianischer TheoretikerInnen in den documenta-Diskurs geführt, die ebenfalls in die Betrachtung mit einfließen. Dabei wird sich zeigen, wie in der Auseinandersetzung mit künstlerischen Beiträgen aus einem ehemals kolonialisierten Land die hartnäckigen Gegensätze von Peripherie und Zentrum ad absurdum geführt werden können und sich schließlich in der Idee der globalen Kunstwelt auflösen. In der Reflexion der brasilianischen Kunstgeschichte und Kunstwelt, gerät wiederum die kunst- und kulturtheoretische Figur der antropofagia in den Blick. Vor dem Hintergrund der bereits vorgenommenen kulturtheoretischen Erörterungen wird ihr Potential für eine zeitgemäße Verhandlung kultureller Differenzen im Globalisierungskontext erneut hervortreten. Im Folgenden gilt es, zunächst einen Überblick über die documenta seit ihrer Gründung herzustellen und sie im Hinblick auf die beiden Globalisierungsdimensionen (Ökonomie und Verhandlung kultureller Differenzen) hin zu kontextualisieren. Die Analyse der brasilianischen Beiträge wird mit einer Skizze der brasilianischen Kunstgeschichte eingeleitet und mündet im Fazit der Studie.
4.1 D IE
DOCUMENTA: E NTSTEHUNG EINER INTERNATIONALEN G ROßAUSSTELLUNG
4.1.1 documenta I-111 Die documenta findet alle fünf Jahre als 100-tägige Ausstellung zeitgenössischer Kunst im Kasseler Fridericianum2 statt. Seit ihrem Gründungsjahr 1955 hat sie sich als eine wichtige Plattform für den aktuellen Kunstdiskurs
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Die Schreibweise der einzelnen Titel der documenta-Ausstellungen orientiert sich an der in den Katalogen verwendeten Schreibart: »documenta [I]« (»dI«), »documenta II« (»dII«), »documenta III« (»dIII«), »documenta 4« (»d4«), »documenta 5« (»d5«), »documenta 6« (»d6«), »documenta 7« (»d7«), »documenta 8« (»d8«), »documenta IX« (»dIX«), »documenta X« (»dX«), »Documenta11« (»D11«) und »documenta 12« (»d12«). Das Fridericianum wurde im Jahr 1779 als eines der ersten öffentlichen Museen Europas in Kassel erbaut. Nachdem der Museumsbau zwischenzeitlich auch für andere Zwecke genutzt worden war und im Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen zerstört wurde, widmete sich der Initiator der documenta Arnold Bode im Jahr 1955 seinem Wiederaufbau. Zunächst nur notdürftig wiederhergestellt, später komplett saniert, bildet das Fridericianum bis heute das Herzstück jeder documenta-Ausstellung.
D IE GLOBALE K UNSTWELT
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etabliert und gilt als »weltweit beachtete Institution zur kritischen Sichtung zeitgenössischer Kunst.«3 Die erste documenta, deren ursprünglicher Titel »Europäische Kunst des 20. Jahrhunderts« lautete, wurde als öffentlich subventioniertes Begleitprogramm einer Bundesgartenschau im durch den Krieg stark beschädigten Fridericianum präsentiert. Initiator war der 1900 geborene Maler, Architekt und Designer Arnold Bode, der bis 1972 der Leiter der documenta blieb. Mit der Präsentation von Werken moderner europäischer, vorwiegend jedoch deutscher, KünstlerInnen aus den 1920er und 1930er Jahren sollte nach den Jahren der Zäsur durch den Nationalsozialismus eine neue Basis für das Verständnis moderner und zeitgenössischer Kunst geschaffen werden. Es war somit nicht das Ziel der Kuratoren, eine Übersicht über den ›Ist-Zustand‹ zeitgenössischer Kunst aus Europa zu schaffen. Vielmehr sollte durch die Erstellung einer »Genealogie des Gegenwärtigen«4 gezeigt werden, wie sich die ausgestellten Kunstwerke (wieder) in die unmittelbare Zeitgeschichte einreihen und verstehen ließen. »Bode und sein unverzichtbarer Berater Werner Haftmann wollten mit der Ausstellung die Formschicksale nachzeichnen oder ›dokumentieren‹, welche die Kunst der Moderne in den dramatischen Dekaden zuvor erfahren hatte.«5 Harald Kimpel spricht in diesem Zusammenhang von der Aufgabe der Ausstellungsmacher, »wiederanzuknüpfen an die gewaltsam unterbrochene Entwicklungslogik der Weltkunst, die gültige Kunst des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen und den wichtigsten Beispielen und Richtungen ›aufzublenden‹, Rechenschaft abzulegen darüber, wo die Kunst heute steht…«6 So erfolgte mit der ersten documenta ein historisch geprägter Überblick über die europäische Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das heißt eine Art »Inventur«, durch die das Publikum nach dem Zweiten Weltkrieg »erste konkrete Informationen über das wahre Ausmaß der seinerzeit vereitelten Chancen«7 erhielt. »Die moderne Kunst, die so oft zum Angriff auf die etablierte Kultur geblasen hatte, schien im Rückblick als die wahre Kultur, die in dem untergegangenen Zeitalter der Barbarei unterdrückt worden war, aber nun ihre verdiente Rehabilitierung erlebte.«8 Insgesamt wurden die Werke von 148 Künstlern/innen aus 6 verschiedenen europäischen Ländern gezeigt. Der Großteil der damals ausgestellten Bildwerke stammte von einem Großteil bis heute international bekanntesten Künstlern/innen der europäischen Moderne. Vor allem durch die »nahezu ideale Symbiose von Konzept, Realisierung und Vermittlung«9 hatte die Ur-documenta überraschenden überregio-
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Nemeczek 2002: 6. Buergel 2007: 28. Buergel 2007: 28. Kimpel 1997: 86. Nemeczek 2002: 20. Belting 1995: 47. Nemeczek 2002: 19.
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nalen Erfolg. Es war zwar weniger das einheimische (Laien-)Publikum, welches sich für die Kunstschau interessierte, »aktiviert durch meist positive Rezensionen, zeigte stattdessen die Fachwelt skeptische Neugier – europäische und amerikanische Museumsdirektoren, Künstler und Kunstgelehrte, Galeristen, Sammler, Kulturpolitiker, Verleger und Journalisten. Eine Zielgruppe, die bisher nur die Biennale in Venedig – gegründet 1895 – als Weltausstellung der aktuellen Kunst akzeptierte, machte nun zum ersten Mal Station in Kassel.«10
Auch die zweite und dritte documenta hoben die geschichtliche Bedeutung der modernen Wegbereiter der Gegenwartskunst deutlich hervor, widmeten sich jedoch verstärkt neuerer künstlerischer Bestandsaufnahmen.11 Das Inventar der »d2« wurde vor allem durch US-amerikanische Werke in seiner Internationalität erweitert. Die Teilnahme von Künstlern/innen aus den USA dominierte auch in den unmittelbar folgenden Ausstellungen den internationalen Charakter der documenta. Mit der »documenta III« etablierte Arnold Bode die Etikettierung der documenta als »Museum der 100 Tage«. Sie verweist auf das besondere Format der documenta, das zwischen musealer Ausstellungspraxis und sich permanent wandelnder künstlerischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzung oszilliert. Der ab 1964 für alle weiteren documenta-Projekte gültige Slogan spielt »bewußt und provokant mit dem Widerspruch zwischen dem Museum als einer auf Dauer abzielenden Kunstbewahrungsinstitution und dem Sachverhalt des Ephemeren, des Zeitbezogenen und Zeitgebundenen.«12 Es sei dazu eine Passage aus einem Brief von Arnold Bode und Karl-Heinz Nowotny an Herbert von Buttlar zitiert, die die Diskussion um einen Untertitel für die »documenta III« eröffnete: »Die Schwerpunkte der beiden ersten documenten (Kunst des 20. Jahrhunderts; Kunst nach 1945) waren in Untertiteln genau zu fassen. Für die documenta III ist die Bezeichnung ›Internationale Ausstellung‹ zu unscharf; der Begriff ›Ausstellung‹ ist überhaupt zu abgenutzt und sinnentleert. Ich habe deshalb vorgeschlagen, als Untertitel ›100 Tage internationales Museum‹ oder ›100 Tage documenta-Museum‹ zu wählen. Mit dieser Bezeichnung wird sowohl die dem Begriff des Museums an sich widersprechende und ihn verfremdende begrenzte Zeitdauer (›Museum auf Zeit‹), als auch der Anspruch unterstrichen, neue Vorstellungen vom ›unmusealen‹ Museum als Stätte lebendiger Begegnung zu entwickeln. Das Wort ›Museum‹ – und damit auch die Institution – kann dadurch einen neuen Sinn erhalten.13
10 11 12 13
Nemeczek 2002: 7. Vgl. Nemeczek 2002: 36. Kimpel 2002: 45. Arnold Bode und Karl-Heinz Nowotny in einem Brief an Herbert von Buttlar vom 06.12.1963 (Georgsdorf 2007: 128).
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Statt Kunstwerke nach historischen, katalogisierenden oder auch ästhetischen Gesichtspunkten einfach aneinanderzureihen, ging es Bode grundsätzlich darum, »Räume zu schaffen und Raumbezüge herzustellen, in denen Bilder und Plastiken sich entfalten können, in denen sie sich nach Farbe und Form, nach Stimmung und Strahlkraft steigern und verströmen.«14 Diese besondere Form eines musealen Verständnisses, mit der Ausstellung einen Raum der Begegnung und der Auseinandersetzung zwischen Kunstwerk und Betrachter zu schaffen, wurde mit der »documenta 12« 53 Jahre später explizit aufgegriffen. Eine Dokumentation zeitgenössischen Kunstgeschehens, die sich bewusst von den historischen Bezügen lossagte und die Aktualität moderner Kunst in den Vordergrund stellte, lieferte erstmals die vierte documentaAusstellung: »Nachgeholt wurden Op-Art, britische und amerikanische PopArt, wandfüllende Riesenformate der Farbfeldmalerei und die so kühle wie raumbezogene Plastik der Minimal Art.«15 Im Jahr 1972 übernahm nach Arnold Bode Harald Szeemann die Leitung der »documenta 5«, was der »jungen Institution zum Anbruch einer neuen Ära«16 verhelfen sollte. Von nun an wurden für jedes folgende Ausstellungsprojekt ein neuer Vorstand und ein künstlerischer Leiter gewählt, was der documenta schließlich ihren Charakter als Konzeptausstellung verlieh. Manfred Schneckenburger zum Beispiel, Leiter der »documenta 6«, »erklärte die gewohnten Gattungen Zeichnung, Malerei und Plastik zu ›Medien‹ – und machte Künstler zu Produzenten, die angeblich vor allem am ›medialen‹ Vermittlungspotential ihrer Kunst interessiert waren.«17 Auch Fotografie und Film wurden nun als Kunst ernst genommen. Neu war außerdem die Präsentation künstlerischer Arbeiten aus der DDR. In die Folgeprojekte wurden stets neue Formen von Kunst, Medien und Rahmenprogramme eingebunden, wie zum Beispiel Architektur, Freiluftinstallationen, sportliche Events und Seminare. In den 1980er Jahren hatte die documenta in der Kunstwelt bereits den Status eines »international maßgebende[n] Forum[s]«18 erreicht. Es wurden zu dieser Zeit auch schon einige Werke außereuropäischer KünstlerInnen in Kassel ausgestellt, der Fokus lag jedoch noch deutlich auf der Präsentation der Kunstproduktion der so genannten ›westlichen‹ Welt. Das Attribut international bezog sich vor allem auf die international breit gestreute Reputation, weniger auf die internationale Vielfalt der gezeigten Werke. Der Rahmen und die Organisation der documenta konnte »den Künstlern ein ungewöhnlich großes und zudem kompetentes Publikum«19 garantieren.
14 15 16 17 18 19
Bode 1964: 19. Nemeczek 2002: 38. Nemeczek 2002: 40. Nemeczek 2002: 45-46. Nemeczek 2002: 6. Nemeczek 2002: 6.
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Die documenta behauptete von Beginn an ihre Unabhängigkeit von nationalen Ansprüchen und unterschied sich damit grundlegend vom Konzept der meisten Kunstmessen und Biennalen. Bereits zur »documenta [I]« »waren weder Staaten noch Künstler oder Künstlerverbände, sondern 670 Kunstwerke eingeladen, in eigener Regie ausgesucht von documentaInitiator Arnold Bode (1900-1977) und vier seiner Mitarbeiter«20. An der Rezeption der Werke ist aber deutlich ersichtlich, dass diese aus eindeutig europäischer bzw. deutscher Perspektive erfolgte und damit auch die nationale Kodierung stets eine Rolle spielte, auch wenn diese unter dem Deckmantel einer international unabhängigen Kritik verborgen blieb. Jan Hoet, der künstlerische Leiter der »documenta IX« hatte 1992 KünstlerInnen aus 43 Ländern eingeladen. Der Großteil der TeilnehmerInnen stammte zwar aus Europa und den USA, es waren aber insgesamt mehr außereuropäische KünstlerInnen nach Kassel gebeten worden als je zuvor auf eine documenta. Im Rückblick sind hier erste Anzeichen einer Kanonverschiebung ablesbar, die sich aber erst fünf Jahre später konkret im institutionellen Setting der documenta niederschlug. Die »documenta X« im Jahr 1997 bezog erstmals bewusst Stellung zur Problematik der (Selbst-)Inszenierung der documenta als internationale (Welt-)Kunstausstellung. Mit dem Kuratorium der Französin Catherine David – zum ersten Mal übernahm eine Frau die Leitung der documenta – wurde ein wesentlicher Schritt zur substanziellen Erweiterung des Projekts erreicht: die gezeigten zeitgenössischen Kunstwerke wurden bewusst nach ihrem gesellschaftlichen Kontext befragt, indem die regionalen Grenzen der documenta sowohl inhaltlich als auch räumlich aufgebrochen wurden, um »ihre künstlerische Positionsbestimmung nunmehr im globalen Maßstab zu betreiben.«21 Die französische Kunstwissenschaftlerin stellte die Verbindung von Politik und Kunst im internationalen Kontext in den Mittelpunkt und lud dazu KünstlerInnen, Literaten/innen, Architekten/innen, Philosophen/innen und PolitikerInnen aus verschiedenen Ländern zu einem Seminar mit dem Titel »100 Tage – 100 Gäste« ein. Hier wurde über gesellschaftspolitische Themen wie Urbanismus, Identität, Rassismus, Globalisierung, nationale Politik und Wirtschaft diskutiert.22 Die Ausstellung im Fridericianum unter dem Motto »Blick zurück nach vorn« war als Rückblick auf das internationale Kunstschaffen der letzten 50 Jahre und gleichzeitig als Ausblick auf das 21. Jahrhundert gedacht. Eine konkrete kritische Reflexion der documenta als internationaler Instanz und ihrer Kompetenz, zeitgenössische Kunst vor dem Hintergrund einer sich globalisierenden Kunstwelt zu präsentieren und zu reflektieren erfolgte jedoch erst fünf Jahre später mit der »Documenta11«. Die vermeintliche Neutralität der Kunstwelt und somit auch der documenta selbst wurde vehement angezweifelt. Das erklärte Ziel der »D11« bestand »in der
20 Nemeczek 2002: 7. 21 Kimpel 2002: 10. 22 Vgl. Nemeczek 2002: 54.
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Dezentrierung des Westens und der Rezentrierung des von ihm Ausgeschlossenen«.23 »Traversing continents and cities, locations and disciplines, practices and institutions, formats and publics, Documenta11’s proposition to open new spaces for critical reflection on contemporary artistic and cultural situations, creates for us – in dialectical interaction with heterogeneous, transnational audiences – a public sphere through which to think and analyze seriously the complex network of global knowledge circuits on which interpretations of all cultural processes and research today depend.«24
Neben der räumlichen kam es auch zu einer temporären Ausdehnung, denn der zeitliche Begrenzungsrahmen von 100 Tagen wurde durch das Programm einer sehr intensiven Vorbereitungsphase gesprengt. Der aus Nigeria stammende und in New York lebende Okwui Enwezor konzipierte die »Documenta11« als Komplex von fünf Plattformen. Vier Symposien (Plattform 1-4)25, die im Jahr 2001 (ein Jahr vor der Ausstellungseröffnung) auf vier Kontinenten stattfanden, sollten die Ausgangssituation der Ausstellung in
23 Marchart 2004: 109. 24 Enwezor 2002: 52-53. 25 Die erste Plattform »Demokratie als unvollendeter Prozess«/»Democracy Unrealized« fand in Wien und Berlin statt. Es wurden dort die Konzepte liberaler Demokratie als beste aller möglichen Formen politischen Denkens und Handelns im globalen Kontext hinterfragt. In Neu-Delhi wurde kurz darauf das Symposium der zweiten Plattform mit dem Titel »Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung«/»Experiments with the Truth: Transnational Justice and the Process of Truth and Reconciliation« ausgetragen. Im Mittelpunkt stand die Diskussion um transnationale Gerichtsbarkeit und um gerichtliche Modalitäten. Der Veranstaltungsort der dritten Plattform war die westindische Insel St. Lucia in der Karibik. Verhandelt wurde der in der Karibik entstandene Begriff créolité und das Phänomen Kreolisierung sowie die Frage nach einer Übertragbarkeit dieser Konzepte auf die Prozesse kultureller Vermischung auch außerhalb der Karibik. Betitelt war die Veranstaltung mit »Créolité und Kreolisierung«/»Créolité and Creolization«. Die letzte der vier vorbereitenden Plattformen »Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte, Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos«/»Under Siege: Four African Cities. Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos« thematisierte den aktuellen Zustand afrikanischer Metropolen. (Vgl. Enwezor 2002: 49-53) Das Projekt »Documenta11« basierte somit vornehmlich auf dem Prinzip der Entortung: »As an exhibition project, Document11 begins from the sheer side of extraterritoriality: firstly, by displacing its context in Kassel; secondly, by moving outside the domain of the gallery space to that of the discoursive; and thirdly, by expanding the locus of the disciplinary models that constitute and define the project’s intellectual and cultural interest.« (Enwezor 2002: 42).
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Kassel (Plattform 5)26 klären, indem sie sich der »Befragung der weltweiten Rahmenbedingungen für die Produktion, die Vermittlung und die Rezeption von Kunst« widmeten. »Über diese Struktur bindet die documenta nun auch Länder und Kontinente ein, die unter dem Primat des westlichen Kunstbegriffs bislang von der Weltkunstausstellung ausgeklammert waren.«27 Indem sich die »Documenta11« dort positionierte, wo die Gegenstände ihrer Diskurse tatsächlich brisant waren und es noch sind, kam sie dem außereuropäischen Publikum praktisch entgegen. Die einst wesentliche lokale Dimension der documenta, die sich vor allem aus dem »politischen Symbolgehalt des Ortes«28 ergab, wurde zugunsten einer global ausgerichteten Orientierung im Vorfeld der Ausstellung aufgegeben. »Bei ihrer Reise um die Welt in ca. 400 Tagen bleiben also alle wesentlichen konstitutiven Faktoren der Kasseler Kunstausstellung auf der Strecke: Die Ausstellung weitet sich zu einem Kommunikationsprozeß, ihr Ort zu einem weltweiten Netz und ihre Inhalte zum globalen gesellschaftlichen Wissen.«29
Insgesamt sah sich die »Documenta11« trotz oder auch gerade durch ihre fast schon revolutionäre Konzeption heftiger Kritik ausgesetzt. Vor allem innerhalb der Postkolonialismusdebatte wurden Enwezors Ansätze herb angegriffen. Der in Indien geborene Künstler, Kunstkritiker und Gründer der kunsttheoretischen Zeitschrift »Third Text« Rasheed Araeen wirft dem Kurator vor, die »Documenta11« habe ihr Hauptziel verfehlt, die Prozesse der Diskriminierung vieler so genannter ›nicht-westlicher‹ KünstlerInnen durch das ›westliche‹ Kunstsystem aufzuzeigen. Zwar wurde eine Öffnung vor allem für marginalisierte außereuropäische Kunstproduzenten propagiert, ausgestellt wurden laut Araeen aber dann doch nur KünstlerInnen, die ohnehin schon große Erfolge im internationalen Kunstsystem aufweisen konnten.30 Diese Kritik bezog sich nicht zuletzt auch auf die Verwirklichung der vier Plattformen. Denn auch wenn die vorgeschalteten theoretischen Diskussionen im Rahmen der organisierten Diskursplattformen außerhalb Eu-
26 Die fünfte Plattform ergab sich aus dem Zusammenspiel der vorangegangenen diskursiven Verhandlungen, den Ausstellungsräumen und den dort präsentierten Kunstwerken. Sie funktionierte als »diagnostic toolbox«, die Beziehungen, Verbindungen und Trennungen zwischen verschiedenen Realitäten zu inszenieren suchte: zwischen KünstlerInnenn, Institutionen, Disziplinen, Genres, Generationen, Prozessen, Formen, Medien, Aktivitäten; zwischen Identität und Subjektivierung. (Vgl. Enwezor 2002: 55) »Thus, the exhibition project of the fifth Platform is less a receptacle of commodity-objects than a container of a plurality of voices, a material reflection on a series of disparate and interconnected actions and processes.« (Enwezor 2002: 55).
27 28 29 30
Kimpel 2002: 139. Kimpel 1997: 124. Kimpel 2002: 141. Vgl. Araeen 2005: 4.
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ropas stattgefunden hatten, war die Präsentation der beteiligten Kunstwerke wiederum auf Kassel beschränkt geblieben und verharrte damit doch im europäisch kodierten Ausstellungskontext. Indem die theoretischen Auseinandersetzungen außerhalb Europas geführt wurden, die Präsentation der Werke sich jedoch ausschließlich auf Kassel konzentrierte, wurde der Vorwurf einer Aufrechterhaltung der Binarisierung von Zentrum und Peripherie laut. So habe der Ausstellung selbst das politische Moment gefehlt. Die Tatsache, dass die »Documenta11« überhaupt erst dafür sorgte, den postkolonialen Diskurs innerhalb der deutschen Kunstwelt maßgeblich zu erweitern und darüber hinaus einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, darf trotz allem nicht ins Abseits gedrängt werden. Oliver Marchart bemerkt dazu, dass die »D11« in ihrer »effektuierte[n] Radikalisierung und Verschiebung des westlichen Kanons« zu einem Bruch führte, »an dem sich spätere Biennalen und Ausstellungen in diesem Feld messen lassen müssen.«31 Außerdem habe sich das politische Moment weniger in der Institution Ausstellung an sich als in ihrem analytischen Charakter gezeigt. »Die D11 war weniger politisch im strengen Sinn des Politischen (des Antagonismus) als sie analytisch war in Bezug auf Politik und soziale/kulturelle Konflikte. Im Wesentlichen verstand sie sich als Erkenntnismoment, als kognitive, nicht direkt als politische Waffe.«32 Vor allem die Erweiterung des öffentlichen Raumes auf mehrere Kontinente, das heißt die zeitliche, räumliche und thematische Deterritorialisierung und damit der Einbezug einer internationalen Öffentlichkeit in die Vorarbeiten der Ausstellung leistete in diesem Hinblick einen wichtigen Beitrag. Die Beschäftigung von sechs Ko-Kuratoren/innen33 aus Lateinamerika, Europa, den USA und Afri-
31 Marchart 2004: 95. 32 Marchart 2004: 104. 33 Der in Argentinien geborene Autor, Kritiker und Kurator Carlos Basualdo war zur Zeit der »Documenta11« Chefkurator am Wexner Center for the Arts (The Ohio State University, Columbus) und ist mittlerweile außerordentlicher Professor im Department of Art and Design an der Universitá IVAV in Venedig. Einen besonderen Schwerpunkt seiner theoretischen Ansätze und kuratorischen Projekte bildet die Auseinandersetzung mit lateinamerikanischer Gegenwartskunst. Die deutsche Kuratorin und Publizistin Ute Meta-Bauer ist Professorin und Direktorin des »Visual Arts Programs« im Department of Architecture am Massachusetts Institute of Technology (Cambridge, USA). Zum Zeitpunkt der »Documenta11« war sie leitende Professorin am Institut für Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Ihre Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf Kunst und Kunsttheorie in Verbindung mit Feminismus, Architektur und sozio-politischen Diskursen. Die Kunsthistorikerin Susanne Ghez ist gebürtige USAmerikanerin. Sie lebt und arbeitet in Chicago als Direktorin und Chefkuratorin der Renaissance Society an der University of Chicago – einem der renommiertesten und ältesten Ausstellungshäuser zeitgenössischer Kunst in den USA. Sarat Maharaj wuchs in Südafrika auf, wo er an der University of South Africa in Dur-
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ka trug letztlich maßgeblich zu einer perspektivischen Vervielfältigung der künstlerischen Leitung bei. 4.1.2 documenta 12 Ab dem 16. Juni 2007 findet in Kassel zum zwölften Mal die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst statt – die documenta. Auch diesmal mit dem durchaus verwegenen Anspruch, das Potenzial des Ausstellungsmachens neu auszuloten und ihr Publikum (ästhetisch) zu bilden. DOCUMENTA-FLYER
Die »documenta12« hatte sich zum Ziel gesetzt, ihren BesucherInnen einen Einblick in das gegenwärtige internationale Kunstschaffen zu gewähren, um dieses in einem raum- und zeitübergreifenden Kunstkontext zu begreifen. Im Einführungstext der Internetseite der »documenta 12« heißt es, der künstlerische Leiter werde dafür, »dem Anspruch der documenta gemäß, Kunst aus den verschiedenen Weltregionen und aller erdenklicher Medien zeigen. Dabei sollen die Werke nicht bezugslos aneinandergereiht, sondern zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.«34 Die »documenta 12« fand unter der Leitung des aus Berlin stammenden Kunstpublizisten und Kurators Roger Buergel und seiner Frau und KoKuratorin Ruth Noack statt. Ähnlich, oder sogar noch etwas mehr als die
ban studierte. Letztere gehörte zu den segregierten Universitäten des Apartheidsystems. Im Jahr 2002 hatte er eine Professur für Kunstgeschichte und –theorie am Goldsmiths’ College an der University of London inne und war zudem Research Project Fellow an der Jan Van Eyck Akademie in Maastricht. Gegenwärtig ist er Professor für Visual Art and Knowledge Systems in Lund (Schweden). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen kulturelle Übersetzung und Differenz, Textilien, Akustik und visuelle Kunst als Formen der Wissensproduktion. Der englische Kurator und Filmproduzent Mark Nash lebt und arbeitet in London als Dozent für Filmgeschichte und -theorie an der School of Art and Theory (University of East London). 2002 war er Gastlektor am Department of Visual and Environmental Studies an der Harvard University (Cambridge, USA). Kernthemen seiner Arbeiten sind Filmpraktiken in der zeitgenössischen Kunst, Avantgarde und Weltkino, Filmtheorie, Zuschauerschaft und Postkolonialismus. Octavio Zaya stammt von den kanarischen Inseln und lebt seit 1978 in New York, von wo aus er als selbständiger Kurator und Kritiker arbeitet. Sein Hauptinteresse gilt der Auseinandersetzung mit afrikanischer und vor allem Lateinamerikanischer Kunst. 34 http://www.documenta12.de/geschichte0.html?&L=12900, 19.11.2009.
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»Documenta11« verschrieb sich diese documenta-Ausstellung den Belangen zeitgenössischer Kunst weltweit. 4.1.2.1 Ausstellungsorte Kassel is really too small for an exhibition like Documenta, so with every new edition you face the problem of space. WWW.DOCUMENTA12.DE What I like is that the buildings we’re using function differently because, as you say, they come from periods when ideas about art exhibitions were very different. RUTH NOACK
Die insgesamt 516 Exponate von 113 Künstlern/innen wurden während der 100 Tage an sechs verschiedenen Orten in Kassel gezeigt. Der documentaTradition entsprechend wurden das Fridericianum (inklusive dem direkt davor liegenden Friedrichsplatz), die Neue Galerie und die documenta-Halle für die Ausstellung der Werke genutzt. Auf der innerstädtischen Karlsaue wurde außerdem der so genannte Aue-Pavillon errichtet. Mit diesem vom Pariser Büro Lacaton & Vassal entworfenen temporären Bauwerk wurden zusätzliche 9500 Quadratmeter Ausstellungsfläche für die Dauer der »d12« geschaffen. Es war in seiner Bauart an den eigens für die erste Weltausstellung in London 1851 erbauten Crystal Palace (entworfen von dem britischen Architekten Joseph Paxton) angelehnt. Im Aue-Pavillon wurden die Arbeiten von 57 Künstlern/innen präsentiert. Zum ersten Mal in der Geschichte der documenta wurden das von den zentralen Ausstellungsorten in der Innenstadt etwas entfernt gelegene Schloss Wilhelmshöhe sowie der angrenzende Bergpark Wilhelmshöhe in das Ausstellungskonzept mit einbezogen. Im Schloss verfügte die »documenta 12« über einen eigenen Ausstellungsbereich, einige Werke wurden aber auch in die dortige Gemäldesammlung Alter Meister eingefügt. Der Schlosspark bot sich als Schauplatz für zwei künstlerische Projekte, die in die Landschaft integriert worden waren. Zuletzt ist das Kulturzentrum Schlachthof zu nennen, das vorher ebenfalls noch nie im Zusammenhang mit der documenta genutzt worden war. In der Vorbereitungsphase hatte der »documenta 12 Beirat« bereits eng mit dem Kulturzentrum zusammengearbeitet. Im Zeitraum von Juni bis September wurden dort zwei Videoinstallationen gezeigt. Insgesamt entwickelten die Ausstellungsmacher ihr Ausstellungskonzept in engem Bezug zu den jeweiligen Gebäuden, ohne die Orte durch ein einheitliches Ausstellungsdesign aneinander anzugleichen.
220 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Die documenta 12 kennt kein programmatisches Statement, kein architektonisches Raster, mit dem die Gebäude und die Kunst überzogen werden. Stattdessen werden singuläre Lösungen entwickelt, die dem Museum Fridericianum, der Neuen Galerie und der documenta-Halle entsprechen. Der Aue-Pavillon ist in sich eine singuläre Lösung. Er antwortet auf den temporären Wunsch nach einem großzügigen Ausstellungsraum, eingebettet in die Aue. Alle vier genannten Gebäude sind aber nicht nur Räume für Kunst, sondern kommunizieren, ja praktizieren eine Vorstellung von Öffentlichkeit.«35
Die architektonische Gesamtleitung hatte der aus Hamburg stammende Architekt Tim Hupe inne. Konzeptuell orientierten sich die Kuratoren/innen an den Arbeiten von Arnold Bode, Displaymodellen von Frederick Kiesler und Lina Bo Bardi. 4.1.2.2 Migration der Form Wie immer, wo der Geist sich neu erfinden muss, nimmt er einen Umweg – in Kassel migriert er über die Form. Wenn es für die diesjährige documenta ein klares Distinktionsmerkmal gibt, dann ist es ihr ausgeprägtes Interesse für die Form. HARRY LEHMANN
Der einleitende Satz des Begleitkatalogs zur »documenta 12« lautet: »Die große Ausstellung hat keine Form.«36 In diesem Statement manifestiert sich der Ansatz Roger M. Buergels und Ruth Noacks, einen möglichst offenen Zugang zur Betrachtung der gezeigten Kunstobjekte zu gewährleisten. Die BesucherInnen sollten auf eine Ebene der Kunstbetrachtung gelangen, die von jeglichen »Krücken des Vorverständnisses« befreit sei und »auf der die Kunst ihre eigenen Netze zu spinnen beginnt.«37 Der primäre Zugang zu den Werken sollte über die Wahrnehmung von Form und Ästhetik generiert werden. Um die Möglichkeit zu schaffen, die ausgestellten Werke trotz der proklamierten Formlosigkeit der Ausstellung in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, verordneten Buergel und Noack sowohl sich selbst (für die Ausstellungskonzeption und -anordnung) als auch später den Besuchern/innen (für die Betrachtung der gezeigten Kunstwerke) das Prinzip der »Migration
35 Pressegespräch vom 24.04.2004. (http://www.documenta12.de/fileadmin/PK_Austellungsarchitektur/Pressemappe _Arch_24_4_07.pdf, 09.12.2009). 36 Buergel/Noack 2007. 37 Buergel/Noack 2007.
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der Form«. »Die ›Migration der Form‹ lässt sich nicht nur durch die Jahrhunderte hindurch verfolgen und sie findet auch nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturräumen statt, sondern sie kombiniert vor allem die einzelnen Werke und Werkgruppen der Ausstellung zur großen Form.«38 Das Prinzip durchdrang die gesamte Ausstellungsästhetik der »d12« und fungierte auch als eine Art ästhetischer Wegweiser durch die Ausstellung. Indem die Ausstellungsästhetik sich über jegliche Gattungsgrenzen und Zeitbarrieren hinwegsetzte, unterlag sie keinem äußeren Ordnungsprinzip, sondern verschrieb sich – so formuliert es Harry Lehmann – dem immanenten Prinzip der Selbstorganisation. Buergel und Noack verzichteten aus diesem Grund auch auf erläuternde Texttafeln in den Schauräumen. Lediglich dem Katalog in Taschenbuchformat waren Informationen hinsichtlich der Werke einzelner KünstlerInnen, die in chronologischer Abfolge der Entstehungsjahre der Bilder geordnet sind, zu entnehmen. Ohne sich an einer konkreten, vorgegebenen Form der Ausstellung zu orientieren, waren die BesucherInnen dazu aufgefordert, sich ästhetische Formenzusammenhänge selbst zu erschließen. Ein wesentliches Motiv, das vor allem die Verbindung zwischen zeitgenössischer und zahlreichen älteren Kunstwerken schaffen sollte, war das Ornament. Die Fokussierung auf den ornamentalen Charakter vieler Kunstwerke wirkte als eine Art optischer Katalysator, »um die Wahrnehmungsprozesse für die Formenkombinatorik zu sensibilisieren.«39 Durch die an sich eher verworrene, undurchsichtige Gestalt der Ausstellungskonzeption schimmerte ein ornamentales Muster. Dieses verlieh der vermeintlich formlosen Ausstellung eine Struktur, die auf den Wahrnehmungserfahrungen jedes einzelnen basierte. »Schau Dir die Kunst von heute wie diesen zweihundert Jahre alten iranischen Teppich an! Betrachte die zeitgenössische Kunst wie ein Ornament! Dies ist die Sichtweise, welche die Ausstellung auf sich selbst wirft. Hat man sie erst einmal erkannt, dann hat man auch den Faden der Ariadne in der Hand, mit welchem man durch das Labyrinth der diesjährigen documenta findet. Immer wenn man auf seiner Wanderung durch die weitläufigen Ausstellungsflächen in Kassel auf eines jener alten Werke stößt, dann ist dies wie ein Wegweiser für das Publikum, die Beobachtungsperspektive neu zu justieren und den Blick auf die Verstrickung der Formen in der Kunst zu richten.«40
Der Ansatz wurde bereits während der Laufzeit der »documenta 12« heftig kritisiert. Vor allem wurde der Vorwurf laut, die Ausstellung entferne sich mit ihrem auf die Ästhetik fokussiertem Ansatz von den beiden vorhergehenden, politisch orientierten documenta-Projekten. Der Versuch, Kunst und
38 Buergel/Noack 2007. 39 Lehmann 2007. 40 Lehmann 2007.
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die über verschiedene Zeiten, Epochen, Stile, historische und geografische Gegebenheiten entstandenen künstlerischen Zusammenhänge der ausgestellten Werke zunächst auf rein ästhetischer Ebene zu vermitteln, wurde vielfach als kuratorischer Rückschritt interpretiert. »The idea of the purely artistic communication is today synonymous with a conservative position that deplores political and social meaning as contaminators of the aesthetic.«41 Dass das diskursive Element und damit verbunden die soziopolitischen Aspekte keineswegs außen vor gelassen wurden, wird deutlich, wenn man die Rezeption der »d12« nicht allein auf das Prinzip der Migration der Form reduziert und sich den anderen Leitlinien und Ansätzen des Kuratoriums zuwendet. 4.1.2.3 Leitmotive – Modern? Leben! Bildung: Wir suchten nach einem konzeptionellen Rahmen für die Ausstellung. Ein Rahmen, der einerseits Verbindlichkeit zu stiften erlaubt, der es erlaubt Fragen scharf zu machen, der andererseits aber auch ein Moment produktiver Beliebigkeit kennt, so dass sich alle Beteiligten, die Editoren/Innen aus dem Zeitschriftennetzwerk ebenso wie die Künstlerinnen, nicht in einem zu engen Korsett eingezwängt fühlen, das sie zu Illustratoren degradiert. ROGER M. BUERGEL
Das Konzept der »documenta 12« zielte weniger auf eine bloße Präsentation, sondern auf die Befragung und Diskussion zeitgenössischer Kunst ab. Den Ausstellungsmachern zufolge sollte die Ausstellung »nicht nur als Schauraum, sondern vor allem als Medium« begriffen werden: als »Möglichkeitsraum, der offen und gestaltbar ist und den sich Kunst und Publikum miteinander teilen.«42 Eine unmittelbare Bindung von Besucher und Kunstwerken herzustellen, ohne strikte Anweisungen oder Hilfestellungen zu Betrachtung und Interpretation vorzugeben, war ein wesentlicher Gedanke für die Ausarbeitung dieses Konzepts. Dieses sah eine bestimmte Auffassung von Bildung vor: »Die ästhetische Bildung beginnt dabei vielleicht weniger mit dem Aneignen von faktischem Wissen als mit dem Einbringen der emotionalen und intellektuellen Ressourcen.«43 Der erste Schritt von Kunstvermittlung sollte allein in der Wahrnehmung der visuellen Oberfläche, das
41 Bishop 2008: 208. 42 Einleitung des Flyers »Kunstvermittlung« der »documenta 12«. 43 Einleitung des Flyers »Kunstvermittlung« der »documenta 12«.
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heißt der ästhetischen Erfahrung, erfolgen – wie es mit dem Prinzip der Migration der Form formuliert wurde. Dieser Ansatz begründet sich nicht zuletzt durch den Rückbezug auf die Konzeptualisierung der ersten documenta, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit inszeniert worden war. Eines ihrer Hauptanliegen war, zeitgenössische Kunstwerke, die lange Zeit unter dem Etikett der ›entarteten‹ Kunst liefen, möglichst vorbehaltlos an ein Publikum heranzuführen. »Die documenta führte ihrem Publikum nicht nur moderne Kunst vor Augen, sondern begründete im postnationalsozialistischen Deutschland Öffentlichkeit. […] Öffentlichkeit im Rahmen der documenta begründete sich auf der bodenlosen Grundlage ästhetischer Erfahrung – der Erfahrung von Objekten, deren Identität sich nicht identifizieren lässt. Hier gab es im eigentlichen Sinne nichts zu verstehen, hier gab es keine Vorverständnisse, und genau deshalb konnte und musste über alles gesprochen, sich über alles verständigt werden. Die Ausstellung war, kurz gesagt, ein zivilisatorischer Akt.«44
Konkret sollte die »documenta 12« als eine Bildungsinstitution aufgefasst werden, wobei die Macher selbst in den Lernprozess eingebunden waren: »[S]chließlich machen wir eine Ausstellung, um etwas herauszufinden.«45 Die Idee der Kunstvermittlung der »d12« definierte sich nicht in der Vermittlung eines vorgefertigten Wissenskanons, sondern als kritische Praxis. Dies hieß, zusammen mit allen Beteiligten nach Möglichkeiten zu suchen, einen Reflexionsprozess durch Kunst zu gestalten. »Kunstvermittlung kann in diesem Sinne als ein unabschließbarer Prozess kultureller Übersetzung verstanden werden, bei dem das Wissen der BesucherInnen und die von den Kunstvermittlern/innen angebotenen Kenntnisse und Praktiken sich verschränken und widerstreiten.«46 Drei Leitmotive dienten diesem Vorhaben zur Orientierung und waren zur Anregung eigenständigen Forschens als Fragen formuliert: »Ist die Moderne unsere Antike?« »Was ist das bloße Leben?« »Was tun?«. Die erste Fragestellung bezog sich auf eine Revision der Moderne in Bezug auf das Kunstschaffen und die Kunstgeschichtsschreibung der Gegenwart. Ein wesentlicher Punkt war zum einen die Problematisierung der Moderne als abgeschlossene, kunsthistorische Epoche – ähnlich der Antike – und die Frage, ob sie nicht eher als weiter in die Gegenwart hineinwirkendes Moment von Kunsttheorie und -praxis zu deuten sei. Zum anderen sollte eine eindimensionale Wahrnehmung der Moderne als homogenes, rein europäisches Produkt in Zweifel gezogen und die Möglichkeit eines pluralen Modernedenkens diskutiert werden. Damit war die Option verbunden, zu einer neuen Wahrnehmung von Moderne zu gelangen, was nicht zuletzt als Resultat der
44 Buergel 2007: 30-31. 45 Buergel 2005. 46 Mörsch 2007: 660.
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sich vollziehenden Kanonverschiebung innerhalb der Kunstwelt zu sehen ist. In diesem Zusammenhang wurden sowohl das Phänomen Moderne an sich als auch verschiedene der Moderne zugeschriebene Konzepte wie Identität oder Kultur und ihre Bedeutung in der globalen (Kunst-)Welt kritisch zur Debatte gestellt. An den Begriff des »nackten Lebens« des zeitgenössischen italienischen Philosophen Giorgio Agamben47 anknüpfend und diesen als in sich ambivalente Figur erweiternd, zielte die zweite Frage auf die künstlerische Verhandlung von Körperlichkeit im Spannungsfeld physischer Verletzlichkeit und Ekstase. »Wir wollten ja gerade der verkürzten Lektüre von Giorgio Agamben etwas entgegensetzen und auf den unentwirrbaren Zusammenhang von unendlicher Lust und unendlichem Schrecken hinweisen.«48 Dabei ging es mitunter um die Wirkung dieser Thematik auf das Publikum und dessen moralische Standards durch künstlerische Vermittlung. Aus dem spezifischen Anspruch der »documenta 12«, als eine Bildungsinstitution für die Öffentlichkeit zu fungieren, ergab sich die dritte Frage »Was tun?«. Sie basierte auf der Annahme, heute erscheine »ästhetische Bildung als die einzig tragfähige Alternative zu Didaktik und Akademismus auf der einen und Warenfetischismus auf der anderen Seite.«49 Mit der Thematisierung von Kunst und ihrer Vermittlung wurde hier unter anderem ein direkter Bezug zur Globalisierung hergestellt, indem künstlerische Vermittlung als Prozess kultureller Übersetzung herausgestellt wurde. An dieser Stelle lässt sich eine Brücke zur Konzeption der »Documenta 11« schlagen, die sich ebenfalls als Instrument der Erkenntnis verstehen wollte, ohne selbst eine vorgefertigte politische Haltung zu propagieren. Die drei Motive waren nicht als stabiles Gerüst oder als festgesetzte Etappen gedacht, die in den Diskussionen und der Ausstellung nacheinander abgehandelt wurden. Buergel und Noack ging es bei der Formulierung der Fragen vor allem darum, eine Korrespondenz der drei Thematiken herzustellen. »Es sind quasi die Eckpunkte eines Bermudadreiecks. Mich hat die Überlappung von Moderne und bloßem Leben oder von Moderne und Bil-
47 Giorgio Agamben entnahm den Begriff des bloßen oder nackten Lebens Walter Benjamins Schrift »Zur Kritik der Gewalt« (Benjamin 1921) und verknüpfte diesen in der gleichnamigen Trilogie mit der altrömischen Figur des totgeweihten, entrechteten homo sacer (Agamben 2002). Mit dem bloßen Leben wird ein Ausnahmezustand zwischen Leben und Tod jenseits jeglicher Gesetzgebung definiert. In Rekurs auf Benjamin behauptet Agamben, dieser Ausnahmezustand sei in der Moderne zur Regel geworden. Alles Leben erscheint deshalb als potentiell nacktes Leben, das schutzlos, bar jeder gesetzlichen Absicherung, dem Terror ausgeliefert ist. Beispielhaft wird auf Institutionen wie die Konzentrationslager der Nationalsozialisten oder das US-Gefangenenlager Guantanamo Bay Bezug genommen. Letztendlich betrachtet Agamben die ganze Gesellschaft als Lager. (Agamben 2004). 48 Roger Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 118). 49 Bürgel 2005.
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dung stets mehr interessiert als die Pole selbst.«50 Die Fragestellungen sollten die Ausstellungsgäste permanent begleiten und die künstlerischen Arbeiten zueinander und mit den BetrachterInnen in Beziehung treten lassen. Die BesucherInnen konnten zu diesem Zweck auf drei Audioguides zurückgreifen, die sich in einem einstündigen Vortrag der Erläuterung bestimmter Kunstwerke in Bezug auf jeweils eine der drei Fragestellungen widmeten. Nicht zuletzt bildeten die Leitmotive die Diskussionsgrundlage für das an die Ausstellung gegliederte Zeitschriftenprojekt »documenta 12 magazines«. Erarbeitet wurden die Leitmotive von der Gruppe »Kassel Forum«, die sich als eine offene Plattform verschiedener lokaler Initiativen und Interessenten zusammensetzte. Sie stand in enger Zusammenarbeit miteinander und mit Künstlern/innen der documenta – unter anderem dem brasilianischen Künstler Ricardo Basbaum, der seine Arbeit in Verbindung mit dem Forum entwickelte. 4.1.2.4 documenta 12 magazines Zeitschriften sind Orte, in denen eine Arbeit der Setzung stattfindet. In Ihnen kommt etwas zur Form, in ihnen wird Form vermittelt. Kunst- und Kulturzeitschriften sind Foren, in denen Beziehungsstrukturen von Kunst, Publikum und Theorie verhandelt werden. GEORG SCHÖLLHAMMER Eine der zentralen Fragen einer Kunstausstellung unter den Bedingungen einer globalisierten Welt ist die nach der Vermittlung von spezifischem Wissen, von Bildern, die aus den Bedingungen eines Ortes wachsen, sie aber dennoch überschreiten. GEORG SCHÖLLHAMMER
An die Ausstellungskonzeption gekoppelt und später auch in die Ausstellung selbst integriert war das Zeitschriftenprojekt »documenta 12 magazines«. Verantwortlich für Leitung und Konzeption des Projekts war Georg Schöllhammer, Chefredakteur der Zeitschrift »Springerin. Hefte für Gegenwartskunst«. Noch in der Vorbereitungsphase der »d12« wurden »rund 90 Publikationen unterschiedlicher Formate, Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen, Kunst-, Kultur- und Theoriemedien aus aller Welt«51 animiert,
50 Roger Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 106). 51 Schöllhammer 2007a: 3.
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sich mit den Motiven und Themen der geplanten documenta auseinanderzusetzen. Ausgewählt wurden hierfür weniger die großen MainstreamMagazine, die eng an das Marktgeschehen der Kunstwelt gekoppelt sind, sondern vor allem kleinere, sehr heterogene Formate wie »kleine KünstlerInnenprojekte ebenso wie Beilagen von Tages- und Wochenzeitungen, methodenkritische Universitätsjournale genauso wie Online-Plattformen oder Polit-Fanzines.«52 Das seit dem Frühjahr 2006 stetig gewachsene, zum Zeitpunkt der Eröffnung der »d12« über 650 Beiträge, Interviews, Glossen und Bildessays umfassende Korpus wurde unter anderem zu einer der Hauptgrundlagen für die Ausarbeitung der Ausstellung. »›Die Zeitschrift‹ ist nachhaltig und dialogisch. In ihr geht es nicht um die Selbstreflexion der documenta 12, sondern vielmehr darum, die Thesen der documenta 12 zu entwickeln und mit jenen zirkulierenden Ideen, welche das Reden über Kunst – auch das der Künstler international, lokal oder in einem bestimmten Kontext – beeinflussen, zu konfrontieren.«53
Von besonderer Wichtigkeit zeigte sich dabei die Verknüpfung von künstlerischer Praxis, Kunstbetrachtung und theoretischer Auseinandersetzung mit Kunst in verschiedenen lokalen Kontexten. Das Wissen, das sich aus den Erfahrungen von Künstlern/innen, Autoren/innen und Theoretikern/innen in Ihrer lokalen Umsetzung von Diskursen ergab, wurde auf diese Weise im Dialog mit dem Wissen aus anderen Situationen und Umfeldern vergleichbar. »In einem Geflecht aus transdisziplinären Betrachtungen, thematischen Überblendungen und Vergleichen konkreter Zusammenhänge öffneten sich Situationen des Gesprächs und der Kontroverse sowie der Blick auf oft verblüffende und neue Parallelen der Geschichte nicht nur der Migration der Form.«54
Sich als »Zeitschrift der Zeitschriften« bezeichnend, verstand sich das Projekt »als Forum des aktuellen ästhetischen Diskurses«55. Durch den Einbezug von Redaktionen diverser Zeitschriften, Online-Medien und Magazinen weltweit, die die Debatten um die vorgestellten Fragen und Thematiken bezüglich der documenta und gleichzeitig von ihr unabhängig führen konnten, wurde der Diskurs zu einer internationalen Angelegenheit und blieb nicht in der Perspektive der deutschen Ausstellungsmacher verhaftet. Es wurde eine Möglichkeit geschaffen, die Bedingungen von Gegenwartskunst in einer globalisierten Welt aus verschiedenen Blickwinkeln heraus aufzuzeigen und
52 53 54 55
Schöllhammer 2007a: 4. Schöllhammer 2006. Schöllhammer 2007a: 4. Schöllhammer 2006.
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in diesem Sinne zu reflektieren. »Von Anfang an war es klar, dass dieses Vorhaben ein langfristiges und auch eines voller Widersprüche und Klippen sein würde. Ging es in ihm doch um so komplexe Prozesse wie die kulturelle Übersetzung.«56 Indem diese Auseinandersetzungen in die Ausstellungsphase integriert wurden und nicht allein im Vorhinein der Ausstellung stattfanden, das heißt der Leitung und ihrem Team vorbehalten waren, erhielt das gesamte Projekt »documenta 12« einen durchweg dialogischen Charakter. Dazu hat auch das eigens für die »d12« eingeführte Format der »Lunch Lectures«, eine Initiative der »documenta 12 magazines«, des »documenta 12 Beirats« und der Kunstvermittlung, maßgeblich beigetragen. Die über die 100 Ausstellungstage täglich als Teil des Ausstellungsgeschehens um 13.00 Uhr stattfindenden Gesprächsrunden führten auf unterschiedliche Herangehensweisen (Vorträge, Diskussionen, Präsentationen, Gespräche, Fragestunden, Exkursionen) die Ausstellungsmacher, die teilnehmenden KünstlerInnen und das Publikum zusammen. Sie boten damit einen Ort, »an dem man sich über Kunst, über ihre Vermittlung und Fragen, die sie flankieren, unterhalten kann – ein Ort, an dem das Publikum involviert wird und an dem sich eine Öffentlichkeit bildet.«57 So wurde das grundlegende Ziel der »Lunch Lectures« erfüllt, »die Organisationsformen mit in die Ausstellung zu nehmen und sie als regelmäßigen Bestandteil der Ausstellung zu formulieren«.58 Das dialogische Format der offen gestalteten Veranstaltung entsprach dazu dem Bildungsanspruch der »documenta 12«. In einem Interview erklärt Wanda Wieczorek, Assistentin der künstlerischen Leitung der »d12«, den Zusammenhang zwischen Ausstellung, Öffentlichkeit und dem angestrebten kollektiven Bildungsprozess: »Die documenta 12 hat sich ja als ein Ziel gesetzt, die Ausstellung als einen Raum zu begreifen, der dazu geeignet ist, Öffentlichkeiten zu bilden, im doppelten Sinne. Einerseits heißt das natürlich, Input zu geben. Aber es geht eben tatsächlich auch darum, physisch Möglichkeiten für Öffentlichkeiten zu schaffen. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang vor allem die Offenheit des Formats. Es ging von Anfang an darum, zu experimentieren: ein Thema in den Raum stellen, Fragen stellen, das Publikum involvieren, die Richtung ändern und noch mal ganz anders ansetzen. Es geht um Momente der Öffentlichkeitsbildung und der gegenseitigen Bildung, um kollektive Bildungsprozesse, wo auch das Publikum mit seinem Wissen zum Zuge kommt. Von daher sind die Lunch Lectures ein Format, in dem sich dieser Bildungsanspruch der documenta verwirklichen konnte und wie ich finde auch verwirklicht hat.«59
56 Schöllhammer 2007a: 4. 57 Wanda Wieczorek im Interview mit Christian Steigels (http://www.documenta12.de/1386.html?&L=22930, 05.01.2010). 58 Wanda Wieczorek im Interview mit Christian Steigels (http://www.documenta12.de/1386.html?&L=22930, 05.01.2010). 59 Wanda Wieczorek im Interview mit Christian Steigels (http://www.documenta12.de/1386.html?&L=22930, 05.01.2010).
