Zum Subjekt der Gene werden: Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs [1. Aufl.] 9783839422830

Nicht zuletzt die Debatte um Angelina Jolie im Frühjahr 2013 zeigte: Die medizinische Erforschung genetischer Krankheits

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German Pages 288 Year 2014

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Inhalt
Danksagung
0. Einleitung: Fragestellung und Aufbau der Arbeit
1. Die gesellschaftliche Dimension der Genetik: Begrifflichkeiten und historische Hinführung
1.1 Subjekt und Subjektivierung
1.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Kritischen Theorie
1.3 Medizin und Körperverhältnis
1.4 Biopolitik
1.5 Ideologie und Diskurs
2. Methodischer Zugang
2.1 Empirisches Forschen und Kritische Theorie
2.1.1 Die Anfänge: Interdisziplinärer Materialismus
2.1.2 Erste „wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“
2.1.3 Die „Studien zum autoritären Charakter“
2.1.4 Die Nachkriegszeit in Frankfurt
2.1.5 Positivismuskritik im Positivismusstreit
2.1.6 Fazit
2.2 Qualitative Forschung und die Tradition der Kritischen Theorie
2.3 Die gewählte Methode
2.3.1 Grundlagen
2.3.2 Erhebung der Daten
2.3.3 Auswertung
3. Der BRCA-Diskurs
3.1 Allgemeine gesundheitspolitische Entwicklungen
3.2 Die Genetisierung der Krebsforschung
3.2.1 Die Verschiebung der Krebsursachen
3.2.2 Die Metaphorik der Genetisierung
3.3 Die Produktion genetischer Verantwortung: BRCA-Gentests in Deutschland
3.3.1 Das Verbundprojekt „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“
3.3.2 Kritik der genetischen Grundannahmen
3.3.3 Kritik der angebotenen Präventionsmaßnahmen
3.3.4 Die Fachdiskussion in Deutschland über die BRCA-Testung
3.3.5 Analyse von Informationsmaterialien des Verbundprojektes
3.3.6 Analyse der humangenetischen Beratungsgespräche
4. Verkörperungen des genetischen Risikos: Stand der Forschung
4.1 Quantitative Studien
4.1.1 Gründe für den Test
4.1.2 Konsequenzen des Tests
4.1.2.1 Psychische Konsequenzen des Testergebnisses
4.1.2.2 Kommunikation innerhalb der Familie
4.1.2.3 Entscheidung für Maßnahmen
4.2 Qualitative Studien
4.2.1 ‚Gründe‘ für die Untersuchung
4.2.1.1 Prävention als Verpflichtung und Recht
4.2.1.2 Bedürfnis nach Überwachung
4.2.1.3 Familienbezug und ‚weibliche‘ Fürsorge?
4.2.2 Subjektive Krankheitstheorien und Vorstellungsbilder
4.2.3 Risikowahrnehmung
4.2.4 ‚Konsequenzen‘ der Untersuchungen
4.2.4.1 Management des Risikos und Kontrolle
4.2.4.2 Kontrolle als Illusion
4.3 Fazit
5. Zum Subjekt der Gene werden? Selbstbeschreibungen in Interviews
5.1 Vorstellung der Interviewten
5.2 Themenfelder der Interviews
5.2.1 ‚Entscheidung‘ und Verhältnis zu Ärzten
5.2.1.1 Informierte Entscheidung – Typ 1
5.2.1.2 Vertragspartnerschaft mit den Ärzten – Typ 1
5.2.1.3 ‚Keine Entscheidung‘ und Agency der Ärzte – Typ 2
5.2.1.4 Entscheidung als Wahl der ‚richtigen Ärzte‘ – Typ 2B
5.2.1.5 Fazit
5.2.2 Gründe für den Test und Wahrnehmung als Risikoperson
5.2.2.1 Genannte Gründe für den Test
5.2.2.2 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 1
5.2.2.3 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 2
5.2.2.4 Die Präsenz der Familie
5.2.3 Vorstellungen vom Gen
5.2.3.1 Keine (bildliche) Vorstellung
5.2.3.2 Explizierte Vorstellungen
5.2.4 Subjektive Krankheitstheorien
5.2.4.1 Unbestimmtheit der Ursachen
5.2.4.2 Psychosomatische Ursachentheorien
5.2.4.3 Psychosomatik in Form der self-fulfilling prophecy
Exkurs: Die Geschichte psychosomatischer Vorstellungen
5.2.5 Management und Kontrolle der Krankheit
5.2.5.1 Krankheit als Risiko – Typ 1
5.2.5.2 Umgang mit der Unsicherheit – Typ 2
5.2.5.3 Eine paradoxe Anforderung
6. Zusammenfassung
Literatur
Anhang
Legende und Transkriptionsregeln
Leitfaden für die Interviews mit betroffenen Frauen
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Zum Subjekt der Gene werden: Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs [1. Aufl.]
 9783839422830

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Andrea zur Nieden Zum Subjekt der Gene werden

KörperKulturen

Für meine Eltern

Andrea zur Nieden (Dr. phil.), Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie arbeitet u.a. zur Soziologie und Geschichte der Medizin und des Körpers.

Andrea zur Nieden

Zum Subjekt der Gene werden Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs

Bei diesem Buch handelt sich um die leicht veränderte Fassung einer Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Br. angenommen wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: ~lonely~- Fotolia.com Satz: Andrea zur Nieden Lektorat: Barbara Driesen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2283-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 9 0. Einleitung: Fragestellung und Aufbau der Arbeit | 11 1. Die gesellschaftliche Dimension der Genetik: Begrifflichkeiten und historische Hinführung | 17

1.1 Subjekt und Subjektivierung | 18 1.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Kritischen Theorie | 21 1.3 Medizin und Körperverhältnis | 28 1.4 Biopolitik | 31 1.5 Ideologie und Diskurs | 34 2. Methodischer Zugang | 37

2.1 Empirisches Forschen und Kritische Theorie | 37 2.1.1 Die Anfänge: Interdisziplinärer Materialismus | 38 2.1.2 Erste „wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“ | 40 2.1.3 Die „Studien zum autoritären Charakter“ | 46 2.1.4 Die Nachkriegszeit in Frankfurt | 48 2.1.5 Positivismuskritik im Positivismusstreit | 50 2.1.6 Fazit | 51 2.2 Qualitative Forschung und die Tradition der Kritischen Theorie | 52 2.3 Die gewählte Methode | 57 2.3.1 Grundlagen | 57 2.3.2 Erhebung der Daten | 62 2.3.3 Auswertung | 63

3. Der BRCA-Diskurs | 69

3.1 Allgemeine gesundheitspolitische Entwicklungen | 69 3.2 Die Genetisierung der Krebsforschung | 81 3.2.1 Die Verschiebung der Krebsursachen | 81 3.2.2 Die Metaphorik der Genetisierung | 89 3.3 Die Produktion genetischer Verantwortung: BRCA-Gentests in Deutschland | 93 3.3.1 Das Verbundprojekt „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“ | 94 3.3.2 Kritik der genetischen Grundannahmen | 98 3.3.3 Kritik der angebotenen Präventionsmaßnahmen | 101 3.3.4 Die Fachdiskussion in Deutschland über die BRCA-Testung | 103 3.3.5 Analyse von Informationsmaterialien des Verbundprojektes | 104 3.3.6 Analyse der humangenetischen Beratungsgespräche | 106 4. Verkörperungen des genetischen Risikos: Stand der Forschung | 113

4.1 Quantitative Studien | 116 4.1.1 Gründe für den Test | 118 4.1.2 Konsequenzen des Tests | 122 4.1.2.1 Psychische Konsequenzen des Testergebnisses | 123 4.1.2.2 Kommunikation innerhalb der Familie | 132 4.1.2.3 Entscheidung für Maßnahmen | 134 4.2 Qualitative Studien | 139 4.2.1 ‚Gründe‘ für die Untersuchung | 140 4.2.1.1 Prävention als Verpflichtung und Recht | 141 4.2.1.2 Bedürfnis nach Überwachung | 143 4.2.1.3 Familienbezug und ‚weibliche‘ Fürsorge? | 144 4.2.2 Subjektive Krankheitstheorien und Vorstellungsbilder | 147 4.2.3 Risikowahrnehmung | 148 4.2.4 ‚Konsequenzen‘ der Untersuchungen | 149 4.2.4.1 Management des Risikos und Kontrolle | 150 4.2.4.2 Kontrolle als Illusion | 153 4.3 Fazit | 155

5. Zum Subjekt der Gene werden? Selbstbeschreibungen in Interviews | 159

5.1 Vorstellung der Interviewten | 165 5.2 Themenfelder der Interviews | 170 5.2.1 ‚Entscheidung‘ und Verhältnis zu Ärzten | 170 5.2.1.1 Informierte Entscheidung – Typ 1 | 171 5.2.1.2 Vertragspartnerschaft mit den Ärzten – Typ 1 | 175 5.2.1.3 ‚Keine Entscheidung‘ und Agency der Ärzte – Typ 2 | 178 5.2.1.4 Entscheidung als Wahl der ‚richtigen Ärzte‘ – Typ 2B | 184 5.2.1.5 Fazit | 187 5.2.2 Gründe für den Test und Wahrnehmung als Risikoperson | 187 5.2.2.1 Genannte Gründe für den Test | 188 5.2.2.2 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 1 | 189 5.2.2.3 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 2 | 194 5.2.2.4 Die Präsenz der Familie | 197 5.2.3 Vorstellungen vom Gen | 200 5.2.3.1 Keine (bildliche) Vorstellung | 202 5.2.3.2 Explizierte Vorstellungen | 210 5.2.4 Subjektive Krankheitstheorien | 218 5.2.4.1 Unbestimmtheit der Ursachen | 219 5.2.4.2 Psychosomatische Ursachentheorien | 226 5.2.4.3 Psychosomatik in Form der self-fulfilling prophecy | 231 Exkurs: Die Geschichte psychosomatischer Vorstellungen | 232 5.2.5 Management und Kontrolle der Krankheit | 238 5.2.5.1 Krankheit als Risiko – Typ 1 | 238 5.2.5.2 Umgang mit der Unsicherheit – Typ 2 | 248 5.2.5.3 Eine paradoxe Anforderung | 251 6. Zusammenfassung | 253 Literatur | 259 Anhang | 281

Legende und Transkriptionsregeln | 281 Leitfaden für die Interviews mit betroffenen Frauen | 282

Danksagung

Unentbehrlich für das Gelingen dieses Buches waren zahlreiche Menschen. Zunächst möchte ich Prof. Wolfgang Eßbach für die Betreuung der Doktorarbeit in Freiburg danken. Er hat mich kontinuierlich ermutigt und war stets für Fragen offen. Der Deutschen Forschungsgesellschaft danke ich für ein Stipendium am Darmstädter Graduiertenkolleg „Technisierung und Gesellschaft“ und den dortigen Professorinnen und Professoren sowie den Kollegiaten und Kollegiatinnen für die Bereitschaft, sich in mein Thema hineinzudenken. Insbesondere gilt mein Dank meinem dortigen Betreuer Prof. Gerhard Gamm für kritische und motivierende Kommentare, aber auch Alexandra Manzei, Dirk Verdicchio, Hajo Greif, Andreas Lösch, Andreas Kaminski und Marc Ziegler für die gute und unterstützende Diskussionsatmosphäre. Prof. Gerburg Treusch-Dieter danke ich posthum für ihre erfrischende Inspiration. Ganz herzlich danke ich außerdem meinen Eltern für die liebevolle und interessierte Unterstützung und den spontanen Einsatz in der heißen Phase; Christina Schäfer und Nina Wehner, die von einer Interpretations-AG zu Freundinnen geworden sind, für stete Ermutigung und offene Ohren und Nina darüber hinaus für wichtige Tipps bis zuletzt; Christine Maier und Barbara Driesen dafür, dass sie als „Diss-Coachs“ den Entstehungsprozess in zentralen Phasen inhaltlich und mit Blick auf meine Arbeitsorganisation begleitet haben; dem Hamburger Diskussionszusammenhang um „die röteln“ für spannende Debatten; der Freiburger Hegelgruppe für das kritische Interesse; Valentin Rauer und meiner Cousine Julia Köhne für viele Diskussionen und emotionale Unterstützung; meiner Cousine Bettina Köhne sowie Jörg Zinn für die stete Bereitschaft, mich in fachmedizinischen be-

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ziehungsweise fachpsychologischen Fragen zu beraten; meiner letzten WG mit Andreas Reimann und Christiane und David Mihm für die Ablenkung, das gute Essen und die Rücksichtnahme. Mein besonderer Dank gilt den Frauen, die bereit waren, mir im Rahmen eines Interviews von ihren Erfahrungen zu berichten. Ohne ihr Vertrauen und ihre Zeit wäre diese Untersuchung nicht möglich gewesen. Ebenso danke ich den interviewten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verbundprojektes, von denen einer mir außerdem eine große Hilfe bei der Vermittlung von Interviewpartnerinnen war. Sie alle können hier aus Gründen des Datenschutzes nicht namentlich genannt werden. Ich möchte auch denjenigen danken, die den gesamten Text für die Buchbearbeitung noch einmal durchgesehen haben: ganz besonders meinem Vater Manfred zur Nieden dafür, dass er roten Faden, Gliederung, Literaturverzeichnis und Grammatik so gründlich geprüft hat; Christoph Teuber für die inspirierenden inhaltlichen Anmerkungen; schließlich Barbara Driesen, die dem Buch durch ein engagiertes und stilsicheres Lektorat den letzten Schliff gegeben hat. Mein größter Dank gilt Christoph Taubmann für seine Ruhe und Geduld, mit denen er mich in allen Phasen persönlich und inhaltlich begleitet hat, und meiner Schwester Birgit zur Nieden für die großartige kontinuierliche Unterstützung durch Diskutieren, Lesen und Umsorgen!

0. Einleitung: Fragestellung und Aufbau der Arbeit

„Der Blick ins eigene Erbgut Der Deutsche Ethikrat fordert die Bundesregierung auf, sich stärker um Aufklärung und Beratung bei der genetischen Diagnostik zu bemühen. [...] Es wird immer einfacher und billiger, sich umfassend über die Gene eines Menschen zu informieren. Neuartige Techniken erlauben es, das Erbgut schnell auf einzelne Risikogene zu durchsuchen oder aber das ganze Genom zu entziffern. Eine Speichelprobe oder ein Blutstropfen genügt dafür. Das Tausend-Dollar-Genom für jedermann, eine Komplett-Untersuchung des Erbguts, ist nicht mehr weit entfernt. Im Internet kursieren bereits viele Angebote für Gentests, sogenannte Direct-to-Consumer-Tests (DTCTests). Die Anbieter versprechen nicht nur Aufklärung über Krankheitsrisiken, sie liefern auch Prognosen zur individuellen Entwicklung – vom sportlichen Talent bis zum Risiko, eine Glatze zu entwickeln.“ (Frankfurter Rundschau vom 02.05.2013)

Die Rede von genetischen Krankheitsrisiken ist derzeit allgegenwärtig. Zentrale damit verbundene Begriffe sind neben dem „Gen“, das wie eine digitale „Information“ gedacht wird, das „Risiko“, die „Prognose“, aber auch „Aufklärung“ und „Beratung“. Immer selbstverständlicher spricht man von genetischen Dispositionen und Defekten und verbindet damit die Aufforderung, das eigene „Genmaterial“ zu managen. Jeder und jede Einzelne soll sich aufgrund der eigenen genetischen Ausstattung als Risikoperson für bestimmte Krankheiten begreifen und dementsprechend präventiv tätig werden, um bestimmte Krankheiten zu verhindern. Man ist aufgerufen, „zum Subjekt der Gene zu werden“. Dass dazu Beratung nötig ist, wie der Deutsche Ethikrat dem oben zitierten Artikel zufolge fordert, lässt al-

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lerdings schon vermuten, dass ein solches Risikomanagement nicht unproblematisch ist. Welche Problematiken mit der beschriebenen Aufforderung verbunden sind, wird in diesem Buch empirisch untersucht. Konkret geschieht dies am Beispiel der prädiktiven – also vorhersagenden – Gendiagnostik für sogenannten familiären Brust- und Eierstockkrebs. Medial breit diskutiert wurde diese unlängst auch in Deutschland in Anschluss an die öffentliche Verkündigung der Schauspielerin Angelina Jolie, sie habe sich aufgrund eines genetisch bedingt erhöhten Brustkrebsrisikos beide Brüste entfernen lassen.1 Geradezu paradigmatisch wurden in dieser Debatte die Begriffe „Gen“, „Risiko“ und „Prävention“ durchgespielt, aber auch die Notwendigkeit einer Abwägung und „eigenen Entscheidung“ jeder Frau. Schon seit längerer Zeit wird vermutet, dass etwa 5% des Brust- und Eierstockkrebses eine erbliche Komponente hat. In den 1990er Jahren wurden dann die ‚Brustkrebs-Gene‘ BRCA1 und BRCA2 ‚dekodiert‘. Mutationen in diesen Genen werden mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, Brustoder Eierstockkrebs zu bekommen, in Verbindung gebracht. Die in der Fachliteratur genannten Zahlen variieren zwischen 30% und 80% für das erhöhte Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, gegenüber etwa 10% im Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit für Eierstockkrebs wird zwischen 11% und 60% angesetzt gegenüber den durchschnittlichen 2%.2 Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung wurden im Rahmen eines großen Verbundprojektes der Deutschen Krebshilfe an zwölf universitären Zentren gesunden und bereits an Brustkrebs erkrankten Frauen aus ‚Hochrisikofamilien‘ (definiert über die Anzahl der Verwandten mit Brust- oder Eierstockkrebs) Gentests angeboten. Die Tests waren eingebettet in ein Setting aus mehreren Beratungsgesprächen. Die Zielsetzung des Verbundprojektes bestand darin, Erkenntnisse über die molekulargenetischen Grundlagen von

1

Vgl. für die deutsche Mediendebatte z.B. die Artikel von Christiane Heil/Lucia Schmidt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 15.05.2013 und von Marcus Jauer am 16.05.2013; von Petra Steinberger, Christina Berndt sowie Werner Bartens in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16.05.2013; von Marlene Staib und von Jenni Zykla in der „Tageszeitung“ vom 15.05.2013.

2

Wie interpretationsabhängig und ungesichert diese Zahlen sind, wird im Kapitel 3.3.2 dargestellt.

E INLEITUNG | 13

Brustkrebs und ebenfalls über den Wert unterschiedlicher Früherkennungsund Präventionsmaßnahmen zu gewinnen. Circa 7.000 Frauen aus 5.000 Familien nahmen daran teil. Bei einem positiven Testergebnis wurden den Frauen verschiedene Maßnahmen angeboten. Das Spektrum reichte von der prophylaktischen Entfernung der Brüste und Eierstöcke über das Verschreiben von Anti-Hormonpräparaten und eine intensivierte Früherkennung hin zu allgemeinen Lebensstilempfehlungen wie regelmäßig Obst und Gemüse zu essen, Sport zu treiben und nicht zu rauchen. Es handelte sich also um eine sogenannte translationale Forschung, eine Verbindung von Forschungspraxis und klinischen/medizinischen Therapieangeboten für die Teilnehmerinnen. 2005 wurde das im Rahmen des Verbundprojektes entwickelte Programm von Diagnostik und verschiedenen Angeboten ohne nennenswerte Veränderungen in die Regelversorgung der Krankenkassen übernommen. Die Wirksamkeit der meisten empfohlenen Maßnahmen ist allerdings bislang nicht erwiesen und soll weiterhin evaluiert werden. Einige Therapiemaßnahmen haben zudem erhebliche Nebenwirkungen, wie etwa die prophylaktische Entfernung der Körperteile, die potentiell erkranken. Insofern überwiegen, wie es bei genetischen Testverfahren regelmäßig der Fall ist, die diagnostischen Möglichkeiten gegenüber den entsprechenden therapeutischen Fortschritten. Was passiert also in diesem Setting der genetisierten Medizin? Sie ist zuerst einmal Teil einer Logik der zunehmenden Körperkontrolle, die nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Geschichte der Zivilisation bestimmt (Horkheimer/Adorno 1969: 263-268). Das Verhältnis von Geist und Körper wird als hierarchisches Subjekt-Objekt-Verhältnis gefasst. Den damit verbundenen Kontrollanspruch stellt jede Krankheit infrage: Das Subjekt Geist wird zum Objekt seines Körpers, denn Krankheit ist eine Erfahrung von Ausgeliefertsein. Die moderne Medizin lässt sich als Versuch verstehen, den Körper wieder als Objekt ‚in den Griff‘ zu bekommen, Krankheit und Vergänglichkeit – so scheint das Fernziel – letztlich zu überwinden. Aber gerade Gene als das, was man (noch) nicht beeinflussen kann, scheinen die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten zu markieren und damit eine neue Naturverfallenheit in die Medizin einzuführen. Dementsprechend wollte die traditionelle Eugenik die ‚natürliche‘ Zucht und Auslese guten Erbmaterials befördern, die sie durch Zivilisation behindert sah. Dagegen überwiegt im derzeitigen gesellschaftlichen Gendiskurs die Logik der Disposition und des persönlichen Risikos, die das Individuum

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wiederum als Subjekt seiner Gene betrachtet und zur „Optimierung des individuellen Humankapitals“ (Lemke 2001, vgl. auch Lösch 2000) auffordert. Ich gehe im Folgenden der Frage nach, ob und wenn ja wie diese Subjektivierung zum Subjekt der eigenen Gene gelingt. Mithilfe qualitativer Methoden habe ich Fachliteratur und Richtlinien, Selbstdarstellungen und Informationsmaterialien des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ untersucht sowie die in diesem Rahmen angebotenen genetischen Beratungsgespräche analysiert. Zudem führte ich Experteninterviews mit den beteiligten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Besonders wertvoll für die Fragestellung waren meine narrativen Interviews mit sieben Frauen, die sich im Rahmen des Projektes einem prädiktiven Gentest unterzogen haben. Diese Frauen waren selbst nicht an Krebs erkrankt, hatten aber viele Verwandte mit Brust- oder Eierstockkrebs. Die Zielsetzung der Untersuchung besteht darin, kritisch zu rekonstruieren, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Gen so als maßgeblicher Krankheitsfaktor plausibilisiert wird, dass der Appell, sich als ‚genetisch belastet‘ zu begreifen und entsprechend zu handeln, wirkt. Diese Rekonstruktion umfasst zweierlei: Im ersten Schritt (in Kapitel 3) wird zunächst der Diskurs nachvollzogen, in dem die Subjektivierung stattfindet. Dabei geht es auch um die Historisierung und Entnaturalisierung der Begriffe Gen, Risiko, Prävention und Entscheidung. Den Großteil des Buches nimmt der zweite Schritt ein: Nach einer Zusammenfassung anderer Studien zu diesem Thema (in Kapitel 4) werden auf Grundlage der Interviewerzählungen von ‚betroffenen‘ Frauen deren Subjektivierungsweisen dargestellt (in Kapitel 5). Es wird deutlich werden, welche Widersprüchlichkeiten und Zumutungen die Aufforderung mit sich bringt, zum Subjekt der eigenen Gene zu werden und sich selbst in voller Aufgeklärtheit über die eigene Genausstattung nach Maßgabe eines Risikokalküls zu managen. Gefragt wird dabei auch, inwiefern sich in diesem Bereich eugenische Vorstellungen in transformierter Form durchsetzen, obwohl die Humangenetik nach 1945 einen Bruch mit der Eugenik behauptet: Inwiefern Normen, die früher der Staat per Zwang durchsetzte, nun „selbstbestimmt“ und „freiwillig“ von den Individuen angeeignet werden. Vielfältige weitere Themenfelder, die im Kontext des genetischen Risikos relevant sind, wie etwa die Frage der Patentierung von Genen, des Datenschutzes, der „genetischen Diskriminierung“ (Lemke 2006: 140) werden dagegen im Rahmen

E INLEITUNG | 15

dieser Untersuchung nicht ausführlich behandelt, sondern nur am Rande gestreift. Im Einzelnen ist das Buch folgendermaßen gegliedert: Im Kapitel 1 wird der theoretische Hintergrund skizziert, vor dem ich die beschriebenen Phänomene konkret untersuche. Daran schließen methodische Überlegungen zur Vermittlung von theoretischen Annahmen und methodischem Zugang an (Kapitel 2). Neben einigen Begriffen von Foucault wird in beiden Kapiteln die Perspektive der Kritischen Theorie als Ausgangspunkt charakterisiert, allerdings gleichzeitig festgestellt, dass diese mehr eine Heuristik als eine ausgearbeitete begriffliche und methodische Konzeption anbietet. So finden sich etwa zum Körperverhältnis bei Horkheimer und Adorno eher verstreute Überlegungen als eine ausgearbeitete Kritik. Für die Methodik dieser Untersuchung konnte aus der Kritischen Theorie ebenfalls eher der Anspruch eines nicht-positivistischen Zugangs als die konkrete Vorgehensweise übernommen werden. In der Darstellung der methodischen Konzeption (Kapitel 2.3) wird die „Rekonstruktion narrativer Identität“ nach Lucius-Hoene/Deppermann (2002) beschrieben. In der Anwendung dieses Werkzeuges will ich allerdings auf mehr hinaus, als die Methode vorgibt – nämlich auf Ideologiekritik. Im Kapitel 3 wird der Diskurs um die Brustkrebsgene untersucht. Eine Einführung in die allgemeinen Entwicklungen in der Gesundheitspolitik und die Geschichte der humangenetischen Beratung (Kapitel 3.1) konkretisiert das, was zuvor in Kapitel 1.4 mit Foucault als Biopolitik bestimmt wird, für die heutige Zeit und führt gegenwärtige Schlüsselbegriffe wie Risiko und „Informed Consent“ beziehungsweise „informierte Entscheidung“ ein. In Kapitel 3.2 werden die Veränderungen von Krebsvorstellungen in der medizinischen und populärwissenschaftlichen Literatur und Belletristik in den letzten Jahrzehnten beschrieben. Das Unterkapitel 3.3 stellt das konkrete Fallbeispiel (der Einsatz von Gentests in Deutschland im Rahmen des Verbundprojekts „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“) dar und analysiert dessen an potentielle Risikopersonen gerichteten Diskurs. Kapitel 4 und 5 untersuchen schließlich genauer, inwieweit die Verkörperung des Risikos und die Übernahme verantwortlicher Selbststeuerung in den Subjektivierungsweisen von Frauen ‚gelingen‘. Zunächst präsentiert das Kapitel 4 den internationalen Forschungsstand zu diesem Thema. Das umfangreichste Kapitel 5 stellt die Ergebnisse der eigenen narrativen Interviews mit betroffenen Frauen dar: Anhand der Interviewanalyse kristalli-

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sierten sich, über verschiedene Dimensionen hinweg, zwei Subjektivierungsweisen heraus. Dabei zeigt sich, dass sich insbesondere die als „ratsuchende Klientinnen“ bezeichneten Frauen nur bedingt als risikominierende Subjekte ihrer Gene begreifen. Aber auch in der Darstellung der als „informierte Risikomanagerinnen“ charakterisierten Interviewpartnerinnen wird deutlich, welche Brüche eine dem Diskursideal scheinbar entsprechende Selbstbeschreibung enthält.

1. Die gesellschaftliche Dimension der Genetik: Begrifflichkeiten und historische Hinführung

In diesem Teil sollen vorab einige Begrifflichkeiten geklärt und damit der theoretische Hintergrund skizziert werden, vor dem sich die Untersuchung bewegt. Grundsätzlich werden die untersuchten Phänomene in eine Gesellschaftskritik in der Perspektive der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule1 eingeordnet. Kritische Theorie heißt nach meinem Verständnis, danach zu fragen, warum genau dieses Wissen und diese Praktiken in dieser Gesellschaft entstehen. In diesem Sinne ideologiekritisches Fragen geht über die Betrachtung des Wie hinaus. Weiterer theoretischer Bezugspunkt sind Michel Foucaults Studien zu den Humanwissenschaften und sein Modell der Biomacht. Foucault beantwortet die obengenannte Frage nach den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen nicht, da er den damit verbundenen Wahrheitsanspruch zurückweist (Dreyfus/Rabinow 1987: 52). Trotzdem können seine Analysen von Subjektivierungsweisen und Wissensproduktion im Zeitalter der Biomacht fruchtbar mit einer kritischen Theorie der Gesellschaft verbunden werden, die Wahrheit ebenfalls nur als negativ-kritisch zu bestimmende begreift (vgl. dazu Adorno 1969a: 793). In dieser Untersuchung werden sowohl der untersuchte genetische Diskurs als auch die Subjektivierungsweisen der zu Wort kommenden Frauen als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse im

1

Mit früher Kritischer Theorie ist hier die Kritische Theorie vor der sogenannten kommunikativen Wende durch Habermas gemeint, im Wesentlichen die Schriften von Adorno und Horkheimer.

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biopolitischen Spätkapitalismus begriffen. Dieser Gesellschaftsbegriff ist hier eher vorausgesetzt als im Einzelnen expliziert, wird aber in den jeweiligen Analysen der Phänomene kontinuierlich durchscheinen.2 Es werden im Folgenden Diskussionen zum Körper- und Naturverhältnis aufgenommen, in denen in Anknüpfung an die „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1969) die abendländischen Wissenschaften weder – modern – als objektiver Fortschritt noch – postmodern – als kontingente Wissensform, sondern als integraler Teil bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen werden. Die Perspektive Max Horkheimers und Theodor W. Adornos ist für die behandelte Fragestellung deshalb interessant, weil in ihrem kritischen Begriff von Gesellschaft die Frage des Verhältnisses zur (inneren wie äußeren) Natur eine zentrale Rolle spielt. In der „Dialektik der Aufklärung“ wird diese Frage in einem geschichtsphilosophischen Bogen von der Anfängen menschlicher Kultur bis hin zum Positivismus verhandelt. Die Verdinglichung des Körpers verläuft als „unterirdische Geschichte“ unter der bekannten Historie Europas, die moderne Medizin ist Ausdruck und Bestandteil dieses Prozesses (Horkheimer/Adorno 1969: 265). Diese Geschichte ist in der Kritischen Theorie allerdings nie systematisch ausgearbeitet worden. Das „Interesse am Körper“ (ebd.) zeigt sich fragmentarisch verstreut in verschiedenen Schriften. Im Zuge der folgenden Begriffsklärungen sollen diese Fragmente skizziert werden, die eher eine Heuristik für die gesamte Untersuchung darstellen als operationalisierbare Begriffe. Die Erkenntnisse Foucaults, die aufgenommen und damit in Verbindung gebracht werden, sind dagegen systematischer und historisch klarer zuzuordnen.

1.1 S UBJEKT

UND

S UBJEKTIVIERUNG

Da in diesem Buch von der Subjektivierung zu einem „Subjekt der Gene“ die Rede ist, gilt es zu klären, in welchem Sinne diese Begriffe verwendet werden, insbesondere da der Subjektbegriff in der Tradition Foucaults nicht mit dem der Kritischen Theorie übereinstimmt. Das Ziel ist hier nicht, die

2

Die Schwierigkeit, Gesellschaftlich-Allgemeines in den je besonderen Phänomenen aufzuspüren, wird im Kapitel zum methodischen Zugang noch diskutiert werden.

B EGRIFFLICHKEITEN | 19

jeweiligen Subjektbegriffe vollständig darzustellen,3 sondern zu explizieren, welche Aspekte aus beiden Traditionen übernommen werden. Beide Verwendungsweisen bestimmen das Subjekt als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse: Foucault nimmt die Mehrfachbedeutung des französischen „sujet“ wörtlich, indem er das Subjekt gleichzeitig als „Unterworfenes“ oder „Untertan“, als „freies Subjekt“ und als „Thema“ bestimmt. Das sich selbst als frei begreifende Subjekt ist ein in Selbsttechnologien sich herstellendes Produkt der Macht: „Ein ungeheures Werk, zu dem das Abendland Generationen gebeugt hat, während andere Formen von Arbeit die Akkumulation des Kapitals bewerkstelligt haben: die Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte“ (Foucault 1977: 78).

In den Humanwissenschaften wie etwa der Medizin objektiviert und subjektiviert der Mensch sich zugleich, da „das sprechendende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt“ (ebd.: 79). In der Kritischen Theorie wird auf der von Karl Marx gegebenen Bestimmung des Subjekts als Rechtsform des Individuums im Kapitalismus aufgebaut. Demnach resultieren ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘ und individuelles Selbstbewusstsein des Menschen im frühbürgerlichen Menschenbild aus der bürgerlichen Rechtssubjektivität, die die wechselseitige Anerkennung der Privateigentümer als Subjekte gleicher Rechte und Pflichten garantiert. Der Bürger muss sich selbst als sein eigenes Humankapital und seinen Körper als Werkzeug und „Arbeitskraftbehälter“ behandeln (Gruber 1998: 6). Die Erkenntnisse der freudschen Psychoanalyse einbeziehend, verfolgen Horkheimer und Adorno historisch die innere Spaltung des Individuums in das Subjekt „Geist“ und das verdinglichte Objekt „Körper“. Diese wird durch die Subjektform hervorgerufen (vgl. z.B. Horkheimer/Adorno 1969: 264). Die so gewonnene ‚Freiheit‘ beziehungsweise Autonomie entlarvt sich damit als reine Kontrolle oder Herrschaft über die zum reinen Material degradierte Natur (Gamm 1992: 22).4

3

Gerade bei Foucault ist die Bestimmung des Subjekts äußerst vielfältig; vergleiche dazu etwa die Auseinandersetzung mit diesem Begriff bei Butler 1995.

4

Die Frage der bürgerlichen Subjektkonstitution ist damit nur sehr oberflächlich umrissen. Es sei für weitere Bestimmungen beispielhaft verwiesen auf zur Lippe

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Über die Einbeziehung der Psychoanalyse bewahrt die Kritische Theorie ein Element der Widerständigkeit im Individuum: Etwas sperrt sich gegen die Subjektform. Die „innere Natur“ – hier begriffen als Trieb – „wehrt“ sich gegen die Verdinglichung; es bestehen Risse in der gesellschaftlichen Totalität.5 Diese innere Dimension soll hier festgehalten werden – entgegen einem Verständnis, in dem das Individuum völlig in der Subjektform aufgeht. Ein solches wird häufig in der Folge von Foucault formuliert, der die psychoanalytische „Repressionshypothese“ zurückweist. Zwar finden sich bei dem Autor auch gelegentlich Formulierungen, in denen dem Körper und den Lüsten eine Widerständigkeit etwa gegenüber dem Sexualitätsdispositiv zugedacht wird: „Glauben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt; man folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexualitätsdispositivs. Man muß sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern der Körper und die Lüste.“ (Foucault 1977: 187)

Erstens bleibt dies jedoch begrifflich unklar, da Foucault den Körper sowohl als kulturell bestimmt denkt, als auch wie hier als überzeitlichen Ort der Widerständigkeit. Zweitens erscheint insbesondere in der Rezeption von Foucault zum Beispiel in den für den Kontext der Arbeit interessanten Governmentality Studies (z.B. Rose 2001, Novas/Rose 2000) das Subjekt beziehungsweise das Individuum häufig als quasi automatisches „Produkt des Diskurses“. Dagegen werden im Verlauf dieser Arbeit bewusst sowohl der gesundheitspolitische Diskurs als auch die Erzählungen von Individuen untersucht, und es wird sich zeigen, dass in den Erzählungen solche Risse in der Totalität zu finden sind. So wird an den im Rahmen dieser Untersu-

1975, Bruhn 1994, Emmerich 2007. Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zur Natur bzw. zum Körper erfolgt in den Kapiteln 1.2 und 1.3. 5

Solche Risse weisen nicht notwendig revolutionär in Richtung Emanzipation, sondern können genauso in pathische Projektionen wie den Antisemitismus münden. Zum Totalitätsbegriff siehe die Diskussionen innerhalb der Kritischen Theorie wie in Kapitel 2.1 dargestellt.

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chung ausgewerteten Interviews deutlich, dass insbesondere die als Typ 2 („ratsuchende Klientin“) charakterisierten Frauen nicht nach dem Schema des Diskurses handeln. Es finden sich aber auch bei den als Typ 1 bezeichneten Interviewten, die sich als „informierte Risikomanagerinnen“ ihrer Gene darstellen, Momente wie etwa eine große Angst, die Ausdruck einer psychischen Dynamik ist, die nicht in der vom Diskurs vorgegebenen reinen Nutzenabwägung aufgeht. Wenn der foucaultsche Begriff der Subjektivierung oder der „Subjektivierungsweisen“ (vgl. Foucault 1987) übernommen wird, so soll damit gefasst werden, dass die bürgerliche Subjektkonstitution sich in historisch wandelnden und variablen Formen darstellt, die bloße Rede vom „Rechtssubjekt“ also zu wenig aussagt. Es soll außerdem das performative und prozesshafte Element der Subjektwerdung betont werden: Subjekt ist man nicht einfach, sondern muss es immer wieder werden.6 Keinesfalls soll die foucaultsche mit der adornitischen Konzeption gleichgesetzt werden, aber das Moment der notwendigen Wiederholung findet sich auch bei Adorno, zum Beispiel in seinem Text über das Fernsehen: „Eher werden die Menschen ans Unvermeidliche fixiert als verändert. Vermutlich macht das Fernsehen sie nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind. [...] Der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, daß sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer wieder aufs neue vorgemacht und in ihnen selbst wiederholt würden. Freud hat gelehrt, daß die Verdrängung der Triebregungen nie ganz und nie für die Dauer gelingt, und daß daher die unbewußte psychische Energie des Individuums unermüdlich dafür vergeudet wird, das, was nicht ins Bewußtsein gelangen darf, weiter im Unbewußten zu halten.“ (Adorno 1953: 508)

1.2 G ESELLSCHAFTLICHE N ATURVERHÄLTNISSE IN DER K RITISCHEN T HEORIE Das Verhältnis von Gesellschaft und Natur ist ein zentrales Thema der Kritischen Theorie. Wie aber dieses Verhältnis genau gefasst ist, wofür „Na-

6

Das Konzept der Performativität erweitert Butler 1991.

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tur“ hier eigentlich steht, ist nicht so einfach zu bestimmen. In diesem Kapitel soll ein Versuch dazu unternommen werden. Sowohl Horkheimer und Adorno als auch Herbert Marcuse (1967) haben – bei allen Differenzen – das Wissen der Aufklärung als schon immer technisches Wissen identifiziert, dessen Erkenntnisanspruch einem Herrschaftsanspruch gleichkommt, der sich dem herrschenden Wirtschaftssystem einfügt: „Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er [Bacon, A.z.N.] im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Grenzen [...]. Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 26)

Diese Überlegungen werden als Ansatzpunkt dienen, um die in dieser Untersuchung interessierende Frage nach der gesellschaftlichen Bedingtheit des humangenetischen Wissens zu verfolgen. Für die Humangenetik sind sowohl medizin- als auch technikkritische Überlegungen relevant, deren Ansätze in der frühen Kritischen Theorie ich im Folgenden darstellen werde. In Abgrenzung zu einem traditionell-marxistischen Verständnis des Verhältnisses zur Natur7 entstand mit der Kritischen Theorie Adornos und

7

Die Frage der Technik und des Verhältnisses zur Natur wird in der marxistischen Diskussion äußerst zwiespältig behandelt. Der Arbeitermarxismus und die realsozialistischen Staaten beriefen sich (durchaus begründet) auf Marx, wenn sie technologischen Fortschritt als „objektiven Fortschritt in der Geschichte“ und damit als notwendige Voraussetzung für den Kommunismus ansahen. Das Problem des Fortschritts im Kapitalismus sei bloß der „Klassencharakter der Beziehung von Technik und Gesellschaft“ (Kalweit 1973: 5). Wenn aber nicht mehr der Kapitalist die Maschinerie benutze, um menschliche Arbeit grenzenlos auszubeuten, stehe ihrem Einsatz zur Vergrößerung der menschlichen Freiheit nichts im Wege. Die Produktivkräfte selbst drängten gar über den zu eng werdenden Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinaus. So wurde Lenins bekannte Formel geprägt: „Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ und DDR-Akademikerinnen und -Akademiker kamen zu dem Schluss: „[D]ie automatisierte Fabrik und das Atomkraft-

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Horkheimers und der wertkritischen Analyse der Denkform durch Alfred Sohn-Rethel eine Linie der Kritik des wissenschaftlichen Denkens und dessen technologischer Derivate, die sich ebenfalls zu Recht auf Marx berief, vor allem auf dessen Wertformanalyse und Kritik des Warenfetischismus. Das Verhältnis der Gegenwart – auch der damaligen des Ostblocks – zur Natur ist demzufolge in seiner innersten Struktur geprägt von herrschaftlichem identifizierenden Denken, dessen Zwang auch auf das Subjekt zurückschlägt. Horkheimer und Adorno setzen sich wesentlich expliziter als Marx mit Technik und Naturbeherrschung auseinander. In der 1944 fertiggestellten „Dialektik der Aufklärung“8 entwickeln sie eine universalgeschichtliche Perspektive von den Anfängen menschlicher Kultur bis zur „Barbarei“ des Faschismus. Ihre Grundthese lautet „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (Horkhei-

werk drängen das Rad der Geschichte gesetzmäßig zum Sozialismus und Kommunismus.“ (Ebd.: 4) Wie ambivalent das Verhältnis zur Technik bei Marx selber war, macht Breuer deutlich: Zwar beschreibt Marx einerseits den Prozess der „reellen Subsumption“, in dem die gesamte Produktion technologischer Rationalität unterstellt wird, der kapitalistische Zweck in die Technik selbst einwandert und das System schließlich subjektlos wird, da auch der kapitalistische Unternehmer nicht mehr als initiative Kraft gebraucht wird (Breuer 1977: 40-44). Andererseits sieht der „arbeitsontologische“ Marx in der kapitalistischen Entwicklung der Maschinerie einen allgemeinen Fortschritt der Menschheit (ebd.: 46f.). „Das Kapital transzendiere sich sozusagen selbst in Richtung auf eine humanere Organisation der Gesellschaft“ (ebd.: 47), da die kapitalistischen Produktionsverhältnisse den Produktivkräften schließlich zur unerträglichen Einschränkung werden (Marx 1890: 791); die Arbeiter, statt bloßes Anhängsel der Maschinerie zu sein, entpuppen sich als eigentliches Subjekt der Geschichte und nutzen nach der „Expropriation der Expropriateure“ die Maschinerie nun im Dienste der Menschheit. So richtig Breuers Kritik an der revolutionstheoretischen Konstruktion Marxens ist, dass das Kapital in der Arbeiterklasse seinen eigenen Antagonismus produziere, der notwendig den Sozialismus herbeiführen wird, so wenig will allerdings einleuchten, dass Breuer die Möglichkeit durchstreicht, dass die Menschen sich der Technik auch bewusst ermächtigen und sie zu anderen Zwecken als der reinen Profitmaximierung einsetzen könnten. 8

Hier zitiert nach der überarbeiteten Neuauflage von 1969.

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mer/Adorno 1969: 21). Im Angesicht des Faschismus unterziehen die Autoren den Zivilisationsprozess, und vor allem die Aufklärung einer Reflexion, die zeigt, dass letzterer immer schon ein selbstzerstörerisches Moment innewohnt, dass Vernunft und Herrschaft fundamental verstrickt sind. Dabei geht es um drei Momente der Herrschaft: soziale Herrschaft, Naturbeherrschung und Herrschaft im Subjekt über die „innere Natur“ (Görg 1999: 119). Grundmodell und Grundproblem der Herrschaft ist die Erlangung von Selbständigkeit auf dem Wege der Verleugnung von Abhängigkeit (ebd.: 122).9 Das Subjekt versucht, sich von äußerer und innerer Natur zu emanzipieren, indem es sich von ihr distanziert, sie begrifflich und technisch zu beherrschen anstrebt. Gerade indem es dabei leugnet, selbst Teil der Natur zu sein, gerät es umso stärker in Naturzwang. Unklar bleibt, ob diese Bewegung des verstärkten Naturzwangs von der „unterdrückten Natur“ selber ausgeht, die sich ihrer Unterdrückung widersetzt, sozusagen Widerstand leistet. Diese Interpretation legen vor allem die an Freud orientierten Überlegungen zur Beherrschung der inneren Natur durch Triebverzicht nahe, deren Resultat die projektive Bekämpfung des in sich selbst Verleugneten etwa im antisemitischen Angriff auf die Juden ist (Horkheimer/Adorno 1969: 197-238). Auch die folgende Formulierung in Adornos Aufsatz „Fortschritt“ lässt sich so verstehen: „Modell des Fortschritts […] ist die Kontrolle außer- und innermenschlicher Natur. Die Unterdrückung, die durch solche Kontrolle geübt wird und die ihre oberste geistige Reflexionsform im Identitätsprinzip der Vernunft hat, reproduziert den Antagonismus. Je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt wird, desto mehr Unrecht erfährt dem Nicht-Identischen. Das Unrecht erbt sich fort an dessen Widerstand. Er wiederum verstärkt das unterdrückende Prinzip, während das Unterdrückte vergiftet sich weiterschleppt.“ (Adorno 1969b: 35)

Statt als eine Art Handlung der unterdrückten Natur könnte „Widerstand“ jedoch auch als rein passives Moment verstanden werden, als Problem des Subjekts, wenn es erfährt, dass Natur nicht restlos zu identifizieren ist. Dafür spricht auch folgende Passage: „Andererseits prägt Vernunft, die aus Natur heraus möchte, diese erst zu dem, was sie zu fürchten hat.“ (Adorno

9

Diese Figur ist angelehnt an die Herr-Knecht-Dialektik in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807: 145-155).