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Während der 100-tägigen Ausstellungsphase wurde die gesamte documentaHalle neben ihrer Funktion als Ausstellungsfläche zu einem Ort der Kommunikation. Die BesucherInnen bekamen neben der Teilnahme an den »Lunch Lectures« die Gelegenheit, die eingegangenen Beiträge des Zeitschriftenprojekts in Ihrem jeweiligen Medium vor Ort einzusehen. Zusätzlich wurde zu Beginn der Ausstellung ein zweisprachiger Reader (englisch und deutsch) veröffentlicht, der dem Publikum Auszüge des sehr reichen Materials dauerhaft zur Verfügung stellte. Der Zugriff auf das gesamte Paket wurde zudem über ein Online-Journal ermöglicht, das die Texte in Englisch und der jeweiligen Originalsprache abrufbar machte. Es war nicht zuletzt ein wesentliches Ziel der »documenta 12 magazines«, mit der Entwicklung von nachhaltigen Informationsnetzwerken, von Datenbanken und anderen Kommunikationswerkzeugen auch über die Ausstellungphase hinaus internationale Kooperationen zu schaffen und zu erhalten. Der starke Bezug der Ausstellungsmacher auf den internationalen Dialog um Gegenwartskunst und Ästhetik stellte diese letzte documenta mehr als deutlich in den Zusammenhang der Globalisierung der Kunstwelten – auch wenn dies ob ihrer auf Form und Ästhetik reduzierten Ausstellungskonzeption häufig bezweifelt wurde. Dies hatte zur Folge, dass das Gesamtprojekt »documenta 12« sich mehr als hoch komplexer, schwer zu erfassender Diskurs denn als reine Präsentation von zeitgenössischer Kunst in einem klaren, überschaubaren Rahmen ergab. Das Ausstellungskonzept entsprach durch das Fehlen an offensichtlichen Wegweisern und Interpretationshilfen nicht den konventionellen Vorstellungen einer Präsentation von Kunst mit Bildungsanspruch, was in weiten Kreisen aber auf Unverständnis stieß und deshalb Ablehnung erfuhr. Der offene Interpretationsrahmen war jedoch grundlegend für die Idee der »d12«: »In kuratorisch durchaus interessanter Weise will diese documenta Inhalte eben nicht vermitteln; die Ausstellung bietet eher eine Art Framework an, in dem Bedeutung entstehen, sogar aktiv vom Publikum hergestellt werden kann.«60 Die documenta und speziell die »documenta 12« als reines Ausstellungsspektakel zu begreifen, das seinem Publikum aus einer spezifischen, klar dargelegten Perspektive etwas vorführt, ist in jedem Fall zu kurz gegriffen. Dass es natürlich schwierig war, die ausgestellten Objekte sowie das Konzept der Präsentation ohne Kenntnisse der parallel geführten Dialoge zu begreifen, erscheint logisch. Das übergeordnete Prinzip der »Migration der Form« ermöglichte zwar einen Zugang zu den ausgestellten Objekten, der rein über die Ebene von Form und Ästhetik geschaffen wurde. Wie Georg Schöllhammer es aber schon im Vorhinein der Ausstellung auf der documenta-Homepage angekündigt hatte, zeigten sich die »documenta 12 magazines« als unerlässlich für den Besucher, denn nur sie gaben dem »interessierten Publikum das Wissen an die
60 Hafner 2007: 1.
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Hand, das dieses braucht, um sich im Raum der Ausstellung kompetent und daher entspannt bewegen zu können.«61 Eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst im Zeichen von Globalisierung und deren kritischer Reflexion zu konzipieren, kann aufgrund des Widerspruchs des Ausmaßes globaler Prozesse und der Beschränktheit eines Ausstellungsraumes – auch wenn dieser sich auf mehrere Orte verteilt – nur zum Scheitern verurteilt sein. Eben dieser Umstand lässt sich als ein typisches Symptom der aktuellen Lage der globalen Kunstwelt deuten. Es zeugt bei aller Kritik vom Mut der Kuratoren/innen, sich dieser Situation offen gestellt zu haben. »Auch wenn eine detaillierte Analyse zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu leisten ist, zeichnet sich eine überaus kontroverse Resonanz auf die Ausstellung ab, vor allem in der euro-amerikanischen Fachpresse. Gekennzeichnet ist die Rezeption von einer starken Polarisierung, die sich zwischen den Superlativen der ›worst art show ever‹ und dem ›Neuanfang‹ bewegt – ein Phänomen, das bei der documenta durchaus Geschichte hat.«62
Die Verbindung von Ausstellung und internationalem Diskurs in Form des Zeitschriftenprojekts »documenta 12 magazines« ergab sich als eine – vielleicht als einzig sinnvolle – Möglichkeit, Kunst in einen zeitgemäßen, globalen Zusammenhang zu stellen. Der verbale Kunstdiskurs, das heißt der Diskurs über Kunst erhielt damit neben der ästhetisch-visuellen Dimension von Kunst, das heißt neben dem Diskurs durch Kunst – an den man sich über das Konzept der Migration der Form anzunähern versuchte – einen besonderen Stellenwert. Wenn Okwui Enwezor schreibt, die Globalisierung hätte »eine neue Achse der Auseinandersetzung etabliert und damit eine ganze Reihe von Antinomien kenntlich gemacht«63, dann drückt sich dies sicherlich in dem Gesamtprojekt »documenta 12« sehr deutlich aus. Auch über den Rahmen des Zeitschriftenprojekts hinaus war gerade die »d12« der Ausgangspunkt kritischer Diskussionen. Die provokante Haltung auch dieser documenta kann als eine schon den frühen documenta-Projekten anhaftende Eigenschaft diagnostiziert werden: »Die jede documenta kennzeichnende, von Improvisation und Spontanität geprägte Mischung aus Planungskatastrophe und Organisationswunder wird so zum Programm erhoben und als kreatives Argument gegen den Vorwurf antikreativer Erstarrung in die Strukturen des etablierten Kunstbetriebs eingebracht«64.
61 62 63 64
Schöllhammer 2006. http://www.documenta.de/d12.html, 17.11.2009. Enwezor 2002: 11. Kimpel 1997: 149.
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4.2 D IE G LOBALISIERUNG DER ÖKONOMISCHE ASPEKTE
DOCUMENTA DURCH
Der Grund, warum die ökonomischen Konsequenzen nur sporadisch ins Blickfeld von Rezensenten, Historikern oder anderen mit der Kritik von Erscheinungsformen des Kunstbetriebs Befaßten geraten, liegt primär darin, daß verläßliche Fakten hier nur mühsam zu ermitteln sind und die zu erfassenden Einflüsse auf Grund ihrer Langzeitwirkung sich einer empirischen Verifizierung weitgehend entziehen. HARALD KIMPEL
Eines der Anliegen Roger Buergels und seiner Ko-Kuratorin Ruth Noack war es, mit der »documenta 12« im Jahr 2007 eine von den Mechanismen des Kunstmarktes weitgehend freie Kunstausstellung zu schaffen. »Den Herausforderungen zeitgenössischer Kunst und einer nicht an den Konventionen des westlichen Kunstmarktes orientierten Ausstellung hat sich das Publikum der documenta 12 mit großer Offenheit gewidmet.«65 Dieses Unterfangen ist für die Darstellung von Kunst im Globalisierungskontext in mehrerer Hinsicht beachtenswert. Denn im Moment der bewussten Abkopplung der auf der »d12« gezeigten Kunst vom Markt gerät die Frage nach der Bedeutung ökonomischer Aspekte für die globale Kunstwelt direkt in den Blick. Sowohl in den Argumenten der Ausstellungsmacher als auch in den Reaktionen auf deren Vorgehen verdichtet sich die Diskussion um die Verschränkung von Kunst und ›Kommerz‹. Der beharrliche Glaube an die aufklärerische Idee einer autonomen Kunst steht den nicht minder mächtigen Ökonomisierungsprozessen aller Lebensbereiche gegenüber, die sich in Bezug auf die Kunstwelt in Form von Preisexplosionen auf dem Kunstmarkt oder dem unermüdlichen Boom von Kunstmessen allerorten konkretisiert. Buergel und Noack hatten sich bezüglich ihrer Ausstellungskonzeption einer Darstellung von Kunst verschrieben, die deren vermeintlich autonomen Charakter unterstreichen sollte. Bewusst wurden die Kunstwerke nach Kriterien ausgewählt, die die Frage nach ihrem Marktwert so gut wie ausschlossen. Allein Form und Ästhetik sollten einen möglichst wert- und vorurteilsfreien Zugang zur Rezeption der künstlerischen Arbeiten ermöglichen.66
65 http://www.documenta12.de/d12.html, 17.11.2009. 66 Es soll an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass die bewusste Abkehr von offensichtlich ökonomischen Faktoren bei der Auswahl von Kunstwerken für eine Ausstellung noch lange keine Garantie der vollkommenen Wertfreiheit und
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Doch können sich die KuratorInnen einer internationalen Großausstellung bewusst einem an ökonomischen Motiven orientierten Globalisierungsdiskurs entziehen? Indem die Ausstellungsmacher den Blick zunächst von der ökonomischen Globalisierungsdimension ablenkten, sollte das Globale nicht im Sinne internationaler Präsenz auf dem Markt und dem grenzüberschreitenden, möglichst weitläufigen Wirkungs- und Bekanntheitsgrad von Künstlern/innen erfassbar werden, sondern in der Beachtung des globalen Transfers von Form und Ästhetik. Dabei bezog sich das kuratorische Konzept nicht allein auf die künstlerischen Objekte. Die gesamte Ausstellung sollte der Präsentation und Kontemplation von Kunst dienen, ohne den Charakter eines »kommerziellen Markenbildes«67 zu vermitteln. Okwui Enwezor, der Chefkurator der »Documenta11«, hatte in einem Essay zum Thema Großausstellungen als transnationale, globale Form auf die Gefahr der Homogenisierung der Kunstwelt durch die Dominanz kommerzieller Logiken hingewiesen: »Was sich ansonsten als Diskurs um die Globalisierung ausgibt – vor allem im Hinblick auf moderne und zeitgenössische Kunst und deren Aufnahme in Museen, internationale Großausstellungen oder allgemein in der Kulturindustrie – wird jedenfalls stets und vollständig von denselben Rationalisierungssystemen getragen, die der neoliberalen Marktlogik des spektakulären Kapitalismus entsprechen.«68
Die »documenta 12« wollte diesen Systemen entgehen. Doch konnte auch sie sich dem Einfluss der Wirtschaft nicht wirklich verweigern. Da die Finanzierung durch den Verkauf von Eintrittskarten und Katalogen sowie durch die Gelder von Stadt, Land und Bund bei weitem nicht ausreichen, ist jede documenta auf Sponsoren und Förderer angewiesen. Bereits die erste documenta finanzierte sich mithilfe von Fördermitteln diverser Unternehmen. Neben privaten Spendern, zahlreichen Wirtschaftsunternehmen und unabhängigen Einrichtungen und Vereinen beteiligen sich mittlerweile hauptsächlich staatliche und andere öffentliche Institutionen wie zum Beispiel Ministerien, Botschaften, Stiftungen, Museen usw. aus verschiedenen Ländern am Finanzierungsplan der Ausstellungsserie in Kassel. Es kann darüber hinaus vorkommen, dass KünstlerInnen selbst als Sponsoren ihrer eigenen Werke auftreten. Im Jahr 1968 hatte der Künstler Christo 70.000 Dollar zur Verwirklichung seines Projekts beigesteuert. 2007 waren zuletzt über
Vorurteilslosigkeit bedeuten kann. Allein die Ablehnung der vom Markt bestimmten Kriterien definiert keine objektive Sicht auf Kunst. Es ist allerdings interessant, dass Buergel und Noack Aspekte der Wert- und Vorurteilslosigkeit so direkt mit der wirtschaftlichen Dimension von Globalisierung verbanden, diese hinsichtlich ihrer eigenen, europäischen Herkunft nicht so unmittelbar problematisierten. 67 Stutteregger 2006; http://www.documenta12.de/aktuelles_a2.html, 19.04.2006. 68 Enwezor 2002: 9-10.
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80 nationale und internationale Geldgeber an der Finanzierung der »documenta 12« beteiligt – Hauptsponsoren waren die Saab Deutschland GmbH und die Sparkassen Finanzgruppe.69 Vor allem durch die Beteiligung von Wirtschaftsbetrieben verwandelt sich die documenta zur Werbefläche, wogegen sich im Speziellen die Macher der »documenta 12« zur Wehr setzten. Eigenes Merchandising gehört hingegen spätestens seit der »documenta IX« zu den gängigen Finanzierungsstrategien der documenta: neben den Ausstellungskatalogen werden während der 100 Tage Laufzeit diverse Accessoires mit dem jeweiligen documenta-Logo verkauft.
Exkurs 5: Die Hauptakteure der documenta-Finanzierung
Die documenta wird durch die documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH organisiert. Die gemeinnützige Gesellschaft wird von der Stadt Kassel und dem Land Hessen getragen. Sie verfügt damit für jedes documenta-Projekt über ein bestimmtes Budget, das sich aus Mitteln von Stadt und Land zusammensetzt. Zusätzliche finanzielle Zuwendung erhält die documenta von der Kulturstiftung des Bundes.70 Seit 1996 ist Bernd Leifeld der Geschäftsführer der documenta GmbH. Das Amt des Vorsitzenden des Aufsichtsrats hat der jeweilige amtierende Oberbürgermeister von Kassel inne, derzeit Bertram Hilgen.
4.2.1 Über die Finanzierungsstrategien der documenta Den Begriff der Internationalität hatte sich bereits die erste documenta im Jahr 1955 auf die Fahnen geschrieben. Der Initiator Arnold Bode und der ihm zur Seite stehende Kunsthistoriker Werner Haftmann »stellten die documenta 1955 inhaltlich von vornherein in den Kontext und damit auch in die Tradition so wegweisender international ausgerichteter Ausstellungen wie die ›Sonderbund-Ausstellung‹ 1912 in Köln, den ›Herbstsalon‹ der Galerie Herwarth Walden 1913 in Berlin oder einer mit der documenta vergleichbaren Zusammenschau auf die Kunst des 20. Jahrhunderts 1927 in Dresden.«71
Internationalität war im Nachkriegsdeutschland zum entscheidenden Kriterium für eine zeitgemäße Darstellung zeitgenössischer Kunst geworden. Die documenta schuf mit ihrem Format den notwendigen Rahmen für einen internationalen Vergleich. Auch die Stadt Kassel, die durch die starke Zerstö-
69 documenta und Museum Fridericianum 2007a. 70 http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/index.jsp, 15.04.2010. 71 Vowinckel 2002: 8.
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rung im Zweiten Weltkrieg politisch, ökonomisch und auch kulturell in die Peripherie gerückt war, sollte von der an die nationale Bundesgartenschau gekoppelten Kunstausstellung internationaler Prägung profitieren. Bode spekulierte mit seinem Projektplan »auf eine ›wechselseitige Befruchtung‹ und nährt[e] die Hoffnung, der nationalen Gartenschau mit einer international bestückten Kunstschau eine ›europäische Dimension und Perspektive‹ erschließen zu können.«72 Betrachtet man in der historischen Entwicklung der documenta die sie begleitenden wirtschaftlichen Einflüsse, so ist festzustellen, dass letztere eine tragende Rolle in Bezug auf ihren sehr rasch gewonnenen Einfluss auf das internationale Kunstgeschehen gespielt haben. Entscheidend für die globale Reputation der documenta und ihren grenzüberschreitenden Einfluss waren von Beginn an die Distributionsmechanismen innerhalb der Kunstwelt. Dazu gehören verschiedene Medien, die Rolle von Wirtschaftsunternehmen als Sponsoren, vor allem aber der Kunstmarkt. Nur durch die breit gefächerte Verbreitung der auf der documenta vorgestellten künstlerischen Arbeiten und nicht zuletzt der geführten Diskurse über die Ausstellung konnte eine internationale Wahrnehmung und Anerkennung des Projekts geschaffen werden. Im Nachvollzug der Finanzierungsstrategien der documenta seit der »documenta [I]« wird deutlich, dass ökonomische Distributionsmechanismen zur Globalisierung des Ausstellungsprojekts beigetragen haben. Besonders die Aktivitäten der 1964 gegründeten »documentaFoundation e.V.« führen beispielhaft vor Augen, wie sich die Interessen von Kunsthandel und Ausstellung deutlich überschnitten, gegenseitig voneinander profitieren konnten und schließlich dazu beitrugen, den internationalen oder globalen Radius der documenta zu erweitern. 4.2.2 documenta GmbH und Sponsoren Die so genannte Ur-documenta finanzierte sich aus Beiträgen verschiedener Sponsoren und Geldern der Stadt Kassel. »Träger der ersten documenta war ein privater Verein; […] Im Katalog waren 20 Sponsoren als ›Spender‹ aufgeführt, sechs davon bereits damals mit ihrem Firmenlogo.«73 In diesem Zusammenhang sind die wirtschaftlichen Kontakte Arnold Bodes zu erwähnen, die er während seiner Beschäftigungszeit in der Nachkriegsindustrie als Designer und Dienstleister geknüpft hatte. »Rückschlüsse auf Bodes damalige Auftraggeber erlaubt die Spenderliste der ersten documenta: Er arbeitete für Siemens, AEG, Bayer-Leverkusen, die Eternit-AG sowie für die Göppinger Kaliko- und Kunstlederwerke und gewann diese Firmen auch als Förde-
72 Kimpel 1997: 99. 73 Nemeczek 2002: 82-83.
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rer.«74 Die Gründung des privaten Trägervereins wiederum, »dem der pensionierte Kasseler Landgerichtspräsident Erich Lewinsky mit dem Datum vom 28. April 1954 zügig ins Vereinsregister verhalf«75, hatte Bode gemeinsam mit dem Kasseler Museumskustus Herbert Freiherr von Buttlar und dem Bankdirektor Heinz Lemke vorangetrieben. Als Veranstalter der documenta wurde pro forma die Stadt Kassel genannt. Der unter dem Namen »Gesellschaft Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts e.V.« agierende Verein setzte sich aus sehr unterschiedlichen Mitgliedern zusammen, deren Teilnahme keinesfalls primär auf deren Interesse an der Kunstförderung zurückführen war. »In dem Verein vertrat Kassels Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen die Stadt, Regierungspräsident Fritz Hoch das Land Hessen, Mattern die Gartenschau, Intendant Hermann Schaffner das Staatstheater, und Direktor Stephan Hirzel sprach für die Werkakademie. Von den Bundestagsabgeordneten Adolf Arndt (SPD), Ludwig Preller (SPD) und August Martin Euler (FDP) wurde Fürsprache in Bonn erwartet. Kontakt zum Kunstbetrieb hatten neben Bode und Buttlar eigentlich nur die Kritikerin Hilde Römer-Bergfeld von der Zeitung ›Hessische Nachrichten‹, der lokale Museumschef Hans-Erasmus Vogel und Ulrich Gertz vom Darmstädter Rat für Formgebung. Lemke, Lewinsky und ein Sammler names Robert Völker waren als Kasseler Kunst- und Bode-Freunde dabei.«76
Die bereits ab der »documenta II« immer wieder auftretenden Dissonanzen hinsichtlich der Gestaltung und vor allem der Finanzierung des Projekts sind nicht zuletzt auf die sehr heterogene Zusammenstellung der an der Projektplanung beteiligten Personen und deren unterschiedlichen Motivationen des Wiederaufbaus der Stadt Kassel zurückzuführen. Im Vorfeld der zweiten documenta bestand die Stadt Kassel auf der Gründung einer Träger-GmbH, um sich den direkten Einfluss auf die Verwendung ihrer Zuschussgelder zu sichern. Die documenta entpuppte sich in den Folgeprojekten in wirtschaftlicher Hinsicht zunächst eher als Minusgeschäft. »In der Frühphase der documenta, bis zum Jahr 1977, begriff die Stadt Kassel ihre documenta nicht als einmalige Chance, sondern als Bürde, die sie jederzeit gern wieder abgeworfen hätte.«77 Dass dies dann doch nicht geschah, hat vor allem mit der sich in vieler Hinsicht positiv auswirkenden internationalen Reputation der Stadt durch die Ausstellung zu tun. Außerdem waren die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen für Kassel beachtlich, obwohl die Veranstalter selbst in der ersten Zeit noch keine schwarzen Zahlen schrieben.
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Nemeczek 2002: 16. Nemeczek 2002: 13-14. Nemeczek 2002: 14. Nemeczek 2002: 27.
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»Das Werbewort von der ›documenta-Stadt‹ trifft insofern den Kern, als es eben die ›Provinzialität‹ möglich macht, daß stets aufs neue die gesamte Stadt zum Aktionsgelände wird. documenta ereignet sich nicht nur an den dafür vorgesehenen Örtlichkeiten, sondern greift auch auf das Stadtgebiet über: füllt Kaffeehäuser, Restaurants, Lokale mit Zirkeln von Diskutanten, infiziert die Schaufenstergestaltung aller Sparten, läßt die (ansonsten schwach ausgeprägte) Galerieszene sich schlagartig vervielfachen, provoziert eine Flut an Parallel-, Rahmen-, Alternativ-, Protestveranstaltungen, verunsichert das bieder-geschäftige Straßenleben überall durch unverständliche Handlungen mit Kunstanspruch, mischt unter die unauffälligen Einheimischen Fremde von irritierendem Äußeren, beliefert die dankbare Lokalpresse mit unendlichem Material an Sensationen, Statistiken, Anekdoten… 78
Nicht zu unterschätzen waren vor allem die Belebung des Hotelgewerbes und des Einzelhandels im Innenstadtbereich. Durch zahlreiche im Rahmen der documenta durchgeführte Baumaßnahmen hat sie sogar als Arbeitgeber eine wichtige Rolle gespielt. Die Medienpräsenz garantierte zudem einen langfristigen Werbeeffekt für das gesamte Stadtgebiet mit seinen kulturellen Angeboten. Es hat mehrere Versuche gegeben, die documenta in andere deutsche Städte, ja sogar ins Ausland – Angebote kamen aus den Niederlanden und den USA79 – zu verlegen. Solche Anstrengungen wurden aber vor allem von der Stadt Kassel vehement abgewehrt. Der Hauptgrund lag dabei weniger in den »uneigennützige[n] Bemühungen um Förderung eines als bedeutend erkannten Kulturereignisses«, sondern in der »banale[n] Tatsache, daß Kunstausstellungen von einer Größenordnung, wie sie der documenta von Anfang an eigen war, für den Veranstaltungsort weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen.«80 Ende der 1970er Jahre wurden die Investitionen »in das Spitzenereignis des internationalen Ausstellungsbetriebs« seitens der politisch Verantwortlichen offenkundig als »Aktionen der unmittelbaren Wirtschaftsförderung«81 dargestellt. Im Jahr 1963 hatte das Land Hessen nach langem Zögern die Hälfte aller GmbH-Anteile übernommen. Die bestehende »documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH« organisiert bis heute die Ausstellungsprojekte. Kultur-Sponsoring hat vor allem im Zuge des schrittweisen Rückzugs der öffentlichen Hand an Bedeutung in Gestalt von Förderern aus der Wirtschaft und Industrie gewonnen, »die in den achtziger und neunziger Jahren bis heute aus anderen Motiven die nachhaltige ökonomische, publizistische und werbewirksame Effizienz solcher Förderinitiativen erkannt haben und darum mit einem entsprechenden Engagement für sich nutzbar zu machen versuchen.«82 Es ist zwar beklagenswert, dass das staatliche Engagement für
78 79 80 81 82
Kimpel 1997: 111-112. Siehe Kimpel 1997: 113f. Kimpel 1997: 114. Kimpel 1997: 118. Vowinckel 2002: 23.
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Kulturprojekte mehr und mehr zurückgeht. Andererseits gewann eine Veranstaltung wie die documenta so an Autonomie. Trotz der Interessen und Einflüsse der beteiligten Wirtschaftsunternehmen, so schließt Alfred Nemeczek, kritischer Beobachter und ehemaliger Pressesprecher der documenta, fühlen sich die Kuratoren weiterhin unabhängig. »Sie sind es wohl auch.«83 Roger M. Buergel bemerkte in einem Interview, dass es der documenta gerade durch ihre finanzielle Unabhängigkeit möglich sei, gegen Konventionen zu verstoßen. »Sie hat sich den Auftrag zu eigen gemacht, alles auf den Prüfstand zu stellen, statt zu spiegeln, was man schon kennt.«84 Sowohl inhaltliche wie auch geographische Expansionen und damit die Globalisierungstendenzen der documenta wurden durch die Lockerung der ökonomischen Bindungen an den regionalen Standort schließlich befördert. Die Autonomie der Kunst lässt sich vor diesem Hintergrund gerade nicht durch ihre Unabhängigkeit von ökonomischen Aspekten begründen. Vielmehr erhöht sich die künstlerische Freiheit von Künstlern/innen und KuratorInnen, wenn ihr finanzieller Unterhalt gesichert ist, im besten Fall von (regional)politischen und staatlichen Interessen entkoppelt. 4.2.3 documenta-Foundation Eine besondere Finanzierungstrategie, die einen wesentlichen Schritt auf dem Weg der Internationalisierung der documenta darstellte, ergab sich im Verlauf der Konzeption der »documenta III«. Entscheidend ist hier die Verknüpfung kunsthändlerischer Interessen mit denen der Ausstellungsmacher. Schon in der frühen Planungsphase der Ausstellung war klar, dass Bode das ihm zur Verfügung stehende Budget überschreiten würde. »Vor dem Hintergrund der absehbaren finanziellen Engpässe schon während der Vorbereitung der documenta III, die wegen vieler Schwierigkeiten von 1963 auf 1964 verschoben werden mußte, und der neuen Entwicklung auf dem internationalen Grafikmarkt« entstand die Idee, »eine Edition mit graphischen und plastischen Arbeiten herauszugeben.«85 Eine Schlüsselrolle spielte hier der Kölner Galerist Hein Stünke, der als Mitglied des »Ausschusses für Malerei, Skulptur und Druckgrafik« bereits an der Organisation der »documenta II« beteiligt gewesen war. Stünke war zusammen mit Rudolf Zwirner Initiator der ersten Kunstmesse in Deutschland, die zuerst 1967 als Kölner Kunstmarkt stattfand und seit 1984 als internationale Messe für Moderne und Zeitgenössische Kunst unter dem Namen Art Cologne bekannt ist. Stünkes Galerie Der Spiegel, die er zusammen mit seiner Frau leitete, hatte sich vorher schon
83 Nemeczek 2002: 74. 84 Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 126). 85 Vowinckel 2002: 18.
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»besonders in den fünfziger und sechziger Jahren neben den Galerien Hertz (Bremen), Springer (Berlin) und Stangl (München) als einzige namhafte Galerie in der Bundesrepublik mit einem eigenen anspruchsvollen Programm von Editionen zeitgenössischer Grafik und bibliophilen Veröffentlichungen im internationalen Kunst- und Grafikmarkt Beachtung und Anerkennung erworben.«86
In Zusammenarbeit mit international ausgewiesenen Fachleuten hatte sich Stünke im Rahmen der »documenta II« der Vermittlung und Verbreitung der Druckgrafik gewidmet. Diese war zunächst in Frankreich, zum Ende der 1950er Jahre aber auch in Deutschland, als ein »vielseitig künstlerisches Medium«87 in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten. Die »d2« hatte sich neben der Ausstellung von Malerei und Skulptur intensiv der Druckgrafik verschrieben. Unter anderem war der Katalog »Druckgrafik« entstanden. »Mit der Druckgrafik trat unversehens und überraschend ein künstlerisches Medium in das Bewußtsein einer Öffentlichkeit, die darauf nicht vorbereitet war. Nach den Jahren der Isolation, der schweren persönlichen und dinglichen Verluste durch den 2. Weltkrieg und die mit ihm verbundenen, von ihm herbeigeführten existentiellen geistigen und physischen Entbehrungen, konnte der kunstinteressierte Bürger hier für sich ein neues Terrain entdecken. Dieses war bisher in Deutschland noch weitgehend unbekannt geblieben, in anderen europäischen Ländern jedoch schon längst entwickelt. Kunst zu sammeln und zu besitzen, ist der eine Aspekt, Gemälde oder Skulpturen zu erwerben ein anderer. Dem gegenüber eröffneten druckgrafische Werke und/oder Kleinplastiken von namhaften internationalen Künstlern eine preisgünstige Alternative für den entdeckungsfreundlichen Sammler.«88
Aus diesen Vorbedingungen entstand die Idee, zur Finanzierung der »d3« eine Edition von Grafiken und Kleinplastiken zu realisieren. Um dieses Unternehmen rechtlich abzusichern, wurde ein Verein mit dem Namen »documenta-Foundation e.V.« gegründet. Die Gesellschaft konnte unabhängig von der documenta-GmbH handeln, wurde jedoch gleichzeitig als integraler Bestandteil des Projekts verstanden. Der Name »documenta-Foundation e.V.« wurde »in Anlehnung an amerikanische Vorbilder gewählt, die vielfach als Fördergesellschaften für kulturelle Einrichtungen international engagiert waren«89. Unterstützt durch das finanzielle Engagement einiger an der documenta im Jahr 1964 teilnehmenden KünstlerInnen konnte eine erste Edition zusammengestellt werden. »Ein solcher Gedanke, daß sich Künstler selbst für die Institution engagieren, die ihnen eine Ausstellungsmöglichkeit bietet, war in Deutschland bis dahin unüblich,
86 87 88 89
Vowinckel 2002: 15. Vowinckel 2002: 18. Vowinckel 2002: 16-17. Vowinckel 2002: 20.
238 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS hingegen aber besonders in Frankreich eine vielgeübte Praxis. Hier mußten die Künstler vielfach, um in einer Galerie, bevorzugt natürlich in Paris, dem Mekka der internationalen Kunstwelt, ausstellen zu können, zu dürfen (!), die Raummiete, Plakat und Einladungskarte selbst bezahlen oder durch eine Grafik-Edition zu Gunsten der Galerie mitfinanzieren.«90
Mit der durch den Verein organisierten »Edition '64« wurde nun erstmals, »lange bevor der Museumsshop sich durchzusetzen begann«91, während einer Kunstausstellung in Deutschland neben einem Stand für das Katalogangebot auch ein Kabinett zum Verkauf von Grafiken und Skulpturen eingerichtet. Auf diese Weise erhielt die Kommerzialisierung von Kunst direkt Einzug in die documenta-Ausstellung. Eine direkte Verknüpfung mit dem Kunstmarkt ist ebenfalls offensichtlich: »Die documenta-Foundation bestätigte darum mit ihrer ›Edition ’64‹ eine aktuelle Entwicklung auf dem Kunst- und Grafikmarkt, die Sammlern neuen Auftrieb gegeben und einer jungen Generation Mut zum Risiko gemacht und so den Weg zur Kunst und zum Aufbau einer eigenen Sammlung von grafischen Arbeiten internationaler Künstler von der klassischen Moderne bis in die Gegenwart geebnet hat.«92
Dass sich eine Verbindung zwischen dem internationalen Kunstmarkt und der »documenta-Foundation e.V.« entwickelt hatte, zeigte sich in der Vorbereitung der vierten documenta. Neben der Zusammenstellung einer weiteren Edition oblag es der Foundation, sich um ein Sonderprogramm (»Ambiente«) der »documenta 4« zu bemühen, das sich mit der »Erschließung des Raumes als künstlerisches Handlungsfeld in Form von Installationen«93 befasste. »Unbestreitbar ist, daß von Seiten des internationalen Kunsthandels versucht wurde, hierauf direkt oder indirekt über die Mitglieder der Ausschüsse ebenso wie als Interessenvertreter der Künstler und im Rahmen von Leihgaben, Einfluß zu nehmen. Entgegen der bisher geübten Praxis sollten alle Ausstellungsvorschläge von speziellen Kommissionen nach Besuchen bei den Künstlern in ihren Ateliers, in Galerien, Museen und bei privaten Leihgebern geprüft und wenn möglich die Werke schon im Einzelnen ausgesucht werden.«94
Auch die Entwicklung der »Edition ’68« wurde nicht mehr allein durch Sponsorengelder der KünstlerInnen getragen, sondern war unmittelbar an den Kunsthandel gekoppelt. Der Kunstmarkt hatte Ende der 1960er Jahre an
90 91 92 93 94
Vowinckel 2002: 18. Vowinckel 2002: 20. Vowinckel 2002: 22. Vowinckel 2002: 25. Vowinckel 2002: 26.
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Bedeutung gewonnen, insbesondere auf dem Gebiet der Verbreitung der Pop-Art, deren Präsentation sich die »d4« unter anderem widmete. Indem die KünstlerInnen und Galerien zu direkten Vertragspartnern der Foundation wurden, konnte eine sehr umfangreiche und hochwertige Edition aus hauptsächlich originalen grafischen Arbeiten 43 internationaler KünstlerInnen zusammengestellt und verkauft werden. »Aus diesen Gegebenheiten hat die ›Edition ’68 der documenta-Foundation‹ ihr künstlerisch hohes Niveau und ihre internationale Reputation gewonnen.«95 Diese Art der Finanzierung der documenta durch die Kommerzialisierung der ausgestellten Kunstwerke und der damit einhergehenden Vermarktung der KünstlerInnen ist von Beginn an von Konflikten gekennzeichnet gewesen und auf Kritik von allen Seiten gestoßen. Ohne diese Argumente im Einzelnen nachvollziehen und bewerten zu wollen, sollte aufgezeigt werden, wie wichtig die Aktivitäten der »documenta-Foundation e.V.« zunächst zur Verwirklichung der ersten documenta-Ausstellungen waren. Die beiden Editionen 1964 und 1968 fungierten als Distributionsinstrumente der künstlerischen Arbeiten und der damit verbundenen Namen der KünstlerInnen auf internationaler Ebene und erweiterten den Einflussbereich der documenta maßgeblich. In der Verbindung von Ausstellung und Kunsthandel spiegelten sie außerdem »ein zeitnahes Bild der jeweils aktuellen Tendenzen im internationalen Kunstgeschehen, wie sie vom Markt aufgenommen und zugleich in ihrer immanenten Entwicklung von diesem gefördert wurden.«96 Im Rückblick lässt sich konstatieren, dass die so genannte Globalisierung der documenta mitunter von den geschilderten Mechanismen stimuliert worden ist. Ohne den Einfluss kunsthändlerischer Interessen wäre die documenta als regional verankertes Kunstprojekt der Stadt Kassel schon aus finanziellen Gründen nicht weiter vorangetrieben worden, zumindest nicht in dieser Größenordnung und überregionaler Ausdehnung. Durch wirtschaftliche und politische Veränderungen innerhalb der globalen Kunstwelt sowie durch Umstellungen und Unstimmigkeiten innerhalb der documenta-Gesellschaft und deren unmittelbaren Kontext wurde die Tätigkeit der »documenta-Foundation e.V.« zum Ende der 1970er Jahre eingestellt. Die Ablösung der Originalgrafik durch die Reproduktionsgrafik ab der »documenta 6« war mitverantwortlich für die Einstellung der Produktion der die documenta-Ausstellungen begleitenden Edition. Der Verein selbst wurde allerdings erst zum Ende des Jahres 1997 aufgelöst. Größere Teile der Editionen sind in der Zwischenzeit (1977-1997) gelegentlich noch in Sonderausstellungen zu sehen gewesen und teilweise zum Verkauf angeboten worden. Die Restbestände gingen schließlich als Schenkung an den Städtischen Kunstbesitz der Neuen Galerie in Kassel über. Die ab der »documenta IX« wieder entstandenen Editionen wurden direkt von der documenta GmbH organisiert. Die letzte documenta-Edition ist im Jahr 2008 er-
95 Vowinckel 2002: 28. 96 Vowinckel 2002: 29.
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schienen. Sie gestaltet sich als eine Zusammenstellung aus 13 signierten und nummerierten Prints von Bildern der an der »documenta 12« beteiligten Künstler und Künstlerinnen Peter Friedl, Geneviève Frisson, George Hallett, Andrea Geyer, Hans Nevídal, George Osodi, Alejandra Riera, Martha Rosler, Allan Sekula, Margherita Spiluttini, Egbert Trogemann, Lidwien van de Ven und Edward Woodman. Die Auflage ist auf tausend Exemplare limitiert und für tausend Euro erhältlich. 4.2.4 documenta und Kunstmarkt Zwischen dem Kunstmarkt einerseits und den kuratierten Ausstellungen andererseits gibt es keine klaren Trennstriche mehr. Viele sind schon längst im Kunstmarkt etabliert. CHRISTINA SCHROETER-HERREL Der Kunsthandel ist der wichtigste Zulieferer der großen Übersichtsausstellungen zeitgenössischer Kunst vom Whitney Annual (sic!) bis zur documenta. […] Diese Interdependenz händlerischer Interessen und geistiger Durchdringung, interpretatorischer Schlüssigkeit, ja ›Botschaft‹ der Ausstellungen hat jede documenta auf jeweils eigene Weise geprägt. WOLFGANG BECKER
Nicht nur die Qualität der auf der documenta ausgestellten Werke, die Brisanz ihrer jeweiligen kuratorischen Konzepte und die damit gekoppelten kritisch-progressiven Diskurse haben die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende Veranstaltung zu einer der renommiertesten Institutionen der globalen Kunstwelt des 20. und 21. Jahrhunderts werden lassen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen haben mindestens eine ebenso große Rolle für den Aufbau, die Erweiterung und die Kontinuität des weltweit beachteten Erfolgs der documenta gespielt. Neben der Finanzierung des Projekts durch diverse Sponsoren stellt vor allem die Verbindung von Kunstmarkt und Kunstschau ein bedeutendes, aus mancher Perspektive heftig kritisiertes, dennoch nicht zu ignorierendes Moment der Erfolgsgeschichte der Ausstellung dar. Schon im Verlauf der ersten documenta-Ausstellungen ist das Wechselverhältnis von Kunsthandel und documenta deutlich zutage getreten. In einem Interview mit der Zeitschrift »Form« von 1964 bekennt Arnold Bode, »daß die documenta [III; Anm. K.S.] am Rande auch die Rolle eines großen Kunst-
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marktes für Deutschland gespielt hat.«97 Allein im Rahmen der »documenta III« waren Kunstwerke für rund eine Million Mark veräußert worden »und von den früheren documenta-Ausstellungen weiß man, daß die documenta nicht ohne Einfluß ist auf die Preise, die ein dort gezeigter Künstler künftig im Handel erzielt.«98 Während beim Sponsoring Ablauf, Absicht und Bedingungen des Transfers der finanziellen Mittel relativ klar definiert sind, gestaltet sich das Verhältnis zwischen Markt und documenta als ungleich komplexer. Die gegenseitige Einflussnahme der beiden Sphären der globalen Kunstwelt ist häufig nicht direkt nachvollziehbar. Als durchschaubar gestaltet sich die Verbindung nur dann, wenn die documenta ganz klar als Vermittlungsorgan für Kunstwerke agiert: »Seit 1955 hat sie ausgestellte Werke regelmäßig an Sammler, Museen oder Galeristen vermittelt und dafür 15 Prozent Provision kassiert. Bereits die d3 erzielte rund 66 000 Mark.«99 Die Undurchsichtigkeit der Wechselwirkungen von Markt und documenta mag an der Komplexität des Kunstmarkts selbst liegen. Er setzt sich aus vielen verschiedenen Elementen zusammen (Galerien, Einzelhändlern/innen, Sammlern/innen, Auktionshäuser, Kunstmessen, Internetauktionsportale etc.), die sich im Einzelnen wiederum dem Handel von Werken unterschiedlicher Stile, Epochen oder geographischer Herkunft widmen. Mit Blick auf den globalen Kunstmarkt unterliegen die einzelnen Akteure und Institutionen je nach Standort zusätzlich regionalen Kodierungen. Darüber hinaus gibt es kaum Instrumentarien wie beispielsweise Aktienkurse, die die Bewegungen auf dem (Welt-)Markt für Kunst zusammenfassend darstellen. Ein direkter Zusammenhang zwischen den Ereignissen auf der documenta und dem Geschehen am internationalen Markt kann also nicht unmittelbar hergestellt werden. Blickt man jedoch auf einzelne Begebenheiten in der Entwicklung der documenta, so lassen sich deutliche Anhaltspunkte für die gegenseitige Einflussnahme beider Institutionen herausstellen. Grundsätzlich gilt es zu betonen, dass die documenta nie eine Veranstaltung war, die die Vermarktung von Kunst in den Vordergrund gerückt hat. Vor allem ab den 1970er Jahren geriet sie jedoch unter den Zwang, sich gegen die in dieser Zeit aufkommenden, rein am Kommerz orientierten Kunstmessen als internationale Ausstellungsplattform zu bewähren. Vorher war mit der documenta die einzige Möglichkeit geboten gewesen, die zeitgenössische Kunstproduktion in Deutschland einem internationalen Vergleich auszusetzen. Das Kunstgeschehen war bis in die 1970er Jahre stark dezentralisiert. »Es ereignete sich vor allem dort, wo junge angehende Künstler an Akademien studieren und ihr Urteil in einem entsprechenden Umfeld von Museen schärfen und ihre Arbeiten in Galerien zum Verkauf
97 Arnold Bode im Interview mit der Zeitschrift »Form« am 28.12.1964 Georgsdorf 2007: 144). 98 Siehe Arnold Bode im Interview mit der Zeitschrift »Form« am 28.12.1964 (Georgsdorf 2007: 144) 99 Nemeczek 2002: 72.
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anbieten konnten.«100 Am 13. September 1967 fand mit der ersten Veranstaltung des »Kölner Kunstmarkts« die erste Kunstmesse in Deutschland statt. Damit wurde der documenta die Monopolstellung als internationaler Schauplatz zeitgenössischer Kunst in gewissem Sinne streitig gemacht. Es galt nun, sich als Konkurrentin gegenüber den groß angelegten, durch den Markt finanzierten Veranstaltungen, die sowohl ein großes internationales Publikum anzogen und auch internationalen KünstlerInnen ein attraktives Umfeld boten, zu behaupten. »Von Köln gingen, auch in Verbindung mit dem Galeriehaus Köln, das von 1968 bis 1973 sieben der namhaftesten deutschen Galerien unter einem Dach beherbergte, die entscheidenden Impulse zu einer Konzentration des Handels, zu einer beherrschenden Stellung der Region Köln/Düsseldorf im aktuellen Kunstgeschehen aus, die von zahlreichen teilweise umfangreichen Ausstellungsprojekten flankiert wurden.«101 Die ohnehin prekäre finanzielle Situation der documenta wurde durch diese Entwicklungen noch verstärkt. Bereits in den ersten Ausstellungsjahren war es schier unmöglich, sich den kommerziellen Entwicklungen innerhalb der globalen Kunstwelt völlig zu entziehen. Die ab der »documenta III« zum Verkauf angebotenen documenta-Editionen trugen nicht nur maßgeblich zur Finanzierung des Projekts bei, sondern entwickelten sich in der Folgezeit zu auf dem Markt hochgehandelten Artefakten. »Das Angebot der documenta 9 – 350 Mappen à sechs Blätter – entsprach 1992 einem Marktwert von 1,5 Millionen Mark.«102 Schon in der Anfangszeit der documenta wurden Vorwürfe einer kommerziellen Unterwanderung der documenta laut, die jüngst im Zusammenhang mit der »documenta 12« in der deutlich proklamierten Unabhängigkeit der Ausstellungskonzeption von Einflüssen des Kunstmarkts kulminierte. »Weltausstellungen und Biennalen haben genauso wie die documenta ständig den Versuch gemacht, Höchstleistungen einer internationalen, als gemeinsam empfundenen Kultur an einem Ort so zu versammeln, daß er zeitweilig den Charakter eines zentralen Schauplatzes der Kulturgemeinschaft erhielt. Die Wertsetzung einzelner Werke oder Künstler tritt hinter diesem dominierenden Anspruch zurück, daß ihre übereifrige Betonung eher Anlaß zu Kritik gegeben hat und gibt.103
Dass sich letztlich sogar die von Roger M. Buergel und Ruth Noack konzipierte »documenta 12« der Macht des Kunstmarktes nicht entziehen konnte, zeigt sich im Detail, z.B. an den Objektbeschriftungen, die bewusst auf alle Informationen, bis auf den Namen des Künstlers bzw. der Künstlerin und das Entstehungsdatum des Werks, verzichtet hatten:
100 101 102 103
Vowinckel 2002: 13. Vowinckel 2002: 13. Nemeczek 2002: 73 Becker 1983: 121
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»Außer dass sich auf jedem Objektschild der Hinweis Courtesy of David Zwirner und/oder Hauser und Wirth befindet, wird dem dutzendfach repräsentierten Werk McCrackens nichts Sagenswertes beigefügt. Das verweist [auf] die lauthals proklamierte Abstinenz vom (bösen, profitgierigen) Kunstmarkt in den Bereich der Märchen. Denn – selbstverständlich möchte man sagen – sind jede Menge Kunsthändler unter der Kategorie ›Courtesy of…‹ aufgelistet. Ob das gut oder schlecht ist, muss man ja nicht entscheiden, aber warum vorher die Generalverdammung des Kunsthandels, wenn man ihn doch so umfassend einbezieht?«104
Sogar Buergel selbst habe sich in seinem Handeln ganz den Regeln des Marktes unterworfen, so ließen es der Kurator und Autor Ludwig Seyfahrt und der Publizist Gerrit Gohlke verlauten: »Eigentlich nämlich verhält sich der Marktkritiker Buergel wie eine sehr, sehr große, sehr, sehr zeitgemäße Verkaufsgalerie. Er produziert, vermittelt, verlautbart und vermarktet. Er gestaltet die gesamte Wertschöpfungskette vom Franchising bis zur Sinnproduktion. Er braucht die Kritik nicht mehr, weil er die Kriterien selbst gestaltet.«105
Ohne es je bewusst darauf angelegt zu haben, konnten sich auch die jüngsten documenta-Projekte den Einflüssen des Marktes nicht ganz entziehen. Gleichzeitig ist die documenta mit der Zeit – sicherlich auch durch ihre anfänglichen Verbindungen zum Kunsthandel – zu einem Instrument der Wertbildung für Gegenwartskunst geworden, das sich stimulierend auf den Kunstmarkt auswirken kann. Zwar ist die Präsenz eines Künstlers bzw. Künstlerin auf der documenta sicherlich keine Garantie für künstlerischen Erfolg – denn »[d]ie ›Documenta‹ zeigt Künstler, ›macht‹ aber keine«106. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Teilnahme sich günstig auf den Lebenslauf eines Künstlers oder einer Künstlerin auswirkt. »Wenn im Lebenslauf eines Künstlers die documenta steht, dann richten sich mehr Blicke auf ihn. Und ein Sammler kann davon ausgehen, dass die Werke eines documentaKünstlers eventuell im Wert steigen.«107 Kurz: die bereits über 50 Jahre auf internationaler Ebene anerkannte Kunstausstellung ist zu einer Art Aushängeschild geworden, die sich auf das Œuvre der teilnehmenden KünstlerInnen positiv auswirken kann. Denn »[n]atürlich ist es immer ein hübsches Etikett, ›Documenta‹-Künstler zu sein, und es kann sich durchaus verkaufsfördernd auswirken. Es bietet auch dem Sammler ein bisserl Sicherheit, vorzugsweise im Meer der stets so unsicheren Gegenwart.«108 Der Kunsthisto-
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108
Kletke 2007. Seyfahrt und Gohlke 2007. Rump 2002. Christina Schroeter-Herrel im Interview mit Vanessa Rennert (http://www.hr-online.de/website/specials/documenta/index.jsp? rubrik =24348 &key=standard_document_32120712, 11.11.2009). Rump 2002.
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riker Wolfgang Becker diagnostizierte in einem Aufsatz zu der Frage »Wirkt sich eine documenta-Beteiligung auf die Wertschätzung, Wertbildung, Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten der von ihr ausgestellten Kunst (Künstler) aus?« die Symbiose zwischen Kunsthandel und der documenta: »Ganz ohne Leihgaben des Kunsthandels kam jedoch noch keine documenta aus. In der Tat existiert eine Art Symbiose: Viel versprechende neue Talente werden seit gut 100 Jahren von kommerziell arbeitenden Galeristen entdeckt und aufgebaut – neuerdings auch mit dem Ziel, eines Tages einem Kurator der documenta positiv aufzufallen.«109
Hier treten die Galerien als wichtige Vermittlungsorgane innerhalb der Kunstwelt besonders deutlich in den Vordergrund. Galeristen/innen wirken wie Agenten, die intensiv um die Vermarktung einzelner KünstlerInnen bemüht sind. Das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg der Galerien befördert die Globalisierung der Kunstwelten, da hier die ständige Suche nach dem Neuen eine besondere Rolle spielt. Am Beispiel des Einflusses des Galeristen Hein Stünke auf die Entwicklung der »documenta-Foundation e.V.« und der Vermarktung der documenta-Editionen ist bereits gezeigt worden, wie ausschlaggebend die Mitwirkung galeristischer Tätigkeit für deren Internationalisierung gewesen ist. Es kann folglich nicht bestritten werden, dass die documenta und der um sie herum stattfindende Medienzirkus den teilnehmenden Künstlern/innen gesteigerte Aufmerksamkeit verschafft und damit – gewollt oder nicht – zum Komplizen des Kunsthandels wird. »Die große Ausstellung ist nicht der Kunde des Händlers, sondern der Partner, der den Wert seiner Ware bestätigt und das Verkaufsgeschäft in einen höheren kulturellen Rahmen setzt.«110 Anders herum verleiht aber auch die Präsenz bereits etablierter KünstlerInnen der documenta einen gewissen Glanz. Keineswegs hat es der documenta geschadet, dass Joseph Beuys sieben Mal (»d3« bis »dIX«) seine Arbeiten in Kassel präsentierte – »von Picasso ganz zu schweigen (D1, D2, D3, D6, D8). Der hatte die ›Documenta‹ wirklich nicht nötig, die Kasseler aber ihn.«111 Auch wenn dies nicht die Absicht von Roger Buergel und Ruth Noack gewesen sein mag, so hat die Teilnahme des in Europa bereits auch über die documenta hinaus bekannten chinesischen Künstlers Ai Weiwei oder der Name Gerhard Richters auf der »d12«-Künstlerliste der Ausstellung nicht geschadet – insbesondere was ihren internationalen oder globalen Ruf betrifft. So funktioniert die Maschinerie der Wertbildung von documenta und Kunstmarkt in einem Wechselverhältnis, was nicht immer transparent, aber
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Nemeczek 2002: 72. Becker 1983: 122. Rump 2002.
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auch nicht zu übersehen ist. Indem die documenta stets ihren spezifischen Charakter einer besonderen Ausstellung verteidigen konnte, die sich selbstbestimmend und kritisch zum zeitgenössischen Kunstgeschehen geäußert hat, konnte sie sich von den weitgehend durch den Handel definierten Kunstmessen abheben und eine gewisse Erhabenheit über die Prozesse des Marktes bewahren. Dass dies in der globalen Kunstwelt kein leichtes und vor allem auch kein selbstverständliches Anliegen darstellt, zeigt sich allein in dem Versuch der Ausstellungsmacher der »documenta 12«, sich letztlich aus den Fängen des Marktes weitgehend zu befreien. Von vielen Stimmen wurde dieses Vorhaben durchaus positiv honoriert, stieß aber auch auf jähe Gegenwehr. Während beispielsweise die FAZ im Feuilleton mit dem Slogan »Befreiung aus der Gefangenschaft des Marktes«112 aufwartete, mussten sich Buergel und Noack von anderen Seiten gar »Willkürpathos« und Phrasendrescherei vorwerfen lassen113. In einem ausführlichen Artikel im »artnet Magazin« wettert der Kritiker Bazon Brock gegen den »d-12-Schrecken« und lobt im Gegenzug durchweg kommerziell konnotierte Veranstaltungen wie die Art Basel, auf der »eine intellektuelle Herausforderung, eine Konfrontation mit dem schieren Neuen, eine überzeugende Präsentation von Werken höchster Qualität geboten oder zugemutet worden sei«. 114 Es sei deshalb »ganz unmissverständlich, dass gegenwärtig gerade im Bereich der Kommerzkunst verantwortungswillige, kenntnisreiche und arbeitsfreudige Mittler tätig sind. Heute scheinen die Galeristen auch die besseren Vermittler zu sein; sie sorgen sich um die Entwicklung und Entfaltung von Werkwirkungen so umfassend und nachhaltig, weil sie leidenschaftliches Interesse mit der Möglichkeit verbinden müssen, auch in Zukunft noch tätig sein zu können – durch wirtschaftlichen Erfolg. Je größer der Erfolg, desto größer die eigenen Einwirkungsmöglichkeiten. Für das bloße Herumspielen in Kennerattitüden und Oberrichtermanier bleibt keine Zeit.«115
Dieses recht polemische Statement Brocks, dessen eigenes Interesse stets in der Analyse und der praktischen Vermittlung ästhetischer Wahrnehmung von Kunst lag, mag fast ein wenig schockieren, da er den Mechanismen des Marktes eine ernster zu nehmende Rolle in der Kunstbewertung zuschreibt als den nicht an der Ökonomie orientierten Kunstdiskursen. 1972 hatte er im Rahmen der »documenta 5«, die sich in ihrer Konzeption explizit den Mechanismen des Kunsthandels entgegengestellt hatte, eine Besucherschule eingerichtet, mit der Bildsysteme auf die Frage nach ihrer Rolle in der Konstituierung von Wirklichkeit untersucht wurden. 2007 erscheinen ihm nun die kommerziellen Konsequenzen als einzig greifbare Legitimation für jeg-
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Wagner 2007a. Siehe Brock 2007. Brock 2007. Brock 2007.
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liche Evidenzbehauptungen in der Kunst zu sein. Alles andere unterliege dem völligen Unabhängigkeits- und damit Willkürpathos. So werde es laut Brock »noch sehr lange dauern, bis die unbequeme Ungreifbarkeit der Kuratoren im Kunstund Kulturbereich, gedeckt durch vermeintliche Wahrung der Kunst-, Wissenschaftsund Religionsausübungsfreiheit, nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn… ja wann also? Wenn fähige Galeristen mit ihrem höchstqualitativen Angebot von Werken jener Künstler, die mindestens 15 Jahre kontinuierlicher Arbeit durchgestanden haben, auch einem documenta-Publikum die Chance bieten, sich an solchen beispielhaften Arbeiten zu orientieren.«116
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Mechanismen des Marktes unmissverständlich Teil des Ausstellungsbetriebs der documenta geworden sind. Gleichzeitig wirkt die documenta als Zahnrädchen der Wertbildungsmaschinerie des Marktes. Die damit entstehenden Internationalisierungseffekte sind unverkennbar. Trotzdem können diese nicht einfach analog mit den Prozessen der Globalisierung der documenta und im übertragenen Sinne mit der globalen Kunstwelt gesetzt werden. Dies wäre eine – wenn auch nicht zu vernachlässigende – eindimensionale Betrachtungsweise. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sind vor allem die Wirkungen der kulturellen Differenzierungsmechanismen grundlegend für ein reflektiertes Verständnis von Globalisierung.
4.3 K ULTURELLE D IFFERENZ IM G LOBALISIERUNGSKONTEXT
DER DOCUMENTA
Die ständige Arbeit an der Differenz wird auf Dauer nicht wirkungslos bleiben. Davon bin ich überzeugt. GEORG SCHÖLLHAMMER
Die Gründung der documenta im Jahr 1955 fällt in eine Phase, für die sich eine weltweite Verknüpfung und Verdichtung ökonomischer wie kultureller Prozesse diagnostizieren lässt. Spätestens ab den 1980er Jahren wurden diese Verläufe unter dem Begriff Globalisierung zusammengefasst. Die documenta kann in ihrer eigenen Definition als Weltkunstausstellung und ihrer von Beginn an propagierten Internationalität als ein Symptom dieser Entwicklungen gedeutet werden. In diesem Zusammenhang geraten neben den ökonomischen Aspekten nun Fragen und Problematiken in den Blick, die durch ein Aufeinandertreffen von Kunst und Künstlern/innen unterschied-
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Brock 2007.
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lichster kultureller Provenienz im globalen Gefüge der Kunstwelt entstehen. Am offensichtlichsten wirken sich die Debatten im Bereich des Ausstellungswesens aus, wenn es um die öffentliche Sichtbarmachung und die Diskussion von Kunst jenseits ihres Entstehungsorts und damit an einem kontextuell anders geprägten Präsentationsort geht. Insbesondere die drei letzten documenta-Ausstellungen (»dX«, »D11« und »d12«) reagierten auf die daraus erwachsenen Forderungen nach neuen Perspektiven sowohl für die Formen der Darbietung als auch für die Rezeption, die Bewertung und die Interpretation bildender Kunst im Globalisierungskontext. An den vorhergehenden documenta-Ausstellungen lassen sich aber bereits Symptome der zunehmenden Internationalsierung der Kunstwelten ablesen. In der Kenntnisnahme dieser Entwicklungen seit 1955 wird die Entstehung der globalen Kunstwelt evident. 4.3.1 documenta I Der Gedanke, heute eine internationale Ausstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu veranstalten, liegt so nahe, daß er keine nähere Begründung zu erfordern scheint. […] Immer wo das Problem des Zeitgenössischen sehr brennend wurde und ins Übernationale wies, gehörte es zu den Anliegen des deutschen Geistes, sich jeweils Rechenschaft in breiter Form abzulegen. WERNER HAFTMANN
Die erste documenta im Jahr 1955 hatte sich der Ausstellung moderner europäischer Kunst verschrieben. Eines der Hauptziele der Ausstellungsmacher unter der Leitung von Arnold Bode war es, eine (Wieder-) Eingliederung der modernen bildenden Kunst (west-)deutscher Künstlerinnen und Künstler in die internationale117 Kunstwelt zu ermöglichen. Dabei lag der Fokus auf dem Bereich der abstrakten Kunst. Grundlegend hierfür war die Idee, über die Abstraktion eine international kommunizierbare Weltkunstsprache herzustellen und damit einen (neuen) Weltkunstbegriff zu etablieren. Das Ausstellungskonzept basierte maßgeblich auf den im Jahr 1954 veröffentlichten Ausführungen »Die Malerei im 20. Jahrhundert«118 von Werner Haftmann. Der Kunsthistoriker und Theoretiker der ersten documenta hatte die Abstraktion als das allgemeine Ziel der kunsthistorischen Entwicklungen seit der Renaissance und als Höhepunkt der Kunst Europas
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Die Internationalität der Kunstwelt beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt weitgehend auf die westlichen Teile Europas und die USA. Haftmann 1954.
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beschrieben. Die in der Nachkriegszeit entstandene Form der Abstraktion ließe nun die Entstehung einer Weltkultur zu. Auf dieser Basis (be-)gründeten die Initiatoren der documenta das Ereignis als Weltkunstausstellung. Der verwendete Weltkunstbegriff leitete sich aus dem im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Weltkunstbegriff ab. In seiner Weiterentwicklung wurde der Gedanke eines formästhetischen Universalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts um die Forderung eines Blicks über den europäischen Horizont erweitert, wie ihn beispielsweise Oskar Beyer definiert: »Der Weltkunstgedanke, das ist das Sichauftun eines universalen Kunsthorizonts und die Erkenntnis, daß es dringende Pflicht ist, über die Mauern Europas hinauszuspringen, um mit jenen riesigen Kunstprovinzen sich auseinander zu setzen und in lebendige Beziehung zu treten, die außerhalb unseres westlichen Erdteils existieren.«119
Es lässt sich vermuten, dass die radikale Betonung der Abstraktion und die daran anknüpfende Definition von Weltkunst im Rahmen der »documenta [1]« nicht zuletzt als Reaktion auf die jede Form von modernistischem und avantgardistischem Gedankengut ablehnende völkische Ideologie des NSRegimes zu deuten sind. Über die Hälfte der auf der ersten documenta präsentierten Kunstwerke waren im Zuge der Kulturpropaganda im Dritten Reich als »Entartete Kunst« zur Schau gestellt worden und sollten nun wieder in einem angemessenen Rahmen gezeigt werden. »Die erste Documenta ist also zu sehen als großangelegte Gegendemonstration zu den Diffamierungsmethoden des deutschen Faschismus.«120 Hans Belting erkennt hier eine Verwandlung der modernen Kunst, die zunächst der nationalen Kunstpolitik zum Opfer gefallen war und nun zur »Heldin der internationalen Kultur« aufstieg121 – wenn auch zunächst nur im europäischen Kontext. Der aus der modernen abstrakten Kunst abgeleitete Weltkunstbegriff sollte schließlich eine völlig andere Idee globaler Zusammenhänge und im übertragenen Sinne schließlich von Globalität in den Vordergrund stellen, als dies noch wenige Jahre zuvor im Nationalsozialismus der Fall war. Freilich ist das Verständnis einer mit der ersten documenta vorgelegten Repräsentation und Diskussion von Weltkultur und Weltkunst von den später einsetzenden Debatten um Globalisierung weit entfernt. Dennoch bieten gerade die ersten documenta-Projekte mit dem Anspruch, Weltkunstausstellungen zu sein, wichtige Anhaltspunkte für die heutigen Diskussionen in der globalen Kunstwelt. Wenn es um die Frage nach dem Umgang mit kultureller Differenz im Globalisierungskontext der documenta geht, dann scheint zum Beispiel die Tatsache interessant, dass bereits die Ur-documenta vom Prinzip einer nationalen Einteilung der ausgestellten Kunstwerke absah. Anders als die Biennale von Venedig, in der bis heute jede Nation ihre
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Beyer 1923: 11. Kimpel 2002: 21. Vgl. Belting1995: 46.
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Kunst in einem spezifischen Pavillon präsentiert, herrschte in Kassel von Beginn an ein national weitgehend unabhängiges Auswahlprinzip. Im Konzept der ersten documenta war vorgesehen, die Wurzeln der modernen bildenden Kunst Europas, die sich laut Bode und Haftmann kulturund epocheübergreifend bis in die Steinzeit zurückverfolgen ließen, in Form einer Retrospektive aufzuzeigen. So wurde der Ausstellung eine Art BilderGeschichte der Moderne im Eingangsbereich vorangestellt. Anhand der verwendeten Bildtafeln lässt sich nachweisen, dass sich die Kuratoren bezüglich des Eingangskonzepts unter anderem an der Schrift André Malraux’ »Le musée imaginaire« orientiert haben. Das imaginäre Museum sieht das Nebeneinanderstellen von Abbildungen künstlerischer Objekte aus allen Teilen der Welt und allen Zeiten vor, um einen vergleichenden Überblick über die künstlerische Vielfalt zu ermöglichen. Die Nivellierung geographischer, geschichtlicher und materieller Kontexte durch die unkommentierte fotografische Abbildung lenkte den Blick allein auf die ästhetischen und formalen Qualitäten der Kunstwerke, um damit das Erkennen einer Weltkunstsprache zu garantieren. Dem Zeitgeist entsprechend sieht Malraux die moderne Kunstpraxis Europas als Gipfel des künstlerischen Schaffens und wertet das einzelne Werk zugunsten einer die Objekte einenden Harmonie ab. Es ist dennoch auffällig, dass kulturelle Pluralität und das Moment der Gegenüberstellung differenter Kunstwerke in seinem Werk grundlegend für die Argumentation einer Weltkunstsprache sind. »Angesichts einer vielfältigen Präsenz sich gegenüberstehender Objekte, welche den Betrachter weniger zur Versenkung in ein einzelnes Werk als vielmehr zum Vergleich der Werke untereinander auffordern, verändert sich auch die Wahrnehmung des einzelnen Werkes; dieses erscheint im Museum stets im Spiegel anderer Ausstellungsstücke. […] Wenn demnach die museale Erfahrung das Vorhandensein eines allumfassenden, kultur- und epocheübergreifenden ›Wesens‹ der Kunst erahnen lassen soll, muss diese Einsicht umso klarer werden, je vielfältiger die Vergleichsmöglichkeiten sind.«122
Im Zusammenhang mit dem Globalisierungsdiskurs der documenta ist also festzuhalten, dass die BesucherInnen der ersten documenta beim Betreten der Eingangshalle des Fridericianums unmittelbar mit der Thematik kultureller Differenz konfrontiert wurden. Zwar war die Darstellung dem spezifischen Anliegen geschuldet, einen weniger auf Differenzen denn auf Universalien basierenden Weltkunstbegriff nachzuweisen. Vor allem im Hinblick auf die Einebnung kulturgeschichtlicher Divergenzen lässt sich der Darbietung Oberflächlichkeit vorwerfen: »Anstatt die der Gegenwartskunst zugrundeliegenden Prozesse transparent zu machen, propagiert Bode bereits im Entrée einen statischen Kunstbegriff, der Enthistorisierung durch Histo-
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Bahmer 2008: 73-74.
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rie zum Ziel hat.«123 In ihrer zweidimensionalen, symmetrischen Anordnung vermittelten die Fotografien in der Eingangshalle einen sehr passiven, nahezu schweigsamen Eindruck – »stumm in unsere technisch zivilisierte Welt herüberblickend«124, wie es in einem zeitgenössischen Pressebericht heißt. Dennoch suggerierten die den Eingangsbereich flankierenden Bildwände auf besondere Art und Weise einen kulturübergreifenden Zusammenhang, der dem Weltkunstbegriff neben seiner universalen Komponente das Bewusstsein für die ihm innewohnende kulturelle Pluralität einschreibt. Zwar wurden die gezeigten Objekte durch die rein fotografische Darstellung ihrem historischen, geographischen und damit ihrem kulturellen Kontext enthoben und ihre Bedeutung im Einzelnen zugunsten einer übergeordneten, eurozentrischen Stilerklärung auf Form und Ästhetik reduziert. Auch fanden sich keine unmittelbar zeitgenössischen Werke, so dass eine Eingliederung so genannter fremder Kunst in einen Gegenwartskontext von vorneherein ausgeschlossen war. Jedoch verweist die Verwendung des Mediums der Objektfotografie für die Idee des »Musée imaginaire« Malraux’ auch auf eine Öffnung eurozentrischer Kunstbetrachtung: »Die Reproduktion hat uns die Bildwerke der ganzen Welt gebracht. Die Zahl anerkannter Meisterwerke hat sie vervielfacht, eine Menge anderer Werke zu diesem Rang erhoben und sie noch um einige weniger bedeutende Stile erweitert, die sie bis in den Bereich einer nur als fiktiv zu verstehenden Kunst hinein erhöht.«125 So waren außereuropäische Kunstwerke zwar nicht vor Ort, aber wenigstens durch fotografische Abbildungen präsent. Ergänzt man die hier angestellten Interpretation nun noch um die Überlegungen, die der für die theoretische Grundierung der »documenta [I]« verantwortliche Werner Haftmann ein Jahr vor der Ausstellungseröffnung vorlegte, erhält die Bildinstallation einen noch tieferen Gehalt. Haftmann resümiert in der Schlussbemerkung seiner Geschichte der »Malerei im 20. Jahrhundert«126 die Entwicklungen in der europäischen Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was in der Prophezeiung einer Weltkultur mündet. Diese liegt laut Haftmann in der weltweiten Verbreitung eines europäischen Lebensentwurfs begründet, dem er einen deutlich fragmentarischen Charakter zugesteht.127 Die Weltkultur sei der Ausdruck einer Simultaneität, die
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Kimpel 1997: 263. Rudolf Pérard zitiert in Kimpel 1997: 263. Malraux 1949: 42. Haftmann 1954.
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Ähnliche Formulierungen finden sich in diesem Zeitraum auch bei anderen Autoren wie zum Beispiel bei dem Historiker Arnold Toynbee: »Ein aus sich selbst verständliches Gebiet historischen Studiums ist innerhalb irgendeines völkischen Rahmens nicht zu finden. Wir müssen unseren historischen Horizont erweitern und in ganzen Kulturen denken. Aber dieser weitere Rahmen ist noch zu eng; denn auch Kulturen sind, wie Völker, ein Plural, kein Singular.« (Toynbee 1949: 7).
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Europa selbst nur noch als »Fragment eines großen Ganzen«128 zulässt. »Ich habe als europäischer Historiker geschrieben über europäische Malerei. Vielleicht war das gerade noch und zum letztenmal möglich! Ich glaube, daß ein späterer Mensch, der denselben Versuch unternimmt, nur noch als Welthistoriker über Weltmalerei wird handeln können.«129 Die Ahnung, der bis dato noch europäische Stilentwurf würde unter der Prämisse des Bewusstseins für die Gleichzeitigkeit verschiedener kultureller Einflüsse mit der Zeit einen wortwörtlich »globalen Charakter«130 annehmen, erscheint nahezu verblüffend. Man findet mitunter Formulierungen, die aktuellen Definitionen von kultureller Globalisierung in fast nichts nachstehen: »Heute ist alles im Bewußtsein vorhanden: die Jahrmillionen des biologischen Werdens, die Jahrtausende des menschlichen Ausdrucks, die Lebensformen aller Völker. Unser Bewußtseinsraum ist ungeheuerlich gedehnt und hat alle biologischen, ästhetischen, geographischen Räume in sich eingesaugt und operiert mit ihnen gleichzeitig.«131
Natürlich verliert das Argument der Gleichzeitigkeit kultureller Diversität in der bloßen Vor-Schaltung der Bilderwand im Eingangsbereich der »documenta [I]« als Vor-Geschichte der Moderne wieder an Bedeutung. Ein Zugeständnis der Zeitgenossenschaft künstlerischer Produktionen außereuropäischer KünstlerInnen wird von Haftmann erst für die Zukunft vorausgesagt und dies auch nur unter der Prämisse der Orientierung am europäischen Stilentwurf: »Der Grundplan des europäischen Stilentwurfs wird zukünftig wieder angetroffen werden, allerdings nicht lokal, sondern global.«132 Trotz allem ist die Thematisierung kultureller Diversität in der bildenden Kunst ein erster Schritt auf dem Weg der Überschreitung des begrenzten europäischen Horizonts. Denn die Idee Haftmanns einer Globalisierung des europäischen Stils beschränkt sich keinesfalls auf die Vorstellung einer reinen Homogenisierung des Stils, sondern bedenkt auch die Ausbildung jeweiliger kultureller Färbungen zeitgenössischer Kunst weltweit. »An Bildern, wie denen des Chilenen Matta oder des Kubaners Wilfredo Lam läßt sich sehen, wie in unsere intelligenten europäischen Malverfahren die magischen und totemistischen Wirklichkeitsbeschwörungen der urtümlichen Kulturen schon einwachsen und wie die Toten ins Leben zu rufen beginnen.«133
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Haftmann 1954: 479. Haftmann 1954: 480. Haftmann 1954: 480. Haftmann 1954: 479. Haftmann 1954: 480. Haftmann 1954: 480.
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So lässt sich, wenn auch mit großer Vorsicht, behaupten, dass in dem mit der »d[I]« aufgekommenen Weltkunstbegriff das Bewusstsein für die besondere Bedeutung kultureller Differenzen in einer globalen Kunstwelt bereits angelegt war. Dass zumindest leise Zweifel an einer dauerhaften Autokratie der europäischen Kunst und Kultur in einem Weltkunstzusammenhang aufgekommen waren, kann außerdem aus dem regen Interesse Arnold Bodes für die Künste außereuropäischer kultureller Räume geschlossen werden. Für die erste documenta hatte er sogar einen eigenen Raum für die »Kunst der Griechen, Kunst der Neger, Kunst aus Übersee, Kunst aus Australien!«134 ersonnen. Diese Idee wurde allerdings nicht umgesetzt. Im Programmentwurf für die »documenta 4« findet sich wiederum folgende Notiz: »Immer wieder wird die Frage nach den ›unbekannten‹ Kunstländern gestellt, die Frage nach den Ostblockstaaten, nach den jungen Völkern Afrikas, die Frage nach Asien und Südamerika. Trifft es wirklich zu, dass sich dort nennenswerte Talente, die man in Paris und New York nicht kennt, verborgen halten? Wir meinen, es wäre dort wirklich viel zu entdecken.«135
Im Herbst 1964 hatte Bode darüber hinaus eine Ausstellung mit dem Titel »Afrika – 100 Stämme – 100 Meisterwerke« an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin inszeniert. In diesem Zusammenhang ist eine Passage aus einem Brief Arnold Bodes an den Vizepräsidenten und Programmdirektor der Berliner Festwochen Nicolas Nabokov aufschlussreich. Sie vermittelt eine Einstellung des documenta-Vaters, die für die sich entwickelnden Diskurse über die Globalisierung von erheblicher Tragweite hätten sein können – wären sie im Rahmen der documenta bereits in den 1960er Jahren weiter diskutiert worden. »Der Vorschlag […], nur eine Ausstellung mit dem Thema ›Einfluß der primitiven Kunst auf die Kunst des 20, (sic!) Jahrhunderts‹ zu veranstalten, läßt einen für uns entscheidenden Gesichtspunkt außer acht. Es kann nicht nur darum gehen, durch Gegenüberstellungen von afrikanischer und etwa kubistischer Kunst die Einflüsse Afrikas auf Europa zu manifestieren. Es kommt uns vielmehr darauf an, Afrika – hier konzentriert auf Nigeria – als selbständigen großen Kulturraum gleichberechtigt neben die Manifestationen europäischer Kunst zu stellen und die alte Vorstellung auszuräumen, es handle sich hier um ›primitive‹ Kunst. Leider hat die Fachwissenschaft
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Handschriftliche Notizen Arnold Bodes zur documenta 1955 (Georgsdorfer 2007: 64). Arnold Bode im Programmentwurf für die »documenta 4« am 07.08.1965 (Georgsdorfer 2007: 163).
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auf diesen Terminus, der doch eine Einschränkung des geistigen und künstlerischen Wertes in sich einschließt, bisher noch nicht verzichtet.«136
Bodes Vorschläge, außereuropäische Kunst in die documenta-Ausstellungen zu integrieren, wurden jedoch offenbar regelmäßig abgelehnt. Erst Jan Hoet sollte mit der »documenta IX« wieder auf diese Ideen zurückkommen. 4.3.2 documenta II-8 Die Internationalität der documenta beschränkte sich bis in die 1980er Jahre fast ausschließlich auf die Teilnahme und Diskussion westeuropäischer und US-amerikanischer KünstlerInnen. Immerhin hatte Bode das internationale TeilnehmerInnenkorpus der »documenta II« deutlich erweitert: es waren KünstlerInnen aus 36 Ländern beteiligt, eine Anzahl, die erst mit der »documenta IX« im Jahr 1992 übertroffen wurde. Die Brisanz nordamerikanischer Kunst innerhalb der globalen Kunstwelt war schon im Jahr 1959 zu spüren, »zumal der ›Abstrakte Expressionismus‹ in den Jahren zuvor mit einigen Ausstellungen und staatlichem Nachdruck in Europa zur Geltung gebracht worden war.«137 Laut Bode sollte die »d2« »im wesentlichen die Entwicklung nach dem Krieg darlegen, die Vielfalt der Ideen und Formen in der Legitimität der gemeinsamen Abkunft und die schnelle Ausbreitung über die Welt als ›Weltkunst nach 1945‹.«138 Ihre Besonderheit, so Bode weiter, erhielt sie aber schließlich »durch einen umfassenden Beitrag aus den USA«.139 Die »documenta 4« stand dann völlig unter dem Primat der US-amerikanischen Kunst, »die mit den Großformaten der Post-PainterlyAbstraction und der Farbfeldmalerei räumliche Dominanz bewies, aber auch mit Minimal Art und Pop Art ein neues Verständnis von Realitätsbezug ausformulierte, das Haftmanns These der ›Weltsprache Abstraktion‹ zum historischen Modell erklärte.«140 Auf eine Retrospektive zeitgenössischer Kunstproduktion wurde in diesem Jahr vollkommen verzichtet, die »d4« widmete sich ausschließlich der Kunst der 1960er Jahre. Die folgende documenta 1972 zeichnete sich durch eine sehr große Bandbreite von Werken aus, die unter anderem visuelle Produktionen aus Werbung, der politischen Ikonographie, Kitsch, religiös-volkskundlichen Bilderwelten, Science Fiction oder der Bilder von geistig Behinderten umfasste. Man stieß unter anderem auf eine von ihrem künstlerischen Leiter Harald Szeemann konzipierte Installa-
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Arnold Bode in einem Brief an Nicolas Nabokov, Vizepräsident und Programmdirektor der Berliner Festwochen am 20.01.1964 (Georgsdorfer 2007 : 132). Kimpel 2002 : 33. Bode 1959. Vgl. Bode 1959. http://www.documenta12.de/d40.html?&L=85630, 24.04.2010.
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tion, die das Moment kultureller Pluralität innerhalb der modernen Kunstgeschichtsschreibung wieder aufzugreifen schien, sich aber letztlich wieder in einem eurozentrischen Blick verlor: »Szeemann inszeniert an zentraler Stelle die von ihm so genannte ›Plattform des Denkens‹. Um Rodins ›Denker‹ versammelt er dabei eine Reihe von – profanen und religiösen – Plastiken aus den verschiedensten Zeiten und Weltgegenden. Wieder gerät Szeemann sein Plateau zu einem Plateau des Exotismus, auf dem die Exponate des Fremden um die Figur des europäischen ›Denkers‹ kreisen.«141 Auch die drei folgenden documenta-Projekte zeichneten sich durch ihre Heterogenität der ausgestellten Kunstformen aus. Die »documenta 6« konzentrierte sich vor allem auf die Darstellung von Kunst innerhalb einer von technischen Medien dominierten Gesellschaft. Zum ersten Mal waren hier auch Arbeiten von Künstlern aus der DDR ausgestellt, die sich im Stil des sozialistischen Realismus präsentierten. Der Stadtraum Kassel avancierte zudem zu einem immer bedeutender werdenden Forum für künstlerische Installationen und Projekte. Sowohl »documenta 7« als auch »documenta 8« setzten sich intensiv mit der sich kontinuierlich veränderten gesellschaftspolitischen Lage von Kunst auseinander. Der Aspekt kultureller Diversität innerhalb der globalen Kunstwelt, der sich zum Ende der 1980er Jahre immer mehr aufdrängte, wurde nicht allerdings verhandelt. Die Prophezeiungen Haftmanns scheinen sich jedoch spätestens seit den 1990er Jahren gewissermaßen erfüllt zu haben. Dass zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts von zeitgenössischer bildender Kunst nicht mehr in der Reduktion auf europäische Kunst gesprochen werden konnte, floss nun auch in die Konzepte der folgenden documenta-Ausstellungen ein.
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Marchart 2004: 111.
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4.3.3 documenta IX -11 4.3.3.1 documenta IX Wir leben in einer Zeit der sozialen, individuellen und auch kulturellen Unbestimmtheit, in der der Horizont keine gerade Linie mehr ist. Er ist vielmehr erfahrbar als vage Spannung zwischen Erde um Himmel, als eine Unbestimmtheitszone, in der der Blick nicht mehr richtig scharf gestellt werden kann. Gut und Böse, oben und unten, richtig und falsch verwischen sich in diesem Zwischenbereich zu einer verwirrenden Relativität. JAN HOET
Die Geschichte der documenta ist durchweg von Symptomen der Globalisierung durchzogen, was sich allein aus ihrer internationalen Ausrichtung ergibt. Der Rückblick auf die erste documenta hat gezeigt, dass schon 1955 Anlagen für Diskussionen nachgewiesen werden können, die ein halbes Jahrhundert später zu zentralen Argumenten eines Globalisierungsdiskurses wurden. Die künstlerische Leiterin Catherine David hatte die zehnte documenta schließlich konkret unter die Prämisse der kritischen Reflexion der globalen Kunstwelt gestellt. Es wäre allerdings ein wenig übertrieben, allein die »dX« als radikalen Wendepunkt zu bezeichnen. Damit deutlich wird, dass bereits vor der »dX« Einflüsse und auch kritische Reaktionen auf die globalen Entwicklungen im Kontext der documenta zu verzeichnen sind und es sich beim Aufkommen eines Globalisierungsdiskurses mehr um einen Prozess denn um einen radikalen Bruch handelt, wird die »documenta IX« im Jahr 1992 der Besprechung der letzten drei documenta-Projekte vorangestellt. Hier wurde der Globalisierungsdiskurs bereits aufgegriffen, auch wenn er sich auf einer anderen Ebene bewegte als in den Folgeausstellungen. Der aus Belgien stammende künstlerische Leiter der »documenta IX« Jan Hoet bezog sich in Anlehnung an Marshall MacLuhans »global village«142 vor allem auf die zunehmende Medialisierung und Virtualisierung der Welt: »Die Welt ist atomisiert, Ganzheitlichkeit verschwindet zunehmend aus unserem Leben. Alles ist zum Bild geworden, mediatisiert, die Augen und ihre immateriellen Erfahrungen bilden das Zentrum unserer Außenkontakte.«143 Das aus dieser Situation entstandene bedrohliche Gefühl von Beliebigkeit, Ungewissheit und Bodenlosigkeit konterte Hoet, indem er
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McLuhan 1995. Hoet 1992: 18.
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die Körperlichkeit (neu) betonte. Er erkannte die documenta als einen konkreten Möglichkeitsraum, in dem die Welt über die Kunst wieder in anderer Form erfahrbar und den fortschreitenden Globalisierungstendenzen entgegenzuwirken sei. »Die documenta steckt voller Möglichkeiten.«144 Das Anliegen der Kunst wurde als »Re-Kombination atomisierter Erfahrungen, die Re-Organisation jenseits einer wissenschaftlichen Systematik und die ReKonstruktion eines existenzgebundenen Sinngeflechts«145 formuliert. Nicht zuletzt auch animiert durch feministische Ansätze forderte Hoet eine neue Sichtweise, eine Verschiebung der Dinge aus ihren gewohnten Zusammenhängen und damit eine neue Wahrnehmung der Bedingungen der menschlichen Existenz. Dazu bezog er sich auf das mathematisch-philosophische Konzept des »displacement«, eine Methode, die auf Leibniz und Newton zurückgeht und die durch die Verrückung der Erkenntnisobjekte aus ihrem Zusammenhang eine neue Sicht auf die Dinge versprach. Im Gegensatz zu der fünf Jahre später realisierten »documenta X« blieben die Ausstellung und die an sie gekoppelten Diskussionen allerdings weniger politisch und erfolgten aus einer relativ subjektiven Perspektive. »Ich glaube an diese Kraft von Kunst aus sich selbst heraus, an ihr veränderndes Potential, aber ich habe Zweifel an der Kraft dessen, was ich über politische, gesellschaftliche Realitäten sagen kann.«146 Tatsächlich muss die »documenta IX« im Kontext einer sich nach 1989 stark veränderten geopolitischen Situation verortet werden. Hoet und sein Team unternahmen innerhalb der dreijährigen Vorbereitungsphase zahlreiche Reisen, die um die ganze Welt gingen. Sie knüpften Kontakte mit Künstlern/innen, die ihre Werke später in Kassel präsentierten. Darüber hinaus suchte Hoet ähnlich wie einige Jahre später Catherine David bereits im Vorhinein die öffentliche Auseinandersetzung und Konfrontation in Form der so genannten »Marathon-Gespräche«. Diese fanden in Gent (Februar 1990, 12 Stunden) und in Weimar (April 1991, 24 Stunden) statt. Hier wurden unter anderem die Ergebnisse der Reisen vorgestellt und diskutiert. Der regionale und zeitliche – auf Kassel und 100 Tage begrenzte – diskursive Rahmen der documenta erfuhr auf diese Weise eine deutliche Erweiterung. Insgesamt nahmen Künstler und Künstlerinnen aus 43 Ländern147 teil, darunter zum ersten Mal in der Geschichte der documenta auch fünf brasilianische GegenwartskünstlerIn-
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Hoet 1992: 18. Hoet 1992: 18. Hoet 1992: 21. Argentinien, Australien, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Brasilien, Chile, China, Dänemark, Deutschland, Dominikanische Republik, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Indien, Irland, Israel, Italien, Japan, Jugoslawien, Kanada, Korea, Kuba, Marokko, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Philippinen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Senegal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Südafrika, Tschechische Republik, Ungarn, USA.
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nen148. Zu Beginn der 1990er Jahre ist also eine deutliche Veränderung des Blicks auf außereuropäische Kunst zu verzeichnen. Der Kunsthistoriker Michael Hübl macht diesbezüglich in einem in der Zeitschrift »Kunstforum International« abgedruckten Beitrag auf die künstlerischen Arbeiten des Afrikaners Mo Edoga und des Cherokee Jimmi Durham auf der »dIX« aufmerksam: »Die Arbeit des Afrikaners galt damals – ähnlich wie die Kunst des Cherokee Jimmi Durham – als ideelle Bekräftigung eines Aufbruchs in eine postindustrielle oder, wie Mo Edoga sagte, ›endmoderne‹ Zukunft: In ihr sollte das auf technologische und ökonomische Expansion gepolte Fortschrittsdenken der Moderne abgelöst werden. An seine Stelle sollte ein Konzept der Weltaneignung treten, das auf einem sorgsamen, schonenden, pfleglichen Umgang mit den Lebensbedingungen des Menschen und seinen technischen Fähigkeiten setzt und das von daher auch das Wissen und die Weltsicht der Naturvölker als integrales Element eines umfassenden globalen Zusammenhangs begreift, statt es als praezivilisatorische Vorstufe abzutun, die an den Entwicklungsstand der Moderne anzugleichen sei.«149
Die »documenta IX« hat durchaus Diskussionen um das Aufeinandertreffen von Kunst aus kulturell unterschiedlich kodierten Kontexten entfacht.150 Auch wenn dies nur kleine Schritte auf dem Weg zu einer breiteren Wahrnehmung von zeitgenössischer Kunst aus der bis dato so genannten Peripherie waren, sind sie in ihrer Gesamtheit doch zu würdigen. So äußert sich der ehemalige Leiter des Programmbereichs »Bildende Kunst – Film – Medien« des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin Alfons Hug in einem Interview: »Zur Documenta hat Jan Hoet zum ersten Mal zwölf Künstler aus der so genannten dritten Welt eingeladen, das war zwar manchen zu wenig, aber ich sehe als kühnes Statement an, zwei afrikanische Bildhauer, die bisher ignoriert worden waren, in eine solche Ausstellung einzubeziehen.«151 Es ist darauf zu verweisen, dass zumindest die hier angesprochenen afrikanischen Künstler in Europa leben und arbeiten152, das heißt bereits zum Zeitpunkt
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Waltercio Caldas (Rio de Janeiro), Saint Clair Cemin (Cruz Alta), Jac Leirner (São Paulo), Cildo Meireles (Rio de Janeiro) und José Resende (São Paulo). Hübl 2007: 67. Siehe dazu zum Beispiel den Artikel der Kunsthistorikerin Ulrike Lehmann, die sich darin in unmittelbarer Reaktion auf die internationale KünstlerInnenPräsenz auf der »dIX« mit der Frage der Definition von Eigenem und Fremden und dem internationalisierten Denken im Kunstwerk auseinandersetzt. (Lehmann 1992: 62-71.) Hug 1995: 109. Der Nigerianer Mo Edoga lebt seit 1982 in Mannheim. Seine künstlerischen Arbeiten beziehen sich auf das unmittelbare natürliche Umfeld, thematisieren aber vor allem Zusammenhänge natürlicher wie kultureller Begebenheiten.
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der »documenta IX« innerhalb der so genannten ›westlichen‹ Kunstwelt wirkten. Auch die anderen beteiligten KünstlerInnen waren bereits in die Kreisläufe des internationalen Kunstbetriebs involviert und nicht zum ersten Mal im europäischen Ausstellungskontext präsent. Dennoch erscheint die programmatische Erweiterung internationaler Partizipation nicht unerheblich für den sich anbahnenden Dialog um das Aufeinandertreffen kulturell unterschiedlich basierter Kunstproduktionen im Rahmen der documenta. 4.3.3.2 documenta X In einer Zeit der Globalisierung und der sie begleitenden, manchmal gewaltsamen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen repräsentieren die heute wegen ihrer angeblichen Bedeutungslosigkeit oder ›nullité‹ (Jean Baudrillard) unterschiedslos verdammten zeitgenössischen Praktiken eine Vielfalt symbolischer und imaginärer Darstellungsweisen, die nicht auf eine (fast) gänzlich der Ökonomie und ihren Bedingungen gehorchende Wirklichkeit reduzierbar sind; sie besitzen damit eine ebenso ästhetische wie politische Potenz. CATHERINE DAVID
Während Jan Hoet die Präsenz der außereuropäischen TeilnehmerInnen auf der »documenta IX« weitgehend unkommentiert gelassen und eine direkte Auseinandersetzung mit kultureller Diversität im Globalisierungskontext nicht erwogen hatte, machte Catherine David die kulturelle Dimension von Globalisierung zum Kernthema ihrer »documenta X«. Unter dem Label »manifestation culturelle« sollte eine Bestandsaufnahme und Interpretation der zeitgenössischen Kultur erfolgen. Der Blick auf dieses komplexe Feld sollte es ermöglichen, die die zeitgenössische Kunst bestimmenden aktuellen und historischen Kontexte seit 1945 als extrem heterogenes, von Widersprüchen und Kontroversen gezeichnetes, sich ständig veränderndes und
Der US-Amerikaner Jimmi Durham war in den 1970er Jahren stark in die Arbeiten des American Indian Movement (AIM) involviert und widmete sich nach deren Aufspaltung eigenen künstlerischen Arbeiten, die bis dahin konventionelle Repräsentationen nordamerikanischer Indianer radikal in Frage stellten. Er ist Direktor und Mitbegründer des International Indian Treaty Council und dessen Vertreter in der UNO. Nach seinem Wirken in der USA, der Schweiz und einem längeren Aufenthalt in Mexiko lebt Durham seit 1994 in Europa, seit 1997 in Berlin.
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deshalb schwer klassifizierbares Feld zu begreifen. Für dieses Vorhaben war die Ergänzung der rein ästhetischen Inszenierung der Ausstellung um eine theoretisch-diskursive Ebene vorgesehen. So ereignete sich die »dX« weniger als ästhetisches Spektakel, sondern behauptete sich als »ein Arbeitsplatz, ein Archiv, ein Seminar, jedenfalls ein Lehrort, der hohen Zeitaufwand und die Bereitschaft zum Einlassen auf den Lehrstoff fordert.«153 In Anbetracht ihres hohen gesellschaftspolitischen Anspruchs kann die »documenta X« mitunter als Reaktion auf die wenig politisch orientierte »documenta IX« verstanden werden – allerdings nicht als Gegenentwurf sondern als Weiterverfolgung der dort aufgekommenen Fragestellungen. Verwirklicht wurde dies zum einem mit dem der Ausstellung parallel geschalteten Programm »100 Tage – 100 Gäste«, zum anderen in der Ausgabe des Kataloges, der weniger als ein begleitender, kommentierter Bildband denn als Lesebuch funktionierte. »Indem für das Geschehen auf ihrem Ereignisstrang die ›herkömmlichen Kategorien nicht mehr anwendbar sein sollen‹, verlagert sich die Ausstellung: in die Theorie, in den politischen Diskurs, ins Verbalisieren, in den Katalog (der gleichfalls keiner mehr sein darf), ins monumentale ›Buch zur documenta X‹.«154
Der Titel »Politics/Poetics«, der auf eine Arbeit des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers aus dem Jahr 1968 zurückzuführen ist, verweist auf die enge Verbindung des Ästhetischen mit dem Politischen. Die Begrifflichkeit des Poetischen beinhaltet hier zugleich die Erweiterung eines rein visuellen Ästhetikverständnisses, das einem oberflächlichen, durch die zunehmende Medialisierung geschulten Blick entgegenwirken sollte. »Der Status des Poetischen ist unsicher, da Poesie in ihrer Ausdrucksform per se changierend ist. Der Status ist nicht definiert, sondern er bricht die eingespielten Hierarchien des Sehens und Denkens auf. Die Poesie ihrerseits bietet nicht nur binäre Oppositionen, sondern wirft die Frage nach der Bedingung des Bildes zwischen der Kunst und den Medien oder eben auch die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung von Kunst auf.«155
Eben dieser Frage im besonderen Kontext der Globalisierung und deren ökonomischen, soziopolitischen und kulturellen Auswirkungen widmete sich auch das Programm »100 Tage – 100 Gäste«. Dieses Panorama globaler Diskurse ermöglichte durch seine internationale, interdisziplinäre Ausrichtung eine Annäherung an die unterschiedlichen Facetten und damit die Komplexität des Phänomens Globalisierung. So wurde dem interkulturellen
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Kimpel 2002: 133. Kimpel 2002: 131. Steinbrügge 2005: 363.
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Dialog grundsätzlich viel mehr Raum gegeben als bei der vorhergehenden documenta. »An der Veranstaltung ›100 Tage – 100 Gäste‹ schließlich nehmen Künstler und ›acteurs culturels‹ (Architekten, Stadtplaner, Wirtschaftswissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller, Filmemacher, Regisseure und Musiker) aus der ganzen Welt teil, die, entsprechend ihrer Tätigkeitsfelder, die brennenden ethischen und ästhetischen Fragen am Ende des Jahrhunderts debattieren werden, zu Themen wie: Urbanismus, Territorium, Identität, Bürgerrechte, ›sozialer Nationalstaat‹, Staat und Rassismus, Globalisierung der Märkte und nationale Politik, Universalismus und Kulturalismus, Kunst und Politik.«156
Die »documenta X« zeichnete sich insgesamt nicht dadurch aus, besonders viele künstlerische Beiträge aus den so genannten ›nicht-westlichen‹ Ländern gezeigt zu haben. Tatsächlich urteilt Catherine David im Vorwort des Kurzführers der Ausstellung vor allem bildende Gegenwartskunst ›nichtwestlicher‹ Kulturen als ein erst »seit kurzer Zeit« existierendes Phänomen ab, das sich »im günstigsten Fall [als] eine Begleiterscheinung der beschleunigten Akkulturation und des kulturellen Synkretismus in den Großstädten und Riesenmetropolen, im schlimmsten Fall eines des Zwangs zu Marktbelebung und zur Umsatzsteigerung im Westen«157 darstellt. Dies mag einer gleichberechtigten Beachtung solcher Kunstproduktionen zunächst widersprechen. Es bleibt jedoch zu beachten, dass durch die intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen – sowohl aktuellen wie auch historischen – Kontexten von Kunst des 20. Jahrhunderts aus verschiedenen Teilen der Welt der Diskurs über die Einbindung künstlerischer Arbeiten aus vormals als ›peripher‹ bezeichneten Ländern maßgeblich erweitert wurde. Der Kanon der so genannten ›westlichen‹ Kunstgeschichtsschreibung schien jedenfalls weder für eine Positionsbestimmung der aktuellen Situation der globalen Kunstwelt, noch für die Schaffung einer neuen Basis zum Verständnis zeitgenössischer Kunst zum Ende des 20. Jahrhunderts ausreichend. Auf die Notwendigkeit, vor allem Moderne nicht allein in ihrer als ›westlich‹ definierten Dimension zu denken, verweist David bereits weit im Vorfeld der Ausstellung: »Mit anderen Worten, wir sollten bedenken, daß es in dem Haus der Modernität viele Räume gibt, und daß Modernität eine Ansammlung vieler verschiedener Prozesse kultureller Konstruktion ist und viel mehr, als ein einfaches Pingpong zwischen Paris, New York, Berlin, Moskau, Wien…«158 Dieses Verständnis eines multiplen Charakters von Modernität und damit der Ansatz eines Denkens von Moderne im Plural konnte in der Ausstellung und im Lesebuch zur documenta beispielsweise an der Besprechung
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David 1997: 13. David 1997: 12. David 1995: 20.
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der Werke Hélio Oiticicas nachvollzogen werden. Der brasilianische Künstler gehörte zu den wichtigsten Vertretern der brasilianischen Avantgarde. Im Laufe seiner Künstlerkarriere versuchte er, ein ausdrücklich brasilianisches Bild von Moderne zu entwickeln, um den steroetypen und verallgemeinernden Konzeption einer lateinamerikanischen Kultur entgegenzuwirken. Er bemühte sich um die Herstellung einer Verbindung zwischen zeitgenössischen Avantgardebewegungen, nationalen Fragestellungen und kulturellen Besonderheiten. Mit der Präsentation und Verhandlung der Arbeiten Oiticicas im Kontext einer Retrospektive moderner Kunst auf der »documenta X« erweiterte sich auch das Blickfeld der documenta-Macher. Die Einbettung der brasilianischen Moderne in die documenta, die im Laufe ihrer Entwicklung zu einer Art Legitimationsinstrument für Gegenwartskunst geworden war159, schrieb sie gleichsam in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ein. Auch theoretische Ansätze, die im Kontext der künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Moderne in Brasilien entstanden waren und die deutliche sozialkritische Züge aufweisen, erfuhren auf diese Weise Beachtung. Dass sich das Kuratorenteam tatsächlich mit brasilianischen Modellen kultureller Heterogenität wie der antropofagia beschäftigt und diese in ihren gesellschaftspolitischen Diskurs integriert hatten, zeigt sich in einem Gespräch zwischen Catherine David, Benjamin Buchloh und JeanFrançois Chevrier über »Das politische Potential der Kunst«160: »Catherine David: Die brasilianische Kultur ist eine Kultur der Nahrungsaufnahme und des Verdauens; […]. Assimilation – im digestiven Sinne – ist die Norm. Alles wird miteinander vermischt: die Arbeitsergebnisse der Ethnologen, der Schriftsteller und der Theoretiker zusammen mit den Einflüssen aus dem Inneren des Landes, all die unterschiedlichen Elemente, die diese überaus komplexe Gesellschaft ausmachen. […] Jean-François Chevrier: [...] aus diesem Grund ist die brasilianische Perspektive so wichtig. Wir kommen damit zu einem Punkt, den wir bisher in unserer hauptsächlich französisch-deutschen Debatte noch nicht berücksichtigt haben, nämlich die Definition des Volkes auf der Grundlage seiner Heterogenität anstelle einer homogenen nati-
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»Die documenta verändert als Katalysator die Wirklichkeitsform materieller Gegenstände. Im Kontakt mit der Vermittlungsinstanz vollzieht sich der Prozeß der Veredelung von Hergestelltem zu künstlerisch Wahrnehmbarem; was der Mythos documenta tangiert, wird dem ästhetischen Bewußtsein erschlossen. […] Auf diese Weise wird die Dokumentationsveranstaltung selbst zum künstlerischen Produktionsmittel: Nicht nur vermittelt sie vorhandene Kunstwerke an die Öffentlichkeit, sondern sie ist an der Herstellung von Kunst aktiv beteiligt. Produktions- und Distributionsphase werden im documenta-Auftritt identisch.« (Kimpel 1997: 232-233). Buchloh/Chevrier/David 1997.
262 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS onalen Identität oder, im anderen Extremfall, einer irreversibel, brüchigen multikulturellen Identität.«161
Einzelne Textpassagen ethnologischer Abhandlungen oder ganze Essays von Ethnologen wie von Claude Lévi-Strauss, James Clifford, Clifford Geertz oder Pierre Clastre, die zwischen die theoretischen und künstlerischen Beiträge der Printausgabe der »documenta X« eingestreut wurden, ergänzen den geführten Dialog hinsichtlich kulturtheoretischer Positionen auf beachtliche Weise. So gelang es dem Anspruch der künstlerischen Leitung entsprechend, Kunst in ein erweitertes Feld der Kultur einzuschreiben, das sich durch einen immer heterogener und damit komplexer werdenden Charakter ausweist. Dem theoretischen Diskurs den Vorrang vor den Objekten gegeben zu haben, ist vielfach negativ kritisiert worden. David sah aber nur im Herstellen eines diskursiven Kontextes eine Möglichkeit, der Vielschichtigkeit der sich globalisierenden Welt gerecht werden: »Eine andere Vorstellung von Kunstpräsentation, die Idee zur Schaffung eines Kontextes, selbst wenn dieser nur ein kurzzeitiger und ein sehr polemischer ist, zielt auf die genannte extreme Komplexität der ›ästhetischen Phänomene‹ und die schwierige Entwicklung eines Zusammenhanges zwischen dem Lokalen und dem Globalen und zwischen Einheit und Diversität.«162
David erwähnt in diesem Zusammenhang den Mitbegründer der Biennale von Havanna, Gerardo Mosquera. Dieser hatte die Haltung, der Diskussion in einer zeitgenössischen Kunstausstellung den Vorrang zu gewähren, bereits für die kubanische Biennale etabliert und sich dabei auf das historische Modell des »Museums von Alexandria« bezogen. »Das war kein Museum von Gegenständen und für Gegenstände, sondern eine Bibliothek, ein Raum, in dem Menschen sich trafen, um über Ideen zu diskutieren und nachzudenken, nicht um Dinge an die Wand zu hängen.«163 Hatte Arnold Bode sich bei der ersten documenta 1955 mit seinem Versuch, die moderne Kunst in einen kultur- und epocheüberschreitenden Kontext zu stellen, auf André Malraux’ Modell des musée imaginaire bezogen und damit einen Weltkunstzusammenhang in Bezug auf die ästhetische Oberfläche erschlossen, so markiert der Verweis auf das »Museum von Alexandria« in Verknüpfung mit der »documenta X« eine deutliche Bedeutungsverschiebung in der Auffassung globaler Beziehungen künstlerischer Ausdrucksformen. Diese werden nicht durch übereinstimmende Momente ihrer ästhetischen Oberfläche virulent, sondern im diskursiven Verhältnis ihrer kontextuellen und kulturellen Verschiedenheiten. Wenn man an dieser
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Buchloh/Chevrier/David 1997: 397. David 1995: 19. David 1995.
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Stelle und in Rekurs auf die Gründer der documenta Arnold Bode und Werner Haftmann nun auf den Begriff der Weltkunstsprache zurückgreifen möchte, so sollte diese im Falle der »dX« nicht in Form eines einheitlichen ästhetischen Idioms, sondern als ein ästhetisch-politischer Polylog entstehen. Es ging darum, die Zusammenhänge kulturell differenter künstlerischer und theoretischer Äußerungen in ihrer kulturellen Mehrstimmigkeit und den damit verbundenen Widersprüchen und Dissonanzen zu suchen und nicht mehr primär in ihren Übereinstimmungen. Auf diese Weise bekannte sich die »documenta X« ganz bewusst zu ihrer Rolle einer kritisch fragenden, nicht allein darstellenden Institution der globalen Kunstwelt. Der Kunsthistoriker Benjamin Buchloh bezeichnete die documenta deshalb als eine Ausstellung mit Übergangscharakter: »Wir bezeichnen nur ein kritisches Ziel, unsere kritische Position ist ein Anspruch. Catherine ist nicht bloß da, um eine Bilanz der Gegenwartskunst zu ziehen; ein Kritiker kann auch eine Erwartung formulieren. Andernfalls ist der Kritiker nichts als ein Funktionär der Kulturindustrie.«164 4.3.3.3 Documenta11 Rather than vast distances and unfamiliar places, strange peoples and cultures, postcoloniality embodies the spectacular mediation and representation of nearness as the dominant mode of understanding the present condition of globalization. OKWUI ENWEZOR 2002 wurde die documenta endgültig zur Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst. DIRK SCHWARZE
Schon die »documenta IX« und noch deutlicher die »documenta X« hatten es angedeutet: die vormals so stabile Konstruktion der vorherrschenden ›westlichen‹ Normen innerhalb der globalen Kunstwelt war ins Wanken geraten. Mit der »Documenta11« verdichteten sich die kontinuierlichen Modifikationen schließlich zu einer offensichtlichen Kanonverschiebung. Freilich ist der entstandene Bruch in der globalen Kunstwelt nicht allein der documenta geschuldet, die Beiträge der Biennalen in Havanna, Dakar, Johannesburg, Istanbul etc. haben maßgeblich zu diesen Veränderungen beigetragen. »Doch die D11 trug eine bereits angebahnte Kanonverschiebung, die den Rand des Feldes bereits erfasst hatte, genau ins (imaginäre) Zentrum der
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Benjamin Buchloh im Gespräch mit Catherine David und Jean-François Chevrier (Buchloh 1997: 639).