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1969b: 39) Damit wäre der verstärkte Naturzwang nicht notwendig, sondern erst Resultat der Selbstvergessenheit des Menschen als Natur. Diese Interpretation hebt Christoph Görg hervor, wenn er darstellt, dass die Konstruktion des „Naturzwangs“ sich an Durkheim orientiert. Demnach wird der Zwang nicht wirklich von der unbeherrschten Natur ausgeübt, sondern ist eine reine Projektion: Das Subjekt überträgt den als übermächtig erlebten sozialen Zwang durch die Gesellschaft, also soziale Herrschaft, auf Natur (Görg 1999: 119f.). Häufig scheint in den Formulierungen vom wachsenden Naturzwang gar die zweite Natur der Gesellschaft selbst gemeint zu sein, deren Institutionen über die Menschen hinauswachsen und sich von ihrer Kontrolle verselbständigt haben. Ein verwandtes Interpretationsproblem entsteht in der Frage, ob in der universalgeschichtlichen Konstruktion der „Dialektik der Aufklärung“ Naturbeherrschung als vorgängig und originäres Muster auch der sozialen Herrschaft gedacht wird, oder ob soziale Herrschaft „irreduzibles Moment“ der Konstellation beziehungsweise gar vorgängig ist, wie folgendes Zitat nahelegt: „[D]ie Herrschaft in der Sphäre des Begriffs errichtet sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit“ (Horkheimer/Adorno 1969: 36). Wie Görg ausführt, sind Textstellen für beide Interpretationen gegeben. Er referiert die Kritik von Axel Honneth und Jürgen Habermas, die der ersten Interpretation folgen und der „Dialektik“ eine negative Geschichtsphilosophie unterstellen, da aus der ursprünglichen notwendigen Naturbeherrschung sozusagen schon der Faschismus folge (Görg 1999: 122f.). Demgegenüber muss jedoch festgehalten werden, dass es Horkheimer und Adorno sehr wohl darum ging, einen letztlich positiven Begriff von Aufklärung zu entwickeln (Horkheimer/Adorno 1969: 21), der wesentlich durch eine Kritik der identifizierenden Vernunft im gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang möglich wird. Bei aller Ambivalenz der Textstellen zeigt vor allem das Ende des Abschnitts „Begriff der Aufklärung“, dass nicht die „Gewalt der Natur“ (Horkheimer/Adorno 1969: 62) Grund der Herrschaft ist, sondern die Blindheit gegenüber der eigenen Natürlichkeit: „In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur“ (ebd.: 63) besteht die Möglichkeit eines positiven Begriffs von Aufklärung. Zwar existiert Geist nicht ohne Naturbeherrschung, der „Bruch von Subjekt und Objekt“ (ebd.) ist in der Aufklärung gesetzt, aber

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„[d]urch die Bescheidung, in der dieser [der Geist] als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt. [...] Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt“ (ebd.: 63f.).

Gerade indem das Denken sich also auf seinen Ursprung in der Natur und deren Beherrschung besinnt, ist es nicht mehr in dem Maße Herrschaft. Denken ist zwar immer Projektion auf Natur, Reflexion wäre aber eine „bewusste Projektion“ (Horkheimer/Adorno 1969: 219, Görg 1999: 126). In jedem Fall also – egal ob Natur von sich aus übermächtig ist oder bloß als solche projiziert wird, um auf das zuerst ausgeführte Interpretationsproblem zurückzukommen – liegt die Lösung auf der Seite des Subjekts, dessen Herrschaftsanspruch sich bescheiden muss. Indem der Mensch Natur als eigenständige Bedingung seiner eigenen Geschichte anerkennt, kann er dem Naturzwang entkommen (Görg 1999: 127). Es geht dabei nicht um zwei unterschiedliche Schichten der Vernunft, eine naturbeherrschende und eine versöhnende, sondern die Vernunft ist Eine: „Das eine Moment schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft auf sich Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert.“ (Adorno 1969b: 35)

Die „Bescheidung“ des Geistes ist aber keinesfalls als Überwindung der Distanz zur Natur gedacht: „Alle mystische Vereinigung bleibt Trug“ (Horkheimer/Adorno 1969: 63). Auch eine Kritik an der Entwicklung der Produktivkräfte als solchen ist nicht gemeint, im Gegenteil: Diese gelten wie bei Marx als notwendige Bedingung für eine befreite Gesellschaft: „Nicht die materiellen Voraussetzungen der Erfüllung, die losgelassene Technik als solche, stellen die Erfüllung in Frage. Das behaupten die Soziologen, die nun wieder auf ein Gegenmittel sinnen, und sei es kollektivistischen Schlages, um des Gegenmittels Herr zu werden. Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang.“ (Horkheimer/Adorno 1969: 65)

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Dieser lässt die Menschen verkennen, dass sie das scheinbar Gegebene, in diesem Fall die Technik, selber schufen und somit den Fortschritt auch reflexiv wenden könnten: „Insofern ließe sich sagen, Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.“ (Adorno 1969b: 37)

Noch deutlicher wird Adorno in Bezug auf die Technik in dem Aufsatz „Gesellschaft“: „All das [gemeint sind hier die totalitären Tendenzen, die politische Anpassung an die totale Vergesellschaftung, A.z.N.] ist nicht der Technik als solcher aufzubürden. Sie ist nur eine Gestalt menschlicher Produktivkraft, verlängerter Arm noch in den kybernetischen Maschinen, und darum einzig ein Moment in der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, kein Drittes und dämonisch Selbständiges. Im Bestehenden fungiert sie zentralistisch, an sich vermöchte sie es anders.“ (Adorno 1965: 16)

Die Kritische Theorie und insbesondere Adorno schwanken also zwischen einerseits der Tendenz, das Identitätsprinzip schon in den Ursprung der Menschheit zurückzuverlegen (vgl. dazu Breuer 1985: 28ff.), ihm jegliche historische Spezifik zu nehmen und damit offen zu sein für Interpretationen, die die „Selbstbescheidung des Denkens“ als individuell-philosophischen Akt10 oder als ökologischeren Umgang mit der Natur verstehen – und andererseits der spezifischen Analyse der Bewusstseinsformen und Institutionen, die in unterschiedlichen historischen Phasen und Gesellschaftsfor-

10 So leitet etwa Gernot Böhme aus der Kritischen Theorie die Forderung nach einer Erziehung ab, „die Leibsein nicht einfach als etwas Gegebenes hinnimmt, sondern als Aufgabe begreift.“ (Böhme 1999: 69) Diese solle ein „bewusstes Leibsein-Können“ fördern, für das ihm „asiatische Praktiken von Yoga bis Tai Chi“ oder die „natürliche Geburt“ (ebd.: 69f.) gute Beispiele sind. Seine Vorschläge zielen also auf ein ‚natürlicheres‘ Körperverhältnis, das letztlich jedoch bloß auf eine andere Form der Disziplinierung hinausliefe. (Die Unterscheidung zwischen Körper und Leib wird gewöhnlich so verstanden, dass wir einen Körper ‚haben‘, aber ein Leib ‚sind‘.)

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men Herrschaft je anders reproduzieren und das Problem des Denkens und seiner technologischen Derivate zu einem genuin gesellschaftlichen macht.

1.3 M EDIZIN

UND

K ÖRPERVERHÄLTNIS

Mein Anliegen ist es vor allem, das Augenmerk auf diese Gesellschaftlichkeit zu richten. Unabhängig von der kaum zu beantwortenden Frage, inwieweit bestimmte körperbezogene Techniken „an sich“ herrschaftsförmig sind, richtet sich mein Interesse vor allem auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Techniken auftauchen und darauf, welche Wirkungen sie als disziplinierende Sozialtechnologien entfalten. Einerseits wird es um eine genauere Bestimmung der genetisierten Medizin in ihrer heutigen Form gehen. Stets mitgeführt werden soll dabei andererseits die allgemeinere Kritik, die den Körper als verdinglichtes Objekt identifiziert, in dem sowohl das Vergessen der eigenen Naturwüchsigkeit reproduziert als auch jegliche persönliche Geschichte und Erfahrung gelöscht wird. In dieser Perspektive ist natürlich keineswegs ein positiv bestimmbarer, also wiederum identifizierender Begriff von Natur gemeint, sondern die bloße Tatsache, dass auch der Mensch aus der Natur stammt und somit vergänglich ist. Anknüpfungspunkt ist Horkheimers und Adornos Beschreibung der historischen Entstehung dieses Körperverständnisses beispielsweise in dem Abschnitt „Interesse am Körper“ (Horkheimer/Adorno 1969: 263-268). So ist die „Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand“ (ebd.: 266) – die hierarchische Trennung von Geist und Körper – Spiegel der ökonomischen Ausbeutung und der Hierarchie von geistiger und körperlicher Arbeit: „Der ausgebeutete Körper sollte den Unteren als das Schlechte und der Geist, zu dem die andern Muße hatten, als das Höchste gelten“ (ebd.: 264). Von der Antike über Christentum und Feudalismus bis zum industrialisierten Kapitalismus stellen sie dar, wie sich ein derart verdinglichendes Verhältnis in die abendländische Zivilisationsgeschichte eingeschrieben hat: „Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‚corpus‘ unterschieden.“ (Ebd.: 264)

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Daraus resultiert eine Hassliebe zum Körper, der „als Unterlegenes Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt wird.“ (Ebd.) Auch in Bezug auf die romantischen Versuche einer Renaissance des Leibes in Kunst und Werbung – und schließlich im Faschismus – stellen sie fest: „Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem Namen sich anzeigt, war ein Teil des perennierenden Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte. Die Leistungen der Zivilisation sind das Produkt der Sublimierung, jener erworbenen Haßliebe gegen Körper und Erde, von denen die Herrschaft alle Menschen losriß. In der Medizin wird die seelische Reaktion auf die Verkörperlichung des Menschen, in der Technik die auf Verdinglichung der ganzen Natur produktiv.“ (Ebd.: 266)

Im Fragment „Interesse am Körper“ scheint wiederholt die Vorstellung eines ‚ursprünglichen‘ Körpers durch, der nachträglich verstümmelt wird. Dagegen wird „das Geschlecht“ beziehungsweise die Sexualität als „nicht reduzierter Körper“ (ebd.: 267) bestimmt. Entgegen dieser essentialistischen Sicht formuliert Adorno in dem Aphorismus „Novissimum Organum“: „Aber es gibt kein Substrat solcher ‚Deformationen‘, kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Mechanismen bloß einwirkten: die Deformation ist keine Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert: sie ‚erblich belastet‘“ (Adorno 1951: 261).

Ist die Geschichte der Zivilisation also auch eine Geschichte der Kontrolle über den Körper, so ist die moderne Medizin ein zentrales Element dieser Kontrolle. In der Verdinglichung zum „Corpus“ zeigt sich einerseits die Leugnung der Lebendigkeit und Vergänglichkeit des Menschen als Teil der Naturgeschichte, andererseits die Ausblendung des Gesellschaftlichen von Körper und Krankheit. Auch Horkheimer hat sich sporadisch auch in späteren Schriften zur Medizin geäußert. Er „entdeckt in der Medizin den Abkömmling eines unkritischen Objektivismus [...]. Ihn macht er haftbar [...] für die Fetischisie-

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rung der Wissenschaft, für den Versuch, das Subjekt von der Erfahrung zu isolieren“ (Wiemer 2001: 18f.). Jedes Symptom wird von der Medizin als bloße Funktionsstörung aufgefasst statt als komplexer Ausdruck des Leidens unter den Verhältnissen. Krankheit gilt als bloß naturaler Sachverhalt, nicht als fait social. Die Medizin „erfüllt die ihr zugedachte ideologische Bestimmung, indem sie die Krankheit den Strategien der Individualisierung und Naturalisierung unterstellt.“ (Wiemer 2001: 20)11 Diese Strategien der Individualisierung und Naturalisierung finden sich auch in der gegenwärtig zu beobachtenden Genetisierung der Medizin. An die Kritische Theorie anknüpfend haben Feministinnen wie beispielsweise Regina Becker-Schmidt (2004) und Andrea Maihofer (1994) diese Grundgedanken aktualisiert und um die Geschlechterperspektive erweitert: Was bei Horkheimer und Adorno nur am Rande auftaucht, wurde für sie zentrales Thema: die Tatsache, dass die beschriebene hierarchische Trennung von Geist und Körper geschlechtlich codiert ist. Der Geist gilt darin als das Männliche, während der Körper als das Weibliche abgewertet wird. Diese Erweiterung soll hier zwar aufgenommen, aber nicht im Einzelnen dargestellt werden, da die bisherigen Ausführungen für die Bestimmung einer Heuristik als Ausgangspunkt der kommenden Analysen ausreichen.12 Auch in Foucaults Analysen ist das Macht-Wissen der Medizin zentral. Für ihn ist die Medizin einer der „Kreuzungspunkte“ von Disziplinarmacht, deren Technologien sich auf den individuellen Körper richten, und der im 18. Jahrhundert neu auftretenden Biomacht, die sich auf den Bevölkerungskörper richtet. Dies wird im folgenden Unterkapitel ausgeführt.

11 Carl Wiemer hat die sporadischen Äußerungen vor allem aus Briefen in beeindruckender Weise zusammengetragen; auf dieser Grundlage jedoch wie er von einer systematischen „Ärzte- und Medizinkritik“ der Kritischen Theorie zu sprechen, scheint mir etwas übertrieben. 12 Auf diese hierarchische Trennung beziehen sich auch Gerburg Treusch-Dieter und Evelyn Fox-Keller, deren Beiträge zur Analyse der Körperverhältnisse im Zeitalter der Genetik an den entsprechenden Stellen des Buches zitiert werden.

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1.4 B IOPOLITIK Um die gegenwärtige Medizin und Humangenetik einzuordnen, ist neben der in den bisherigen Textabschnitten im Vordergrund stehenden Ebene der individuellen Körperdisziplinierung die Ebene einer Biopolitik der Bevölkerung relevant, wie sie von Michel Foucault beschrieben wurde. In seiner Vorlesung „Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus“ (Foucault 1976a) beschäftigt er sich mit einer Ende des 18. Jahrhunderts neu auftretenden Machtform: der Biomacht, die plötzlich das Leben und die Bevölkerung zum Thema der Politik macht. Das Biologische wird verstaatlicht, das heißt: Die Souveränität interessiert sich nun dafür, „leben zu machen und sterben zu lassen“, statt wie bisher das Recht über Leben und Tod als „sterben machen und leben lassen“ auszuüben (ebd.: 51). Biologische Prozesse wie zum Beispiel die Geburtenrate, Krankheiten, Hygiene werden institutionell analysiert, wissenschaftlich ausgewertet und Steuerungsprozessen unterworfen. Dabei ist der Fokus nicht der Einzelne, den es zu disziplinieren gilt, sondern die Masse, innerhalb derer durch die Kontrolle von Wahrscheinlichkeiten eine Homöostase angestrebt wird: „Biomacht beschäftigt sich im Unterschied zu bisheriger Disziplinarmacht mit globalen Mechanismen, die sich nicht auf den individuellen Körper richten, sondern das Ziel haben, globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten zu erreichen.“ (Foucault 1976a: 53)

Foucault bezeichnet die Biopolitik daher auch als Sicherheitstechnologie oder als Versicherungs- oder Regulierungstechnologie im Gegensatz zur älteren Dressurtechnologie (ebd.: 54). Die Biomacht löst die Disziplinarmacht aber nicht vollständig ab, sondern verbindet sich mit ihr in vielen Feldern, die Kreuzungspunkte des individuellen Körpers und der Bevölkerung darstellen. So zum Beispiel in den Versuchen, die Stadt zu ordnen, in der Regulierung der Sexualität – und in der Medizin: „Sie [angesprochen sind die Hörer und Hörerinnen der Vorlesung, A.z.N.] begreifen nun, warum und wie ein technisches Wissen wie die Medizin oder ein aus Medizin und Hygiene gebildetes Ensemble im 19. Jahrhundert ein Element wird, nicht das wichtigste, aber eines, dessen Bedeutung erheblich ist auf Grund der von ihm – in dem Maße, in dem die Medizin zur politischen Interventionstechnik wird – herge-

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stellten Verbindung einer wissenschaftlichen Erfassung biologischer und organischer Prozesse (d. h. der Bevölkerung und des Körpers) mit ihren je eigenen Machteffekten. Die Medizin ist ein Macht-Wissen, das sich zugleich auf den Körper und auf die Bevölkerung richtet, auf den Organismus und auf die biologischen Prozesse. Sie wird folglich disziplinierende und regulierende Effekte aufweisen.“ (Ebd.: 55)

Für die Vorgeschichte der Genetik ist außerdem das Aufkommen der Eugenik im 19. Jahrhundert relevant, die in das Umfeld der Biopolitik einzuordnen ist: „Im Kontext merkantilistischen und kameralistischen Denkens wird die ‚Bevölkerung‘ zu einer ökonomisch bedeutsamen Ressource, und damit die Bevölkerungsbewegung zum Objekt systematischer Beobachtung. Mit der Erklärung und Bewertung der Geburten- und Sterblichkeitsrate entsteht die Demographie als ein neues Gebiet systematischen Wissens, das zur Grundlage der steuernden Interventionen des Staatsapparates wird. In diesem Wissensfeld ordnet sich die Eugenik gut hundert Jahre später ein, als Disziplin zur Steuerung und Kontrolle der menschlichen Erbgesundheit.“ (Weingart 1992: 23)

Zentral ist dafür die „Theorie der Degeneration“: Im Anschluss an Darwins Evolutionstheorie kam die These auf, die Menschheit würde kontinuierlich degenerieren, da die Mechanismen der Evolution, die den „survival of the fittest“ garantiert hätten, durch Kultur außer Kraft gesetzt worden seien. Der große Erfolg dieser Theorie ist vor dem Hintergrund allgemeiner Verwerfungen zu verstehen, die in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stattfanden: Durch die Urbanisierung und Industrialisierung sah die bürgerlichakademische Schicht ihren Lebensraum Stadt bedroht, konnte ihm aber auch nicht entkommen. Die unteren Schichten strömten in die Städte, lebten in schlechten Wohnverhältnissen und Armut. Die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod wurde in der bürgerlichen Theorie der Degeneration biologisiert, mögliche soziale Konsequenzen damit abgewehrt: Verantwortlich für die schlechten Verhältnisse der Unterschichten sei ihre ererbte Ausstattung (ebd.: 24ff.). Im Theorem der ‚differentiellen Geburtenrate‘, also dass die unteren Schichten mehr Kinder bekämen und sich damit die ‚Erb-

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gesundheit‘ der Deutschen13 insgesamt langfristig verschlechtern würde, äußerte sich vermutlich ebenso eine soziale Abstiegsangst des Bürgertums (Trumann 2006). Diese Überlegungen mündeten schließlich in eine Forderung nach „Rassenhygiene“, um den „Selbstmord des deutschen Volkes“ (ebd.: 91) zu verhindern: Sogenannte Höherwertige sollten mehr Kinder bekommen (gegen den Trend zur bürgerlichen Zwei-Kind-Familie), ‚Minderwertige‘ keine.14 Dieses Feld der Rassenhygiene sieht Foucault im notwendigen Rassismus der Biomacht begründet. Die neue Machtform, deren Fokus eigentlich die Optimierung des Lebens der Bevölkerung ist, muss zum Beweis ihrer Souveränität weiterhin das Recht zu töten haben und es gebrauchen. Dies kann sie aber nur, indem sie das Töten mit der Förderung des Lebens begründet: Andere müssen sterben, damit die ‚eigene Rasse‘ überleben kann oder das Leben der Bevölkerung gefördert werden kann. Dieser Rassismus richtet sich gegen äußere ‚Feinde‘ und gleichzeitig, aber in anderer Form, nach innen, wo er den Bevölkerungskörper fragmentiert (Foucault 1976a: 55).15

13 In dieser Untersuchung wird auf das Beispiel der deutschen Eugenik fokussiert, deren Umsetzung im Nationalsozialismus besonders markant ist. Ähnliche Tendenzen gab es jedoch auch in anderen europäischen Ländern und den USA. 14 Der projektive Charakter solcher Gedanken kommt etwa in Zitaten von einem der Ideologen, Hermann Siemens, zum Vorschein, der als ein Beispiel für den drohenden Untergang die zahlenmäßige Minimierung seiner eigenen großbürgerlichen Familie angibt (Trumann 2006: 90). Die Diskussionen lassen unweigerlich an die Debatte der letzten Jahre um die „kinderlosen Akademikerinnen“ denken, denen vorgeworfen wird, sich zu weigern, ihre guten Gene weiterzugeben. Einen rassistischen Kulminationspunkt hatten sie in Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ (2010), der u.a. vor einer Verschlechterung des deutschen Erbgutes durch hohe Geburtenraten bei „minder intelligenten“ Familien aus der „Unterschicht“ sowie von Familien mit Migrationshintergrund warnte. 15 Foucaults Beobachtungen erklären allerdings nicht, warum der Souverän töten können „muss“. Auch, wer warum zum Objekt des Rassismus wird, bleibt offen. Hier wäre die Geschichte des Kolonialismus zu berücksichtigen und insbesondere für den Nationalsozialismus eine Theorie des Antisemitismus (den Foucault lediglich als eine Form des Rassismus betrachtet) vorauszusetzen. Zu

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Diese gedankliche Linie wird in Kapitel 3.1 aufgenommen und in Hinblick auf die gegenwärtige Humangenetik aktualisiert. Dort werden auch die Weiterführungen der foucaultschen Gedanken im Sinne der Gouvernementalitätsstudien von Nikolas Rose und Carlos Novas sowie Thomas Lemke aufgegriffen.

1.5 I DEOLOGIE

UND

D ISKURS

In den folgenden Teilen der Arbeit wird häufig die Rede sein von „BRCADiskurs“, „Diskurs der genetischen Verantwortung“ und Ähnlichem. Wie Petra Gehring (2006: 128ff.) richtig bemerkt, gehört der Diskurs-Begriff in Anlehnung an Foucault heute zum festen Repertoire der politischen Gegenwartsdiskussion, wobei aber „alles Mögliche“ als Diskurs bezeichnet wird, ohne dabei tatsächlich dem strengen Methodenprogramm zu folgen, das Foucault damit im Sinn hatte (Foucault 1969). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geschieht dies ebenfalls nur eingeschränkt: Mein Anspruch ist nicht, zu beurteilen, ob es sich bei den beschriebenen Phänomenen tatsächlich um einen abgrenzbaren Diskurs im Sinne Foucaults handelt, oder eine vollständige Diskursanalyse durchzuführen.16 Trotzdem wird von einem über die Grenzen eines Textes hinausgehenden geregelten Ensemble von Aussagen ausgegangen, dass das Feld des Sagbaren bestimmt; ein Feld, in dem sich etwa immer wieder dieselbe Formation von Begriffen findet

diesen Kritikpunkten besteht eine umfangreiche Literatur, als ein Beispiel sei hier nur Stingelin 2003 erwähnt. Auch Foucaults tautologischer Machtbegriff wäre zu kritisieren: Als Grund für jegliches Ereignis kann immer die Strategie „der Macht“ angeführt werden. Diese Diskussion kann hier ebenfalls nicht grundlegend

geführt,

sondern

nur

auf

den

Gewinn

seiner

(post-

)strukturalistischen Beschreibungsweise von Machtprozessen verwiesen werden, die diese nicht nur auf der Ebene des Staates oder klassischer „Machthaber“ verorten. Vgl. auch die Kommentierung von Gehring (2006: 10f.). 16 Es ist Gehring zuzustimmen, dass das bei einem gegenwärtigen Diskurs gar nicht in der foucaultschen Weise möglich ist, da aus dem „Gewimmel der Aussagen“ der Diskurs erst rückwirkend aus dem historischen Archiv herauspräpariert werden kann (Gehring 2006: 153).

B EGRIFFLICHKEITEN | 35

(Entscheidung, Gen, Risiko, Information, Prävention) und nur bestimmte Subjekte zum Sprechen autorisiert werden. Was im dritten Kapitel empirisch geleistet wird, ist, einen bestimmten Ausschnitt des Gesundheitsdiskurses – das Feld der BRCA-Gentests mit den sie begleitenden Dokumenten und Aussagen – zu betrachten. Einerseits handelt es sich um Fachtexte, die in medizinischen Zeitschriften für Ärzte publiziert werden, die ihre Patientinnen gegebenenfalls zu solchen Tests überweisen sollen, sowie um interne Richtlinien der zuständigen Humangenetiker; andererseits um Texte, die sich direkt an potentielle Patientinnen richten. Als Hintergrund beziehe ich mich auf andere Analysen, die die Geschichte dieser Begriffe innerhalb der Medizin nachvollziehen und dies zum Teil ebenfalls als „Diskursanalysen“ betreiben wie etwa Lily Kay (1994, 2002) (siehe Kapitel 3.1 und 3.2). Ähnlich wie Anne Waldschmidt (1996), die sich bei ihrer Untersuchung des Expertendiskurses zur Humangenetik auf den Diskursbegriff Siegfried Jägers bezieht, begreife ich das Material als geregelte und konventionalisierte Formation von Texten. Diese will ich vor ihrem organisatorisch-institutionellen Hintergrund und in Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische und ideologische Wirkung analysieren. Diese Verknüpfung von Diskursund Ideologiebegriff mag zunächst verwundern, da Foucault selbst den Ideologiebegriff zurückgewiesen hat, aber seitdem sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, die – etwa als Critical Discourse Analysis (Fairclough 1989) oder Kritische Diskursanalyse (Jäger 1993) – beide Begriffe verbinden. Ähnlich unorthodox werden die Begriffe in meiner Untersuchung verknüpft: Der Diskurs wird gewissermaßen ideologiekritisch angegangen, also als Ausdruck spezifischer Vergesellschaftung angesehen (und nicht als völlig kontingent).17 Wenn also an anderer Stelle von „Präventionsideologie“ die Rede ist, dann steht dabei der ideologische Charakter im Vordergrund, der sich in verschiedenen Diskursen zeigt. Ideologie wird im Sinne der marxschen Fetischkritik als „notwendig falsches Bewusstsein“ bestimmt (vgl. z.B. Schnädelbach 1969: 83). Die im engeren Sinne methodischen Überlegungen sowie die konkrete Vorgehensweise meiner Analyse werden im nächsten Kapitel diskutiert.

17 Es soll nicht behauptet werden, Foucault habe das überhaupt nicht getan, aber er verdächtigte derart materialistische Ansätze stets der „Ableitung“.

2. Methodischer Zugang

Wie im letzten Teil dargelegt, werden in dieser Untersuchung die Veränderungen im Natur- beziehungsweise Körperverhältnis als Teil gegenwärtiger Vergesellschaftung verstanden. Dabei wird auf grundlegende Aussagen der Kritischen Theorie zurückgegriffen. Es liegt nun die Frage nach dem Verhältnis dieser Annahmen zur gewählten Methodologie nahe, also auch danach, wie die untersuchten Einzelfälle mit gesellschaftlicher Totalität in Beziehung gesetzt werden können. Mir geht es darum, Gesellschaftstheorie und Empirie miteinander zu vermitteln; ich gehe davon aus, dass sich in subjektiven Äußerungen immer Momente gesellschaftlicher Objektivität rekonstruieren lassen und dass es umgekehrt wichtig ist, spekulative Annahmen über diese Objektivität von Erfahrungen korrigieren zu lassen. Im Folgenden soll geklärt werden, wie ein solches empirisches Forschen, das im Besonderen das GesellschaftlichAllgemeine aufspüren will, möglich ist. Dafür möchte ich zunächst die entsprechenden Diskussionen innerhalb des Instituts für Sozialforschung kritisch rekapitulieren und im Anschluss auf Entwicklungen soziologischer Methoden seitdem eingehen. Danach werde ich mein eigenes Vorgehen darstellen und begründen.

2.1 E MPIRISCHES F ORSCHEN K RITISCHE T HEORIE

UND

Mit der Kritischen Theorie wird meist vor allem die Kritik am Positivismus und am durch ihn geprägten Empirismus der Soziologie verbunden, die fälschlicherweise oft als eine prinzipielle Empirie-Abstinenz interpretiert

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wird.1 Dabei wird leicht vergessen, dass im Kontext des Instituts für Sozialforschung umfangreiche empirische Arbeiten entstanden sind. In der Geschichtsschreibung regelmäßig abgetan als Kompromisse, die lediglich dazu dienten, das Institut zu finanzieren, wird diese Arbeit von Adorno selbst im Rückblick explizit als zentral dargestellt. Zum Verhältnis von Theorie und Empirie schreibt er 1969 in seinem Aufsatz „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“: „Meine eigene Position in der Kontroverse zwischen empirischer und theoretischer Soziologie, die oft, vor allem hierzulande, ganz falsch dargestellt wurde, möchte ich grob und in aller Kürze so präzisieren, daß mir empirische Untersuchungen, auch im Bereich von Kulturphänomenen, nicht nur legitim sondern notwendig erscheinen. Man darf sie aber nicht hypostasieren und als Universalschlüssel betrachten. Vor allem müssen sie selbst in theoretischer Erkenntnis terminieren. Theorie ist kein bloßes Vehikel, das überflüssig würde, sobald man die Daten einmal zur Verfügung hat.“ (Adorno 1969c: 129)

Tatsächlich entstanden im Rahmen des Instituts für Sozialforschung zwar viele empirische Arbeiten – sowohl umfangreiche Interview-Studien wie etwa die Studien zu Autorität und Familie aus den 1930er Jahren oder die berühmten Untersuchungen zur Autoritären Persönlichkeit als auch viele qualitative Inhaltsanalysen von Texten oder Musikstücken durch Adorno oder Leo Löwenthal. Letztlich blieb die Methodologie kritischer Forschung aber unbestimmt. Die entsprechenden Diskussionen innerhalb des Instituts verliefen zu verschiedenen Zeiten entlang unterschiedlicher Gegenüberstellungen – einzelwissenschaftliche versus interdisziplinäre Forschung, kritische versus positivistische Forschung, Totalitäts- versus Tatsachenerfahrung, negative versus positive Totalität, qualitative versus quantifizierende beziehungsweise quantitative Forschung – und werden im Folgenden genauer dargestellt. 2.1.1 Die Anfänge: Interdisziplinärer Materialismus Nachdem Horkheimer 1930 die Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung übernommen hatte, formulierte er in verschiedenen Texten das

1

Vergleiche zum Beispiel die Darstellung bei Schnell/Hill/Esser 2005.

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Programm eines „interdisziplinären Materialismus“. Hierin wird mit Bezug auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx der offizielle Wissenschaftsbetrieb kritisiert, indem dagegen eine totalitätsbezogene Forschung gesetzt wird, die Sozialphilosophie und empirische Forschung vermittelt. Gleichzeitig erscheinen die Ergebnisse der Einzelwissenschaften jedoch als nutzbar, sofern sie in Sekundäranalysen reflektiert werden. Auch die angestrebten eigenen Forschungen sollen offenbar fachdisziplinäres Vorgehen und philosophische Reflexion bloß kombinieren statt eine neue, kritische Methodologie zu entwickeln.2 Dies zeigt sich in den Studien „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ (Fromm 1937/1938) und „Autorität und Familie“ (Fromm 1936): Die von Erich Fromm ursprünglich entwickelte Idee, die Antworten auf offene Fragen in den Fragebögen psychoanalytisch zu interpretieren, weil man nur durch die latenten Inhalte den Ideologien auf die Spur käme, wurde schon in der ersten Enquete der „Arbeiter und Angestellten“-Untersuchung nur ansatzweise umgesetzt (Bonß 1982: 168-173). Sie verlor sich im Verlauf der verschiedenen aufeinanderfolgenden Enqueten der zweiten Untersuchung immer mehr zugunsten eines rein quantitativen Vorgehens (ebd.: 181-185). Die Veröffentlichung von „Autorität und Familie“ beginnt zwar mit mehreren umfangreichen gesellschaftstheoretischen und psychoanalytischen Aufsätzen; die Erhebung selbst geht jedoch nach klassischen quantitativen Verfahren vor: Die Fragebögen produzieren recht stereotype Antworten, die – wie schon bei den „Arbeitern und Angestellten“ – in ein simples Rechts-Links-Schema eingeordnet werden (Bonß 1982; Stapelfeldt 2004: 190-194).3

2

Vergleiche hierzu auch die Darstellungen von Stapelfeldt 2004: 151-172 und Bonß 1982: 162-166.

3

Wie Bonß betont, ergab sich jedoch bei der ersten Untersuchung trotz dieser stereotypen Vorgehensweise ein überraschendes Resultat: Das ursprüngliche Modell wurde in der statistischen Korrelationsanalyse falsifiziert, als sich zeigte, dass selbst jene Arbeiter, die aufgrund ihrer parteilichen Orientierung als „revolutionär“ eingestuft wurden, sich in anderen Kontexten, denen die politische Dimension nicht direkt anzusehen war, „autoritär“ äußerten. Schließlich konnten nur 15% der Linken als eindeutig „radikal“ eingestuft werden (Bonß 1982: 174). Für Atteslander ist die Untersuchung „Arbeiter und Angestellte“ deshalb ein Paradebeispiel für die Kreativität eines Forschers im Forschungsprozess: Fromm

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2.1.2 Erste „wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“ Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde das Institut 1933 geschlossen und siedelte zunächst nach Genf und schließlich in die USA über, wo ein Gebäude der Columbia University genutzt werden konnte. Bis Mitte der 1930er Jahre konnten die meisten Mitglieder in die USA emigrieren. Auch das Institutsvermögen wurde von Horkheimer frühzeitig transferiert, so dass in den ersten Jahren keine finanziellen Probleme bestanden. Hier erfuhr das Programm des interdisziplinären Materialismus eine Revision: In seinem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 bestimmt Horkheimer den Unterschied der eigenen Arbeit zur „traditionellen“ nicht mehr rein wissenschaftsorganisatorisch, sondern epistemologisch: Die Kritische Theorie wird als Verhalten eingeführt, das durch ein Interesse an der Veränderung der Gesellschaft gekennzeichnet ist. Die Neubestimmung lässt sich laut Bonß im Kontext zweier Erfahrungen sehen. Erstens führte die Konfrontation mit der Sozialforschung in den USA zu einer Einsicht in die wissenschaftliche Unzulänglichkeit der eigenen Studien, aber auch zu einer Distanzierung vom dortigen Empirismus. Man begann, zwischen „Empirie“ und „Erfahrung“ zu differenzieren. Zweitens, und vermutlich wichtiger war, dass man auf die historische Entwicklung reagiert: Man war enttäuscht von der Arbeiterklasse, die, statt sich revolutionär zu verhalten, sich als unfähig erwiesen hatte, den Faschismus zu verhindern. Das führte dazu, das Proletariat nicht mehr als Subjekt und Adressat der Theorie anzusehen (Bonß 1982: 185ff.).

habe sich ein neues Falsifikationsverfahren ausgedacht – ähnlich dem späteren kritischen Rationalismus – mithilfe dessen er seine ursprüngliche Hypothese falsifizierte und gleichzeitig bewies, dass manifeste Äußerungen sich von latenten Charakterstrukturen massiv unterscheiden können, somit also die üblichen Meinungsforschungen wenig aussagekräftig sind (Atteslander 2000: 362ff.). Bonß hält dem Institut außerdem zugute, dass der quantifizierenden Rekonstruktion keine gegenstandskonstituierende Funktion zuerkannt wurde, sondern sie stets eingebunden blieb in eine gesellschaftstheoretische Orientierung (Bonß 1982: 185), reißt damit aber meines Erachtens selbst den aus dialektischer Perspektive notwendigen Zusammenhang von Methode, Gegenstand und Theorie auseinander.

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Die gesellschaftliche Totalität schien nicht mehr als eine positive konzipierbar, die vom Proletariat praktisch verändert werden kann, sondern nur noch als negative, die von den Rändern der Gesellschaft – etwa von einer noch nicht völlig verdinglichten Philosophie – kritisiert werden kann. Bestimmend für diese Neuorientierung war vermutlich auch die verstärkte Zusammenarbeit mit Adorno. Erst in den USA wurde dieser, der zunächst nach London immigriert war, fester Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung. Er hatte schon 1931 in einem Vortrag mit dem Begriff der „negativen Dialektik“ im Angesicht der „Universalisierung von Warenform und Kapitalismus“ operiert: „Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten.“ (Adorno 1931: 325)

Abgelöst von ihren sozialen Trägern sei Totalität nicht mehr systematisch zu entfalten, sondern nur in Spuren zu rekonstruieren. In einem Zusammenwirken von Forschung und Deutung könne die Philosophie nur ein bloßes „Herantasten“ an die „volle Wirklichkeit“ leisten, das immer mit einer Unsicherheit behaftet bleibt. Als Leitlinie gelte es, im Besonderen das Allgemeine experimentell zu entdecken, in den Brechungen des Einzelfalls die volle Wirklichkeit zu finden und in der Unvernunft die Möglichkeit der Vernunft wahrzunehmen. Hier schlägt Adorno ein eindeutig qualitatives, induktives Vorgehen vor, das er selbst immer wieder beispielhaft durchgeführt hat. Ähnlich wie in Horkheimers frühem Programm solle es jedoch auch darum gehen, Elemente der Einzelwissenschaften aufzunehmen (und aufzuheben), allerdings hier in wesentlich vermittelterer Weise: „[W]ie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage solange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, [...] – so hat die Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, solange in wechselnde

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Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während die Figur zugleich verschwindet.“ (Ebd.: 335)

Seine ersten qualitativen musiksoziologischen Untersuchungen (Adorno 1932 und 1936) schienen ihn auch zu qualifizieren, im „Radio Research Project“ unter der Leitung von Paul Felix Lazarsfeld in Newark mitzuarbeiten – eine Stelle, durch die mit der Vermittlung von Horkheimer 1938 seine Übersiedlung in die USA möglich wurde. Die Arbeit in diesem Projekt beschreibt Adorno sehr anschaulich in „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“ (1969c): Sein anfängliches Erstaunen über die verdinglichten Untersuchungsmethoden der „administrative research“ – etwa einen „program analyser“, eine kleine Maschine, über die Testpersonen per Knopfdruck ihre „likes and dislikes“ kundtun sollten – mündet in Ambivalenz. Zwar öffnet er sich stärker für den Wert empirischen Arbeitens, kritisiert jedoch zugleich die verwendeten Methoden. Statt Musik als bloßen „Stimulus“ zu behandeln und subjektive „Reaktionsweisen“ der Hörer und Hörerinnen abzufragen, sieht Adorno sie als „seinerseits qualitativ bestimmtes, Geistiges, seinem objektivem Gehalt nach Erkennbares“ (ebd.: 118) und fordert, die Wirkungsforschung in Beziehung zu den objektiven Implikationen der Medien und des Materials zu setzen. Im Rahmen des Projekts veröffentlicht Adorno mehrere Aufsätze, in denen er diese Kritik expliziert und musikalische „kritische content analysis“ (ebd.: 127), also kritische Inhaltsanalysen durchführt, die allerdings auf keine große Zustimmung im Projekt stoßen. Er beschreibt es rückblickend als Mangel seiner Arbeit, keine Hörerforschung betrieben zu haben, die als Korrektur und Differenzierung seiner Theoreme dringend notwendig gewesen wäre: „Es ist eine offene, tatsächlich nur empirisch zu beantwortende Frage, ob, wieweit, in welchen Dimensionen die in musikalischer content analysis aufgedeckten gesellschaftlichen Implikationen von den Hörern auch aufgefaßt werden, und wie sie darauf reagieren.“ (Ebd.: 128)

Er nimmt also keine automatische Äquivalenz zwischen gesellschaftlichen Implikationen und „Reaktionsweisen“ der Befragten an. Auch hier spricht sich Adorno für eine gegenseitige Ergänzung verschiedener Methoden aus

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und weist den Versuch einer Erforschung der Rezeption nicht von vornherein zurück. Seine Idee, Hörerwahrnehmungen in qualitativen Fallstudien zu untersuchen, wurde nie umgesetzt, und die Kategorien verschiedener Hörertypen, die Adorno nach dem Vorbild von „Autorität und Familie“ entwickelt, erwiesen sich als für die von Lazarsfeld angestrebten Massenbefragungen unbrauchbar. Als das Projekt vom Geldgeber nicht weiterfinanziert wurde, kam es zum offenen Streit zwischen Adorno und Lazarsfeld über methodische Fragen. In einer Ausgabe der „Zeitschrift für Sozialforschung“ (ZfS) zum Thema Massenkommunikation wird der Streit eher geglättet als ausgetragen, und Lazarsfeld bescheinigt beiden Ansätzen – „critical research“ und „administrative research“ – ihre Berechtigung (Bonß 1982: 198-201). In den USA begannen Horkheimer und Adorno gemeinsam an der „Dialektik der Aufklärung“ zu arbeiten, in der der Positivismus als Teil eines allgemeinen Rückfalls der aufklärerischen Vernunft in Barbarei kritisiert wird. Danach wäre es naheliegend gewesen, das eigene Forschen in Abgrenzung dazu zu bestimmen, aber die Ausführungen bleiben ambivalent. Man will sich offenbar nicht völlig von gängigen Kriterien soziologischer Wissenschaftlichkeit verabschieden, auch wenn man auf etwas anderes, auf gesellschaftliche Totalität, hinauswill, die sich nach diesen Kriterien nicht ‚beweisen‘ lässt. Parallel dazu führte die zunehmende Finanzknappheit des Instituts dazu, dass man sich um externe Geldgeber für Forschungen bemühen musste, um die Mitarbeiter weiter bezahlen zu können. 1941 veröffentlicht Horkheimer in der Zeitschrift für Sozialforschung das Programm eines umfangreichen mehrschrittigen Forschungsprojektes zum Antisemitismus, in dem im Gegensatz zu den Forschungen der 1930er Jahre vorwiegend experimentelle, einzelfallorientierte Verfahren propagiert werden. Das Ringen um eine andere Empirie lässt sich vielleicht nicht loslösen von der Notwendigkeit, sich in der amerikanischen Öffentlichkeit gleichzeitig als von den üblichen Forschungsansätzen different, aber doch als wissenschaftlich seriös – und nicht etwa marxistisch – zu präsentieren. Bezeichnend und geradezu amüsant ist eine „Debatte über die Methoden der Sozialwissenschaften, besonders die Auffassung der Methode der Sozialwissenschaften, welche das Institut vertritt“ vom 17. Januar 1941 (Adorno et al. 1941). Hier wird deutlich, dass man sich zwar irgendwie vom positivistischen Vorgehen „der Amerikaner“ unterscheidet, aber doch nicht recht fassen kann, wie dieser Unterschied, „wie dieses eigene Moment aussieht“ (Horkheimer zit.

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in Adorno et al. 1941: 549). Dass es bei der Bestimmung des eigenen Verständnisses auch um pragmatische Überlegungen ging, nämlich, bei der Vergabe von Forschungsgeldern berücksichtigt zu werden, wird unter anderem in H. Weils4 Äußerung deutlich: „Wissenschaft ist, ob man will oder nicht, eine Sache, die nur im Großen gedeihen kann, und wenn wir mitspielen wollen, dann können wir das, indem wir überlegen, wie weit wir in der Lage sind, es den anderen so darzustellen, damit sie es überhaupt verstehen können.“ (Weil zit. in Adorno et al. 1941: 548)5

Das Bedürfnis mitzuspielen, oder die ökonomische Notwendigkeit dazu, führt dazu, dass man den „Leuten die Brauchbarkeit unserer Theorie beibringen“ (ebd.) muss. Die Mitarbeiter kommen schließlich auf den unterschiedlichen Erfahrungsbegriff der eigenen und der positivistischen USamerikanischen Forschung zu sprechen. Vor allem Marcuse beharrt darauf: „Die Erfahrung ist bei uns quasi schon im Licht einer bestimmten Erfahrung vorgelegt. Diese Erfahrung ist ja nicht die Erfahrung, auf die sich die Positivisten berufen würden. Was ist also diese bestimmte Erfahrung, auf die wir uns beziehen? Was haben wir eigentlich schon vor der Fragestellung erfahren?“ (Marcuse zit. in Adorno et al. 1941: 546f.)

Grossmann antwortet darauf, dass sie eine Theorie der Klassengesellschaft haben. „Wie weit das wahr ist, können wir auch nicht beantworten“ (zit. in

4

Vermutlich handelt es sich um Hans Weil, Pädagoge und Sozialwissenschaftler, der 1939/1940 mit Hilfe Horkheimers und Tillichs über England in die USA emigrierte (siehe den Anmerkungsapparat zum Briefwechsel in Horkheimer 1996: 263).