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westlichen Kunstwelt.«165 Ein Perspektivenwechsel zuungunsten einer rein eurozentrischen Sichtweise innerhalb des Unternehmens documenta deutete sich bereits mit der Wahl des aus Nigeria stammenden und in den USA lebenden Künstlers, Kritikers und Kurators Okwui Enwezor zum künstlerischen Leiter der »Documenta11« an. In einer die räumliche und zeitliche Dimension des Kasseler »Museums der 100 Tage« sprengende, sich vor allem durch ein hohes Maß an Diskursivität auszeichnende Umsetzung der »D11« nahm dieser Wechsel endgültig Gestalt an. Enwezor setzte noch mehr als Catherine David auf eine intensive interdisziplinäre und interkulturelle Dialogführung, die gesellschaftspolitische wie ökonomische und kulturelle Kontexte in den Kunstdiskurs integrierte. Anders als David, die die »documenta X« als eine Verschmelzung von Politik und Poetik inszeniert hatte, sah er eine eindeutige Trennung der theoretischen und ästhetischen Diskurse vor. Auf diese Weise ergaben sich deutlich mehr Anknüpfungspunkte für eine kritische Analyse der Komplexität und Heterogenität der Beziehungen zwischen Kunst und ihrem diskursiven Kontext. Während die visuelle Konzentration auf die Kunstwerke direkt in der Ausstellung erfolgte, sollte das Politische bereits im Vorhinein durch eine erweiterte Öffentlichkeit Gestalt annehmen. So wurde ein Raum für die Wahrnehmung von und die Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt in der zeitgenössischen globalen Kunstwelt geschaffen. Wenn Enwezor im Zusammenhang mit der »D11« doch von Poetik spricht, so meint er »eine Poetik der Mehrung und Vielfalt, um maßvoll eingreifende kuratorische Entscheidungen, die an die Intelligenz und Tatkraft der Künstler appelliert, damit sie uns über andere Kunsttraditionen berichten, über neue Horizonte und Arbeitsmöglichkeiten, Produktionskontexte, Verschaltung des Künstlerischen mit dem Diskursiven, Momente der Schönheit und der Nichtübereinstimmung in Grundsatzfragen, eben all das, was Carlos Basualdo unsere ›Kulturgeographien‹ nennt und Sarat Maharaj so schön als ›epistemologische Maschinen‹ bezeichnet, als ›Zerkleinern-Zermahlen‹, was zu einer neuen Wahrnehmung der Welt führen kann.«166
Es wurde das allgemeine Ziel formuliert, das »eng umgrenzte Diskursfeld der institutionalisierten westlichen Ästhetik«167 im Moment der Krise im internationalen und interdisziplinären Dialog kritisch zu hinterfragen und neue epistemologische Bedingungen für die Einbettung von Werken aus allen Teilen der Welt in den Sprachgebrauch der visuellen Kunst zu erörtern. Die Frage nach dem Umgang mit kultureller Differenz avancierte damit zum Kernthema der Auseinandersetzungen. Für dieses Vorhaben war diesmal keine Retrospektive vorgesehen. Mit der Einrichtung von vier Diskussionsforen bzw. Symposien – Plattformen
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Marchart 2004: 61. Okwui Enwezor im Interview mit Amine Haase (Haase 2002a: 85). Enwezor 2002c: 11.
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genannt – in Österreich und Deutschland (Wien, März 2001 und Berlin, Oktober 2001: »Demokratie als unvollendeter Prozess«), Indien (Neu Delhi, Mai 2001: »Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung«), der Karibik (St. Lucia, Januar 2002: »Créolité und Kreolisierung«) und Nigeria (Lagos, März 2002: »Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte, Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos«) richtete sich der Fokus direkt auf aktuelle Debatten bezüglich visueller Kunst auf einer globalen Ebene. Durch den Ausbruch aus den geografischen Schranken der documenta kamen die Ausstellungsmacher einer verdichteten Fortführung des Globalisierungsdiskurses im wörtlichen Sinne entgegen. Denn die reine Konzentration auf die Beiträge, die im Rahmen der Ausstellung in Kassel diskutiert werden konnten, hätte den Ausschluss all derjenigen bedeutet, die aus verschiedenen, vor allem aber wohl wirtschaftlichen Gründen gar nicht erst hätten anreisen können. »Wir sind uns natürlich der Tatsache bewusst, dass das Publikum auf der Documenta vorwiegend deutsch ist. Aber die Documenta ist für die ganze Welt von Bedeutung, wir brauchen die Documenta, wir haben eine Verantwortung dafür übernommen, was die Documenta für solche Leute bedeutet, die nie in der Lage wären, nach Kassel zu kommen.«168
Die Ausstellung in Kassel stellte die fünfte und letzte Plattform dar. Im Zusammenspiel der Diskussionsplattformen und der Ausstellungsplattform entstand die »D11« schließlich als ein »interkontinentales Netzwerk der Diskurse«169, wie es der documenta-Experte Harald Kimpel nannte: »Als Kontext der zeitgenössischen Kunst gilt nicht mehr die konkrete lokale Dimension, sondern das weltweite Gewebe soziopolitischer Bedingungen für Kunst.«170 Die Auswahl der insgesamt sechs verschiedenen Veranstaltungsorte unterstand natürlich auch einer Form von Selektion. Allerdings sind hier die Einschlusskriterien stärker zu beachten als die Ausschlusskriterien. Mit ihrer Präsenz auf vier verschiedenen Kontinenten setzten die documenta-Macher ein Symbol für die diskursive Einbindung derjenigen Länder, »die unter dem Primat des westlichen Kunstbegriffs bislang von der Weltkunstausstellung ausgeklammert waren.«171 Was die »Documenta11« auszeichnete, war, so Oliver Marchart, der Respekt vor der Spezifik unterschiedlicher Wissensformationen, das heißt »[d]ie Anerkennung von Heterogenität und Spezifik – egal, ob es sich nun um Spezifizität künstlerischer Arbeiten handelte, oder um die spezifische thematische Kompetenz der Eingeladenen aus dem Feld
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Carlos Basualdo im Interview mit Amine Haase (Haase 2002c: 102). Kimpel 2002: 139. Kimpel 2002: 139. Kimpel 2002: 139.
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der Wissenschaft oder Theorie«172. Während die im Rahmen der »documenta X« zusammengetragenen – retrospektiven und zeitgenössischen – theoretischen Abhandlungen im Format einer Collage und damit teilweise nur bruchstückhaft zu einer Art poetisch-politischen Gesamtkunstwerk in Buchform zusammengestellt worden waren, erschienen im Rahmen der »Documenta11« vier Symposiumsbände, die der Leserschaft die Beiträge der einzelnen Plattformen zur Verfügung stellten. Dem Leser wurde damit ein diagnostisches Instrumentarium an die Hand gegeben, das sich durch ein Nebeneinander verschiedener Arten von Wissensproduktion auszeichnet. Die proklamierte Gleichzeitigkeit künstlerischer wie theoretischer Ausdrucksformen weltweit musste mit der Dezentrierung des ›Westens‹ einhergehen. Enwezor definiert den ›Westen‹ oder ›Westlichkeit‹ als systematische institutionelle Struktur, »in welcher schließlich jede ökonomische, juristische, wissenschaftliche, politische und soziale Organisation die Art und Weise definiert, wie man sich auf der ganzen Welt ausdrückt.«173 Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die so genannte ›Westlichkeit‹ nicht als eine geografisch beschränkte, sondern eine globalen Prozessen an sich inhärente Größe aufgefasst wird: »In der Tat muss man sagen, dass der Begriff Westen an sich in hohem Maße eingebettet ist in das, was das Globale ausmacht.«174 Dies galt es für eine kritische Perspektive auf den ›Westen‹ zu beachten. Das Projekt Okwui Enwezors verstand sich nicht als radikale Ablehnung von bestimmten etablierten Ordnungen und Denkweisen, sondern als Raum zur Erweiterung bzw. Neuformatierung des globalen Dialogs im Überdenken der ›westlichen‹ Hegemonialstellung. Anders hätte die documenta, eine zentrale Institution der internationalen Kunstwelt, nicht als Schauplatz des Vorhabens dienen können. Im Gegenteil war sie wichtig in ihrer Funktion als maßgebliches Legitimationsorgan der globalen Kunstwelt: »Auch Gegenkanonisierung zielt auf Repräsentation im Zentrum. […] Die Leuchtkraft des Zentrums wurde genutzt, während der hegemoniale Westen zugleich – jedenfalls teilweise – aus dem Zentrum delogiert wurde.«175 Es ging insgesamt nicht, wie Sarat Maharaj, einer der sechs KoKuratoren Enwezors, es formulierte, um Europa gegen den Rest der Welt oder vice versa, »sondern darum, zwei Forschungsstränge miteinander zu verbinden, um die Grenzen des aufklärerischen Begriffs von Vernunft, Modernität, Entwicklung, Fortschritt und Identität aufzuzeigen und dessen Enge in Frage zu stellen. Und zwar soll das im Lichte der Fragestellungen innerhalb dieser Tradition geschehen und das soll wiederum mit der weiter gefassten Erfahrung in jungen, aufstrebenden Gegenden der Welt
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Marchart 2004 : 111. Okwui Enwezor im Interview mit Amine Haase (Haase 2002a: 85). Okwui Enwezor im Interview mit Amine Haase (Haase 2002a: 85). Marchart 2004: 28.
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verbunden werden, wo diese Fragen auf ungestüme Weise gelebt und gestellt werden. […] Wie die Leute diese Verbindungen herstellen, bleibt ihnen ganz und gar selbst überlassen.«176
Auf der Basis dieser Überlegungen sollte erreicht werden, sowohl die generelle Verteufelung alles ›Westlichen‹ sowie eine Exotisierung alles ›nichtWestlichen‹ zu verhindern und zur Auflösung der damit verbundenen Binarismen beizutragen. Enwezor identifizierte die postkoloniale Konstellation der Gegenwart nicht als ein Gegenüber einer anderen, entfernten Welt, sondern als »eine Welt der Nähe«177, die ein Verstehen und die Akzeptanz einer kulturell heterogenen Welt voraussetzt. Die viel beschworene Globalität der »D11« »hat nichts mit Ethno-Import oder digitaler Allgegenwart zu tun, nichts mit ArtenSchutz oder standardisierter Kleider-, beziehungsweise Kunst-Ordnung. Die Kunst der D11 öffnet zwar Fenster in ferne Welten, aber sie lenkt den Blick so, dass wir die Ferne nicht als exotisch wahrnehmen, sondern als parallel existierend und uns alle angeht. Der Raum schrumpft, und die Zeit gefriert, wird greifbar, zerschmilzt zwischen den Fingern – wie das ›disappearing/disappeared Element‹ (verschwindendes/verschwundenes Element), das der Brasilianer Cildo Meireles in Form von Eis am Stiel anbietet.«178
Enwezor und seinem Team ist mehrfach vorgeworfen worden, die »Documenta11« verharre in den alten eurozentrischen Mustern und gebe sich politischer als sie es in Wirklichkeit sei, »weil sie die Verhältnisse allenfalls schildert und selbst in ihren zahlreichen kritisch-distanzierten Momenten nur selten produktiv-visionär aus ihnen ausbricht.«179 Wer den Blick nur nach außen richte, erspare sich die kritische Sicht nach innen.180 Solche Kritiken berücksichtigen eines nicht: das Konzept der »Documenta11« setzte gerade die Abkehr von der Vorstellung eines Innen und Außen, das heißt der klassischen Binarismen, voraus. Der vermeintliche Blick nach außen betraf auf diese Weise eben genau das Innere. Der im weiter oben aufgeführten Zitat enthaltene Rekurs auf das künstlerische Projekt des Brasilianers Cildo Meireles ist in diesem Zusammenhang insofern interessant, als sich sowohl in der Figur des Künstlers als auch in seinem Projekt die Trennung von Innen und Außen, Zentrum und Peripherie im wahrsten Wortsinne auflöst. Mit der Besprechung der brasilianischen Anthropophagie-Bewegung im vorhergehenden Kapitel wurde bereits auf die besondere Formation der brasilianischen Kunstwelt hingewie-
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Sarat Maharaj im Interview mit Amine Haase (Haase 2002b: 96). Okwui Enwezor im Interview mit Amine Haase (Haase 2002a: 88). Haase 2002c: 56-57. Hübl 2002: 75. Vgl. Hübl 2002: 75.
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sen. Das im Jahr 1928 veröffentlichte »Anthropophagische Manifest« definierte das bis in die heutige Zeit immer wieder neu aufgegriffene und reflektierte Prinzip der Einverleibung und der konstruktiven Verwertung kultureller Differenzen. Es bildete damit die Grundlage, eine nationale Kunstgeschichte zu schreiben, die sich durch die Verschmelzung eines Innen und Außen auszeichnet. Als Vertreter der in diesem Kontext verwurzelten brasilianischen GegenwartskünstlerInnen präsentierte er das Projekt »Disappearing/Disappeared element: Imminent past«, das auf die permanenten Kreisläufe – von der Wasserzirkulation über den menschlichen Stoffwechsel, dem Waren- und Geldkreislauf bis hin zu dem Diskurs über Kunst an exponierter Stelle – anspielt. Es ging dabei um die kritische Reflexion alltäglicher Lebenssituationen und das Begreifen übergeordneter Zusammenhänge. So ordnet sich Meireles Arbeit sowohl in Bezug auf die Individualität des Künstlers als auch thematisch in einen globalen Kunstdiskurs, ohne als vermeintlich ›nicht-westliches‹ Werk eine exponierte Position einzunehmen. 4.3.4 documenta 12 Die bundesdeutschen Anfänge der Ausstellung 1955 kamen einem öffentlichen Akt der Versöhnung mit der Kunst der Moderne gleich. […] In der Folge hat sich die documenta im Fünf-Jahres-Zyklus mehr und mehr zu einem Bild für die Kunst der Gegenwart entwickelt. Sie hat sich durchlässig gemacht für neue künstlerische Ausdrucksmittel, für experimentelle Formen des Sprechens über Kunst, für ein Denken jenseits eurozentristischer Muster. ROGER M. BUERGEL/RUTH NOACK
Die »documenta X« und die »Documenta11« hatten durch das Aufzeigen und in der Verarbeitung der sich vollziehenden Kanonverschiebung einen deutlich sichtbaren Bruch in der globalen Kunstwelt markiert. Die Erwartungen an die »documenta 12« waren vor diesem Hintergrund entsprechend hoch. Nachdem mit der Französin Catherine David die erste Frau zur künstlerischen Leiterin gewählt und daraufhin der aus Nigeria stammende Okwui Enwezor zum ersten außereuropäischen künstlerischen Leiter ernannt worden waren, mag Manchem auch die Wahl des deutschen Ausstellungsmachers und Autors Roger M. Buergel zum künstlerischen Leiter der »documenta 12« wie ein Rückschritt vorgekommen sein. Auch die konzeptionelle Ausführung des Gesamtprojekts erntete im Rekurs auf die beiden vorangegangenen, stark politisch orientierten Ausstellungen harsche Kritik: »Die d12 hatte sich als unerwarteter ›Rückschlag‹ für jene kritischen Sektoren des Kunstfelds erwiesen, die dessen Institutionen nutzen wollen, um gegen-
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hegemoniale kritische Diskurse zu propagieren: ein Projekt, das mit dX und D11 erheblich an Legitimation gewonnen hatte.«181 Von Oliver Marchart unter anderem als »versöhnlerisches Hegemonialprojekt«182 beanstandet, reihte sich die »d12« offenbar nicht in die seit der 1990er Jahre entfachten anti-hegemonialen Debatten ein und erschien damit einer zeitgemäßen, vermeintlich korrekten Position innerhalb eines global geführten, kritischen Ausstellungsdiskurses entrückt. Hätte sie andererseits jedoch nicht offensiv gegenläufig auf die vorangegangenen Ausstellungen reagiert, hätte die zwölfte documenta mit der documenta-Tradition gebrochen, als ein Medium des Aufruhrs in der globalen Kunstwelt zu wirken. So erklärte Buergel, dass es schon vorhersehbar gewesen sei, »dass es ein Aufheulen geben würde. Sonst hätte ich mich ernsthaft beunruhigen müssen. Die Ausstellung ist eine Frechheit, sie ist dreist, weil sie bewusst vieles ignoriert. Zum einen den Kanon. Also das, was vom Markt, dem Museumssystem und der deutschen Szene, die in der Regel nicht reist, abgesegnet ist oder werden kann. Darüber hinaus ignorieren wir den Anti-Kanon. Die ganze Kunst, um die sich eine Zeitung wie ›Texte zur Kunst‹ mit ihrer Kritik an den Institutionen und ihrer PopVergangenheit gruppiert. Das kommt ebenfalls nicht vor.«183
In dem Versuch, eine Kontroverse auf verschiedenen Ebenen zu entfachen, ist das Projekt damit auf fruchtbaren Boden gefallen. Doch wie verhält es sich in diesem Kontext speziell mit der Verhandlung kultureller Differenzen? War die Thematik in den vergangenen beiden Ausstellungsprojekten eines der Kernthemen bezüglich der Forderung nach einer gleichberechtigten Integration vormals ausgeschlossener künstlerischer theoretischer und praktischer Ansätze gewesen, so stellt sich nun die Frage, welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit kultureller Diversität in der globalen Kunstwelt nach einer sichtbaren Verschiebung des Kanons erhält. Zunächst zeigte die »documenta 12« weit mehr außereuropäische Kunstwerke als ihre Vorgängerprojekte. Dies ist als positive Weiterführung der von Hoet, David und Enwezor angeregten und verdichteten Diskurse bewertet worden. Gleichzeitig wurde der Buergelschen documenta mehrfach ein fehlender kritischer und deshalb wenig politischer Umgang mit der Vielfalt der präsentierten künstlerischen Projekte diagnostiziert. Dies kulminierte vor allem im Vorwurf mangelnder Kontextualisierung der in der Ausstellung präsentierten Werke zugunsten einer wenig konkreten, eher willkürlichen, auf Form und Ästhetik reduzierten Annäherung an die künstlerischen Arbeiten anhand des Konzepts der »Migration der Form«. Der Versuch, sich einem globalen Zusammenhang von Kunst weltweit zunächst auf einer rein visuellen Ebene anzunähern, wurde wiederholt als radikaler Rückschritt zu
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Marchart 2004: 57. Marchart 2004: 57. Roger M. Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 125).
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einer eurozentrisch orientierten Kunstrezeption registriert, gepaart mit der Warnung vor der Gefahr der Exotisierung ›nicht-westlicher‹ Kunstwerke. Das eigentliche Anliegen der »d12«, kulturell unterschiedliche Positionen in einen breiten Diskurs zu integrieren, ohne dabei in primitivistische oder rassistische Muster zurückzufallen, schien damit verfehlt. Sie habe eher dazu beigetragen, kulturalistische Denkweisen zu reanimieren, um diese dann durch ihr Formkonzept für einen grundsätzlich oberflächlichen Globalisierungsdiskurs zu funktionalisieren. Dass die »documenta 12« jedoch tatsächlich einen Raum geschaffen hatte, der es erlaubte, sich auf sehr viel komplexere Weise mit künstlerischen Positionen unterschiedlichster Herkunft zu befassen als es die negativen Kritiken vermuten lassen, wird im Folgenden in einer kurzen Rekapitulation des Konzepts der »Migration der Form« und dem Projekt der »documenta 12 magazines« erläutert. Zwar wurden die beiden Konzepte im ersten Teil dieses Kapitels bereits vorgestellt. An dieser Stelle sollen jedoch erneut einige Details beleuchtet werden, die die Thematisierung kultureller Differenzen direkt betreffen und welche das der »d12« häufig aberkannte (kultur-)politische Moment herausstellen. Das Prinzip der »Migration der Form« wurde den Besuchern/innen der »documenta 12« während der Ausstellung – vermittelt durch Führungen, Audioguides oder die Lektüre der Katalogtexte – als eine Möglichkeit der Betrachtung einzelner Werke an die Hand gegeben. Es sollte schließlich auch zum Erkennen ästhetischer Beziehungen verschiedener Kunstwerke zueinander verhelfen. Um grenzüberschreitende künstlerische Zusammenhänge innerhalb der globalen Kunstwelt offenzulegen, wurde Kunst aus unterschiedlichen kulturellen Räumen und unterschiedlichen Epochen gezeigt. Dabei verzichtete man fast ganz auf Kontextualisierungen vor Ort, das heißt auf erläuternde Texttafeln unmittelbar in der Ausstellung. Allein die Namen der KünstlerInnen (soweit bekannt), das Entstehungsdatum und gegebenenfalls die Herkunft der Werke wurden auf kleinen Schildern vermerkt. So heißt es in einem Folder, der während der Ausstellung verteilt wurde: »Die documenta 12 holt Kunstwerke aus ihrem Entstehungszusammenhang und bringt sie nach Kassel, macht aber gar nicht erst den Versuch, diese lokalen Kontexte mitzuliefern. Stattdessen versteht sich die Ausstellung als ein neuer, als ein dezidiert künstlerischer Zusammenhang, der Werke nicht informativ, nicht lehrhaft, sondern ästhetisch zueinander in Beziehung setzt.«184
Diese Idee unterlief freilich die durch die »documenta X« und der »Documenta11« vermittelte Forderung einer primär politischen Annäherung an zeitgenössische Kunst, da kulturelle und gesellschaftspolitische Momente der Kunstwerke in den Ausstellungsräumen selbst fast völlig ausgeklammert blieben. Es wäre trotzdem zu kurz gegriffen, Buergel und Noack reine Willkür, Oberflächlichkeit oder plumpe Universalisierung im Umgang mit Kunst
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Auszug aus dem Text des Folders zur »documenta 12« – »Übersicht«.
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aus unterschiedlichen Zeiten bzw. geographischen und kulturellen Kontexten vorzuwerfen. Keineswegs wurde das Politische ausgeschlossen. Buergel formulierte den politischen Anspruch der Ausstellung aber anders als es David und Enwezor getan hatten. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen documenta-Projekten konzentrierte sich das Geschehen der »documenta 12« wieder zu einem Großteil auf die Ausstellungsräume und setzte auf die direkte und unvoreingenommene Rezeption der BetrachterInnen: »Eine politische Ausstellung, wie ich sie verstehe, soll den BesucherInnen das Gefühl geben über die Ausstellung Teil der kompositorischen Aktivität des Weltmachens zu sein: also für die Welt, in der wir leben, aktiv Verantwortung zu übernehmen. Zu wissen, dass man Gestaltungsspielraum hat und diesen auch in Anspruch zu nehmen.«185
Die Verortung der künstlerischen Arbeiten erfolgte nicht primär über Angaben ihres jeweiligen lokalen oder politischen Kontexts, sondern über die durch das Ausstellungskonzept stimulierte Vorstellungskraft des Publikums: »Dinge finden ihren Sinn darin, dass sie zu anderen Dingen und Menschen in keiner natürlichen, sondern einer künstlichen Beziehung stehen. Erfahrungen werden aktiv gemacht.«186 Visualität und Imagination bildeten aber nur einen (ersten) möglichen Zugang zu den Objekten. Der durch die Ausstellung geschaffene Möglichkeitsraum visueller Wahrnehmung von Kunst wurde durch den Katalog, der im documenta-Shop zu erwerben war, ergänzt und damit zusätzlich auf eine weiterführende diskursive Ebene gehoben. Mit den Katalogtexten wurde es möglich, KünstlerInnen und Werke – wenn auch nur sehr flüchtig – kontextuell zu verorten. In der chronologischen Vorstellung aller teilnehmenden AusstellungskünstlerInnen und je einer ihrer Arbeiten187 boten Buergel und Noack den Betrachtern/innen an, die künstlerischen Darbietungen als Teile eines übergreifenden, globalen Gefüges wahrzunehmen, das im Wechselspiel von Bewegung und Kontinuität über viele Jahrhunderte hinweg und alle Erdteile umfassend konstruiert wurde. Den Ausgangspunkt bildete dabei das älteste Stück der Ausstellung, eine gezeichnete Flusslandschaft188 aus den Berliner Saray-Alben (DiezAlben). Diese Alben umfassen eine Sammlung loser Zeichnungen und Miniaturmalereien persischen, chinesischen, osmanischen und europäischen Ursprungs aus der Zeit des 14. bis ins 16. Jahrhundert, die deutliche Überschneidungen verschiedener Formensprachen aufweisen. »Die Zeichnung mit dem ›fremden‹ Fluß wird zum Ausgangspunkt ihres [Buergels und Noacks, Anm. K.S.] ästhetischen Konzepts, zu einem sehr ›modernen‹ Bild
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Roger M Buergel (Auszug aus einem Folder zur »d12«, der im Voraus der Ausstellung im Internet herunterzuladen war). Roger M. Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 122). Die komplette Werkliste findet sich im Kataloganhang. Siehe documenta/Museum Fridericianum 2007a: 16-17.
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für das, was man heute Globalisierung nennt. Menschen waren immer unterwegs und mit ihnen die Kunst.«189 Die Ausstellung verschiedener asiatischer Kunstwerke aus dem 16. bis ins 19. Jahrhundert, die in die Sammlung Alter Meister auf Schloss Wilhelmshöhe integriert wurde, zielte vor allem auf das Erkennen wechselseitiger Einflüsse künstlerischer Elemente, ihre Veränderlichkeit und gleichzeitige Dauerhaftigkeit auf ihrem Weg durch unterschiedliche lokale Kontexte: »Eine bestimmte Form, dauerhaft wie wandelbar, lebt in einem anderen Horizont übertragen fort. Das ist ihr Schicksal.«190 Auch wenn hier Aspekte von Globalisierung angesprochen wurden, die sich auf Formenschicksale beziehen, so ging es nicht ausschließlich – und dies wurde häufig falsch interpretiert – um die Erklärung eines globalen Zusammenhangs von Kunst in Bezug auf ästhetische und formale Ähnlichkeiten. Das Konzept implizierte, ja forderte die Wahrnehmung von Unterschieden, Brüchen und Widersprüchen innerhalb dieser Zusammenhänge nahezu heraus, die zu einem kritischen Nachdenken über Kunst anregen sollten. So erklärte Ruth Noack in einem Interview, dass in der »Migration der Form« auch eine Metapher zu finden sei, »über die sich Dinge vergleichen lassen, die nur auf den ersten Blick etwas miteinander zu tun haben. Wenn die BetrachterInnen selbständig zu dem Schluss kommen, dass manche Bezüge unsinnig sind, haben wir eines unserer Ziele erreicht.«191 Denn wer Bilder analysieren wolle, der müsse sie vergleichen. »Je mehr sich die Bilder ähneln, um so mehr stößt man auf Differenzen.«192 Buergel und Noack den Vorwurf zu machen, in ihrer Anlehnung an Universalitätstheorien vollkommen und ohne eine zeitgemäße Reflexion der gegebenen Umstände und Diskussionen, in alte Muster zurückzufallen – zum Beispiel in die Repräsentationsform der »documenta [I]«, ist also nicht korrekt. Die Parallelen zu den Ansätzen Werner Haftmanns und Arnold Bodes für die erste documenta und deren Versuch der Erschließung einer Weltkunstsprache, die sich durch die Kontinuität abstrakter Form und Ästhetik definieren lassen sollte, sind durchaus gewollt. Das erste Leitmotiv, das nach der Bedeutung der Moderne für die zeitgenössische Kunst fragt, rekurriert ganz gezielt auf diese Ansätze. Buergel hat in der Einleitung des Readers der »documenta 12 magazines« ja auch deutlich darauf verwiesen, dass sich die »documenta 12« in ihrer Konzeption in vielen Punkten an die »documenta [I]« anlehne. Grundsätzlich sind die Ideen Buergels und Noacks aber klar in der Zeitgenossenschaft verankert. Bode und Haftmann suchten 1955 nach einer universellen Weltkunstsprache auf der Basis und damit auf Kosten einer dezidierten Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden. Buergel und Noack hingegen nutzten die durch ihr Formkon-
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Hille 2007: 70. documenta/Museum Fridericianum 2007a: 16. Ruth Noack im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007b: 109). Ruth Noack im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007b: 109).
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zept hergestellte universale Ebene als Matrix für die Wahrnehmung von Differenzen, ohne diese im Vorhinein durch die Darstellung eines expliziten Kontextes zu exponieren und bestimmte KünstlerInnen und Kunstwerke weiterhin in eine Außenseiterrolle zu bannen. Die durch das Formkonzept hergestellten Verbindungen und damit die gesamte Inszenierung der Ausstellung sind mehrfach negativ kritisiert worden, weil sie dem Publikum von der künstlerischen Leitung in vermeintlich belehrender und diktatorischer Manie auferlegt worden seien. Wie es die Kunsthistorikerin und Publizistin Karoline Hille jedoch bemerkt, beweisen sie im Idealfall »die Durchlässigkeit von Themen und Formen, Bewältigungsstrategien und Erfahrungen ebenso wie die Tatsache, dass es weder geschlossene Kulturen gibt noch die eine Weltkultur.«193 Auf diese Weise konkretisierte die Idee Buergels und Noacks, einen »neuen Universalismus« zu denken, der sich »nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas versteht, was erst durch eine Vielstimmigkeit kreiert werden muss.«194 Eben in jenem Versuch, Vielstimmigkeit in einem ausgewogenen Verhältnis der einzelnen Elemente zuzulassen und dies darzustellen, liegt die Schwierigkeit jeder Kunstaustellung, die sich den Parametern der Globalisierung vor dem Hintergrund eines veränderten Kanons stellen will. Anders als David und Enwezor haben es Buergel und Noack vermieden, die damit verbundenen kuratorischen Problematiken und die politischen Diskurse in den Vordergrund zu stellen und dem Publikum zu präsentieren, was ihnen vielfach zur Last gelegt wurde. Es bleibt die Frage, ob dies im Nachhinein nicht förderlich für die gleichberechtigte Rezeption von Kunst aus allen Teilen der Welt und damit auch für das Nebeneinander kultureller Differenzen auf einer Ebene gewesen sein mag. Dass die »documenta 12« darüber hinaus weit mehr war als nur ein Schauraum und das Gesamtkonzept des Ausstellungsprojekts sich nicht auf die »Migration der Form« reduzieren ließ, erschließt sich spätestens mit dem Zeitschriftenprojekt »documenta 12 magazines«. Als »transnationales Netzwerk aus Zeitschriften im Kunst-Theorie-Politik-Nexus«195 setzte das der Ausstellungsphase der »d12« praktisch als diskursiver Part vor-, parallel- und nachgeschaltete Zeitschriftenprojekt die Philosophie der »Documenta11« fort, über den lokalen und zeitlichen Rahmen der documenta hinauszuwachsen. Bestimmend war, dass die einzelnen Beiträge grundsätzlich nicht direkt auf die in der Ausstellung gezeigten künstlerischen Arbeiten bezogen waren. Vielmehr wurde die Möglichkeit eröffnet, übergeordnete Zusammenhänge zwischen Ausstellung und globalem Kunstdiskurs zu erschließen und auf die drei anfänglichen Leitmotive oder auch darüber hinaus weiterzudenken. Während der Ausstellungsphase waren die bis dahin publizierten Artikel in Form ihrer jeweiligen Printausgabe in der documentaHalle einsehbar. Zusätzlich erschienen bereits im Vorfeld drei Hefte und ein
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Hille 2007: 71. Ruth Noack im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007b: 107). Marchart 2004: 75.
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Reader, die eine Auswahl von Artikeln zusammenfassten. Die abgedruckten Beiträge waren allerdings nicht als Quintessenz oder Bilanz des Gesamtprojekts zu deuten, sondern wurden den Lesern/innen gleichsam als Auszug aus dem breit gefächerten Diskursfeld präsentiert. Christian Höller, Mitherausgeber der Zeitschrift »springerin« und einer der Redakteure des documentaZeitschriftenprojekts, betonte dies ausdrücklich in einem Vortrag im Rahmen eines documenta-Workshops an der Freien Universität Berlin. Er verwies außerdem auf den offenen Charakter des Projekts, dessen diskursive Stärken in den während der Ausstellungsphase täglich stattfindenden »Lunch Lectures« und vor allem in der Schaltung des Online-Magazins (www.magazines.documenta.de) lagen: »Hier in diesem Online-Magazin liegen die eigentliche Einladung bzw. Offerte des Projekts an das Publikum verankert, um nicht zu sagen vergraben. Nämlich die Möglichkeit, einzelnen Themensträngen und Fragestellungen in den 94 derzeit vertretenen Medien nachzugehen. Sie abseits der auf die Benutzeroberfläche der gedruckten Magazine geholten Beiträge in allerlei Winkeln und Nischen weiterzuverfolgen und damit auch zu einer besseren Einschätzung der beteiligten Zeitschriften als Diskursproduzenten, sei es lokalspezifisch, regional von Interesse oder international relevant, wie immer man will, zu kommen.«196
Catherine David und Okwui Enwezor hatten auch zahlreiche Stimmen in den documenta-Interaktionsraum eingebunden und damit einen breiten Diskursraum eröffnet – im Falle der »dX« durch das Programm »100 Tage – 100 Gäste« und im Falle der »D11« durch die Einrichtung der vier diskursiven Plattformen. Damit reichte der Diskursraum zwar über den räumlichen und zeitlichen, jedoch nicht über den institutionellen Rahmen der documenta hinaus. Mit dem Zeitschriftenprojekt jedoch wurde das institutionelle Gefüge der documenta deutlich überschritten, da die involvierten Printmedien in keiner Weise direkt an die Institution documenta gebunden waren. Die von der künstlerischen Leitung erarbeiteten Leitfragen erreichten über 90 Redaktionen und auf diese Weise ungleich mehr Autoren, die sich in völliger Unabhängigkeit im eigenen Medium äußern konnten. Durch die Publikation aller Texte auf der Online-Plattform konnte ein breit gefächerter und, dies ist von Bedeutung, nicht zentral von Kassel aus kontrollierter Austausch stattfinden: »Wer immer von den momentan 94 vertretenen Magazinen untereinander in Austausch treten will, oder spezifische Inhalte, nämlich auch über diese drei anfänglichen Leitfragen hinaus in je eigenem Zusammenhang weiterdenken möchte, kann dies ab sofort tun, kreuz und quer, so oft und ungezwungen wie er oder sie möchte – ohne ein kontrollierendes Zentrum in Kassel oder Wien, wo eine Zeitlang eben die Zeit-
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Höller 2007.
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schriftenredaktion auch angesiedelt war und ohne, dass eine ›dominante‹ Institution wie die documenta den Mehrwert davon abschöpfen konnte.«197
Es soll hier nochmals betont sein, dass die drei Themenhefte und der Reader nur Auszüge aus einem sehr weitschweifigen und komplexen Diskursgeflecht enthalten, die sich allein durch ihre unterschiedliche Perspektivierung als repräsentativ für die Vielfalt der Beiträge erweisen. Da sie aber einen nur kleinen Teil der veröffentlichten Texte ausmachen, können sie nicht stellvertretend für den entfachten Diskurs als einem Ganzen angesehen werden – der im Übrigen ohnehin nicht als geschlossenes, allein auf die »documenta 12« bezogenes Gefüge zu erfassen wäre. Das Zeitschriftenprojekt ist insbesondere als Versuch zu werten, den Blick aus einer spezifischen, lokal verankerten, vornehmlich europäisch geprägten Perspektive heraus auf die Komplexität der auf globaler Ebene geführten Kunstdiskurse zu richten und sich in diese einzugliedern. Indem Buergel und Noack ihren Standpunkt als AusstellungsmacherInnen klar in Kassel verorteten, geschah dies ohne die documenta als neutralen Verhandlungsort zu exponieren oder sie dem Gesamtdiskurs als neutrales Subjekt überzuordnen. Der Vorwurf, die »d12« falle mit diesem Vorgehen in alte Zentrum-Peripherie-Verhältnisse zurück, erscheint gerade deshalb nicht tragbar. »Überhaupt scheint man in dieser Hinsicht dem bipolaren Modell eine Wertigkeit, um nicht zu sagen Hartnäckigkeit, zuzuschreiben, die, sieht man sich die Landkarte der tatsächlich vertretenen Medien genauer an, eigentlich längst in Frage gestellt ist.«198 Vor diesem Hintergrund lässt sich die »documenta 12« als ein in ihrer Ausrichtung grundsätzlich zeitgemäßes Ausstellungsprojekt verstehen, dass dem Anspruch der Repräsentation möglichst vieler – kulturell auch durchaus unterschiedlicher – künstlerischer Positionen aus allen Teilen der Welt versuchte gerecht zu werden. Das Publikum mit einem Konzept an die präsentierte Kunst heranzuführen, das sich an lokal- und institutionenspezifischen Momenten orientierte, muss dabei nicht als nachteilig, sondern, im Sinne der Anerkennung kultureller Differenzen, als angemessen interpretiert werden. Es ist in der globalen Kunstwelt offensichtlich schwer, eine solche Position zu vertreten, ohne fundamentaler Kritik ausgesetzt zu werden. Dies hatte auch Okwui Enwezor erfahren müssen. Gerade aber in ihrem kritischen Potential liegt die Stärke der documenta, wenn sie sich als Institution der globalen Kunstwelt versteht, die beständig verschiedene Positionen zur Debatte stellt – auch die eigene. »Grundsätzlich steht die Frage im Raum, wie wir als Gesellschaft, und nicht nur als lokale oder nationale, sondern tatsächlich als globale Gesellschaft einen Raum miteinander teilen und in der Lage sind, uns selbst Werte zu geben. Das ist ein Raum der Verhandlung,
197 198
Höller 2007. Höller 2007.
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den eine Ausstellung öffnen kann, wenn sie sich nicht nur als Vitrine, sondern als Medium versteht.«199 4.3.5 documenta und antropofagia Nach dieser Erörterung des Umgangs mit kultureller Differenz im documenta-Kontext lässt sich eine zusammenfassende Interpretation der documenta als Kerninstitution der globalen Kunstwelt riskieren. Die folgende Darstellung lehnt sich an die im dritten Kapitel dargelegten Überlegungen zum Konzept der antropofagia an. Diese eignen sich deshalb als theoretische Grundlage, da sie den kreativen Umgang und die bewusste Verwertung aufeinandertreffender kultureller Differenzen innerhalb spezifischer Kontexte positiv hervorheben. Als Raum der Möglichkeiten definiert sich die documenta spätestens seit der »documenta IX« als deutlich lokalspezifischer, sich aber zugleich zu anderen kulturellen Räumen hin öffnender und sich dahingehend erweiternder Ort. In der genaueren Betrachtung der »dIX«, »dX«, »D11« und »d12« war ein sich kontinuierlich verändernder methodischer Umgang mit kultureller Diversität innerhalb der globalen Kunstwelt zu beobachten. Jan Hoet war 1992 trotz einer bewussten Integration von Künstlern/innen nicht-europäischer und nicht-US-amerikanischer Herkunft wenig bis gar nicht auf einen kritischen Diskurs der sich wandelnden, globalen Kunstwelt eingegangen. Wie aus einem Aufsatz im Katalog zur Ausstellung »Africa Hoy« 1991 zu entnehmen ist, in dem Hoet sich zu den documentaReisen äußert, war er afrikanischer Gegenwartskunst durchaus aufgeschlossen, konnte sich aber seiner durchweg eurozentrischen Sichtweise auf und den Bewertungskriterien für Kunst nicht entziehen. Thomas Fillitz kommentiert diesen Umstand in Bezug auf die der »dIX« vorausgegangenen Reisen nach Afrika folgendermaßen: »Nicht nur, daß er offenkundig nach einem Muster der westlichen Kunstwelt in seiner Suche nach Künstlern vorging (Kunsthochschulen, Galerien, Museen), zeigen seine Ansichten darüber hinaus eine Oberflächlichkeit der Wahrnehmung, die ausschließlich auf Stil beschränkt sein kann. […] In ihrer Gesamtheit zeigen Hoets Ausführungen ein Unverständnis gegenüber dem künstlerischen Schaffen und den gesellschaftlichen Prozessen in afrikanischen postkolonialen Staaten.«200
Catherine David und Okwui Enwezor hatten die documenta dagegen bewusst als Feld subversiven Aufbegehrens gegen die Hegemonie des ›Westens‹, das heißt vor allem Europas und den USA, aktiviert. Sie befanden sich
199 200
Roger M. Buergel (Auszug aus einem Folder zur »d12«, der im Voraus der Ausstellung im Internet herunterzuladen war). Fillitz 2002: 280.
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damit mitten im Postkolonialismusdiskurs, der schließlich in der notwendigen Kanonverschiebung, zumindest in weiten Teilen der globalen Kunstwelt, mündete. Wenn man die documenta hinsichtlich der im postkolonialen Kontext entstandenen Kulturtheorien – zum Beispiel auf Homi Bhabhas »Verortung der Kultur«201 – reflektiert, so wird sie als ein kultureller Zwischenraum beschreibbar, in dem KünstlerInnen aus dem ›Westen‹ und KünstlerInnen aus ›nicht-westlichen‹ Regionen der Welt aufeinandertreffen. Dieser Schwellenraum lässt sich in Bezug auf Bhabha vor allem durch sein hohes Konfliktpotential charakterisieren, das sich aufgrund des vorherrschenden Ungleichgewichts zwischen den beiden ihn definierenden Polen ergibt. Es wurde in Kapitel 3 jedoch erläutert, dass Konzepte wie Bhabhas Vorstellung eines Drittraumes für eine zeitgemäße Deutung globaler Verhältnisse und damit auch der aktuellen Situation der documenta nicht mehr ausreichend sind. Schon im Zuge der »D11« hatte Rasheed Araeen auf das so genannte postkoloniale Dilemma verwiesen, das sich im Aufbegehren gegen ein System – in diesem Fall die ›westliche‹ Kunstwelt (die sich in diesem Fall mit der hier beschriebenen globalen Kunstwelt deckt) – äußert, zu dem man selbst dazugehören will. Die Protagonisten verharren auf diese Weise fortwährend in ihrer Rolle des kulturell Anderen und bleiben in einem unbestimmten Dazwischen verhaftet. Die »documenta 12« hatte sich dem postkolonialen Diskurs weitestgehend entzogen, zumindest hatte sie ihn nicht mehr bewusst zur Kernattitude ihrer konzeptuellen Ausführungen gemacht. Die Kritiken an dieser Herangehensweise Buergels und Noacks sind hinlänglich besprochen worden. Vorherrschend waren hierbei die Vorwürfe angeblicher Willkür, Oberflächlichkeit, Unübersichtlichkeit etc. Dass es sich aber im Gegenteil um eine hoch komplexe, für eine Ausstellung möglicherweise zu komplexe Konzeption handelte, da sie für ein umfassendes Verständnis der gezeigten Werke eine Herangehensweise an bildende Kunst auf gleichzeitig mehreren Ebenen einforderte, wurde ebenfalls erläutert. Statt genau hier das kreative Potential des Ausstellungsprojekts zu erkennen, führte die sich daraus ergebende hohe Dichte an Ambivalenzen und Widersprüchen bei den meisten Rezipienten zu einer ablehnenden Haltung. Wies auch die »d12« einen zwischenräumlichen Charakter auf, der sich vor allem im Zusammentreffen von Kunst aus unterschiedlichen kulturellen Räumen ergab, so entzieht sich eine entsprechende Beschreibung jedoch den postkolonialen Ausführungen Bhabhas, die noch auf die »dX« und »D11« anwendbar waren. Als anschlussfähiger erscheint hier das Konzept der antropofagia, das auf dem 1922 von Oswald de Andrade veröffentlichten »Anthropophagische Manifest« beruht. Ein absolut wesentlicher Aspekt ist dabei die Verwertung verschiedenster – im Falle Brasiliens waren es vor allem indigene, afrikanische und auch europäische – Elemente von Kultur und die Herstellung eines Bewusstseins für eine plurale Identität. Auftretende Konflikte, Ambivalenzen und Widersprüche wer-
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Bhabha 2000.
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den nicht als für die Findung einer gemeinsamen kulturellen Basis hinderlich empfunden, sondern als kreatives Reservoir nutzbar gemacht, aus dem heraus sich kulturelle Räume und deren Beziehungen zueinander neu denken lassen. Insgesamt spiegelt das im Jahr 2007 verwirklichte Ausstellungsprojekt »documenta 12« in seiner hohen theoretischen wie praktischen Komplexität und vor allem in seinem extrem kontroversen Potential die komplizierten und schwer nachzuvollziehenden Mechanismen einer Neuperspektivierung künstlerischer Produktion und Rezeption vor dem Hintergrund von Globalisierungsprozessen deutlich wider. Ein grundsätzliches Dilemma bildete nicht zuletzt der vermeintliche Widerspruch zwischen dem globalen Anspruch und der lokalen Prägung des Ausstellungskonzepts. Während vor allem Okwui Enwezor versucht hatte, den Austragungsort der documenta aufzusplitten, um gerade ›nicht-westliche‹ KünstlerInnen im Akt des Aufbegehrens gegen die ›westliche‹ Hegemonie zu unterstützen, geriet bei der »documenta 12« die lokale Positionierung der documenta in Kassel/Deutschland/Europa wieder deutlicher in den Vordergrund. Dies wurde vor allem im Rekurs der AusstellungsmacherInnen auf die erste documentaAusstellung im Jahr 1955 deutlich, die sich vom Standort Kassel aus als eine der ersten international ausgerichteten Kunstausstellungsprojekte der Nachkriegsjahre formierte. So wurde neben dem Anliegen, KünstlerInnen und BetrachterInnen aus möglichst vielen Teilen der Welt in einen global übergreifenden Polylog treten zu lassen, die zu einem Großteil anhand des historischen Ursprungs der documenta begründete Perspektive der AusstellungsmacherInnen für ein Verständnis der Ausstellung deutlich offengelegt. Das Moment der perspektivischen Verortung ist für die Reflexion globaler Verhältnisse und die eigene Positionierung einzelner Institutionen und Ereignisse im globalen Gefüge der Kunstwelt von großer Wichtigkeit. Während der Definition des Bhabhaschen Hybriditätskonzept das Moment der Entortung (z.B. durch Migrationsbewegungen, Asylsituationen etc.) zugrunde liegt und eigentlich ausschließlich in der Ausbildung eines subversiven Potentials positiv konnotiert wird, erhält der spezifische Ortskontext kultureller Hybridisierungsprozesse für die antropofagia eine positive Relevanz. Die unter anderem auch als Zwischenräumlichkeit beschreibbare Situation der Überschneidung unterschiedlicher kultureller Elemente konkretisiert sich nicht als andauernde Übergangsphase und oppositionelle Haltung gegenüber einer dominierenden anderen Seite, sondern lässt sich als in seiner kulturellen Pluralität spezifisch gekennzeichneter Raum erfassen. Die kuratorische Herangehensweise von Roger M. Buergel und Ruth Noack scheint dieser Art und Weise des Umgangs mit kultureller Pluralität recht nahe gekommen zu sein. Dass die andauernden Bemühungen um eine endgültige Kanonverschiebung innerhalb der globalen Kunstwelt, die sich vorrangig um die Dezentralisierung des so genannten ›Westens‹ drehen, nicht in Binarismen wie ›Westen‹ und ›Nicht-Westen‹ verhaftet bleiben dürfen, ist ein bedeutender
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Faktor. Diese Größen sind angesichts der globalen Entwicklungen nicht mehr definierbar – wenn sie es denn je gewesen sind. Es gilt deshalb auch für zukünftige documenta-Projekte, eine starre subversive Haltung gegenüber einem als übergeordnet und dominant wahrgenommen System zugunsten der Anerkennung der globalen Kunstwelt als einem pluralen Diskursgefüge aufzugeben. Oliver Marchart betont in diesem Zusammenhang, dass sich nicht mehr »einfach so von einer umstandslosen Herrschaft des Westens über den Rest der Welt« sprechen lässt, denn schließlich sei der ›Westen‹ überall. Demnach bedeute Globalisierung, »wenn überhaupt etwas, dann die Transformation jeder lokalen Kultur – auch der westlichen Kulturen – über den Kontakt einer Vielzahl anderer lokaler Kulturen in ein Hybrid.«202 Der Kunsthistoriker Rainer Metzger bemerkte in einem Kommentar zur »documenta 12« im »artmagazine KunstNEWSletter« vom 13.08.2007 schlichtweg, Kunst sei ein Eurozentrismus: »Die Dinge, die man der Kunst zuschlägt, können von überall herkommen, können international oder regional verankert sein; die Kategorie indes, in die man sie pfercht, wenn sie Kunst sind, trägt ihre strenge Herkunftsbezeichnung. Kunst ist so gesehen nicht minder ein Kolonialismus, und sie verleibt sich ein, was sie brauchen kann aus allen Kontinenten.«203
Die Begegnung der Metapher des Einverleibens ist bezeichnend und unterstreicht ein Verständnis der globalen Kunstwelt als ein nach anthropophager Manier entstandenes, kulturell heterogenes, hybrides Gebilde. Die documenta als Weltkunstausstellung bezieht innerhalb dieses Gefüges ihre eigene Position, die sich aus ihrer bereits über 50 Jahre andauernden Geschichte generiert. Nachdem David und Enwezor mit der »dX« und der »D11« vehement um die Darstellung differenter Perspektiven von und auf Kunst weltweit gerungen hatten und damit noch eine eher subversive Haltung eingenommen hatten, präsentierten Buergel und Noack mit der »d12« eine Ausstellung, die im Zusammenspiel kultureller Hybridität und Lokalspezifik glänzte und gleichzeitig provozierte, um auf diese Weise eine »Ethik des Miteinanders«204 herauszustellen. Inwiefern sich die beiden Kuratoren/innen tatsächlich auch gezielt mit Ansätzen der brasilianischen antropofagia auseinandergesetzt haben und diese in ihre Konzeption haben einfließen lassen, lässt sich anhand der hier untersuchten Texte nicht eindeutig nachweisen. Allerdings ist die während der »documenta 12« in die Gemäldegalerie von Schloss Wilhelmshöhe integrierte Videoinstallation »Funk Staden« von Dias & Riedweg aus dem Jahr 2007 ein Hinweis auf die Kenntnisnahme anthropophager Ansätze kultureller Interpretation, worauf im Verlauf des dritten Kapitels bereits aufmerk-
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Marchart 2004: 109. Metzger 2007. Buergel 2007: 32.
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sam gemacht worden ist. Mit der Figur Hans Stadens wurde auf eine historische und zeitgenössische wechselseitige Verbindung zwischen der Region Kassel und Brasilien hergestellt: »R.N.: […] Hans Staden, mit dem sich Diaz und Riedweg befassen, war wohl der berühmte Kassler überhaupt. Er verfasste im 16. Jahrhundert ein Buch über Brasilien, weswegen ihn dort jedes Schulkind kennt. Und wurde fast von Kannibalen gefressen… R.M.B.: Er war schon halb im Kochtopf, aber er war ihnen nicht mutig genug. Die Erzählung von Hans Staden wiederum ist eine wichtige Grundlage für die Antropophagia (Menschenfresser)-Bewegung geworden. Da gibt es Manifeste in der Bahia-Renaissance der 50er und 60er Jahre, wo Hans Staden zitiert und für eine lokale Moderne reklamiert wird.«205
Wie sich die übrigen Beiträge brasilianischer KünstlerInnen auf der »d12« und den vorhergehenden Ausstellungsprojekten in den documenta-Kontext fügten und damit in den zeitgenössischen Globalisierungsdiskurs eintraten, wird im Folgenden untersucht.