5

Offenbar ist nicht genau bekannt, aus welchem Anlass diese Diskussion stattfand, aber man wollte vermutlich der amerikanischen Öffentlichkeit im Hinblick auf mögliche Forschungsaufträge das eigene Forschungsverständnis darstellen (siehe die editorische Vorbemerkung in Adorno et al. 1941: 542. Dort wird auch auf Marcuses Äußerung verwiesen: „Wir sollen in drei Seiten sagen, wie unsere Methode aussieht.“). Der Pragmatismus drückt sich auch in der Äußerung Neumanns aus: „Wichtig ist, daß die Erklärung so formuliert wird, daß sie nicht marxistisch ist.“ (Neumann zit. in Adorno et al. 1941: 543)

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Adorno et al. 1941: 547). Nach Horkheimers Feststellung, hier könne man nicht mit Beweisen weiterkommen, bemerkt Adorno, man könne dafür mit der Kritischen Theorie den Fragehorizont des Positivismus hinterfragen. In dieser internen Diskussion wird schon die Argumentationsstruktur des Positivismusstreits vorweggenommen (Bonß 1982: 15): Man begegnet dem Gegner ideologiekritisch und wirft ihm seine Beschränktheit vor, ohne das eigene Vorgehen konkret beschreiben zu können.6 Einige wesentliche Elemente des eigenen Verständnisses im Gegensatz zum „amerikanischen“ werden – jedoch relativ allgemein – formuliert: dass man alle Phänomene in ihrer Geschichtlichkeit (Adorno et al. 1941: 548) und in Hinblick auf die mögliche Veränderung der Gesellschaft betrachtet (Adorno et al. 1941: 550), und dass man die einzelnen Forschungen in eine bestimmte Kontinuität einbettet. Für die Argumente, die hier auftauchen, ist der bonßsche Begriff der „Totalitätserfahrung“ im Gegensatz zur „Tatsachenerfahrung“ sehr treffend. Es geht um eine „vorgängige Erfahrung der Gesellschaft als Totalität“7, die im szientifischen Kalkül nicht aufgeht, aber einer Verwissenschaftlichung zugänglich gemacht werden muss (Bonß 1982: 13-17). Zu spekulieren wäre, ob Bedürfnis oder Notwendigkeit in der Wissenschaft „mitzuspielen“, nicht über diese pragmatische Selbstdarstellung hinaus die empirischen Arbeiten des Instituts schon immer mitgeprägt und dazu geführt hat, im Widerspruch zu eigenen erkenntniskritischen Überlegungen bestimmte andere Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit anzulegen. In der beschriebenen Diskussion wird zwar festgehalten, „daß Wahrheit nicht verifizierbar ist“ (Gumperz zit. in Adorno et al. 1941: 549) und dass man

6

Nur wird dieser Gegensatz hier zusätzlich als kultureller formuliert: „Den Amerikanern“ wird allgemein ein Mangel an theoretischer Erkenntnis attestiert, weswegen sie überhaupt erst die methodischen Probleme bekämen, die sie haben – weil ihre Forschungen eben nicht schon per se in einen theoretischen Kontext eingebunden seien – während „die Europäer“ in einer Weise zu einer homogenen Einheit stilisiert werden, die vor dem Hintergrund der früheren programmatischen Texte von Horkheimer doch recht nostalgisch verklärend klingt: „Für uns hat heute noch Wissenschaft praktischen und politischen Ernst. Der Gegensatz zwischen Amerikanern und Europäern ist der, dass für uns Wissenschaft Philosophie ist.“ (Horkheimer zit. in Adorno et al. 1941: 552)

7

Bonß bezieht sich in dieser Formulierung auf Habermas.

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sich auch auf „den Gegensatz von Hypothese und Faktum“ nicht einlassen wolle (Adorno zit. in Adorno et al. 1941: 547); letztlich wird in den eigenen Forschungen jedoch versucht, Hypothesen zu verifizieren. Schon für „Autorität und Familie“ behauptet Horkheimer zwar rückblickend, Statistik sei hier nicht zur Beweisführung, sondern lediglich als „Spekulationskontrolle“ gedacht, Bonß zeigt aber, dass das Programm ursprünglich anders angelegt war (Bonß 1982: 184). 2.1.3 Die „Studien zum autoritären Charakter“ Auch die Forschungen nach 1941, die auf Grundlage des 1941 erstellten Programms zur Erforschung des Antisemitismus erfolgten, bewegen sich in einer seltsamen Ambivalenz: Einerseits rücken qualitative Herangehensweisen im Vergleich zu vorangehenden Forschungen in den Vordergrund.8 Gleichzeitig knüpft Adorno etwa in Bezug auf die „Studien zum autoritären Charakter“ die Generalisierbarkeit von Ergebnissen offenbar an ihre quantitative Repräsentativität und unterwirft sich damit den Kriterien der gängigen Sozialforschung. Er begründet die Mischung aus qualitativen und quantitativen Elementen so:

8

Die projektierten Schritte konnten nur zum Teil durchgeführt werden: Als theoretische Arbeit in diesem Kontext können die „Elemente des Antisemitismus“ in der „Dialektik der Aufklärung“ angesehen werden, weitere Projekte erfolgten im Rahmen der „Studies in Prejudice“. Als Geldgeber für einzelne Teile wurden das Jewish Labour Committee und der American Jewish Council (AJC) gewonnen. Ersteres förderte eine Untersuchung über Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern mit verdeckten offenen Interviews, deren Protokolle ausführlich interpretiert wurden. Induktiv-exemplarisch wurden verschiedene Typen gebildet, deren Merkmale dann quantitativ ausgezählt wurden. Qualitative und quantitative Verfahren wurden hier also bloß hintereinander geschaltet, statt vermittelt wie in den Studien zum autoritären Charakter (Bonß 1982: 211). Der 1300seitige Forschungsbericht wurde nie zu einer Veröffentlichung umgearbeitet – vielleicht auch wegen der brisanten Ergebnisse, da bei einer Mehrheit der Befragten antisemitische Einstellungen festgestellt wurden (ebd.: 206-211). Die umfangreichste Untersuchung waren schließlich die vom AJC geförderten „Studien zum autoritären Charakter“.

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„Die Aporie, daß das rein quantitativ Ermittelte selten die genetischen Tiefenmechanismen erreicht, den qualitativen aber ebenso leicht die Generalisierbarkeit und deswegen die objektive soziologische Gültigkeit aberkannt werden kann, suchten wir zu meistern, indem wir eine ganze Reihe verschiedener Techniken verwendeten, die wir nur im Kern der dahinter stehenden Konzeption aufeinander abstimmten.“ (Adorno 1969c: 135)

Auffällig ist die relativierende Formulierung, dass die „objektive soziologische Gültigkeit“ aberkannt werden „kann“ – als sei Adorno nicht sicher, ob er sich diesem Kriterium unterordnen will.9 Die Durchführung der „Studien zum autoritären Charakter“ geschah in Zusammenarbeit mit den erfahrenen empirischen Forschern R. Nevitt Sanford und Daniel Levinson, deren Überlegungen zur Konstruktion einer psychologischen Skala mit eigenen qualitativen Schritten kombiniert wurden (Bonß 1982: 212). Konzeptionell entscheidend war Adornos Rezeption der Psychoanalyse, die sich von Fromms Sozialpsychologie abzugrenzen suchte. Statt psychologische Phänomene unmittelbar sozial zu deuten, ging es auch hier um eine „Spurensuche“.10 Aus qualitativen, sogenannten „klinischen“ Interviews wurden im Rahmen der „Studien“ Typologien und schließlich verschiedene Skalen entwickelt, am Ende die berühmte „FSkala“, mit der man im quantitativen Teil über Fragebögen autoritäre Einstellungen bei einer großen Zahl von Versuchspersonen messen konnte. Ohne dass hier genauer auf die „Studien“ eingegangen werden soll, kann festgehalten werden, dass Adorno sich tatsächlich an einem quantitativen Ideal von Generalisierbarkeit orientiert, wie man an Zitaten wie dem obigen sehen kann.11 Allerdings gab es ja im Forschungsprojekt unterschiedliche

9

Adorno schildert auch verschiedene Probleme damit und kommt zu dem Schluss: „Während wir glaubten, durch die Kombination quantitativer und qualitativer Methoden den Antagonismus des Generalisierbaren und des SpezifischRelevanten überwinden zu können, ereilte er uns inmitten unserer eigenen Bestrebungen doch noch“ (Adorno 1969c: 138); es bleibt an dieser Stelle aber unklar, weshalb.

10 Zu Adornos Auseinandersetzung mit Fromm, der dort allerdings nicht direkt genannt wird, siehe Adorno 1952a. 11 Gegen die eigene Intention benutzt er außerdem eine Sprache der Verdinglichung, objektiviert und quantifiziert Befragte zu „Versuchspersonen“ und „Bei-

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Erkenntnisinteressen: Erstens die Feststellung, wie der autoritäre Charakter sich ausdrückt, wofür die qualitative Untersuchung angesetzt war, zweitens die Erstellung eines neuen heuristischen Instrumentes zur Messung der Verbreitung dieses Charakters – das heißt wie häufig er in der amerikanischen Bevölkerung auftritt – und der Einsatz der F-Skala bei einer großen Personenzahl, wofür das quantitative Element notwendig war. Als in der Rezeption der Studie das spezielle Vorgehen verkannt und vor allem die mangelnde Präzision kritisiert wurde, waren die Antworten aus dem Kreis der Frankfurter sehr defensiv, was darauf hinweist, dass sie sich am Maßstab der Wissenschaftlichkeit messen ließen (Bonß 1982: 221). 2.1.4 Die Nachkriegszeit in Frankfurt Entgegen ersten Vorstellungen von Horkheimer, man müsse „den deutschen Studenten amerikanische Methoden vermitteln und damit dem allzu starken Hang traditioneller deutscher Akademiker zur Theorie entgegenwirken“ (in einem Brief an Löwenthal, zit. nach Bonß 1982: 222), haben sich Horkheimer und Adorno nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1951 aus der Forschungspraxis eher zurückgezogen. Adorno veröffentlicht aber ab den 50ern einige programmatische Texte zum Thema Sozialforschung.12 Auch in ihnen wird wiederholt eine Orientierung an quantitativen Methoden deutlich. Er bescheinigt den quantitativen Verfahren einen Realitätsgehalt, weil die soziale Realität selbst „zweite Natur“ geworden sei, somit auch quasi-naturwissenschaftlich messbar (Adorno 1957: 202f., 207). Die Meinungsforschung habe als Spiegel der reglementierten Reaktionsweisen der „Zwangskonsumenten“ ihre Berechtigung und sei, ebenso wie die Statistik – deren Prognosefähigkeit nicht zu bezweifeln sei – als „Verwaltungswissenschaft“ Ausdruck der verwalteten Welt: „Dort, wo die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse in der Tat auf die ‚Reaktionsweisen von Lurchen‘ heruntergebracht werden, wie als Zwangskonsumenten von Massenmedien und anderen reglementierten Freuden, paßt die Meinungsfor-

spielen“, wie Stapelfeldt (2004: 213-233) kritisiert. Ob solche Verdinglichungen in der Forschung auszuschließen sind, ist aber m. E. fraglich, wie in Kapitel 2.3.1 noch diskutiert werden wird. 12 Z.B. Adorno 1952b, 1957, 1969d.

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schung, über welche sich der ausgelaugte Humanismus entrüstet, besser auf sie als etwa eine ‚verstehende‘ Soziologie: denn das Substrat des Verstehens, das in sich einstimmige und sinnhafte menschliche Verhalten, ist in den Subjekten selbst schon durch bloßes Reagieren ersetzt. [...] Aber diese adaequatio rei atque cogitationis bedarf erst noch der Selbstreflexion, um wahr zu werden. Ihr Recht ist einzig das kritische.“ (Adorno 1957: 202f.)

Seine Kritik zielt jedoch darauf, dass eine solche Forschung die Verhältnisse festschreibt, sie bloß verdoppelt, statt sie zu begreifen. Stattdessen müsse Reflexion mit dem Willen zur Veränderung am Leiden unter der „zugleich atomisierten und nach abstrakten Klassifikationsbegriffen, denen der Verwaltung, eingerichteten Gesellschaft“ (ebd.: 203) ansetzen. Dies klingt – ähnlich wie im frühen Programm Horkheimers – nach einer nachträglichen Reflexion empirisch-quantitativer Befunde, die das ‚Wesen‘ der gesellschaftlichen Erscheinungen freilegt – als bestehe ein Bruch zwischen „theoretischem Gedanken“ und „empirischen Befunden“. Entgegen seinen eigenen Überlegungen beispielsweise in der „Negativen Dialektik“ argumentiert Adorno, als ob Theorie den Begriff von außen an das gegebene Material herantrüge.13 Gleichzeitig will er jedoch „die Erfahrung gegen den Empirismus [...] verteidigen, einen minder engen und verdinglichten Begriff von Erfahrung der Wissenschaft [...] zubringen. Ziel ist [...] die Interpretation von Empirie selber, zumal der sogenannten empirischen Methoden.“ (Adorno 1969d: 545f.) Dieser andere Erfahrungsbegriff wird wenig konkret im Sinne einer Methodologie ausgeführt. Dabei betont Adorno in einem 1961 gehaltenen Hauptseminar zur qualitativen Inhaltsanalyse, von dessen Einleitungsvorlesung ein Typoskript erhalten ist (Stapelfeldt 2004: 206-209), und ebenso in der Vorlesung „Einführung in Soziologie“ im Sommersemester 1968 die Notwendigkeit von qualitativen Methoden, die aber erst noch zu entwickeln seien (Stapelfeldt 2004: 205-213). Vorbilder eines qualitativen Vorgehens, etwa einer ideologiekritischen Analyse von Texten, Bildern und Musik, seien das Sinnverstehen wie bei philosophischen Texten und die Deutungsarbeit der Psychoanalyse. Während der Wahrheitsgehalt (und damit auch die Berechtigung) der quantitativen Methode darin bestehe, der verdinglichten Gesellschaft zu entsprechen, müsse die qualitative, auf Sinnverste-

13 Siehe zu dieser Kritik auch Stapelfeldt 2004: 201.

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hen gerichtete, versuchen, die zweite Natur wieder ins Gesellschaftliche rückzuübersetzen (ebd.: 209f.). Aber auch in diesem Seminar legt Adorno zwischendurch wieder positivistische Maßstäbe an, zum Beispiel wenn er davon spricht, dass man eine Hypothese falsifizieren können müsse (ebd.: 212). 2.1.5 Positivismuskritik im Positivismusstreit Stapelfeldt zieht schließlich das Fazit: „Die Aporien dieser Untersuchung [der „Studien zum autoritären Charakter“, A.z.N.] sind auch die Aporien der programmatischen Überlegungen. Der empirische Forscher Adorno bleibt hinter den Einsichten des Autors der Negativen Dialektik, hinter dem Kritiker gesellschaftlicher Verdinglichung zurück. Das Programm reflexiver Empirie kann deshalb nicht unter Rückgriff auf die empirische Sozialforschung der Kritischen Theorie begründet werden, sondern allein aus ihrer Positivismus-Kritik.“ (Stapelfeldt 2004: 233)

Der Positivismusstreit in der Soziologie begann mit einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1961, auf der Popper und Adorno nacheinander ihr Verständnis von Sozialforschung darlegten. Adorno hält Poppers Redebeitrag einiges zugute, führt dann aber aus, dass Tatsachen als Erscheinungsformen eines zugrundeliegenden Wesens betrachtet werden müssten (Adorno 1961). Da Erkenntnis sich innerhalb einer Subjekt-Objekt-Dialektik bewege, sei eine einseitige Auflösung in Richtung Tatsachen-Objektivität nicht möglich, Erkenntnis bleibe damit immer in der Spannung von Theorie und Empirie: Das Empirisch-Einzelne werde erkannt durch Reflexion auf das Unbewusst-Allgemeine – die Gesellschaft. Damit sei weder Induktion noch Deduktion möglich. Da jeder Inhalt immer schon methodisch formiert sei, könne man keine Methode a priori bestimmen, sondern nur in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Eine kritische Perspektive ziele nicht auf wahre Theorie, sondern auf „die richtige Einrichtung von Gesellschaft“ (ebd.: 565). Daher sei auch das gesamte Problem der Wertfreiheit, wie es die Soziologie und andere Disziplinen diskutieren, falsch gestellt: Soziologie, sofern sie nicht reine Technik sein wolle, bewege sich stets in einer Dialektik von Tatsachen und Utopie.

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Diese Bestimmungen bleiben einigermaßen abstrakt, und oft wurde der Positivismusstreit gar als Zuspitzung auf den Gegensatz von (positivistischer) Empirie und (kritischer) Theorie gelesen (vgl. etwa Bonß 1982: 11). Dies wird dem eben Dargestellten zwar nicht gerecht, aber es bleibt mit Adorno festzuhalten, dass man den dort formulierten Ansprüchen gemäße qualitative Methoden nicht entwickelte. 2.1.6 Fazit Zusammenfassend lässt sich über die internen Diskussionen des Instituts für Sozialforschung und die programmatischen Texte zum Thema sowie über dessen Forschungen sagen, dass unentschlossen zwischen zwei Positionen laviert wird: Zwischen dem Wissen einerseits, dass man Totalität nicht wissenschaftlich ‚beweisen‘ kann, dass für die Sozialforschung das gilt, was Adorno 1931 für die Philosophie formuliert hat: dass sich die Wirklichkeit nur in Spuren und Trümmern, in denen im Besonderen das Allgemeine sich zeigt, rekonstruieren lässt. Andererseits legt man weiterhin den Maßstab „objektiver soziologischer Gültigkeit“ an. Es bleibt offen, ob diese Ambivalenz dem „Mitspielen wollen“, geschuldet ist oder in der Sache selbst liegt. In diesem Buch knüpfe ich an die dargestellte Kritik der herrschenden Soziologie und an die Versuche an, eine andere Empirie zu entwickeln, wie sie Adorno am ehesten in seinen ideologiekritischen Inhaltsanalysen umgesetzt hat. Dabei halte ich die letztliche Unbestimmbarkeit der gesellschaftlichen Totalität aber für ein objektives Dilemma, dem man auch mit den ausgefeiltesten Methoden nicht beikommen kann, und betrachte den Nachweis objektiven gesellschaftlichen Gehalts in subjektiven Äußerungen immer nur als Annäherung.14 Da aus der Tradition der Kritischen Theorie heraus letztlich keine ausgearbeitete Methodologie zur Verfügung steht, lehne ich mich im prakti-

14 Stapelfeldts Lösung (Stapelfeldt 2004: 245ff.) dieses objektiven Dilemmas überzeugt mich ebenfalls nicht: In Bezug auf die Psychoanalyse und die Dialektik setzt er auf Selbstreflexion und Aufklärung des gesellschaftlichen Unbewussten. Dabei übersieht er, dass aus gutem Grund sowohl bei Hegel das Absolute unbestimmt bleibt als auch bei Freud das Unbewusste nie vollständig transparent werden kann.

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schen Vorgehen an den rekonstruktiv-hermeneutischen Ansatz nach Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann an, der sich aus verschiedenen gegenwärtigen qualitativen methodischen Ansätzen speist und aus konstruktivistischer Perspektive argumentiert. Bevor ich diesen näher beschreibe, skizziere ich im Folgenden, welchen Einfluss die Anstöße der Kritischen Theorie auf die Entwicklung qualitativer Methoden hatten und inwiefern letztere für meine Fragestellung nutzbar sind.

2.2 Q UALITATIVE F ORSCHUNG DER K RITISCHEN T HEORIE

UND DIE

T RADITION

In der heutigen qualitativen Methodendebatte bildet die empirische Forschung des Instituts für Sozialforschung kaum noch einen expliziten Bezugspunkt. Wenn man sich die historische Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methoden ansieht, übte diese Tradition jedoch zumindest indirekt Einfluss aus. Aus dem Umfeld der Kritischen Theorie findet man Versuche, an die wenigen konkreten Überlegungen Adornos zu einer „anderen Empirie“ anzuknüpfen. Vielfach wird in diesem Zusammenhang das bereits in Unterkapitel 2.1.4 thematisierte Hauptseminar zur qualitativen Inhaltsanalyse erwähnt, das Adorno 1961 abhielt (Stapelfeldt 2004: 206-209). Interessanterweise fand dieses Seminar etwa gleichzeitig mit dem Beginn des Positivismusstreites statt, in dem die Dichotomisierung von Theorie und Empirie betrieben wurde. Neben Stapelfeldt orientiert sich auch Jürgen Ritsert in seinem Buch „Inhaltsanalyse und Ideologiekritik“ (1972) an diesem Seminar: In Auseinandersetzung mit der bisherigen quantitativen Inhaltsanalyse versucht er, Forderungen Adornos in eine konkrete Methode zu übersetzen. Wichtig dafür sei Hermeneutik und Interpretation, eine reine „Auszählung“ von Inhalten führe zu keinem Erkenntnisgewinn. Gleichzeitig solle der „objektive gesellschaftliche Gehalt“ der Texte rekonstruiert werden. Auch Ritsert kritisiert, dass die im Positivismusstreit formulierten Grundlagen nicht in die Forschungspraxis Kritischer Theoretikerinnen und Theoretiker eingingen, sondern diese oft positivistisch arbeiteten. Im Gegensatz dazu will er eine empirisch-praktische Ideologiekritik entwickeln und an die Stelle der Kulturkritik setzen, in die Kritische Theorie oft abdrifte (ebd.: 99f.). Leider arbeitet er seine Methode wenig aus. Entgegen seiner Aussage, dass das Buch eine Vorarbeit zu einem Projekt sei (ebd.:

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116), das solche Möglichkeiten klären solle, ist diese Linie einer empirischpraktischen Ideologiekritik offenbar nicht weiterverfolgt worden. Sein Entwurf bietet für mein in Kapitel 2.3 dargestelltes Vorgehen wichtige Anregungen; für das konkrete Verfahren sind jedoch Verfeinerungen nötig. Ein wichtiges Verbindungsglied Kritischer Theorie und heutiger qualitativer Ansätze ist der von Jürgen Habermas 1967 verfasste und breit rezipierte15 Literaturbericht „Zur Logik der Sozialwissenschaften“. Er nimmt den Positivismusstreit zum Anlass, sich einem sinnverstehenden methodologischen Zugang zuzuwenden, der heute für viele qualitative Ansätze bestimmend ist. Damit läutete er die sogenannte linguistische Wende in der Kritischen Theorie ein (vgl. auch seine rückblickenden Anmerkungen im Vorwort zur Neuauflage, Habermas 1982: 7). Habermas rekonstruiert im Literaturbericht zunächst ältere Diskussionen um verstehende Forschungsansätze von Heinrich Rickert über Max Weber bis hin zu Hans Georg Gadamers Hermeneutik und der phänomenologischen Ethnomethodologie im Anschluss an Alfred Schütz (Habermas 1967). Schließlich stellt er fest, dass derzeit keine explizit sprachanalytisch oder hermeneutisch begründeten soziologischen Untersuchungen vorlägen, interessante Impulse in diese Richtung kämen aber aus der Schule des Symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead. Vor allem Anselm Strauß, der Habermas zufolge den Sprachpragmatismus von seinen behavioristischen Ursprüngen reinigt, könne für ein Wissenschaftsprogramm im Anschluss an Gadamer in Anspruch genommen werden. Demnach muss soziales Handeln aus dem Kontext einer Folge von Interpretationen begriffen werden. Dabei kritisiert Habermas die rein sinnverstehenden Ansätze: „Eine verstehende Soziologie, die Sprache zum Subjekt der Lebensform und der Überlieferung hypostasiert, bindet sich an die idealistische Voraussetzung, daß das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der Lebenspraxis bestimmt. Aber der objektive Zusammenhang sozialen Handelns geht nicht in der Dimension intersubjektiv gemeinten und symbolisch überlieferten Sinnes auf.“ (Ebd.: 309)

15 Im Vorwort zur Neuauflage 1970 beschreibt Habermas gar, das vergriffene Original des Aufsatzes sei vielfach raubgedruckt worden, weshalb er sich zu der Wiederauflage entschloss.

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Es bestehe ein Zwang, der auch die Sprache deformiert. Der „objektive Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden können, konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal. [...] Eine Soziologie darf sich auf eine verstehende deshalb nicht reduzieren lassen.“ (Ebd.) Habermas fordert daher eine Ergänzung verstehender Ansätze um einen historisch ausgerichteten Funktionalismus, „der von emanzipatorischem Erkenntnisinteresse geleitet ist, das allein auf Reflexion zielt und das Aufklärung über den eigenen Bildungsprozeß verlangt“ (ebd.: 327). Die kulturelle Überlieferung, auf die sich die Hermeneutik bezieht, gelte es in ihren Bezügen und ihrer Funktion für Arbeit und Herrschaft zu betrachten, und damit die ideologischen Zusammenhänge. Neben dem „subjektiv gemeinten“ solle also auch der „objektive Sinn“ im Auge behalten werden (ebd.: 326ff.). Habermas’ Überlegungen richten sich rein auf die methodologische Ebene in Sinne einer Reflexion auf die Bedingungen der Forschung (ebd.: 145f.) und bieten keine praktischen Vorgehensweisen an. Seine Kritik an einem ausschließlich sinnverstehenden Zugang bildet aber einen Bezugspunkt für die hier verwendete Methode. Auch außerhalb der Kreise des Instituts für Sozialforschung entwickelte sich im Laufe der 1970er Jahre eine breitere Beschäftigung mit qualitativen Methoden innerhalb der empirischen Soziologie. Dies dokumentiert zum Beispiel der Sammelband von Soeffner (1979), der im Anschluss an ein entsprechendes Forschungskolloquium erschien. Hier findet sich auch ein einflussreicher Aufsatz von Oevermann et al. (1979) zur objektiven Hermeneutik, auf die ich später zu sprechen komme. Soeffner nennt in der Einleitung den Positivismusstreit als einen Auslöser dieser verstärkten Beschäftigung, außerdem unter anderem „die von Apel, Habermas und Luhmann vorangetriebene Grundlagendiskussion“ (ebd.: 1). Die Kritik des Instituts für Sozialforschung hat demnach in der deutschen Methodendebatte offenbar doch breitere Kreise gezogen, als es aufgrund der mangelnden expliziten Bezugnahmen heute den Anschein hat. Dies konstatiert auch Bohnsack, der feststellt, dass „Habermas […] wesentlich dazu beigetragen hat, die hermeneutische Tradition für die sozialwissenschaftliche Methodologie relevant werden zu lassen“ (Bohnsack 2003: 69). Auch Mayring, der 1983 die „Qualitative Inhaltsanalyse“ erstmals systematisch darstellt und bis heute als schulbildend gilt, übernimmt Ritserts – aus dem obengenannten Adorno-Seminar abgeleitete – Begründung für qualitative statt

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quantitative Inhaltsanalyse (die er in der Ausgabe von 2002 wiederholt). Wichtig seien: • • • •

der Kontext von Textbestandteilen; latente Sinnstrukturen; markante Einzelfälle; das, was im Text nicht vorkommt.

In Mayrings Darstellung wird allerdings nicht deutlich, wie die letzten drei Punkte in die Auswertung eingehen; außerdem ist der ideologiekritische Anspruch verschwunden (Mayring 2002: 114-121). Zumindest indirekt hatte Adorno damit also Einfluss auf die Entwicklung der qualitativen Methoden, da seit den 1970ern in verschiedenen Ansätzen versucht wurde, seine Anregungen auszuarbeiten. So konstatiert auch Bonß 1982, dass die neuere Entwicklung der qualitativen Methoden zeige, dass Modelle, die die Kritische Theorie vorgezeichnet hat, nicht überholt sind: Er nennt hier Aktionsforschung, Ethnomethodologie, objektive Hermeneutik und kritisch-sinnverstehende Soziologie. Wenn auch nur wenige Ansätze explizit an Adorno anknüpfen, so nehmen doch einige auf, was von ihm gefordert wurde (ebd.: 223). Wesentliche inhaltliche Punkte bilden auch heute das Gemeinsame der qualitativen Methoden: Es geht um ein interpretatives, induktives Vorgehen statt eines deduktiven, subsumierenden und hypothesenprüfenden. Einer der wenigen Ansätze, der sich der Kritischen Theorie explizit verpflichtet fühlt, ist die objektive Hermeneutik nach Oevermann. Dieser beruft sich nicht nur auf Adorno, sondern sieht seinen Ansatz darüber hinaus als einzig legitime Verwirklichung von dessen Ansprüchen an die empirische Forschung. Auch er konstatiert, dass Adorno die Explikation seiner Methodologie eher vernachlässigt habe (Oevermann 1983: 234f.). Er bezieht sich auf „Adornos Vorstellung von dialektischer Sozialforschung, die bei ihm am ehesten in der Musiksoziologie exemplarisch durchgeführt worden ist und ansonsten weder auf der Ebene einer allgemeinen methodologischen Begründung noch im Bereich forschungspraktisch verwendbarer Methoden und Techniken der Datenerhebung und -auswertung systematisiert worden ist.“ (Ebd.: 235)

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Wesentlich sei ein nicht identifizierendes, nicht subsumptionslogisches Vorgehen. Anders als die rein sinnverstehenden Ansätze will die objektive Hermeneutik nach Oevermann auf das Gesellschaftlich-Allgemeine hinaus. Im Unterschied zur traditionellen Hermeneutik geht er von einer Differenz des subjektiv Gemeinten und des latenten Sinns aus. In dem entscheidenden Punkt widerspricht er Adorno jedoch und verfehlt dessen Intention damit ums Ganze: Für Adorno sei das, was es aufzudecken gelte, stets das „Unwesen“, was unter dem Stein „brüte“ (Adorno 1957: 196), und nicht das „Wesen“, auf das Oevermann zielt. Statt auf die Kritik dieses Unwesens, also der zweiten Natur, zu der uns Gesellschaft geworden ist, will Oevermann vielmehr auf die Entdeckung anthropologischer Konstanten wie zum Beispiel auf den Tausch hinaus. Das steht im Widerspruch zu einer Traditionslinie, deren Kritik sich gerade gegen jegliche Form der Anthropologisierung wendet. Weitere Vorgehensweisen, die primär wegen der Aufnahme freudscher Konzepte in die Tradition der Kritischen Theorie einzuordnen wären, sind die verschiedenen Verfahren der psychoanalytischen Textinterpretation (vgl. ausführlich dazu Leithäuser 1991). Auch diese Ansätze wollen auf objektive gesellschaftliche Dimensionen hinaus, und sehen sich im Spannungsverhältnis rein subjektbezogener psychoanalytischer Arbeit und gesellschaftskritischer Analyse. Sie knüpfen an psychoanalytisches Vorgehen an und wollen vom Text auf tieferliegende Strukturen, auf vom Textproduzenten Verdrängtes schließen (Mayring 2002: 126ff.). Obwohl das von Oevermann entwickelte Verfahren der objektiven Hermeneutik oder die psychoanalytisch orientierten Herangehensweisen zunächst der Kritischen Theorie näher zu liegen scheinen, habe ich mich für ein anderes Verfahren entschieden. Die objektive Hermeneutik wurde wegen ihrer anthropologischen Annahmen für diese Untersuchung nicht gewählt und ebenfalls, weil das Vorgehen sehr aufwändig ist. Starke psychoanalytische Interpretationen etwa von Verdrängung, Übertragung und Abwehr von Textproduzentinnen und -produzenten allein aufgrund eines (Interview-)textes vorzunehmen, erscheint mir ebenfalls problematisch, insbesondere ohne praktische psychoanalytische Kenntnisse.

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Neben diesen Verfahren, deren Fokus sich auf objektive Strukturen richtet, existieren heute als ausgearbeitete qualitative Methodenprogramme folgende Ansätze16: Zunächst solche, die den „subjektiven Sinn“ in den Vordergrund stellen. An erster Stelle sind hier Barney Glaser, Anselm Strauss und Juliet Corbin zu nennen, die, ausgehend vom Symbolischen Interaktionismus und der Tradition der Chicago School, ihre Grounded Theory inzwischen zu großer Popularität gebracht haben (Glaser/Strauss 1974). Charakteristisch ist ein stark induktives Vorgehen, das Einzelbeobachtungen über verschiedene Schritte zu Mikrotheorien verdichtet. Ebenfalls einflussreiche Verfahren sind die „dokumentarische Methode“ nach Ralf Bohnsack (2003) und das „narrative Interview“ nach Fritz Schütze (1983). Diese Verfahren gingen auch in die im nächsten Abschnitt dargestellte Methode nach Lucius-Hoene und Deppermann ein, die ich im Rahmen dieser Untersuchung anwende. Eine andere Richtung ist die Erforschung der „Herstellung sozialer Wirklichkeiten“, etwa die Ethnomethodologie, die auch Grundlage für wissenschaftssoziologische Forschungen (Knorr-Cetina 1991) ist. Deren Ziel ist, zu rekonstruieren, wie Wirklichkeit in der Interaktion hergestellt wird. Die in dieser Vorgehensweise enthaltenen konversationsanalytischen Elemente gehen ebenfalls in die im Folgenden dargestellte Methode ein. Als Verfahren der Interpretation geschriebener Texte gibt es außerdem verschiedene diskursanalytische Ansätze (Keller 2004), die sich aber zum Teil der gleichen (hermeneutischen) Techniken bedienen wie andere Verfahren.

2.3 D IE

GEWÄHLTE

M ETHODE

2.3.1 Grundlagen Die vorliegende Untersuchung beansprucht, im ersten Schritt ähnlich wie Adorno es für die im Radio Research Project untersuchten Musikstücke formuliert hat, den „objektiven Gehalt“ von Materialien des BRCA-Diskurses (Informationsbroschüren etc.) sowie von interaktiv hergestellten sozia-

16 Ich orientiere mich hier weitgehend an der Darstellung von Uwe Flick (1996: 28-42).

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len Realitäten wie den humangenetischen Beratungsgesprächen, die Frauen im Rahmen des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ vor der Entscheidung für einen Gentest angeboten wurden, empirisch-ideologiekritisch zu analysieren. Im zweiten Schritt wurde aber die Wirkung des Diskurses, also die Verinnerlichung des darin auftauchenden Ideologischen untersucht – durch eigene Interviews sowohl mit am Projekt beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch mit Frauen, die einen Gentest im Rahmen des Projektes durchführen ließen. Insbesondere die Interviews mit den Frauen sollten die Frage nach einer „Subjektivierung zum Subjekt der Gene“ beantworten. Zunächst ging es also darum, Texte, Dokumente, und Gespräche zu analysieren. In Bezug auf die „empirisch-praktische Ideologiekritik“ (Ritsert 1972) wurde dabei eher an eine „Reflektionstheorie“ angeknüpft – die von der Annahme ausgeht, die Literatur spiegele die gesellschaftlichen Verhältnisse wider – als an eine „Kontrolltheorie“, die aktive Manipulation durch Interessen von Autoren und Autorinnen annimmt. Es geht also nicht um deren subjektive Intentionen, sondern um den in Texten auch gegen die Intentionen von Verfasserinnen und Verfassern herauszulesenden gesellschaftlichen Gehalt (ebd.: 93). Dafür, wie dieser Inhalt nun technisch herausgearbeitet werden kann, lässt sich keine eindeutige Regel aufstellen. Mit Bezug auf Adorno postuliert Ritsert: Um den „objektiven Gehalt“ festzustellen, brauche man „die Spontaneität subjektiver Phantasie“ (ebd.: 84). Dem hermeneutischen Zirkel entsprechend sei die Textinterpretation oder Exegese außerdem eher ein Prozess als eine statische Deduktion. Seine Ausführungen zum Ideologiebegriff und wie dieser „gesellschaftliche Gehalt“ gefunden wird, bleiben aber unbefriedigend. Hier taucht wieder das Dilemma auf, das bereits das Institut für Sozialforschung in der dargestellten Diskussion in den USA beschäftigte.17 Wie lässt sich der Bezug der Einzelerfahrungen auf ihre Gesellschaftlichkeit methodisch begründen? Sicher ist dafür ein Begriff von Gesellschaft nötig, auf den man sich in der Analyse der Einzelheiten reflexiv bezieht. Dies enthält ein spekulatives Moment, das sich meines Erachtens nicht vorab me-

17 Diese „Debatte über die Methoden der Sozialwissenschaften, besonders die Auffassung der Methode der Sozialwissenschaften, welche das Institut vertritt“ vom 17. Januar 1941 (Adorno et al. 1941) wurde in Kapitel 2.1.2 dargestellt.

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thodisch detailliert beschreiben lässt; das Vorgehen muss sich vielmehr in der im Ergebnis überzeugenden Durchführung rechtfertigen. Ähnliches gilt für die Interpretation der Interviews. Hier sollen soziale Objektivitäten in subjektiven Reaktionsweisen nachgezeichnet werden (Adorno 1957: 202ff.). Dabei soll sowohl das Ideologische aufgezeigt werden als auch dessen Brüchigkeit. Dies wurde über eine Heuristik, die ich aus der Analyse des Diskurses um die BRCA-Tests entwickelt habe, versucht: Durch das Messen der Interviews mit den betroffenen Frauen an dem im Diskurs propagierten Idealbild, der „informierten Patientin“, wie es in Kapitel 3 dargestellt wird, wurde eine kritische Ebene eingezogen. Diese Ebene wird kontrastiert durch die Rekonstruktion des „subjektiven Sinns“ der Erzählungen, um die – wie sich zeigen wird: unterschiedlichen – Subjektivierungsweisen der Frauen detailliert nachvollziehen zu können. Die Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurden nicht personenbezogen im Sinne einer Rekonstruktion ihrer Subjektivität ausgewertet. Sie wurden als Informationsquelle genutzt, um Hintergründe zu verstehen, und tauchen in der folgenden Darstellung mehr implizit als explizit auf. Nur einzelne Kommentare werden zitiert, um lokal unterschiedliche institutionelle Praktiken oder Aussagen über die teilnehmenden Frauen zu bebildern. Mangels eines ausgearbeiteten methodischen Ansatzes, der mit meinen theoretischen Voraussetzungen übereinstimmt, habe ich mich bei der Interviewinterpretation eines handwerklichen Instrumentariums bedient, das in einem anderen theoretischen Kontext entstanden ist. Für meine Fragestellung, wie Individuen zum Subjekt ihrer Gene werden, wie sie zum Beispiel ihr Entscheidungshandeln darstellen, ist der Ansatz der „Rekonstruktion narrativer Identität“ passend. Diese rekonstruktiv-hermeneutische Methode nach Lucius-Hoene und Deppermann (2002) bezieht sich unter anderem auf die Grounded Theory, George Herbert Mead und den Symbolischen Interaktionismus, das narrative Interview nach Fritz Schütze, John Langshaw Austins Sprechakttheorie und seinen Performanzbegriff sowie auf das autobiographische Erzählen nach Wolfram Fischer-Rosenthal und Gabriele Rosenthal (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 12-45). „Der vorliegende Ansatz basiert daher neben seinen erzähltheoretischen und hermeneutischen Grundlagen, die er mit vielen anderen Verfahren der Interviewanalyse

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teilt, auf Grundgedanken der discoursive psychology und verwandter Ansätze, der Konversations- und Gesprächsanalyse und der Positioninganalyse, die für das autobiographische Erzählen fruchtbar gemacht und entsprechend ausgearbeitet wurden.“ (Ebd.: 11)

Autor und Autorin sehen ausgehend von einem konstruktivistischen Identitätsbegriff das Interview als eine Form der Selbstvergewisserung, in der Identität nicht nur biographisch dargestellt, sondern auch performativ und interaktiv hergestellt wird (ebd.: 10). Identitätskonstruktion wird auch als sozialer Prozess verstanden, allerdings wird dafür kein Gesellschaftsbegriff entfaltet. In der Tradition des Symbolischen Interaktionismus wird Gesellschaft mit „Intersubjektivität“ oder Interaktion gleichgesetzt und damit materielle und institutionelle Bedingungen sozialen Handelns ausgeblendet. Diese Kritik an den subjektivistischen Ansätzen formulierte auch schon Habermas (1967, vgl. Kapitel 2.2). Meines Erachtens ist es aber möglich, mit dieser Methode über das bloß Subjektive hinauszugehen, also mehr zu tun, als die Methode selbst vorgibt. Ähnlich wie Adorno es für die Philosophie beschreibt (siehe Kapitel 2.1.2), lassen sich in einem Modus des „Herantastens“ an die „volle Wirklichkeit“ aus den Äußerungen – wenn man sie in Reflexion auf gesellschaftliche Totalität, also mithilfe bestimmter Begrifflichkeiten interpretiert – ideologische Formen und gesellschaftliche Zumutungen herausarbeiten. Dies geschieht durch Bezug auf das – als ideologisch konstatierte – Idealbild, durch begriffliche Durchdringung und Entnaturalisierung der verwendeten Wörter wie „Gen“, „Risiko“, „Entscheidung“, „psychische Belastung“ etc., aber auch durch das Aufdecken von immanenten Widersprüchlichkeiten in den Argumentationen, die auf mögliche „Selbsttäuschungen“ hinweisen. Zum Teil werden auch „Stellen der affektiven und kognitiven Strukturen [aufgedeckt], die Ambivalenzen verraten, die verdrängte und verschüttete Erwartungen anzeigen und noch Spuren von Ausbruchswillen aus erzwungener Indifferenz aufweisen“ (Ritsert 1972: 104). Spekulationen dieser Art werden jedoch nur sehr vorsichtig vorgenommen, da stärkere Interpretationen anderer Verfahren bedürften. Eine psychoanalytische Herangehensweise würde angesichts des Gegenstandes – der Selbstbeschreibungen und Subjektivierung von Frauen, die über einen Gentest Aussagen über ihre mögliche zukünftige Gesundheit einholen – naheliegen: Es geht schließlich um das Verhältnis zur eigenen, inneren Natur

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und um die Angst vor einer potenziell tödlichen Krankheit, die in den Sexualorganen ihrer Anfang nimmt. Wie im Kapitel 1.1 dargelegt, wird in dieser Untersuchung im Sinne des Subjektbegriffes der Kritischen Theorie zudem davon ausgegangen, dass Subjektivierung stets brüchig ist und durch unbewusste Dynamiken gekennzeichnet. Außerdem berührt der genetische Test die Verortung in der familiären Genealogie, also die Frage, was man von seinen Eltern geerbt hat. Er verbindet sich oft mit einer Vielzahl familiärer Konflikte, da die genetische Information stets nicht nur die Person selbst betrifft, sondern auch deren Familienmitglieder, die möglicherweise gar nichts darüber wissen möchten.18 Auch diese teils bewusste, teils unbewusste Beschäftigung mit der Familie ist ein klassisch psychoanalytisches Thema. Jedoch ist es nicht der Anspruch dieser Studie, auf individueller Ebene zu erforschen, warum bei den Interviewten spezifische Reaktionen oder Brüche vorliegen, sondern das darin enthaltene Gesellschaftlich-Allgemeine zu betrachten. Dies scheint mir auch aufgrund der gewählten Methode gerechtfertigt. Das Vorgehen entspricht also der spezifischen Fragestellung, aber auch einem Respekt vor den Interviewten, über die nicht vorschnell individual-psychologische Aussagen getroffen werden sollen, wie es häufig in anderen Studien der Fall ist.19 Im Gegensatz zu einem subsumptionslogischen Vorgehen quantitativer Interviewmethoden, in dem die Einzelfälle als reine Exemplare behandelt werden, dienen in der von mir verwendeten Methode der offene Interviewstil und die interpretative Methode dazu, die Befragten als Subjekte ernstzunehmen, sich auf ihre Wahrnehmung einzulassen und sie nicht von vornherein unter Kategorien zu subsumieren. Dennoch bleiben sie letztlich Objekte, denn ich als Forscherin nehme die Interpretation vor und stelle den Text her; dieser hegt zwar den Anspruch, aus den Interviews heraus entwickelt worden zu sein, aber entfremdet sich ihnen dennoch. Die Interviewten kommen im Text ausführlich „zu Wort“; jedoch nur, wenn ich es zulasse. Mir scheint es aber in der Sozialforschung unumgehbar, dass die Erforsch-

18 Auf dieser familiären Ebene liegt der Schwerpunkt der Studie von Britta Pelters (Pelters 2011, Pelters 2012). 19 Vgl. dazu das Kapitel 4.1.