4.4 G LOBALE Z EITGENOSSENSCHAFT : B RASILIANISCHE K UNST AUF DER DOCUMENTA In diesem letzten Teil der Studie werden die Beiträge brasilianischer KünstlerInnen auf der documenta beleuchtet. Insbesondere mit der Untersuchung der »documenta 12« geht die Frage nach der Herausbildung einer globalen Zeitgenossenschaft einher, die in der Zusammenführung kulturell unterschiedlicher Produktionen bildender Kunst weltweit auf einer diskursiven Ebene evident wird. ›Brasilianische Kunst‹ im documenta-Kontext dazu als einen Komplex zu erfassen und sie damit bewusst als Einheit zu exponieren, ist einer rein methodischen Vorgehensweise geschuldet. Sie stellt keineswegs in Abrede, auch jedes Kunstwerk einzeln in den Zusammenhang der globalen Kunstwelt stellen zu können, ohne dabei auf seine geographischen und kulturellen Entstehungs- und Bedeutungsmomente einzugehen. Andere Kontextualisierungen und Zuordnungen sind ebenso denkbar. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts existieren Ansätze einer eigenen nationalen Kunstgeschichtsschreibung in Brasilien. Als universitäre Disziplin wurde sie allerdings erst zu Beginn der 21. Jahrhunderts etabliert206. Auch die wissenschaftliche Aufarbeitung eines kunsthistorischen
205 206
Ruth Noack und Roger M. Buergel im Interview mit Heinz-Norbert Jocks (Jocks 2007a: 130). 2003 wurde der erste Promotionsstudiengang Kunstgeschichte an der Universität von Campinas eingerichtet. »Die kunstwissenschaftlichen Lehrstühle
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Gesamtkontextes ist bislang nur fragmentarisch erfolgt. Der Terminus brasilianische Kunst (arte brasileira) ist damit jedenfalls nicht als ein von außerhalb auferlegter Begriff zu verstehen und zu reflektieren, sondern als national kodierte und kontextualisierte (Eigen-)Bezeichnung. Im Globalisierungskontext bildender Kunst gilt es, »[b]rasilianische Kunstgeschichte […] nicht nur als Objekt einer kritischen Kunstgeschichte, sondern auch als gleichberechtigtes Subjekt im Wissenschaftsdiskurs wahrzunehmen, anzuerkennen und zu hinterfragen.«207 4.4.1 Die brasilianische Kunstwelt Für die vorliegende Studie wird die Bezeichnung brasilianische Kunst im Zusammenhang mit der Beschreibung der brasilianischen Kunstwelt hergeleitet. Diese lehnt sich wiederum an die im zweiten Kapitel erarbeiteten Pa-
rameter zur Kunstweltdefinition an. Damit ist sie als soziales Geflecht zu verstehen, das sich aus der spezifischen Zusammensetzung ihrer Akteure und Institutionen ergibt. Die brasilianische Kunstwelt ist in ihrer Geschichte, das heißt durch lokalspezifische, natürliche, kulturelle und politische Einwirkungen und Diskurse in ihren Strukturen und vor allem in der Kunstpraxis und -theorie von der europäischen Kunstwelt zu unterscheiden. Vor allem die Institutionalisierung der brasilianischen Kunstwelt ist jedoch deutlich am europäischen Modell orientiert, was dem Kolonialismus geschuldet ist. Dass indigene künstlerische Produktionen und Strukturen damit in den Hintergrund gedrängt wurden und werden ist unbestritten. Dieser Tatbestand ist nicht aus der brasilianischen Kunstwelt auszuklammern, sondern als eines ihrer Spezifika zu verstehen, das die Kunstdiskurse in Brasilien maßgeblich prägt. Die Entwicklung des institutionalisierten Gefüges der brasilianischen Kunstwelt ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Milieu von Rio de Janeiro und São Paulo zu beobachten. Im Jahr 1816 wurde die Academia Imperial de Belas Artes – später Academia das Belas Artes (Kaiserliche Akademie der Schönen Künste) – in Rio de Janeiro von João IV gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts ging daraus die Escola das Belas Artes (Schule der Schönen Künste) hervor, die heute Teil der Staatlichen Universität Rio de Janeiros ist. Zu Beginn der 1930er Jahre war Lúcio Costa zum Direktor der Escola Nacional de Belas Artes ernannt worden. Der spätere Planer der neuen Hauptstadt Brasília reformierte den bis dato neoklassisch geprägten Unterricht und damit die institutionalisierte Lehre bildender Kunst in Brasilien. Die Institutionalisierung der Kunstwelt hatte sich bis
207
sind bis heute entweder Teil der historischen Departements oder der Kunstakademien, die aber im Unterschied zu Deutschland ebenfalls an den Universitäten beheimatet sind.« (Baumgarten 2006: 86). Baumgarten 2006: 87.
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1943 jedoch nicht wesentlich über die Grenzen Rio de Janeiros und São Paulos hinweg entwickelt. Die ersten Ausstellungen von moderner Kunst außerhalb dieser Achse fanden erst 1943 statt. Eine Ausnahme bildet eine Gruppe von Künstlern/innen der Pariser Schule, die Rego Monteiro 1930 nach Recife brachte. Mit der Eröffnung des Museu de Arte de São Paulo (MASP) 1947, des Museu de Arte Moderna (MAM) in São Paulo 1948 und des Museu de Arte Moderna (MAM) in Rio de Janeiro 1949 wurde der institutionelle Rahmen der brasilianischen Kunstwelt radikal erweitert. Die in diesem musealen Kontext geführten überregionalen Dialoge verdichteten zudem die Beziehungen zur internationalen Kunstwelt. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Gründung der Bienal de São Paulo im Jahr 1951 durch Ciccillo Matarazzo, die sich von Beginn als Ort der Information über und des Austauschs von künstlerischen Positionen der Gegenwart auf zunehmend globaler Ebene verstand. In der globalen Kunstwelt spielte die Biennale von São Paulo von Beginn an eine wesentliche Rolle. In ihrer diskursiven Ausrichtung von internationaler Tragweite ist sie mit der documenta vergleichbar. In den 1960er Jahren tauchten erste Galerien auf, die auf den Verkauf zeitgenössischer Kunst ausgerichtet waren. Mitte der 1970er Jahre explodierte der Markt, der Verkauf brasilianischer Kunst konnte ins Ausland expandieren. In São Paulo findet seit 2005 mit der Kunstmesse SP Arte jährlich eines der angesehensten und größten Kunstereignisse Lateinamerikas statt, auf dem neben zahlreichen brasilianischen Galerien auch internationale KunsthändlerInnen auftreten. Zudem bietet die SP Arte ein Forum zur Diskussion und Reflexion über Kunst in unterschiedlichen Kontexten wie Kunstpraxis, Ausstellungswesen und Kommerzialisierung auf globaler Ebene. Da es sich bei den analysierten künstlerischen Beiträgen brasilianischer KünstlerInnen auf den letzten vier documenta-Ausstellungen um Kunst der Moderne und der Gegenwart handelt, wird den Untersuchungen ein kurzer Abriss brasilianischer Kunstgeschichte vorangestellt, der die Entwicklungen ab dem Aufkommen der Moderne-Bewegung in den 1920er Jahren fokussiert. 4.4.2 Brasilianische Kunst: Von der Moderne zur Zeitgenossenschaft 4.4.2.1 Auf dem Weg zur brasilianischen Moderne Die brasilianische Kunstgeschichte ist von einer extrem heterogenen Entwicklung geprägt. Seit der Kolonialisierung des Landes sind indianische, europäische, afrikanische, später vor allem auch vermehrt asiatische Stilrichtungen aufeinander gestoßen. Die Bandbreite visueller Produktionen ist dementsprechend hoch. Es kann hier kein umfassender Überblick über die verschiedenen Strömungen der brasilianischen Kunst gegeben werden, auch nicht in Kurzform, da es ihren pluralen Dimensionen nicht gerecht würde –
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allein die verschiedenen Entwicklungen der visuellen Kultur der indigenen Bevölkerungsgruppen Brasiliens müsste ein Kapitel für sich beanspruchen. Die folgenden Erörterungen beziehen sich ausschließlich auf Kunst, die sich innerhalb des institutionalisierten Bereichs der bildenden Kunst Brasiliens – hier als brasilianische Kunstwelt definiert – entfaltete. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass auch für dieses Gebiet keine kohärente kunsthistorische Darstellung erfolgen kann. Obwohl es mittlerweile zahlreiche Studien zur brasilianischen Kunstgeschichte gibt, zeigen sich in mehreren Feldern Lücken, angefangen bei Untersuchungen einzelner, zum Beispiel formaler Aspekte, bis hin zu einer übergreifenden Betrachtung des Subjekts brasilianischer bildender Kunst seit der Kolonialzeit. Vor allem eine Zusammenschau der verschiedenen Elemente, die die koloniale Kunstpraxis in ihrer Gesamtheit ausmachten, ist nicht existent.208 Im Vorfeld der näheren Erläuterung der künstlerischen Bewegung der Moderne soll trotzdem zunächst kurz Bezug auf einige die Kunstwelt prägende Momente im groben Zeitraum von 1600 bis 1900 genommen werden.209 Die koloniale Kunst Brasiliens ist vor allem durch die von europäischen Künstlern/innen ab dem 16. Jahrhundert eingeführte barocke Kunstpraxis geprägt. Daraus erwuchs ab dem 17. Jahrhundert eine Strömung in Gesellschaft und Kunst, die auch als ›brasilianischer Barock‹ bezeichnet wird. Der Begriff bezeichnet jedoch nicht allein eine künstlerische Epoche oder einen bestimmten Stil. Der US-amerikanische Kunsthistoriker Edward J. Sullivan beschreibt ihn in Anlehnung an den brasilianischen Kunsthistoriker Paulo Herkenhoff »as a convenient label to characterize a long and complex historical process that began in the seventeenth century and reached (in some regions such as the interior state of Minas Gerais) well into the early decades of the nineteenth.«210 Der größte Teil der barocken Kunst war religiös konnotiert und manifestierte sich vor allem in den sakralen Bauten, Skulptu-
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210
Siehe Ávila 2001: 128. Die Quellen für diese Darstellung sind hauptsächlich dem Katalog der Ausstellung »Brazil: Body and Soul« (Sullivan 2001a) entnommen. Letztere fand im Jahr 2001 im New Yorker Guggenheim Museum statt. Sie war anlässlich der 500-Jahr-Feier zur Gründung Brasiliens im vorangegangenen Jahr dem Anliegen geschuldet, einen Überblick über die Entwicklung brasilianischer Kunstgeschichte zwischen 1500 und 2000 zu geben. Das Projekt »Brazil: Body and Soul« war die erste Ausstellung, die sich der Präsentation der Kunst eines einzelnen südamerikanischen Landes widmete und damit ihre Bedeutung im internationalen Kontext der Kunstwelt hervorhob. Der Katalog umfasst neben den Abbildungen der Exponate zahlreiche Texte zur brasilianischen Kunstgeschichtsforschung, die eine – wenn auch nicht lückenlose – relativ breitgefächerte und facettenreiche Zusammenschau kunsthistorisch bedeutender Fakten und Zusammenhänge der brasilianischen Kunstpraxis und –theorie von der Kolonialzeit bis heute liefern. Sullivan 2001b: 9.
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ren und Malereien dieser Zeit. Es wurden nur wenige säkulare Bildnisse geschaffen. Darstellungen kolonialen Lebens, der Flora und Fauna des Landes wurden häufiger von Brasilienreisenden aus Europa angefertigt, die die künstlerische Praxis brasilianischer KünstlerInnen jedoch deutlich prägten. Exemplarisch sind hier die Werke der niederländischen Maler Frans Post und Albert Eckhout. Form, Ästhetik und Ikonographie des brasilianischen Barocks waren zunächst eindeutig europäisch kodifiziert, meistens handelte es sich um Auftragsarbeiten aus dem kirchlichen Sektor. Mit der Zeit flossen aber auch andere Stilelemente mit in die Kunst ein. Dies geschah auf sehr unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Intensität. Der Einfluss afrikanischer Künstler macht sich am deutlichsten bemerkbar, da nicht selten afrikanische Handwerker bzw. deren Nachkommen an der Gestaltung von Kirchen und deren Ausgestaltung beteiligt waren. »Es geschah etwas, das mehr war als nur die Palmen und tropischen Pflanzen, mehr als die Ananas: die Kranzköpfe und schwülstigen Gesichter von mulattenhaften Engeln, die mehr oder weniger an die Deckengemälde, zum Beispiel des Malers Athaide, hineingeschmuggelt oder aus Demagogie eingeführt wurden. Das Volk von geringen Weissen, Mestizen und schwarzen Sklaven erkannte sich darin und sah sich in diesem Dekor leben.«211
Besonders augenfällig sind diese spezifischen Elemente in der Region des Staates Minas Gerais. Auch Darstellungen von Heiligenfiguren mit schwarzer Hautfarbe sind keine Seltenheit. Sie verweisen auf den Synkretismus religiöser Traditionen aus Regionen der westafrikanischen Küste und dem brasilianischen Volkskatholizismus. Diese Vermischungen geistiger und materieller Aspekte ist für die brasilianische Kunstgeschichte bis heute bedeutend. »In our own attempts to comprehend the complexity of Brazilian visual culture from the colonial period to the present, an assessment of the significance of those artists who have absorbed and transformed African and Afro-Brazilian imagery, both sacred and secular, is indispensable.«212 Indigene Einflüsse finden sich in der sakralen Kunst weitaus seltener, vor allem in den südlichen Regionen des Landes. Dies gründet auf der kolonialen sozialen Konstellation, die die Integration indianischer Gruppen, insbesondere in die urbane Gesellschaft, kategorisch ausschloss. Im Norden und Nordosten Brasiliens sind direkte Einwirkungen der indianischen Bevölkerung häufiger nachzuweisen, da hier die Dichte der indigenen Bevölkerung auch schon zur damaligen Zeit weitaus höher war als im Süden. Sullivan verweist auf Votivgaben, die eindeutig von indigener Schnitzkunst geprägt sind.213 Neben den afrikanischen und indianischen Einflüssen finden
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Pianzola 1992: 157-158. Sullivan 2001b: 14. Sullivan 2001b: 11.
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sich ästhetische Elemente aus dem fernen Osten, die offensichtlich über dem Weg der Kolonialisierung Macaos durch Portugal nach Brasilien kamen. Während die barocke Phase in den ländlichen Gebieten bis ins 19. Jahrhundert hineinreichte, unterlag die Kunst dieser Zeit im städtischen Umfeld vor allem Rio de Janeiros und São Paulos einer neuerlichen Europäisierungswelle. »A watershed was reached in 1816 when a group of French artists, known as the French artistic mission, arrived in Rio de Janeiro at the invitation of the colonial government. The lessons learned by local artists from these Parisian painters, sculptors, and architects – some of whom had been trained in the atelier of Jacques-Louis David – radically changed the course of Brazilian art.«214
In diese Periode fiel auch die Gründung der Academia Imperial de Belas Artes in Rio de Janeiro. Die Akademie war die erste größere Institution der brasilianischen Kunstwelt. Die Lehrmethoden, die den europäischen akademischen Traditionen bildender Kunst entsprangen, dominierten die Kunst des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein. Im Kontext der Akademie sind deutliche Zeichen von Bemühungen um die Herausbildung eines Nationalbewusstseins durch die Herstellung einer nationalen Kunst zu erkennen. Diese intensivierten sich nach der Unabhängigkeitserklärung durch Dom Pedro, Sohn des portugiesischen Königs Joãos VI. Dom Pedro wurde im gleichen Jahr zum brasilianischen Kaiser gekrönt. Zwei Jahre später trat die erste politische Verfassung des Kaiserreichs Brasilien in Kraft. Ein Großteil der in der Zeitspanne zwischen der Ausrufung der Unabhängigkeit und der Jahrhundertwende wirkenden brasilianischen KünstlerInnen verschrieb sich der künstlerischen Repräsentation von Staat und Religion nach europäischem Vorbild. Neben den die imperiale Macht, die katholische Religion, das nationale Heer und die Marine glorifizierenden Malereien und Skulpturen215 entstanden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Werke, die sich der Visualisierung einer brasilianischen Mythologie durch eine – immer idealisierte – Repräsentation von Mythen aus der romantischen Literatur und Poesie der damaligen Zeit widmeten.216 Die starke europäische Prägung der Kunst macht es vor allem hinsichtlich formaler Aspekte schwer, von einem dezidiert brasilianischen Ausdruck in der Kunst zu sprechen, wenn man von den konkreten Inhalten der Bildnisse absieht. Eben in dieser frühen Phase der Suche nach einer nationalen Identität Brasiliens entstanden jedoch auch Arbeiten von Künstlern/innen, die sich bewusst gegen die akademischen Standards wehrten und neue Ausdrucksweisen einer brasilianischen Kunst hervorbrachten.
214 215 216
Sullivan 2001b: 14. Vgl. Chiarelli 1999: 27. Vgl. Chiarelli 1999: 27.
286 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS »Among these artists are Vítor Mierelles de Lima (1832-1903), important for his history paintings and landscapes, José Ferraz de Almeida Júnior (1850-1899), creator of realistic depictions of laborers and genre scenes, and Eliseu D’Angelo Visconti (1866-1944), who in his early phases utilized a Symbolist palette in a distinctly personal way. Each developed a distinguished body of work within the confines of the international hegemony of principal French artistic convention.«217
Die in diesem Kontext entstandenen Werke im Geiste kulturellen Widerstands gegen die Dominanz Europas lassen sicherlich eine erweiterte Deutung des brasilianischen Kunstschaffens im 19. Jahrhundert zu. Eine kunsthistorische Aufarbeitung, die erhellend für die Entwicklung der brasilianischen Kunstwelt auch im internationalen Zusammenhang wäre, fehlt allerdings bislang.218 Es sollte nach der Emanzipation von Portugal noch ein ganzes Jahrhundert dauern, bis sich eine bewusst von Europa distanzierende, selbstbewusste nationale Haltung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft etablieren konnte. Besonders im bürgerlichen Milieu und in den gehobenen gesellschaftlichen Kreisen überwogen europäische konservative Maßstäbe in nahezu allen Lebensbereichen, auch was die Kunst betraf. »The taste for European styles among bourgeois and upper-class consumers of art in Brazil’s major cities was firmly established at the beginning of the twentieth century. The art markets in Rio de Janeiro and the rapidly developing city of São Paulo were decidedly conservative.«219
Dass das Moment des Bruchs mit den konservativen, eurozentrischen Standards durch die brasilianische Modernebewegung in eben diesen Kreisen erwuchs und nicht zuletzt von den europäischen Avantgarde-Bewegungen stimuliert wurde, ist nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Großteil der den Modernismus in Brasilien begründenden KünstlerInnen220 hatte seine Ausbildung zeitweise in Europa oder sogar den USA genossen und war insbesondere von den dort vorherrschenden expressionistischen Strömungen beeinflusst. Trotz allem ist es von entscheidender Bedeutung, die brasilianische Moderne nicht als Konsequenz oder Anhängsel der europäischen Moderne zu erklären. Im Zuge weltweit übergreifender avantgardistischer Bewegungen ist die brasilianische Moderne als eigenes, in seine spezifischen lokalen, ästhetischen und gesellschaftlichen Kontexte eingebundenes Phänomen zu begreifen.
217 218 219 220
Chiarelli 1999: 15. Vgl. Chiarelli 1999: 15. Sullivan 2001b: 16. Als Schlüsselfiguren sind hier z.B. Anita Malfatti, Emiliano Di Cavalcanti und Tarsila do Amaral zu nennen.
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4.4.2.2 Die brasilianische Moderne The Brazilian is conscious of the polymorphism of ›the Brazilian‹ and is evidently a master in grasping complexity. That is what characterizes Brazil’s identity. JAAP GULDEMOND & BREGJE VAN WOENSEL
Im Jahr 1889 wurde in Brasilien die Erste Republik ausgerufen. Am 24. Februar 1891 erfolgte die Verkündung der neuen Verfassung der Republik der Vereinigten Staaten Brasiliens (República dos Estados Unidos do Brasil), die die vormals zentrale Macht des Kaiserreiches durch eine vollkommen neue Ordnung ersetzte. Diese orientierte sich unter anderem stark an den USA, was auch für die außenpolitischen Beziehungen Brasiliens bestimmend war – bereits 1891 hatten beide Länder ein Handelsabkommen auf Gegenseitigkeit geschlossen.221 Die ungleiche Verteilung politischer Kompetenzen, die Verschiebung der wirtschaftlichen Knotenpunkte, permanente Interventionen durch das Militär, gekoppelt mit massiven sozialen Problemen, führten zu politischen und sozialen Verwirrungen und Unruhen. Wirtschaftlich erlebte Brasilien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch einen Aufschwung, auch wenn das Wirtschaftswachstum von Unregelmäßigkeiten gezeichnet war. Mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wuchs das Land zu einem Wirtschaftsraum zusammen, der Rundfunk etablierte sich in den 1920er Jahren als landesweit verbindendes Medium und der Bildungsstand wurde gehoben. Das nationale Bewusstsein konnte damit auch über die politischen Zentren hinaus gedeihen. Diese Entwicklungen implizierten allerdings auch eine gesteigerte Wahrnehmung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Defizite des Landes, die sich vor allem im enormen sozialen Gefälle innerhalb der brasilianischen Gesellschaft sowie in der extremen politischen und ökonomischen Divergenz zwischen den Metropolen und der ländlichen Peripherie offenbarten. Es bleibt zu bedenken, dass Brasilien »nicht nur während der Ersten Republik, sondern bis in die 1960er Jahre ein agrarisch geprägtes Land [blieb], allen Industrialisierungs- und Modernisierungsabsichten und all der Rhetorik seiner Eliten zum Trotz.«222 Dass sich die Modernebewegungen im städtischen bürgerlichen Milieu formierten, hing unmittelbar mit der dortigen Zentralisierung der politischen Macht, der Wirtschaft und nicht zuletzt der Kultur- und Bildungseinrichtungen zusammen. 1910 hatte São Paulo die damalige Hauptstadt Rio de Janeiro als Industriestandort überholt und etablierte sich damit langsam zum ökonomischen
221 222
Vgl. Zoller 2000: 221. Zoller 2000: 230.
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und kulturellen Zentrum des Landes. Unterstützt wurde der Aufschwung maßgeblich durch europäische (vor allem italienische) und japanische Einwanderer223 sowie durch Migranten aus dem Nordosten Brasiliens: »Während im übrigen Brasilien die Unternehmer fast immer der landbesitzenden Oberschicht entstammten, spielten im Falle São Paulos die Immigranten eine große Rolle.«224 Die Einwanderungsgruppen beeinflussten nicht nur den wirtschaftlichen Sektor, sondern prägten auch die kulturelle Landschaft Brasiliens langfristig. Die die aufkommende Modernebewegung stimulierenden Auslandsbeziehungen, vor allem zu Europa, liegen nicht nur in der kolonialen Vorgeschichte, sondern auch im Zusammenspiel von ökonomischem Aufschwung und Migration zu Beginn des 20. Jahrhunderts verankert. »Schneller als die übrigen brasilianischen Städte und dank Verbindung verschiedener Faktoren des Fortschritts modernisierte sich São Paulo im Bereich der Architektur, der Transportmittel und des Zubehörs und der Gewohnheiten des Alltags. Die Kaffeeplantage nährte währenddessen den kleinen Kern einer Elite, die sich jedes Jahr nach Europa, insbesondere nach Frankreich begab, sei es nun geschäftlich oder zum Vergnügen.«225
Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen, teilweise widersprüchlich wirkenden Faktoren verdichtete sich das Bedürfnis nach einer nationalen Identität, was sich an der Entwicklung der brasilianischen Kunstwelt sehr deutlich nachvollziehen lässt. Im Februar 1922 fand im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der brasilianischen Unabhängigkeit im Stadttheater von São Paulo die »Semana de Arte Moderna« (»Woche der Modernen Kunst«) statt. Sie wird in der Retrospektive häufig als Schlüsselmoment der brasilianischen (Kunst-)Geschichte dargestellt, das den offiziellen Auftakt der Moderne und den Bruch mit den kolonialen Ordnungen markierte. »Unabhängig von der Selbsteinschätzung der Intellektuellen gewann sie in der Erinnerung der Brasilianer eine symbolische Dimension.«226 Motiviert wurde die Veranstaltung von in den Vorjahren aufgekommenen avantgardistischen Tendenzen in der bildenden Kunst, Architektur, Literatur und Musik. Sie waren geprägt von der Suche nach gemeinsamen brasilianischen Wurzeln, kultureller ›Au-
223
224 225 226
Im Zeitraum von 1884 und 1939 wurden insgesamt 4.158.717 Einwanderer nach Brasilien registriert, darunter etwa 1,4 Mio. Italiener, 1,2 Mio. Portugiesen, 581.000 Spanier, 185.000 Japaner (diese siedelten sich vor allem im Raum von São Paulo an und erreichten in bestimmten Wirtschaftsnischen, z.B. dem Gemüseanbau, fast eine Monopolstellung), 170.000 Deutsche sowie über 250.000 Migranten aus dem osmanischen, russischen und österreichisch-ungarischen Empire. (Vgl. Zoller 2000: 234). Zoller 2000: 232. Pontual 1992: 320. Zoller 2000: 237.
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thentizität‹, einer ›Brasilianität‹ (brasilidade), kurz, nach einer nationalen Identität. Der vermeintliche Widerspruch zwischen der Orientierung am europäischen Vorbild und dem gleichzeitigen emanzipatorischen Aufbegehren gegen die kulturelle Vormachtstellung Europas gelangte dabei zunehmend in ein kritisches Bewusstsein der beteiligten SchriftstellerInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen. »The desire to represent national themes was one of the driving forces behind the art of this period. Brazilianness, or brasilidade, was, like national identity in the art of many other nations in Latin America at this time, a point of critical discussion. Latin American Modernists of the 1920s were aware of stylistic strategies from abroad, but sought to create new paradigms for national audiences.«227
Die Brisanz der »Semana de Arte Moderna« zu Beginn der 1920er Jahre lag weniger in der Definition eines allgemeingültigen modernen Ideals, sondern in der Zusammenschau verschiedener experimenteller Wege moderner künstlerischer Ausdruckskraft. Durch die Zusammenkunft von Protagonisten der brasilianischen Avantgarde aus allen künstlerischen Sparten an einem Ort formierte sich geradezu eine Woge neuer liberalistischer und nationalistischer Idee. Daraus bildeten sich im Laufe der 1920er Jahre diverse moderne Bewegungen. Für die Richtung der bildenden Kunst waren das »Movimento Pau Brasil«228 (»Bewegung Brasilholz«) und das sich daran anschließende »Movimento antropofágico« (»Anthropophagische Bewegung«) von tragender Bedeutung. Die wichtigsten Prinzipien des »Movimento antropofágico« sind anhand der Behandlung des von Oswald de Andrade verfassten »Manifesto Antropófago« im dritten Kapitel bereits ausführlich erläutert worden. Dass gerade das Konzept der antropofagia bis heute von brasilianischen Künstlern/innen rezipiert und immer wieder reinterpretiert wird und mittlerweile auch Bedeutung im Zusammenhang der globalen Kunstwelt gewinnt, zeigt sich in der weiteren Verfolgung der kunstgeschichtlichen Entwicklungen.
227 228
Sullivan 2001b: 17. Das »Movimento Pau-Brasil« wurde im Jahr 1924 von dem Künstlerpaar Oswald de Andrade und Tarsila do Amaral hervorgebracht. Inspiriert von den avantgardistischen Bewegungen Europas, die Andrade auf Reisen kennengelernt hatte, erklärte die Bewegung eine primitivistische Position auf der Suche nach einer unbefleckten Form der Poesie, der Wiederentdeckung der Welt und Brasiliens. 1925 erschien das Buch »Pau-Brasil« (Andrade 1925) von Oswald de Andrade, illustriert von Tarsila do Amaral. Darin erklärte er, dass Brasilien eine Kultur des Exports sein würde. Ähnlich wie das Brasilholz (pau-brasil) als Exportgut nach Europa gekommen sei, so würde auch seine Poesie als kulturelles Produkt Europa beeinflussen, dem sie selbst nichts mehr schulde. Die Ansätze sollten grundlegend für das später entwickelte Konzept der antropofagia sein.
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Exkurs 6: Tarsila do Amaral Das Werk der Malerin Tarsila do Amaral ist für die brasilianische Moderne der 1920er Jahre besonders charakteristisch. Häufig werden ihre Bilder sogar als Ikonen der brasilianischen Avantgarde bezeichnet. Sie wurde am 01. September 1886 im Inland des Staates São Paulos auf einer Fazenda geboren und wuchs als Kind einer wohlhabenden Familie auf. Sie besuchte eine Schule in São Paulo, absolvierte ihren Schulabschluss in Barcelona und kehrte wieder nach Brasilien zurück. Ab 1916 begann sie mit dem Studium der bildenden Kunst in São Paulo, zunächst Bildhauerei, dann Zeichnung und Malerei. Wie viele andere KünstlerInnen der Moderne hielt sie sich im Zuge ihrer Ausbildung mehrfach in Europa auf. Zum Zeitpunkt der »Semana de Arte Moderna« befand sie sich gerade in Paris, wo sie bei Fernand Léger, André Lhote und Albert Gleizes studierte. Der Kontakt mit der Kunst im Paris der 1920er Jahre war entscheidend für die Entwicklung ihres speziellen visuellen Vokabulars. Besonders prägend waren kubistische Ansätze. In der bildlichen Auseinandersetzung mit der kulturellen Identität Brasiliens verschränkte Amaral Elemente des europäischen Expressionismus mit lokalen, brasilianischen Ikonographien, Formensprachen und Farbigkeiten zu einem einzigartigen Stil. Ihre Affinität zu traditionellen visuellen Ausdrucksformen Brasiliens (z.B der indigenen oder afro-brasilianischen Kulturen) erklärt sowohl die ornamentale Qualität ihrer Arbeiten als auch die Idiosynkrasie ihrer Bildsprache und -symbolik. Der brasilianische Barock beeinflusste insbesondere ihr Frühwerk. Im Jahr 1922 schloss sie sich zusammen mit Anita Malfatti, Oswald de Andrade, Mário de Andrade und Menotti del Picchia der modernistischen Bewegung »grupo dos cinco« an. Später war sie Anhängerin des »Movimente Pau-Brasil« und des »Movimento Antropófago«. In ihrem Œuvre von 1924-1926 spiegeln sich die Ideen des avantgardistischen »Manifesto Pau-Brasil« von Oswald de Andrade deutlich wider (PauBrasil-Periode), später setzte sie sich intensiv mit der Menschenfresserei auseinander und schuf eine Reihe von Bildern, die der so genannten Anthropophagie-Periode zugesprochen werden. In engem Zusammenhang mit diesen Arbeiten steht wiederum das »Manifesto Antropófago« von Andrade (1928). Während Tarsila do Amaral die Sehnsucht einer brasilianischen Identität und das damit verbundene Bekenntnis zur kulturellen Anthropophagie in Form visueller Symbolik verarbeitete, stellt das Manifest eine Verbalisierung jener modernen Fiktionen und Enthüllungen brasilianischen Denkens dar. In den 1930er Jahren nahm das Werk der Malerin einen anderen Charakter an. Sie wendete sich zunehmend dem sozialistischen Realismus zu und reiste unter anderem nach Moskau, wo sie ihre Kunst ausstellte. Die in dieser Zeit entstandenen Bilder verweisen einmal mehr auf ihre intensive Beschäftigung mit soziopolitischen und soziokulturellen Themen. In
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den 1950er Jahren griff sie erneut die Pau-Brasil-Thematik auf. 1951 nahm sie an der ersten Biennale von São Paulo teil, 1963 war ihr auf der Biennale ein eigener Raum zugeteilt worden. Im Jahr 1964 waren einige Werke der Künstlerin auf der Biennale von Venedig ausgestellt. Tarsila do Amaral starb am 17. Januar 1973 in São Paulo. Sie zählt bis heute zu den wichtigsten und bekanntesten Künstlern/innen Brasiliens.
4.4.2.3 Entwicklungen ab den 1930er Jahren Brazilian art of the second half of the century presents an increasingly intricate series of multivalent patterns, all of which, taken together, form a more deeply nuanced picture of the visual narrative than appears in most survey texts. EDWARD J. SULLIVAN
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die Machtübernahme Gétulio Vargas’ im Jahr 1930 veränderte das poltische und kulturelle Klima Brasiliens. Sie lenkte den Modernismus in eine andere Richtung als in seinen optimistischen und revolutionären Anfangszeiten. Die Protagonisten der modernen Kunstszene schlugen unterschiedlichste Wege der Entwicklung ein, die hier nicht alle nachgezeichnet werden können. Um einen groben Überblick über die kunsthistorischen Verläufe nach 1930 zu erhalten, sollen hier nur einige wenige Strömungen schlaglichtartig beleuchtet werden. Eine ganze Reihe künstlerischer Arbeiten dieser Zeit sind Zeugnisse einer aufkommenden surrealistischen Phase, die sich durch die wechselseitigen Einflüsse brasilianischer, europäischer und US-amerikanischer Tendenzen dieser Richtung auszeichnete. Viele Adepten surrealistischer Bewegungen Europas reisten nach Nord- und Lateinamerika und die Karibik. Ebenso pflegten brasilianische KünstlerInnen regen Austausch mit europäischen Surrealisten und übten auf die europäische und US-amerikanische Kunstwelt entsprechenden Einfluss aus. »Such was the case with sculptor Maria Martins (1894-1973), a much appreciated artist in Brazil who in the 1940s was also well known among artistic circles in New York for her exhibitions at the Julien Levy and Valentine galleries. Her work was praised by, among others, Alfred H. Barr, Jr., who was instrumental in the purchase by the Museum of Modern Art of The impossible One (1944), one of her best-known pieces. […] One of the most evocative descriptions of Martin’s work was written in 1947 by André Breton: […] Art historian Francis M. Naumann has examined Martin’s close relationship with Marcel Duchamp over the course of many years, and suggests that the emotional and the professional connection between the two artists
292 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS had significant consequences for the work produced by both, especially during the 1940s.«229
Edward J. Sullivan weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade der Surrealismus – oder im Allgemeinen Kunst, die sich durch die Lust am Fantastischen und hohen Erfindungsreichtum kennzeichnet – stets in Referenz auf Brasilien betrachtet werden sollte. In der durch die Rezession und die Diktatur geprägten Atmosphäre der 1930er Jahre sollte sich auch der Stil des sozialistischen Realismus – unter anderem beeinflusst vom mexikanischen Muralismus – in der brasilianischen Kunstpraxis niederschlagen. Diese Entwicklung zeugt von der permanenten Reflexion und Offenheit brasilianischer KünstlerInnen gegenüber Entwicklungen im Ausland im direkten Zusammenhang mit der Interpretation eines eigenen Nationalbewusstseins. Eine Schlüsselfigur stellt hier Cândido Portinari dar: »Auch wenn sich viele der ersten Modernisten damit [soziale Thematik, Anm. K.S.] befassten, so zum Beispiel Tarsila do Amaral, Di Cavalcanti und Segall, war es doch vor allem Portinari zu danken, der zugleich von Picasso und den Mexikanern beeinflusst war, dass die Beschäftigung mit vergangener Geschichte und den gegenwärtigen Dramen der Menschheit und der Nation Festigkeit und Ausdehnung gewann. Im Kielwasser der öffentlichen Unterstützung wurde er im ganzen Land und sogar über die Grenzen hinaus (in den USA) bekannt, mit Wandbildern von stilistischen Ekletizismus (sic!), – zwischen Expressionismus und Kubismus –, die Ungerechtigkeit und Elend anprangerten, jedoch weniger aggressiv als die seiner Kollegen in Mexiko.«230
Portinari gestaltete unter anderem Wandmalereien für die Library of Congress in Washington D.C. und für den Hauptsitz der UN in New York.
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Sullivan 2001b: 20-21. Pontual 1992: 323.
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4.4.2.4 Brasilianischer Konkretismus und Neokonkretismus After World War II, conventional notions of center and periphery began to lose whatever tenuous meanings they had, and artistic pluralism widened the scope of the vocabularies of the visual arts. What Brazilian artists had articulated as anthropophagy, or aesthetic cannibalism, became the rule throughout the world as communication possibilities rapidly unfolded and the knowledge of what artists were doing in far-flung centers began to collapse the already vacuous concepts of artistic invention. The process of cultural globalization, which in the past decade has accelerated to an undreamed of extent, began in the 1940s and 1950s. EDWARD J. SULLIVAN
Laut Sullivan vollzog sich die kulturelle Globalisierung der Kunstwelten nach anthropophagischer Manier bereits ab den 1940er/1950er Jahren. Ausdruck dieser Entwicklungen war unter anderem die Gründung der Bienal de São Paulo 1951, die ihren Fokus auf zeitgenössische europäische Kunst gelegt hatte und »bei den jungen brasilianischen Künstlern der damaligen Zeit unverzüglich zu einem unwiderstehlichen Schub in Richtung eines nichtfigurativen, geometrischen Stils«231 führte. In der Verschränkung der sich immer weiter steigernden Auseinandersetzung brasilianischer KünstlerInnen mit internationalen Tendenzen in der Kunst (vor allem mit unterschiedlichen Formen der Abstraktion232) und der Beschäftigung mit explizit brasilianischen künstlerischen Ausdrucksformen entstand der brasilianische Konkretismus. Er sollte sich als eine der wichtigsten Strömungen in der brasilianischen Kunstgeschichte herausbilden. Eine Schlüsselfigur war hier der schweizer Künstler Max Bill, der auch den Begriff des Konkretismus nach Brasilien einführte: »For Bill, Concretism designated an objective art framed by mathematical concepts, an idea expanded with the creation, in
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Pontual 1992: 324. Folgende Ausstellungen zeugen von diesem Trend: 1948 fand in Rio de Janeiro eine hoch gelobte Alexander Calder-Ausstellung statt; das Museo de Arte Moderna (MAM) in São Paulo wurde 1949 mit der Ausstellung »Do figurativismo ao abstractionismo« (»Vom Figurativen zum Abstrakten«) eröffnet; 1950 organisierte das Museo de Arte de São Paulo (MASP) eine große Max Bill-Ausstellung.
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1951, of the Hochschule für Gestaltung Ulm, of which Bill was the first director.«233 Bill erhielt auf der ersten Biennale von São Paulo den ersten Preis für seine Skulptur »Tripartite Unity«. Sie lässt sich als Symbol für den künstlerischen Auftrag junger KünstlerInnen Brasiliens deuten, die daran interessiert waren, die Ästhetik einer industriell aufstrebenden Nation in eine neue Richtung zu lenken. 1956 fand die »Exposição Nacional de Arte Concreta« (»Nationale Ausstellung konkreter Kunst«) in São Paulo statt. Im gleichen Jahr begann die Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek in Nachfolge von Getúlio Vargas, der zwei Jahre zuvor Selbstmord begannen hatte. Kubitschek sollte eine neue Ära einleiten, die unter dem Zeichen radikaler Industrialisierung und Modernisierung des Landes stand. Mit der Maxime »50 Jahre in 5« wurde die fortschrittsorientierte Periode klar umrissen: Die industrielle Produktion des Landes verdoppelte sich zwischen 1956 und 1961 und São Paulo gelangte in ökonomischer Hinsicht an die Spitze aller lateinamerikanischen Städte. Diese Atmosphäre ergab sich als idealer Nährboden für die konkrete Kunst. »Denn diese wandte sich dem Symptom des Fortschritts ihrer Zeit zu, wie sich in ihrer Leidenschaft für die Planung zeigte, für die Strenge der mathematischen Gleichungen, für die Anonymität des industriellen Förderbandes und für die pragmatische Logik der Architektur.«234 KünstlerInnen dieser Zeit, zu denen auch Mira Schendel und Luis Sacilotto gehörten, ließen sich insbesondere vom futuristischen Stil des Bauhaus’ inspirieren, aber auch von den Wiener Kybernetikern, Charles Peirce und der Gestalttheorie. Davon zeugt das »Manifesto Ruptura«, das bereits 1952 von Waldemar Cordeiro verfasst wurde. »According to the directives adopted by these artists, art should separate itself from individual expression, from gesture and its correlatives, in order to produce works embedded in the rationality of form.«235 Die Herausbildung der besonderen formalen Bezüge und der eigenen Bedeutungen der abstrakten geometrischen Formen des brasilianischen Konkretismus und des daran anschließenden Neokonkretismus ist schließlich den spezifischen, der kulturellen Färbung Brasiliens entsprechenden, künstlerischen Auseinandersetzungen geschuldet. Sullivan referiert in diesem Zusammenhang auch auf ethische und religiöse Momente und visuelle Codes afro-brasilianischer Kulturen, die einige KünstlerInnen in die konkrete und neokonkrete Kunst transformierten und damit die visuelle Formensprache des Konkretismus maßgeblich erweiterten. Schlüsselfiguren stellen hier Rubem Valentim oder Ronaldo Rego dar. 236 Der Ende der 1950er Jahre aufgekommene Neokonkretismus erwuchs aus einer Spaltung innerhalb der konkretistischen Bewegung, die sich bereits während der »Exposição Nacional de Arte Conreta« 1956 abzeichnete.
233 234 235 236
Farias 2001: 399. Pontual 1992: 325. Farias 2001: 399. Siehe Sullivan 2001b: 24.
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Die geometrische Exaktheit sowie die rationalistischen und wissenschaftlich positivistischen Ansichten der Konkretisten stießen auf Kritik bis hin zu Ablehnung von KünstlerInnen, die sich für eine höhere Dynamik und mehr physisches Engagement in den Kunstwerken aussprachen. Mit der Publikation des »Manifesto neoconcreto« des Dichters Ferreira Gullar im Jahr 1959 wurde der Neokonkretismus schließlich bestätigt. Laut Roberto Pontual waren Gullars theoretische Überlegungen – vor allem die 1960 erschienene Schrift »Teoria do Não-Objeto« – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnlich prägend für die Kunst Brasiliens wie die anthropophagische Strategie der 1920er Jahre: »beide stechen als seltene Beispiele einer grundlegenden und tiefen Reflexion innerhalb der brasilianischen Kunst hervor – daher rühren auch die unauslöschlichen Spuren, die sie hinterlassen haben.«237 Lygia Clark, Hélio Oiticica und Lygia Pape gehörten zu den Protagonisten des Neokonkretismus. In ihren Arbeiten überschritten sie die rigiden Parameter der Konkretisten vor allem durch die forcierte, interaktive Begegnung zwischen Werk und BetrachterInnen. Ziel war es, sowohl die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzulösen als auch die kanonischen Kategorien von Malerei und Skulptur in Frage zu stellen, um so die absoluten Grenzen einer bildlichen Rahmung von Kunst zu erreichen. »Again, we find here the performative, even theatrical element that is so crucial to an understanding of much Brazilian art throughout its history.«238 Das performative Element volkstümlicher Feste, insbesondere des Karnevals, erhielt in der neokonkreten Kunst einen hohen Stellenwert. Der Kulturanthropologe Roberto DaMatta verweist auf den besonderen Beitrag von religiösen und/oder Volksfesten für die Schaffung einer gemeinsamen und individuellen, öffentlichen und privaten sowie lokalen und nationalen Identität. »Through the Semana da Pátria (Week of the nation), Holy Week, and the famous and irreverent Carnival (a national celebration lasting a minimum of four days), Brazilian society has established an idealized and balanced representation of itself, taking time to celebrate civic, religious, and popular or profane dimensions.«239
Insbesondere der Karneval spielt bis heute eine entscheidende Rolle für die brasilianische Gesellschaft und Kultur. In der Betonung von Sinnesfreuden, Erotik, Verführung, dem Grotesken und der Umkehr sozialer Strukturen, vereitelt der Karneval die oberflächlich dominanten bürgerlichen, christlichen und puritanische Ordnungen und Denkarten. In der fast übertriebenen Betonung von Körperlichkeit und der pompösen, selbstbewussten Inszenierung vor allem afrikanischer und indigener Kulturelemente setzt der Karneval den kulturell massiv heterogenen Charakter Brasiliens in Szene wie kein anderes populäres Fest. Der karnevalistische, ironisch-subversive, mehrdeu-
237 238 239
Pontual 1992: 326. Sullivan 2001b: 25. DaMatta 2001: 47.
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tige, häufig vermeintlich widersprüchliche performative Habitus spiegelt sich frappierend in der künstlerischen Praxis bildender KünstlerInnen Brasiliens durch alle Generationen und Stile wider. 4.4.2.5 Tropicália Das Brasilien der 1960er Jahre war zerrissen von inneren Widersprüchen. Nach einer Zeit des Aufschwungs während der Regierung Kubitscheks erlag das Land zum wiederholten Male schweren ökonomischen, sozialen und politischen Spannungen. Der Militärputsch im Jahr 1964 sollte eine Militärdiktatur einleiten, die bis 1985 andauerte. Aus dem Neokonkretismus heraus erwuchs in jener Zeit eine künstlerische Strömung, die sehr sensibel auf die wirtschafts- und soziopolitische Situation reagierte – die tropicália. In Referenz auf die Krisenzeit in den 1920er Jahren griffen die MusikerInnen, KünstlerInnen, PoetInnen, FilmemacherInnen, Theaterregisseure/innen und TheoretikerInnen, die der tropicália zugerechnet werden können, vor allem auf Andrades Thesen der antropofagia zurück, »um ein ästhetisches Konzept der Hybridität zu entwickeln, das sich als Waffe in einem künstlerischen Guerillakampf gegen das politische Unterdrückungssystem benutzen ließ.«240 Die tropicália ist ähnlich der künstlerischen Formationen der Avantgarde weniger als geschlossene, radikale Bewegung, sondern als ein offenes System zu begreifen, das tiefgreifende Wirkungen auf alle Sparten der Kultur Brasiliens hatte. Ulrich Mießgang, der im Jahr 2010 die Ausstellung »Tropicália. Die 60s in Brasilien« kuratierte, schreibt im entsprechenden Ausstellungskatalog, die tropicália sei »nicht als ästhetisch und politisch reglementierter Ikonoklasmus zu begreifen, sondern als – manchmal zufällige, manchmal gewollte – Konfluenz von künstlerischen, performativen und diskursiven Energien, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Milieus des Brasiliens der Nachkriegszeit entfesselt worden waren. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die konkrete Poeten, Popsong-Dichter, Filmemacher, Theaterregisseure, E-Musiker, Modeschöpfer und Theoretiker für einen heterotopischen Moment zusammenführte, besser: zusammenprallen ließ.«241
Aus diesem Grund soll hier ausschließlich von tropicália und nicht von Tropikalismus (tropicalismo) gesprochen werden.242 Für den Bereich der Musik sind Caetano Veloso und Gilberto Gil von tragender Bedeutung gewesen, für den Film der Regisseur Glauber Rocha. In der bildenden Kunst
240 241 242
Matt 2010: 6. Mießgang 2010: 17. Zur Auseinandersetzung über die semantische Differenz der Begriffe siehe Mießgang 2010: 17-18.
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sind die aus dem neokonkretistischen Kreisen stammenden KünstlerInnen Lygia Pape, Lygia Clark und Hélio Oiticica besonders hervorzuheben. Ihren Namen verdankt die Bewegung der Installation »Tropicália« von Hélio Oiticica, die 1967 in der Ausstellung »Nova Objetividade Brasileira« (»Neue Brasilianische Objektivität«) im Museum für Moderne Kunst in Rio de Janeiro zum ersten Mal gezeigt wurde. Aus Stellwänden (die Hütten einer Favela imitierend), Sand, Schotter, tropischen Pflanzen, lebenden Papageien und einem permanent laufenden Fernseher hatte Oiticica ein begehbares Szenario errichtet, in dem er verschiedene Stränge seiner eigenen Kunst zusammenführte. »Auf dem ausgestreuten Kies liegt ein Stein mit einem aufgemalten Gedicht. In dem größeren der aus stoffbespannten Holzrahmen errichteten Hütten befindet sich am Ende eines labyrinthisch angelegten, dunklen Ganges als einzige Lichtquelle ein eingeschaltetes Fernsehgerät, dessen Lautstärke bei meinem Besuch schon von außen vernehmbar war. In dem kleineren der beiden Gehäuse ist an der Oberkante einer monochromen Fläche der Satz A pureza é um mito (Reinheit ist ein Mythos) aufgebracht. Nicht nur die labyrinthische Raumstruktur, sondern auch die buntbedruckten Stoffe lassen die Unterscheidung von Innen- und Außenseiten respektive von Vorderund Rückseite hinfällig erscheinen. – Kurzum: Tropicália stellt sich als ein Ensemble von akustischen, taktilen, visuellen und semantischen Elementen dar, das sich erst durch die körperliche Involvierung der Besucher/innen erschließt. Sie sind dazu angehalten, die Räume buchstäblich zu durchdringen.«243
In der Nebeneinanderstellung kultureller und sozialpolitischer Gegensätze präsentierte er die »brasilianische Frage im internationalen Kontext«244 auf verschiedenen metaphorischen Plateaus. Die Installation »Tropicália« war insgesamt als Inversion Oswald de Andrades kannibalistischen Projekts zu verstehen: »Hier wurde der Besucher von der multidimensionalen Struktur geschluckt, verdaut und mit – nach dem Willen des Künstlers – transformierten Bewusstsein wieder ausgespuckt – so als ob er in die Fänge eines ›gewaltigen Raubtiers‹ (Oiticica) geraten sei.«245 In der Installation Oiticicas verdinglicht sich zudem die Forderung einer Neudefinition von Kunst und KünstlerIn: ästhetische Objekte sollten nicht der passiven Kontemplation dienen, sondern interaktive Praktiken und Verhaltensweisen ermöglichen und das Bewusstsein verändern, wobei sich der/die KünstlerIn selbst einem Prozess der ›De-Intellektualisierung‹ zu unterwerfen hatte. »Von der Objektkunst zum prozessualen Akt, dem eine gesellschaftsverändernde oder zumindest -modulierende Kraft zugestanden wurde.«246
243 244 245 246
Buchmann: 73. Mießgang 2010: 24. Mießgang 2010: 24. Mießgang 2010: 27.
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Es ist auch hier wieder zu konstatieren, dass die tropicália in einem gewissen Einklang und im Austausch mit den emanzipatorischen Avantgarden in Europa und den USA dieser Zeit zu sehen ist. Dennoch, so formuliert es Mießgang, bleibt zu bedenken, dass den Werken und Aktionen brasilianischer KünstlerInnen »im Kontext postkolonialer Diskursstrategien ein Surplus an gesellschaftspolitischer Dringlichkeit zuwuchs. Denn es ging in den kulturellen Milieus der ehemals durch koloniale Ausbeutung zwangsmarginalisierten Ländern nicht nur um die polemische Setzung von avantgardistischen Schockeffekten gegenüber restaurativen und reaktionären systemstabilisierenden Ästhetiken, sondern um eine Bestimmung der eigenen Position im globalen kulturellen und politischen Gewebe.«247
Laut Oiticica waren künstlerischer und sozialer Nonkonformismus in Brasilien immer miteinander verbunden gewesen, womit er auch die »brasilianische Differenz« in der Kunst auslotete.248 Es nimmt daher nicht wunder, dass die Revitalisierung der (kultur-)anthropophagischen Theorien und Praktiken der 1920er Jahre in unmittelbarer Reaktion auf die Ära Kubitschek erfolgte. Die vehemente Propaganda von Technologie und Fortschritt, die zu weiten Teilen dem hegemonialen kulturellen Deutungsanspruch eurozentrischer und vor allem US-amerikanischer Provenienz geschuldet war, führte zur Rückbesinnung auf die brasilianische Wesensart, im Akt der (subversiven) Selbstidentifikation äußere und innere Tendenzen im Moment des Kreativen kritisch und aggressiv zu reflektieren und schließlich miteinander zu verbinden: »Kannibalismus und Anthropophagie, gargantueske Gefräßigkeit oder, allgemeiner formuliert, eine ›Ästhetik des Hungers‹ (Glauber Rocha) wurden entlang solcher Argumentationslinien zu zentralen symbolischen und visuellen Signifiern der Generation Tropicália.«249 KünstlerInnen wir Oiticica, Pape und Clark, die vormals noch im Stil der neokonkreten Kunst gewirkt hatten, setzten dem rationalistischen Charakter industrieller Formensprache ihre Intuition, Kreativität und Subjektivität entgegen. In der Betonung der Körperlichkeit gingen viele tropicália-KünstlerInnen allerdings einen wesentlichen Schritt weiter als die Protagonisten der Moderne und enthoben die antropofagia ihrer rein metaphorischen Ebene: »Verschlingen oder Verschlungenwerden – das war die Frage, die auf unterschiedlichste Weise ästhetisch beantwortet wurde – unter starker Einbeziehung von Körpersäften, olfaktorischen Stimulantien und wahrnehmungsverzerrenden Applikaten.«250 Besonders radikal wird die kannibalistische Dimension beispielsweise im Werk Artur Barrios. Die »Tropicália«-
247 248 249 250
Mießgang 2010: 27. Vgl. Mießgang 2010: 27. Mießgang 2010: 28. Mießgang 2010: 28.
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Ausstellung in Wien präsentierte einige Photographien seiner Aktionskunst der 1960er und 1970er Jahre, die Barrio selbst als »poetischen Terrorismus« bezeichnete. »Seine Interventionen bestanden darin, ›bloody bundles‹ – in Textilien eingeschnürte Bündel aus Blut, Fleisch, Innereien, Knochen und Abfällen – ins Museum und von dort in den öffentlichen Raum zu befördern, an Plätze, die sonst ehrwürdigen Denkmälern vorbehalten waren, aber vor allem Nicht-Orte, heruntergekommene Gegenden im Stadtraum, Müllhalden und Kanäle. […] Die Verwendung von verderbenden Materialien, Körpersäften und verrottendem Fleisch betrachtete der Künstler als Widerstandsgeste und symbolischen Aufschrei gegen hegemoniale Machtstrukturen, gegen rationalistische Geisteshaltungen, gegen konventionalisierte Handlungslogiken, gegen die vermeintliche Neutralität institutionalisierter Räume, gegen das Ignorieren von Armut der Dritten Welt.«251
Solch radikale Positionen richteten sich gegen die radikalen politischen Statements der brasilianischen Regierung. 1968 wurde durch die Verkündung des »Ato Institucional No. 5« durch das Militärregime die Verfassung de facto aufgehoben. Der Präsident war von nun an dazu befähigt, eigenmächtig Abgeordnetenmandate einzuziehen, politische Rechte zu suspendieren und selbst Gesetze zu erlassen.252 Der Handlungsspielraum der widerständigen KünstlerInnen wurde damit vehement eingeschränkt. Einige wurden sogar inhaftiert und mehrere Jahre exiliert, wie die Musiker Gilberto Gil – der Jahre später unter der Präsidentschaft Inácio Lula da Silvas Kulturminister wurde – und Caetano Veloso, da man sie für Chef-Netzwerker einer dezentralen Widerstandsbewegung hielt. Auch Lygia Clark verließ Brasilien ob der intolerablen politischen Situation. Mit der Auswanderung zahlreicher KünstlerInnen verwandelte sich die tropicália sukzessive in eine Art ExilAvantgarde, ohne dass sie ihre Wirkungen im brasilianischen Kontext entfalten konnte. »Die mit Gewalt durchgesetzten Essenzialismen des Regimes hatten über Ästhetik und Politik des Fragmentarischen und des Kontradiktorischen gesiegt.«253 Anders als die musikalischen Erzeugnisse, erfuhren die bildenden KünstlerInnen der tropicália im internationalen Kontext erst viel später Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ihre künstlerischen Manifestationen »ließen sich nicht recht in die etablierten ästhetischen ›timelines‹ einordnen, sie passten nicht zu den Begrifflichkeiten, mit denen die konkurrierenden euroamerikanischen Avantgardepäpste die Kunst-Debatten ständig unter Hochspannung setzten und sie waren ohne umfassende Kenntnis der nationalen Kulturgeschichte und der aktuel-
251 252 253
Genzmer 2010: 56. Vgl. Bernecker/Pietschmann/Zoller 2000: 34. Mießgang 2010: 32.
300 | N UR DER K ANNIBALISMUS EINT UNS len poltischen Lage in ihren Intentionen und ästhetischen Glasperlenspielereien kaum zu begreifen.«254
In den 1990er Jahre wurde die tropicália in der globalen Kunstwelt allerdings neu entdeckt. Von dem bis heute ungebrochenen Interesse zeugen Ausstellungen im Museum of Contemporary Art of Chicago im Jahr 2005, im Bronx Museum in New York 2006, die Ausstellung »Hélio Oiticica: The Body of Color« im Museum of Fine Arts in Houston 2006/2007255, die umfangreiche Präsentation der 2003 verstorbenen Konzeptkünstlerin Lygia Pape auf der Biennale von Venedig 2009 und schließlich die bereits mehrfach zitierte Ausstellung »Tropicália – Die 60s in Brasilien« in der Kunsthalle Wien im Jahr 2010. Es ist offensichtlich, »dass die lange negligierte konvolutive Ästhetik aus dem dunklen Herzen eines autoritären Regimes immer mehr innerhalb der Ausstellungspraxis und der Diskursszenarien des, (sic!) an den inneren Widersprüchen der Kapitalakkumulation verzweifelnden Westens diskutiert wird.«256 Dass die tropicália-KünstlerInnen Lygia Clark und Hélio Oiticica 1997 auf der »documenta X« auftauchten, mag in diesem Zusammenhang nicht verwundern, ebenso wenig die verstärkte Auseinandersetzung mit brasilianischer Kunst auf den folgenden documenten. Wie einflussreich die künstlerischen Errungenschaften der 1960er Jahre auf die Gegenwartskunst Brasiliens wirken, sei an dieser Stelle nur an einem kurzen Kommentar zur Präsentation Ernesto Netos, einem der international erfolgreichsten brasilianischen KünstlerInnen, im Kontext der »Tropicália«Ausstellung in Wien vorgeführt: »Ein künstlerischer Weltstar wie Ernesto Neto orientiert sich durchaus an der eigenen Straßenkarte, doch seine häufig aus weichen, dehnbaren, synthetischen Materialien gefertigten Skulpturen, die oft an Stalaktiten und andere bizarre geologische Formationen erinnern, sind über zahlreiche Nervenstränge mit den immersiven, partizipatorischen Impulsen von Tropicália verbunden. In letzter Konsequenz lassen sich die Spuren seiner Arbeit bis zu den neokonkreten Carioca-Traditionen von Lygia Clark, Lygia Pape und Hélio Oiticica mit ihrer Mischung aus geometrischer Abstraktion und körperlicher Exaltation zurückverfolgen. Über eine genealogische Linie, die von Artur Barrio und Cildo Meireles bis zu Tunga reicht, entwickelte Neto seine eigene Version von anthropophagischer Korporalität.«257
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Mießgang 2010: 34. Die drei genannten Ausstellungen wurden von Carlos Basualdo kuratiert. Mießgang 2010: 37. Mießgang 2010: 37.
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4.4.2.5 Zeitgenössische Kunst Brasiliens It has been the fate of artists in Latin America, women and men equally, to have to prove incessantly that the countries on the fringes have their own traditions in art and their own history of critical analysis. These countries are constantly being pressured with the burden of proving that they are not mirrors but full individualities, perfectly capable of participating in the contemporary system of symbolic exchange. PAULO HERKENHOFF Nonetheless, the strength of culturally and geographically specific approaches to image-making in Brazil accounted for the emergence of forms of art that, even in the increasingly Postmodern era of the late twentieth century, could still be unmistakably indentified with the country. EDWARD J. SULLIVAN
Brasilianische Künstlerinnen und Künstler greifen auf eine eigene Kunstgeschichte zurück und positionieren sich damit sowohl in einer brasilianischen als auch innerhalb der übergreifenden globalen Kunstwelt. Seit der Moderne hat sich die bildende Kunst in Brasilien in viele verschiedene Richtungen verzweigt. Einige Strömungen, die besonders nachhaltig in die Kunst der Gegenwart hineinwirken, wurden hier skizzenartig vorgestellt. Auch sind bei weitem nicht alle wichtigen Entwicklungen und Persönlichkeiten berücksichtigt worden. Angesichts der immer breiter gefächerten Kunstproduktionen wird es etwa ab den 1970er Jahren noch schwieriger, eindeutige Linien der Entwicklungen innerhalb der brasilianischen Kunstwelt auszumachen. Die 1970er und 1980er Jahre waren grundsätzlich von einer allgemeinen Aufbruchstimmung infolge eines erneuten wirtschaftlichen Aufschwungs, der Erlassung eines umfassenden Amnestiegesetzes zugunsten von Oppositionellen im Jahr 1979 durch General Figueiredo, der Auflösung der Militärdiktatur und schließlich von der Geburt der Neuen Republik 1985 geprägt. Im internationalen Kontext gewannen brasilianische KünstlerInnen zunehmend mehr Ansehen und konnten sich trotz anhaltender wirtschaftlicher Probleme (vor allem durch enorm ansteigende Inflationsraten) langsam auch auf dem internationalen Markt behaupten. Die Institutionalisierung der brasilianischen Kunstwelt schritt ebenfalls voran, verharrte aber vor allem wegen ökonomischer Engpässe und (Infra-)Strukturmängel in eher desola-
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ten Zuständen. Museen waren nur unzureichend miteinander vernetzt, ihnen fehlten materielle, finanzielle und personelle Mittel, um beständig und verbindlich zu operieren. »Es gibt auch kaum Möglichkeiten zur Diskussion und Publikation – kaum gute Fachzeitschriften, was einem Versagen der Universität gleichkommt, die das Blühen einer Kunstkritik auf gutem Niveau zu wenig vorantrieb. […] Obwohl der Kunstmarkt gut ausstaffiert ist, mit Galerien aller Arten, leidet er unter mangelndem Ehrgeiz und beschränkter Professionalität: fast nie finden sich zusammenhängende Programme, die das Alte oder das Neue aufwerten, und noch weniger ein Bemühen, das aktuelle ausländische Schaffen aufzugreifen.«258
Auch die Biennale von São Paulo hatte unter ständigen Krisen in Sachen Budget, Verwaltung und Ansehen zu leiden. In der brasilianischen Kunstgeschichtsschreibung rekurriert man für diese Zeit auf die so genannte Geração 80 (achtziger Generation). Diese neue Generation brasilianischer KünstlerInnen vermengte – den unbeständigen Verhältnissen gemäß – mehrere Stile, die in der nationalen wie internationalen Kunstwelt zu gegebener Zeit vorherrschten und charakterisierte sich damit vor allem durch ihre »Fähigkeit, wirkungsvoll verschiedenartige Modelle zu verbinden«259 – auch wenn diese oft widersprüchlich waren. Besonders auffallend war zudem, dass die Malerei in den 1980er Jahren ein Revival erlebte, nachdem in den 1960er und 1970er Jahren Installation und Performanz die Kunstszene dominiert hatten. Dies geschah vermutlich in Rekurs auf künstlerische Arbeiten der brasilianischen Moderne und deren Vorläufer. »Durch direkte Erfahrung oder einfach Neugier auf Distanz entdeckte die achtziger Generation in Europa und den USA zwar unwiderstehlich interessante Quellen, zugleich bewies sie aber auch die Fähigkeit, sich eigene Vorbilder zu schaffen, indem sie in ihrem Durst nach Widersprüchlichem reichlich typisch brasilianisches Wasser trank. [...] Ihr Verdienst bestand letztlich darin, Strenge und Wärme, Sinnlichkeit und Disziplin, Intuition und Reflexion zu versöhnen.«260
In den 1990er Jahren schien sich mit der Stabilisierung zumindest der politischen Verhältnisse und der Währung auch eine Beruhigung der Konfusion innerhalb der brasilianischen Kunstwelt zu vollziehen. Im Hinblick auf ihre Entwicklung zum Jahrtausendwechsel konstatiert Lisette Lagnado, dass sich die Kunstszene trotz aller Misslichkeiten professionalisiert hatte, »daß die Person des Kurators verstärkte Bedeutung erlangt hat, und daß ein kohärentes Netz von Galerien mit seiner Präsenz an internationalen Kunstmessen dem Werk vieler Künstler zur Geltung verhilft, die jetzt nicht mehr nur auf
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Pontual 1992: 331. Pontual 1992: 330. Pontual 1992: 331.
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dem heimischen Markt bestehen.«261 Die regelmäßige Teilnahme von brasilianischen Gegenwartskünstlern/innen und die Reflexion der brasilianischen Moderne auf der documenta ab dem Jahr 1992 ist nur ein Beispiel für die gesteigerte Wahrnehmung und Rezeption bildender Kunst aus Brasilien auf globaler Ebene. 4.4.2.6 XXIV. Bienal de São Paulo A arte contemporânea brasileira é muito provavelmente a Outra arte (aquele produzida ou originada fora da Europa, do Canadá e dos Estados Unidos) com maior penetração no circuito internacional (e o circuito passa, em sua maior parte, precisamente pela Europa, pelo Canadá e pelos Estados Unidos, se bem que chega com grande força a São Paulo, ao menos a cada dois anos). Essa penetração surge dentro do contexto de um interesse das críticas, das instituções, das curadorias e dos colecionadores na arte latino americana, a arte produzida por esse Outro mais próximo – aqui, a dialética entre distância e proximidade, estranho/estrangeiro e familiar, é crucial.262 ADRIANO PEDROSA
Seit ihrer Gründung im Jahr 1951 stellt die Biennale von São Paulo als zweitälteste Biennale nach Venedig eines der bedeutendsten Ereignisse der brasilianischen und schließlich auch der globalen Kunstwelt dar. Sie bildet einen wichtigen Knotenpunkt, insbesondere für die Vernetzung des lateinamerikanischen Raums. Die »XXIV Bienal de São Paulo« im Jahr 1998 ist
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Lagnado 2000: 9. »Die brasilianische Gegenwartskunst ist sehr wahrscheinlich die Andere Kunst (außerhalb Europas, Kanadas und den Vereinigten Staaten produziert oder entstanden) mit der größeren Durchdringung im internationalen Kreislauf (und der Kreislauf durchdringt zu weiten Teilen genau Europa, Kanada und die USA, obgleich er auch mit großer Kraft mindestens alle zwei Jahre nach São Paulo erreicht). Diese Durchdringung ereignet sich innerhalb eines Kontextes, der vom Interesse an lateinamerikanischer Kunst seitens Kritikern, Institutionen, Kuratoren und Sammlern geprägt ist, dem Interesse an der Kunst, die von diesem näheren Anderen produziert wird – hier ist die Dialektik zwischen Distanz und Nähe, fremd/fremdländisch und vertraut entscheidend.« (Pedrosa 1998b: 98; Übersetzung K.S.).
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an dieser Stelle besonders hervorzuheben. Sie stand unter dem thematischen Schwerpunkt der antropofagia, die seit den 1920er Jahren eine beachtliche Rolle für die brasilianische Kunstpraxis und -theorie gespielt hat und wurde auch als »Bienal da Antropofagia« (»Anthropophagie Biennale«) bekannt. Anders als bei den Biennalen zuvor hatten sich die beiden Kuratoren Paulo Herkenhoff und Adriano Pedrosa neben der Präsentation internationaler Kunstwerke einem stark diskursiven Ansatz verschrieben. Statt wie gewöhnlich einen die Kunstschau begleitenden Katalog zu veröffentlichen, erschien zu den drei Segmenten der Ausstellung jeweils eine umfangreiche Publikation263. Darin äußerten sich KünstlerInnen, Kuratoren/innen und TheoretikerInnen unterschiedlicher disziplinärer und geografischer Herkunft zu einzelnen Kunstwerken, zur Rolle brasilianischer Gegenwartskunst innerhalb der Kreisläufe der globalen Kunstwelt und damit verbunden zum speziellen Thema der antropofagia. Es lassen sich hier Parallelen zu den Ausstellungskatalogen der documenta erkennen, die sich seit der »documenta X« (1997) zunehmend auch als Foren der poetischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der gezeigten Kunst gestalten. »Instead of catalogs, we thus thought of books that accompany and problematize the XXIV Bienal. They are not perfect reflections of the show, but rather pieces that complement it. […] We tried to distance ourselves from the traditional format of curator’s essays followed by plates and reproductions.«264
Insbesondere der zweite Band mit dem Titel »Roteiros, Roteiros, Roteiros, Roteiros, Roteiros, Roteiros, Roteiros«265 umfasst Texte von Autoren/innen aus Lateinamerika, Asien, den USA, und Europa, die die vorgeschlagenen Strategien kannibalistischer Einverleibung (kunst-)theoretisch und/oder künstlerisch auf sehr unterschiedliche Weise verarbeiten. Der Titel der Publikation rekurriert auf eine Textzeile aus dem »Anthropophagischen Manifest« von Oswald de Andrade und symbolisiert eben jene pluralen Blickwinkel, aus denen heraus die Biennale sich konstituierte. Die Ähnlichkeit mit dem Buchprojekt der »documenta X« unter dem Titel »Politics/Poetics« ist hier besonders frappierend. »There’s much more text than images, and the latter appear intercalated with the former – we worked with the idea that these would be read, and not merely distributed and displayed. Other references were brought in a more fragmented fashion, yet always conceptually articulated: excerpts, images.«266
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Fundação Bienal de São Paulo 1998a,b,c. Pedrosa 1998a: 326. Fundação Bienal de São Paulo 1998b. Pedrosa 1998a: 326.
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Die Vermengung verschiedener Kulturelemente folgt den Prämissen des »Anthropophagischen Manifests«. In der Setzung des kulturanthropophagischen Ansatzes der brasilianischen Moderne als Arbeitshypothese (»working hypothesis«267), die sich auf unterschiedliche Positionen innerhalb der globalen Kunstwelt übertragen ließ, kam sein hohes Potential für die Reflexion von Kunst weltweit zum Vorschein. Dazu sei exemplarisch eine kurze Passage aus dem Essay des thailändischen Kurators Apinan Poshyananda zitiert, dass die Offenheit und damit sehr hohe Anschlussfähigkeit des Konzepts beweist: »As for the concept of the Asian section of roteiros this manifesto has been valuable as a bridge that led to labyrinthine avenues, thresholds, and crossroads. Along with the works by Claude Lévi-Strauss, William Arens, Peggy Reeves Sanday, Mikita Brottman, Lu Xun, Zheng Yi, Key Ray Chong, John Gittings, Jasper Becker, Ben Kierman, Hans-Peter Martin, Harald Schumann, Winin Pereira, Jeremy Seabrook I was able to draw on a theoretical background which became essential tools for my methodology to study artists in Asia whose works extrapolate the thematic sinews of anthropophagy, man-eating myth, and cannibal culture.«268
Gleichzeitig wurden die Besonderheiten brasilianischer Kunstpraxis und -theorie im Rahmen globaler Prozesse markiert, ohne postkoloniale Theorien von außerhalb bemühen zu müssen. So resümiert Lisette Lagnado, die Originalität von Paulo Herkenhoffs Ansatz hätte schließlich darin gelegen, »daß er es wagte, den Prozeß des Interpretierens umzukehren. Statt aus einem Ideenvorrat zu schöpfen, der kaum in der brasilianischen Realität verankert ist, aktualisierte er das Konzept der »Antropophagie« für die Deutung zeitgenössischer Phänomene. […] Wäre da nicht die Metapher vom »kulturellen Kannibalismus«, sondern die Theorie des Postmodernen, die Bedeutung der brasilianischen Realität erschiene untergraben.«269
Die antropofagia erlaubt es, kulturelle Differenzen in einem übergeordneten Zusammenhang zu begreifen, ohne einen universalistischen Blickwinkel zu forcieren. Herkenhoff verglich die Arbeit der Kuratoren/innen der »XXIV Bienal de São Paulo« in diesem Sinne mit der von Kosmographen, die sich nicht allein der Auslotung einer einfachen geographischen Taxonomie widmen, sondern spezifische Regionen in ihrer inneren Komplexität begreifen: »›Roteiros…‹ would be the work of cosmographers searching for a gaze of, about or for his/her region.«270 Wenn kulturelle Differenzen im dritten Kapitel der Arbeit – auf der Basis der Überlegungen zur antropofagia – als diffe-
267 268 269 270
Herkenhoff 1998a: 26. Poshyananda 1998: 164. Lagnado 2000: 10. Herkenhoff 1998a: 26.
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rente Formen kulturellen Agierens im Kontext der sich globalisierenden Welt erkannt wurden, so lässt sich anhand der im Kontext der so genannten »Bienal da Antropofagia« entstandenen Beiträge gut nachvollziehen, was damit gemeint ist. Der dritte Band der Katalogserie bezieht sich im übergeordneten Sinne auf die Frage, wie die brasilianische Kunst zum Ende des 20. Jahrhunderts als Einheit zu erfassen sein könnte. Über diese Fragestellung, ihre Ursprünge und Motivationen zu spekulieren, war dabei laut Pedrosa allerdings von größerer Bedeutung, als eine eindeutige Antwort zu finden.271 Der Titel »Arte contemporânea brasileira: um e/entre outro/s«272 (»Brasilianische Gegenwartskunst: eine(r) und/unter andere/n«) verweist auf die komplexe und häufig ambivalente Positionierung brasilianischer Kunst in der Gegenwart, sowohl in nationalen wie internationalen Zusammenhängen – wobei die Grenzen hier nahezu fließend zu sein scheinen. Die Arbeiten brasilianischer KünstlerInnen wurden auf der Biennale selbst in einem gleichnamigen Segment vorgestellt, das sich in zwei Achsen aufspaltete: »Um e Outro« (»Der/die/das Eine und der/die/das Andere«) und »Um entre Outros« (»Der/die/das Eine unter Anderen«). Das grundlegende Thema, die antropofagia, durchzog beide Achsen auf unterschiedliche Weise. Die künstlerischen Auseinandersetzungen und die dazu im Katalog erschienen Beiträge im Kontext »Um e Outros« bezogen sich vornehmlich auf Momente körperlicher, amouröser Verschmelzung und Durchdringung und nahmen vor allem auf subjektive, psychoanalytische Interpretationsweisen der anthropophagen Praxis Bezug. Demgegenüber standen unter der Prämisse »Um entre Outros« künstlerische Arbeiten und Katalogtexte mit deutlich gesellschaftlichen und politischen Inhalten und Fragestellungen. Entscheidend war hier die Diskussion und Anwendung der antropofagia als eine die gesamte brasilianische Geschichte prägende und für die Gegenwart stets neu formulierte kulturelle Strategie: »A polêmica Antropofagia nunca foi reduzida a um conjunto de imagens, ou um estilo, nem mesmo a um programa definido, mas uma hipótese de invenção permanente no processo social do Brasil de uma estratégia cultural para o país.«273 Während im ersten Bereich Kunstwerke ausschließlich brasilianischer GegenwartskünstlerInnen gezeigt wurden, war im zweiten Segment die Präsentation nationaler Kunst von nicht-brasilianischen Werken durchsetzt, kurz, »kontaminiert«: »Esse segmento teve as contaminações de Bruce Nauman (com seu South American triangle), Esko Männikkö (com um panorama de Itu, São Paulo) e
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Vgl. Pedrosa 1998b: 98. Fundação de Bienal de São Paulo 1998c. »Die anthropophage Polemik wurde nie auf ein Gesamtbild oder einen Stil, geschweige denn auf ein klar festgelegtes Programm reduziert, sondern ist als Chance der permanenten Neuformulierung einer kulturellen, dem gesellschaftlichen Prozess Brasiliens eingeschriebene Strategie zu betrachten.« (Herkenhoff 1998b: 115; Übersetzung K.S.).
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Michael Asher (com um trabalho utilizando fotografias de favelas norteamericanas).«274 Dieser Umstand verwies noch einmal nachdrücklich auf die Verwobenheit künstlerischer Ansätze auf einer globalen Ebene und ihre fruchtbaren Wechselwirkungen und rekurriert auf ein Moment der brasilianischen kulturellen Praxis, das Suely Rolnik in dem gleichnamigen Artikel im Katalog als »anthropophage Subjektivität« bezeichnet. »[T]he mode [of anthropophagic subjectivation; Anm. K.S.] depends on a large degree of exposure to otherness: to perceive and long for the uniqueness of the other, without any shame of perceiving and longing, without any shame of expressing this longing, without fear of contamination, for it is through this contamination that the vital potency increases, the batteries of desire are recharged, the becomings of subjectivity are incarnated – the Tupy formula.«275
Zusammenfassend ist zu vermerken, dass die Biennale von 1998 die Tendenz aufwies, künstlerische Entwürfe und sozialpolitische Interventionen auf einer diskursiven Ebene zu verbinden, was sich nun nicht mehr ausschließlich auf nationale, sondern zunehmend globale Realitäten bezog. Dafür spricht auch die grundsätzliche Ablehnung rein nationaler Präsentationen – mit Ausnahme des Segments, dass die bewusste Reflexion der brasilianischen Kunstproduktion der Gegenwart in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte. Insgesamt sind deutliche Parallelen bzw. Überschneidungen zu den Formaten und Thematiken der letzten documenta-Projekte auszumachen. Womöglich ließe sich sogar behaupten, dass die »XXIV Bienal de São Paulo« 1998 dem kritischen Globalisierungsdiskurs innerhalb der globalen Kunstwelt, wie er 2002 auf der »Documenta11« von Okwui Enwezor (an)geführt wurde, um einiges voraus war. Die gesteigerte Auseinandersetzung mit Globalisierungsprozessen innerhalb der globalen Kunstwelt seit der Jahrtausendwende und die damit verbundenen gegenseitigen Aufmerksamkeiten, Einflüsse und Bereicherungen der Kuratoren/innen und KünstlerInnen auf einer globalen Ebene führen schließlich zu einer Verdichtung der Kunstwelt, einer gesteigerten Globalität und schließlich zu einer Auflösung hegemonialer Festschreibungen. Institutionen wie Biennalen und die documenta spielen dabei eine wichtige Rolle. Dass die zeitgenössische Kunst Brasiliens zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine immer deutlichere Präsenz in der globalen Kunstwelt gewinnt, lässt sich an den Diskursen ablesen, die mit der »documenta 12« stimuliert wurden. Die Mitwirkung Paulo Herkenhoffs in der neunköpfigen Findungs-
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»Dieses Segment war kontaminiert durch Bruce Nauman (mit seinem Süd Afrika Dreieck), Esko Männikkö (mit einem Blick über Itu, São Paulo) und Michael Asher (mit einer Arbeit, in der er Fotografien nordamerikanischer Slums verwendet).« (Pedrosa/Herkenhoff 1998: 115; Übersetzung K.S.). Rolnik 1998: 141.
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kommission276 der im Jahr 2012 stattfindenden »documenta 13« und die Aufstellung Lisette Lagnados als Kandidatin für die künstlerische Leitung der »d13« sprechen verstärkt dafür, dass sich Brasilien in einem globalen Zusammenhang nicht mehr in eine periphere Lage verorten lässt. 4.4.3 Brasilianische Kunst auf der documenta [I] – 11 4.4.3.1 documenta [I], II, III: Maria Elena Vieira da Silva Die ersten Beiträge brasilianischer KünstlerInnen tauchten 1992 auf der »documentaIX« auf. An dieser Stelle sei jedoch auf die Künstlerin Maria Elena Vieira da Silva verwiesen, die mit ihren Malereien auf der ersten und den beiden darauf folgenden documenta-Ausstellungen vertreten war. Die in Portugal geborene Künstlerin hatte zunächst in Lissabon und dann in Paris studiert, verbrachte die Jahre von 1940 bis 1947 in Brasilien im Exil. Ab 1947 lebte sie in Paris, wo sie 1977 starb. Es wäre übertrieben, Vieira da Silva als brasilianische Künstlerin zu etikettieren. Ihr Werk ist allerdings in den sieben Jahren ihres Aufenthalts von der brasilianischen Kunstszene geprägt worden. Ihr Atelier in Rio de Janeiro avancierte schnell zu einem Treffpunkt für junge KünstlerInnen, was für eine regen Austausch der künstlerischen Motivationen spricht. Auf der Biennale von São Paulo hatte Vieira da Silva mehrere Preise gewonnen und auch im internationalen Kontext einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Als erste Frau erwarb sie 1966 den französischen »Grand Prix National des Arts«. Die auf den drei documenta-Ausstellungen gezeigten Bilder stammen aus der Zeit nach dem Aufenthalt in Brasilien, allein ein Werk entstand im Jahr 1938. Während im Katalog der ersten documenta im Jahr 1955 nur der Geburtsort der Künstlerin angegeben war, erfährt man im Katalog der »documenta II«, dass sie sieben Jahre lang in Rio de Janeiro lebte. Die Eintragung im Katalogband »Malerei. Skulptur« der »documenta III« finden sich die ausführlichsten Angaben: »Maria Elena Vieira da Silva geb. 1908 in Lissabon. Studierte in Paris bei Bourdelle und Despiau Bildhauerei, besuchte die Ateliers von Friesz und Léger, dann das Kupferstichatelier von Hayter. Seit 1930 mit dem ungarischen Maler Arpad Szenès verheiratet. Während des zweiten Weltkrieges in Südamerika. 1947 Rückkehr nach Paris.«277
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Joseph Backstein (Russland), Manuel J. Borja-Villel (Spanien), Kathy Halbreich (USA), Paulo Herkenhoff (Brasilien), Oscar Hing Kay Ho (China), Udo Kittelmann (Deutschland), Kasper König (Deutschland), Elizabeth Ann Macgregor (Australien), Rein Wolfs (Deutschland). documenta GmbH 1964: 198.
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Diese Erweiterung der biographischen Daten ist wohl dem spezifischen Ansatz der »documenta III« geschuldet: »Sie läßt sich nicht mehr auf Argument und Gruppe ein. Ihr liegt der einfache Leitsatz zugrunde, daß Kunst das ist, was bedeutende Künstler machen. Sie setzt auf die einzelne Persönlichkeit. Ihr kommt es auf die Reihung von Schwerpunkten an. Ohne vorgefaßte Absicht der Verknüpfung stellt sie Werk neben Werk, Individualität neben Individualität.«278
Trotzdem wurde Maria Elena Vieira da Silva im Kontext der documenta als europäische Künstlerin vorgestellt. Einen Bezug zu ihrer brasilianischen Wirkungsphase stellten die Ausstellungsmacher nicht her, so dass eine Brücke zur zeitgenössischen Kunstproduktion im Zusammenhang mit dem Œuvre der portugiesisch-brasilianisch-französischen Künstlerin offensichtlich nicht geschlagen werden konnte. Wenn man für diesen Zeitraum bereits von einer globalen Kunstwelt sprechen möchte, so ist zu bemerken, dass sie als diskursives Netzwerk noch sehr wenig ausgebildet war, das heißt, die internationalen Verbindungen zwischen einzelnen, lokalen Kunstwelten über Europa hinaus sich noch als verhältnismäßig lose erwiesen. [Auf der documenta 4 bis 8 waren keine brasilianischen KünstlerInnen vertreten.] 4.4.3.2 documenta IX: Waltercio Caldas, Saint Clair Cemin, Jac Leirner, Cildo Meireles, José Resende Bei den auf der neunten documenta präsentierten Arbeiten der fünf brasilianischen KünstlerInnen Waltercio Caldas, Saint Clair Cemin, Jac Leirner, Cildo Meireles und José Resende handelt es sich ausschließlich um zeitgenössische Kunstwerke, die laut Ausstellungskatalog innerhalb des Zeitraums von 1985 bis 1992 entstanden sind. Sie fügen sich nahtlos in den Kontext der von Jan Hoet kuratierten Ausstellung, ohne auf irgendeine Weise durch ihre Nationalität exponiert zu werden. Wie bereits erläutert, ist die »documenta IX« in den Zusammenhang der Globalisierungsdiskurse zu verorten. Nationale Pluralität und damit kulturelle Diversität wurden jedoch nicht bewusst als Momente von Globalisierung zur Diskussion gestellt, wie es die folgenden künstlerischen Leiter der documenta vorsahen. Hoet hatte die Auswahl der Werke international angelegt, die Diskussion der Kunst selbst erfolgte allerdings im bewährten, vornehmlich von europäischen Denkern/innen und Künstlern/innen geprägten Kanon. In den Katalogtexten zur Ausstellung findet sich jedenfalls kein Hinweis auf die Auseinandersetzung mit den brasilianischen Künstlern/innen, geschweige denn mit den spezifi-
278
Haftmann 1964: xiv.
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schen Kontexten ihrer Arbeiten. Ohne diese Hintergrundinformationen lassen sich die Arbeiten im Rahmen der »documenta IX« allein in den durch die Katalogtexte und die Ausstellungskonzeption präsentierten Diskussionszusammenhang einordnen, der sich hinsichtlich der Globalisierungsthematik vor allem auf Aspekte der Medialisierung und Virtualisierung bezog. Auch wenn Hoet mit dem Konzept des displacement die Frage nach (Neu-) Kontextualisierungen und (Neu-)Formatierungen existierenden Umstände und Dinge in einer sich durch Effekte der Globalisierung verändernden Welt aufwarf und diskutierte, gingen vor allem außereuropäische Stimmen im (verbalen) Diskurs der »documenta IX« unter. Der relativ knapp gehaltene Kommentar im Kurzführer zur Ausstellung verweist lediglich auf die Herkunft und den Wirkungsort der beteiligten KünstlerInnen. Kulturelle, politische oder gesellschaftliche Aspekte der Arbeiten werden nicht thematisiert. Allein in Bezug auf Cildo Meireles ist vermerkt, dass seine subversive Haltung gegenüber dem repressiven politischen Klima der 1960er Jahre in Brasilien in manchen seiner heutigen Arbeiten zu spüren sei. Für die »documenta IX« war seine Arbeit »Fontes« insbesondere durch ihren systemkritischen Ansatz und die Betonung der körperlichen Wahrnehmung von Kunst bedeutend. »Die 7000 gelben Zollstöcke, die wie ein undurchdringlicher Vorhang von der Decke hängen, tragen divergierende Einteilungen und machen ebenso wie die 2000 verschieden eingestellten Uhren an der Wand die Grenzen von Systemen deutlich. Indem Meireles alle Parameter eines Systems vertauscht und sie zugleich potenziert, unterwandert er deren Zweck. In Meireles’ Räumen, in denen es stets reale Hindernisse und optische Barrieren gibt, wird der Betrachter zum Akteur. Das Erlebnis des Kunstwerks versteht er sowohl als physischen wie psychischen Prozeß.«279
Auch in Bezug auf José Resende wird auf das »spannungsvolle Verhältnis«280 zwischen Kunstwerk und Betrachtern/innen und damit auf die teilnehmende, sinnliche Erfahrung von Kunst verwiesen. Indem sie die gezeigten Arbeiten hinsichtlich ihrer nationalen Kodierung wenig bis gar nicht diskutierte, ließe sich die »dIX« als Beleg dafür interpretieren, dass brasilianische Gegenwartskunst zu diesem Zeitpunkt bereits einen festen Platz in der globalen Kunstwelt gefunden hatte. Am Beispiel des brasilianischen Medienkünstlers Gilbertto Prado lässt sich im Kontext der »documenta IX« eine hohe Korrelationsdynamik innerhalb der globalen Kunstwelt ablesen, die jede Auffassung der Eindimensionalität von Transfermechanismen und Entwicklungslinien in den Hintergrund treten lässt. Prado konzentrierte sich zu gegebener Zeit auf Projekte, die sich mit der Darstellung und Analyse von Telekommunikationsnetzwerken auseinandersetzten. Er selbst gehörte nicht zu den ausstellenden Künstlern/innen, nutzte den Raum der documenta
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documenta/Museum Fridericianum 1992b: 165. documenta/Museum Fridericianum 1992b: 201.
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jedoch zur Verwirklichung eines eigenen Kunstprojekts mit dem Titel »Moon: La Face Cachée«. Die ersten Sequenzen dieses multimedialen Projekts wurden in einer Übertragung zwischen dem Electronic CafÉ International (ECI)281 in Paris und dem stationierten ECI auf der »documenta IX« in Kassel geformt. Das Moment der Globalität der Kunstwelt wird hier vor allem im Hinblick auf die Vernetzung einzelner Kunstinstitutionen sichtbar, wobei sich hier Kassel und Paris als erste Koordinaten eines globalen Netzwerkes herausstellten. Die Person Prados verweist zudem auf die physische Verbundenheit kunstweltlicher Institutionen, der Akteure und der künstlerischen Fragestellungen auf einer breiten Ebene. 4.4.3.3 documenta X: Lygia Clark, Hélio Oiticica, Tunga Mit der »documenta X« wurde der Globalisierungsdiskurs maßgeblich erweitert, bzw. bewusst zum Thema einer documenta-Ausstellung gemacht. Der retrospektive Ansatz der künstlerischen Leiterin Catherine David lenkte den Blick auf die Geschichte der globalen Kunstwelt seit der Gründung der documenta. Im Fokus standen »die geschichtlichen Ereignisse, das Gedächtnis, die Dekolonialisierungsbewegungen, die ›Enteuropäisierung‹ der Welt (Wolf Lepenies), aber auch die komplexen – postarchaischen, posttraditionellen und postnationalen – Identifikationsbemühungen in den ›fraktalen Gesellschaften‹ (Serge Gruzinski), die aus dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Brutalisierung des Marktes entstanden sind.282
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Das Konzept des Electronic CafÉ International (ECI) wurde im Jahr 1984 von Kid Galloway und Sherrie Rabinowitz für die olympischen Spiele in Los Angeles entwickelt. Das erste US-amerikanische ECI eröffnete in Santa Monica, das erst europäische in Paris im Parc La Villette 1992. Im gleichen Jahr wurde ein weiteres ECI in der zweiten Etage des Casino Containers auf der »documenta IX« installiert, was von 235 MEDIA (Gesellschaft für Medientechnologie und Kunst mbH) aus Köln mitgetragen wurde. Die Vernetzung erfolgte über das ISDN Netz mit anderen ECIs in Nagoya, Köln, Santa Monica, Paris, Lausanne. Der Casino Container machte anschließend Station auf der Biennale in Venedig. »Das ECI strebt mediale Kulturprojekte an: Es repräsentiert ein multimediales Cafe, in dem der Besucher an der Gestaltung von Kommunikation teilhaben kann. Das technisch-mediale Angebot des ECI umfaßt den Anschluß an das ISDN Netz, was allerdings in Europa bis jetzt nur Kommunikationsinseln anbieten kann. Das Equipment bietet Videocamera, Videostillcamera, Geräte zur digitalen Tonaufnahme, Scanner und Computer für das picture und word processing, Transmissionsgeräte wie Fax und Telefon.« (http://web.uni-frankfurt.de/fb09/kunstpaed/index web/publika tionen/globalvillage.htm, 10.06.2010). David 1997: 9.
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Unter einer kritischen, »wenn nicht gar programmatischen, aktuellen Perspektive«283, galt es, die bedeutungsvollen Positionen der 1960er Jahre zu sichten und zu durchdenken. In diesem Zusammenhang wurden auch die Arbeiten Lygia Clarks284 und Hélio Oiticicas285 gezeigt. Anhand der Präsentation diverser Arbeiten Clarks und Oiticicas (Objekte, Photographien, Reproduktionen, Video) wurde die brasilianische Kunstproduktion der 1960er/1970er Jahre vorgestellt und in einen zeitgenössischen, globalen Kunstdiskurs eingeschrieben. Bei beiden Künstlern/innen ist der Einfluss der antropofagia deutlich erkennbar, was sich vor allem in der Betonung des Körpers und der Körperlichkeit sowie im gesellschaftskritischen Anspruch ihrer Arbeiten zeigt. »Nos desdobramentos da obra de dois artistas neoconcretos, Hélio Oiticica e Lygia Clark estão os parâmetros básicos da antropofagia reinventada.«286 Sowohl bei den Werken von Clark als auch von Oiticica der späten 1960er und 1970er Jahre steht die unmittelbare Integration des Rezipienten in die Kunstprojekte und schließlich die damit erzeugte subjektive Wahrnehmung des Einzelnen im Vordergrund. In dieser Hinsicht schneiden sich die künstlerischen Ansätze der Brasilianerin und des Brasilianers mit der Absicht Catherine Davids, das Kunstpublikum durch aktive Teilnahme zu einer kritischen Reflektion der Gegenwart zu animieren. Beispielhaft sei auf die »Parangolés« von Hélio Oiticica verweisen, die auf der »documenta X« zu sehen waren. Es handelt sich hierbei um bunte, übereinandergeschichtete Gewänder aus verschiedenen Materialen, die ihren Träger in eine lebende Skulptur verwandeln. Durch tänzerische Bewegungen entstehen permanent neue Figuren, ein lebendiges Spiel von Farben, Strukturen und Flächen. »Die zentrale Erfahrung der Parangolés liegt in der Interaktion, der Bewegung und Veränderung des Realitätsbewußtseins des Menschen und damit in einer aktiven
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David 1997: 9. Objekte: »Objeto: a água e a concha« (1966), »Objeto: pedra e ar« (1966), »Respire comigo« (1966), »O eu e o Tu: série roupa-corpo-roupa« (1967), »Cesariania: s´rie roupa.corpo-roupa« (1967), »Máscaras sensoriais« (1967), »Luvas sensoriais« (1968), »Máscara abismo« (1968); photographische Dokumentationen: »Respire comigo« (1966), »O eu e o Tu: série roupa-corporoupa« (1967), »Máscaras sensoriais« (1967), »Máscaras abismo« (1968), »Architecturas biológicas I + II« (1969), »Canibalismo« (1973), »Baba antropofágica« (1973), »Cabeça coletiva« (1975); Video-Dokumentation: »Memória do corpo« (1984). (documenta/Museum Fridericianum 1997b: 4445, 294-295). Diverse Objekte aus der Serie »Bólides« aus dem Zeitraum 1963 bis 1969; diverse Objekte aus der Serie »Parangolés« aus dem Zeitraum 1964 bis 1979; diverse Studien und Pläne zu den »Bólides« und »Parangolés« (documenta/Museum Fridericianum 1997b: 174-175, 306-307). Herkenhoff 1998b: 115.
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Veränderung seiner Situation. Hier trifft sich Oiticicas Haltung mit der von Fahlström und nicht zuletzt auch mit der von Catherine David. Der Betrachter eines Werks wird als Partizipierender verstanden, dem nicht eine bestimmte Sichtweise erläutert wird, sondern der eine gewisse Erfahrung nachvollziehen soll.«287
Der Begriff parangolé entstammt dem Kontext des Karnevals und umschreibt eine belebte Situation, Agitation, Verwirrung, das plötzliche Entstehen neuer Formen und Ordnungen. Oiticica selbst war Mitglied der Mangueira-Samba-Schule in Rio de Janeiro und hatte durch seine Position als Leiter einer Tanzgruppe direkten Kontakt mit Bewohnern/innen der favelas. Aus diesen Begegnungen heraus entstanden Werke wie die »Parangolés«, die in die Kunstströmung der tropicália zu verorten sind. Die animierten Performances wurden fotografisch festgehalten und sind neben den Gewändern heute wichtige Dokumente Oiticicas Kunstschaffens. »In der Ausstellung der documenta X hingen die parangolés wie still gewordene Tänzer.«288 Tunga289, der für die »documenta X« die Installation/Performance »Inside Out, upside down (Ponta cabeça)«290 bearbeitet hatte, die zuvor auf der Biennale von Venedig zu sehen gewesen war, stand Pate für die zeitgenössische Kunstproduktion Brasiliens. Der Künstler vereint in seinem visuellen Vokabular vor allem Elemente des Surrealismus und des Neokonkretismus. In der Vermengung verschiedener Materialien, der Verzerrung und Überdimensionalisierung von Formen und Figuren erstellt er vielfältig erzeugte Sinnzusammenhänge, in denen die Grenzen zwischen Realem und Imaginärem verwischen und die gewohnten Wahrnehmungsmechanismen der BetrachterInnen aus dem Tritt geraten. In (in-)direkter Anlehnung an die Werke Oiticicas und Clarks geht es auch Tunga darum, die subjektive Wahrnehmung des Publikums zu animieren, statt konkrete Aussagen oder Anleitungen über die Kunst zu vermitteln. Hier spiegelt sich ein grundlegendes Element der antropofagia wider: die aktive Verinnerlichung und Verarbeitung der gegebenen Umstände. »Jedesmal wenn ein Zuschauer etwas wahrnimmt, wird dieses Etwas Teil seines Schicksals, ob er es will oder nicht. Die Tragweite dieser Einverleibung hängt von der Disposition deines Schicksals selbst oder deinem Willens ab, das Wahrgenommene zu begreifen. In diese Richtung geht die Idee der Wiederaufnahme von Schicksal und Weissagung in die Kunst. Das ist eines der wichtigsten Elemente meines Werkes.«291
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Steinbrügge 2005: 361. Verwoert 1998: 136. Der bürgerliche Name Tungas lautet Antonio José de Barros Carvalho e Mello Mourão. Documenta/Museum Fridericianum 1997b: 226, 311. Tunga im Interview während der »documenta X« (Binder/Haupt 1997).
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Körpererfahrung, Körperlichkeit, Zuneigung und Gefühle werden von Tunga gleichwohl als Arten des Denkens verstanden. Sie erzeugen schließlich eine Vernunft, die nicht nur strikte Abstraktion ist. In dieser Aussage ist unmissverständlich eine Kritik an einer rein abendländischen Kodierung und Interpretation von moderner und zeitgenössischer Kunst ablesbar. Im Rahmen des die Ausstellung begleitenden Programms »100 Tage – 100 Gäste« wurden insgesamt fünf Vorträge von brasilianischen Gästen gehalten: Die KünstlerInnen Cabelo, Tunga und Lilian Zaremba stellten in einer Life-Übertragung durch den hessischen Rundfunk das Radio-Projekt »Crab Nebula Project« vor, die Psychoanalytikerin Suely Rolnik sprach über »Identitätssüchtige: Subjektivität in Zeiten der Globalisierung« und »Das Hybride bei Lygia Clark«, der Architekt Paulo Mendes da Rocha und die Kunsthistorikerin Sophia Silva Telles berichteten über »Zeitgenössische Formen des Urbanismus in Brasilien« und »Populärkultur und Gemeinschaftssinn (Architektur aus Erzählung)«. Paulo Herkenhoff referierte über die Biennale von São Paulo 1996 mit Ausblick auf die im Jahr 1998 stattfindende »XXIV. Bienal de São Paulo«. Im Katalog finden sich keine Beiträge brasilianischer TheoretikerInnen, in die collagenhafte Publikation sind nur einige Photographien der ausgestellten brasilianischen Beiträge eingefügt. Dies mag angesichts der Reflexion des Œuvres der drei ausgewählten KünstlerInnen im Rahmen der Ausstellung fast ein wenig verwundern. Einzig im Gespräch der Kuratoren/innen Catherine David, Benjamin Buchloh und Jean-François Chevrier über »Das politische Potential der Kunst« blitzt die Diskussion brasilianischer Kunst- und Kulturkonzepte zwischenzeitlich auf und schreibt sie auf diese Weise – wenn auch etwas beiläufig – in die Globalisierungsdebatte der »documenta X« ein. Ein Artikel zu Hélio Oiticica292 erschien ein Jahr später in einem so genannten Nachlesebuch zur zehnten documenta (»x mal documenta X«)293. Die Künstlerin und Ausstellungskuratorin Hanne Verwoert, die auf der »documenta X« Führungen angeboten hatte, skizziert hier Leben und Werk des Künstlers, nicht ohne ihr Bedauern bezüglich der Unkenntnis des brasilianischen Kunstschaffens im europäischen Raum auszudrücken und die LeserInnen zum weiteren Studium brasilianischer Kunst zu animieren. Sowohl in den brasilianischen Redebeiträgen als auch im Werk Lygia Clarks, Hélio Oticicas und Tungas wird die enge Verknüpfung von Politik und Poetik gemäß dem Motto der »documenta X« evident. Die brasilianische Kunst zeigte sich nicht zuletzt deshalb so interessant für Davids Ansatz, da diese Synthese in den Konzepten der antropofagia und später der tropicália eingeschrieben ist. In einem im zweiten Band der Katalogreihe zur »XXIV. Bienal de São Paulo« erschienenen Artikel, der sich inhaltlich mit dem Vortrag auf der »documenta X« überschnitt, verweist Suely Rolnik auf den Mehrwert der anthropophagen Subjektivität in Zeiten der Globali-
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Verwoert 1998. Balkenhol/Georgsdorf 1998.
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sierung. Diese versteht sich als flexibles, kreatives Improvisieren jenseits jeglicher Referenzsysteme. Die Kritik an den politischen Fundamenten der so genannten ›westlichen‹ Kultur, die Ende der 1990er Jahre in der globalen Kunstwelt laut wurde und auch ein Kernthema der »documenta X« darstellte, steht sehr offensichtlich zwischen den Zeilen geschrieben. »Perhaps this unique know-how of resistance explains the interest that Brazilian culture has engendered in the planet, such as the important retrospectives of Hélio Oiticica and Lygia Clark, or of the recognition of relatively young artists such as Tunga, to mention only examples from the visual arts.«294
Indem sie solche Sichtweisen einbezog, erfüllte David den Anspruch, über die institutionelle Kritik hinauszugehen, die die europäische und US-amerikanische Kunstwelt der 1980er und 1990er Jahre beherrschte. Ziel war es, »die künstlerische Praxis wieder in einem gesamtkulturellen Feld anzusiedeln.«295 Der Künstler Tunga zog folgendes Resümée: »Die Ausstellung mag auf visueller Ebene nicht so stark sein, aber sie zeichnet einen sehr klaren und deutlichen intellektuellen Weg. Wenn sich die documenta mit Lygia Clark, Oiticica, Matta Clark, Baumgarten und anderen auseinandersetzt, markiert sie eine Haltung zum Programm der Moderne, um es perspektivisch zu analysieren und nicht, um es zu kritisieren oder um mit den technologischen Möglichkeiten der Computer die Stile zu vermischen. Sie überdenkt die Diskontinuität der Welt im Kontext einer neuen Realität, die nicht mehr nur Europa und Nordamerika ist.«296
4.4.3.4 Documenta11: Artur Barrio, Cildo Meireles Kunst im Kontext einer neuen, globalen Realität zu verstehen und zu interpretieren war der Ansatz, den Okwui Enwezor und sein Kuratoren/innenTeam mit der »Documenta 11« verfolgten. Die beiden eingeladenen brasilianischen Künstler Cildo Meireles und Artur Barrio fügten sich in das international sehr breit gefächertes Panorama der teilnehmenden documentaKünstlerInnen ein. Es war die Absicht der Ausstellungsmacher, vornehmlich Stimmen aus der globalen Kunstwelt zu Wort kommen zu lassen, die bislang eher an den Rand gedrängt worden waren, in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst jedoch eine sehr hohe Brisanz aufwiesen. Im Kurzführer ist im Zusammenhang mit der Vorstellung Artur Barrios zu lesen, einige der radikalsten Infragestellungen des Begriffs ›Kunst‹ seien in den vergangenen 30 Jahren von geographisch, politisch und sozioökonomisch marginalen Orten ausgegangen und Barrios Arbeit sei beispielhaft für
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Rolnik 1998: 144. Steinbrügge 2005: 360. Tunga im Interview während der »documenta X« (Binder/Haupt 1997).