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ten zu Objekten werden.20 Wichtig ist, sich dieser Tatsache bewusst zu sein und ihr soweit wie möglich entgegenzuwirken, etwa indem man die Rolle der eigenen Person im Forschungsprozess reflektiert. Diese eigene Rolle – etwa in der Interviewinteraktion – zu rekonstruieren, statt eine vom Forschenden unbeeinflusste Realität zu postulieren, muss ebenfalls durch die Interpretation der Interviews geleistet werden. Diese Selbstanalyse des Forschers oder der Forscherin ist essenzieller Bestandteil des Interpretationsprozesses. Ihr dient eine Interpretationsgruppe. 2.3.2 Erhebung der Daten Welche Dokumente für die Diskursanalysen ausgewählt wurden, wird in den jeweiligen Kapiteln erläutert. Sie wurden zum Teil denselben feinanalytischen Auswertungsverfahren unterzogen, die im nächsten Teil für die Interviews erläutert werden. Für die Interviews sowohl mit den Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern als auch mit den betroffenen Frauen wurde die Form des teilnarrativen Leitfadeninterviews gewählt. Hier wird nach einer Eingangsfrage die Erzählung möglichst wenig strukturiert und eine Liste von Stichworten nur dann als Fragen formuliert, wenn sie nicht von selbst von den Interviewten erwähnt werden. So konnte einerseits ein bestimmter Themenkatalog angesprochen werden sollte, andererseits war eine möglichst starke eigene Strukturierung der Rede und Prioritätensetzung durch die Interviewten möglich (vgl. die ausführlichere Darstellung dieses Interviewverfahrens bei Helfferich 2004). In die Konstruktion der Leitfäden gingen die Forschungsfragen ein, die aufgrund der ersten Literatursichtung entstanden waren.21 Die Rekrutierung der Interviewten erfolgte in einer Art Schneeballprinzip: Auf einer Fachtagung über Probleme humangenetischer Beratung wurden erste Kontakte zu Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern geknüpft, die schließlich weitere Kontakte vermittelten. Auf diese Weise wurden vier Interviews mit humangenetischen Beratern aus drei verschiedenen humangenetischen Instituten geführt. Außerdem wurde eine am Projekt beteiligte

20 Stapelfeldt führt die Aktionsforschung als Methode an, die dies durch Einbeziehung der Beforschten umgehe (Stapelfeldt 2004: 375). Aber auch in dieser Methode legen letztendlich die Forscher und Forscherinnen die Interpretation fest. 21 Der Leitfaden für die Interviews mit den Frauen findet sich im Anhang.

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Psychologin interviewt. Einer der Berater bot an, Kontakte zu Frauen zu vermitteln, die in seinem Institut einen Gentest gemacht hatten. Er bat diese Frauen um ihre Zustimmung. Diese und weitere Frauen wurden ebenfalls von ihm gefragt, ob die Tonaufnahmen der humangenetischen Beratungsgespräche, die im Rahmen einer anderen Untersuchung entstanden waren, für meine Untersuchung genutzt werden könnten. Dieser Zugang über einen Mitarbeiter stellte eine gewisse Vorselektion dar, aber es wäre auf anderem Wege schwierig gewesen, in Kontakt zu kommen. Die Auswahl interessanter Interviewpartnerinnen aus einer Reihe von anonymisierten Fällen, die der humangenetische Berater mir vorlegte, erfolgte nach dem Prinzip des „theoretical sampling“: Es wurden möglichst unterschiedliche Fälle nach den Merkmalen „Alter“; „Beruf“ „positives“, „negatives“ und „unklares“ Ergebnis des Gentests; „Beratung durch Doktor Michels“, „Beratung durch Doktor Neuss“22 ausgewählt. Schließlich wurden sieben Frauen interviewt. Die genauere Beschreibung des Samples und der Interviewumgebung erfolgt am Anfang von Kapitel 5. 2.3.3 Auswertung Von allen Interviews wurden komplette Inhaltsinventare erstellt, also stichwortartige Zusammenfassungen der im Interview aufgetauchten Themen. Die Interviews mit den Frauen wurden komplett transkribiert nach dem Basistranskript des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (kurz: GAT siehe Legende), um Feinanalysen zu ermöglichen. Da meine Interviews mit den humangenetischen Beraterinnen und Beratern eher inhaltsanalytisch ausgewertet wurden und Aspekte wie die Selbstdarstellung im Interview nicht im Vordergrund standen, wurden diese bis auf einzelne feinanalysierte Passagen gröber transkribiert (zum Beispiel ohne Betonungen und Pausenzeichen). Zwei dieser Interviews wurden nur ausschnittweise transkribiert. Von den Beratungsgesprächen vor den Gentests wurden 15 Gespräche durchgehört. Da der Eindruck entstand, dass der Ablauf sehr standardisiert war und vor allem die Genetiker redeten, wurde auf eine komplette Tran-

22 Dies sind die beiden humangenetischen Ärzte (Pseudonyme), die in diesem Institut die Beratungsgespräche durchführten, siehe Legende im Anhang.

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skription aller Gespräche verzichtet. Von allen Gesprächen mit den Frauen, die später von mir interviewt wurden, wurden Inhaltsinventare erstellt, um einen Eindruck von der familiären Situation der jeweiligen Interviewpartnerin zu gewinnen, aber auch, um eventuell auftauchende Besonderheiten zu verzeichnen. Von einem Gespräch wurde ein Inhaltsprotokoll erstellt, das den gesamten Ablauf wiedergibt; von allen Gesprächen wurden der Anfang, das Ende und besonders interessante Passagen wortgetreu transkribiert. Sie gingen in die Auswertung der jeweiligen Interviews ein. Außerdem wurden typische Passagen feinanalytisch ausgewertet, um die Gesprächsstruktur zu rekonstruieren (vgl. Kapitel 3.3.6). Bei der Transkription wurden alle Namen anonymisiert sowie Altersangaben und Dialekte leicht verändert, um Rückschlüsse auf die Identität der Befragten auszuschließen. Da im Zentrum dieser Untersuchung die Frage steht, ob und wie sich Menschen als „Subjekte ihrer Gene“ darstellen, wurden die Interviews mit den sieben Frauen, die am BRCA-Gentest teilgenommen hatten, am intensivsten ausgewertet. Die Technik der Auswertung soll hier nicht im Detail dargestellt werden, dafür sei auf die ausführliche Beschreibung in LuciusHoene/Deppermann (2002) verwiesen. Einige Stichpunkte sollen hier genügen: Die Interviews wurden sequentiell analysiert, um dem Gang der Rede der Frauen zu folgen. Nach einer ersten thematischen Codierung wurden bestimmte Passagen für Feinanalysen ausgewählt: einerseits die Einstiegspassage, da sich hier häufig schon zentrale Positionierungen und Motive zeigen, andererseits Passagen, die aufgrund der Thematik oder Begrifflichkeit (Vorstellungen vom Gen, Verhältnis zu Ärzten etc.) interessant oder auffällig erschienen. Die Analyse erfolgte zum Teil in einer Interpretationsgruppe, um voreilige und einseitige Rückschlüsse zu vermeiden. Es wurden unterschiedliche Analyseebenen einbezogen: die Interviewinteraktion (hier geht es um Selbstpositionierungen der Interviewten, aber auch der Interviewerin; Überprüfungen, ob Fragen suggestiv wirkten etc.), grammatikalische und sprachliche Besonderheiten (zum Beispiel das häufige Benutzen von „man“ oder Passivkonstruktionen; Unsicherheitsmarkierer wie „ähm“, „oder so“; Verzögerungen; Metaphern etc.), Semantik (also der Bedeutung der Rede) sowie rhetorische und narrative Figuren. Eine typische Frage, die beim Interpretieren an den Text gestellt wurde, war: Was ist das Erzählziel der Person (in dieser Passage)? Im Sinne der In-

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terviews als Form der Selbstvergewisserung spielt dabei neben dem offensichtlichen Inhalt auch immer eine Rolle, wie sich die Interviewte gegenüber der Interviewerin oder sich selbst darstellen will.23 Als besonders hilfreich für die Fragestellung, ob und wie Frauen sich als „Subjekte ihrer Gene“ beschreiben, hat sich außerdem die Analyse von „Agency“ erwiesen, also die Frage, wer in der Erzählung handelt oder be-handelt wird („ich bin zu meinem Frauenarzt hin“ versus „der Arzt hat alles für mich gemacht“). Sprachlich liegt damit das Augenmerk darauf, wann statt Aktiv-Konstruktionen Passiv-Konstruktionen oder „man“ („anonyme Agency“) statt „ich“ benutzt werden etc. Auf Grundlage der Interviews konnte ich so herausarbeiten, wie die jeweilige Erzählerin Handlungsmöglichkeiten, Handlungsinitiativen und Widerfahrnis in Hinblick auf die Ereignisse ihres Lebens sprachlich (re-)konstruiert (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 59ff.). Über verschiedene Schritte erfolgte eine Verdichtung zu „zentralen Motiven“ der Einzelfälle. Bezüglich dieser aus dem Material erarbeiteten Motive und bestimmter Vorab-Kategorien, die schon in den Leitfaden eingeflossen waren, wurden nun Quervergleiche zwischen den Interviews gezogen. So entstand eine Liste von Kategorien für die Entwicklung einer Typologie, also einer Matrix von Merkmalskombinationen.24 Es zeigte sich im Forschungsprozess, dass eine Typologie entlang von Personen erstellt werden konnte, also eine Person sich in Bezug auf alle Kategorien einem Typus zuordnen ließ. Theoretisch könnten Typologien auch jeweils bezüglich einer Kategorie gebildet werden, so dass Personen bezüglich verschiedener Kategorien in verschiedene Typen fallen (vgl. Kelle/Kluge 1999). Im Folgenden soll der Typusbegriff und der Prozess der Typenbildung mithilfe der Kritischen Theorie reflektiert werden. Adorno schreibt über Typologien in den „Studien zum autoritären Charakter“, dass sie keinesfalls – wie in der damaligen psychologischen Debatte offenbar häufig kritisiert – reine „Erfindungen, um die Welt in Schafe und Böcke einzuteilen“ (Adorno 1973: 306) seien, also willkürliche Einteilungen, die der Einzigartigkeit der

23 Lucius-Hoene/Deppermann bezeichnen dies auch als Positionierungs-Analyse (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 196ff.). 24 Das Vorgehen wird im fünften Kapitel deutlicher, wo die Themenfelder der Interviews ausführlich und nach Typen sortiert dargestellt werden. Dort findet sich auch eine tabellarische Übersicht über die Kategorien und ihre Ausprägungen.

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Individuen Gewalt antun, sondern gewisse regelmäßig wiederkehrende Syndrome fassen können und deren generalisierbaren psychologischen „Sinn“ erhellen. Entgegen der skizzierten nominalistischen Kritik, dass kein Individuum „rein“ einem Typus entspricht, lässt sich mit Adorno der Typus als begriffliche Durchdringung der psychologischen Realität ansehen, die notwendig auf Generalisierung angewiesen ist. Dabei gilt es, die zusammengefassten Merkmale sorgfältig auszuwählen, um den tatsächlichen funktionalen Zusammenhang der Phänomene in der Generalisierung zu erfassen. So ist der Anspruch an die Typenbildung für die „Studien zum autoritären Charakter“: „Gerechtfertigt sind unsere Typen nur, wenn es uns gelingt, unter jeder Typusbezeichnung eine Anzahl von Zügen und Dispositionen zu ordnen und diese in einen Zusammenhang zu bringen, der sie ihrem Sinn nach als eine mögliche Einheit zeigt. Wir halten jene Typen für die wissenschaftlich fruchtbarsten, welche sonst verstreute Züge zu sinnvoller Kontinuität integrieren und Korrelationen von Elementen sichtbar machen, die nach psychologischer Interpretation der ihnen zugrundeliegenden Dynamik ihrer ‚inhärenten‘ Logik gemäß zusammengehören. Bloßes additives und mechanisches Subsumieren von Zügen unter einen Typus soll nicht erlaubt sein.“ (Adorno 1973: 309)

Ähnlich gehe ich in der Typenbildung vor: Zwar analysiere ich die tiefenpsychologische Dynamik meiner Interviewpartnerinnen aus den oben erläuterten Gründen nicht, finde aber eine Typologie ebenfalls nur dann sinnvoll, wenn sie in der Lage ist, Kombinationen von Merkmalen als wiederkehrende Muster zu erkennen, zwischen denen sich ein Zusammenhang vermuten oder erkennen lässt. In ähnlicher Weise beschreiben auch Udo Kelle und Susann Kluge den Prozess der Typenbildung: „Das Zusammentreffen bestimmter Merkmalskombinationen stellt also oft die Grundlage für die Suche nach ‚inneren‘ oder ‚Sinnzusammenhängen‘ dar. [...] Diese Sinnzusammenhänge bilden die eigentliche Grundlage für die Typenbildung auf der Basis des qualitativen Datenmaterials. Der Prozess der Typenbildung wird also nicht bei der Konstruktion von Merkmalsräumen und der Identifikation von Merkmalskombinationen stehen bleiben – vielmehr geht es darum, den ‚Sinn‘ und die ‚Bedeutung‘ dieser Merkmalskombinationen weitgehend zu verstehen und zu erklären.“ (Kelle/Kluge 1999: 80f.)

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In der Beschreibung von Adorno hat die Typenbildung darüber hinaus eine kritische Funktion: Der eigentliche Grund für die Möglichkeit zu typisieren liegt darin, dass die Gesellschaft die Menschen normt, also „Typen produziert“. Kritisches Vorgehen impliziert, die Typisierung selbst als soziale Funktion offenzulegen. „Je starrer ein Typ ist, desto tiefer hat die Gesellschaft ihm ihren Stempel aufgedrückt.“ (Adorno 1973: 307ff.) Wie verhalten sich nun die Typen zum Gesellschaftlich-Allgemeinen? Adorno schreibt bezüglich der Kategorie der Hoch-Autoritären (genannt „H“) in den „Studien zum autoritären Charakter“: „Ideologie und Mentalität der H [wird] weitgehend durch den objektiven Geist unserer Gesellschaft gefördert. [...] Es genügt also nicht zu fragen, ‚warum ist dieses oder jenes Individuum ethnozentrisch?‘, sondern es muß heißen, ‚warum reagiert es positiv auf die allgegenwärtigen Stimuli, auf die doch jenes andere negativ reagiert?‘ [...] Diese objektiven Schablonen sind derart durchdringend in ihrem Einfluß, daß es gleichermaßen schwierig ist, zu erklären, warum ein Mensch ihnen widersteht, wie auch, warum ein anderer sie akzeptiert.“ (Ebd.: 313)

Analog dazu finde ich in den von mir gebildeten Typen den Einfluss des Diskurses und damit auch gewisse klischeehafte Züge. Dabei wird nicht die tiefenpsychologische Ebene untersucht, wie es in den oben zitierten „Studien zum autoritären Charakter“ der Fall ist. Sichtbar wird die Reproduktion von Erwartungs-Erwartungen, Wiedergabe von Phrasen aus dem Diskurs wie „es ist besser, zu wissen als nicht zu wissen“, „positiv denken“, „ich kann gut damit umgehen“ etc. Aber auch die Unzulänglichkeiten und Widersprüche der im Diskurs versammelten Aussagen zeigen sich deutlich. Dabei untersuche ich lediglich die Möglichkeit unterschiedlicher Subjektivierungsweisen anhand der Typisierung und erforsche nicht die psychologische Frage, warum sich der eine Typus so darstellt und der andere anders.

3. Der BRCA-Diskurs

Nach diesen Einführungen zur begrifflichen und methodischen Einordnung der vorliegenden Untersuchung wird im Folgenden (Kapitel 3-5) die Frage behandelt, wie sich Menschen in Bezug auf ihre Gene als Subjekte konstituieren. In Kapitel 3 soll zunächst der Diskurs rekonstruiert werden, in dem diese Konstitution stattfindet1: In 3.1 werden einleitend allgemeine Entwicklungen in der Gesundheitspolitik beschrieben. In 3.2 geht es dann um die Tendenz der Genetifizierung von Krankheitsursachen anhand des Beispiels Krebs. Während diese beiden Teile auf Studien anderer Autoren fußen, wird in Kapitel 3.3 eine eigene Analyse des Diskurses um das Fallbeispiel BRCA-Gentests in Deutschland vorgenommen. Untersucht werden Dokumente und Materialien, die rund um das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ produziert wurden. Auch Interviewaussagen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des fließen in die Analyse ein, ebenso die Beratungsgespräche.

3.1 A LLGEMEINE GESUNDHEITSPOLITISCHE E NTWICKLUNGEN In diesem Unterkapitel beschreibe ich zusammenfassend gegenwärtige Tendenzen der Medizin und Gesundheitspolitik; dabei geht es auch darum, diese Entwicklungen gesellschaftlich einzuordnen. Wesentliche Themen 1

Es wird nicht davon ausgegangen, der Diskurs selbst konstituiere die Subjekte, da eine mögliche Differenz zwischen Diskurs und Subjektivierung angenommen wird, wie in Kapitel 1.5 ausgeführt wurde.

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sind die Einführung der Begriffe „Risiko“ und „Prävention“, „informierte Entscheidung“, „Vertragspartnerschaft“ und die Beschreibung von Tendenzen wie Individualisierung in der Gesundheitspolitik, Verschiebung der Verantwortung und „Gesundheit als Kompetenz“. Im ersten Kapitel wurden die historischen Bedingungen umrissen, vor deren Hintergrund ich die gegenwärtigen Phänomene betrachte, die ich im Rahmen dieser Studie untersuche. Es wurde zunächst auf der Ebene des Individuums für die abendländische, wenn nicht jede, Kultur eine Spaltung in den „Geist“ und seinen „Gegenstand“, den zum „Corpus“ verdinglichten Körper festgestellt (Horkheimer/Adorno 1969). Weiterhin wurde für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem, was Foucault Biopolitik nennt, das Auftauchen eines neuen Objekts der Politik, die Beschäftigung mit dem Leben der Bevölkerung beschrieben (Foucault 1976a). Die moderne Medizin, die zur politischen Interventionstechnik wird, wurde als ein zentrales Element dieser Biopolitik identifiziert. In der Medizin verschränkt sich die Ebene der Regulierung der Bevölkerung mit der individuellen Disziplinierung, sie richtet sich sowohl auf die allgemeinen biologischen Prozesse als auch auf die individuellen organischen. Bezüglich der Spaltung in Geist und Körper gilt daher, dass jedes Subjekt seinen Körper als ein medizinisch beschreibbares Objekt anzusehen hat.2 Allerdings verändert sich der medizinische Diskurs und damit die Art und Weise, wie dieses Objekt wahrgenommen werden soll. Die Entwicklung dieser Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten, im Besonderen die Tatsache, dass und wie sich der Körper neuerdings als Produkt von Genen darstellt, wird im Kapitel 3.2 genauer beschrieben. In Teil 3.1 soll zunächst herausgearbeitet werden, welche biopolitischen Tendenzen in neuerer Zeit auf der gesundheitspolitischen Ebene vorherrschen. Wie schon Foucault für die Biopolitik des späten 18. Jahrhunderts festgestellt hat, geht es in der Bevölkerungspolitik um globale Masseneffekte, um die Regulierung von Wahrscheinlichkeiten mit dem Zweck, eine Homöostase herzustellen. Zunehmend werden diese Regulierungen mit dem Begriff des „Risikos“ gefasst. Laut François Ewald (1993) ist die Idee des Risikos ein Teil des Vorsorge- und Versicherungsdenkens, das sich im 19. Jahrhundert herausbildet. Das Risiko steht seitdem für die statistische und

2

Vergleiche dazu etwa Foucault 1988.

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wahrscheinlichkeitstheoretische Vergegenwärtigung von möglichen Ereignissen, mit welcher der Versuch einhergeht, zukünftige Gefahren zu objektivieren und zu berechnen. Zwar sagen die so berechneten Risiken nichts über konkrete Einzelfälle aus; sie machen nur in der Masse beziehungsweise in Serien von Ereignissen Sinn.3 In der Massenperspektive werden Effekte von Maßnahmen der Risikoberechnung und -reduktion erwartet, auch wenn diese Maßnahmen im Einzelfall völlig unangemessen sein können. Ein einfaches Beispiel dieser Versicherungslogik war der bis vor Kurzem noch übliche höhere Beitragssatz für Frauen in Krankenkassen: Da viele Frauen ‚auf Kosten‘ der Krankenkassen Kinder gebären, sind die durchschnittlichen Kosten für Frauen höher als für Männer. Die einzelne Frau mag niemals im Leben ein Kind bekommen, wurde aber trotzdem in diese Beitragsklasse eingeordnet, weil sie durch das Merkmal „weiblich“ in eine mit höheren Kosten korrelierende „Risikogruppe“ fällt. Ähnlich kalkulatorisch werden Stoffe, die bei einigen Menschen schädliche Wirkungen zeigen, zu Gesundheitsrisiken erklärt.4 In der Medizin und Gesundheitspolitik weiten sich die Versuche, ‚gesundheitliche Risiken‘ zu minimieren, ständig aus. Das fängt mit den hygienischen Strategien des 19. Jahrhunderts an; im 20. Jahrhundert werden Fragen der Reduktion von Umweltverschmutzung, Unfällen, Verbesserung der Ernährung von Kindern etc. bestimmend. Gegenstand dieser Bemühungen sind nicht nur Sozial- und Gesundheitsinstitutionen, auch in der Planung von Gebäuden oder in der Bildungspolitik werden Experten für Risikominimierung einbezogen (Rose 2001: 7). Ein anderes Set von Strategien dieses Risikodenkens war die Identifizierung von „Hochrisikogruppen“, als Zuordnung von Individuen zu Gruppen, die aufgrund von epidemiologischen und statistischen Analysen mit einer höheren Krankheitsanfälligkeit assoziiert wurden. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich daraus Risikoprofile, Indizes und Skalen, die Personen mit einem höheren als dem durchschnittlichen Risiko identifizieren und präventiven Praktiken unterziehen sollten – als Beispiel sei hier der Blutdruck als Indikator für das Herzin-

3

Vergleiche für die Diskrepanz zwischen diesem kalkulatorischen Risikobegriff und der umgangssprachlichen Verwendung im Sinne von „Gefahr“ auch Samerski 2002: 106ff.

4

Zu einer detaillierten Kritik der Verwirrungen, die Statistiken und Risikoabschätzungen hervorrufen, siehe Gigerenzer 2002.

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farktrisiko genannt (Rose 2001: 8). Anders als bei den Versicherungsrisiken werden Risiken in diesem Modell direkt im individuellen Körper lokalisiert. Zu dieser Art Risiken gehören auch die ‚genetischen‘, die heutzutage per Gentest diagnostiziert werden und neue Gruppeneinteilungen ermöglichen. Die Sicherheitstechnologie löst sich zunehmend von der Referenz auf den Gesamtbevölkerungskörper, „um durch ein Unsicherheitsmanagement der (individuellen und kollektiven) Subjekte abgelöst zu werden.“ (Lemke 2000: 257) Sich auf Robert Castel (1983) beziehend diagnostiziert Thomas Lemke die Tendenz, disziplinäre oder therapeutische Interventionen zu minimieren und „präventive Führungen von ‚Risikopopulationen‘“ (Lemke 2000: 257) auszuweiten. Castel verortet diesen Wandel im Rahmen allgemeiner gesellschaftlicher Transformationen: Die Individuen werden nicht mehr herausgerissen aus dem Sozialen – wie Foucault es am Beispiel der Lepra (Foucault 1976b) ausgeführt hat – oder reintegriert, wie es für die modernen Disziplinierungen, die Foucault anhand des Modells des Panoptikums veranschaulicht, und für die wohlfahrtsstaatliche Fürsorge galt. Den Individuen werden vielmehr je nach Fähigkeiten und den Erfordernissen des Wettbewerbs unterschiedliche soziale Schicksale zugewiesen. Damit kommt der zweite Begriff ins Spiel, dessen Bedeutung für die gegenwärtige Gesundheitspolitik zentral ist: die Prävention.5 Mit der Identifikation von Risiken wird zunehmend die Möglichkeit verbunden, Krankheiten zu verhindern – sei es durch die Beeinflussung von Lebensstilfaktoren wie Ernährung und Rauchen, von Umweltverschmutzung und Schadstoffen am Arbeitsplatz oder durch die Früherkennung bestimmter Krankheitsindizes. Am Beispiel der hier vor allem interessierenden Geschichte der ‚Krebsvorsorge‘6 wird deutlich, dass Prävention historisch mit unterschiedlichen Modi der Führung verbunden war: Sie schwankte zwischen dem Angebot an den Einzelnen und der Pflicht gegenüber dem Staat. In Deutschland war die nationalsozialistische Politik Vorreiter in Sachen Krebsfrüherkennung und Krebsprävention: hier aber im Modus der Disziplinierung und verbun-

5

Vgl. zur Kulturgeschichte der Gesundheitsprävention auch Lengwiler/Madarász 2010 und Leanza 2011, sowie zu einer allgemeineren Bestimmung des Modus der Prävention in zeitgenössischen Gesellschaften: Bröckling 2008.

6

Der Begriff Vorsorge ist eigentlich irreführend, da dem Krebs nicht vorgesorgt, er also nicht verhindert wird, sondern im möglichst frühen Stadium erkannt werden soll.

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den mit Drohungen. Besonders Frauen wurden durch massive Radio-, Anzeigen- und Plakatkampagnen gedrängt, jährlich oder halbjährlich zur Früherkennung zu gehen. Mit einem solchen flächendeckenden Früherkennungsprogramm war Deutschland den USA um 30 Jahre voraus. Der deutsche Frauenarzt Georg Winter schlug sogar vor, dass Frauen, die nicht zu festgelegten „Krebsmonaten“ zur Brustkrebsfrüherkennung gingen, die Hälfte der Behandlungskosten selbst zahlen sollten. Männer dagegen wurden aufgefordert, ihren Darm so selbstverständlich und regelmäßig untersuchen zu lassen, wie sie ihr Auto warten ließen (Weymayr/Koch 2003: 34). Diese Analogie wird übrigens bis die Gegenwart verwendet, wenn beispielsweise Apotheken für den „Krebs-TÜV“7 werben. Wie Robert Proctor in seiner umfangreichen Studie „Blitzkrieg gegen den Krebs“ darstellt, wurde Krebs im nationalsozialistischen Deutschland zum „Staatsfeind Nummer Eins“ (Proctor 2002: 32). Symbolisch aufgeladen als die Zivilisationskrankheit wurden Juden und Geschwüre zu Metaphern füreinander: Geschwüre wurden als Juden metaphorisiert und umgekehrt Juden als Geschwüre (Proctor 2002: 17). Biopolitisches Ziel war die umfassende Reinigung des deutschen ‚Volkskörpers‘. „Ich werde den Nationalsozialismus als eine Art Versuch behandeln – als ein gigantisches hygienisches Experiment, mit dem eine exklusive gesundheitliche Utopie verwirklicht werden sollte. Diese gesundheitliche Utopie war eine Vision, die auch im Zusammenhang mit den bekannteren Geschehnissen, nämlich dem Genozid, stand: Asbest und Blei sollten aus der Luft und dem Wasser der deutschen Fabriken verschwinden, genauso wie die Juden von der deutschen Politik beseitigt werden sollten. Innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie verbanden sich die Reinigung des deutschen Körpers von Umweltgiften und seine Reinigung von ‚rassischen Fremdkörpern‘. Berechtigte und absurde Ängste wurden in der nationalsozialistischen Weltsicht übereinandergeblendet: Es gibt eine Art ‚homöopathische Paranoia‘, die das nationalsozialistische Körperethos durchdringt, eine Angst vor winzigkleinen, aber machtvollen Fremdkörpern, die den deutschen Körper zersetzen, eine Angst, die manchmal grausam und böse ist, manchmal unheimlich zielgerichtet.“ (Proctor 2002: 21)

7

Der regelmäßige Rückgriff auf Metaphern aus dem Themenfeld der Automobilwartung für Prostata- und Darmkrebsuntersuchungen lässt vermuten, dass insbesondere Männer für derartige Vergleiche offen sind.

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Nicht nur die Früherkennung, sondern auch die Krebsprävention war zentrales Thema der Nationalsozialisten. Es wurde nach krebserregenden Stoffen in der Nahrung und in der Luft gefahndet, die Forschung lieferte erste Erkenntnisse über Schäden durch Tabakkonsum und prägte den Begriff „Passiv-Rauchen“. Die Nationalsozialisten starteten die erste groß angelegte Nichtraucherkampagne der Welt und erfanden die Nichtraucher-Abteile in Zügen. Tabak wurde als „Gefahr für die Rasse“, als „Rache für den Alkohol“, als Ausdruck des „Zorns des Roten Mannes auf den Weißen Mann“ ideologisiert. Hitler betonte immer wieder, dass die faschistischen Führer nicht rauchten, wohl aber die Feinde Churchill, Stalin und Roosevelt (ebd.: 13ff.).8 Der Modus, in dem Präventionspolitik im NS-Staat durchgeführt wurde, ist einer der Verpflichtung gegenüber dem Staat, der Ton ist befehlsartig. Die Anti-Tabakkampagne wurde mit Slogans wie „Du hast die Pflicht, gesund zu sein“ neben einer durchgestrichenen Zigarette (HJ-Plakat, abgebildet in Proctor 2002: 202), oder „Tabakgebrauch setzt die Wehrkraft herab“ (ebd.: 249), so ein weiteres Plakat, betrieben. Allerdings werden neben das Allgemeininteresse auch Appelle an die Eitelkeit des Einzelnen gestellt wie „Tabakgebrauch lässt frühzeitig altern und macht häßlich“ (ebd.). Neben den „Befehl“ treten außerdem die Werbung mit dem Vorbild des „Führers“ und der Appell an die Eigenverantwortung, wie unter einer Abbildung von Adolf Hitler aus der Zeitschrift „Auf der Wacht“: „Unser Führer trinkt keinen Alkohol und raucht auch nicht. Ohne andere im geringsten in dieser Richtung zu bevormunden, hält er sich eisern an das selbstauferlegte Lebensgesetz. Seine Arbeitsleistung ist ungeheuer.“ (Ebd.: 229)

8

Proctors materialreiche Analyse ist spannend zu lesen und sehr aufschlussreich, allerdings bleibt das Fazit etwas unbefriedigend: Statt Hygiene-Paranoia und Gesundheitsförderung, Rassenideologie und Tabakverbot als zwei Seiten der gleichen biopolitischen Medaille zu verstehen, belässt er es bei einem „einerseits-andererseits“: Die Nazi-Medizin sei komplex, habe ‚gute wie schlechte Seiten‘ gehabt. Er wendet sich dort explizit gegen eine Position, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ vertreten wird (ebd.: 313).

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Nach dem Ende des Nationalsozialismus sind biopolitische Maßnahmen, sofern sie an Rassenhygiene erinnern, tabuisiert.9 Die Idee der Prävention dagegen weitet sich aus. Nur der Modus der Regulierung verschiebt sich immer mehr zum Appell an die Selbstbestimmung des Einzelnen. Die Botschaft der Krebsfrüherkennung in Deutschland „rechtzeitig erkannt – heilbar“ und die Aufforderung zu frühzeitigem Arztbesuch bleiben. Die Deutschen waren auch die Ersten, die Krebsfrüherkennung zum Grundelement des Gesundheitswesens machten: 1971 wurden die Krebsfrüherkennungsprogramme der gesetzlichen Krankenkassen geschaffen (Weymayr/Koch 2003: 34). Mit dem (individualisierten) Präventionsgedanken wird Gesundheit als Produkt des eigenen Tuns und Willens, als Ausdruck der Kompetenz statt als unabwendbares Schicksal interpretiert.10 Monica Greco (1993) sieht diese moralische Sicht auf Krankheit als Nebenprodukt der psychosomatischen Krankheitstheorie an. Zwar tritt die Psychosomatik als Kritik einer rein biomedizinischen Sicht auf Krankheit auf, dennoch gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen psychosomatischem und biomedizinischem Verständnis. Greco zeigt, dass das psychosomatische Krankheitsverständnis ganz ähnlich wie das biomedizinische einen Zustand vor der Krankheit annimmt: die „persönliche Suszeptibilität“, also die Empfänglichkeit für eine Krankheit oder eine Disposition dazu. Was für die Biomedizin ein „Risiko“ ist, ist hier allerdings ein seelischer Zustand, der zu einer psychosomatischen Krankheit führen kann. Um diesen Zustand zu erkennen, muss die subjektive Wahrheit innerhalb des Körpers erforscht werden statt der bloß objektiven (Greco 1993: 361). Somatische Krankheiten erscheinen als Folge eines unbewussten Wunsches, in die Krankenrolle eintreten zu können, um bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen nicht mehr standhalten zu müs-

9

Darauf wird noch im Kontext der Geschichte der humangenetischen Beratung am Ende dieses Kapitels eingegangen werden.

10 In den Darstellungen von Autoren der Gouvernementalitätsstudien wie Lemke oder Rose geht unter, dass bestimmte Elemente dieser individuellen Verantwortung für seine Gesundheit nicht so neu, sondern schon mit den bürgerlichen hygienischen Diskursen seit dem späten 18. Jahrhundert gegeben sind, wie Philipp Sarasin herausgearbeitet hat (Sarasin 2001: 19ff.). Angesichts einer Kontinuität von Teilen dieses Diskurses bis heute vermutet er, dass die Rassenhygiene mit ihrem Bezug auf den Volkskörper die eigentliche Diskontinuität sei (ebd.: 30).

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sen. Dem (hier allerdings unbewussten) Willen wird so eine entscheidende Rolle zugesprochen: Wer nicht gesund sein will, bleibt es beziehungsweise wird es auch nicht. Somit speisen sich die Präventionsstrategien der Nachkriegszeit auch aus der psychosomatischen Sichtweise. Gesundheit wird nicht mehr aufoktroyiert, sondern der Wille einbezogen: „What marks the difference [...] is the element of free choice and the importance of personal initiative within the new strategies of prevention and health management. That health cannot be imposed, that it is contingent on the will of individuals, on their readiness towards modifying their lives and looking at them differently, all this follows from a psychosomatic perspective and has been well understood, it seems, by the designers of stress prevention schemes.“ (Ebd.: 369)11

Was bleibt, ist die Pflicht gesund zu sein, die sich als gesellschaftliche Norm nun im Modus der Selbstbestimmung durchsetzt, auch wenn sie nicht mehr im Befehlston formuliert wird. Das Subjekt, das das Objekt „Körper“ managen soll, tut dies also zunehmend in eigener Verantwortung, das heißt, es geht um die Aktivierung des Patienten. Denn im neuen „Vertragsmodell“ der Medizin bestimmt nicht mehr die fürsorgliche Ärztin oder der fürsorgliche Arzt, welche Maßnahmen am besten sind, sondern die Patienten und Patientinnen sollen selber entscheiden, was sie wollen. Begriffe wie „Patientenautonomie“, „Patient als Partner“ etc. sind derzeit in der gesundheitspolitischen Debatte allgegenwärtig und haben sich als Ideale gegenüber dem „paternalistischen Arzt“ durchgesetzt. Der „Informed Consent“, also die informierte Zustimmung oder Einwilligung des Patienten zu Untersuchungen und Behandlungen ist die rechtliche Form, die diese neue ‚Selbstbestimmung‘ annimmt. Eng mit dem rechtlichen Begriff des Informed Consent verknüpft ist das Ideal der „informierten Entscheidung“, also der Entscheidung aufgrund ausführlicher Information. Die Begriffe informierte Entscheidung und Informed Consent, übersetzbar als „informierte Einwilligung“, werden in der deutschen Debatte häufig gleichbedeutend verwendet. Die Entwicklung des Informed Consent war eine Reaktion auf die Menschenrechtsverletzungen, die Mediziner im Nationalsozialismus begangen hatten, aber auch auf medizinische Versuche in den USA, die ohne Einwil-

11 Diese These von Greco wird im Kapitel 5 im Exkurs: Die Geschichte psychosomatischer Krebsvorstellungen noch genauer erläutert.

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ligung der Patienten erfolgten. Es wurde eine klare Formel gesucht, mit der medizinisch Erlaubtes von Verbotenem unterschieden werden konnte. Zunächst vor allem als Maßstab für medizinische Versuche am Menschen verwendet, weitete sich der Informed Consent zu einer allgemeinen Richtlinie ärztlichen Handelns aus, die inzwischen in den meisten westlichen Ländern rechtlich bindend ist. So hat sich bei vielen größeren Untersuchungen und Eingriffen inzwischen durchgesetzt, dass von Patienten und Patientinnen eine Einverständniserklärung unterschrieben wird, die auch einen Schutz der Ärztinnen und Ärzte vor Klagen im Schadensfall darstellt.12 Damit ändert sich die Rolle der Ärzte: Außer um Heilung muss die Ärztin nun um Information, Beratung und Kommunikation bemüht sein, um dem Patienten sein ‚Gesundheitsmanagement‘ zu ermöglichen. Daher expandieren neben populärwissenschaftlichen Beratungsangeboten auch institutionalisierte Formen von Beratung wie zum Beispiel die humangenetische.13 Die Aktivierung der Patientinnen und Patienten ist auch im Kontext der Patientenrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre zu sehen und, gerade im Fall Brustkrebs, der Frauenbewegung: Gegen eine Objektivierung durch die paternalistische Medizin forderten Frauen ihren Subjektstatus in der Behandlung ein (Gibbon 2006: 159, Klawiter 2008, für eine literarische Verarbeitung siehe Moamai 1997: 135ff.). Dagegen zeigt aber Silja Samerski in Anlehnung an Arney/Bergen (1984), dass der Informed Consent und die Erweiterung der „Patientenautonomie“ beziehungsweise „Patientenselbstbestimmung“ nicht etwa allein als Erfolg der Patientenrechtsbewegung gelesen werden kann. Daneben sind es auch konzeptionelle Verschiebungen und technische Entwicklungen in der Medizin, die zum Zusammenbruch der medizinischen Expertokratie geführt haben. Der Informed Consent stelle dabei häufig eher eine Entlastung des Arztes dar, der die Verantwortung für Entscheidungen auf den Patienten abwälzen kann, als einen Zugewinn an Selbstbestimmung (Samerski 2002: 86ff.). Diese implizite Verantwortungsverschiebung von der Ärztin zum Patienten wurde inzwischen

12 Detaillierter kann diese Geschichte z.B. bei Samerski (2002: 81ff.) nachgelesen werden. 13 Zu diesen Veränderungen in der Medizin und im Verständnis von Beratung vergleiche ausführlich Samerski 2002: 56-89.

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vielfach kritisiert.14 Lemke fasst die Entwicklung folgendermaßen zusammen: „An die Stelle der alten wohlfahrtsstaatlichen Autorität, die gesellschaftliche (Gesundheits-)Risiken zu kompensieren suchte, tritt in der neoliberalen Ökonomie des Risikos der mündige Patient als aktiver Nachfrager und souveräner Konsument.“ (Lemke 2000: 252)

Diese allgemeinen Tendenzen lassen sich auch in der Veränderung der Institution der humangenetischen Beratung wiederfinden. Durchgeführt von Fachärzten für Humangenetik und meist an Unikliniken angesiedelt, dient die humangenetische Beratung dazu, genetisch (mit-)bedingte Erkrankungen oder Risiken für Erkrankungen zu erkennen und zu verstehen. Patienten werden meist von anderen Ärzten bei Verdacht auf eine solche Erkrankung überwiesen. Traditionell arbeitet sie mit Stammbäumen und phänotypischen Untersuchungen, kann aber in den letzten Jahrzehnten auf eine immer größere Zahl genetischer Tests zurückgreifen. Anne Waldschmidt hat die Expertendiskurse der Nachkriegszeit zur humangenetischen Beratung untersucht. Seit Mitte der 1980er gilt dort das Postulat der „nicht-direktiven Beratung“, die kein Ratgeben etwa im Sinne eugenischer Vorgaben mehr sein soll, sondern Klientinnen und Klienten zu einer selbstbestimmten Entscheidung befähigen will (vgl. auch Wolff 2003). Dies erfolgt ganz im Sinne einer „Geständnispraxis“, wie sie Foucault als typische Selbsttechnologie seit dem 19. Jahrhundert beschrieben hat. Im Geständnis objektiviert und subjektiviert man sich zugleich, da „das sprechendende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt“ (Foucault 1977: 79; das hier von ihm behandelte Thema ist der Sex). Das aus der christlichen Beichte stammende Ritual breitet sich in den verschiedensten Humanwissenschaften, in Medizin, Pädagogik, Justiz etc. aus (ebd.: 76). Genauso muss das Subjekt der Humangenetik zum Sprechen gebracht werden, um die Wahrheit über sein vermeintlich ‚innerstes Selbst‘ auszusagen. „Das Subjekt prüft sich nun selbst. Es übt Selbstdisziplin und Eigenverantwortung und verlangt nach Wissen, um sich besser kontrollieren zu können. [...] Es bringt be-

14 Siehe zu diesem Problemfeld auch Feuerstein und Kuhlmann 1999.

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reitwillig die geforderte Rede, es redet gerne über sich selbst und gibt seine genetischen Geheimnisse preis, seine Erwartungen, sein Vorwissen, seine Wahrnehmungen, seine Beziehungskonflikte, Schuldgefühle, Wünsche und Bedürfnisse. Es empfindet die Beichte als Befreiung. Abschließend trifft es seine eigene Entscheidung, exerziert die humangenetischen Gebote als eigene Bedürfnisse an sich selbst. Aus dem humangenetischen Sollen der ExpertInnen ist ein individuelles Wollen des Subjekts, aus dem Prüfungssubjekt ein Geständnis-Subjekt geworden.“ (Waldschmidt 1996: 276)

Die Rede von der ‚Entscheidungsfreiheit‘ rechtfertigt keineswegs, sich gegen eine (Gen-)diagnostik zu entscheiden; eine solche Entscheidung würde als irrational gelten, da der rationale Gesundheitsbürger nur der vollständig informierte sein kann. Diese Phänomene der Individualisierung werden häufig als „Ökonomisierung des Sozialen“ (Lemke 2000, Rose 2001) verstanden, als sei die Ideologie ‚rationaler‘ geworden, als seien Mythologisierungen verschwunden. Demgegenüber ist der Fortbestand solcher Vorstellungen wie beispielsweise nationaler Mythologisierungen zu konstatieren. Es ist daher fraglich, ob die Veränderung im biopolitischen Regime so klar ist, wie es bei Rose dargestellt wird: „The idea of a ‘national culture’ has given way to that of ‘cultures’, national identity to a complex array of identity politics, ‘community’ to communities. In this new configuration, the political meaning and salience of health and disease have changed. Of course, programmes of preventive medicine, of health promotion and health education still take, as their object, ‘the nation’s health’. Today, however, the rationale for political interest in the health of the population is no longer framed in terms of the consequences of unfitness of the population as an organic whole for the struggle between nations. Instead it is posed in economic terms – the costs of illhealth in terms of days lost from work or rising insurance contributions – or moral terms – the imperative to reduce inequalities in health.“ (Rose 2001: 6)

Zumindest für Deutschland wurde der Bezug auf die „nationale Identität“ nicht durch jenen auf Identitätspolitiken ersetzt, die Vorstellung der Gemeinschaft nicht durch „communities“. Als Hinweise seien hier nur die Debatte um ‚deutsche Leitkultur‘ oder die schon in Kapitel 1.4 zitierte gegenwärtige bevölkerungspolitische Diskussion um die Gefahr des ‚Aussterbens‘ der Deutschen (speziell der akademischen, also vermeintlich gene-

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tisch besser ausgestatteten) genannt, dem mit neuen Elterngeldbeschlüssen oder Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ entgegengewirkt werden sollte.15 Stattdessen kann vermutlich eher von einem Ineinandergreifen von bevölkerungspolitischer und individueller Ebene geredet werden. Dabei könnte die Tatsache, dass derzeitige Biopolitik nicht mehr wie frühere eugenische Regime mit Zwang, sondern vielmehr mit dem Appell an die ‚selbstbestimmte‘ Entscheidung des Einzelnen operiert, ein Hinweis sein, dass eugenische Normen sich derartig internalisiert haben, dass kein Zwang mehr nötig ist. Für die Pränataldiagnostik ist das offensichtlich, wenn die ‚individuelle‘ Entscheidung gegen ein behindertes Kind von Eltern häufig mit der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz begründet wird. Auch die Frage des Verbleibs des mit Biopolitik verbundenen Rassenbegriffs ist nicht eindeutig zu beantworten. Zwar wurde der Rassenbegriff 1950 in einer Erklärung der UNESCO programmatisch auch aus der Genetik verbannt (Weingart et al. 1988: 604ff.). Jedoch existieren heute widerstreitende Positionen zwischen verschiedenen Genetiker-Fraktionen: Während für die einen die Ergebnisse der Genetik Beweis für die Falschheit des Rassenbegriffs sind, versuchen andere die Untersuchung von genetischen Polymorphismen, also Varianzen, auf ‚rassische‘ oder ‚ethnische‘ Unterschiede auszudehnen (vgl. dazu z.B. Rabinow/Rose 2006, Plümecke 2013, AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften 2009). Im hier verhandelten Beispiel wird das an dem Topos relevant, dass aschkenasische Juden und Jüdinnen angeblich eine größere Häufigkeit bestimmter Mutationen in Brustkrebsgenen aufweisen (z.B. Christ 2005: 4f.). Im Unterschied zu etwa den USA oder Großbritannien (vgl. Mozersky/Joseph 2010) werden in der BRD aschkenasisch-jüdische Frauen aber nicht gezielt im Rahmen des BRCA-Diskurses angesprochen. Auch wenn in der deutschen Gesundheitspolitik erste Tendenzen einer Berücksichtigung von ethnischen oder kulturellen Unterschieden zu beobachten sind, werden diese erstens selten auf genetischer Ebene diskutiert und münden zweitens tendenziell in der Forderung nach ‚Integration‘ statt der Betonung von Unterschieden.16

15 In der zweiten Phase dieser Kampagne 2007/2008 wurde unter dem Label „Für mehr Kinderfreundlichkeit“ das Glück, Kinder zu bekommen, angepriesen. 16 Dieses Thema kann im Rahmen dieses Buchs nicht ausführlicher behandelt werden, vgl. stattdessen: zur Nieden 2013.