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dieses Phänomen.297 Cildo Meireles und Artur Barrio werden als Protagonisten einer Generation vorgestellt, »die gegen Ende der sechziger Jahre – in der repressiven Phase der Militärdiktatur in Brasilien nach dem Regierungssturz von 1964 – an die Öffentlichkeit trat.«298 Genannt werden in diesem Zusammenhang auch Waltercio Caldas, José Resende und Tunga. Als die Kunst der 1990er Jahre prägende Figuren finden Hélio Oiticica und Lygia Clark namentliche Erwähnung. Alle in dieser Folge aufgeführten Künstler waren bereits in vorhergehenden documenta-Ausstellungen vertreten – auf andere brasilianische KünstlerInnen wir nicht verwiesen. Im Vordergrund des Interesses stand vor allem das kritische Potential der Arbeiten, das sich sowohl auf den Gehalt und die Bedeutung künstlerischer Produktion insgesamt als auch auf ökonomische, soziale und politische Umstände bezieht. Sowohl bei Barrio als auch bei Meireles besticht die Wirkung der Kunst durch situatives, emotionales Erleben des einzelnen Betrachters, wie es vor allem KünstlerInnen der tropicália-Bewegung provozierten und auch in späteren Werken immer wieder einsetzten. Beide Künstler lassen in diesen Kontext brasilianischer Kunstproduktion zu verorten und zählen damit auch nicht mehr zur jüngsten KünstlerInnengeneration Brasiliens zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Artur Barrio entwickelte für die »Documenta11« die Arbeit »idéiaSituação interRelacionamento SubjetivoObjetivo«, die er aus zwei verschiedenen Werkgruppen zusammensetzte, die er Anfang der 1970er (»Situações«) und Ende der 1980er Jahre (»Experiências«) durchgeführt hatte. Die erste stellte den Begriff der öffentlichen Kunst in Frage, die zweite das Verhältnis zwischen Institutionen und zeitgenössischer Kunstproduktion. »In Ideia/Situação (Idee/Situation) verschmelzen die Erfahrungen aus beiden Werkgruppen in einer poetischen Synthese, welche die Spannung zwischen der künstlerischen Arbeit und den dem museologischen Raum inhärenten Konditionierungen zu unterstreichen sucht.«299 Barrio erschuf eine offene Raumsituation, die von den Besuchern/innen betreten, mit allen Sinnen erfahren und auch ›benutzt‹ werden konnte. Durch die brüchigen, rissigen Wände des (subjektiven) Innenraums (im gedämpften Licht, ausgestattet mit einem Sofa, einer Flasche Wein, zwei Gläsern, sein Aroma verströmendes Kaffeepulver auf dem Fußboden) wird der direkte Bezug zum (objektiven) Außenraum (Mauern und Kachelwände der Kasseler Kulturbrauerei) hergestellt. Die Genusswelt wird mit der Auflösung der schützenden Funktion der Wände zerstört, die zudem mit Sentenzen übersät sind, die auf dem Warencharakter von Kunst und Mensch hinweisen. So durchdringt das Publikum den Kunstraum, verändert durch sein Agieren das Setting, das seinerseits seine Spuren bei den Betrachtern/innen hinterlässt. Auch wenn dieses Vorgehen Irritation hervorrief, beharrte Barrio auf dieser Art der Rezeption:
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Vgl. documenta/Museum Fridericianum 2002b: 30. documenta/Museum Fridericianum 2002b: 30. documenta/Museum Fridericianum 2002b: 30.
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»[A] realidade é a mesma coisa que o amor: a pessoa baba um pouco, o sexo tem odor, há o suor, há os gritos. Não é uma fotografia.«300 Cildo Meireles, der bereits an der »documenta IX« beteiligt gewesen war, ließ für die »Documenta11« verpacktes Wassereis am Stiel herstellen, welches auf dem documenta-Gelände für je einen Euro an das Publikum verkauft wurde. Das Projekt »Disappearing/Disappeared Element: Imminent Past« basiert auf der Vorstellung der ständigen Vergänglichkeit der Gegenwart: »This work speaks of something that is still here. Something that seemed to be a permanent part of our world and our lives but nevertheless disappears before our eyes. Quickly. Inexorably. Water. In this work the present is no longer the perception of an indispensable pleasure, but the inevitable manifestation of an imminent past.«301
Gefertigt wurden die Materialien in einer sozialen Einrichtung, der Erlös des Verkaufs zu einem Teil an die Verkäufer vergeben, der Restbetrag für die Aufrechterhaltung des Projekts verwendet. Meireles verband auf diese Weise verschiedene Kreisläufen: die Wasserzirkulation, den menschlichen Stoffwechsel, den Waren- und Geldkreislauf und schließlich den Kunstdiskurs selbst. In der direkten Mitwirkung der documenta-BesucherInnen als Eiskäufer wurde das Kunstwerk unmittelbar erfahrbar. Die Reaktion, die durch die Enttarnung des vermeintlichen Speiseeises als reines (Leitungs-) Wassereis hervorgerufen wurde, verstärkte den Effekt des Involviertseins und stimulierte die kritische Aufmerksamkeit. Meireles hinterfragt mit seinen Arbeiten das Wesen künstlerischer Arbeit und stellt diese Aspekte in Beziehung zu ihrem sozialen, ökonomischen und schließlich auch ökologischen Kontext. Im Katalog der »Documenta11« wurden Photographien von älteren Arbeiten von Barrio und Meireles gezeigt, sowie kurze Texte/Aufzeichnungen der Künstler zu den ausgestellten Arbeiten abgedruckt. Die Veröffentlichungen, die als Dokumentationen der vier theoretischen Plattformen entstanden waren, enthalten allerdings keine Beiträge aus Brasilien. Die Thematik kultureller Vermischung wurde im Kontext der dritten Plattform »Creolité und Kreolisierung« behandelt und bezog sich gemäß ihrem Standort vor allem auf karibische Kulturkonzepte. Ein – wenn auch nicht explizit hervorgehobener, aber dennoch merklicher – Fokus der Ausstellung lag auf
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»Mit der Realität verhält es sich genauso wie mit der Liebe: es läuft einem das Wasser ein wenig im Mund zusammen, man nimmt das duftende Geschlecht wahr, da ist Schweiß, da sind Schreie. Es ist keine Photographie.« (Artur Barrio im Interview mit Paula Alzugaray (Alzugaray 2002; Übersetzung K.S.)). Meireles 2002: 576.
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Afrika, was der Herkunft des Chefkurators geschuldet war. Viel zitiert wurde das Werk Georges Adeagbos »L’explorateur et les explorateurs devant l’histoire de l’exploration…!«, in dem der aus Benin stammende Künstler sich ganz explizit mit den inneren Konflikten kultureller Hybridität auseinandersetzte: »Reproduktionen und ›Originale‹, westliche und afrikanische Objekte sind hier zu einem begehbaren Zeichensystem geformt, in dem Traditionsmächte wie etwa der Schicksalsglaube zugleich mit dichten und höchst individuellen Narrationen verknüpft sind. Doch was als Synthese des Unvereinbaren scheint, ist von signifikantem Realitätsgehalt – als lokale Form globaler kultureller Vermischungen in einem Fall.«302
Auch Cildo Meireles und Artur Barrio wuchsen in einem künstlerischen Milieu heran, das seine Eigenarten durch den aktiven Umgang mit kultureller Differenz und der kritischen Perspektive auf dominante Systeme herausbildete. Während eben diese Thematik die gesamte »Documenta11« wie ein roter Faden durchzog, gingen die beiden Künstler jedoch nicht annähernd so direkt darauf ein, wie es beispielsweise Adeagbo tat. Das Brasilianische der gezeigten Arbeiten exponierte sich nicht durch die Darstellung und Problematisierung kultureller Identitätsfindungsprozesse aus einer spezifischen, peripheren Position heraus. Vielmehr animieren die Arbeiten zu einer kritisch reflektierten Sichtweise auf die Umstände und Ansprüche von Zeitgenossenschaft innerhalb der globalen Kunstwelt, die von jedem Standort aus möglich und notwendig ist. In diesem sehr oberflächlichen, sich hier aber nahezu aufdrängenden Vergleich der Beiträge von Barrio und Meireles/Brasilien mit denen Adeagbos/Afrika, offenbart sich ein Unterschied zwischen brasilianischer und afrikanischer Kunst. Während sich die KünstlerInnen Brasiliens nicht zuletzt durch die Entwicklung des modernen Konzepts der antropofagia ein kulturelles Selbstbewusstseing geschaffen haben, leiden viele KünstlerInnen auf dem Kontinent bis in die Gegenwart an einem Phänomen, das Rasheed Araeen als »Abhängigkeitssyndrom« (»dependency syndrom«) beschrieben hat. Dieses Syndrom äußert sich in einem unentwegten Kampf des afrikanischen Kontinents, mit den Entwicklungen in der so genannten westlichen Kunst Schritt zu halten, ohne die eigenen kulturellen Potentiale selbstbewusst zu nutzen. »If the dominant socio-cultural milieu of a society does not represent its own unique values, but instead only represents something which has been imported or imposed upon it from outside, it is hard for the artist to escape from it. The main problem of modernism in art in Africa, in general (I say in general, because there are exceptions to which I shall turn later) seems to be that it suffers from a dependency syndrome, with the result that the artist is in a constant struggle to catch up with whatever is
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Lenk 2005: 379.
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happening in the West. There are, of course, modern artworks which look profoundly African, but this look is deceptive. Often, it is no more than a gloss over what has originated from the West.«
Auch auf der »documenta 12« zeigten sich diese differenten Positionierungen afrikanischer und brasilianischer KünstlerInnen allein an der ästhetischen Oberfläche der meisten ausgestellten Objekte aus Afrika. Die von Abdoulaye Konaté präsentierten Arbeiten waren die einzigen, die keinen sichtbaren Zusammenhang mit seiner afrikanischen Herkunft herstellten und kommentierten, da sie auf entsprechende stereotype Bilder und Metaphern verzichteten. Zu einer Verschmelzung Brasiliens und Afrikas kam es wiederum in der Installation von David Aradeon. Der nigerianische Künstler thematisierte in »Movements of Forms. Antecedents of Afro-Brazilian Spaces« die Bedeutungen der westafrikanischen Kulturen für die brasilianische Kultur. 4.4.4 Die brasilianischen Beiträge auf der documenta 12 The antropophagic banquet is made up of varied worlds incorporated fully or only in their tastiest parts, mixed at will in one large pot without any reverence to a priori hierarchy or mystifying adherence. SUELY ROLNIK
KritikerInnen haben der »documenta 12« vehement vorgeworfen, willkürlich in ihrer Konzeption verfahren zu sein, inkonsequent in der Zusammenstellung der Ausstellungskonzepte, chaotisch in ihrer Organisation. Einem anthropophagischen Bankett ähnlich schienen Roger M. Buergel und Ruth Noack die Leckerbissen nach Belieben ausgewählt und den Besuchern/innen ebenso frei nach ihrem Gusto serviert zu haben. An der Frage, ob dies nun ein grober Fehlgriff oder ein genialer Kunstgriff gewesen sein mag, scheiden sich die Geister. Die Kunstproduktion der Gegenwart zeichnet sich zweifellos durch kulturelle, ästhetische und mediale Vielschichtigkeit aus, erst recht, wenn man die globale Kunstwelt überblickt. Es ist bei einer Zusammenschau unterschiedlichster künstlerischer Positionen an einem Ort deshalb kaum zu vermeiden, dass sich Ungereimtheiten und Widersprüche auftun. So wurde mit dem der Ausstellung übergeordneten Konzept der »Migration der Form« nicht nur das Erkennen von (ästhetischen) Verbindlichkeiten von Kunst weltweit forciert. Denn im Moment der Gegenüberstellung kamen gerade auch Differenzen und Unvereinbarkeiten zwischen den gezeigten Kunstwerken zum Vorschein – gewollt, wie die AusstellungsmacherInnen später betonten. Angesichts der enormen Vielfalt und der räumlichen Nähe der gezeigten Objekte offenbarten sich die Reibungen und Brüche innerhalb der globalen Kunstwelt also mehr denn je. Das Ausstel-
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lungskonzept und die unmittelbaren Reaktionen darauf zeigten, dass die Auseinandersetzung mit und die Akzeptanz des kulturell ›Anderen‹, Unbekannten im direkten Kontakt vor allem im europäischen (Kunst-) Raum doch noch relativ ungewohnt ist. Die negative Kritik an dem allzu ›sorglosen‹ Umgang der »documenta 12« mit kulturellen Unterschieden war deshalb vorprogrammiert. Zum Verständnis der globalen Kunstwelt bedarf es jedoch heute eines neuen, positiven und vor allem entspannten Bewusstseins für eine nahe Vielfalt. Denn Bedeutung, so formuliert es die Brasilianerin Suely Rolnik treffend, »emanates from the paradoxical neighborhood between the heterogeneous, consisting of non-resolved agreements and not referred to a totality«303. Mit der sehr heterogenen und offenen Projektionsfläche bildete die »d12« jedenfalls ein angemessenes Umfeld für die brasilianischen TeilnehmerInnen. Der letzte Abschnitt der Analyse zeigt an den künstlerischen und einigen exemplarisch ausgewählten theoretischen »documenta 12«-Beiträgen aus Brasilien wie mit dem möglicherweise zunächst oberflächlich und konfus zusammengestellten Material der Ausstellung vielfältige Einblicke in die brasilianische Kunstwelt gewährt wurden, und der interkulturelle Dialog auf diese Weise maßgeblich erweitert werden konnte. 4.4.4.1 Die KünstlerInnen Luis Sacilotto und Mira Schendel Mit dem Leitmotiv »Ist die Moderne unsere Antike?« hatten sich Roger M. Buergel und Ruth Noack auch der retrospektiven Betrachtung zeitgenössischer Kunst zugewandt. Anders als Catherine David präsentierten die beiden Kuratoren/innen nicht hauptsächlich die zentralen Figuren der Kunstwelt, sondern richteten den Fokus auf weniger bekannte KünstlerInnen aus verschiedenen Ländern und Epochen. Der hier vorgenommene Rückblick auf die brasilianische Kunstproduktion geht in die 1960er Jahre zurück. Statt jedoch erneut Hélio Oiticica und Lygia Clark zu zitieren, die fast zu Galionsfiguren der brasilianischen Kunstgeschichte der 1960er und 1970er Jahre avanciert waren, wurden Werke von Luis Sacilotto und Mira Schendel gezeigt. Beide KünstlerInnen hatten etwa zeitgleich mit Clark und Oiticica gewirkt, wobei Sacilotto innerhalb der konkreten und Schendel in der neokonkreten Strömung der 1960er und 1970er Jahre zu verorten ist. Luis Sacilotto gehörte der »Grupo Ruptura« an, eine von dem Schweizer Max Bill inspirierte künstlerische Bewegung der 1950er Jahre, die den Konkretismus in Brasilien begründete. Auf der »documenta 12« war nur eine Skulptur des Künstlers zu sehen, die »Escultura Negra« (»Schwarze Skulptur«). Als Beispiel der eleganten, konstruktiv-abstrakten Arbeiten des Künstlers, die dem Kanon des Konkretismus entsprechend auf rein geomet-
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Rolnik 1998: 140
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rischen Prinzipien beruhen, wirkte die klare, sachliche Komposition wie ein Ruhepol in der Flut vielfältiger Reize des Aue-Pavillons: »A sobriedade e a forma pura, definida, fazem o visitante que já passou por obras sonoras, visuais, multimidiáticas, parar por alguns minutos e ver de onde vem a arte não figurativa, a arte que não explica nem retrata o mundo.«304 Die Arbeiten Mira Schendels zeichnen sich in ihrer philosophischen und poetischen Ausrichtung im Gegensatz zu Sacilottos nüchternen, kompakten Figuren durch eine Abstraktheit aus, die sich durch ihre Transparenz und ihre zarten Linien und Formen auszeichnet. Die im Jahr 1919 in der Schweiz geborene Künstlerin wanderte 1949 nach Brasilien aus, um den traumatischen Erfahrungen des Nationalsozialismus zu entfliehen. Die Kunst Schendels wurde nicht nur von den Kriegserfahrungen in Europa, sondern auch von den sozialen und politischen Missständen in Brasilien geprägt. Ihre Werke sind von einer besonderen Feinheit und Präzision geprägt, die »die Flüchtigkeit der Zeit in ihrer differenzierten Wiederholung«305 zeichnen. Zwei Hauptmotive des visuellen Vokabulars der Künstlerin sind Leere und Transparenz. Während der 1960er und 1970er Jahre entstanden zahlreiche Zeichnungen auf dünnem, durchsichtigen Reispapier, meistens Buchstaben, Wörter, Linien, Striche, die den sie umgebenden Raum besonders deutlich hervortreten lassen. Die »documenta 12« zeigte unter anderem zwei Exponate aus gedrehtem Reispapier, die den Titel »Droguinhas« (»kleine Drogen«) tragen – eine Wortschöpfung der damals zehnjährigen Tochter Schendels. Hier wird vor allem die Verbindung von Kunst, ihrer Materialität, Individualität und Körperlichkeit anschaulich, wie es typisch für die neokonkrete Kunst in Brasilien war: »In Brazilian Portuguese, droga is an irate and depreciative term for an undesired thing or situation, something irritating. The diminutive form used by Schendel underscores this negative aspect. The Droguinhas can be forgiven this affectation because they emerged during a somber political juncture in 1964, shortly after the takeover by a repulsive Brazilian dictatorship. A droguinha is like our body, an enmeshed space, ignorant of the existence of any way out.«306
Die Skulptur »Transformável« (»Verwandelbar«) von Mira Schendel war in dem Raum zu sehen, in dem sich auch die Installation der Brasilianerin Iole de Freitas befand. Dem Konzept der »Migration der Formen« treu, verweist diese Analogisierung auf die historisch-ästhetische Verbindung der Künstle-
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»Die Nüchternheit und die klare, definierte Form lassen den Besucher, der schon diverse sonore, visuelle und multimediale Werke passiert hat, für einige Minuten verharren und darüber nachsinnen, woher die nicht-figurative Kunst kommt, jene Kunst, die die Welt weder erklärt noch abbildet.« (Lugão 2007; Übersetzung K.S.). Documenta/ Museum Fridericianum 2007: 74. Herkenhoff 1993: 50.
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rinnen: »A transparência nos dois trabalhos, a leveza e o desafio do equilíbrio. Em escalas e poéticas diferentes, é certo, mas não é só o local de trabalho das duas artistas que coincide.«307 Auf subtile Weise wurden die BetrachterInnen darauf verwiesen, dass zeitgenössische künstlerische Produktionen nicht willkürlich in neutraler Umgebung entstehen, sondern aus Entwicklungen eines gemeinschaftlichen ästhetischen Denkens innerhalb spezifischer Zusammenhänge hervorgehen. Dass dieses tief unter der ästhetischen Oberfläche verborgen ist, wird sicherlich erst durch das Erkennen der diskursiven Zusammenhänge der Werke klar, die sich in der Auseinandersetzung mit der brasilianisch kodierten Kunsttheorie offenbaren. Iole de Freitas Die im Museum Fridericianum installierte Skulptur von Iole de Freitas war wohl eine der auffälligsten Plastiken der »documenta 12«. Die großflächige Struktur aus gebogenen Stahlrohren und Polycarbonatplatten beanspruchte einen der Haupträume des Museums und durchdrang sogar die Mauern des Gebäudes. So wanden sich Teile in luftiger Höhe ein Stück weit an der Außenfassade des Fridericianums entlang, bevor sie wieder in den Ausstellungsraum zurückkehrten. Die 1945 geborene Künstlerin gehört der gleichen Generation an wie Waltercio Caldas, José Resende und Tunga, die bereits an vorangegangenen documenta-Ausstellungen teilgenommen hatten. Freitas begann ihre künstlerische Karriere als Tänzerin, in den 1960er und 1970er Jahren arbeitete sie als Designerin in Mailand, ab 1973 stellte sie dann ihre eigene Kunst aus. Ihr Beitrag für die »documenta 12« basiert auf ihren photographischen Experimenten, in denen Licht, Transparenz, lichtdurchlässige Membranen und damit der Übergang und das Verhältnis von Innen und Außen eine große Rolle spielen. »Now working with fragments of metal and wire mesh, Iole de Freitas today occupies a special niche in contemporary Brazilian sculpture. She is the heir, not so much of Frank Stella as of Lygia Clark, creator of poetic flights of planes in the exploration of the three dimensional space. In the work of Iole de Freitas, space unfolds like an organic element, revealing the vastness of intimacy and femininity within the dialectics of the inner and outer world.«308
Die Nähe zu den Arbeiten von Lygia Clark zeigt sich in der engen Verwobenheit von Körper und Raum. Das Kunstwerk verlangt die direkte Involviertheit der BetrachterInnen. Die umschließenden Elemente der Installation
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»Die Transparenz der beiden Arbeiten, die Leichtigkeit und die Herausforderung des Gleichgewichts. Die Arbeit beider Künstlerinnen treffen nicht allein an diesem Ort zusammen, sondern sicherlich auf verschiedenen Ebenen und in ihren poetischen Aspekten.« (Lugão 2007). Herkenhoff 1993: 63-64.
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vermitteln Schutz, drängen aber auch zur Bewegung aus der Struktur heraus, zur physischen Durchdringung des Raumes. Während die Durchsichtigkeit die visuelle Penetration anregt, animiert die Materialität zur körperlichen Flexibilität. Abbildung 2 und 3: Iole de Freitas. 2007. Installation.
Photos: K.S.
Wahrnehmung von Raum wird so aus unterschiedlichen Positionen und auf unterschiedliche Art und Weise möglich. Die Überschreitung der Grenzen des Ausstellungsraums verweist zudem auf den Übergang von innen nach außen und erzeugt die Vorstellung eines Raums im Fluss (»espaço em flutuação«), der auf einer imaginären Ebene keine Grenzen akzeptiert. »O espectador, obviamente, não percorre o espaço externo de fato, mas incorpora à sua experiência física e visual.«309 Die schwebenden Konstruktionen stellen auch die Frage nach den Grenzen des Gleichgewichts, sowohl die der Installation als auch die der sich im Raum bewegenden BetrachterInnen. Das Durchbrechen rigider Formen und Vorstellungen von Statik in der Formensprache Iole de Freitas’ kann als eine besondere Form der Dekonstruktion angesehen werden. »Uma obra plástica como a da documenta dá ao espectador a oportunidade de percorrer uma arquitectura que foi primeiramente descontruída, para depois apresentar novas
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»Der Betrachter durchdringt den äußeren Raum gewiss nicht als solchen, sondern inkorporiert ihn durch die physische und visuelle Erfahrung.« (Iole de Freitas im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007a; Übersetzung K.S.)).
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possibilidades estéticas.«310 Es geht hier jedoch nicht um Zerstörung, sondern um die permanente Neuformulierung räumlicher Betrachtungsweisen und um den Verweis auf die Pluralität ästhetischer Realitäten. Hier lässt sich die Verbindung zu den kulturtheoretischen Ansätzen herstellen, die in der brasilianischen Moderne mit der antropofagia formuliert und in der Folgezeit bis heute stetig wiederbelebt und neu artikuliert werden. Ricardo Basbaum Um dos aspectos mais fascinantes do campo da arte é a contínua mobilização de redes de apoio ou repulsa de certas ações ou tendências, dinâmica esta que caracteriza a dimensão política do chamado circuito de arte em suas diversas facções ou segmentos (fator em geral obscurecido ou recalcado pela discussão de uma arte pretensemente ›universal‹, absolutamente verdadeira, bela ou exemplar, independente de inserção contextual).311 RICARDO BASBAUM
Auch das Projekt »Você gostaria de participar de uma experiência artística?«/»Would you like to participate in an artistic experience?« des in Rio de Janeiro lebenden Künstlers Ricardo Basbaum befasst sich mit der Schöpfung und Wahrnehmung von Raum. Basbaum geht es allerdings weniger um die Materialität von Räumlichkeit, sondern um das Erstellen und Erfassen von Kommunikationsräumen. Die im Aue-Pavillon der »documenta 12« präsentierte Medien-Installation war nur ein Teilelement eines im Jahr 1994 initiierten Großprojekts des Künstlers mit dem übergeordneten Titel »Nova Base para a Personalidade«/»New Basis for personality« (»NBP«). Basbaum ließ dazu eine Stahlform zirkulieren – eine rechteckige,
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»Eine Plastik wie die auf der documenta gibt dem Betrachter die Möglichkeit, eine Architektur zu durchschreiten, die dekonstruiert wurde, um neue ästhetische Möglichkeiten zu präsentieren.« (Iole de Freitas im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007a; Übersetzung K.S.)). »Einer der faszinierendsten Aspekte des Kunstfelds ist das ständige Ineinandergreifen unterstützender oder ablehnender Attitüden gegenüber bestimmten Handlungen und Tendenzen, diese Dynamik, die die politische Dimension des so genannten Kunstkreislaufs in seinen verschiedenen Fraktionen und Segmenten charakterisiert (ein Faktor, der im allgemeinen durch die Diskussion über eine vermeintlich ›universale‹, absolut wahre, schöne oder exemplarische Kunst, die unabhängig von jeder kontextuellen Einbindung scheint, verschleiert oder unterbunden wird).« (Ricardo Basbaum im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007b; Übersetzung K.S.)).
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emaillierte Stahlwanne (125 x 80 x 18cm) mit abgeschrägten Ecken und einem Loch in der Mitte. »Diese ein wenig merkwürdige Stahlform wird denjenigen zu Verfügung gestellt, die dazu bereit sind, etwas zu tun oder etwas zu erfinden, kurzum: die darauf reagieren möchten. Diese Erfahrungen werden dokumentiert, archiviert und auf einer Website312 verbreitet.«313 In der Vorbereitungsphase der »documenta 12« verteilte Basbaum 19 von 20 Objekte auf drei Kontinenten (Amerika, Europa und Afrika), das letzte verblieb als Ausstellungsstück in Kassel. Für die Ausstellung entstand eine Konstruktion aus Metallgittern, die zwei Räume formte, in denen jeweils vier Monitore installiert und Matratzen zum bequemen Verweilen, Beobachten und Kommunizieren ausgelegt waren. Anhand der gezeigten Videosequenzen konnten die BesucherInnen die Bewegungen der anderen Objekte verfolgen und das diagrammatische Vokabular von »NBP« einsehen. Die Teilnahme an der documenta sah Basbaum als Kollaboration und als eine Erweiterung der Arbeit um eine neue Ebene der Sichtbarkeit und der Artikulation an. Abbildung 4 und 5: Ricardo Basbaum. 2007. Medieninstallation.
Photos: K.S.
Es geht dem Künstler in seinem Werk um die Offenlegung von Dynamiken, die er anhand der Aufzeichnung der differenten Umgangsformen mit dem immer gleichen Objekt nebeneinanderstellt. Von Bedeutung sind die Vernetzungen und Beziehungen, die durch das Wandern der Objekte hergestellt werden und eine Art »geteilte Autorschaft« (»autoria compartilhada«) erwirken. Die Authentizität des einzelnen Objekts spielt dabei keine Rolle.
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http://www.nbp.pro.br/, 28.06.2010. documenta/Museum Fridericianum 2007a: 220.
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»Neste projeto especificamente não interessa o objeto único, pois este seria imediamente fetichizado como ›original‹, envolto em uma ›aura de autenticidade‹ da qual o projeto quer se distanciar.«314 So wird der Prozess, den ein bestimmtes Objekt provoziert und die daran beteiligten Personen wichtiger, als das Objekt selbst. Hier offenbart sich die Nähe zu den Protagonisten der brasilianischen Kunstgeschichte der 1960er und 19070er Jahre. Die Arbeiten von Hélio Oiticica bestimmen Basbaums Projekte ebenso wie die von Lygia Clark und Lygia Pape. Der Begriff der Verwandlung (»transformação«) im Kontext von »NBP« entstand in direkter Referenz zum Werk Oiticicas und Clarks. Es lassen sich allerdings auch Unterschiede ausmachen, die der Reflexion einer sich ständig ändernden Umwelt geschuldet sind und Basbaums Wirken ganz klar in der Zeitgenossenschaft verorten. Während die neokonkreten KünstlerInnen und die VerfechterInnen der tropicália davon beseelt waren, mit ihrer Kunst ›Heilung‹ oder die Erlösung von Problemen der Gegenwart zu erwirken, distanziert sich Basbaum von diesen teilweise stark utopischen Ansätzen. »Procuro, nesse sentido, responsabilizar o participante por uma tomada de posição mais específica quanto à possível transformação pretendida, pensando na obra de arte como ferramenta produtora de questões e deflagradora de discurso.«315 Das Spannungsverhältnis zwischen Initiator und TeilnehmerInnen, die daraus entstehenden Asymmetrien und die niemals endenden Konversationen (conversas infinitas) bilden die Kernthematiken der künstlerischen Auseinandersetzungen Basbaums. Es lassen sich hier Parallelen zum Zeitschriftenprojekt der »documenta 12 magazines« ziehen. das durch die Vorgabe dreier Leitfragen künstlerische und theoretische Äußerungen stimulierte und sich damit zu einem komplexen, extrem heterogenen und gleichzeitig offenen Diskursfeld entwickelte. Am anschaulichsten wurde dies durch die Zusammenschau der Texte auf einer eigens eingerichteten Website. In der direkten Partizipation, das heißt in der Reaktion der TeilnehmerInnen beider Projekte auf das vorgegebene Objekt bzw. die Fragestellungen konnte eine Wechselbeziehung zwischen Künstler bzw. Kuratoren/innen und Partizipanten bzw. Autoren/innen entstehen, die das Rollenverhältnis von Produzenten/innen und Rezipienten/innen umkehrte und verwischte. Die Zuord-
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»In diesem Projekt ist das Einzelobjekt nicht von Interesse, denn dieses würde unmittelbar zum ›Original‹ fetischisiert, umgeben von einer ›Authentizitäts-Aura‹, von der sich das Projekt gerade distanzieren möchte.« (Ricardo Basbaum im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007b; Übersetzung K.S.)). »In diesem Sinne versuche ich den Teilnehmer sich hinsichtlich einer möglichen beabsichtigten Veränderung durch eine genauere Stellungnahme verantwortlich zu machen und über das Kunstwerk als Fragen produzierendes und Diskurse auslösendes Werkzeug nachzudenken.« (Ricardo Basbaum im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007b; Übersetzung K.S.)).
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nung festgesetzter Begriffe wie Werk und Autorschaft, sowohl in Bezug auf Basbaums Kunstprojekt, als auch auf die documenta, gerieten ins Wanken. Ordnungen und Hierarchien wurden so gleich auf mehreren Ebenen in Frage gestellt. Basbaums Arbeit weist damit klar auf die Adaptionsfähigkeit von künstlerischer Theorie und Praxis brasilianischen Ursprungs hin, die aus dem besonderen Umgang mit kultureller Diversität und den sich daraus ergebenden Konflikten resultiert. »Talvez a contribuação da cultural brasileira a essa conversa se dê a partir do reconhecimento de sua matriz fundadora enquanto agregado cultural – ou seja, a beleza da mistura contra a pureza reducionista.«316 Auf die Tatsache, dass die Globalisierung der Kunstwelten nicht allein einer globalen Diskursführung geschuldet ist, sondern auch auf ökonomischen Faktoren beruht, verweist Ricardo Basbaum in der Person und finanziellen Situation eines brasilianischen Künstlers. Die wirtschaftlich desolate Lage des Landes Brasiliens lässt die Förderung kultureller Aktivitäten nur bedingt zu, was sich sehr deutlich an der Subventionierung künstlerischer Projekte zeigt. So war es dem Künstler durch die finanzielle Unterstützung durch die documenta überhaupt möglich, das Langzeitprojekt so breit angelegt weiterzuführen. »O fato de haver apenas um objeto em circulação no período de 1994 a 2005 se deveu apenas a fatores econômicos, pois apesar de ter buscado recursos, no Brasil (em 1995 e 1998), junto a dois fundos de financiamento de projetos, tive os pedidos negados e nunca consegui o financiamento necessário. Somente agora, em colaboração com a documenta 12, consegui apoio para esta expansão do projeto.«317
Bewegungen innerhalb der Kunstwelt sind immer auch an die wirtschaftlichen Verhältnisse der beteiligten KünstlerInnen gebunden. Die nationale Bindung hat in dieser Hinsicht maßgebliche Auswirkungen, da sich die ökonomische Lage einzelner Nationalstaaten direkt auf das Wirken der KünstlerInnen auswirkt. Die Förderung von Kunstprojekten weltweit durch
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»Der Beitrag der brasilianischen Kultur an dieser Auseinandersetzung ergibt sich vielleicht aus der Wahrnehmung ihrer Vorreiterrolle als Kulturabgeordnete – oder auch dem Erkennen der Schönheit der Vermischung im Kontrast zur reduktionistischen Reinheit.« (Ricardo Basbaum im Interview mit DWWORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007b; Übersetzung K.S.)). »Die Tatsache, dass im Zeitraum von 1994 bis 2005 nur ein Objekt zirkulierte, ist allein auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Denn trotz den Bemühungen um Geldmittel in Brasilien (im Jahr 1995 und 1998) und zwei Finanzierungsprojekten erhielt ich nur Absagen, so dass die notwendigen Gelder nicht zusammenkamen. Allein zum jetzigen Zeitpunkt, in Zusammenarbeit mit der documenta 12, gelang es mir, die notwendigen Mittel für das Projekt aufzubringen.« (Ricardo Basbaum im Interview mit DWWORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007b; Übersetzung K.S.)).
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kulturelle Einrichtungen wie die documenta mag langfristig dazu beitragen, ökonomisch begründete Disharmonien innerhalb der globalen Kunstwelt auszugleichen und die mit dem nationalen Wettbewerb einhergehenden Problematiken beizulegen. Dias & Riedweg Das Duo aus Brasilien und der Schweiz Mauricio Dias und Walter Riedweg präsentierte auf der »documenta 12« zwei Video-Installationen. In ihren Arbeiten wenden sich Dias & Riedweg vornehmlich Menschen am Rande der Gesellschaft zu: Migranten/innen, Prostituierten, Strafgefangenen, das heißt Grenzgängern/innen. Die Auseinandersetzung mit dem ›Fremden‹, dem ›Anderen‹ oder eben dem, was den meisten am liebsten fremd bliebe, steht im Mittelpunkt der Gruppenprojekte der Künstler. Sie fokussieren Situationen, die von der Gesellschaft grundsätzlich eher ausblendet werden. Von besonderer Bedeutung ist die dialogische Form der Arbeiten, denn es geht den Künstlern nicht um die einfache (Re-)Präsentation des ›Anderen‹, sondern um die Offenlegung der Beziehungen, die sich im Aufeinandertreffen von Menschen ergeben. Ein weiteres, besonderes Merkmal der Projekte ist das Spiel mit der Dichotomie von Realität und Fiktion. Die Rollen der Protagonisten verwischen, indem sie mal schauspielerisch tätig werden, mal sich selbst darstellen oder auch als Ko-Autoren/innen der Projekte mitwirken. Dias & Riedweg agieren zudem häufig selbst als darstellende Figuren. »Como nosso trabalho é um diálogo entre nós e o outro, há uma negociação de idéias com as pessoas que são tema do trabalho, uma vez que elas também são, de certa forma, responsáveis pela autoria.«318 Die Grenzen zwischen Dokumentation und Videokunst sind deshalb ebenso fließend. In der Installation »Voracidad Máxima« im Aue-Pavillon der »documenta 12« wurde diese Form der Verflüssigung der verschiedenen Ebenen der Videokunst Dias & Riedwegs besonders offensichtlich. Das Künstlerduo hatte dafür im Jahr 2003 männliche Prostituierte der Schwulenszene in Barcelona interviewt. Die Gespräche wurden in einem Bett eines Hotelzimmers durchgeführt, wobei alle beteiligten Personen nur mit Handtüchern bekleidet waren. Zudem trugen die Gigolos Latexmasken, die das Konterfei der Künstler abbildeten. Damit wurde einerseits ihre Anonymität gewahrt. Indem die Künstler die visuelle Identität ihrer Interviewpartner einnahmen, wurden zudem die identitären Rollen der Dialogpartner verklärt. Die Installation im Aue-Pavillon reproduzierte das filmisch projizierte Ambiente: »há uma cama com um lençol azul, exatamente como é o cenário onde o
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»Weil sich unsere Arbeit als Dialog zwischen uns und den anderen ergibt, verhandeln wir mit den beteiligten Personen über die Ideen, einfach weil sie auch auf gewisse Weise verantwortlich für die Autorenschaft sind.« (Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c; Übersetzung K.S.)).
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vídeo foi feito, com duas grandes projeções e dois grandes espelhos, adicionando o espectador àquelas imagens.«319 So wurden auch die BetrachterInnen direkt in die Situation integriert, was ein nahezu körperliches Erleben der Dokumentationen ermöglichte. Die zweite Videoarbeit wurde auf Wunsch der künstlerischen Leitung extra für die documenta in Kassel geschaffen. »O diretor artístico Roger Buergel viu nosso trabalho em Barcelona, Paris e São Paulo e nos trouxe para o documenta. Mas pediu para a gente fazer algo novo, que de alguma forma se relacionasse com Kassel. Este outro trabalho, embora não seja feito em Kassel, foi um desafio que acabou nos ajudando a conversar a linguagem estética que tentamos desenvolver, desta vez de uma forma globalizada.«320
Mit der Videoinstallation »Funk Staden« stellten Dias & Riedweg schließlich eine historische Verbindung zwischen ihrem derzeitigen Wohnort Rio de Janeiro und der documenta-Stadt Kassel her. »Se o funk é a parte carioca, o Staden é a parte de Kassel.«321Auf besondere Art verknüpft sie die Vergangenheit mit der Gegenwart und besticht – durch das typische künstlerische Vokabular Dias & Riedwegs – durch die Konfrontation mit dem ›Fremden‹. Ein Jahr lang drehten die Video-Künstler in den favelas von Rio de Janeiro, wo sie vor allem im Milieu des Funk arbeiteten. »A cultura da favela, ao contrário do que muita gente pensa, é enorme, super interessante e super contemporânea. O samba é uma coisa maravilhosa e o funk também e outro que a gente aprendeu a apreciar.«322 »Funk Staden« ist eine Nacher-
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»Es war ein Bett mit blauem Laken aufgestellt, genau wie in der Szene, in der das Video gedreht wurde, mit zwei großen Projektionen und zwei großen Spiegeln wurden die Bilder dem Betrachter nahegebracht.« (Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c; Übersetzung K.S.)). »Der künstlerische Leiter Roger Buergel hatte unsere Arbeit in Barcelona, Paris und São Paulo gesehen und lud uns ein, an der documenta teilzunehmen. Er bat uns jedoch, etwas Neues zu machen, das in irgendeiner Form mit Kassel in Verbindung zu bringen wäre. Diese Arbeit war, obwohl sie nicht in Kassel entstanden ist, eine Herausforderung, die uns dazu verhalf unsere ästhetische Sprache diesmal in einer globalisierten Form weiterzuentwickeln.« (Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c; Übersetzung K.S.)). »Wenn der Funk für Rio steht, dann steht Staden für Kassel.« (Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c; Übersetzung K.S.)). »Die Favela-Kultur ist entgegen der Meinung der meisten Leute hoch interessant und sehr zeitgenössisch. Der Samba ist eine fantastische Sache und der Funk ist noch etwas anderes, was wir lieben gelernt haben.« Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c)).
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zählung des 28. Kapitels der »Wahrhaftige(n) Historia der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute – 1548-1555«. Geschrieben wurde die Historia von Hans Staden, der ein Bürger aus der näheren Umgebung Kassels gewesen ist und Mitte des 16. Jahrhunderts in Gefangenschaft der Tupinambá – einer indigenen Gruppe, die zu dieser Zeit noch den Raum Rio de Janeiros und São Paulos besiedelte – geriet. »No capítulo 28, Hans Staden conta como os tupinambás celebravam e decoravam o inimigo, antes de matar com um certo instrumento chamada ivirapema. Conta como as índias comiam os brancos inimigos, como fritavam o cérebro, comiam carne humana.«323 Reanimiert wird die Geschichte im Rio de Janeiro der Gegenwart, in Szene gesetzt von funkeiros der favelas.324 Installiert in der Sammlung Alter Meister auf Schloss Wilhelmshöhe öffneten die Video-Frequenzen in Form eines Triptychons einen neuen Zugang zur Geschichte Kassels. Dias & Riedweg zeigten, wie sich der Blick auf die Vergangenheit und auf andere Welten auf die Rezeption der lokalen Gegenwart auswirken kann und eine Nähe zum ganz anderen Fremden herstellt. »Funk Staden« thematisiert und funktionalisiert die antropofagia auf mehreren Ebenen und in mehreren Etappen: Da erscheint der Landsknecht Hans Staden als Mittler zwischen den Welten, der den Bericht über die menschenfressenden Indianer Brasiliens nach Deutschland und schließlich Europa bringt. Dort wird die Sicht auf die wilden Kannibalen zur Nahrung für die Narrative des Primitivismus in Europa, die zur Legitimation der Kolonialisierung zitiert werden und später wieder nach Brasilien zurückschwappen, um dort durch die Modernebewegung auf ihre Art verschlungen und verwertet zu werden. Tänzer über den Dächern einer favela in Rio de Janeiro inszenieren die zeitgenössische anthropophage Praxis der brasilianischen Gesellschaft in ihren rohen, grausamen und grotesken Facetten des Hier und Jetzt. Dias & Riedweg lassen die BetrachterInnen über die Ambivalenz der Grausamkeit des gegenseitigen Einverleibens und der kreativen Momente der anthropophagen Praxis nachsinnen. So wird die antropofagia erneut auf den europäischen Kontinent zurückgeworfen, ohne jedoch den Kontrast zwischen Europa und dem südamerikanischen Kontinent zu exponieren und zu verhärten, sondern in seiner Auflösung. Auch hier wird die globale Anschlussfähigkeit des brasilianischen Konzepts sichtbar gemacht, wie sie im Zuge der theoretischen Überlegungen im vorhergehenden Kapitel beschrieben wurde.
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»Im 28. Kapitel erzählt Hans Staden wie die Tupinambá den Feind feierten und schmückten, bevor sie ihn mit einem Instrument töteten, das sich ivirapema nennt. Er erzählt wie die Indianerinnen die weißen Feinde aßen, wie sie das Hirn brieten, Menschenfleisch verzehrten.« (Dias & Riedweg im Interview mit DW-WORLD.DE (DW-WORLD.DE 2007c)). Zur weiteren Beschreibung der Inszenierung siehe S. 187f.
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Jorge Mario Jáuregui Der in Argentinien geborene Architekt und Stadtplaner Jorge Mario Jáuregui lebt und arbeitet seit den 1990er Jahren in Rio de Janeiro. Im Rahmen der »documenta 12« und in Zusammenarbeit mit dem World Future Council und der Hübner GmbH stellte er sein Film-Projekt »Urdimbres« (»Verflechtungen/Verknüpfungen«) vor. Der Film wurde während der 100 Tage documenta an verschiedenen Schauplätzen der Kasseler Innenstadt gezeigt und von diversen künstlerischen Interventionen sowie Diskussionsrunden begleitet. Im Aue-Pavillon waren Pläne, Architekturskizzen und Zeichnungen zu sehen. Jáureguis Arbeit thematisiert die Verflechtungen formeller und informeller sozialer Stadtstrukturen in Städten Lateinamerikas wie Rio de Janeiro, Buenos Aires und Sao Paulo und lässt über eine menschengerechte Planung und Stadtentwicklung nachsinnen. Geprägt ist die Arbeitsweise des Urbanisten durch die Erfahrungen mit dem in den 1990er Jahren ins Leben gerufenen »Favela-Barrio-Projekt« in Rio de Janeiro. Dabei geht es um die nachhaltige Urbanisierung der favelas in der direkten Auseinandersetzung und in Zusammenarbeit mit ihren Bewohnern/innen. Indem die ortsspezifischen Gegebenheiten die Ausgangs- und Bezugspunkte der Eingriffe bilden, ergeben sich neue, vielfältige gestalterische Möglichkeiten der Stadtplanung und damit auch Ansatzpunkte, eine Stadt neu zu denken. Die Gestaltung eines öffentlichen Raums spielt hier eine besondere Rolle, da dieser in den favelas zumeist nicht existiert. »Mit der Stärkung von öffentlichen Einrichtungen und Plätzen fokussiert und fördert Jáuregui gemeinschaftliche, identitätsstiftende Aktivitäten wie Fußball, Samba oder Feste. Der öffentliche Raum wird zu einem Ort des Zusammentreffens, an dem der soziale, kollektive Körper reflektiert wird.«325 Gleichzeitig wird die Ästhetik als maßgebliche Komponente der Stadt eingeklagt, die Strukturen schafft und das kreative Potential in den favelas freilegt, was sich schließlich in den architektonischen Formen Jáureguis widerspiegelt. Die Fragestellungen und Lösungsvorschläge, die sich in diesen Auseinandersetzungen ergeben, sind nicht auf Brasilien zu beschränken, sondern lassen sich auf die Problematiken fast aller Großstädte in einem globalen Kontext übertragen. Jáuregui ist nicht direkt in der brasilianischen Kunstwelt zu verorten, vielmehr ist er ein Grenzgänger – sowohl in seiner fachlichen als auch seiner geographische Provenienz. In seiner Auseinandersetzung mit brasilianischen Lebenswelten ergeben sich jedoch Parallelen zu den künstlerischen Arbeiten der hier vorgestellten documenta-TeilnehmerInnen und verweisen auf die engen Verknüpfungen von Kunst und Gesellschaft in der brasilianischen und schließlich in der globalen Gesellschaft.
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documenta/Museum Fridericianum 2007a: 264.
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4.4.4.2 Die TheoretikerInnen Die »documenta 12« hat sich vor allem durch ihr groß angelegtes Zeitschriftenprojekt »documenta 12 magazines« von den vorhergehenden Ausstellungen exponiert. Die Dialogisierung von Kunst im Rahmen der documenta war zwar nichts Neues. Die Form jedoch, in der die Diskurse entfacht und präsentiert wurden, hatte es vorher noch nicht gegeben. Noch eindringlicher als die künstlerischen LeiterInnen vorangegangener documenta-Projekte bewiesen Roger M. Buergel und Ruth Noack, dass sich die Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst in einem globalen Kontext nicht auf die ortsgebundenen Räumlichkeiten (zur Ausstellung oder zur Diskussion von Kunst) beschränken lässt. Da sich die globale Zeitgenossenschaft bildender Kunst nicht allein durch die Zirkulation der Kunstwerke selbst, sondern zu weiten Teilen über die Distribution von schriftlich verfassten Informationen und Kritiken generiert, lag es nahe, diese dem Kunstpublikum der documenta zugänglich zu machen und damit den notwendigen diskursiven Kontext für das international ausdifferenzierte Angebot der Kunstschau zu erweitern. Mit dem Zeitschriftenprojekt wurde zum ersten Mal eine sehr hohe Bandbreite an Äußerungen des globalen Kunstdiskurses über diverse (Online-)Zeitschriften direkt in das Ausstellungsprojekt integriert und den Besuchern/innen zugänglich gemacht. Es war das Anliegen der künstlerischen Leitung, Stimmen in einen breitgefächerten Dialog zu vereinigen, die im Kontext der zentralen Institutionen der globalen Kunstwelt seltener zitiert werden. Dazu wurden vor allem kleine, wenig bekannte Redaktionen angefragt und in das Projekt involviert. »Um critério fundamental na seleção dos participantes foi a ênfase não no porte ou âmbito de circulação da publicação, mas nos discursos que veiculam e sua pertinência e relevância em relação aos temas do evento.«326 Mit der Lektüre der gesammelten Beiträge ließen sich sowohl lokale Bezüge als auch globale Zusammenhänge der gezeigten Kunstwerke herstellen. Damit konnte auf eindimensionale, zu knapp gehaltene Darstellungen kunstgeschichtlicher Entwicklungen der diversen Kulturräume, in denen die Werke der teilnehmenden KünstlerInnen entstanden waren, verzichtet werden. In diesem letzten Teil der Betrachtung der »documenta 12« werden einige Beiträge vorgestellt, die im direkten Zusammenhang mit brasilianischer Kunsttheorie und -praxis der Gegenwart stehen. Das Motiv der antropofagia steht dabei erneut im Fokus der Betrachtung, da sich in der Konzentration auf einen Aspekt brasilianischer Kulturtheorie die Schnittstellen der brasili-
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»Ein grundlegendes Kriterium für die Auswahl der Teilnehmer war es, den Schwerpunkt nicht auf das Ansehen oder den Umfang der Verbreitung der Publikation zu legen, sondern auf die Diskurse, die in Umlauf gebracht wurden sowie die Zugehörigkeit und Relevanz zu den Themen der Veranstaltung.« (Amado 2007; Übersetzung K.S.).
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anischen Kunstwelt mit der globalen Kunstwelt am besten erfassen lassen – auch wenn die Texte in ihrer Gesamtheit einen noch viel breiteren Überblick über die zeitgenössische Kunstwelt Brasiliens bieten. Die von Buergel und Noack formulierten Leitmotive »Moderne?«, »Leben!« und »Bildung:« wurden in den ausgewählten Aufsätzen auf unterschiedliche Weise reflektiert. Die antropofagia lässt sich damit von drei verschiedenen Blickwinkeln aus erfassen. Die Auseinandersetzung mit den ausgesuchten Textbeispielen erweitert das Spektrum der bereits erläuterten Facetten des Konzepts um den Blick auf konkrete, gleichzeitig relativ komplexe und mehrdimensionale Interpretations- und Adaptionsformen der antropofagia in der Gegenwart. Auch wenn die AutorInnen keine direkten Bezüge zu den Arbeiten der an der »d12« beteiligten KünstlerInnen herstellen, so lassen sich Verbindungen zu ihrer künstlerischen Praxis ziehen, was die erweiterte Auslegung und die Einordnung der Werke ermöglicht. Die hier untersuchten Beiträge waren in Angliederung an das Zeitschriftenprojekt in den brasilianischen Online-Magazinen »Canal Contemporâneo«327 und »rizoma.net«328 erschienen. Außer diesen brasilianischen Redaktionen war noch das Online-Journal »trópico«329 beteiligt. Diverse Beiträge brasilianischer Autoren/innen sind außerdem in anderen, in das Projekt involvierten nicht-brasilianischen (Online-)Medien erschienen. Die hier bearbeiteten Texte waren während und noch geraume Zeit nach der Ausstellungsphase im »documenta magazines online journal« abrufbar. Die Seite lässt sich mittlerweile nicht mehr aufrufen, die einzelnen Texte sind aber weiterhin über diverse Internetplattformen zugänglich. É a modernidade nossa Antigüidade?/Ist die Moderne unsere Antike? – Moderne? Ist die Moderne unsere Antike? An diese Frage schließt sich sofort eine andere an: Welche Moderne und wessen Antike? GEORG SCHÖLLHAMMER
Die antropofagia ist ein Kernelement der brasilianischen Moderne und der Gegenwart. Dass sie in ihren unterschiedlichen Interpretationen und Adaptionsformen die Kunst des 20. Jahrhunderts und offensichtlich auch des 21. Jahrhunderts direkt oder indirekt beeinflusst, wurde zuletzt an den auf der documenta ausgestellten Arbeiten offensichtlich. Die unmittelbare Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem kulturell ›Anderen‹ oder ›Fremden‹, die Priorität körperlicher Erfahrung von Kunst oder die Inkorporation politischer und sozialer Missstände zeigten sich als besonders bedeutende Aspek-
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http://www.canalcontemporaneo.art.br. http://www.rizoma.net. http://www.p.php. uol.com.br/tropico.