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3.2 D IE G ENETISIERUNG

DER

K REBSFORSCHUNG

Die beschriebenen Prozesse der Individualisierung sind auch im Zusammenhang mit der diskursiven Verschiebung der Krankheitsursachen zu sehen: Hier tauchen vermehrt Faktoren auf, die man am Individuum festmachen kann. Neben Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Rauchen etc. sind dies genetische Krankheitsursachen. In diesem Kapitel soll beschrieben werden, wie sich die medizinischen Vorstellungen von Krebs, insbesondere von Brust- und Eierstockkrebs, in den letzten Jahrzehnten verändert haben und welche Rolle die Genetik darin spielt. In 3.2.1 wird zunächst die Geschichte der ‚genetischen Krankheit‘ allgemein und dann speziell des Krebses dargestellt, 3.2.2 thematisiert die Metaphorik der Krebsforschung. Dort wird am Schluss ein Bogen zur Reflexion der veränderten Krankheitsvorstellungen in der populärwissenschaftlichen Literatur und Belletristik gespannt. 3.2.1 Die Verschiebung der Krebsursachen Die Tatsache, dass Krankheiten – unter anderem – genetische Ursachen haben können, bezweifelt kaum noch jemand. Selbst wenn man diese Tatsache nicht grundsätzlich infrage stellen will, bedarf der Umstand, dass den Genen in der Medizin heute eine so große Aufmerksamkeit gewidmet wird, der Erklärung. Denn die Genetisierung oder Genetifizierung17 der Medizin ist nicht allein ‚technisch‘ begründet, also lediglich Resultat der Weiterentwicklung der Möglichkeiten der Genomanalyse, sondern beruht auch auf einer ideologischen Verschiebung innerhalb der Wahrnehmung von Krankheiten. Gene sind physisch nie ‚entdeckt‘ worden, und nur durch einen komplizierten Herstellungsprozess im Labor lassen sich Strichcodes visualisieren, die als Spuren von Genen deutbar sind. Denn, wie beispielsweise der Genetiker Raphael Falk ausführt: „With each new development in molecular genetics, it became obvious that the gene was nothing more than an intellectual device helpful in the organization of data“ (Falk 1984: 196).

17 In der Literatur werden beide Begriffe synonym gebraucht.

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Über diese grundsätzliche Erkenntniskritik – die sich in ähnlicher Weise sicher auf viele ‚wissenschaftliche Tatsachen‘ anwenden ließe – hinausgehend, sind sich Genetikerinnen und Genetiker auch nicht einig, wie ein Gen überhaupt zu definieren sei. Silja Samerski fasst die Forschungsergebnisse so zusammen: „Die Molekularbiologie hat es zwar in den 70er Jahren möglich gemacht, die DNA direkt zu untersuchen – den vielfach beschworenen ‚Atomen der Biologie‘ ist man damit aber nicht näher gekommen, im Gegenteil: Alle Versuche, ‚Gen‘ einzukreisen und zu definieren, mussten über den Haufen geschmissen werden. Lange gingen Genetiker davon aus, dass Gene diskrete Einheiten wären – bis Hinweise auf ‚überlappende Gene‘ gefunden wurden. Die Forschung an Bakterien und Pilzen legte nahe, dass ein ‚Gen‘ ein kontinuierlicher Abschnitt auf der DNA sei – bis bei den Mehrzellern die sogenannten ‚Introns‘ beobachtet wurden, die die kodierenden Sequenzen unterbrechen. Nicht mal einen festen Ort auf dem Chromosom lässt sich einem Gen zuschreiben – seit den 90er Jahren gehören die sogenannten ‚springenden Gene‘ zum allgemeinen Lehrbuchwissen. Bis in die sechziger Jahre nahmen Genetiker an, dass ‚Genen‘ eine eindeutige Funktion zugeordnet werden könnte – bis die sogenannten ‚Pseudogene‘ auch diesen Definitionsversuch zunichte machten.“ (Samerski 2001: 3)

Und so ist die Bestimmung von Genen äußerst variabel: „A gene is anything a competent biologist chooses to call a gene“ (Kitcher 1992: 131).18

Trotzdem gelingt es dem Gendiskurs heute, uns die Existenz und Wirksamkeit von Genen plausibel zu machen. In ihrer Untersuchung „Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?“ (2002) hat Lily Kay akribisch nachgezeichnet, wie sich seit den 1950er Jahren neue Begriffe in der Genetik durchsetzten: die „genetische Information“ und der „genetische Code“. Bislang hatte man von „Spezifität“ geredet, um die Beziehung zwischen Gen und Protein zu beschreiben. Ein Gen passte zu einem Protein wie ein

18 Vgl. zu dieser Uneindeutigkeit des Begriffs „Gen“, die gleichzeitig seine wissenschaftliche Produktivität bedingte, auch Müller-Wille/Rheinberger 2009: 10ff.

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Antigen zu einem Antikörper, das Gen war damit Teil eines Organismus. In der Begrifflichkeit der „Information“, die aus der Kybernetik entlehnt wurde, wird die DNA jedoch zum Ursprung. Das Gen als Informationsträger „übersetzt“ sich wie eine Gebrauchsanweisung in Proteine, die das Körpergeschehen steuern. Wie Gerburg Treusch-Dieter (1995) deutlich macht, ist mit dem Gen als „Information“ außerdem die „Exkarnation des Fleisches“, also die radikale Entmaterialisierung, auf die Spitze getrieben. Die schon mit Adorno und Horkheimer thematisierte Hierarchie von Geist und Körper (siehe Kapitel 1.3) wird damit radikalisiert: Der Körper ist nun Ausdruck „körperloser Information“.19 Nach der ‚Entdeckung‘ der Struktur der Doppelhelix der DNA durch James Watson Francis Crick, Maurice Wilkins und Rosalind Franklin 1953 wurde dieses informationstheoretische Paradigma dominant und führte am Ende der 1960er Jahre zur ‚Entschlüsselung‘ des Codes, das heißt zur Zuordnung bestimmter Proteine zu spezifischen Basenpaaren der DNA. Dieses neue Verständnis ist laut Kay schon auf biochemischer Ebene höchst fragwürdig, da es das komplexe Netzwerk der Beziehungen von Genotyp und Phänotyp auf eine eindeutige deterministische Relation unabhängig von ihrer (zellulären) Umwelt reduziert (Kay 2002: 14). Vor allem aber ist es Ausdruck einer neuen Form der Biomacht, die nun auch auf molekularbiologischer Ebene Kontrolle über das Leben gewinnen will: Wenn das Gen der Ausgangspunkt des Lebens ist, dann kann bei ihm angesetzt werden, um Leben zu steuern. Wird diese Steuerung bei Pflanzen und Tieren längst durch Manipulation der Keimbahn vorgenommen, so geht es in der Humangenetik vor allem um Prävention – von ‚erbkrankem‘ Nachwuchs oder, so wenigstens ist die Vision, des Ausbruchs bestimmter Krankheiten durch gezielte, auf die individuelle Disposition abgestimmte Lebensstilempfehlungen oder Medikamentierung, – und um gezieltere Therapiemöglichkeiten. So ist also nicht die „Entschlüsselung des genetischen Codes“ die zufällige Voraussetzung einer Entwicklung innerhalb der Medizin, sondern umgekehrt sind sowohl die handlungsleitenden Metaphern (Information, Code) als auch die rein finanzielle Durchführbarkeit der diversen Humangenomprojekte geprägt von biotechnischen Hoffnungen, die eine Revolutionierung der Medizin prophezeien. Seit den 1970ern trugen diese Hoffnun-

19 Vgl. zur Analyse des molekularbiologischen Verständnisses des Organischen in Anlehnung an die „Dialektik der Aufklärung“ auch Gransee 1999.

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gen zu einer außerordentlichen Expansion der Molekularbiologie in technischer, kultureller, ökonomischer und institutioneller Hinsicht bei (FoxKeller 1992: 291). Aber erst mit der ‚Entschlüsselung des Codes‘ war es möglich, tatsächlich mit der DNA im Labor zu experimentieren, statt die Vererbung bloß aufgrund von Stammbäumen zu studieren. Wie der Wissenschaftshistoriker Edward Yoxen gezeigt hat, beruht die Expansion der Molekularbiologie in die Medizin und Populärkultur hinein aber auch auf der Ausweitung und Neudefinition des Konzepts der „genetischen Krankheit“ (Yoxen 1984). Immer mehr Krankheiten werden als ‚genetisch bedingt‘ angesehen, wobei sich die genetische Krankheit zu einer Mammutkategorie ausweitet, in die nicht nur schon länger als solche bekannte und seltene ‚Erbkrankheiten‘ wie Chorea Huntington oder Zystische Fibrose fallen, sondern auch andere Krankheiten, bei denen ein erblicher Faktor neben anderen angenommen wird, wie etwa chronische psychische Leiden, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Krebs (dazu auch Wolf 2000: 61). Laut Yoxen gibt es keine klare Definition der genetischen Krankheit, denn sowohl körperliche Anomalien, die man auf eine genetische Ursache zurückführt, als auch genetische Anomalien, deren körperliche Auswirkungen nicht bekannt sind, können so bezeichnet werden (Yoxen 1984: 49). Empirisch wird diese Ausweitung genetischer Krankheiten beispielsweise augenscheinlich an dem sogenannten McKusick-Katalog, der seit den 1960er Jahren mit entsprechenden Daten gefüllt wird.20 Von etwa 1.500 Einträgen erblicher Erkrankungen im Jahr 1965 war die Zahl im Jahre 2003 auf über 14.000 angestiegen (Lemke 2003b: 476), inzwischen sogar auf über 21.000. Lemke beschreibt die epistemologische Verschiebung, die mit diesem Konzept zusammenhängt: Die Krankheit wird virtualisiert, indem man sie von ihren Symptomen entkoppelt. „Die ‚unklaren‘ Symptomatiken auf der Ebene des Phänotyps verstellen – so die zugrundeliegende Annahme – den Blick auf die ‚wirklichen‘ genetischen Mechanismen, deren Verständnis erst eine genaue Differenzierung und Systematisierung der Krankheitsursachen erlaubt.“ (Lemke 2006: 33f.)

20 Die einschlägige medizinische Standarddatenbank ist im Internet unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/mimstats.html zu finden.

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Wenn die Systematik der Krankheiten das Gen zum Kriterium nimmt, geraten andere mögliche krankheitsbedingende Faktoren aus dem Blick. Eine solche Fokussierung auf ‚Krankheitsgene‘ möchte ich nun für Krebserkrankungen nachzeichnen. In den 1980ern hatte sich bereits die These durchgesetzt, dass Krebs durch eine Mutation oder Fehlregulierung bestimmter Gene ausgelöst wird (Wolf 2000). Diese sogenannte Onkogen-Hypothese ging von Entwicklungen innerhalb einzelner Zellen aus, nicht von vererbten Anlagen in den Keimzellen. Inzwischen sucht man jedoch nach Besonderheiten in der individuellen genetisch vererbten Ausstattung, die eine höhere Anfälligkeit für Krebs bedingen können. Solche Gene könnten etwa eine schlechtere Fähigkeit bedingen, Schadstoffe aus der Zelle auszuscheiden, oder ‚Reparaturarbeiten‘ innerhalb der Zelle verhindern. Gesucht wird ebenso nach defekten ‚Tumorsuppressorgenen‘, die normalerweise in jeder Zelle die Zellvermehrung hemmen, oder nach ‚Onkogenen‘, die die Zellvermehrung fördern. Eine solche Konzentration auf genetische Faktoren hat in der Krebsforschung nicht immer vorgeherrscht, sondern man ging von einer Reihe von Faktoren aus: „Seit spätestens Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Rohzutaten der Krebsverursachung bekannt: Krebs wird verursacht durch Chemikalien in der Luft, im Wasser und in Lebensmitteln, durch Gewohnheiten wie Rauchen und falsche Ernährung, durch schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Regierungen, Pech mit der genetischen Ausstattung und der Kultur, in die man hineingeboren wurde.“ (Wolf 2000: 64)

Welche Ursachen verstärkt oder überhaupt thematisiert werden, ist historisch variabel und vor allem von gesellschaftlichen Faktoren abhängig (siehe dazu auch Proctor 1995). Während der innenpolitischen Reformperiode der 1970er in den USA rückten beispielsweise die Umweltschadstoffe ins Zentrum der Kritik (2000: 64). Einzelne Forscher und Forscherinnen gingen so weit, Umweltschadstoffe und Giftstoffe am Arbeitsplatz zur Hauptursache zu erklären, und die Carter-Regierung unterstützte einen Bericht, der einen Anstieg der Krebserkrankungen um 30-40% aufgrund von Giften am Arbeitsplatz prognostizierte. Spätestens mit der Wahl Ronald Reagans setzten sich aber konservative Kritiker durch, die diese Zahlen für völlig übertrieben erklärten und dagegen lebensstilbedingte Krankheitsursachen wie etwa Tabak, Alkohol, tierische Fette, Übergewicht oder ultraviolette

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Strahlung für wesentlich relevanter erklärten (ebd.: 68f.). Neben diesen Lebensstilfaktoren fokussierte sich die Forschung auch auf die Genetik von Krebserkrankungen. Als Krebserkrankungen mit starker genetischer Komponente werden heute bestimmte seltene Formen von Darmkrebs, Brustkrebs und Eierstockkrebs angesehen. Von der familiären Polyposis, einer Form des Darmkrebses, ist nur etwa eine von 10.000 Personen betroffen. Ein anderes Gen soll für 10-15% der Dickdarmkrebserkrankungen zuständig sein. Etwa 80% der Genträger erkranken bis zu einem Alter von 70 Jahren an dieser Krebsart: 35% bis zum Alter von 50 Jahren. Die Genetik dieses „Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer (HNPCC)“ wurde seit 1999 in der BRD in einem großangelegten Projekt der Deutschen Krebshilfe an mehreren genetischen Beratungsstellen erforscht. Ähnlich geht man bei Brust- und Eierstockkrebs davon aus, dass 5% aller Fälle auf eine erbliche Form zurückzuführen sind. Nachdem eine Vielzahl von Kohortenstudien von Familien mit häufigen Fällen von Brust- und Eierstockkrebs verschiedene „Kandidatengene“ dafür in den Blick genommen hatten, wurde 1994/1995 erstmals die Sequenzierung der für Brustkrebs verantwortlich gemachten Tumorsuppressorgene „BRCA1“ und „BRCA2“ veröffentlicht. Die amerikanische Firma Myriad Genetics konnte damit einen Gentest für Mutationen in diesen Genen auf den Markt bringen. Auch in der BRD entwickelte sich aus einer „Arbeitsgruppe Tumorgenetik“ wenige Jahre nach der Veröffentlichung schließlich das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ (Palfner 2009), auf das sich die vorliegende Untersuchung bezieht.21 Es sollte einerseits den Einsatz der Tests in einem medizinisch kontrollierten Rahmen, mit Unterstützung durch humangenetische Beratung und anschließende Angebote zur Krebsvorsorge ermöglichen – als alternatives Horrorszenario wurde von den Fachärzten für Humangenetik eine Verbreitung des BRCA-Tests über kommerzielle Wege und eine Überforderung von Frauen mit den Testergebnissen an die

21 Eine Vorstellung des Verbundprojektes erfolgt in Kapitel 3.3. Die ‚Entdeckung‘ oder Herstellung der BRCA-Gene sowie die Etablierung von Testverfahren soll hier nicht genauer dargestellt werden, da hierzu bereits umfangreiche Untersuchungen vorliegen. Siehe für einen Vergleich der Situation in den USA und Großbritannien Parthasarathy 2007, für Deutschland Palfner 2009, für Frankreich Bourret 2005.

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Wand gemalt. Es diente aber andererseits dazu, umfassende Daten über die relevanten Genmutationen in den Genen BRCA1 und BRCA2 und deren Relation zum Auftreten der entsprechenden Krebsarten zu gewinnen. Auch die sogenannten genetischen Krebsarten werden nämlich im Gegensatz zu monogenen Erkrankungen wie etwa Chorea Huntington, bei der die entsprechende Mutation mit fast 100%iger Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch der Krankheit führt, als multifaktorielle Erkrankungen begriffen; eine entsprechende Gen-Mutation führt also nur in Kombination mit noch ungeklärten anderen Ursachen wie anderen Genen oder Umwelteinflüssen zu einer tatsächlichen Erkrankung, die Mutation ergibt bloß eine Disposition. Die Forschung nach Dispositionen oder ‚genetischen Risiken‘ dehnt sich auf immer mehr Bereiche aus. Statt von Krankheitsgenen wird nun von Polymorphismen geredet, häufig vorkommenden Genvarianten, die bestimmte Anfälligkeiten – etwa für Krebs – bedingen. In den Zukunftsvisionen der Genetikerinnen und Genetiker könnten die genaue Erforschung und Testung solcher Varianten zu einem detaillierten individuellen Risikoprofil mit Empfehlungen für den Lebensstil führen (so etwa in einem Szenario von Francis Collins, dem Direktor des Nationalen Genomforschungsinstituts der USA, vgl. dazu Wolf 2000: 63). 22 Wie stark sich solche ‚Anfälligkeitsgene‘ tatsächlich auswirken, ist bisher allerdings ungeklärt. „Im Gegensatz dazu ist die ideologische Wirkung groß: Bei der Suche nach den Krebsursachen verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Umwelt zu den biologischen Defekten des Individuums. Man [die entsprechende Forschung, A.z.N.] lebt von der Hoffnung, die (Status-quo-konforme) Alternative zur Umwelt- und Sozialepidemiologie zu werden.“ (Wolf 2000: 77)

Zwar ist mit der „Disposition“ die bisher dominante Vorstellung einer genetischen Determination gebrochen. Gerade dadurch entsteht jedoch „genetische Verantwortung“ – werden die Individuen in die Pflicht genommen, verantwortlich mit der eigenen Genausstattung umzugehen. Hagen Kühn spricht an dieser Stelle von einer „normativen Ätiologie“: Welche Krankheitskonzepte sich durchsetzen können, hängt von gesellschaftlichen Normen ab (Kühn 2000). Die besten Durchsetzungschancen

22 Erste Ansätze einer daran orientierten „Public Health Genetik“ beschreiben Kollek/Lemke 2008: 149f.

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haben Konzepte, die sich auf isolierbare Krankheitserreger und genetische Bedingungen konzentrieren, da sich die Krankheitsursachen in diesem Fall allein im Bereich der Mikroereignisse des individuellen Körpers lokalisieren lassen. Die Genetifizierung des Krankheitsverständnisses dürfte „zu einem großen Teil auf die Verheißung zurückzuführen sein, hier könne Krankheit bekämpft werden, ohne den sozialen und politischen Status quo zu verletzen. Mehr noch: dieser wird gestärkt durch marktförmige Befriedigung von Gesundheitsbedürfnissen, durch neue Märkte für Kapitalanleger und durch den Legitimationsentzug für Interventionen in den sozialen Kontext von Gesundheit und Krankheit. [...] Auf der zweiten Stufe der ätiologischen Hierarchie stehen jene Krankheitsursachen, die unmittelbar als ein reflexives, d. h. auf sich selbst bezogenes ‚Fehlverhalten‘ der Individuen angesehen werden, also die subjektiven Risikofaktoren des sogenannten Lebensstils (Mangel an körperlicher Bewegung, falsche und übermäßige Ernährung, zuviel Alkohol und Tabak, falsche Sozialbeziehungen)“ (Kühn 2000: 14f.; Hervorheb. im Orig.).

Die Kombination der beiden dargestellten Konzepte hinsichtlich Krankheitsursachen – Genetik und Fehlverhalten – ist die Voraussetzung der genetischen Verantwortung. Denn die Verdinglichung von Krankheit zum Produkt des Gens ist an die Suggestion von Autonomie und Selbstbestimmung gekoppelt, indem an das Individuum appelliert wird, sich verantwortlich zu verhalten. Krankheit wandelt sich damit von einer ‚Gefahr‘ zu einem ‚Risiko‘, wenn man die Unterscheidung nach Niklas Luhmann zugrunde legt: „Der Unterscheidung von Risiko und Gefahr liegt ein Attributierungsvorgang zugrunde, sie hängt also davon ab, von wem und wie etwaige Schäden zugerechnet werden. Im Falle von Selbstzurechnung handelt es sich um Risiken, im Falle von Fremdzurechnungen um Gefahren. [...] Wenn also etwaige Schäden als Folgen der eigenen Entscheidung gesehen werden und auf diese Entscheidungen zugerechnet werden, handelt es sich um Risiken [...]. Man nimmt dann an, daß die Schäden nicht eintreten könnten, wenn eine andere Entscheidung getroffen worden wäre. Von Gefahren spricht man dagegen, wenn und soweit man die etwaigen Schäden auf Ursachen außerhalb der eigenen Kontrolle zurechnet.“ (Luhmann 1990: 140)

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Diese Version des Risikobegriffs stimmt nicht mit der allgemeineren Fassung im vorangegangenen Kapitel überein, ist aber eine sinnvolle Präzisierung dessen, wie Risiken heute begriffen werden: als Folgen eigener Entscheidungen. 3.2.2 Die Metaphorik der Genetisierung Eine interessante Ergänzung zu den dargestellten politischen Interpretationen der Veränderung der Krebsforschung liefert die Studie von Eva Johach (2003), die die politische Dimension ihrer Metaphorik analysiert. In ihrer detaillierten Untersuchung der Krebsdiskurse in der Fachliteratur wird deutlich, wie stark dort Vorstellungen vom Organismus mit jeweils historisch aktuellen Vorstellungen von Gesellschaft korrespondieren. Gegenseitige Verweise finden sich immer wieder: Nicht nur wird Gesellschaft häufig als Körper metaphorisiert, sondern auch umgekehrt der Körper als Gesellschaft. Dies gilt auch für die Rede von „Kommunikation“ zwischen „Zellen“ und „Genen“. Für diese aktuellen Repräsentationen des Körpers, wie sie sich speziell in Texten über Krebs offenbaren, diagnostiziert Johach eine spezifische, in molekularbiologische Begriffe gekleidete Biopolitik innerhalb des Körpers: „In den Schilderungen des Krebsausbruchs spricht sich, so behaupte ich, vor allem im 20. Jahrhundert eine Kontrollproblematik aus, die sich als beängstigende Rückseite der ausgetüftelten Kontroll- und Regelwerke darstellt, die die molekularbiologische Forschung der letzten Jahrzehnte ans Licht bringt: Krebs gilt als schrittweiser Ausbruch aus den Regelwerken des Körpers. Die Krebsgefahr verkörpert demnach eine extreme Vorstellung von Kontrollverlust auf der Ebene derjenigen Mechanismen, die zu einer Zeit als die für den Aufrechterhalt der organismischen Ordnung entscheidenden angesehen werden.“ (Johach 2003: 3)

Wichtige Metapher ist dabei das Gleichgewicht, das schon in den politischen Körpermetaphoriken seit der Antike wesentlich war.23 Der US-amerikanische Physiologe Walter B. Cannon, der verdeutlichen möchte, inwiefern der Staat von der „Weisheit des Körpers“ lernen könne, beschreibt

23 Als Beispiel nennt Johach die berühmte Fabel des Menenius Agrippa über das Zusammenspiel von Extremitäten und Bauch im Staat.

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1932 die „automatische Regulation“ oder „Homöostase“ als zentral – vom Gehirn – gesteuerte Regierungsweise. Sein Organismusmodell korrespondiert mit der politischen Ökonomie der USA seiner Zeit und lässt sich auch als Stellungnahme für den Wohlfahrtsstaat und gegen marktliberale Regierungsweisen verstehen. Der Gedanke der Regulation und Steuerung findet sich auch in den heute gängigen Organismusmodellen wieder. Analog zur Vorherrschaft des Kommunikationsbegriffs in gegenwärtigen Gesellschaftsmodellen werden mit der Durchsetzung des genetischen Paradigmas – wie oben dargestellt – viele Krankheiten, vor allem Krebs, in einer kybernetischen Sichtweise als Folge genetischer Fehlsteuerung oder Fehlkommunikation verstanden. Neben die Modelle zentraler Steuerung tritt allerdings ein Netzwerkkonzept des Körpers, in dem den Zellen eine gewisse Autonomie oder Selbststeuerung zugesprochen wird (vgl. dazu Fox-Keller 1996). Am Beispiel der Erforschung und Interpretation der Apoptose, dem plötzlichen Zelltod, wird deutlich, wie sich das Modell verändert: Hier greifen Selbst- und Fremdregierung ineinander, die ‚Autonomie‘ jeder einzelnen Zelle ist in einem ‚gesunden‘ Organismus auf die Exekution des Allgemeinwohls gerichtet. Die Apoptose ist eines der größten biomedizinischen Forschungsfelder der letzten Jahre mit einem exponentiellen Anstieg der Forschungsliteratur vor allem im Zeitraum seit 1990. Sie nimmt auch eine zentrale Stellung in der Krebsforschung ein, denn einer der Gründe für die Entstehung von Krebs wird in der ausbleibenden Apoptose gesehen: In einem ‚gesunden‘ Organismus begeht laut dieser Forschung täglich fast die Hälfte aller Zellen ‚Selbstmord‘, weil sie beschädigt wurden oder nicht mehr gebraucht werden (Johach 2003: 7). In der neueren Deutung der Apoptose, offensichtlich kommunikationstheoretisch inspiriert, wird ein komplexes soziales Szenario entworfen, in dem Zellen von Nachbarzellen das Signal zum Sterben bekommen (oder sterben, weil das Signal zum Leben ausbleibt) – Apoptose erfolge als „assisted suicide“, mittels Sterbehilfe. Krebs, als übermäßiges Zellwachstum angesehen, entsteht unter anderem dann, wenn diese „Selbstmordfunktion“ gestört ist, weil die Zellen aufgrund defekter Genabschnitte oder inaktivierter Proteine „vergessen“, „verlernt“ haben oder „sich weigern“ zu sterben. Aber auch die oben genannten Proto-Oncogene und Tumorsuppressorgene, wie die BRCA-Gene, die in der gesunden Zelle die Zellteilung durch einen genau geregelten Ablauf der Genexprimation regulieren und damit

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Krebs verhindern, werden als biopolitische Akteure eines komplexen sozialen Regelwerks, als „Sozialkontroll-Gene“ (so heißt es in dem Standardwerk von Alberts et al. 1986, zitiert nach Johach 2003: 9) metaphorisiert. Wenn diese sozialen Kontrollmechanismen gestört seien, könnten Zellen die „sozialen Schranken der Zellteilung“ durchbrechen und sich unbegrenzt teilen (Alberts et al. 1986: 898). Eine solche Störung ist etwa die Mutation des BRCA-Gens. Es wird deutlich, dass in den dargestellten Repräsentationen von Abläufen innerhalb der Zellen und zwischen den Zellen ein komplexes Ineinandergreifen von Selbst- und Fremdkontrolle innerhalb des Körpers inszeniert wird, das – wenn nicht explizit wie etwa bei Cannon – zumindest implizit durch die benutzte Metaphorik auf gegenwärtige Gesellschaftsvorstellungen verweist. Das ‚Handeln‘ der Zellen wird gesteuert durch ein Zusammenspiel von internalisiertem Allgemeinen (dem genetischen Code, in dem sowohl der reguläre Ablauf – die ‚soziale Kontrolle‘ der Gene untereinander – als auch das Selbstmordprogramm bei Fehlfunktion grundsätzlich angelegt sind) und erweiterter panoptischer Kontrolle durch die Wachsamkeit der ‚Nachbarn‘, die gegebenenfalls das Signal zum Selbstmord geben, falls eine Zelle gegen das Gemeinwohl des Gesamtorganismus verstoßen sollte. Gerade der Extremfall der Apoptose, der im Körper angeblich den Normalfall darstellt, zeigt, wie sehr die netzwerkverbundene ‚Autonomie‘ der Teile letztlich dem Gemeinwohl unterstellt ist. „Der ‚Selbstmord‘, den die Körperzellen sozusagen zum Wohle des Ganzen vollziehen, spricht die deutliche Sprache eines streng integrierten Organismuskonzepts – auch wenn die Metaphorik diejenige einer dezentralisierten Netzwerkgesellschaft ist.“ (Johach 2003: 10)

Johach zieht Émile Durkheims Begriff des „altruistischen Selbstmords“, den er vor allem für sogenannte primitive Gesellschaften beschreibt, heran, um die politische Dimension zu skizzieren: „Das Phantasma, das die Apoptose im Rahmen einer politischen Vernunft betrachtet, verkörpert, ist die einer ‚Selbstregulierung‘ der Individuen, die bis in den ‚altruistischen Selbstmord‘ reicht. Damit verwirklicht sich auf der Ebene des Körpers das Ideal einer völligen Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdregierung (i.S. Foucaults), die der Organismus der Gesellschaft immer voraus haben wird. Ein alt-

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ruistischer Selbstmörder, der nun gerade kein Selbstmordattentäter ist, der andere mit in den Tod reißt, sondern seinen zunehmenden Extremismus, seine Nicht-Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Ganzen erkennt und sich prophylaktisch eliminiert – das ist eine Form von moralischer und politischer Ökonomie, die zu schön ist, um wahr zu sein.“ (Johach 2003: 11)

Die Metaphern von Kontrollverlust und Kommunikationsausfall finden sich auch in literarischen Werken wieder. Christa Karpenstein-Eßbach (2006), die Veränderungen der literarischen Verarbeitung von Krebs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht, stellt fest, dass die Konjunktur der belletristischen „Krebs-Literatur“ der 1970er und 1980er Jahre im Kontext des Paradigmas der psychosomatischen Krebsdeutung und dem Konzept der „Krebspersönlichkeit“ stand. Diese Psychisierung von Krebs und eine entsprechende Tiefenmetaphorik stellt heute nicht mehr das dominante Erklärungsmodell dar (vgl. z.B. Dietschi 2003), wird aber im Exkurs Die Geschichte psychosomatischer Krebsvorstellungen aufgegriffen, da psychosomatische Krankheitserklärungen in den analysierten Interviews auftauchen (vgl. Kapitel 5.2.4). In den 1990ern flacht die Konjunktur der Krebsliteratur ab. Gleichzeitig wird Kommunikation das zentrale Paradigma sowohl der literarischen als auch der populärwissenschaftlichen Behandlung von Krebs:24 Krebs entsteht durch eine Störung der Kommunikation (Zellkommunikation und Genkommunikation). Dies verweist einerseits auf die Beschreibung von Krebs als genetischer Krankheit, andererseits auf den Informationsbegriff in der Genetik. Es werden systemtheoretische Annahmen zugrunde gelegt, Krebs ist die Folge eines Kontrollverlustes, der zur „Unsterblichkeit“ der Zellen führt. Karpenstein-Eßbachs Analyse zeigt, dass das von Johach analysierte Paradigma sich nicht nur in der Fachliteratur findet, sondern auch in popu-

24 Zum Beispiel bei Weymayr/Koch 2003: Sie erklären die molekularbiologischen Grundlagen von Krebs als Probleme von Fehlinformation, Kontrollausfall wegen beschädigten Checkpoints, unbegrenztem Wachstum, Grenzüberschreitung in andere Gewebe und mangelndem Zellselbstmord. Die Metaphorik ist statt einer der Netzwerkkommunikation eher autoritär, z.B. „Kann der Fehler nicht behoben werden, zieht der Checkpoint die Notbremse und befiehlt der Zelle, sich selbst zu zerstören.“ (Weymayr/Koch 2003: 25)

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läre und belletristische Diskurse eingegangen ist. Hier gibt es Resonanzen zwischen der Diskursivierung von Kommunikation innerhalb des Körpers und der Thematisierung der Kommunikation(-sprobleme) zwischen Arzt/ Ärztin und Patient/Patientin. Zum Beispiel wird die Beratung hinsichtlich verschiedener Therapieoptionen und die Entscheidung zwischen diesen Optionen zentral, wichtiger als die Gründe von Krebs. In den belletristischen Werken wird außerdem die Unsterblichkeit des Krebs-Körpers verarbeitet. Im Gegensatz zur Thematisierung des ungesteuerten Wachstums in den 1970er Jahren (bei der der Krebs immer als das Fremde, das Tier in einem selbst erschien), ist nun der fehlende Tod der (Krebs-)zellen die diskursive Referenz. In vielen Erzählungen scheint die Grenze zwischen Leben und Tod geradezu zu verschwimmen, der Krebs wird als Verjüngung thematisiert, Menschen entscheiden sich, nicht zu sterben, oder Romanfiguren leben in Form ihres Tumors weiter (Karpenstein-Eßbach 2006: 255ff.). Es zeigt sich, dass die mangelnde Apoptose, die in der Fachliteratur zentral ist, auch die literarischen Thematisierungen von Krebs prägt. In der Analyse der humangenetischen Beratungsgespräche (Kapitel 3.3.6) und der Interviews (Kapitel 5) wird auf die Verwendung ähnlicher Metaphoriken geachtet werden.

3.3 D IE P RODUKTION GENETISCHER V ERANTWORTUNG : BRCA-G ENTESTS IN D EUTSCHLAND Nachdem in den letzten beiden Kapiteln zunächst allgemeine Tendenzen in der Gesundheitspolitik (3.1) und in der Veränderung der Krankheitsvorstellungen von Krebs (3.2) beschrieben wurden, soll im Folgenden die Implementierung von Gentests in der medizinischen Praxis am Beispiel des Verbundprojekts „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“, das den BRCAGentest in Deutschland etablierte, dargestellt werden. Zunächst wird das Verbundprojekt in Zielsetzung, Aufbau und Ablauf beschrieben (3.3.1). Daran schließt sich eine kritische Betrachtung seiner genetischen Grundannahmen (3.3.2) und der in dem Projekt vorgeschlagenen Präventionsmaßnahmen an (3.3.3). Anschließend wird der Diskurs, der in deutschen Fachmedien (allerdings wenig) über das Projekt geführt wird, untersucht (3.3.4). Im folgenden Unterkapitel (3.3.5) werden die Selbstdar-

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stellungen des Projektes und die in Informationsmaterialien und auf Webseiten enthaltenen Botschaften an die (potentiellen) Teilnehmerinnen untersucht. In 3.3.6 richtet sich der Fokus auf die Beratungsgespräche, die jeweils einer Entscheidung für oder gegen die Durchführung des Tests vorausgehen. 3.3.1 Das Verbundprojekt „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“ Zwischen 1997 und 2004 förderte die Deutsche Krebshilfe in Deutschland ein umfangreiches Forschungsprojekt: das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“, in dem an zwölf universitären Zentren gesunden und an Brustkrebs erkrankten Frauen aus sogenannten Hochrisikofamilien (definiert über die Anzahl der Verwandten mit Brust- oder Eierstockkrebs) ein BRCA-Gentest angeboten wurde.25 Im dafür gegründeten „Deutschen Konsortium Familiäres Mamma- und Ovarialkarzinom“ wurden die Zentren Berlin, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Heidelberg, Kiel, Köln/Bonn, Leipzig, München, Münster, Ulm und Würzburg aufgenommen. Sie setzten sich jeweils „interdisziplinär aus Gynäkologen, Humangenetikern, Molekulargenetikern, Psychologen und weiteren Beteiligten wie zum Beispiel einer Zentrale für Dokumentation und der Pathologie“ (Palfner 2009: 178f.) zusammen, um die teilnehmenden Frauen umfassend beraten, untersuchen und gegebenenfalls in Krebsvorsorgeprogramme einbinden zu können. Der BRCA-Test soll Mutationen in den Genen BRCA1 und BRCA2 feststellen, die, wie im letzten Kapitel beschrieben, mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, und einer ebenfalls erhöhten Wahrscheinlichkeit für Eierstockkrebs in Verbindung gebracht werden.26 In anderen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien sind solche

25 Sonja Palfner (2009) beschreibt detailliert, welche institutionellen und medizinischen Praktiken die BRCA-Gene überhaupt erst als Wissensobjekte konstituierten und schließlich zum Zustandekommen des Verbundprojektes führten. 26 Die Wahrscheinlichkeitszahlen, die hierzu genannt werden, variieren in der Forschungsliteratur sehr stark. Das wird unten (in 3.3.2) genauer ausgeführt werden, wenn es um die Problematisierung der Studie geht.

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genetischen Früherkennungsprogramme schon länger Teil des Gesundheitssystems.27 Ziel des deutschen Verbundprojektes war es, Aufschlüsse über Krebsentstehung und -prävention zu gewinnen, also auch darüber, ob es sinnvoll ist, Gentests in der Krebsprävention einzusetzen. Die teilnehmenden Frauen wurden daher unter anderem alle fünf Jahre zu Gesundheitszustand und -verhalten befragt.28 Ein weiteres Ziel war es, zu ermitteln, welche Genmutationen in der deutschen Bevölkerung besonders verbreitet sind (sogenannte Hot Spots, das heißt eingegrenzte Gebiete, auf denen die häufigsten Mutationen liegen); man hoffte, dadurch die Testverfahren vereinfachen zu können. Gleichzeitig wurden den Frauen, die an der Studie teilnahmen, bei einem positiven Gentest – also einer vorhandenen Genmutation – weitere Präventionsmaßnahmen angeboten. Die Annahme dieser Angebote durch die Teilnehmerinnen sowie die Wirksamkeit der Maßnahmen sollte durch die fortlaufenden Befragungen im Rahmen des Projekts evaluiert werden. Im Fachjargon wird eine solche Studie als „Translationale Forschung“ bezeichnet (im Englischen ist auch der Slogan „from bench to bedside“ üblich): Forschungsaktivitäten zwischen Labor und Krankenbett, die sowohl Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung umsetzen als auch umgekehrt aus der Patientenversorgung heraus neue Forschungsprojekte entwickeln (Niederacher et al. 2006: 506). Kritisch könnte man dagegen von „diagnostischen Humanexperimenten“ sprechen (Feuerstein/Kollek 2000): Bevor überhaupt die medizinische Wirksamkeit dieser Maßnahmen evaluiert wurde, werden sie in der Praxis eingesetzt – und dies zum Teil an gesunden Frauen. Im Rahmen der Verbundprojekt-Studie entschieden Frauen nach drei ausführlichen Beratungsgesprächen (einem gynäkologischen, einem humangenetischen und einem psychologischen), ob sie sich dem Gentest un-

27 National werden die Programme jedoch unterschiedlich gehandhabt. Im Kapitel 4 werden solche Unterschiede angerissen. 28 Männer sind zwar eigentlich auch von der BRCA2-Mutation betroffen, da sie auch für eine (80fach erhöhte) Wahrscheinlichkeit von 7% für Männer verantwortlich sein soll, den ansonsten seltenen „männlichen Brustkrebs“ zu bekommen (Christ 2005: 6). Die Präventionsprogramme richten sich trotzdem hauptsächlich an Frauen, daher wird im Folgenden auch meistens von „Frauen“ oder „Klientinnen“ etc. die Rede sein.

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terziehen wollten. Der Ablauf dieser Gespräche variierte in den einzelnen Zentren, es sollte nach den Richtlinien aber eine Bedenkzeit von mindestens vier Wochen zwischen dem ersten Gespräch und der Entscheidung für den Test sowie dessen Durchführung, also der Blutabnahme, gewährleistet sein (Schlegelberger/Hoffrage 2005: 34ff.). Wie in Kapitel 3.3.6 deutlich wird, wurde diese Bedenkzeit in den Beratungsgesprächen zum Teil recht flexibel interpretiert. Bereits an Krebs erkrankten Frauen wurde die sofortige Durchführung des Gentests angeboten. Wenn die Teilnehmerin selbst nicht erkrankt war, bemühte man sich zunächst um das Einverständnis einer erkrankten Verwandten, um deren Blut auf Mutationen in den BRCA-Genen zu untersuchen. Diese Untersuchung dauerte häufig 1-2 Jahre29; es wurde der Verwandten sowohl freigestellt, ob sie selber das Ergebnis erfahren, als auch, ob sie weiter an der Studie mit allen damit verbundenen Befragungen und Vorsorgeangeboten teilnehmen wollte. Nur, wenn bei der erkrankten Familienangehörigen eine Mutation vorlag, wurde für die Teilnehmerin selbst ein Gentest vorgesehen, und auch weitere Verwandte konnten bei Interesse in die Studie einbezogen werden. In circa 50% der im Verbundprojekt untersuchten Familien wurde keine Mutation gefunden. In diesen Fällen wird aber trotzdem weiterhin von einer erblichen Form ausgegangen, da man mindestens ein weiteres Gen im Verdacht hat. Die betreffende Klientin konnte aber vorerst nicht in die Testung einbezogen werden und erhielt damit auch kein weiterführendes Ergebnis. Dies wurde häufig als der Befund missverstanden, nicht von ‚erblichem Krebs‘ betroffen zu sein (vgl. Wagenmann 2003; diese Information wurde auch von den von mir befragten humangenetischen Beratern bestätigt.). In anderen Fällen wurden in der Familie sogenannte „unclassified variants“ gefunden, also Mutationen, von denen bisher unklar ist, ob sie krankheitsrelevant sind oder bloße „Normvarianten“. (Es war ja gerade ein Ziel des Verbundprojektes der Deutschen Krebshilfe, mehr über die Krankheitsrelevanz verschiedener Mutationen zu erfahren.) Auch hier war keine eindeutige Aussage hinsichtlich des ‚Risi-

29 Dies lag daran, dass die Gene sehr groß sind und im Verbundprojekt vollständig sequenziert wurden, da es keine Hot Spots gab, auf die man sich konzentrieren konnte. Außerdem wurden laut Interviewaussagen die Testverfahren mehrfach umgestellt. Laut Palfner gelang es aber bis 2001, die Sequenzierung innerhalb eines halben Jahres durchzuführen (Palfner 2009: 182).

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kos‘ möglich. Der Getesteten wurde in diesem Fall empfohlen, nach einiger Zeit bei der Beratungsstelle nachzufragen, ob diese Mutation inzwischen bei weiteren Familien mit erhöhter Krebsrate gefunden wurde. Ob die Betroffenen in das Programm der intensivierten Früherkennung übernommen wurden beziehungsweise darin blieben, variierte offenbar von Zentrum zu Zentrum.30 Bei einem positiven Testergebnis wurde der getesteten Person ab dem Alter von 25 Jahren als prophylaktische Maßnahme die Teilnahme an zeitlich engmaschigen Früherkennungsprogrammen angeboten. Diese bestanden aus Tastuntersuchungen, Ultraschall und Kernspintomographie; regelmäßige Mammographie kam erst ab 30 Jahren hinzu, weil im jungen Brustgewebe aufgrund seiner Dichte mit der Mammographie wenig zu sehen ist. Außerdem bestand für die Teilnehmerinnen das Angebot, an einer weiteren Studie zur ‚Chemoprävention‘ mit Anti-Hormonpräparaten (Tamoxifen) teilzunehmen, die künstlich in die Wechseljahre versetzen. Als weitere Möglichkeit wurde die prophylaktische Entfernung von Brust (Mastektomie) und/oder Eierstöcken (Ovarektomie) vorgeschlagen. Da ein Zusammenhang zwischen Hormonen und Brustkrebs angenommen wird, soll sowohl die Gabe von Antihormonen als auch die Ovarektomie der Brustkrebsentstehung entgegenwirken (die Ovarektomie schützt natürlich auch gleichzeitig vor Eierstockkrebs, der sehr schwer durch Früherkennung nachzuweisen ist). (Christ 2005: 16). Solche prophylaktischen Operationen wurden in den USA, Großbritannien und den Niederlanden (van Oostrom et al. 2003) bislang weitaus häufiger durchgeführt als in Deutschland, allerdings sei hier eine Veränderung zu verzeichnen: „In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass sich in Deutschland die zunächst zurückhaltende Haltung gegenüber prophylaktischen Operationen zu ändern scheint: So wurden innerhalb des Konsortiums inzwischen >100 prophylaktische Mastektomien und >200 prophylaktische Ovarektomien durchgeführt.“ (Schlegelberger/Hoffrage 2005: 53)

Die Entfernung der Eierstöcke wird inzwischen laut meinen ärztlichen Interviewpartnern bei positivem Gentest empfohlen, „wenn die Familienpla-

30 Das konnte ich den Aussagen der interviewten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entnehmen.

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nung abgeschlossen ist“ (Doktor Lange), während man in Bezug auf Brustamputationen in Deutschland weiterhin zurückhaltender ist. Des Weiteren erhielten die Frauen teilweise allgemeine Lebensstilempfehlungen wie „fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag“ zu essen, in Maßen Sport zu treiben und nicht zu rauchen. Auch der positive Effekt von „Lebensfreude“ wurde erwähnt. Der Inhalt solcher Lebensstilempfehlungen und inwieweit sie überhaupt ausgesprochen wurden, variierte entsprechend den persönlichen Überzeugungen der Genetikerinnen und Genetiker und den Gepflogenheiten der jeweiligen Klinik.31 Als 2004 die Förderung durch die Deutsche Krebshilfe auslief, gelang es, das standardisierte Früherkennungsprogramm des Verbundprojektes ohne große Veränderung in die Regelversorgung der Krankenkassen zu überführen. Eine weitere Evaluation wurde allerdings vertraglich32 zur Bedingung gemacht, denn „[z]ur Verifizierung der Mortalitätsreduktion durch die verschiedenen Maßnahmen sind nun die entsprechenden Verlaufsbeobachtungen und die weitere Optimierung der derzeitigen Früherkennungsempfehlungen und der prophylaktischen Maßnahmen notwendig.“ (Niederacher et al. 2006: 509)

Mit anderen Worten: Aus den bislang gewonnenen Ergebnissen lässt sich nicht ableiten, ob das Früherkennungsprogramm für die Frauen einen gesundheitlichen Nutzen hat. 3.3.2 Kritik der genetischen Grundannahmen Schon aus den stark variierenden Prozentangaben, die im Zusammenhang mit einem erhöhten Krebsrisikos genannt werden, wird deutlich, dass das genaue Verhältnis zwischen Genmutation und Krankheit noch relativ ungeklärt ist: So geben Meindl/Schmidt (2001: 40) für ‚Mutationsträgerinnen‘

31 So sahen manche genetische Berater, wie auch die, deren Gespräche in Kapitel 3.3.6 dargestellt werden, darin eine gute Möglichkeit für die Frauen, „selbst etwas zu tun“. Andere berücksichtigen diese Lebensstilempfehlungen laut eigenen Aussagen gar nicht in der Beratung, weil ihrer Meinung nach ein Zusammenhang nicht erwiesen ist (z.B. Doktor Klein.). 32 Vgl. Palfner (2009: 189) zu Einzelheiten der Verträge.