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te in den künstlerischen Projekten. Der historische Rekurs Buergels und Noacks auf das Œuvre von Luis Sacilotto und Mira Schendel wirkte wie eine Brücke zwischen der brasilianischen Moderne der ersten Hälfte und den diversen Formen ihrer Reanimation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Verbindung von Schendels Plastik »Transformável« und der Installation Iole de Freitas’ illustrierte den Übergang ins 21. Jahrhundert. Die Frage, ob die Moderne ›unsere‹ Antike sei, provozierte (gewollt) die Frage nach der Gültigkeit von einem Konzept wie der Moderne in einem globalen Zusammenhang. Damit einher ging die Idee, auch unterschiedliche Modernen als historische Nährböden der Gegenwart zu bedenken. Die im Rahmen des Zeitschriftenprojekts publizierten Aufsätze brasilianischer Autoren/innen enthalten keine eindeutigen Antworten auf die Frage. Sie riefen jedoch interessante Reflexionen der (brasilianischen) Moderne hinsichtlich ihrer zeitgenössischen Bedeutung und Wirksamkeit hervor. Die Auffassung, was die Antike für Brasilien sei, wurde unterschiedlich beantwortet. Die Künslterin Regina Vater erkennt sie zum Beispiel in der Ästhetik indianischer (Feder-)Kunst: »Na arte plumária, por exemplo, podemos encontrar uma certa Antigüidade brasileira: a geometrie des sua cestaria alimentou o inconsciente coletivo dos concretos/neoconcretos que, de uma certa maneira, pensavam estar olhando para a Europa.«330 Dagegen interpretiert die Kunstheoretikerin Daniela Labra die Antike in Bezug auf Brasilien eher als ›Antiquiertheit‹, die bis in die heutige Zeit fortwirkt: »É inegável que uma antiguidade brasileira subsista hoje representada sobretudo pela desigualidade social, pelo atraso nas relações trabalhistas e pelos modelos oligárquicos de nossos instrumentos políticos.«331 Der brasilianische Künstler Gavin Adams reflektiert in seinem Text »Figuras de transmissão«332 ein mögliches Verständnis der (brasilianischen) Moderne als Antike der Gegenwart. Dazu erörtert er zunächst die Reflexion und Adaption der Antike in der (europäischen) Renaissance und Moderne, um schließlich die antropofagia als Narrativ der brasilianischen Moderne mit den beiden Formen der Antikerezeption in Beziehung zu setzen. Er arbeitet seine Überlegungen an bestimmten Bildern ab, die einen Blick auf die Antike und, so Adams, deren »Narrative der Übertragung oder des Über-
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»In der indianischen (Feder-)Kunst kann man beispielsweise eine gewisse brasilianische Antike erkennen: die Geometrie des Flechtwerks nährte das unbewusste Kollektive der Konkreten/Neokonkreten, die sich so sicher waren, nach Europa zu blicken.« (Regina Vater im Interview mit Canal Contemporâneo (Paula 2007; Übersetzung K.S.)). »Es ist nicht zu leugnen, dass eine brasilianische Antike fortbesteht, die heute vor allem durch die soziale Ungleichheit, die Rückständigkeit der Arbeiterbewegungen und den oligarchischen Modellen unserer politischen Instrumente repräsentiert wird.« (Regina Vater im Interview mit Canal Contemporâneo (Paula 2007; Übersetzung K.S.)). Adams 2006.
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gangs« (»narrativas de transmissão«) evozieren. In einem ersten Schritt erklärt der Künstler das Verhältnis der Antike zur Renaissance bzw. der Renaissance zur Antike. Indem er das zentralperspektivische Konstruktionsverfahren der Renaissance, das eine perspektivisch maßstabsgetreue und exakte Verkleinerung zu zeichnender Gegenstände ermöglichte, auf die Rezeptionspraxis der Renaissance überträgt, erkennt er den Vorgang der Verdichtung der Vergangenheit. Die Übertragung antiker Muster auf die Renaissance erfolgte, so seine Schlussfolgerung, nach kontinuierlich rationalen Kriterien: »Se aceitarmos o termo redução para o relacionamento da Renascença com a Antiguidade, fica fácil ver que se trataria de uma relação de transmissão contínua racional.«333 Um eine weitere Dimension der Antike-Renaissance-Relation zu beleuchten, bezieht sich Adams in einem nächsten Schritt auf einen Aspekt, den er mit dem Begriff Ergänzung/Vervollständigung/Ausfüllung (»preechendimento«) betitelt. Seine Überlegungen beziehen sich hier auf die Assoziation des Fragmentarischen, die die Antike hervorruft – »Corpos sem braços, narizes, cabeças, torsos avulsos e capitéis eram desenterrados da terra fria«334 – und die Bemühungen, daraus wieder ein ganzes Bild zu fertigen. Aus dieser Perspektive heraus erkennt er im Projekt der Renaissance das Streben nach Vervollständigung oder Ausfüllung des Raums zwischen den Fragmenten und Körperteilen antiker Fragmente. Wenn man diesen Vorgang der Wiederherstellung und Restaurierung über die Geschichte hinweg verfolge, so ergebe sich die Antike als eine fortlaufende Narrative der Vermutungen, Entwürfe, der Ein- oder Verpflanzungen. Ein Bruch in dieser historischen Entwicklung ereignete sich laut Adams mit dem Ersten Weltkrieg, den er als Stimulans der Modernebewegungen beschreibt. Mit der Analogisierung einer Photographie, die einen im Schützengraben verstümmelten Soldaten zeigt, mit einer Abbildung einer ähnlich entstellten antiken Statue stellt er hier einen Zusammenhang von Antike und Moderne her, der sich ebenfalls durch die Be- und Verhandlung von Leerstellen, Verletzungen und Brüchen einer zerstörten Vergangenheit definiert: »O trabalho do modernismo seria o depreechimento poético dos membros e torsos avulsos dentro de uma paisagem de incorporação do passado feito ruína.«335 Auch wenn mit der Moderne ein Bruch in der Geschichtsschreibung erfolgte, erkennt Adams in diesen Narrativen den gleichen rationalen
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»Wenn man den Begriff der Reduktion für das Verhältnis der Renaissance zur Antike annimmt, ist leicht zu erkennen, dass es sich um ein kontinuierlich rationales Übertragungsverhältnis handelt.« (Adams 2006: 239; Übersetzung K.S.). »Körper ohne Arme, Nasen, Köpfe, einzelne Torsi und Häupter wurden aus der kalten Erde ausgegraben.« (Adams 2006: 239; Übersetzung K.S.). »Die Aufgabe des Modernismus wäre das poetische Ausfüllen/Ergänzen der einzelnen Glieder und Torsi innerhalb einer sich die zerstörte Vergangenheit einverleibenden Landschaft.« (Adams 2006: 240; Übersetzung K.S.).
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und kontinuierlichen Übergang von der Antike zur Moderne wie für die Renaissance. Die antropofagia wird als letztes Narrativ des Übergangs behandelt, die sich von den beiden anderen unterscheidet. In der Betrachtung der Figur des Kannibalismus stellt sich die Frage nach dem Erbe und der Aneignung von Vergangenheit respektive der Antike neu, diesmal jedoch mit weniger linearen Begrifflichkeiten. Adams beruft sich auf die Elemente der Verstümmelung und der Defäkation. Das Besondere der antropofagia liege in der Unterbrechung der direkten Vererbungslinie. Denn mit der Einverleibung des Feindes erfolgt eine andere Form der Übertragung von fremden Proteinen, Fett und Charaktereigenschaften als durch (bluts-)verwandtschaftliche Bindungen. »A antropofagia quer inaugurar uma poética de retenção e soltura, onde a linha racional é interrompida e só admite continuação ao longo da do tubo digestivo culmina no depósito do excremento.«336 Weder im Manifest Oswald de Andrades noch in den zahlreichen Abbildungen kannibalistischer Praktiken findet sich jedoch eine konkrete Beschreibung jenes Vorgangs der Übertragung im Akt der Einverleibung und des Ausscheidens. Die Durchmischung im Verdauungsvorgang (»difusão gástrica«), die der Übertragungsform ihren linear rationalen Charakter nimmt, da sie keine genau vorgegebene Richtung kennt, findet also weder eine visuelle noch eine schriftliche Darstellung. So weist die Figur der antropofagia hier eine diskursive Lücke auf, eine gut positionierte Verstümmelung, die wiederum unterschiedliche Möglichkeiten der Vervollständigung bietet. Schließlich hält Adams fest, dass die Moderne selbst in einer Poetik der gleichzeitigen Einbehaltung und Ausscheidung absorbiert und negiert und in einem Moment zwischen Verstümmelung und Defäkation inkorporiert wird. Damit unterscheidet sie sich von der einfachen Reproduktion der Antike als konstitutives, kontinuierlich linear reproduzierbares Narrativ wie es Adams bezüglich der Renaissance beschreibt. Ohne dass der Autor selbst explizit von einer ›brasilianischen Moderne‹ spricht, so wird seine Darstellung als spezifische Ausdrucksform für Moderne im brasilianischen Kontext lesbar. In Rekurs auf die Überlegungen Adams’ zeigt sich, dass es unterschiedlichste Interpretationen von Moderne gibt, die jeweils durch den kulturellen Hintergrund der interpretierenden Instanzen geprägt sind. Der Verweis auf Shmuel Eisenstadts Konzept der »multiplen Modernen«, das er in Anlehnung an Max Weber konzipierte, drängt sich hier nahezu auf. Moderne ist nach Eisenstadt nicht als Einheit denkbar, sondern in ihrer sich ständig wandelnden kulturellen Vielfalt.
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»Die antropofagia will eine Poetik der Einbehaltung und Ausscheidung etablieren. Der rationale Ablauf wird unterbrochen und ist nur in der Fortführung entlang einer verlängerten Linie außerhalb des Körpers im Akt der Defäkation möglich.« (Adams 2006: 241; Übersetzung K.S.).
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»Während bisweilen behauptet wurde, dass sich die europäische Moderne in den Amerikas wiederhole, ist nun klar, dass Nordamerika, Kanada und Lateinamerika von Anfang an eigenständige Entwicklungen nahmen. […] In dem aus Europa stammenden und mitgebrachten institutionellen und kulturellen Rahmen entwickelten sich nicht nur lokale Varianten des europäischen Modells, sondern radikal neue institutionelle und ideologische Muster.«337
Auf diese Weise wird auch die Idee von Moderne als rein homogenisierendes und hegemoniales Projekt hinfällig. Armin Nassehi vertieft dieses Argument, indem er darauf verweist, bereits die Entstehung der Moderne in Europa gründe in der Wahrnehmung kultureller Diversität. »The modernity of the western world always was a reflex to the experience that there exist other worlds besides it, both in temporal respects, i.e. in history, and in geographical respects, i.e. concerning non-European world areas.«338 Die Idee des ›westlichen‹ Universalismus wird damit als Reaktion auf die Erfahrung von Pluralität interpretierbar. Nassehi erweitert Eisenstadts Formulierung von der »Vielfalt der Moderne« zu dem Gedanken an »eine multiple Moderne«. Es sind damit nicht mehr allein mehrere Formen von Moderne nebeneinander denkbar, deren Ursprung in Europa verortet wird, sondern Moderne wird als übergeordnetes Konzept der Erfahrung von Vielheit in mehreren Ausformungen und Dimensionen erfasst. »The modern world society is a society, in which mutual awareness brings forth less mutual learning or consensual commitments than horizons for differences and distinctive identities. […] I would prefer to speak of one multiple modernity, in which strategies of comparison and difference become more and more unescapable.«339
In der (Wieder-)Entdeckung der kannibalistischen Praxis des Verschlingens und Verwertens kultureller Differenzen durch die brasilianische Moderne und in den verschiedenen Formen ihrer Reanimation verdinglichen sich diese Überlegungen zu einer Moderne im Plural. Die documenta bietet schließlich eine Matrix, in der unterschiedliche moderne Konzepte unmittelbar in einen globalen Zusammenhang gestellt und interpretiert werden. Eisenstadt erkennt in der internationalen Konstellation einen wesentlichen Faktor für Modernisierung. »Die verschiedenen, sich ständig wandelnden Programme der Moderne wurden […] auch geprägt durch die Art und Weise, wie die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen sich in die neuen internationalen Systeme einfügten, wie sie in diesen Systemen platziert wurden oder sich selbst platzierten, um Teil des globalen Systems zu werden.«340 Daraus lässt sich ableiten, dass sich die Werke brasilianischer KünstlerInnen nicht allein
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Eisenstadt 2006: 151. Nassehi 2004: 3. Nassehi 2004: 10. Eisenstadt 2006: 155.
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durch das Moment der Ähnlichkeit in einen globalen Zusammenhang einschreiben lassen, sondern vor allem im Moment der Reflexion ihrer spezifischen Ausprägungen im internationalen Kontext. Nicht zuletzt wird mit diesem Ansatz das Argument entkräftet, Kunst außerhalb des so genannten ›Westens‹ sei lediglich die ›Nachahmung‹ ›westlicher‹ Kunst durch ›nichtwestliche‹ KünstlerInnen. Im Erkennen gleichzeitig existierender, differenter Formen von Moderne und damit auch von Zeitgenossenschaft wird die Opposition ›Westen‹/›Nicht-Westen‹ vielmehr ad absurdum geführt. Wieder zeigt sich, wie wichtig die diskursive Auseinandersetzung mit den gezeigten Objekten ist, die über die Wahrnehmung der ästhetischen Oberfläche hinausgeht und sie damit unterfüttert. Das Prinzip der »Migration der Form« offenbart damit erneut seine Stärken im Erfassen von Differenzen und weniger im Erschließen einheitlicher Figuren und Muster. O que é a vida crua?/Was ist das bloße Leben? – Leben! Wir hoffen, dass zwischen dem Wissen der KünstlerInnen, dem unserer PartnerInnen in den Redaktionen, jenem der AusstellungsbesucherInnen und den kuratorischen Tableaus der Ausstellung in Kassel ein Polylog entstehen wird, in dem die Kultur der Übergänge, Übertragungen, Analogien und Brüche nicht als etwas Marginales, sondern als die fruchtbarste Form der Offenheit erscheint. GEORG SCHÖLLHAMMER
Die Videoinstallationen der beiden Künstler Mauricio Dias aus Brasilien und Walter Riedweg aus der Schweiz setzen die Lebensumstände von Menschen in Szene, die sich in einer Grauzone der Gesellschaft befinden. Innerhalb des informellen Sektors der favelas oder der Prostitution sieht sich das Individuum den willkürlichen Regeln und Gesetze dominierender Instanzen schutzlos ausgesetzt. Die im Rahmen der beiden auf der »documenta 12« vorgestellten Projekte erlaubten die direkte Auseinandersetzung mit der Thematik des »bloßen« oder »nackten Lebens«, die Roger M. Buergel und Ruth Noack in Anlehnung an Walter Benjamin und Giorgio Agamben im Kontext des zweiten Leitmotivs in den Fokus der Aufmerksamkeit stellten. Die provokative Frage nach dem unentwirrbaren Zusammenhang von unendlicher Lust und unendlichem Schrecken zielte auf die komplexe und ambivalente Verhandlung von Körperlichkeit im Spannungsfeld körperlicher Verletzlichkeit und Ekstase, die schließlich eine Vielschichtigkeit künstlerischer Praxis und ihrer Materialität und Medialität evoziert. Die brasilianische Kunsthistorikerin und Künstlerin Simone Osthoff, deren Forschungen sich vor allem auf zeitgenössische Medienkunst in Brasilien konzentrieren, erörtert in dem Aufsatz »The Political Ambivalence Of
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Cultural Remix«341 die Frage nach dem bloßen Leben und ihrem politischen und gesellschaftskritischen Potential in der brasilianischen Kunst seit der Moderne. Das Motiv der Ambivalenz von Erregung und Gewalttätigkeit, romantischer Utopie und brutalem Protest findet sich bereits in den Formulierungen des »Anthropophagischen Manifests« Oswald de Andrades. In jenem vermeintlichen Widerspruch liegt die gesellschaftskritische Sprengkraft brasilianischer Kunstproduktion verankert, die sich schließlich im Akt der kulturellen Mischung (remix), wie sie die antropofagia vorsieht, widerspiegelt. »It is often impossible to separate a negative aesthetics that privileges experimentation and absurd and violent forms from a romantic, idealist, or even functionalist and socially utopian aesthetics. As Oswald de Andrade already observed ›at the heart of every utopia there is not only a dream but also a protest.‹«342
Osthoff referiert über die künstlerischen Projekte Hélio Oiticicas Ende der 1960er Jahre, die im Zeichen der tropicália-Bewegung den Zusammenhang von Ästhetik und Ethik zum Programm machten und damit sozial- und institutionskritische Fragen aufwarfen, die bis heute die politisch motivierten Arbeiten zeitgenössischer brasilianischer KünstlerInnen stimulieren. »In a decade that radically mixed art and life, Oiticica, among others in the 1960s, took the artistic experience beyond the pictorial space and outside the frame and the ›neutral‹ zone of official art institutions.«343 Die intensive Auseinandersetzung mit der Kultur der sozialen Randgebiete bzw. in der Identifikation mit den Marginalisierten, legte Oiticica in einer gewissen Radikalität die Missstände der brasilianischen Gesellschaft offen. Gleichzeitig erkannte er in ihnen jedoch auch die Befreiung von sozialen Zwängen. »Ele mergulhou na cultura popular entendendo a marginalidade e as transgressões socias que ela involve, como espaço experimental, isto é como espaço radical – onde não sabe de antemão as regras de comportamento. E para Oiticica, essa experiência de liberdade dizia respeito não só às formas estéticas mas também éticas, já que como artista e homosexual ele confrontou a moral católica, patriarchal, machista e racista da sociedade Brasileira.«344
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Osthoff 2006 (der Aufsatz ist passagenweise in Englisch und Portugiesisch abgefasst). Osthoff 2006. Osthoff 2006. »Er tauchte in die Populärkultur ein. Marginalität und soziale Verstöße fasste er als experimentellen Raum auf, das heißt als radikalen Raum – in dem die Verhaltensregeln sich ständig ändern. Und für Oiticica bezog sich diese Erfahrung von Freiheit nicht allein auf die ästhetischen Formen, sondern auch auf die ethischen, denn als homosexueller Künstler sah er sich mit der katho-
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In der von Oiticica geprägten Frase »Seja Marginal, seja Héroi« (»Sei ein Außenseiter, sei ein Held!«), die der Künstler dem Gangster Cara de Cavalo widmete, manifestiert sich die Figur des Anti-Helden, heraufbeschworen in der brasilianischen Moderne und wiederbelebt in Zeiten der durch das Militärregime heraufbeschworenen Krise, ausgedrückt in den Forderungen nach freiheitlichem Ausdruck. Insgesamt ergab sich die Inszenierung der Marginalität in der Kunst der 1960er Jahre als Resultat der Suche nach einem Handlungsraum, der nicht von bürgerlichen Werten und den Interessen des Marktes besetzt war. Die körperbezogenen Metaphern des Kannibalismus, des Karnevals und des Hungers, die den Kern vieler revolutionärer Ästhetiken des 20. Jahrhunderts bildeten, verhalfen in der Untergrabung optischer und auditiver Eindrücke durch Verdauungs- und Sexualmetaphern die Unterschiede von Hoch- und Populärkultur zu verwirren. Osthoff erkennt in diesem Vorgehen eine Form der Kannibalisierung und Karnevalisierung, die nicht weit ab von der Ästhetik des in der antropofagia propagierten kulturellen remix’ zu verorten ist. Das Konzept des remix, das in der zeitgenössischen Medienkunst Brasiliens zunehmend an Bedeutung gewinnt, erhält vor diesem Hintergrund einen deutlich komplexeren Gehalt. Statt einer collagenhaften Nebeneinanderstellung verschiedener Elemente, erfolgt ein stetiges, experimentelles Abmischen einzelner intertextueller, in sich durchaus ambivalenter Teilmengen. Dies bezieht sich nicht nur auf den thematischen Gehalt, sondern auf die Verwendung unterschiedlicher Materialien und Medien, der Aktivierung unterschiedlicher Prozesse, Sprachen, Netzwerke, Konzepte etc.345 Auch die Arbeiten von Dias & Riedweg lassen sich auf dieser mehrdimensionalen Ebene lesen und interpretieren. Sie ergeben sich hochgradig kompatibel für ein Verständnis der übermittelten Botschaften aus verschiedenen Standpunkten sowie durch die unterschiedlichen Formen der sinnlichen Wahrnehmung. Schließlich ist die vermeintliche Widersprüchlichkeit von körperlicher Ekstase und Verletzlichkeit beiden Videoprojekten deutlich eingeschrieben und dies nicht nur aufgrund der behandelten Thematiken.
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lischen, patriarchalischen, macho-mäßigen und rassistischen Moral der brasilianischen Gesellschaft konfrontiert.« (Osthoff 2006; Übersetzung K.S.). Siehe dazu auch Mello 2006.
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O que poder ser feito?/Was tun? – Bildung: Neben der immer notwendigen Analyse und Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Machtapparaten des kulturellen Feldes […] gelte es, das Augenmerk noch einmal einem anderen Aspekt zuzuwenden. Das historische Projekt einer neuen ästhetischen Bildung sei dann nicht nur in den zentralen Arbeiten jener Zeit, sondern auch in den abgebrochenen Projekten, den verdrängten, verqueren Zugängen, verwundenen Wegen, verborgenen, korrumpierten und ins Negativ gewendeten Utopien wieder für die Gegenwart zu entdecken. GEORG SCHÖLLHAMMER
Vor dem Hintergrund des dritten Leitmotivs, das das ästhetisch-edukative Potential von Kunst in der Gegenwart als Alternative zur akademischen Didaktik und dem Warenfetischismus zur Debatte stellte, geriet auch die Frage nach einer adäquaten und kritischen Kommentierung globaler Verhältnisse in den Blick. Hier soll der Beitrag »Geopolítica da cafetinagem« der brasilianischen Psychoanalytikerin Suely Rolnik vorgestellt werden, in dem sie die (un-)kritischen Adaptionsformen der antropofagia in der brasilianischen Gesellschaft als Konzept der (kulturellen) Anpassung in der rezenten Vergangenheit überdenkt. Die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen beherrscht die brasilianische Kunst seit langem, darüber ist bereits ausführlich referiert worden. Das in der Kolonialzeit gründende ambivalente Verhältnis zwischen Brasilien, Europa und schließlich den USA, das sich bis heute durch Momente der Anerkennung und Ablehnung, Einverleibung und Aussonderung charakterisiert, prägt die künstlerische Theorie und Praxis maßgeblich. Im Blick auf die zeitgenössische Kunstproduktion Brasiliens und im Rückblick auf die Jahre vor 2000 lässt sich jedoch eine interessante Beobachtung machen: erst seit Mitte der 1990er Jahre ist – mit sehr wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel den theoretischen Reflexionen Lygia Clarks – eine kritische Einstellung zur kapitalistischen Ordnung sichtbar, die die Welt spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einer globalen Ebene beherrscht. Der Kapitalismus und seine Mechanismen kognitiver Manipulation bestimmten im Europa und den USA der 1990er die kritischen Ansätze und Debatten innerhalb der Kunstproduktion und auch in Bezug auf die Kunst selbst. »No Brasil, curiosamente este debate só se esboça a partir da virada do século, com uma parcela da nova geração de artistas que começa a ter expressão pública naquele momento, organizando-se
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freqüentemente nos assim chamados ›coletivos‹.«346 Rolnik liefert mit ihrem Text eine Erklärung für das späte Erkennen und Hinterfragen des, wie die Autorin ihn nennt, »kognitiven Kapitalismus« (»capitalismo cognitivo«), der die Subjektivität des Individuums der heutigen Zeit immerhin erheblich beeinflusst. Sie führt das Verkennen oder die unkritische Annahme des Fetisch-Charakters des Kapitalismus in Brasilien auf eine bestimmte Art und Weise der kulturanthropophagen Praxis zurück, das heißt auf eine spezifischen Form der kulturellen Aneignung und Subjektivierung im Zeichen der antropofagia. In Anlehnung an Oswald de Andrade nennt sie diese spezielle Form »niedere Anthropophagie« (»baixa antropofagia«): »É que a antropofagia em si mesma é apenas uma forma de subjectivação, de fato distinta da política identitária. No entanto, isto não garante nada pois esta forma pode ser investida segundo diferentes éticas, das mais críticas às mais execravelmente reacionárias, o que Oswald de Andrade apontava já nos anos 1920, designado estas últimas de ›baixa antropofagia‹.«347
Man erinnere sich an dieser Stelle an Gavin Adams, der der antropofagia diskursive Lücken diagnostiziert hat und darauf hinwies, dass der eindeutige Vorgang der kulturkannibalistischen Verwertung nicht näher beschrieben wurde und damit relativ willkürlich interpretier- und praktizierbar wird. Die Praxis der »niederen Anthropophagie« zeichnet sich durch eine naive, unkritische und jeder Subversivität bare Übernahme aller möglichen Eindrücke von außen aus. Die Protagonisten werden zu so genannten »anthropophagen Zombies« (»zumbis antropofágicos«). »Neste país, ficamos embevecidos por sermos tão contemporâneos, tão à vontade na cena internacional das novas subjetividades pós-identitárias, de tão bem aparelhados que somos para viver esta flexibilidade pós-fordista (o que nos torna por exemplo campeões internacionais de publicidade e nos posiciona entre os grandes no ranking mundial das estratégias midiáticas. No entanto, esta é apenas a forma que tomou a voluptuosa e alienada entrega a este regime em sua aclimatação em terras brasileiras,
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»In Brasilien zeichnete sich diese Debatte erst ab der Jahrhundertwende ab, als eine Parzelle der neuen Generation von KünstlerInnen öffentliche Aufmerksamkeit erlangte und sich regelmäßig in so genannten ›Kollektiven‹ organisierte.« (Rolnik 2006; Übersetzung K.S.). »Die antropofagia ist selbst lediglich eine Form von Subjektivierung, die sich aber de facto von Identitätsfindungspolitik unterscheidet. Dies sagt allerdings wenig aus, denn diese Form kann nach verschiedenen ethischen Vorstellungen eingesetzt werden, von den kritischsten bis hin zu den absolut reaktionärsten. Letztere bezeichnete Oswald de Andrade schon in den 1920er Jahren als ›niedere Anthropophagie‹.« (Rolnik 2006; Übersetzung K.S.).
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fazendo de seus habitantes, principalmente os urbanos, verdadeiros zumbis antropofágicos.«348
Rolnik spricht von der Entwicklung einer geopolitischen Form von »Zuhälterei« (»cafetinagem«) durch das kapitalistische System, die auch die Kunstwelt, lokal wie global, durchdringt. Erst in der letzten Zeit wird man sich, so Rolnik, über diesen Zustand bewusst, was zu einem Bruch mit dem Fetisch führt. Dies zeige sich anhand verschiedener Strategien des individuellen und kollektiven Widerstands auf Initiative einer neuen Generation, die sich nicht vollkommen mit dem vorgegebenen Existenzmodell identifiziert und sich gegen seine Machenschaften stellt. Das Wissen um den ambivalenten Charakter der antropofagia als Prinzip der Anpassung ist hier von besonderer Bedeutung, da die Schwachstellen aufgezeigt und die positiven Aspekte – auch für eine Reflexion auf globaler Ebene – reanimiert werden können. Das Projekt »NBP« Ricardo Basbaums kann als Beispiel für ein Unternehmen gelten, das sich der Frage »Was tun?« in diesem Sinne annahm. Es gab den Beteiligten auf mehreren Ebenen die Möglichkeit, über die eigene Positionierung in der Zeitgenossenschaft und diversen Zirkulationssystemen zu reflektieren. Die Medialität spielte für den Reflexionsprozess eine wesentliche Rolle. Künstlerische Vermittlung als Prozess kultureller Übersetzung zu verstehen, ist grundsätzlich zur Strategie Basbaums Arbeiten geworden. Im Mittelpunkt steht dabei stets das Individuum, das sich als ein Teil von Gemeinschaft zu verstehen hat. Im Prozess der Bildung von Beziehungen und Gemeinschaften gilt es, das Eigene stets zu bewahren, ohne jedoch in stereotypen identitären Mustern zu verharren. Das Entscheidende von Kunst sei ihr »Potenzial als Instrument künstlerisch-politischer Strategien« zu fungieren »und neue sensorische und sprachliche Möglichkeiten zu finden.«349 Die nationale Kodierung spielt in der Zusammenkunft einzelner Individuen keine bedeutende Rolle. Dies heißt aber nicht, die eigene Herkunft zu verleugnen. Die antropofagia bleibt als Instrument der kritischen Selbstreflexion das wichtigste Element der brasilianischen Kultur und ihre Verortung in einem globalen Zusammenhang. »Als Geste impliziert die Aneignung von Antropofagia als nützliche Strategie für das 21. Jahrhundert,
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»In diesem Land sind wir davon hingerissen, so zeitgenössisch zu sein, so ungezwungen in der internationalen Szene der neuen postidentitären Subjektivitäten, so gut dafür ausgerüstet, die postfordistische Flexibilität zu leben (was uns beispielsweise zum Reklame-Weltmeister macht und uns an die Spitze weltweiter Rankings der Medienstrategien positioniert). Derweil ist es nur die Form, die zu dieser wollüstigen und irren Auslieferung an dieses sich gerade in Brasilien akklimatisierende Regime führt und seine Einwohner, vor allem die städtischen, zu wahren anthropophagischen Zombies macht.« (Rolnik 2006; Übersetzung K.S.). Basbaum 2005a: 66.
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das ideale Brasilien – samt seiner Ursprünge, seinem festen Profil und seinen Stereotypen – gewissermaßen zu vergessen und etwas zu propagieren, was man als eine funktionale, zu einem spezifischen künstlerischen und kulturellen Moment gehörende Besonderheit sehen könnte.«350
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Basbaum 2005a: 66.
Fazit
Niemand wird begreifen oder sagen, das ist das Ende, sondern: Jetzt kommen ganz neue Möglichkeiten. ARNOLD BODE
Neue Möglichkeiten werden sich auch nach dem Ende der »documenta 12« mit der »documenta 13« ergeben. Neue Möglichkeiten, Kunst und die Welt zu betrachten. Neue Diskurse zu entfachen, an vorangegangene anzuknüpfen. Die künstlerische Leiterin der kommenden documenta Carolyn Christov-Bakargiev wird für das Jahr 2012 neue Wege gehen. Die aufgeworfenen Fragen nach den Globalisierungsmechanismen, die die globale Kunstwelt formen, werden sich in der Rezeption der »documenta 13« erneut stellen. Denn die globale Kunstwelt ist ein Raum der Möglichkeiten. Dies hat die vorliegende Dissertation gezeigt. Sie hat sich der Erschließung der zeitgenössichen globalen Kunstwelt und der ihr inhärenten Globalisierungsmechanismen in drei theoretischen Schritten genähert, um mit der Betrachtung der documenta und der brasilianischen documenta-Beiträge den vierten Schritt zu einer exemplarischen Bestandsaufnahme der globalen Kunstwelt zu machen. Von grundlegender Bedeutung der kulturwissenschaftlich-ethnologischen Analyse der globalen Kunstwelt war es, letztere als komplexes Diskursgeflecht zu begreifen. Denn infrastrukturelle Verbindungen zwischen Kunstinstitutionen, die sich an verschiedenen Orten der Welt befinden und die Bewegungen von Kunst und Künstlern/innen bilden nur eine der vielen Dimensionen von Globalisierung. Zwei besonders wichtige Globalisierungsdimensionen wurden in den ökonomischen Dynamiken und dem Zusammentreffen kultureller Differenzen innerhalb der globalen Kunstwelt erkannt und analysiert. Während die Auseinandersetzung mit kultureller Diversität zu den Kernthemen kulturwissenschaftlicher Globalisierungsforschung gehört, werden wirtschaftliche Aspekte selten in diesen Kontext einbezogen. Da sie jedoch zu den Triebkräften globaler Entwicklungen gehören, sind sie unbedingt zu
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beachten. Die globale Kunstwelt ist beispielsweise nicht ohne die Kenntnis der Verläufe des internationalen Kunstmarkts zu denken. Er beschränkt sich nicht auf die Preisbildungsmechanismen des Kunsthandels, sondern durchdringt diverse Institutionen der Kunstwelt. Durch die Beachtung wirtschaftlicher Momente innerhalb der documenta-Geschichte ließ sich herausstellen, dass der weitreichende internationale Einfluss der documenta wesentlich von ökonomischen Faktoren bestimmt ist. Allein im Blick auf die vielfältigen Finanzierungsstrategien der Ausstellungsserie offenbarten sich die engen Verzahnungen von Wirtschaft und Kunst auf mehreren Ebenen. Die Ökonomie zeigt sich hier nicht als feindlicher Gegenspieler der Kunst, sondern als fundamentales Element der Kunstwelten im Allgemeinen, auch wenn häufig das Gegenteil behauptet wird. Natürlich ergeben sich durch unterschiedliche wirtschaftliche Voraussetzungen verschiedener gesellschaftlicher Milieus oder verschiedener Regionen der Welt ungleiche Voraussetzungen für die Präsenz und damit den Erfolg von Künstlern/innen auf einer globalen Ebene. Jeder Versuch, ökonomische Einflüsse zur Beilegung solcher Dissonanzen innerhalb der globalen Kunstwelt zu ignorieren oder auszuschalten, ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Die Förderung von internationalen Kunst- und Ausstellungsprojekten wie der documenta kann dagegen zu einer Relativierung der ökonomisch basierten Ungleichheiten beitragen, da sie KünstlerInnen weltweit. Das Hauptaugenmerk der Dissertation richtete sich auf Verhandlungsformen kultureller Differenzen innerhalb der globalen Kunstwelt. Spätestens seit dem Aufkommen der Moderne-Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Überschneidungen und Übertragungen diverser kultureller Elemente in der bildenden Kunst zum Thema künstlerischer wie theoretischer Auseinandersetzungen geworden. Mit dem Aufkommen postkolonialistischer Debatten und im Zuge der kritischen Bewertung von Globalisierungsprozessen, die die Kunstwelten weltweit betreffen, gelangte das Thema in den Mittelpunkt künstlerischer, kunst- und kulturtheoretischer Diskurse. Dies ließ sich schließlich anhand der Entwicklungslinien der kuratorischen Konzepte der documenta von 1992 bis 2007, die sich zunehmend der Teilnahme außereuropäischer KünstlerInnen öffneten und den Dialog zwischen verschiedenen Kunstwelten förderten, sehr deutlich darlegen. Ähnliche Ansprüche werden im Blick auf die zahlreichen Biennalen, die sich der Repräsentation lokaler Kunstwelten verschrieben haben, sichtbar. Grundsätzlich ging es im Kontext der letzten drei documenta-Projekte und der meisten Biennalen darum, das immer noch bestehende Ungleichgewicht zwischen Künstlern/innen aus Regionen der Welt, die weniger Präsenz in der globalen Kunstwelt zeigen, und der dominanten Gruppe von Künstlern/innen aus Europa und den USA auszutarieren, indem Kunstproduktionen der erstgenannten Gruppe eine höhere Aufmerksamkeit durch die globalisierten Institutionen erhalten. Um diese Entwicklungen analytisch sinnvoll erfassen zu können, war es notwendig, ein theoretisches Korpus zu erstellen, das sich aus Ansätzen ver-
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schiedener Disziplinen zusammensetzte. Vor allem die Reflexion des brasilianischen kunst- und kulturtheoretischen Konzepts der antropofagia konnte die kulturwissenschaftliche Perspektive der Arbeit maßgeblich erweitern. Die antropofagia formuliert die Praxis des kulturellen Kannibalismus, die auf Narrativen der Einverleibung und der organischen, selektiven Verwertung zunächst ›fremder‹ Kulturelemente basiert. Der Vorgang zielt nicht auf homogenisierende Assimilierung ab, sondern auf produktive Heterogenisierung. In Reaktion auf die unmittelbaren Folgen des Kolonialismus, im Umfeld der brasilianischen Moderne und auf der Suche nach nationaler Identität entstanden, verknüpft die antropofagia das Moment kultureller Diversität mit Fragen nach dem kulturellen Ursprung, ›Authentizität‹ und nationaler/kultureller Identität. Daraus ergibt sich ein Modell für ein kreatives Assimilieren kultureller Unterschiede, das kulturelle Pluralität grundsätzlich befürwortet und jeglichen Vorstellungen kultureller ›Reinheit‹ eine Absage erteilt. Anders als in diversen Hybriditätskonzepten wie beispielsweise in der Theorie des kulturellen »Da-Zwischens« von Homi K. Bhabha werden vorherrschende Oppositionen aufgehoben, dabei entstandene Widersprüchlichkeiten, Ungewissheiten und Ambivalenzen jedoch nicht als Dilemmata, sondern als positive Momente der Identitätsfindung interpretiert und aktiviert. Auf diese Weise mündet der Vorgang kultureller Vermischung weder in einer naiven, unkritischen Einebnung kultureller Unterschiede, noch verharrt er im Akt subversiven Aufbegehrens. Innerhalb der brasilianischen Kunst und Kultur sowie in den brasilianischen Sozialwissenschaften ist das Konzept der kulturellen Anthropophagie immer wieder rezipiert und interpretiert worden. In Anbetracht der Globalisierungseffekte, die mittlerweile in allen Teilen der Welt Räume des Aufeinandertreffens kultureller Differenzen schaffen, kann es für die kulturelle Globalisierungsforschung von Bedeutung sein. Für die Analyse der documenta und der brasilianischen Beiträge ergab sich das Konzept jedenfalls als vielfältig anschlussfähig. Die theoretische Beschäftigung mit der antropofagia hatte den Blick für die Betrachtung der Ausstellungskonzepte dafür sensibilisiert, die jeweiligen Ansätze der künstlerischen LeiterInnen in Bezug auf die geführten kulturellen Globalisierungsdebatten neu zu ermitteln und zu deuten. Dabei stellte sich heraus, dass gerade die »documenta 12« den größten Raum für einen umfassenden, differenzierten Globalisierungsdiskurs geboten hatte. Entgegen der vehementen Vorwürfe, Roger M. Buergel und Ruth Noack hätten mit der »documenta 12« den von Catherine David und Okwui Enwezor aufgeworfenen, politisch orientierten Globalisierungsdiskurs unterbrochen und sich auf eine unkritische, rein ästhetische Ebene der Kunstpräsentation und -kritik (zurück-) begeben, ließ sich im Vorgehen der beiden Kuratoren/innen ein durchaus ambitionierter Ansatz erkennen. Die »documenta 12« zeichnete sich durch ihre zunächst ›willkürlich‹ und ›konzeptlos‹ wirkende Nebeneinanderstellung von Kunstwerken unterschiedlicher Herkunft, Stile und Epochen aus, die mit dem ästhetischen Konzept der »Migration der Form« begründet
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wurde. Ergänzt wurde die Ausstellung von einem breit angelegten Zeitschriftenprojekt, das über 90 Redaktionen weltweit zur Reflexion von drei Fragen aufforderte und damit einen global ausgerichteten Diskurs stimulierte. Wenn die documenta »ihr Selbstverständnis als breitenwirksamer Ordnungsfaktor im unübersichtlichen Gelände der zeitgenössischen Kunst«1 bisher trotz aller Kritik aufrechterhalten konnte, so schien dieser Anspruch mit der »documenta 12« gebrochen worden zu sein. Unbewusst den Prinzipien der antropofagia folgend enthüllten die AusstellungsmacherInnen mit dieser scheinbaren Unübersichtlichkeit, Unordnung und ›Willkür‹ das kreative Potential des Ausstellungsprojekts als Präsentationsplattform globaler zeitgenössischer Kunst. Die »documenta 12« bot in der Verbindung des ästhetischen Konzepts mit dem diskursiven Zeitschriftenprojekt ein viel dichteres Repertoire an Informationen und Interpretationsmöglichkeiten des globalen Kunstdiskurses, als jede andere documenta zuvor. Durch die Offenheit des Zugangs zu den Werken, wurde ein Raum der Möglichkeiten geschaffen, der dem documenta-Publikum, das sich durch seine Internationalität auszeichnet, keine festgeschriebene Perspektive auf die Werke vorgab. Die durch die Konzeption der Ausstellung vermittelte Sicht auf die Kunst von Buergel und Noack bildete nur den Ausgangspunkt einer individuellen Betrachtungsweise, die sich in unterschiedliche Richtungen entfalten konnte. Mit der Analyse der auf der »documenta 12« gezeigten Kunstwerke brasilianischer KünstlerInnen sowie mit der Lektüre ausgewählter Texte brasilianischer Autoren/innen im Rahmen des Zeitschriftenprojekts ergab sich ein differenzierter Blick auf die zeitgenössische Kunstproduktion brasilianischer KünstlerInnen im globalen Kontext. Er ging vor allem über die Rezeption der Kunst auf einer rein ästhetischen Oberfläche deutlich hinaus und erlaubte ein besseres Verständnis der künstlerischen Positionen. Auf den speziellen theoretischen Kontext der vorliegenden Arbeit bezogen konnte die Lektüre der Zeitschriftenbeiträge zudem den theoretischen Ansatz der antropofagia um Aspekte ihrer aktuellen Rezeption erweitern. Es ist vielfach behauptet worden, die »documenta X« und die »Documenta11« seien dem politischen Anspruch einer kritischen Reflexion der globalen Kunstwelt näher gekommen als die »documenta 12«. Im direkten Vergleich mit der »documenta X«, die sich konkret dem ›Politischen‹ gewidmet hatte und ebenfalls einen breiten Diskursrahmen geboten hatte, waren aber weder die lokalen noch die globalen die Zusammenhänge, in denen die gezeigten brasilianischen Arbeiten aus den 1960er/1970er Jahren standen, so tiefgründig nachvollziehbar. Der kritisch-theoretische Diskurs beschränkte sich auf die von den Kuratoren/innen vorgegebenen Fragestellungen und auf die Beiträge der direkt beteiligten Akteure – auch wenn vor allem Enwezor die räumlichen und zeitlichen Grenzen der documenta überschritten hatte.
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Die globale Kunstwelt zeichnet sich schließlich durch eine hohe kulturelle Diversität aus, die sich niemals in allen Facetten erfassen lässt. Die documenta-Projekte IX bis 12 hatten die Rolle zeitgenössischer Kunst der Gegenwart auf einer globalen Ebene zur Diskussion gestellt. Von documenta zu documenta haben sich die Diskurse über globale Kunsttheorie und -praxis aufgrund der sich ständig verschiebenden globalen Konstellationen innerhalb der Kunstwelt gewandelt und angesichts ihrer Vielschichtigkeit verdichtet. In der Wahrnehmung eines kulturellen Nebeneinanders scheinen sich zunehmend diejenigen Debatten aufzulösen, die hartnäckig die Trennung einer ›westlichen‹ Kunstwelt von ›nicht-westlichen‹ Kunstwelten aufrechterhalten. Dass solche binären Einteilungen der Welt nicht mehr schlüssig sind – wenn sie denn je schlüssig waren – ist mit den komplexen, wechselseitigen Verzahnungen globaler Lebenswelten zu begründen. Dass sich die brasilianische Kultur beispielsweise nicht im Kontrast zu anderen, wie auch immer kodierten kulturellen Räumen abgrenzen lässt, sondern sich im globalen Zusammenhang formiert, zeigte sich in der in dieser Studie vorgelegten Analyse des theoretischen Konzepts der antropofagia und der brasilianischen Beiträge auf der documenta deutlich. Globalisierung wurde in den intensivierten und verdichteten internationalen Beziehungen und Wechselwirkungen erkannt. An der Entwicklung der documenta ließen sich eindeutige Globalisierungsprozesse ablesen. Man kann sogar von einer Verdinglichung der Globalisierung in den Ausstellungsprojekten sprechen. Damit bestätigt sich erneut, dass sich die globale Kunstwelt in Ereignissen oder Institutionen wie der documenta manifestiert und analytisch erfassbar wird. Und sich kontinuierlich mit ihnen wandelt. Für das Jahr 2012 wird die documenta von Carolyn Christov-Bakargiev kuratiert. Sie wird einen neuen Möglichkeitsraum der globalen Kunstwelt schaffen.
Anhang
ANTHROPOPHAGISCHES M ANIFEST Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck jeglicher Individualismen, jeglicher Kollektivismen. Jeglicher Religionen. Jeglicher Friedensverträge. Tupí or not tupí that is the question. Gegen alle Katechesen. Und gegen die Mutter der Gracchen. Mich interessiert nur, was nicht mein ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen. Wir sind der in Szene gesetzten argwöhnischen katholischen Ehemänner müde. Freud hat dem Rätsel Frau und anderen Schreckgespenstern der gedruckten Psychologie ein Ende bereitet. Was die Wahrheit behinderte war die Kleidung, das Undurchdringliche zwischen der inneren und der äußeren Welt. Die Reaktion gegen den bekleideten Menschen. Das amerikanische Kino wird berichten. Söhne der Sonne, Mutter der Lebenden. Angetroffen und gewaltsam geliebt, mit aller Scheinheiligkeit der Sehnsucht, von den Eingewanderten, von den Reisenden und von den Touristen. Im Land der großen Schlange. Es geschah, weil wir weder eine Grammatik hatten, noch Sammlungen getrockneter Pflanzen. Und wir haben nie gewusst, was urban, suburban, angrenzend und kontinental war. Müßiggänger auf der Weltkarte Brasiliens. Ein teilnehmendes Bewusstsein, ein religiöser Rhythmus. Gegen alle Importeure konservierten Bewusstseins. Die greifbare Existenz des Lebens. Und die prälogische Mentalität, die Herr Lévy-Bruhl studieren möge. Wir wollen die karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Vereinigung aller wirksamen Revolten zugunsten des Menschen. Ohne uns hätte Europa nicht einmal seine armselige Menschenrechtserklärung. Das goldene Zeitalter verkündet von Amerika. Das goldene Zeitalter. Und all die girls.
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Abstammung. Der Kontakt mit dem karibischen Brasilien. Ori Villegaignon print terre. Montaigne. Der Naturmensch. Rousseau. Von der Französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution und zum technisierten Barbaren von Keyserling. Wir wandern… Wir sind nie katechisiert worden. Wir leben nach einem schlafwandlerischen Gesetz. Wir haben Christus in Bahia zur Welt kommen lassen. Oder in Belém do Pará. Aber nie akzeptieren wir die Geburt der Logik unter uns. Gegen Padre Vieira. Urheber unserer ersten Anleihe, um eine Kommission zu erhalten. Der Analphabetenkönig habe ihm gesagt: Bring dies zu Papier, aber mit nicht allzu viel Zungenfertigkeit. Die Anleihe wurde getätigt. Man versetzte den brasilianischen Zucker. Vieira ließ das Geld in Portugal und brachte uns die Zungenfertigkeit. Der Geist weigert sich, den Geist ohne Körper zu begreifen. Der Anthropomorphismus. Die Notwendigkeit einer anthropophagischen Impfung. Ein Gegengewicht gegen die Religionen des Meridians erzeugen. Und die äußeren Inquisitionen. Wir können nur der überlieferten Welt zuhören. Wir hatten die Gerechtigkeit, Kodifizierung der Rache. Die Wissenschaft, Kodifizierung der Magie. Anthropophagie. Die ständige Verwandlung von Tabu in Totem. Gegen die wiederkehrende Welt und die zweckmäßigen Ideen. Kadaverisiert. Der Stop des Denkens, das dynamisch ist. Das Individuum Opfer des Systems. Quelle der klassischen Ungerechtigkeiten. Der romantischen Ungerechtigkeiten. Und das Vergessen der inneren Eroberungen. Reisewege. Reisewege. Reisewege. Reisewege. Reisewege. Reisewege. Reisewege. Der karibische Instinkt. Tod und Leben der Hypothesen. Von der Gleichung Ich als Teil des Kosmos zum Axiom Kosmos als Teil des Ichs. Bestand. Wissen. Anthropophagie. Gegen die vegetarischen Eliten. In Austausch mit dem Erdboden. Nie waren wir katechisiert. Was wir machten war der Karneval. Der Indio verkleidet als Senator des Imperiums. Pitt nachahmend. Oder in den Opern von Alencar auftretend, voll von portugiesischen guten Gefühlen. Wir hatten schon den Kommunismus. Wir hatten schon die surrealistische Sprache. Das goldene Zeitalter. Catiti Catiti Imara Notiá Notiá Imara Ipeju Die Magie und das Leben. Wir hatten die Verbindung und die Verteilung der physischen Güter, der moralischen Güter, der würdevollen Güter.
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Und wir wussten das Geheimnis und den Tod mit Hilfe einiger grammatischer Formeln zu transponieren. Ich fragte einen Mann, was das Gesetz sei. Er antwortete mir, es sei die Garantie die Möglichkeit auszuführen. Dieser Mann hieß Galli Mathias. Ich aß ihn. Nur gibt es keinen Determinismus, wo das Mysterium herrscht. Aber was geht uns das an? Gegen die Geschichten des Menschen, die am Kap Finisterre begannen. Die undatierte Welt. Nicht eingeteilt. Ohne Napoleon. Ohne Cäsar. Die Festsetzung des Fortschritts in Katalogen und über Fernsehapparate. Nur die Maschinerie. Und die Bluttransfusoren. Gegen die gegensätzlichen Erhabenheiten. Gebracht von Karavellen. Gegen die Wahrheit der missionierten Völker, definiert durch den Scharfsinn eines Anthropophagen, den Visconde de Cairu: – Es ist eine vielfach wiederholte Lüge. Aber es waren keine Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Flüchtige einer Zivilisation, die wir uns einverleiben, weil wir stark und rachsüchtig wie der Jaboti sind. Wenn Gott das Bewusstsein des Universums ist, ist Guaraci die Mutter der Lebenden. Jaci ist die Mutter der Pflanzen. Wir haben keine Spekulation betrieben. Wir betrieben Weissagung. Wir hatten eine Politik, die die Wissenschaft der Verteilung ist. Und ein sozialplanetarisches System. Die Migrationen. Die Flucht aus den verdrießlichen Zuständen. Gegen die städtischen Sklerosen. Gegen die Konservatorien und den spekulativen Überdruss. Von William James und Voronoff. Die Verwandlung von Tabu in Totem. Anthropophagie. Der pater familias und die Schöpfung der Storchenmoral: die wahre Ignoranz der Dinge + Sprache der Vorstellungskraft + Autoritätsgefühl vor der neugierigen Nachkommenschaft. Man muss von einem grundlegenden Atheismus ausgehen, um zur Idee Gottes zu gelangen. Aber der Karibe braucht das nicht. Weil er Guaraci hat. Das erdachte Ziel reagiert mit den gefallenen Engeln. Daraufhin streift Moses umher. Was haben wir damit zu tun? Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckt hatten, hatte Brasilien das Glück entdeckt. Gegen den Indio als Fackelträger. Der Indio als Sohn Marias, Patenkind von Catarina de Medici und Schwiegersohn von D. Antônio de Mariz. Die Freude ist die Neunerprobe. Im Matriarchat von Pindorama. Gegen die Erinnerung, Quelle der Brauchtümer. Die erneuerte persönliche Erfahrung. Wir sind Konkretisten. Die Ideen nehmen sich der Sache an, reagieren, verbrennen Leute auf öffentlichen Plätzen. Überwinden wir die Ideen und
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die anderen Lähmungserscheinungen. Auf Reisewegen. Den Zeichen glauben, den Instrumenten und den Sternen. Gegen Goethe, die Mutter der Gracchen und den Hof von D. João VI. Die Freude ist die Neunerprobe. Der Kampf gegen die, die man Nicht-Geschaffene und Geschaffene nennen könnte – verbildlicht durch den ständigen Widerspruch des Menschen und seinem Tabu. Die tägliche Liebe und der kapitalistische modus vivendi. Anthropophagie. Die Aufnahme des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwandeln. Das menschliche Abenteuer. Der irdische Zweck. Jedoch vermögen nur die unverfälschten Eliten die leibliche/sinnliche Anthropophagie zu verwirklichen, die in sich den höchsten Sinn des Lebens trägt und alle von Freud identifizierten Übel vermeidet, katechisierte Übel. Was eintritt ist nicht die Erhebung des sexuellen Instinkts. Es ist die thermometrische Skala des anthropophagen Instinkts. Sinnlich wird er wählerisch und erzeugt Freundschaft. Affektiv, die Liebe. Spekulativ, die Wissenschaft. Er weicht aus und überträgt sich. Wir gelangen zur Erniedrigung. Die niedere Anthropophagie, die sich in den Sünden des Katechismus angesammelt hat – Neid, Wucher, Verleumdung, Mord. Es ist die Seuche der so genannten gesitteten und christlichen Völker, gegen die wir handeln. Anthropophagen. Gegen Anchieta, elftausend Jungfrauen des Himmels lobpreisend, im Land von Iracema, – der Patriarch João Ramalho, Gründer von São Paulo. Unsere Unabhängigkeit wurde immer noch nicht ausgerufen. Ein typischer Satz D. Joãs VI.: – Mein Sohn, setze diese Krone auf Dein Haupt, bevor es irgendein Abenteurer tut! Wir vertreiben die Dynastie. Man muss den Geist der Bragança vertreiben, die Anordnungen und den Schnupftabak von Maria da Fonte. Gegen die soziale, angezogene und unterdrückende Wirklichkeit, niedergeschrieben durch Freud – die Wirklichkeit ohne Komplexe, ohne Verrücktheit, ohne Prostitutionen und ohne Strafvollzugsanstalten des Matriarchats Pindoramas. Oswald de Andrade In Piratininga Im Jahr 374 der Verdauung des Bischofs von Sardinha (Übersetzung K.S.)
Nachweise der Bildzitate
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