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eine Wahrscheinlichkeit von 50-80% an, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, statt der 10% in der gesamten weiblichen Bevölkerung. Schmutzler et al. (2002) sprechen von 80-90% Risiko für Brustkrebs und 30-60% für Eierstockkrebs. In einem Flyer der Deutschen Krebshilfe für Frauen wird postuliert, dass das BRCA1-Gen zu einem Risiko von 85% führt, bis zum Alter von 80 Jahren an Brustkrebs zu erkranken; für das BRCA2-Gen sei das Risiko etwas niedriger (Deutsche Krebshilfe, ohne Datum). Monika Christ (2005: 2ff.) stellt in einem Sammelband, der als Vorab-Evaluation zum Abschlussbericht des Verbundprojekts erschien – finanziert unter anderem von der AOK, um eine Grundlage für die Frage der Weiterfinanzierung durch die Krankenkassen zu haben – Folgendes dar: Das ursprünglich sehr hoch angesetzte ‚genetische Risiko‘ hinge damit zusammen, dass dieses ausschließlich in ‚Hochrisikofamilien‘ ermittelt wurde. Populationsbasierte Studien, in denen auch weniger hoch belastete Familien einbezogen wurden, hätten zu anderen Ergebnissen geführt: Hier ergibt sich ein Risiko für Brustkrebs von 65% bei BRCA1-Mutation und von 45% bei BRCA2-Mutation. Für Eierstockkrebs sei das Risiko 39% beziehungsweise 11%. Statt die Zahlen entsprechend nach unten zu korrigieren, ist in späteren Veröffentlichungen meist immer noch von einem 8-fach erhöhten Risiko für Brust- und einem 30-fach erhöhten Risiko für Eierstockkrebs die Rede – wie zum Beispiel in der Zeitschrift „Frauenarzt“, wo das Programm des Verbundprojekts „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ vorgestellt wird (Niederacher et al. 2006: 506). Die Unterschiede zwischen der Penetranz33 der Mutationen in ‚Hochrisikofamilien‘ und in der allgemeinen Bevölkerung geben zu Zweifeln Anlass, wie groß die Wirkung der Genmutation und damit die Aussagekraft des Gentests überhaupt ist. Deutliche Hinweise darauf, dass die „Umwelt“ einen wesentlich größeren Anteil haben muss als bisher angenommen, geben die Ergebnisse der „New York Breast Cancer Study“: In dem hier untersuchten Kollektiv hing die Penetranz der Genmutationen stark vom Jahrgang der Frauen ab. Die vor 1940 geborenen positiv getesteten Frauen hatten nur ein Risiko von 25%, bis zum Alter von 50 an Brustkrebs zu erkranken, die nach 1940 geborenen dagegen ein Risiko von 67%. Welche Um-

33 Der Begriff der „Penetranz“ bezeichnet in der Genetik die (prozentuale) Häufigkeit, mit der ein Erbfaktor bei Individuen gleichen Erbguts im äußeren Erscheinungsbild wirksam wird.

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weltfaktoren für diese großen Unterschiede verantwortlich sind, ist bisher nicht klar (King et al. 2003). Außerdem war bei 50% der in dieser Studie identifizierten ‚Mutationsträgerinnen‘ keine Häufung von Krebsfällen in der Familie vorhanden. Sie wären also nach den Kriterien des deutschen Verbundprojekts gar nicht für einen Gentest infrage gekommen. Levy und Plon schließen daraus, dass es angezeigt wäre, Gentests in der Allgemeinbevölkerung durchzuführen, um auch diese Frauen zu warnen (Levy/Plon 2003: 575). Diese Schlussfolgerung verwundert, denn man könnte aus der New York Breast Cancer Study auch den umgekehrten Schluss ziehen: Die Tatsache, dass die Familien von 50% der ‚Mutationsträgerinnen‘ bisher nicht als ‚Hochrisikofamilien‘ galten, weil in ihnen keine gehäuften Fälle von Brustkrebs auftraten, müsste doch den Zusammenhang von Genmutation und Brustkrebs überhaupt infrage stellen, oder zumindest dazu führen, die Wahrscheinlichkeitsaussagen deutlich nach unten zu korrigieren. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Konzentration auf die Vererbung von Brustkrebs methodisches Apriori ist. Auch die Studie des Verbundprojekts hat offensichtlich mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. So hatte man gehofft, einige Hot Spots zu finden, an denen die Genmutationen in den meisten Fällen auftreten. So beschreibt Wagenmann in einer kritischen Darstellung der bisherigen Erfolge des Verbundprojektes: „Es wäre schön gewesen, wenn wir hätten sagen können, es gibt 10 häufige Mutationen auf den beiden BRCA-Genen, die bei 90 Prozent der familiär vorbelasteten Frauen vorliegen“, sagt Alfons Meindl, Sprecher des Konsortiums im Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe. Diese Hoffnung wurde allerdings enttäuscht: Zum einen finden sich nur bei etwa der Hälfte der Familien mit einer Häufung von Brustund Eierstockkrebs Veränderungen auf den beiden Genen. Zum anderen sind bei den in den vergangenen sieben Jahren im Schwerpunktprogramm positiv getesteten Frauen über 1000 verschiedene Mutationen gefunden worden. Ein Spektrum der in der deutschen Bevölkerung vorkommenden Mutationen gibt es demnach nicht.“ (Wagenmann 2003: 31)

Ein solcher Hot Spot hätte die Gendiagnostik wesentlich beschleunigt, da man mit Schnelltestverfahren gezielt bestimmte Genorte hätte prüfen können. Außerdem stand man vor dem neuen Rätsel, was die 50% jener Familien mit vielen Brustkrebsfällen angeht, bei denen keine Genmutationen ge-

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funden wurden. Man vermutete entweder ein drittes Gen oder dass hier das Zusammenkommen von mehreren Genen ursächlich sei (ebd.). Inzwischen wurden zwar weitere ‚Brustkrebsgene‘ identifiziert, sie werden jedoch mit einer schwächeren Penetranz verbunden (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2008a und 2008b) oder sind nur äußerst selten anzutreffen (vgl. Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf 2010) und können damit die meisten ‚Hochrisikofamilien‘ ohne Mutationen in BRCA1 und BRCA2 auch nicht erklären. 3.3.3 Kritik der angebotenen Präventionsmaßnahmen Ein wesentliches Problem des Schwerpunktprogramms des Verbundprojektes ist, dass es im Fall Brustkrebs keine überzeugenden individuellen Präventionsmöglichkeiten gibt. Eine Beeinflussung des Risikos durch Lebensstiländerung ist für die sogenannten Hochrisikofamilien bisher nicht erwiesen. Nur für die Allgemeinbevölkerung gibt es Studien, die auf einen Zusammenhang von Ernährung, Übergewicht und Brustkrebs hinweisen und den positiven Einfluss körperlicher Bewegung zeigen (Christ 2005: 12f.). Regelmäßiger Alkoholgenuss gilt als Risikofaktor, der Einfluss des Rauchens sei dagegen gering (ebd.). Die empfohlene Intensiv-Früherkennung ist ebenfalls problematisch. Wie Weymayr und Koch (2003) ausführlich darstellen, ist die positive Wirkung der Mammographie nicht so sicher, wie allgemein angenommen wird. Aus der Metaanalyse der großen Studien zur Früherkennung geht hervor, dass einzig für die Mammographie im Alter zwischen 50 und 70 ein Nutzen gezeigt werden kann, der die schädigende Wirkung der Strahlenbelastung übersteigt (ebd.: 49ff.). Bei den Studien, die zu anderen Ergebnissen kamen, wurde fehlerhaftes Vorgehen nachgewiesen. Gerade bei den im Verbundprojekt empfohlenen Mammographien bereits ab 30 ist fraglich, ob sie nicht eher schädlich sind, denn gerade junges Brustgewebe ist sehr strahlenempfindlich, und der Nutzen für die definierte Hochrisikogruppe ist bisher umstritten (ebd.; auch in der Publikation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Studie werden diese Bedenken formuliert: vgl. Christ 2005: 9). Zwar konnte gezeigt werden, dass durch das intensivierte Früherkennungsprogramm Brustkrebstumoren früher gefunden wurden (Palfner 2009: 185), ob dadurch allerdings tatsächlich die Mortalität reduziert wird, lässt sich heute ebenso wenig sagen (Meindl et al. 2011), wie zu dem Zeitpunkt, als das Programm in die Finanzierung durch die Krankenkassen übernom-

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men wurde (s.o.). Die Früherkennung von Eierstockkrebs hat sich als sehr ineffizient erwiesen, weshalb hier die Empfehlungen immer stärker in Richtung prophylaktischer Operationen gehen (Palfner 2009: 187). Die Versuche über Antihormone, die künstlich die Wechseljahre herbeiführen, präventiv zu wirken, sind ebenfalls noch in einem frühen Forschungsstadium mit bislang wenig überzeugenden Ergebnissen (Christ 2005: 13ff.). Die bisher effektivste ‚Vorbeugung‘ ist die chirurgische: die Entfernung genau der Organe, die nicht krank werden sollen, also der Brüste und der Eierstöcke. Allerdings besteht selbst bei vollständiger Entfernung der Brust ein Restrisiko für Mammakarzinome im verbleibenden Gewebe: Retrospektive Kohortenstudien in den USA zeigten eine Reduktion des Risikos von Mammakarzinomen bei bilateraler (beidseitiger) Mastektomie um 90%. In Studien zeigte sich eine Reduktion des Brustkrebsrisikos um 50% bei ‚Mutationsträgerinnen‘, die den Eingriff vor dem 50. Lebensjahr vornehmen ließen (Christ 2005: 15). Auch bei der Entfernung der Eierstöcke bleibt ein Restrisiko von 3% für Tumoren im Bauchfell, dessen Gewebe entwicklungsgeschichtlich mit dem der Eierstöcke verwandt ist. Die Absurdität und Hilflosigkeit dieser Form der ‚Prävention‘ muss zudem wohl nicht extra betont werden. Außerdem haben beide Eingriffe erhebliche Nebenwirkungen: Die Entfernung der Eierstöcke hat – ähnlich wie die Antihormongabe – die typischen Wechseljahresbeschwerden zur Folge. Bei der Entfernung der Brüste sind zunächst die sogenannten kosmetischen Probleme zu nennen. Außerdem kommt es, laut Studien zum Thema, die Christ zitiert, bei 49% der Fälle zu ungeplanten weiteren Operationen. Die Ausschabung der Brust und gegebenenfalls ein Wiederaufbau mit Silikon sind in der Praxis oft mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Silikonpolster können sich verhärten oder verschieben und zu Entzündungen führen. Die Brustwarze wird meist mit entfernt, weshalb die Sensitivität der Brust verloren geht. In den Kapiteln 4 und 5 wird Thema, welche psychologischen Folgen solche prophylaktischen Operationen für Frauen haben können. So werden in Kapitel 4 verschiedene Studien angeführt, die zum Teil erhebliche Einschränkungen der Körperwahrnehmung und Veränderungen der Sexualbeziehungen beschreiben. Außerdem reduzieren sich die Ängste vor einer Krebserkrankung nicht unbedingt durch die Operationen. Auch einige der von mir interviewten Frauen haben prophylaktische Operationen vornehmen lassen, bei einer zerbrach daran die Partnerschaft.

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3.3.4 Die Fachdiskussion in Deutschland über die BRCA-Testung Einen Teil dieser Untersuchung sollte ursprünglich eine Analyse des deutschen medizinischen Fachdiskurses über den Einsatz von BRCA-Diagnostik – bis kurz nach der Kostenübernahme durch die Krankenkassen 2005, als die Publikationen zum Thema anstiegen – ausmachen. Es zeigte sich aber bei der Sichtung einiger repräsentativ ausgewählter medizinischer Zeitschriften („Deutsches Ärzteblatt“, „Gyne“, „Der Frauenarzt“), dass es einen Diskurs im Sinne einer ausführlichen Debatte mit unterschiedlichen Positionen zur BRCA-Testung nicht gibt. Es wurden die Jahrgänge 20002006 beziehungsweise 2007 nach den Schlagwörtern „BRCA“, „Gen“ + „Brustkrebs“, „Gen“ + „Mammakarzinom“, „Gen“ + „Ovarialkarzinom“ durchsucht und die Trefferartikel gesichtet. Im gesamten Zeitraum gab es circa 40 Artikel, die sich mit der Frage der Gendiagnostik beschäftigten. Nur selten gab es kritische Anmerkungen zum Einsatz von Gentests.34 Diese grundsätzliche Tendenz bleibt auch in den darauffolgenden Jahrgängen bestehen, wie am Beispiel des „Deutschen Ärzteblattes“ überprüft wurde. Daher habe ich auf eine genauere Diskursanalyse der Texte verzichtet. Prinzipiell argumentierten die meisten Artikel dem Projekt gegenüber zustimmend und betonen ganz im Sinne der Logik des in den Kapiteln 3.1 und 3.2 beschriebenen allgemeinen genetischen Präventionsdiskurses, dass das Wissen über die eigenen genetischen Risiken eine Chance für bessere Prävention biete. Zwar werden in einigen Publikationen wie dem oben mehrfach zitierten Sammelband zur Evaluation der Studie von Gerhardus et al. (2005, darin auch der Artikel von Christ) die problematischen Seiten der Studie angesprochen. Allerdings wird dies nicht mit der Empfehlung verbunden, das Verbundprojekt nicht weiterzufinanzieren. Die Fachzeitschriftenartikel, die sich an das breitere Ärztepublikum richten, äußern sich dagegen weitestgehend euphorisch wie etwa der oben zitierte Artikel „Translationale Forschung in der Onkologie I. Das Deutsche Konsortium Familiäres Mamma- und Ovarialkarzinom“ (Niederacher et al. 2006).

34 Eine Ausnahme bildet ein Artikel von Christine Vetter (2001) über das Verbundprojekt, die feststellt, dass die den Frauen bei positivem Befund angebotenen Maßnahmen nicht ausreichend evaluiert seien.

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Etwas differenzierter argumentierten hingegen die humangenetischen Beraterinnen und Berater, die ich in den Interviews konkret auf die genannten Problemfelder ansprach. Einige nannten ähnliche Probleme bezüglich der Nachbetreuung, wie sie oben beschrieben wurden. Insgesamt sahen sie das Verbundprojekt aber dennoch positiv. 3.3.5 Analyse von Informationsmaterialien des Verbundprojektes Um die Appelle an potentielle Risikopersonen nachzuvollziehen, wurden roschüren, Materialien, Homepages und andere Selbstdarstellungen und Informationsmaterialien des BRCA-Verbundprojektes untersucht. Dazu habe ich zunächst aufgrund der Interviews rekonstruiert, welche Stationen die teilnehmenden Frauen durchliefen und welche Informationsquellen sie nutzten, bis sie schließlich an dem Verbundprojekt partizipierten. Bedeutung hatte vor allem ein achtseitiges in Brustkrebszentren und bei Frauenärzten verteiltes Faltblatt mit dem Titel: „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs. Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe. Ausführliche Patienteninformation“ (Deutsche Krebshilfe, ohne Datum). Dieses Faltblatt habe ich einer Feinanalyse unterzogen. Aufgrund des dort gegebenen Links wurde auch die Homepage des Interdisziplinären Zentrums für familiären Brustund Eierstockkrebs Würzburg35 auf die dort verhandelten Themen untersucht. Weitere Materialien waren Zeitungsartikel und Informationen der Deutschen Krebshilfe. Das Faltblatt erläutert zunächst das ‚Wesen‘ des erblichen Brustkrebs, der ein erhöhtes Risiko aufgrund der genetischen Prädisposition darstelle. Eine kleine Einführung in die Ursachen von Krebserkrankungen, die unter anderem durch eine erbliche Genmutation entstehen könnten, nennt 5% der Brustkrebserkrankungen erblich bedingt. Frauen aus ‚Risikofamilien‘, das heißt solchen Familien, in denen Brustkrebs besonders häufig aufgetreten sei, könnten im Rahmen der Studie des Verbundprojekts einen Gentest machen. Dargestellt werden dann auch die Ziele der Studie. Die Leserinnen erfahren zudem, dass sie, wenn durch den Test eine Genmutation festgestellt

35 http://www.uni-wuerzburg.de/humangenetics/brustkrebs/index.html vom 05.01. 2004. Diese Seite ist inzwischen nicht mehr online, stattdessen wird in späteren Auflagen des Faltblattes auf die Homepage der Deutschen Krebshilfe verwiesen.

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würde, sie an einem besonderen Früherkennungsprogramm teilnehmen können, um eine eventuelle Krebserkrankung so früh wie möglich zu entdecken. Die Begriffe, die schon im allgemeinen Diskurs als zentral beschrieben wurden, stehen auch im Faltblatt im Vordergrund: das „genetische Risiko“, die „eigene Entscheidung“ und die „Risikofamilie“. Um dies deutlich zu machen, soll eine Passage des Abschnittes „Genetisches Beratungsgespräch“ hier hervorgehoben werden: „Die Entscheidung für oder gegen eine molekulargenetische Untersuchung des BRCA1- und BRCA2-Gens ist nicht einfach zu treffen. Um den Frauen eine Entscheidungsgrundlage und eine Entscheidungshilfe zu geben, wird vor jeder molekulargenetischen Untersuchung ein ausführliches genetisches Beratungsgespräch durchgeführt. Nur die Frau selbst kann entscheiden, ob eine molekulargenetische Untersuchung für sie sinnvoll ist.“ (Deutsche Krebshilfe, ohne Datum)

Das Faltblatt endet sinngemäß mit der Aufforderung: „Wenn Sie den Verdacht haben, zu der Risikogruppe zu gehören, dann wenden Sie sich an eines der Zentren des Verbundprojekts.“ Ähnliche Informationen finden sich auf der obengenannten Homepage. Hier wird als Prävention gegen Krebs zusätzlich auf eine „richtige Ernährung“ verwiesen. Zu diesem Thema gibt es einen Link zu einer Broschüre der Deutschen Krebshilfe. Wie im Faltblatt werden außerdem psychologische Aspekte thematisiert: Das Testergebnis könne eine Belastung sein, deshalb gehöre zur Studie des Verbundprojekts auch eine psychologische Beratung. Die potentielle Teilnehmerin solle sich überlegen, warum sie den Test machen wolle; die Entscheidung liege allein bei ihr und solle nicht aufgrund von äußerem Druck zustande kommen. Ein paar gute Gründe, den Test zu machen, werden aber gleichwohl angeboten: „Klärung des Risikos für die Kinder, Hilfe bei der weiteren Familienplanung, Hilfe bei der eigenen Zukunftsplanung, Information über Früherkennungsmaßnahmen und Nachsorge, Entscheidungshilfe bzgl. chirurgischer Maßnahmen, Wunsch nach mehr Gewissheit und Angstabbau“.36 Es wird auch darauf hingewiesen, dass es Probleme geben könne, wenn man in der Familie über die Testergebnisse spreche. Dann wird zum Thema der Krankheit gewechselt. Jede

36 http://www.uni-wuerzburg.de/humangenetics/brustkrebs/psychologie.html vom 05.01.2004, siehe letzte Fußnote.

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Krankheit könne eine psychische Belastung sein. Als Gegenprogramm wird aktives Verhalten empfohlen; sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen sei besser als vermeidendes Verhalten. Außerdem erhält die Leserin in Form eines 6-Punkte-Programms Ratschläge, wie sie Stress reduzieren kann. In allen Informationsmaterialien spiegelt sich wider, was schon für die Veränderungen der Krebsvorstellungen und die allgemeinen Entwicklungen in der Gesundheitspolitik beschrieben wurde: Die Darstellung konzentriert sich auf Faktoren, die man am Individuum festmachen kann, also genetische und Lebensstilfaktoren. Faktoren, die gesellschaftliche Veränderungen erfordern würden, wie Umweltverschmutzung oder Gifte am Arbeitsplatz, werden nirgendwo im Informationsmaterial erwähnt. Aus dem sogenannten genetischen Risiko folgt der Verdacht, man selbst könne zu einer Risikogruppe gehören. Außerdem fällt die Betonung der informierten Entscheidung ins Auge. Ein weiterer Punkt ist die Betonung psychischer Faktoren, allerdings in stärker operationalisierter Weise, als es Karpenstein-Eßbach (2006) noch für die 1970er und 1980er Jahre beschrieben hat (siehe Kapitel 3.2.2):37 Gegen psychische Probleme, die mit Stress gleichgesetzt werden, kann heute mit einem 6-Punkte-Programm vorgegangen werden. Auch die Forderung nach aktivem Verhalten angesichts möglicher Krankheit, wie sie in 3.1 analysiert wurde, findet sich hier. 3.3.6 Analyse der humangenetischen Beratungsgespräche Zur Vorbereitung der Entscheidung für oder gegen einen genetischen Test werden die potentiellen Teilnehmerinnen neben einem gynäkologischen und einem psychologischen in einem humangenetischen Gespräch beraten. Das im Folgenden dargestellte Gespräch zeigt alle typischen Merkmale eines solchen Beratungsgesprächs, dessen recht standardisierten Ablauf ich aufgrund der Analyse von 15 dieser Gespräche in einer Beratungsstelle rekonstruiert habe (zum analytischen Vorgehen siehe Kapitel 2.3). Die als solche gekennzeichneten Zitate sind wörtlich aus verschiedenen Gesprächen entnommen.

37 Auf diese Begrifflichkeit wird im Interviewteil in einem Exkurs zur Psychosomatik ausführlich eingegangen.

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Der Berater redet über eine Stunde mit der „Ratsuchenden“, wie sie im Fachjargon genannt wird. Erst fragt er, was denn für die Ratsuchende das Wesentliche sei, weswegen sie komme. Meist berichtet sie dann von einigen Krebsfällen in der Familie. Ob sie besonders gefährdet für Krebs sei, und was man dann machen könne, ist darauffolgend eine Standardfrage der Ratsuchenden. Der Arzt erstellt nun einen Stammbaum ihrer Familie, angefangen bei den Großeltern. Von allen Verwandten will er wissen, ob sie gesund sind und von den Verstorbenen, woran sie gestorben sind, ob sie Krebs hatten. Dabei wird allerdings nicht nur Krebs thematisiert, denn es könnten beim Stammbaum „immer auch noch andere Dinge herauskommen“. So werden also alle wichtigen Krankheiten aufgenommen, zum Beispiel auch der Herzinfarkt eines Großvaters. Der Arzt fragt dann, ob er dick war, geraucht oder getrunken habe. Wenn nicht, könne der Herzinfarkt je nach Alter auch ein Zeichen von erblicher Belastung sein. Anschließend geht es um die ‚Krebsgene‘. Der Arzt erklärt, dass die DNA eine „aus vier Buchstaben C, T, A, G bestehende Hieroglyphenschrift“ sei. Man könne sich das so vorstellen, dass die Chromosomen Bücher oder Dateien seien, also Informationsträger. Man habe dort jeweils zwei Sätze von Chromosomen: etwa wie das Meyers Lexikon vom Vater und die Brockhaus-Enzyklopädie von der Mutter, zwei leicht verschiedene Informationssätze zum selben Thema. Sie stellten eine Art Bau- und Funktionsplan, eine Gebrauchsanweisung für die Zelle dar. Die Gene seien „auf der DNA-Strickleiter in den Chromosomen aufgelistet“. Diese Erbinformation bestehe jedoch nicht ewig. Sie werde im Laufe eines Lebens von aggressiven Stoffen wie freien Radikalen ständig angegriffen. Dies sei, als würde man mit einer Schrotflinte auf ein Bücherregal schießen. Die Löcher in den Seiten machten das Buch nach und nach unleserlich. Zum Beispiel könne aus der Information „wachse nicht in andere Gewebe!“ werden: „Wachse in andere Gewebe!“ Auch wenn Vitamine einen gewissen Schutzschirm darstellten, komme „einiges“ durch. Deswegen gebe es einen Reparaturmechanismus in der Zelle, der die veränderten Gene wieder herstellt. Die BRCA1- und BRCA2-Gene, die innerhalb der Studie des Verbundprojekts untersucht werden, seien ein Teil dieser „Reparaturlokomotive“. Wenn in ihnen jedoch nur ein Baustein verändert sei, könne der Reparaturmechanismus nicht mehr hundertprozentig ausgeführt werden und Mutationen häuften sich. Dadurch könne die Zelle zu einer Krebszelle werden. Je älter der Mensch sei, desto schlechter werde das Reparatursystem; aber

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wenn man ein Gen geerbt habe, das von Anfang an fehlerhaft sei, gebe es oft auch schon in jüngerem Alter Krebs. Die Wirkung eines fehlerhaften Gens wird im Verlauf des Gespräches mit dem Berater jedoch wieder relativiert. Obwohl das Gen angeblich wie eine Gebrauchsanweisung funktioniert, reicht es offenbar nicht, um den Phänotyp zu erklären: Man könne Glück im Unglück haben, da es von jedem Gen zwei Allele (also einander entsprechende Gene homologer Chromosomen) gebe, eins vom Vater, eins von der Mutter, und wenn das andere Allel etwa im Brustkrebsgewebe im Laufe des Lebens nicht mutiere, werde nichts passieren. Deswegen bedeute die Mutation eines für Krebs bedeutsamen Gens nicht, dass es zwangsläufig zu einer Erkrankung komme, sondern nur, dass ein erhöhtes Risiko dafür bestehe. Es hänge auch von anderen Faktoren ab, ob es zur Erkrankung komme oder nicht. Der Arzt erläutert dann mögliche Maßnahmen bei einem positiven Testergebnis und skizziert den Ablauf der Studie. Zusätzlich zu den in Kapitel 3.3.1 dargestellten klinischen Angeboten erklärt er, dass es Hinweise auf einen Schutzeffekt durch Ernährung gebe, da bestimmte Vitamine, sogenannte Radikalenfänger, wie Schutzfaktoren wirken können. Als Regel solle man fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag essen. Andere Studien ließen vermuten, dass Sport in Maßen und Verzicht auf Rauchen vorbeugende Wirkung hätten. Außerdem solle die „Erhaltung der Lebensfreude“ ein Präventivmittel gegen Krebs sein. Allerdings seien das alles nur Teilfaktoren, man könne auch alles „richtig machen“ und trotzdem Krebs bekommen. Es wird auch auf versicherungsrechtliche Konsequenzen hingewiesen, dass es bei einem positiven Testergebnis Probleme geben kann, eine private Krankenversicherung oder Lebensversicherung abzuschließen. Schließlich betont der Arzt, dass jede Frau für sich entscheiden müsse, was für sie das Richtige sei. Das Ende des Gesprächs läuft typischerweise ab wie in folgendem Beispiel (der Kontext dieser Passage ist, dass Frau Fischer von ihrer Tochter erzählt, dass diese den Gentest nicht machen wolle):38 Doktor Michels: ich denke, das ist einfach etwas, wo jeder dann sich SELber sich entscheiden kann, WIchtig ist auch diese beratung wie wir jetzt heute zum bei-

38 Das verwendete Transkriptionssystem findet sich im Anhang.

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spiel machen /ja ja/ ähm, die kann man sich auch einfach ANhören /denk ich, ja/ und kann dann auch sagen ich mach das NICHT ##. also sie können zu JEdem zeitpunkt der studie eigentlich sagen, # nein, ich möchte es nun DOCH nicht wissen, # oder ich möchte es MOmentan nicht wissen # # ne, diese entscheidung steht ihnen JEderzeit offen praktisch bis zu dem zeitpunkt /ja/ wo sie's dann in empfang genommen haben /ja ja/ gut. (1) ähm. ich kann vielleicht grad in DEM zusammenhang sagen wie' s normalerweise ABläuft, wenn jetzt alle drei beratungen STATTgefunden haben, ähm machen wir das meistens so dass wir nochmal so 'ne kleine bedenkphase von zwei drei WOchen (1) empfehlen, äh, dass man einfach nochmal sich klar wird drüber, jetzt hat man alle beratungen gehört, ist es für mich was, ist es nichts, (.) wir können durchaus aber zum beispiel schon BLUT abnehmen heute, wir können die EINwilligungserklärung besprechen, (?heut?) hab'n sie auch die psychsomatische beRATung /ja ja/ u=nd äh wir können das dann so machen ENTweder dass ich ihnen die einwilligungserklärung MItgebe und sie mir dann die einfach ZUschicken in zwei drei wochen oder dass sie sagen, ähm sie melden sich nochmal in zwei drei wochen und sagen mir dann einfach bescheid, ja, wir sollen das machen Frau Fischer:

[das ist] [mhm, ich mach']

ich bin im moment so stabil, ja, weil ich jetzt auch gerade bei meiner schwester war # und ich weiß, wie sie drauf ist /gut/# geht es mir auch gut, ja Doktor Michels:

[und wenn] [wir

kön-

nen’s auch] so machen, dass wenn wir nichts hören in zwei bis drei wochen, dass wir dann mit der untersuchung direkt beginnen. können wir auch machen. #

In den Richtlinien (und auch in dem in Kapitel 3.3.5 zitierten Faltblatt) wird vorgegeben, die Blutabnahme und den Test erst nach einer gewissen Bedenkzeit durchzuführen (Gerhardus et al. 2005). In diesem Beispielzitat werden ebenfalls am Anfang die individuelle Entscheidungsfreiheit und die Bedenkzeit betont; in dem Moment, in dem die Gesprächspartnerin dem Test zustimmt, wird diese Zustimmung aber gleich vom Berater aufgegriffen. Was passiert also in diesem Gespräch? Zunächst einmal wird deutlich, dass der Berater sich der in 3.2 beschriebenen Metaphorik der Information, sei es am Beispiel von Dateien oder von Büchern, bedient. Auch der Kontrollausfall durch die mutierten Tumorsuppressorgene, der zum „ungehemmten Wachstum“ der Zellen führt, taucht auf. Außerdem bringt der Berater die Ratsuchende in die Situation einer Entscheidung. Silja Samerski

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hat am Beispiel der Pränataldiagnostik eine sehr genaue Analyse des Entscheidungsmodells in der humangenetischen Beratung durchgeführt (Samerski 2002). Sie stellt nach der Auswertung von mehr als drei Dutzend genetischen Beratungsgesprächen zur Pränataldiagnostik in verschiedenen Beratungsstellen fest, dass dort das Entscheidungsmodell der statistischen Entscheidungstheorie zugrunde gelegt wird: die Entscheidung eines „decision-makers“ (ebd.: 284), der Wahrscheinlichkeiten kalkuliert und nach seinen eigenen utilities (Nutzen) gewichtet. Letzteres schließt sie daraus, dass die Berater immer deutlich machen, die Entscheidung hänge von der eigenen Neigung ab, da die Zahlen selbst nichts Definitives aussagen: Das Empfinden eines Risikos als hoch oder niedrig sei schließlich eine rein persönliche Einschätzung. Ein Risiko (bei der Pränataldiagnostik: das Risiko, ein krankes Kind zu bekommen) soll gegen ein anderes (das Gesundheitsrisiko der Schwangeren, das mit einer Fruchtwasseruntersuchung verbunden ist) abgewogen werden. Damit wird eine neue Denkform popularisiert; das Gen funktioniert dabei nur „als trojanisches Pferd, mit dem statistische und kybernetische Konzepte wie ‚Risiko‘, ‚Wahrscheinlichkeit‘, ‚Information‘, ‚Option‘ und ‚Entscheidung‘ in den Alltag eingeschleust werden. Gen-Gläubigkeit verlangt, sich selbst und sein Gegenüber als selbststeuerndes System zu verstehen, das bei entsprechendem Input eigenverantwortlich funktioniert.“ (Samerski 2001: 2)

Eine Frau, die in die Beratung gekommen ist, um etwas über ihr zukünftiges Kind zu erfahren, wird mit einem völlig unerwarteten Entscheidungsdilemma konfrontiert. Duden und Samerski fassen die Absurdität zusammen, die dieses Unternehmen auszeichnet, in dem „die Illusion eines Gesprächs hergestellt wird: Der Berater greift zu deutschen Wörtern, um Konstrukte der Statistik zu benennen, die von der leibhaftigen schwangeren Frau als Wirklichkeiten verstanden werden sollen. Als Wirklichkeiten, die sie in Bezug zu ihren Wünschen bringen soll.“ (Duden/Samerski 1998: 86)

Das deckt sich mit den Befunden hinsichtlich der von mir analysierten Beratungsgespräche: Frauen sollen Wahrscheinlichkeitsziffern für Therapieerfolge, die ebenso rein statistisch sind wie Gen-Krankheits-Relationen, auf ihre Person beziehen, obwohl die Beraterinnen und Berater selbst zugeben,

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dass statistische Zahlen eigentlich nichts über den Einzelfall aussagen (vgl. auch Samerski 2002: 211-238). Es ist wichtig festzuhalten, dass sowohl die genetische Diagnostik als auch die Maßnahmenempfehlungen sich nur auf Risikoabschätzungen aufgrund statistischer Korrelationen berufen können. Eine Aussage über das „ganz persönliche Risiko“ ist in Wirklichkeit eine statistische Aussage, die die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Falls in einer großen Gruppe voraussagt. Sie sagt jedoch im eigentlichen Sinne nichts über den Gesundheitszustand des Individuums aus, da sie eben keine kausale Aussage ist, die von bestimmten Prozessen im Körper auf eine notwendige Folge schließen lassen könnte. Eine solche Aussage dient dazu, Menschen präventiv in Risikogruppen einzuteilen und mit unterschiedlichen Maßnahmenpaketen zu versehen, um insgesamt eine höhere Überlebensrate zu gewährleisten (vgl. dazu Lemke 2004: 84f.). Mit dem mutierten Gen, das das Individuum in sich zu verorten lernt, wird jedoch suggeriert, im eigenen Körper finde ein täglicher Kampf um die Gesundheit statt, zwischen freien Radikalen, die die DNA angreifen, Vitaminen als Schutzfilter und mutierten Reparaturmechanismen, auf die man mit bestimmten Maßnahmen einwirken könne. Für das Funktionieren des Risikomanagements ist diese Suggestion äußerst funktional, da sie am Einzelnen ansetzt, der sich nun ganz ‚selbstbestimmt‘ an den Präventionsmaßnahmen beteiligen soll. Spätestens ab dem Zeitpunkt der Beratung übernimmt die Frau somit das Risiko, sie kann nicht mehr zurück: Das Wissen darum verpflichtet sie, „etwas zu tun“. Es zwingt sie in die Position des decision-makers. Jede Folge, zum Beispiel wegen eines positiven Tests von Versicherungen benachteiligt zu werden, die Nebenwirkungen von Amputationen oder Medikamenten zu ertragen, letztlich sogar Brustkrebs zu bekommen, erscheint als Folge der Entscheidungen der jeweiligen Frau, ihr wird die Verantwortung dafür zugeschrieben. Das ist der Fall, obwohl in der Beratung betont wird, man könne auch alles „richtig machen“ und trotzdem krank werden. Im Unterschied zu Samerskis Analyse findet sich bei meinen Untersuchungen zwar ebenfalls im Informationsmaterial und in der Beratung die Betonung der individuellen Entscheidungsfreiheit, in der Beratung wurde eine Zustimmung zum Gentest aber fast schon vorausgesetzt beziehungsweise mit der Strategie des „jetzt schon mal Blut abnehmen, dann Widerrufsmöglichkeit“ eine Entscheidung dafür forciert. Von den befragten humangenetischen Beratern dieses Instituts wurde die oben beschriebene Pra-

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xis oder Strategie als Ausnahme beschrieben.39 Dies ließ sich nicht genau überprüfen, da bei manchen Gesprächen das Ende nicht mehr aufgenommen worden war. Bei den meisten Gesprächen erfolgte jedoch am Ende die Blutabnahme. In manchen dieser Fälle sollten aber die Ratsuchenden die Einverständniserklärung erst nachträglich zuschicken. Wie oben schon angedeutet, wird das Vorgehen in verschiedenen Instituten offensichtlich unterschiedlich gehandhabt; in anderen Instituten wird laut Aussage der Beraterinnen und Berater sehr genau auf die Bedenkzeit geachtet.40 Durch die Forcierung einer Entscheidung dafür ist die Situation besonders perfide: Es wird suggeriert, dass die Einzelne selbstverantwortlich zu einem eigenen Urteil kommen solle, einer überlegten Entscheidung wird nach den Informationsgesprächen jedoch wenig Raum gegeben. Die Analyse der verschiedenen Ebenen des Diskurses hat gezeigt, dass nicht nur im allgemeinen Gesundheitsdiskurs, sondern auch im besonderen Fall der BRCA-Testung im Verbundprojekt in den Informationsmaterialien und im Beratungsgespräch das Idealbild einer informierten Patientin beziehungsweise Klientin41 der Beratung konstruiert wird, die sich über ihre genetischen Risiken informiert, dann selbstbestimmt entscheidet und mit eventuell in diesem Zusammenhang auftauchenden psychischen Problemen aktiv umgehen kann. In den nächsten beiden Kapiteln soll es darum gehen, inwieweit Frauen diese Aufforderungen auch verinnerlichen.

39 So in den Interviews mit Doktor Michels und Doktor Neuss. 40 So in den Interviews mit Doktor Klein und Doktor Lange. 41 Die Frau ist ja eigentlich noch keine Patientin, solange sie selbst noch nicht krank ist. Stattdessen wird der Begriff der Klientin in der medizinischen Fachliteratur zu Beratung benutzt. Im Zuge der Prävention von Krankheitsrisiken verwischt die Grenze zwischen Patient-sein und ein Risiko haben, Patient zu werden, allerdings zunehmend. Siehe dazu Scott et al. (2005: 1870) in Kapitel 4.2.1.1, die daher einen neuen Begriff für diese Personen wählen: ‚PatientenKlienten‘ (‚patient-clients‘).

4. Verkörperungen des genetischen Risikos: Stand der Forschung

Im vorangegangenen Kapitel 3 wurde der Diskurs um Brustkrebsgene untersucht. In den folgenden beiden Kapiteln soll die Selbstwahrnehmung und -präsentation von Frauen, die einen Gentest für Brust- und Eierstockkrebs gemacht haben, dargestellt und analysiert werden. Es geht vor allem darum, ob und wie die Verkörperung des genetischen Risikos stattfindet, die Aufforderung zur verantwortlichen Selbststeuerung angesichts möglicher Krankheiten ‚gelingt‘ und Folgen in der Lebensführung zeitigt – inwiefern also die untersuchten Frauen dem Idealbild der „informierten Patientin“ entsprechen. In diesem Kapitel 4 werde ich den aktuellen Forschungsstand zu der Thematik referieren. Ich gebe hier zunächst einen Überblick über das Forschungsfeld und berichte dann über die relevanten Ergebnisse von quantitativen (4.1) und qualitativen (4.2) Studien. Im folgenden Kapitel 5 stelle ich schließlich die von mir geführten Interviews mit Frauen dar, die im Rahmen des Verbundprojektes einen Gentest durchführen ließen. Da Gentests in diesem Bereich noch nicht sehr lange durchgeführt werden, ist auch das soziologische Forschungsfeld relativ jung. Erst in den letzten Jahren sind eine ganze Reihe qualitativer und quantitativer Studien zu verschiedenen psychosozialen Aspekten prädiktiver BRCA-Diagnostik erschienen. Die Untersuchungen stammen allerdings immer noch größtenteils aus Großbritannien1, USA und Kanada, während Sozialforschung in

1

In Großbritannien hat das ESRC (Economic & Social Research Council) beispielsweise über Jahre im „genomics network“ vier Zentren für die Erforschung sozialer Aspekte der Genetik gefördert.

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Deutschland im Bereich der Genetik sehr rar ist. Bis auf wenige Ausnahmen wurden bisher nur innerhalb des Verbundprojekts der Deutschen Krebshilfe (vorwiegend quantitative) Befragungen zu den Erfahrungen von Frauen mit der Gendiagnostik durchgeführt, deren Ergebnisse hier mit einbezogen werden, soweit sie bisher zugänglich sind.2 Die Fragestellungen und Herangehensweisen der Studien unterscheiden sich erheblich: Die meisten quantitativen Studien verhalten sich evaluativ und konstruktiv zur medizinischen Praxis und enden mit Empfehlungen zur Verbesserung dieser Praxis, ohne den Sinn prädiktiver Gentests infrage zu stellen. Die meisten qualitativen Untersuchungen dagegen scheinen dem Gesamtszenario der prädiktiven BRCA-Diagnostik skeptisch und kritisch gegenüberzustehen und stellen sie oft in einen größeren Kontext gesundheitspolitischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Meinem Anliegen – festzustellen, wie und inwieweit Frauen sich als verantwortliche Subjekte ihrer Gene begreifen – kann man, auch vor dem Hintergrund des in Kapitel 2 Dargestellten, nur in qualitativen Untersuchungen gerecht werden. Dennoch kann aus quantitativen Daten ein grober Eindruck gewonnen werden über Einzelaspekte, die sich leichter operationalisieren lassen, wie etwa die Gründe, die für die Durchführung eines Tests angegeben werden, klar zu definierende Maßnahmen nach dem Test wie etwa prophylaktische Operationen oder Teilnahme an engmaschigen Vorsorgeprogrammen, aber auch Angst-, Depressions- und Stresslevel gemessen auf standardisierten psychologischen Skalen. Diese Daten sind insofern interessant, als sie einen gewissen Trend und vor allem eine zahlenmäßige Verteilung bestimmter Phänomene anzeigen können. Dennoch sind gerade in Bezug auf die emotionalen Folgen der Gendiagnostik solche Zahlen mit Vorsicht zu betrachten, da die in Fragebogenstudien oder standardisierten Skalen verwendeten Kategorien notwendigerweise recht oberflächlich bleiben müssen. Wenn man zum Beispiel die Frage, warum jemand einen Test gemacht hat, dadurch erforscht, dass man die Interviewten vorgegebene Antwortmöglichkeiten ankreuzen lässt, verpasst man unerwartete Phänomene, die erst durch eine Erzählung des Ablaufs deutlich werden. So habe ich in meinen Interviews etwa beobachtet, dass manche Frauen sich in diesem „Entscheidungsprozess“ für oder gegen einen Gentest gar nicht selbst als Akteurinnen beschreiben. Erst recht lässt sich eine

2

Zum Problem der Auswertung und Veröffentlichung dieser Daten s.u.

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komplexe Forschungsfrage wie die Selbstwahrnehmung der Frauen als verantwortliche Subjekte nur in qualitativen Studien beantworten. Selbst deren Aussagekraft ist aber notwendig begrenzt, denn mit dem Gentest sind schließlich Themen verbunden wie die Angst vor einer tödlichen Krankheit, die eigenen Sexualorgane sowie die Verortung in der familiären Genealogie. Damit sind möglicherweise psychische Dynamiken betroffen, die nicht ohne Weiteres durch Interviews zugänglich sind. Wie in Kapitel 2.3 dargestellt wurde, ist die Erforschung solcher psychischer Dynamiken auf individueller Ebene jedoch auch nicht das Ziel der vorliegenden Untersuchung, es interessiert vielmehr das darin auftauchende Gesellschaftlich-Allgemeine. Die quantitativen Studien gaben mir aber auch Anregungen für die Fokussierung der Fragestellungen meiner eigenen empirischen Untersuchung. Eine Präzisierung wird zum Beispiel sein, die „psychischen Folgen“ in ihrer konkreten Bedeutung für die Lebensführung auszudifferenzieren. Da für Deutschland bisher kaum qualitative Untersuchungen zur Thematik vorliegen3, habe ich vor allem die diesbezügliche Literatur anderer Länder ausgewertet und die relevanten Ergebnisse im Folgenden dargestellt. Das ermöglichte auch einen Abgleich der Ergebnisse aus anderen nationalen Kontexten mit denen meiner eigenen Untersuchung. Die ausländischen Ergebnisse können nicht unkritisch auf deutsche Verhältnisse übertragen werden, allein schon, weil die Zugänge zur BRCA-Testdiagnostik in den Gesundheitssystemen anderer Länder sehr unterschiedlich organisiert sind.4 Ob darüber hinaus andere ‚nationale‘ Eigenheiten eine Rolle spielen

3

Als Ausnahmen sind für die hier interessierende Fragestellung die Studie von Britta Pelters (2011, 2012, 2013) zu nennen, die den Umgang mit prädiktiver Brustkrebsdiagnostik im Beziehungsgeflecht des jeweiligen familiären Kontextes analysiert, sowie die Untersuchung von Anne Brüninghaus (2011a, 2011b), die sich vor einem bildungstheoretischen Hintergrund mit der biographischen Dynamik von Entscheidungsprozessen für oder gegen einen Gentest am Beispiel von Chorea Huntington und Brustkrebs interessiert. Da solche biographischen Fragen hier nicht im Fokus stehen, wird auf letztere Studie jedoch nur am Rande eingegangen.

4

Beim Vergleich zwischen der Handhabung in den USA und im UK zeigt sich etwa, dass das gesundheitspolitische Setting, in dem die Tests angeboten werden, einen Unterschied macht für die Art, wie die Nutzer definiert werden: So werden Klienten in den USA eher als Konsumenten mit offenem Zugang zum

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wie etwa ein spezifischer humangenetischer und bioethischer Diskurs in Deutschland, der seine Diskontinuität zum Nationalsozialismus ständig behaupten und inszenieren muss, wurde zwar als Möglichkeit im Auge behalten, war aber in den Ergebnissen nicht augenscheinlich. Über die Frage nationaler Spezifik kann hier eben nur spekuliert werden, da ein systematischer Vergleich aufgrund der unterschiedlichen Datenlage nicht möglich ist.5

4.1 Q UANTITATIVE S TUDIEN Unter den quantitativen Studien sind für den Kontext dieses Buches psychologische Untersuchungen besonders interessant, die im Rahmen des Verbundprojektes der Deutschen Krebshilfe durchgeführt wurden. Eine psychologische Befragung war Teil des Beratungsdesigns: Psychologische Beratungs- und Diagnosegespräche sollten sowohl den „Risikopersonen“ dabei helfen, die Entscheidung für oder gegen einen Gentest zu treffen, als auch Personen vorab herausfiltern, die psychisch vielleicht nicht in der Lage wären, mit einem positiven Testergebnis umzugehen.6 Diese Gespräche

Laborservice der Firma Myriad, die den BRCA-Gentest anbietet, angesprochen, im UK eher als „Citizens“ und Patienten, die über eine Klinik aufgrund spezifischer Kriterien des Stammbaums Zugang zum Test bekommen können (Parthasarathy 2005). 5

Für einen Vergleich der hier für die BRD dargestellten Ergebnisse mit der Situation von „community genetics“ in Cuba und prädiktiver Brustkrebsgenetik in Griechenland siehe Gibbon/Kampriani/zur Nieden 2010.

6

Diese Gespräche wurden offenbar recht unterschiedlich gehandhabt: So sah etwa eine Psychologin, mit der ich sprach, als ihre Aufgabe an, nach ihrer fachlichen Einschätzung der psychischen Verfasstheit der betreffenden Person ein Votum für oder gegen einen Gentest abzugeben. Entsprechend empfanden meine Interviewpartnerinnen, die von dieser Psychologin „beraten“ bzw. interviewt wurden, dieses Gespräch eher als Test, den sie zu bestehen hätten, denn als Hilfestellung für eine Entscheidung. (Siehe dazu ausführlicher in Kapitel 5.2.) Dagegen wurde mir von einer Ärztin eines anderen Zentrums berichtet, dass dort die Entscheidung zusammen mit der Ratsuchenden besprochen und getroffen wurde und auf Grundlage dieser Entscheidung der Gentest als „indiziert“ oder

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wurden teilweise zu Forschungszwecken aufgezeichnet und ausgewertet.7 Teil der psychologischen Beratung und Diagnostik war auch ein Set von psychologischen Fragebögen vor der Beratung und nach der Ergebnismitteilung, mit denen unter anderem Angst, Depressivität und Lebenszufriedenheit eingeschätzt wurden (Schmidt et al. 2004: 90f.). Im Rahmen verschiedener Auswertungen wurden Zusammenhänge zwischen diesen Ergebnissen und anderen Daten untersucht (Stammbaum, demographische Daten, Entscheidung für oder gegen einen Gentest).8 Eine weitere Teilstudie innerhalb des Konsortiums untersuchte folgende Fragen (Nippert/Schlegelberger 2003: 252)9: • • • •

Warum wurde der Test gemacht? Haben andere (beispielsweise Ärzte oder Familienmitglieder) die Entscheidung beeinflusst? Bereuen die Probanden die Entscheidung? Wem haben sie das Testergebnis mitgeteilt? Sind daraus Probleme entstanden? Gibt es Probleme mit dem Zugang zu Präventionsmaßnahmen?

Die Daten wurden bisher allerdings nur zum Teil ausgewertet: Im Text von Nippert und Schlegelberger werden vorläufige Ergebnisse dargestellt, die

„nicht indiziert“ angegeben wurde. So wird es auch in der Publikation von Worringen et al. 2000 beschrieben: „Grundsätzlich wird das Beratungsergebnis gemeinsam mit den Ratsuchenden und Betroffenen erarbeitet.“ 7

Wie mir eine Psychologin mitteilte, war ursprünglich geplant gewesen, die bei ihr aufgezeichneten Gespräche auszuwerten, schließlich war aber kein Geld dafür vorhanden. Im Zentrum Leipzig sind aber entsprechende Gespräche ausgewertet worden (Schmidt et al. 2004).

8

Diese Fragebögen wurden von der Gruppe der Psychologen innerhalb des Konsortiums ausgearbeitet. Aus der Literatur geht nicht klar hervor, ob sie für alle Ratsuchenden eingesetzt und ausgewertet wurden, oder nur für kleine Stichproben wie etwa im Rahmen der Promotion von Worringen (2002: 68) oder der Untersuchung von Schmidt et al. 2004.

9

Es wurden dafür 332 60- bis 70-minütige Telefoninterviews mit gesunden und erkrankten Frauen durch die genetischen Berater mindestens sechs Monate nach dem Test in elf der an der Studie beteiligten Zentren durchgeführt. Dabei stellten die Interviewer 85 (größtenteils geschlossene) Fragen.

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jedoch von den Autorinnen selbst als nicht verallgemeinerbar bezeichnet werden, da sie nur von 46 Frauen aus einem Zentrum (Münster) stammen.10 Auch zu den Daten bezüglich des Präventionsverhaltens aus den Fragebögen, die von allen Studienteilnehmerinnen ausgefüllt werden mussten, sind nach wie vor keine Ergebnisse veröffentlicht. Sie können bei der unten folgenden Darstellung der „Entscheidungen für Maßnahmen“ also nicht miteinbezogen werden. Meine Recherchen haben insgesamt nur wenige Teildaten aus Deutschland zu psychosozialen Aspekten ergeben. Deshalb verweise ich zusätzlich auf Daten aus anderen Ländern zu den verschiedenen Aspekten. 4.1.1 Gründe für den Test Wie schon oben erwähnt, ist gerade die Untersuchung der Gründe, warum sich Ratsuchende für einen Test entscheiden, nur sehr eingeschränkt mit quantitativen Methoden möglich, da sich damit schwer ein Entscheidungsprozess untersuchen lässt. Trotzdem sollen hier einige quantitative Daten wiedergegeben werden, die entweder durch Korrelation von bestimmten demographischen oder psychologischen Merkmalen (z.B. die mit einem Fragebogen bewertete „subjektive Risikowahrnehmung“) mit der Motivation zur Untersuchung (Worringen 2002, Worringen et al. 2003) oder durch Befragung, welche Gründe am ehesten zutreffen (ebd., Nippert/Schlegelberger 2003), erhoben wurden. Diese Ergebnisse können immerhin den Blick für mögliche Zusammenhänge, die man qualitativ untersuchen müsste, schärfen. Im Rahmen einer Doktorarbeit wertete Ulrike Worringen in Zusammenarbeit mit dem Würzburger Zentrum des Konsortiums verschiedene psychologische Fragebögen aus, um motivationale Einstellungen vor der Inanspruchnahme genetischer Beratung bei nicht erkrankten Personen mit

10 Hieß es dort noch, die Datenanalyse solle 2004 abgeschlossen sein, sind heute (2013) die entsprechenden Daten (noch) immer nicht komplett ausgewertet, wie mir auf Nachfrage von Mitarbeiterinnen des Forschungsprojektes mitgeteilt wurde. Nur die Teilergebnisse zur Kommunikation der Testergebnisse innerhalb der Familie scheinen vollständig ausgewertet zu sein (Gadzicki et al. 2006).

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einem familiären Brustkrebs- und/oder Eierstockkrebsrisiko11 zu untersuchen (N=94) (Worringen 2002). Ziel war es, Prädiktoren der Risikowahrnehmung, des Früherkennungsverhaltens, der Einstellungen zur genetischen Diagnostik und der Untersuchungsintention zu ermitteln. Hier sollen nur einige Ergebnisse dieser explorativen Studie herausgegriffen werden. Auf die direkte Frage nach der Gewichtung verschiedener Gründe für eine Teilnahme an genetischer Beratung und Untersuchung12, gaben 88% der Studienteilnehmerinnen an, zu erfahren, ob sie das Früherkennungsverhalten verstärken müssen; 69%, Gewissheit zu erlangen; 62%, das Erkrankungsrisiko der Kinder in Erfahrung zu bringen. Aber auch immerhin 38% der Frauen erachteten die Beratung und gegebenenfalls die genetische Untersuchung als sehr wichtig, um Entscheidungen über chirurgische Maßnahmen zu treffen (ebd.: 155). Bei der Suche nach Zusammenhängen mit bestimmten Merkmalen beziehungsweise Aussagen aus anderen Fragebögen und der Untersuchungsintention ließ sich lediglich ein signifikanter Zusammenhang der Bereit-

11 Für die Einstellungen zur Gendiagnostik in der Allgemeinbevölkerung stellen Barth et al. (2003) fest: „Im Vergleich zu Ergebnissen internationaler Studien wird deutlich, dass gendiagnostische Verfahren in Deutschland kritischer beurteilt werden als beispielsweise in den USA und in Großbritannien. [...] Obwohl das Thema Gendiagnostik im Zuge der voranschreitenden gentechnischen Entwicklungen zunehmend in den Medien diskutiert wird, sind Frauen der Allgemeinbevölkerung in Deutschland bislang wenig über prädiktive genetische Brustkrebsdiagnostik informiert. Dennoch zeigen die Ergebnisse hinsichtlich des Wissens zu den BRCA-Genen, dass Frauen Genmutationen mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko in Verbindung bringen und dass ein großer Anteil der Frauen ein differenziertes Verständnis für die Bedeutung einer genetischen Prädisposition für die Wahrscheinlichkeit einer Brustkrebserkrankung hat. [...] Die Intention zur genetischen Beratung und Testung ist in allen drei Teilstichproben sehr gering.“ (Ebd.: 174ff.) 90% hatten keine Absicht, zur Beratung oder Testung zu gehen. 12 Verschiedene Hypothesen zu möglichen Zusammenhängen erwiesen sich als falsch bzw. statistisch nicht nachweisbar (etwa die Annahme, dass die subjektive Wahrnehmung der Erkrankungswahrscheinlichkeit oder der wahrgenommene Nutzen von Genanalyse und Früherkennungsmethoden in einem positiven Zusammenhang zur Entscheidung für einen Gentest steht).

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schaft zur Teilnahme zu der persönlichen Erwartung, einen ungünstigen Untersuchungsbefund bewältigen zu können, sowie der Empfehlung zur Untersuchung durch Ärzte oder Angehörige feststellen. Zu diesem Ergebnis passt, dass sich nur fünf der Hochrisikopersonen aus persönlichen Gründen gegen eine Genuntersuchung entschieden. Dass ein starker Zusammenhang der Entscheidung und der empirischen Mutationsträgerwahrscheinlichkeit, die durch den Genetiker bestimmt wurde, bestand, deutet darauf hin, dass sich die meisten Ratsuchenden offenbar nach den Kriterien (also etwa der Mutationswahrscheinlichkeit) und der Empfehlung der Genetiker richteten (Worringen 2002: 160ff.). Interessante Ergebnisse ergaben sich bezüglich der persönlichen Risikoeinschätzung und der Angst vor Erkrankung: „Die persönliche Gefährdung durch Brust-/Eierstockkrebs wird von 88% der Studienteilnehmerinnen überschätzt. Die subjektive Risikoeinschätzung korreliert mit der Erkrankungsfurcht. Die Erkrankungsfurcht lässt sich durch die Belastung durch verstorbene Angehörige, Elternschaft und Angst voraussagen“ (ebd.: 225).

Bei 22% wurden erhöhte Angstwerte im klinischen Bereich gemessen (ebd.: 177). Die Überschätzung der Gefährdung verweist meines Erachtens auf einen Alarmismus unter Frauen, die eine starke Relevanz des erblichen Faktors bei Brustkrebs annehmen. Während in dieser individualpsychologisch orientierten Untersuchung lediglich der Zusammenhang der Angst zu persönlichen Erfahrungen und demographischen Merkmalen analysiert wurde, wird in den später zitierten qualitativen Untersuchungen eine Verbindung dazu gezogen, dass im Diskurs die genetischen Faktoren für Krebs überbetont werden. In der hier zitierten Studie erscheint es, als würde der Erkrankung von Familienangehörigen schon die erhöhte Angst erklären. Hinzu muss aber die Annahme der Erblichkeit von Brustkrebs kommen – sonst könnte eine persönliche Betroffenheit durch die Erkrankung von Freunden ebenso zu einer größeren Furcht führen (eine andere Studie von Montgomery et al. (2003) vergleicht gerade diese beiden Fälle, siehe das Kapitel 4.1.2.1 Psychische Konsequenzen des Testergebnisses). Die Erblichkeit wird im Design dieser Studie offenbar bereits vorausgesetzt. Wie relativ die angegebenen Gründe für den Test zu bewerten sind, zeigt sich in den vorläufigen Ergebnissen von Nippert/Schlegelberger (2003). Hier wurden Frauen im Nachhinein statt im Voraus nach ihren

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Gründen befragt, und es ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen Mutationsträgerinnen und Nicht-Mutationsträgerinnen. Offenbar beeinflusst das Ergebnis der Testung, welchen Gründen man in der Rückschau den Vorrang gibt.13 Signifikante Unterschiede waren vor allem: Mutationsträgerinnen gaben eher als Gründe an, dass sie ihr eigenes Risiko wissen und an Früherkennungsprogrammen teilnehmen wollten als Nicht-Trägerinnen.14 Umgekehrt sagten die Nicht-Trägerinnen häufiger, dass sie das Ergebnis vor allem für ihre Kinder wissen wollten.15 Ähnlich wie in der Befragung von Worringen war für relativ wenige Frauen das Ergebnis für zukünftige Lebensentscheidungen relevant16, aber doch immerhin für fast ein Drittel für die Frage einer prophylaktischen Operation17 (ebd.: 253f.). Insgesamt stellen scheinbar Mutationsträgerinnen eher sie selbst betreffende Gründe in den Vordergrund, während die Negativen altruistische Gründe in den Vordergrund stellen – vielleicht werden diese relevanter, wenn man über das Ergebnis erleichtert und selbst nicht betroffen ist. Interessant ist, dass nur eine Minderheit die Empfehlung des Arztes als Grund für den Test angab (26,3% der Positiven vs. 19% der Negativen). Die Vermutung von Worringen, dass diese Empfehlung einen starken Einfluss hat, hat sich hier also zumindest laut den Selbstaussagen der Frauen nicht bestätigt. Bei aller Vorsicht gegenüber der Erhebungsart – der Bewertung verschiedener vorgegebener Antwortalternativen – kann man die Zahlen aus beiden Studien als Hinweis ansehen, dass die Gründe für einen Gentest, wie sie im BRCA-Diskurs propagiert wurden, zumindest in der Selbstangabe18,

13 Zum Design der Studie siehe den Anfang von Kapitel 4.1. Insgesamt muss man allerdings berücksichtigen, dass in dieser Studie – anders als bei Worringen – sowohl gesunde als auch an Krebs erkrankte Frauen befragt wurden, zwischen denen nicht differenziert wurde, obwohl ein Test für Gesunde sicher eine ganz andere Bedeutung hat als für bereits Erkrankte. 14 84,2% vs. 38,1% bzw. 73,7 vs. 33, 3%. 15 84,4% vs. 53,3% bzw. 100 vs. 53,3%. 16 31,6% der Positiven vs. 14,3% der Negativen. 17 29,4% der Positiven vs. 9,5% der Negativen. 18 Gerade bei der zweiten Studie ist hier allerdings Skepsis angebracht, weil die Berater selbst ihre Klientinnen befragten – hier kann man von einer Verzerrung durch vermeintlich erwünschte Aussagen ausgehen.

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offenbar aufgenommen wurden: Betont werden vor allem die Früherkennungsmaßnahmen. Die Notwendigkeit von Prävention und aktiver Vorsorge wird akzeptiert bis hin zu einer Überschätzung des eigenen Erkrankungsrisikos, die auf einen Alarmismus verweist. In Bezug auf die „eigene Entscheidung“, die „aktive Patientin“ und die „Vertragspartnerschaft“ ist das Bild etwas unklarer: Offenbar ist für einige Frauen die Empfehlung des Arztes ausschlaggebend, für die Mehrheit in der zweiten Studie jedoch nach eigener Auskunft nicht.19 4.1.2 Konsequenzen des Tests Es gibt eine umfangreiche Literatur, die die spezifische Wirkung der genetischen Beratung untersucht, etwa in Bezug auf die subjektive Einschätzung des Erkrankungsrisikos im Vergleich mit dem medizinisch bestimmten Ri-

19 Ausländische Daten zu Gründen für einen Test werden hier nicht dargestellt, weil sich kaum zusätzliche Erkenntnisse ergeben, aber zwei Studien sollen aufgrund ihrer speziellen Fragestellung hervorgehoben werden. Zu dem Aspekt der „eigenen Entscheidung“ sind die Ergebnisse einer Untersuchung in der weiblichen Allgemeinbevölkerung im Alter von 18-62 in den USA interessant: Untersucht wurde, inwieweit Frauen bereit wären, an einer Studie zur Erprobung verschiedener Beratungsmethoden im Rahmen der prädiktiven Brustkrebsdiagnostik teilzunehmen, und welches Beratungsmodell bevorzugt würde. Bei der Frage, ob Ärzte in den Entscheidungsprozess, einen Test durchzuführen, eingebunden sein sollten, zeigte sich, dass ein Großteil der Frauen selbst darüber entscheiden wollte. Die Daten wurden in Washington State im Rahmen von 2.081 Telefoninterviews und mit Hilfe von Fragebögen, die 351 Frauen ausfüllten, erhoben. Gerade bei Themen mit großer Unklarheit (zu denen man den BRCATest zählen kann) wollten die Befragten selbst entscheiden. Frauen, die die Entscheidung den Ärzten überlassen wollten, hatten eher geringere Schulbildung, während das Alter keine Rolle spielte (Helmes 2001: 81f.). Offenbar ist zumindest in diesem Sample das Idealbild des Diskurses, dass Frauen selbst über medizinische Maßnahmen entscheiden sollen, relativ stark durchgesetzt. (Dies mag jedoch in Deutschland [noch] anders sein.) Die Autorin schlägt vor, dass man die anderen Frauen nicht zu einer eigenen Entscheidung zwingen sollte, sondern ein Arzt die gewünschte Partizipation jeder Frau berücksichtigen solle (ebd.: 85f.).

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siko, häufig unter dem Schlagwort Risikowahrnehmung verhandelt. Diese Literatur soll hier nicht systematisch berücksichtigt werden, da diese Fragen nicht im Fokus der Untersuchung standen und den Rahmen des Buches sprengen würden.20 Eine Metaanalyse zum Einfluss der genetischen Beratung ist jedoch erwähnenswert: Die Zusammenfassung von zwölf Studien zeigt zwar eine deutliche, signifikante Zunahme in der Genauigkeit der Wahrnehmung des eigenen Risikos, aber nur eine geringe (aber signifikante) Abnahme der Angst. Die in der Studie davon unterschiedene psychische Belastung nahm nur minimal ab (Meiser/Halliday 2002). 4.1.2.1 Psychische Konsequenzen des Testergebnisses Zu den psychologischen Folgen von BRCA-Tests gab es noch bis vor Kurzem recht konträre Einschätzungen. Kritiker warnten noch 2000 in dem Aufsatz „Risikofaktor Prädiktion“: „Psychische Risiken liegen vor allem im Bereich der Auslösung und Verstärkung von Angstsymptomatiken, Depressionen und Schlafstörungen. Anhaltende Belastungen dieser Art äußerten sich selbst bei Frauen, die ein negatives Testergebnis aufwiesen.“ (Feuerstein/Kollek 2000: 98)

Geradezu konträr dazu ist die Darstellung bei Schlegelberger und Hoffrage (2005: 51): „In der Literatur zu den psychologischen Konsequenzen [...] wird übereinstimmend berichtet, dass die Mitteilung, dass eine gesunde Frau eine Mutation trägt und damit ein hohes Risiko hat, im Laufe ihres Lebens an Brust- und Eierstockkrebs zu erkranken, deutlich weniger belastend ist, als allgemein angenommen.“

20 Für eine solche Untersuchung der Übersetzungsprozesse von genetischen Informationen in für die Klientin relevantes Wissen innerhalb des Beratungsgesprächs oder durch das Beratungsgespräch wäre auch eine andere Datenerhebung erforderlich, etwa Interviews vor und nach dem Gespräch. Die Gespräche selbst sind, wie dargestellt wurde, sehr standardisiert und bestehen vor allem aus der Rede des Genetikers, sodass sie für eine solche Untersuchung des Verständnisses keine ausreichende Basis bieten.

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Soweit die Ergebnisse quantitativer Studien kurz nach Erhalt des Testergebnisses gemeint sind, ist dem zweiten Zitat recht zu geben. Interessanterweise verweisen beide Texte auf Veröffentlichungen derselben Autoren (Lerman/Croyle 1994 sowie Lerman et al. 1998), allerdings aus verschiedenen Jahren. Tatsächlich hatten Caryn Lerman und Robert Croyle noch 1994 auf große psychologische Risiken verwiesen und dafür plädiert, die Gentests erst dann zu implementieren, wenn psychologische Folgen ausreichend erforscht und die Ergebnisse in entsprechende psychologische Begleitung umgesetzt sind (Lerman/Croyle 1994: 614f.). Dieser Text stützt sich allerdings auf vorläufige Daten21 und extrapoliert ansonsten Erfahrungen mit anderen Gentests (Chorea Huntington) oder mit Brustkrebsfrüherkennungsmethoden, da zu diesem Zeitpunkt die Testdiagnostik noch in den Anfängen war.22 1998 jedoch halten Lerman et al. als Resultat einer prospektiven Studie fest, dass es sowohl bei Mutationsträgerinnen als auch bei NichtTrägerinnen keine Verschlechterung der Depressionsraten nach der Ergebnismitteilung im Vergleich zum Zustand vor ihrem Gentest gibt, während Menschen, die einen Gentest ablehnten, eine signifikante Verschlechterung der Belastungswerte zeigten (Lerman et al. 1998).23 Hier hat sich offenbar die Forschungslage und -meinung tatsächlich in Richtung einer positiveren Einschätzung der psychologischen Risiken von BRCA-Tests verändert. Wieder einige Jahre später – in ihrem systematischen Review von 2002 – konstatieren Lerman et al. allgemein für genetische Tests, dass die psychologischen Risiken nach Lage der Forschung offenbar nicht sehr groß sind. Allerdings gäbe es bisher ebenfalls keine Evidenz, dass das Gesundheitsverhalten sich durch Gentests ändert.

21 Lerman und Croyle zitieren hier eine Studie, die drei bis sechs Wochen nach dem Testergebnis strukturierte Telefoninterviews durchgeführt hat, bezeichnen diese Daten aber selbst als „preliminary“ (Lerman/Croyle 1994: 611). 22 In dem anderen von Feuerstein und Kollek zitierten Text (Lerman et al. 1994) wird eine Vorab-Befragung von Angehörigen von Brustkrebspatientinnen, ob sie den Test machen würden, und wenn ja, welche Folgen es voraussichtlich hätte, zusammengefasst. 23 327 Mitglieder von Familien mit erblichem Brustkrebs wurden vor und 1 Monat sowie 6 Monate nach dem Erhalt des Testergebnisses befragt.

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Der Eindruck der geringen Risiken ist jedoch fragwürdig, da er bisher weitgehend auf Untersuchungen kurzfristig nach dem Testergebnis beruht. So stellen Stefan Paepke et al. (2003: 42) bezüglich der bisherigen Studien fest: „Langzeituntersuchungen, die den Einfluss der Beratung, Testung und Verarbeitung des Testergebnisses beschreiben, stehen aus.“ Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt das Review von Penny Hopwood (2005) und die umfassende Darstellung der Literatur zum Thema bei Kollek/Lemke (2008: 83). Auch bis heute gibt es nur sehr wenige Untersuchungen, die einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. Diese sowie einige Daten aus verschiedenen Untersuchungen kurz nach einem BRCA-Test sollen im Folgenden zusammengefasst werden. Interessant sind ebenfalls zunächst die Daten aus dem deutschen Verbundprojekt, die jedoch wie schon erwähnt, bisher noch nicht voll ausgewertet sind. Koch zitiert 2001 eine Befragung: „Die Ärzte haben bislang 305 Frauen zwei Wochen, nachdem sie das Ergebnis des Gentests erfahren hatten, befragt, wie sie sich fühlen. Selbst die Frauen fühlten sich entlastet, sagte Kiechle, bei denen der Test eine Mutation gefunden hatte. Offenbar haben diese Frauen sogar die schlechte Nachricht der Ungewissheit vorgezogen. Die zweite Phase wird auch zeigen, wie sie die Last des Wissens mit der Zeit empfinden.“

Ärztinnen die Frauen zur Entscheidung gedrängt hatten, ein Ausschlussgrund. In Leipzig wurde Im Zentrum Leipzig wurden ebenfalls Befragungen von 481 Teilnehmerinnen ab einer Woche nach dem Erhalt des Testergebnisses ausgewertet. Ähnlich wir oben zitiert zeigte sich, dass der Erhalt des Ergebnisses zunächst zu einer Erleichterung führte (Schmidt et al. 2004).24 Die Autoren geben außerdem an, dass „die psychoonkologische

24 Die Studie wollte außerdem herausfinden, ob Zusammenhänge zwischen den durchgeführten Maßnahmen zur Vorsorge und Früherkennung, der nach der Mitteilung des Befundes der genetischen Untersuchung empfundenen Belastung bzw. Erleichterung, der Zufriedenheit der Teilnehmerinnen mit den erfolgten Beratungen und den vor Beginn der genetischen Beratungen von ihnen angegebenen „Kontrollüberzeugungen“ bezüglich Gesundheit und Krankheit bestehen. Als Ergebnis wurde ermittelt, dass die Kontrollüberzeugungen sich nicht auf das Verhalten zur Vorsorge auswirkten. Allerdings wird aus den Veröffentlichungen

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Diagnostik und Erstberatung in dem vorgestellten Setting eine hinreichend genaue Einschätzung der aktuellen psychosozialen Situation ermöglicht“ (ebd.: 94), beschreiben aber nicht, wie das evaluiert wurde. Interessant ist, dass für neun von 93 Personen „infolge krankheitswertiger Diagnosen oder psychosozialer Risikokonstellationen zum Zeitpunkt der Untersuchung eine genetische Testung abgelehnt“ wurde. Außer Angststörungen und Ähnlichem war die Feststellung, dass Angehörige oder Ärzte und offenbar die Funktion des psychoonkologischen Gesprächs als Test recht ernst genommen. Fraglich ist allerdings, wie es Frauen weiter ergeht, die von Ängsten getrieben einen Gentest machen wollen, diesen jedoch gerade wegen diagnostizierter mangelnder „Coping“-Möglichkeiten verweigert bekommen. Die einzigen Daten, die systematisch zu einem späteren Zeitpunkt erhoben wurden (mindestens sechs Monate nach dem Testergebnis), werden im schon erwähnten Artikel von Nippert/Schlegelberger 2003 zusammengefasst – allerdings als vorläufige Ergebnisse:25 Hier wurden Frauen gefragt, ob sie den Test „mit ihrer gesamten bisherigen Erfahrung“ noch einmal durchführen lassen würden. Die Mehrheit der Frauen (87%) stimmte dieser Aussage zu. Allerdings waren weniger Frauen bereit, den Test auch anderen weiterzuempfehlen, erst recht, wenn sie ein positives Ergebnis hatten26 (ebd.: 256). Wie relativ allerdings Antworten auf die erste Frage zu bewerten sind, zeigte sich in meinen Interviews: Auch ich fragte meine Interviewpartnerinnen, ob sie den Test noch einmal machen würden. Frau Drescher sagte mir daraufhin, dass sie ihn natürlich wieder machen würde, da sie ja wieder – wie damals – davon ausgehen würde, dass das Ergebnis negativ wäre (was es nicht war). An dieser Deutung der Frage zeigt sich, dass eine positive Antwort noch kein Beweis dafür ist, dass die Frauen im Nachhinein froh über ihre Entscheidung sind. Außerdem muss man berücksichtigen, dass es gerade vor dem Hintergrund des häufig als psychologische Prüfung empfundenen psychologischen Beratungsgesprächs ein Bedürfnis der Frau-

nicht deutlich, wie diese Daten etwa zur Durchführung von Früherkennung erhoben wurden und um welchen Zeitraum es sich handelte. Ich vermute eine Datenerhebung per Selbstangabe, die sich aber eher auf den Zeitraum vor dem Test bezieht (ebd.: 93). 25 Sie stammen aus 46 Interviews mit Frauen aus Münster. 26 Nur 42% der positiv Getesteten und 71,4% der Negativen.

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en geben kann, sich selbst als „ideale Patientin-Klientin“ darzustellen, die gut mit dem Ergebnis umgehen kann – erst recht, wenn die Interviewer selbst die früheren Berater sind. Solche Selbstdarstellungen aufzudecken, ist allerdings nur mit qualitativen Methoden möglich. Die Berater Doktor Michels und Doktor Neuss, die von mir befragt wurden, befragten selbst Frauen im Rahmen der obengenannten Untersuchung in Telefoninterviews. Da die Ergebnisse bisher offenbar nicht veröffentlicht wurden, möchte ich hier Aussagen der Genetiker im Rahmen meiner Interviews wiedergeben, dass einige Teilnehmerinnen enttäuscht waren, allerdings nicht wegen des eigentlichen Tests, sondern wegen der schlechten Nachbetreuung in der Frauenklinik. Da die Ergebnisse aus dem deutschen Verbundprojekt also bisher nicht sehr umfassend sind, werden im Folgenden noch einige Hinweise aus ausländischen Studien zusammengefasst. Fast alle Studien beziehen sich allerdings nur auf einen Zeitraum von bis zu einem Jahr nach der Ergebnismitteilung. In ihnen haben sich, wie oben schon festgestellt, die Anfang der 1990er Jahre häufig geäußerten Befürchtungen bezüglich negativer psychologischer Folgen in den quantitativen Studien eher nicht bestätigt. In den meisten Reviews oder Einzelveröffentlichungen wurden eher Verbesserungen oder gleich bleibende Levels in Angstskalen, Depressivitätsskalen oder bezüglich krebsbezogener Ängste gegenüber dem Zustand vor dem Test gemessen (Claes et al. 200527, Arver et al. 200428, Watson et al. 200429, Winkler 200530, Lerman et al. 199831). In ihrem systematischen Re-

27 Im Sample von 68 Frauen ergaben sich insgesamt eine Reduktion krebsbezogener Ängste bei Negativen und keine Änderungen in den Stresslevels bei den Positiven. 28 In dieser Studie mit 87 Frauen in Schweden wurde Reduktion von Angst und Depressionslevel bei den positiv, erstaunlicherweise Ansteigen der Raten bei den negativ Getesteten beobachtet. 29 Diese multizentrische britische Studie mit 261 Männern und Frauen zeigte eine Reduktion krebsbezogener Sorgen bei den Nicht-Trägerinnen, eine kurzfristige Zunahme bei jüngeren Mutationsträgerinnen, die aber ein Jahr nach dem Testergebnis auf das Level vor dem Test zurückging. Ein weiteres wichtiges Ergebnis war hier im Unterschied zu anderen Studien, dass präventive Operationen die Krebssorgen nicht reduzierten (siehe dazu auch das Kapitel 4.1.2.3 Entscheidung für Maßnahmen).

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view von verschiedenen Studien und Metaanalysen fasst Penny Hopwood 2005 zusammen: „Previous psychosocial studies of the effect of predictive testing, using a variety of research methods and study cohorts, showed with some exceptions that unaffected mutation carriers experience a transient increase in distress after learning their test results, with a return to pretest levels over time. Those who were noncarriers had more immediate and sustained psychological benefits [15,39-41].“ ( Hopwood 2005: 342)32

Klinische Level von Angst oder Depression würden selten berichtet (ebd., ähnlich Claes et al. 2005). Einige Autoren verweisen jedoch darauf, dass dies zwar für die Mehrheit der Frauen gilt, eine Minderheit jedoch psychosoziale Unterstützung benötigen könnte (Hopwood 2005, Watson et al. 200433). Eine der wenigen Langzeituntersuchungen (an 65 bisher nicht erkrankten Frauen in den Niederlanden aus Hochrisikofamilien, davon 23 Positive und 42 Negative) ergab zwar kurz nach dem Erhalt des Testergebnis ein

30 Diese Pilotstudie aus Wien untersuchte 96 Frauen und 9 Männer vor sowie 1, 3 und 6 Monate nach der Befundbesprechung mittels standardisierter Fragebögen. In zwei Angstskalen wurden Reduktionen nach der Befundbesprechung gemessen. 31 In dieser Studie an 327 Männern und Frauen wurde ein Schwerpunkt auf psychisch labile Personen gelegt. Wie schon oben erwähnt, wurden nur für Menschen, die einen Test ablehnten, Verschlechterungen bei schon bestehenden depressiven Symptomatiken beobachtet. Negativ Getestete zeigten eine Verbesserung, während sich bei positiv Getesteten keine Änderung ergab. 32 Auch in einem Review von acht verschiedenen Papers über von Krebs betroffene Frauen wird nur in zwei Studien von einer Erhöhung von krebsbezogenem oder generellem Stress nach dem Testergebnis berichtet (Schlich-Bakker et al. 2006). Die dort genannten Studien werden jedoch nicht näher betrachtet, da es hier vor allem um selbst nicht erkrankte Frauen, also echt „prädiktive“ Gentests gehen soll. 33 In dieser Studie suchten 20 Mutationsträgerinnen, 6 Nichtträgerinnen und drei männliche Mutationsträger professionelle psychologische Hilfe im Verlauf eines Jahres nach dem Testergebnis (ebd.: 1790).

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sinkendes Stressniveau sowohl bei Mutationsträgerinnen als auch bei Frauen, bei denen eine genetische Veränderung ausgeschlossen werden konnte. Zwischen dem 1-Jahres- und dem 5-Jahres-Follow-up zeigte sich aber eine Zunahme von Angst- und Depressionssymptomen, bei Depressionen sogar über dem Level zum Zeitpunkt des Tests liegend (van Oostrom et al. 2003). Das deutet darauf hin, dass sich langfristig Ängste und Depressionen wieder verstärken können und weder das negative Testergebnis die erhoffte Erleichterung bringt, noch die Durchführung von drastischen Maßnahmen zur Risikoreduktion sich positiv auf die Gefühlslage auswirkt. In diesem Sample nahmen nämlich 21 der 23 Positiven eine prophylaktische Operation (bei 19 eine Mastektomie) vor und berichteten von erheblichen Einschränkungen der Körperwahrnehmung und Veränderungen in den Sexualbeziehungen. Die Ängste vor Krebs hatten sich aber durch die Mastektomie (laut eigenen Angaben) verringert.34 In einer weiteren Studie über einen längeren Zeitraum (18 Monate) von Reichelt et al. (2008) ergab sich, dass das Testergebnis – weder ein positives noch ein negatives – kaum Veränderungen des allgemeinen psychologischen oder krebsbezogenen Stresses bewirkte. Stattdessen blieben die Stresslevel ähnlich – es ergab sich also auch keine Erleichterung durch ein negatives Ergebnis bei Frauen, die vor dem Test sehr besorgt waren. Dies zeigt, dass es methodisch fragwürdig ist, nur die Stresslevel vor und nach dem Test zu vergleichen wie es die meisten Studien tun. Denn um den Nutzen der Einführung genetischer Tests abschätzen zu können, wäre außerdem der Vergleich des psychischen Zustands von Personen, die sich überhaupt für eine Testung interessieren, mit der Allgemeinbevölkerung wichtig. Sofern es Angaben dazu gibt35, sind die Ergebnisse uneinheitlich: Während frühere Veröffentlichungen feststellten, dass die Frauen, die sich für einen Test interessieren, oft psychisch stark belastet sind und unter

34 Darum wird es unten im Teil 4.1.2.3 noch ausführlicher gehen. 35 In der Studie von Watson et al. (2004) gibt es leider keine Angaben über die Baseline-Levels im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Allerdings schätzen 88% ihr Krebsrisiko als über dem Durchschnitt liegend ein, was ein Hinweis auf verstärkte Sorge sein könnte. Es gibt jedoch eine frühere Veröffentlichung von einem ähnlichen Autorenkollektiv, die sich auf das gleiche Sample beziehen könnte und den psychischen Zustand vor dem Test erfasst: Foster et al. 2002 (siehe unten).

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starken Ängsten leiden36, zeigen die Studien, die Hopwood zusammenfasst, keine erhöhten Stresslevel im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Ähnlich verhält es sich bei Claes et al. (2005), Arver et al. (2004), Foster et al. (2002)37. Allerdings werden zum Teil verstärkte krebsspezifische Sorgen (Hopwood 2005: 340, Foster et al. 2002: 121438) angegeben. Die meisten Frauen in der britischen Studie von Foster et al. berichten außerdem von zwanghaften und Vermeidungsgedanken in Bezug auf Krebs. Zu dieser erhöhten Sorge hinsichtlich Krebs passt, dass die meisten Frauen auf eigene Initiative in die Klinik kamen (Foster et al. 2002). In der Studie von Winkler war sogar das allgemeine und nicht nur das krebsspezifische Angstniveau hoch (Winkler 2005). Eine Überschätzung des eigenen Brustkrebsrisikos, die in vielen Studien festgestellt wird39, widerspricht dem Phänomen des „optimistischen Fehlschlusses“, wie es von Weinstein (1987) beschrieben und in vielen empirischen Studien bestätigt wurde. Demnach werden gesundheitliche Bedrohungen von den meisten Personen unterschätzt. In ihrer Metaanalyse stellen Katapodi et al. 2004 fest, dass gesunde Angehörige von Hochrisikofamilien in der Mehrzahl der Studien ihr eigenes Erkrankungsrisiko überschätzen. Allerdings hing dies von der Rekrutierung der Teilnehmer der Studien ab: In Studien mit Risikopersonen, die sich in einer genetischen Beratungsstelle vorstellten oder durch die Familie über ihr eigenes Erkrankungsrisiko informiert worden waren, lag eine Überschätzung des eigenen Erkrankungsrisikos vor. Wenn dagegen die Allgemeinbevölkerung – also auch Menschen, die nicht über das eigene Risiko aufgeklärt waren – untersucht wurde, zeigte sich der optimistische Fehlschluss. Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass nicht so sehr die Konfrontation mit Angehörigen mit Krebs relevant für eine Überschätzung des eigenen Risikos ist, sondern die Tatsache, dass diese Krebsfälle von anderen mit Erblichkeit in Verbindung gebracht werden.

36 Siehe dazu die Zusammenfassung von Vodermaier (2005: 16). 37 Hier wurden 312 Frauen und Männer aus verschiedenen Zentren in Großbritannien bei ihrem Besuch der Genetik-Klinik befragt. Die Befragung war, wie die Veröffentlichung von Watson et al. (2004) Teil einer allgemeinen Evaluation der BRCA-Tests. 38 Hiervon sind jüngere Frauen stärker betroffen als ältere. 39 Vgl. wieder die Darstellung von Vodermaier (2005: 15ff.).

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Um zwischen der erhöhten Angst aufgrund eigener Erfahrung mit Krebsfällen und wegen der diskursiven Überbetonung der Vererbung zu differenzieren, ist eine weitere Studie äußerst interessant: Bei Montgomery et al. (2003) wurden Personen, die Krebserkrankungen von Familienmitgliedern erlebt hatten, mit solchen verglichen, die Erkrankungen von Freunden miterlebten. Nur bei Frauen gab es auch dann eine Überschätzung des Risikos, wenn Freunde betroffen waren. Anders als bei Männern und der oben zitierten Untersuchung ist scheinbar bei diesen Frauen nicht so sehr eine mögliche Vererbung ausschlaggebend für die Krebsängste, sondern die persönliche Konfrontation mit Krebs. Zusammengefasst zeigt sich also bei den meisten Frauen, die eine genetische Untersuchung in Anspruch nehmen oder die eine Genetik-Klinik aufsuchen, eine verstärkte Sorge, Krebs zu bekommen. Die wurde auch schon bei den Gründen für einen Gentest festgestellt. Zum Teil geht dies mit der Überschätzung des eigenen Risikos, allgemein hohen Stress- oder Angstniveaus bis zu klinischen Werten (z.B. Worringen 2002) einher. Da viele Studien eine Reduktion dieser Werte (in den dort untersuchten Zeiträumen, also meist nur bis zu einem Jahr) nach dem Ergebnis des Tests zeigen, erscheint es zunächst einleuchtend, einen psychischen Nutzen der Tests anzunehmen. Mutationsträgerinnen geht es zwar mit dem Testergebnis nicht unbedingt besser, aber auch nicht schlechter. Zudem besteht die Chance, durch ein negatives Ergebnis beruhigt zu werden. Neben den bedenklichen Ergebnissen der wenigen Langzeitstudien müssen allerdings meines Erachtens die hohen Stress- und (krebsspezifischen) Angstniveaus vor dem Test als indirekter Effekt der Gentests miteinbezogen werden: Erst durch den Diskurs der Erblichkeit inklusive der Möglichkeit der Testung wird diese Sorge geschürt. Andernfalls würden Krebsfälle in der Familie (teilweise im Gegensatz zu Fällen bei Freunden) nicht mit einem eigenen erhöhten Risiko in Verbindung gebracht. Dass durch die Gendiagnostik nicht nur Fragen nach Tod, Gesundheit und Krankheit – beziehungsweise deren Kontrollierbarkeit – in neuer Form aufgeworfen werden, sondern auch danach, inwieweit man selbst in der familiären Genealogie steht, trägt als unbewusste Dynamik möglicherweise zur emotionalen Brisanz des Diskurses bei. Rein individualpsychologisch gedacht erscheint es vor dem beschriebenen Hintergrund sinnvoll, einen Test zu empfehlen, zumal in der Studie von Lerman et al. (1998) bei Menschen, die einen Test ablehnen, häufig eine

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Verstärkung von depressiven und Angstsymptomatiken beobachtet wurde. Dies ist aber kein Argument für die Einführung solcher Tests, da der Test selbst zu der Verängstigung und Alarmierung beiträgt, die er wieder beruhigen will. Um diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen, muss man aber die individualpsychologische Sicht verlassen und den ideologischen Kontext der präventiven Diagnostik miteinbeziehen. Daher sind die unten zusammengefassten qualitativen Untersuchungen besonders interessant. 4.1.2.2 Kommunikation innerhalb der Familie Einige Studien untersuchen, wie Testergebnisse innerhalb der Familie weitergegeben werden. Dieser Aspekt der „Folgen“ eines Gentests ist besonders heikel, denn die Ärzte selbst dürfen aus Gründen der Schweigepflicht keine Verwandten ihrer Klienten benachrichtigen40, in der Fachliteratur wird aber oft die Wichtigkeit der Informationsweitergabe betont, wobei man vor allem auf die Mithilfe der Verwandten angewiesen sei. So argumentieren zum Beispiel Patenaude et al. (2006b): „While the recommendations for screening and the consideration of risk-reducing surgeries by mutation carriers which various groups have produced are very important, it is possible that the most important recommendation of all is to inform other blood relatives about the presence of a deleterious cancer predisposition mutation in the family.“ (Ebd.: 2970)

Dieses Faktum ist an sich schon interessant: Die Forderung nach einer möglichst weitgehenden Informationsweitergabe überträgt den allgemeinen Alarmismus der Prävention auch in die private Kommunikation innerhalb von Familien, verpflichtet Klientinnen damit nicht nur zur Verantwortung gegenüber der eigenen Gesundheit, sondern auch gegenüber der ihrer Verwandten, was bedeutet, ihre „genetische Disposition“ offenzulegen und Verwandte aktiv zu warnen. In dieser Logik ist es natürlich wesentlich, herauszufinden, welche Hemmnisse in Familien eventuell gegenüber der Informationsweitergabe bestehen. Auch innerhalb des deutschen Konsortiums wurden diese Aspekte untersucht. Nippert/Schlegelberger (2003) äußern sich in ihrer Darstellung der vorläufigen Ergebnisse aus Münster allerdings zurückhaltender in Bezug auf die Forcierung der Informationsweitergabe.

40 Vgl. zu dieser Diskussion: Leung 2000

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Sie halten fest, dass genetische Beratung Schwierigkeiten bei der Informationsweitergabe vorab in Betracht ziehen müsse. Der „Messenger-Patient“ dürfe nicht überanstrengt werden, und ethische Themen wie Respekt der Privatsphäre müssten berücksichtigt werden (etwa auch der Wunsch, nicht informiert zu werden!). Dies sei vor allem zu einem Zeitpunkt relevant, wo der medizinische Nutzen der Testung erst noch untersucht werde (ebd.: 257). Die Ergebnisse des Konsortiums zeigen, dass (ähnlich wie in der amerikanischen Studie von Patenaude et al.) die meisten weiblichen Verwandten ersten Grades (Schwestern: 85%, Töchter: 77%)41 über die Testergebnisse informiert werden, die männlichen jedoch weniger häufig. Offenbar zeitigt der Appell, seine Verwandten zu informieren, seine – wenn auch selektive – Wirkung.42 Einen geringen Zusammenhang zum Mutationsträgerstatus stellte man bezüglich der Informierung entfernterer Verwandter (Nichten und Neffen) fest: Positiv Getestete informierten diese seltener (um 25%) als Negative (um 50%). Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass es bei Personen mit positivem Testergebnis signifikant öfter zu Konflikten innerhalb der Familie bezüglich des Umgangs mit der Testinformation kam (in 22%) als bei Personen mit negativem Ergebnis (nur bei einer von 34 Befragten) (Gadzicki et al. 2006: 2970).43 Erstere bekamen auch seltener positives Feedback von ihrer Familie.44 Negative Testergebnisse lassen sich offenbar leichter mitteilen als positive. Einige der Positiven wurden auch explizit von Verwandten gebeten, das Ergebnis nicht zu erzählen.45 Interessant ist

41 Wenn man die Befragten mit unklarem Ergebnis herauslässt, sind die Zahlen sogar noch eindeutiger: Bei den Positiven wurden etwa 94% der Töchter, bei den Echt-Negativen 100% informiert. 42 Leider wird in den Darstellungen der Ergebnisse nicht zwischen erkrankten (65% des Gesamtsamples) und nicht erkrankten Frauen differenziert. Häufig lassen sich Erkrankte ja nur auf Bitte von Verwandten als sogenannte „Indexpatientin“ testen. Dann ist es auch naheliegend, das Ergebnis weiterzuerzählen. 43 Die Prozentzahlen gleichen denen aus dem vorläufigen Sample (Nippert/Schlegelberger 2003). 44 Im Münster-Sample 31,6% vs. 81% bei den Negativen (Nippert/Schlegelberger 2003: 254). 45 21,1% von 19 (Nippert/Schlegelberger 2003: 255).

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außerdem, dass ein sogenanntes nicht-informatives Testergebnis (das heißt, wenn keine Mutation oder eine unklassifizierte Variante in der Familie gefunden wurde) häufig nicht weitererzählt wurde. Vielleicht gilt diese Information nicht als wichtige Nachricht, da sich gegenüber der Situation vor dem Test eigentlich nichts geändert hat. 4.1.2.3 Entscheidung für Maßnahmen Teil der Übernahme „genetischer Verantwortung“ ist das Engagement in weiteren Präventionsstrategien speziell im Falle eines positiven Gentests. Im Folgenden sollen daher einige Zahlen über die Wahl weiterer Präventionsmaßnahmen im Rahmen des deutschen Konsortiums wiedergegeben werden, soweit sie bisher veröffentlicht sind. Zum Vergleich werden auch Ergebnisse aus internationalen Studien einbezogen. Wie schon im Kapitel 3.3.1 erwähnt, war in Deutschland die Haltung gegenüber den wohl drastischsten Präventionsmaßnahmen, nämlich prophylaktischen Entfernungen der Brüste (Mastektomie) oder der Eierstöcke (Ovarektomie) zunächst zurückhaltend, änderte sich aber zunehmend auch mit der Veröffentlichung neuerer internationaler Forschungsergebnisse.46 Von Christ (2005: 15) wird angegeben, dass sich 3% der Hochrisikopatientinnen für eine beidseitige prophylaktische Mastektomie entscheiden – im Gegensatz zu 9% in den USA. Im oben schon erwähnten britischen Sample sind die Zahlen noch höher: In den ersten 12 Monaten nach dem Testergebnis hatten bereits 28% der Positiven eine Mastektomie und 31% eine Ovarektomie vornehmen lassen (Watson et al. 2004).47 Die Tendenz sei steigend. Etwas andere Zahlen präsentieren Schmutzler et al. 2005 für Deutschland: „Allerdings entscheidet sich in Deutschland nur etwa eine von zehn Mutationsträgerinnen für eine vorbeugende Mastektomie, zunehmend mehr Frauen wählen aber eine Oophorektomie [gleichbedeutend mit Ovarektomie, A.z.N.].“ (Ebd.: 3488)

46 Siehe Schlegelberger/Hoffrage (2005: 53). Es wurden innerhalb des Konsortiums bis zu dieser Veröffentlichung über 100 prophylaktische Mastektomien und über 200 prophylaktische Ovarektomien durchgeführt. 47 Großbritannien und die Niederlande gehören zu den Ländern, in denen prophylaktische OPs wesentlich häufiger empfohlen und durchgeführt werden als anderswo (van Oostrom et al. 2003).

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Rhiem et al. (2011) berichten aus einem Sample von 306 Frauen, die zwischen 1996 und 2009 positiv auf eine BRCA-Mutation getestet wurden, dass 57% dieser Frauen eine Ovarektomie wählten. Die vergleichsweise geringe Inanspruchnahme vor allem der Mastektomie liegt sicher an der Zurückhaltung der deutschen Ärzte mit entsprechenden Empfehlungen. In der Studie von Andrea Vodermaier (2005) waren sowohl die Empfehlung durch Ärzte als auch starke krebsspezifische Ängste signifikant für die Entscheidung für eine prophylaktische Operation. Über die psychischen Auswirkungen solcher Operationen gibt es auch vereinzelte Daten: Bei Vodermaier gaben zwei Drittel beziehungsweise gut die Hälfte der 19 beziehungsweise 17 Frauen, die die entsprechende Operation durchführen ließen48, an, mit der Entscheidung für eine prophylaktische Brust- beziehungsweise Eierstockentfernung sehr zufrieden zu sein. Fast ein Drittel war dagegen im Nachhinein aufgrund von starken Wechseljahresbeschwerden oder Problemen in der Partnerschaft gar nicht zufrieden mit der Ovarektomie. „Der medizinisch kleinere Eingriff einer prophylaktischen Eierstockentfernung (im Vergleich zur prophylaktischen Brustentfernung) wird möglicherweise in seinen Konsequenzen unterschätzt.“ Hingegen bereuten „nur“ zwei Frauen die Entscheidung für eine Mastektomie. Mit dem kosmetischen Ergebnis der Mastektomie waren 10 von 14 Frauen zufrieden (Vodermaier 2005: 114ff.). In zwei Fallbeschreibungen von Mastektomien weist Vodermaier außerdem auf das Risiko „erheblicher peri- und postoperativer Komplikationen“ hin. Obwohl beide Frauen große (nicht nur medizinische) Probleme durch die Operationen oder Rekonstruktionen bekamen49, gaben sie an, den Eingriff nicht zu be-

48 In diesem Sample von 285 Frauen nahmen 7% eine Mastektomie, 8% eine Ovarektomie in Anspruch. 49 Besonders drastisch ist dieses Beispiel: Die Frau entschied sich aufgrund starken ärztlichen Drucks wegen einer Mastopathie und des geerbten Risikos innerhalb eines Tages für die Mastektomie, während der Operation wäre sie aufgrund erheblichen Blutverlusts beinahe gestorben. Ihr Mann reichte danach die Scheidung ein, weil für ihn „ihre Weiblichkeit infrage gestellt“ war; schließlich platzten die Silikonimplantate bei einem Autounfall, sodass sie wegen einer Muskelnerventzündung nur mit Schmerzmitteln leben kann. Eine neue Rekonstruktion war außerdem nicht möglich. Wegen der Entnahme der axillären Lymphknoten erleidet sie außerdem erhebliche Bewegungseinschränkungen.

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reuen. Im Zusammenhang mit vielen jung erkrankten Verwandten mit unkontrollierbaren Krankheitsverläufen und Todesfolge hatten sie sehr starke Ängste vor Krebs entwickelt. Diese haben sich durch die Operationen gebessert, sind aber nicht verschwunden. Vodermaier führt allerdings auch andere mögliche Gründe für die positive Bewertung im Nachhinein an: Es könnte der Effekt eines psychologischen Schutzmechanismus sein, dass ein so drastischer Eingriff mit erheblichem Leiden im Nachhinein unbedingt als richtig beurteilt werden muss.50 Stellt man solche Effekte generell in Rechnung, relativieren sich auch die vorher genannten Zahlen hoher Zufriedenheit (Vodermaier 2005: 117-129). In der oben zitierten britischen Studie (Watson et al. 2004) hat sich außerdem gezeigt, dass die krebsbezogenen Sorgen oder zwanghafte und Vermeidungsgedanken durch die prophylaktischen Operationen nicht reduziert werden konnten – zumindest innerhalb des ersten Jahres nach dem Gentest.51 Im oben genannten langfristig beobachteten Sample (van Oostrom et al. 2003) erlebten die Frauen nach einer prophylaktischen Brustentfernung (und häufig zusätzlicher Eierstockentfernung) erhebliche Einschränkungen der Körperwahrnehmung sowie Veränderungen in den Sexualbeziehungen.52 Die Ängste vor Krebs verringerten sich aber durch die Mastektomie.53 Wie schon oben dargestellt, stiegen Ängste und Depressionen aber nach fünf Jahren zum Teil bis über das Level während des Tests an. Eine weitere Studie, die einen längeren Zeitraum abdeckt, wurde 2012 von Metcalfe et al. veröffentlicht: Hier wurde psychologischer Stress im

50 Diesen Effekt erklärt sie durch die „Theorie der kognitiven Dissonanz“ von Leon Festinger. 51 Da dieses Ergebnis von anderen bekannten Studien abweicht, spekulieren die Autoren allerdings, ob die Zahlen dadurch zustande kommen, dass viele der Frauen gerade erst ihre Operation hinter sich hatten, und schlagen weitere Forschungen zu dem Thema vor (ebd.: 1792). 52 Sie selbst beurteilten diese Effekte aber nicht negativ, sondern als Preis, den es wert wäre. Hier ist Skepsis, ähnlich wie in den Fallbeschreibungen von Vodermaier, angebracht. 53 Es bleibt in der Darstellung unklar, ob dies nur aufgrund der Selbsteinschätzung der Frauen als Antwort auf eine direkte Frage beurteilt, oder zusätzlich mit den Ergebnissen der „Cancer Worry Scale“ abgeglichen wurde.

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Zusammenhang mit einem Bevölkerungsscreening von 2080 jüdischen Frauen gemessen. Solche Screenings für die aschkenasisch-jüdische Bevölkerung sind wiederholt diskutiert und in Modellversuchen durchgeführt worden, da diese Gruppe eine höhere Wahrscheinlichkeit für bestimmte BRCA-Mutationen aufweisen soll (vgl. Kapitel 3.1). Bei den 1,1% positiv getesteten Frauen ergab sich, dass die Stresslevel im Zeitraum von einem Jahr nach dem Ergebnis bis zwei Jahre nach dem Ergebnis (nur) dann fielen, wenn Frauen eine prophylaktische Operation vornahmen. Dies tat eine große Mehrheit: 11,1% der Frauen hatte eine prophylaktische Mastektomie, 89,5% eine prophylaktische Ovarektomie. Anders als in der Studie von van Oostrom et al. (2003) hatten diese Maßnahmen offenbar eine beruhigende Wirkung. Zwar ist die Häufigkeit prophylaktischer Operationen in Deutschland geringer als in manchen anderen Ländern, aber auch hier haben manche Frauen so große Ängste vor einer möglichen Krebserkrankung, dass sie sich auch ohne Krankheitsbefund die Eierstöcke und – zum Teil sogar entgegen den gängigen Empfehlungen – die Brüste entfernen lassen. Gerade wenn Ängste vor Krebs ständig präsent sind, ist es nachvollziehbar, dass für diese Frauen intensivierte Früherkennungsmaßnahmen keine gute Wahl sind, da sie dabei erst recht immer wieder mit der Sorge vor einem positiven Befund konfrontiert werden. Neben den starken Belastungen, die mit den Folgen einer solchen Operation verbunden sind, zeigen die aufgeführten Daten aber zusätzlich, dass der gewünschte Effekt – das Gefühl einer größeren Sicherheit – nicht unbedingt erreicht wird. Der Kontrollwunsch, der soweit geht, dass er das Organ entfernen lässt, das in Gefahr ist, erfüllt sich häufig nicht, auch wenn das Risiko de facto erheblich reduziert wird. Im Gegenteil: gerade die Frauen, die zum Zeitpunkt des Tests besonders ängstlich waren, sind es auch nach einer solchen Operation (van Oostrom et al. 2003). Das verbleibende „Restrisiko“ genügt offenbar, um die Ängste in Gang zu halten. Die Vermutung, dass die Psyche nicht wie ein risikominimierender Unternehmer funktioniert, liegt nahe, und wird im qualitativen Teil näher zu untersuchen sein. Zwar ist die Mehrheit der hier Befragten trotzdem im Nachhinein mit der Entscheidung zufrieden, es bleibt aber erstens eine enttäuschte Minderheit zu berücksichtigen, und zweitens ein möglicherweise beschönigender Trend bei solchen Aussagen. Auch das lässt sich eher aufgrund qualitativer Analysen beurteilen.

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Wie schon anfänglich dargestellt, sind aus dem Verbundprojekt kaum Daten bezüglich des Präventionsverhaltens der Studienteilnehmerinnen veröffentlicht. Bezüglich intensivierter Früherkennungsuntersuchungen als Präventionsstrategie schreiben Schmutzler et al. (2005): „Als Alternative zur Brustentfernung wählten im Rahmen des Verbundprojekts 80 Prozent der Frauen eine intensive Früherkennung. Den Frauen wurde eine Kombination aus Mammographie, Kernspintomographie und Sonographie angeboten. Die Frage, wie erfolgreich diese Strategie ist, kann derzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. Das gilt aber nicht für das Ovarialkarzinom, für das die Früherkennung keinen Nutzen erbracht hat. Auf spezifische Untersuchungen wird deshalb verzichtet.“ (Ebd.: A3488)

Man muss dieses Zitat wohl so interpretieren, dass die Frauen vor die Entscheidung für eine Früherkennung gestellt wurden. Diese „Entscheidung“ muss aber nicht bedeuten, dass die Frauen diese Maßnahmen auch wirklich intensiver in Anspruch nehmen. Dies wird in der Veröffentlichung nicht deutlich, da nicht mit dem Früherkennungsverhalten in der übrigen Bevölkerung beziehungsweise vor dem Test verglichen wird. In ihrer Zusammenfassung verschiedener internationaler Studien stellt nämlich Vodermaier (2005: 21f.) keine wesentliche Steigerung der Früherkennung bei festgestellter positiver Mutation fest: Zum Beispiel fanden Lerman et al. (2000) heraus, dass sich das Früherkennungsverhalten vor und nach der Gendiagnostik mit einem Anteil von 68% derjenigen Frauen, welche eine regelmäßige Mammographie durchführen ließen, nicht veränderte. Es zeigte sich auch kein Unterschied zwischen Mutationsträgerinnen und Frauen, bei denen keine Mutation nachgewiesen wurde, in ihrem Screeningverhalten. Damit läge die von Schmutzler et al. zitierte Zahl von 80% über dem international Üblichen. Da die Angebote für intensivierte Früherkennung in verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich organisiert sind, ist aber ein Vergleich der Zahlen nur begrenzt aussagekräftig in Bezug auf die subjektive Wahrnehmung von „genetischer Verantwortung“ und soll deshalb hier nicht weiter vertieft werden. In einer Übersichtsarbeit von 55 Studien zum Gesundheitsverhalten aufgrund von Gentests für Darmkrebs und Brust- und Eierstockkrebs fassen Theresa Beery und Janet Williams (2007) allerdings zusammen, dass es zwar insgesamt wenige wissenschaftliche Ergebnisse zu diesem Thema gibt, laut den bestehenden Studien aber der Nachweis einer

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Mutation tatsächlich zur verstärkten Inanspruchnahme von Screeningangeboten führt.

4.2 Q UALITATIVE S TUDIEN Die bisher dargestellten Studien konnten einige Hinweise liefern, wie Frauen sich verhalten, die mit der Möglichkeit eines Gentests konfrontiert werden beziehungsweise einen Test haben durchführen lassen. Zwar haben die quantitativen Studien den Vorteil, größere Stichproben und damit zahlenmäßige Trends zu erfassen, andererseits wurde auch an vielen Stellen deutlich, dass komplexere Zusammenhänge oder auch die Frage, warum Frauen sich so verhalten, mit den angewandten Methoden kaum untersucht werden können. So wurde oben zum Beispiel anhand der untersuchten „Gründe“ für einen Test eine oberflächliche Durchsetzung der Topoi der Präventionsideologie des BRCA-Diskurses konstatiert. Um zu beurteilen, wie Frauen diese Topoi im Einzelnen aufnehmen oder auch infrage stellen, ist jedoch ein offenes Interviewverfahren erforderlich. Wie schon erwähnt, ist die Perspektive der qualitativen Studien zudem häufig komplexer und kritischer, insofern sie den gesellschaftlichen Kontext der Gendiagnostik im Auge behalten. Methodisch arbeiteten die meisten der von mir ausgewerteten Untersuchungen – soweit dies aus den Veröffentlichungen erkennbar ist – mit (teil-)narrativen, oft leitfadengestützten Interviews. Zum Teil wurden außerdem Beratungssitzungen beobachtet (z.B. Hallowell 1999) oder das ganze Setting der Kliniken ethnographisch untersucht (Gibbon 2002, 2006). Über die Auswertungsmethode erfährt man allerdings wenig. Dem Anschein nach wurde meistens inhaltsanalytisch vorgegangen, anders als in dem von mir hier verfolgten Ansatz der „Rekonstruktion narrativer Identität“ wurde nicht so sehr das Gespräch selbst als Ort der interaktiven Herstellung und Darstellung von Identität angesehen. Die Aussagen werden meist „für sich“ genommen, statt auf ihre Funktion in der Selbstdarstellung im Gespräch befragt zu werden. Allgemein deuten die im Folgenden besprochenen qualitativen Studien aus den USA, Großbritannien, Kanada und die wenigen aus Deutschland darauf hin, dass in diesen Ländern eine Verpflichtung zum Risikomanagement von den Frauen tatsächlich akzeptiert wird, dass sowohl die Entschei-

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dung für einen Test als für auch weitere Maßnahmen zwar freiwillig getroffen, aber doch als Verpflichtung sich selbst und der Familie gegenüber angesehen werden. Wie noch im Einzelnen dargestellt wird, heißt dies allerdings nicht unbedingt, dass an das Risikomanagement tatsächlich „geglaubt“ wird. Die meisten qualitativen Studien untersuchten Frauen, die eine Krebsgenetik-Klinik („Cancer Genetic Clinic“)54 oder spezielle Brustklinik besucht hatten und in (Hoch-)Risikogruppen eingeordnet waren (Robertson 2000, Scott et al. 2005), oder genetische Beratung bekamen (Hallowell 1999, Scott et al. 2005), aber (noch) keinen Gentest gemacht hatten.55 Aus diesen Studien lässt sich also nicht ableiten, wie es Frauen geht, die tatsächlich einen Test durchgeführt haben, welche Folgen das konkrete Wissen um eine Mutation für ihre Lebensführung hat, hinsichtlich sowohl bestimmter Maßnahmen als auch psychischer Folgen. Es lässt sich jedoch einiges darüber sagen, was es heißt, sich als Risikoperson zu fühlen, welche Motivationen zu einem Test führen können und wie Maßnahmen (Operationen, intensivierte Früherkennung) gesehen werden. 4.2.1 ‚Gründe‘ für die Untersuchung Passend zu den in den quantitativen Studien gemessenen erhöhten Angstwerten und Krebssorgen bei den am Test interessierten Frauen findet sich in den qualitativen Studien ein wiederkehrendes Phänomen: Die interviewten Frauen formulieren eine große Besorgnis, Krebs zu bekommen, und ein starkes Bedürfnis nach präventiven Maßnahmen (Robertson 2000, Gibbon 2006, Scott et al. 2005, Hallowell 1999). Anhand der qualitativen Untersuchungen lässt sich nun genauer ausdifferenzieren, in welchen narrativen Fi-

54 In Großbritannien wurde 2001 der Genetik im gesundheitspolitischen Plan für Krebsbehandlung und -forschung eine große Rolle eingeräumt und im ganzen Land spezielle „cancer genetic clinics“ eingerichtet (Gibbon 2006: 157). 55 Ausnahmen sind z.B. die Untersuchungen von Kaja Finkler (2000, 2003), Britta Pelters (2011, 2012), Emma Rowley (2007) und Lori d’Agincourt-Canning (2006), in denen (einige) Frauen bereits einen Test gemacht haben. Thomas Lemkes Zusammenfassung verschiedener Studien ist daher etwas irreführend, weil der Eindruck erweckt wird, in allen erwähnten Studien hätten die interviewten Frauen einen Gentest gemacht; siehe Lemke 2004: 74-76.

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guren sich solche Sorgen im Einzelnen artikulieren und auf welchen Kontext sie verweisen. Daher werden in den folgenden Unterkapiteln verschiedene Themenfelder, die man als ‚Gründe‘ ansehen könnte, differenziert, auch wenn sie sich nicht klar von anderen untersuchten Themenfeldern abgrenzen lassen. Ein Beispiel für die Untersuchung solcher Topoi ist die Studie von Ann Robertson, die Interviews mit nicht erkrankten Frauen geführt hat, die eine „Breast Health Clinic“ in einer städtischen Gegend von Kanada besucht haben (Robertson 2000). Drei wesentliche Topoi – „Brustsorgen“, das „Management von Unsicherheit“ und die individuelle Verantwortung, etwas zu tun – bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Kontrolle –, tauchten in den Interviewerzählungen immer wieder auf. Im Rahmen des ersten Topos wurde deutlich, dass Frauen, die von den Ärzten als „medium risk“ oder „high risk“ eingestuft wurden (ohne dass ihnen diese Einstufung mitgeteilt wurde)56, kontinuierlich von Sorgen über Brustkrebs begleitet wurden. Sie sahen sich selbst aufgrund von Fällen in der Familie als Risikoperson, viele empfanden Brustkrebs als unausweichliche Zukunft – ganz im Unterschied zu anderen Krankheiten wie HerzKreislauf-Erkrankungen, an denen ebenfalls Familienmitglieder gestorben waren. 4.2.1.1 Prävention als Verpflichtung und Recht Gerade der Vergleich zu anderen Krankheiten legt nahe, die Gründe für diese ständig präsente Sorge weniger mittels individualpsychologischer Korrelationen zu suchen. Stattdessen verortet Robertson sie im Kontext einer diskursiven Überbetonung des Brustkrebsrisikos. Brustkrebs werde in den Medien fälschlicherweise als „number one killer of women“57 dargestellt und laut Umfragen auch von Frauen so wahrgenommen (ebd.: 220). Auch Sarah Gibbon betont diesen Hintergrund und zieht außerdem eine

56 Die „medium risk“-Gruppe wurde einmal jährlich zur Kontrolle in die Klinik gebeten, die „high risk“-Gruppe halbjährlich. Nur die „high risk“-Frauen kamen für einen Gentest infrage, aber für Robertsons Studie wurden Frauen ausgeschlossen, die zu einem Gentest überwiesen worden waren, um weitere analytische Komplexität zu vermeiden (ebd.: 223). 57 Metaphorisch macht diese Aussage wiederum Sinn: Brustkrebs als Bedrohung ‚weiblicher Identität‘.

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Verbindung zum (feministischen) Gesundheits-Aktivismus, der mit zu einem größeren Bewusstsein („awareness“) von Brustkrebs beigetragen hat: „identities are increasingly being produced at the interface between health activism and scientific knowledge and medicine“ (Gibbon 2006: 161). Feministische Bewegungen waren mit daran beteiligt, dass Brustkrebs seit den frühen 1990ern im euro-amerikanischen Kontext von einer öffentlich kaum sichtbaren zu einer regelrecht „gehypten“ Krankheit wurde. Sie haben mit ihrer Forderung nach „Sichtbarkeit und Stimme“58 öffentliche Gesundheitskampagnen, die auf Früherkennung und „pro-aktives“ Verhalten zielten, befördert. Seit Ende der 1990er Jahre ist die präventive Krebspolitik in Großbritannien außerdem durch die Hervorhebung des genetischen Faktors charakterisiert. Den beschriebenen Ethos des „Gesundheitsbewusstseins“ und des „Rechts“ auf eine Untersuchung findet Gibbon auch in ihren Interviews mit Frauen einige Wochen vor ihrem ersten Termin in einer Cancer Genetic Clinic. In den Erzählungen der Frauen tauchen Fragmente des öffentlichen Gesundheitsdiskurses über Screening auf, Visualisierungstechnologien wie etwa Mammographien oder Gentests scheinen für manche eine geradezu alchemische Kraft zu verkörpern bezüglich des Wissens, das sie offenbaren können. Die meisten Frauen haben sich ‚pro-aktiv‘ verhalten und selbst um eine Überweisung in die Klinik bemüht. In ihren Äußerungen wie etwa in der Vorstellung von „not living in regret“ drückt sich eine Moral des Gesundheitsbewusstseins aus, die sowohl Verpflichtungen als auch Rechte mit sich bringt. Außerdem führt die Vorstellung von ‚genetischer Disposition‘ und Prävention dazu, dass gewissermaßen der Patientenstatus vorweggenommen, die Grenze zwischen Patient sein und ein Risiko haben, Patient zu werden, verwischt wird. Scott et al. (2005: 1870) wählen daher einen neuen Begriff für diese Personen: „Patienten-Klienten“ („patient-clients“). Eine Fallbeschreibung in der Studie von Gibbon soll noch hervorgehoben werden, da diese Frau sich anders darstellt, als alle anderen Interviewten: Statt möglichst viele Informationen zu wollen, ist sie eher unglücklich über weitere Untersuchungen, die ihr vorgeschlagen werden, obwohl sie sich völlig gesund fühlt. (Sie sollte ursprünglich von der bisherigen regelmäßigen Mammographie ausgeschlossen werden, da das Risiko nicht hoch

58 „Visibility and voice“ – hier wird der Brustkrebs-Aktivismus in Kanada zitiert (Gibbon 2006: 159).

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genug sei. Um dies zu bestätigen, wurde sie zur Cancer-Genetic-Clinic überwiesen. Dort wird ihr aufgrund vieler Darmkrebsfälle in der Familie eine Kolonoskopie angeraten.) Sie thematisiert, dass hier ein „Schneeballsystem außer Kontrolle“ am Werk zu sein scheint und befürchtet, hypochondrisch zu werden, ist aber offenbar gleichzeitig nicht in der Lage, weitere Früherkennungsmaßnahmen abzulehnen. Es wird deutlich, dass sich diese Frau tatsächlich zu solchen Maßnahmen verpflichtet fühlt und zwischen den Wünschen, eine gute aktive Patientin und gleichzeitig nicht hypochondrisch zu sein, ein innerer Konflikt besteht. Dies verweist auf den großen Druck, der besteht, sich als gute Klientin-Patientin zu präsentieren (Gibbon 2006: 164f.). 4.2.1.2 Bedürfnis nach Überwachung Sowohl bei Gibbon als auch in der Studie von Scott et al. wurde sogar von Klientinnen, die von den Ärzten in niedrige Risikogruppen eingeordnet wurden, ein starkes Bedürfnis nach präventiven beziehungsweise Früherkennungsmaßnahmen formuliert, die häufig mit feministischem Unterton als Recht geradezu eingefordert wurden.59 Gemäß der Studie von Scott et al. führte dies sogar zu dem Phänomen, dass als „low risk“-Eingestufte versuchten, in einen höheren Risikostatus zu kommen.60 Die Autoren erklären sich das vor allem über den Zugang zu Ressourcen im Gesundheitssystem: Nur die höheren Risikogruppen bekommen bestimmte Maßnahmen bezahlt, werden persönlich zur genetischen Beratung eingeladen, kommen in Screening-Programme. Von den Patienten-Klienten wird aber genau das gewünscht: Wendungen wie „to be cared for“, „to be monitored“, „being supervised“ etc. tauchen in den Interviews immer wieder auf. Statt erleichtert

59 Eine Frau erzählte beispielsweise: „The doctor he said to me 'well, you're only in your thirties and so if you're going to get it you're likely to be in your fifties' and I think what an attitude [...] it was like a sort of 'go away' attitude and I felt oh you're a blimming man and you haven't got a pair of boobs.“ (Gibbon 2006: 159) 60 In dieser Studie wurden Interviews mit 58 Besuchern einer Krebsgenetik-Klinik und dazugehörige klinische Konsultationen ausgewertet. Die „Patienten-Klienten“ hatten zum Zeitpunkt des Interviews bereits eine ärztliche Risikoeinschätzung für Brust-, Eierstock- oder Darmkrebs bekommen. Hier wurden Männer und Frauen interviewt.

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zu sein, fühlen sich viele Klienten und Klientinnen im Stich gelassen, wenn sie aufgrund einer niedrigen Risikoeinschätzung nicht mehr intensiv vom Gesundheitssystem überwacht werden. Auch die „high-risk“-Personen empfinden ihren Risikostatus eher positiv, weil sie sich so gut behandelt fühlen (Scott et al. 2005). Die große Nachfrage nach und der formulierte Anspruch auf Prävention, die ja eigentlich vom Ethos des Gesundheitsbewusstseins initiiert wurden, führen schließlich zu paradoxen Effekten, wie Gibbon erlebte: Ärzte sind oft gezwungen, Frauen wegzuschicken, die nicht die Hoch-RisikoKritierien erfüllen, beziehungsweise auf die Grenzen der Medizin und die Risiken bestimmter Behandlungen hinzuweisen. So erklärt ein Arzt etwa einer jungen Frau, dass man normalerweise nicht in diesem jungen Alter mammographiere, weil die Strahlung Brustkrebs verursachen könne. Auch die große Unsicherheit der Aussage des Gentests ist für die Ärzte ein Problem, das sie selbst thematisieren: Statt einer klaren Vorhersagemöglichkeit habe man mit den neuen Technologien nur eine „trübe Kristallkugel“ zur Verfügung (Gibbon 2005: 164). 4.2.1.3 Familienbezug und ‚weibliche‘ Fürsorge? Gibbon meint, in vielen dieser Phänomene ein genderspezifisches61 Gesundheitsverhalten zu erkennen. Schon in der „Brustkrebsbewegung“62 sei mit heteronormativen Kategorien gearbeitet worden, die das „Sorgen für andere“63 in den Vordergrund stellten, also an eine „weibliche Fürsorge“ appellierten. Das Recht auf medizinische Versorgung sei dabei immer an eine Vorstellung von Familie und Mutterschaft gekoppelt gewesen. Solche Vorstellungen finden sich auch in ihren Interviewaussagen, wenn Frauen den Klinikbesuch etwa als Mittel ansehen, „sich für die Zukunft um die

61 Soweit es aus Gibbons Darstellung deutlich wird, geht sie von einem (de)konstruktivistischen Gender-Begriff aus, der Gender – also die Geschlechtsidentität – im Sinne von Judith Butler (1991) als gesellschaftlich konstruierte, aber wirkungsmächtige Kategorie ansieht. Wenn also im Folgenden von „weiblicher Fürsorge“ oder Ähnlichem die Rede ist, wird hier auf den ideologischen Gebrauch dieser Begriffe im Diskurs und nicht etwa auf eine ‚essentielle Weiblichkeit‘ Bezug genommen. 62 „Breast cancer movement“ (Gibbon 2006: 161). 63 „Caring for others“ (ebd.).

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Kinder zu kümmern“64 oder dem Wunsch ihrer Mutter nachkommen wollen, „auf sich aufzupassen“. Auch Nina Hallowell (1999)65 hat in ihren Interviews immer wieder solche Bezüge gefunden: Häufig begründeten Frauen die Verantwortung für ihre Gesundheit mit ihren mütterlichen Aufgaben oder dem Wunsch, der Familie nicht krank und leidend zur Last zu fallen (ebd.: 111f.). Statt als autonome Akteure begreifen sich diese Frauen vielmehr als „Selbst in Beziehung“, als interdependente Individuen (ebd.: 109).66 Sie denken generationenübergreifend (z.B. im Topos der „Gene, die man weiterreicht an die Töchter“, der „Verpflichtung gegenüber der gestorbenen Mutter“, oder Ähnlichem) und lassen ihre eigenen Wahlmöglichkeiten durch Verpflichtungsgefühle gegenüber anderen einschränken, wenn sie etwa wegen ihrer Kinder trotz großer Bedenken eine genetische Beratung aufsuchen. Dieses intergenerationelle und familienbezogene Denken ist wiederum geradezu notwendig für die Praxis der genetischen Beratung und Testung, da diese auf Informationen (über Krebsfälle) und gegebenenfalls Blutproben aus der gesamten Familie angewiesen ist (Gibbon 2006: 161). Die Familienbeziehungen werden wiederum häufig durch diese Notwendigkeiten beeinflusst: Es werden Kontakte wiederaufgenommen, aber auch Druck ausgeübt, bestimmte Informationen weiterzugeben oder Tests zu unternehmen. Auch die Ärzte thematisieren es als Problem, dass hier häufig das Recht auf Datenschutz des einen Familienmitglieds mit dem Recht auf Information des anderen in Konflikt gerate (Gibbon 2006: 167).

64 „Looking after their children for the future“ (ebd.: 162). Ähnliche Aussagen hat auch Anne Brüninghaus (2011b) in einigen ihrer Interviews gefunden. 65 In Hallowells Studie wurden 40 bzw. 35 Frauen, die selbst keinen Krebs hatten, aber zu einer genetischen Beratung in die Cambridge Family History Clinic überwiesen worden waren, innerhalb von zwei Monaten und von einem Jahr nach dem Beratungsgespräch interviewt. Außerdem wurde das Beratungsgespräch beobachtet und analysiert. Diesen Frauen wurde in der Klinik kein Gentest angeboten, aber eine Einschätzung ihres familiären Risikos aufgrund des Stammbaums vorgenommen und weitere Maßnahmen wie intensiviertes Screening von Brust und Eierstöcken und prophylaktische Operationen besprochen (ebd.: 101f.). 66 Ähnliche Phänomene haben auch Lori d’Agincourt-Canning (2006) und Emma Rowley (2007) beobachtet.

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So plausibel die These zunächst erscheint, dass die Praktiken in der Brustkrebs-Genetik hervorragend mit einer Ideologie ‚weiblicher Fürsorge‘ und familienbezogenen Metaphoriken, auf die Frauen aufgrund ihrer Sozialisation besonders ansprechen mögen, ineinandergreifen, so fragwürdig ist sie doch, wenn sie nicht im Vergleich mit Szenarien anderer Gentests geschärft wird. Denn auch zum Beispiel im Fall von erblichem Darmkrebs, der genauso Männer betrifft67, besteht die Notwendigkeit, mit Familienangehörigen in Kontakt zu treten, für sie Informationen weiterzugeben etc. Interessant wäre hier eine vergleichende Untersuchung mit dem Fokus auf Fürsorge und Familienbezogenheit, die mögliche genderspezifische Codierungen herausarbeitet.68 Dies würde auch deutlicher machen, inwieweit es in den Diskursen und den subjektiven Verarbeitungen um Krebs geht und inwieweit spezifisch um die Brust als weibliches Merkmal und Sexualorgan. Die Studie von Britta Pelters (2011, 2012) macht demgegenüber auf die prinzipiell re-vergemeinschaftende und insbesondere refamiliarisierende Wirkung von Gendiagnostik mit ihrem Bezug auf die weitervererbten Gene aufmerksam. Gegenüber einer Betonung von individueller gesundheitlicher Selbstbestimmung zeigt sie am Beispiel verschiedener BRCA-positiver Familien, „dass individuelle Deutungen des Status ‚BRCA-positiv‘ als Ergebnis eines doppelten Kontextualisierungsprozesses zu verstehen sind, der auf einer komplexen wechselseitigen Beeinflussung des familialen und des Wissenskontextes beruht und in dessen Rahmen sowohl familiale Strukturen und Systeme als auch gesundheitliche Deutungs- und Handlungsmuster ‚überarbeitet‘ und gegebenenfalls revidiert werden müssen. [...] Auch Gesundheit stellt damit letztlich ein genuin soziales Projekt dar, dessen Entscheidungsbasis folglich eben nicht – wie dies immer noch im Zusam-

67 Wie schon erwähnt sind Männer bei einer BRCA-Mutation zwar auch von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Brustkrebs (etwa 7%) betroffen, da sich die Präventionsprogramme aber hauptsächlich an Frauen richten, stellt sich die Situation anders dar als bei Darmkrebs. 68 In der Darstellung von Scott et al. (2005), in der nicht zwischen Darm- und Brust- oder Eierstockkrebs oder Männern und Frauen differenziert wird, taucht das Thema der Verpflichtung gegenüber anderen leider nicht explizit auf.

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menhang mit genetischer Beratung anklingt – einem isolationistisch verstandenen Autonomiebegriff folgt.“ (Pelters 2011: 434)69

Die ganz unterschiedlichen Umgangsweisen verschiedener Familien veranschaulichen, wie die jeweiligen Familientraditionen und familiären Deutungsmuster das Verständnis von Krankheit und den Umgang mit ihr beeinflussen, umgekehrt aber auch (genetische) Krankheit die Familienkonstellationen umstrukturieren kann. 4.2.2 Subjektive Krankheitstheorien und Vorstellungsbilder Die Studien beschreiben außerdem verschiedene von den Befragten formulierte Theorien über Krebsentstehung. In der Untersuchung von Scott et al. war ein häufiges Motiv in sogenannten Eigen- oder Laientheorien, dass auch bei vorhandener Mutation andere Faktoren für die Krebsentstehung hinzukommen müssen (Scott et al. 2005: 1875). Die Autoren interpretieren dies als Normalisierung des genetischen Risikos, dem ein Platz neben anderen Risikofaktoren zugewiesen wurde. Für viele ergab sich daraus auch das Gefühl, eine gewisse Kontrolle über oder eine Einflussmöglichkeit auf den Krankheitsausbruch zu haben. Als andere Faktoren wurden Schädigungen des Körpers, belastende Lebensereignisse oder auch bestimmte Persönlichkeitseigenschaften angesehen. Gerade der Faktor Stress beziehungsweise die Psyche, also eine im weitesten Sinne psychosomatische Erklärung, wurde in den Laientheorien häufig betont, obwohl (anders als in meiner Untersuchung) die Ärzte diese Faktoren als nicht relevant bezeichneten (Scott et al. 2005: 1875). In der Studie von Hallowell finden sich ähnliche Ergebnisse: „One woman, for example, subscribed to the theory that cancer

69 Auch wenn Pelters zuzustimmen ist, dass Krankheit sozial verstanden werden sollte, bekommt man den Eindruck, dass hier vor allem die gemeinschaftliche, nämlich die familiäre, weniger dagegen die gesellschaftliche Dimension von Krankheit betrachtet wurde. Diese stark biographieorientierte Deutung stand in meiner Untersuchung nicht im Vordergrund der Fragestellung, daher wird im Folgenden wenig Bezug auf diese Ergebnisse genommen. Die veröffentlichte Doktorarbeit (Pelters 2012) konnte wegen des Erscheinens kurz vor Drucklegung dieses Buches zudem nur noch oberflächlich zur Kenntnis genommen werden.

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was caused by the interaction of stressful events with certain personality types.“ (Hallowell 1999: 105) Andere Beobachtungen hat Finkler gemacht: „While geneticists may speak of multifactorial causalities and people may, indeed, consider various explanations, in the end most of the women I interviewed emphasized genetic inheritance, a unicausal reductionist explanation that is readily comprehended.“ (Finkler 2000: 6)70

Die Studien beschreiben außerdem bestimmte Vorstellungsbilder von Krebs, die von den Betroffenen formuliert werden. In der Untersuchung von Hallowell nannten Frauen Krebs einen „silent killer“, der „den Körper auffrisst“71. Vielen erschienen ihre Brüste als heimtückische Körperteile, die sie in der Zukunft sabotieren könnten – der Begriff der Zeitbombe tauchte wiederholt auf. Dies macht deutlich, dass das genetische Risiko körperlich situiert wird und zu einer schon vor jeder Erkrankung wirksamen Distanzierung vom Körper führen kann. 4.2.3 Risikowahrnehmung Ein zentraler Topos des in Kapitel 3.1 beschriebenen Diskurses ist das Management von Risiken. Interessant ist nun, in welcher Weise „Risiko“ in den Erzählungen der Frauen auftaucht. Während die oben dargestellte quantitative Forschung zur Risikoeinschätzung im Wesentlichen untersucht, ob die Risikoziffern, die Frauen sich selbst zuschreiben, mit dem ‚tatsächlichen‘, medizinisch berechneten Risiko übereinstimmen, kann in offenen Interviewverfahren untersucht werden, inwiefern sich Frauen überhaupt in Begriffen von Risiko beschreiben. Die Ergebnisse sind hier unterschiedlich: Während die meisten Frauen in Hallowells Interviews ihr Risiko eher in absoluten als in probabilistischen Begriffen beschrieben (also auch wenn sie eine Risikoeinschätzung von beispielsweise 20% bekamen, weiterhin dachten, sie würden sicher

70 Nicht ganz klar wird in Finklers Darstellung, wie dies mit der Tatsache zusammengeht, dass die Frauen das Gefühl haben, etwas gegen den Krebs tun zu müssen. 71 „Eats away at your body“ (Hallowell 1999: 104).

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Krebs bekommen), scheint es für die meisten Frauen in Robertsons Studie selbstverständlich, über sich selbst in Prozentzahlen zu reden. Wie oben bereits beschrieben, war ein wiederkehrender Topos in den Interviews das „Management der Unsicherheit“: Während für einige Frauen die Unsicherheit etwas zu Akzeptierendes war, weil selbst die Ärzte nicht Bescheid wüssten, war die häufigste Strategie, diese Unsicherheit zu „managen“, sich selbst einen numerischen Risikostatus zuzuweisen und diesen kontinuierlich aufgrund neuer Informationen oder der Einschätzung des eigenen Verhaltens anzupassen.72 Sie beschreiben die Zukunft ihres Körpers also tatsächlich – wie das im letzten Kapitel als Modell des Diskurses analysiert wurde: wie ein nutzenmaximierender Unternehmer – in den Begriffen eines Risikokalküls. Der Gentest ist für diese Frauen eine Möglichkeit unter anderen, das Risiko genauer zu bestimmen und ihre Handlungen daran zu orientieren. 4.2.4 ‚Konsequenzen‘ der Untersuchungen Da in den meisten dargestellten Studien die befragten Frauen (noch) keinen Gentest gemacht hatten, können hier nicht wie bei den quantitativen Studien die direkten Folgen eines Tests wiedergegeben werden. Es wurde aber aus dem bisher Dargestellten deutlich, wie sehr die Frage eines Gentests in ein allgemeines Setting von Prävention und Risiko eingebettet ist. Da sich die untersuchten Frauen auch schon vor dem Test als Risikopersonen fühlen, sind Möglichkeiten der Risikominimierung, die sie jetzt schon betreiben oder bei einem positiven Testergebnis wählen würden, zentrales Thema in den Interviews. Bei den Entscheidungen für diese Maßnahmen kann in den qualitativen Interviews deutlicher werden, warum Frauen diese oder jene Präventionsmaßnahme ergreifen und was für Folgen das für sie hat. Die quantitativen Daten hatten schon gezeigt, dass Frauen selbst nach so drasti-

72 So erklärt zum Beispiel eine Frau: „So when I first went to that meeting they said what was your risk, and I said well I'm told my risk is twenty per cent and they said well what do you feel your risk .... And I went well, forty or fifty, you know. And now I think it's closer to twenty. Just because of what I am doing ... I'm taking a lot better care of my body than any of my predecessors did.“ (Ebd.: 226, Hervorheb. und Auslassungen im Orig.)

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schen Maßnahmen wie prophylaktischen Operationen nicht unbedingt beruhigter sind, dass sich der Kontrollwunsch nicht erfüllt. Was das konkret bedeutet und wie das Phänomen einzuordnen ist, dass viele trotzdem im Nachhinein die Operation als richtig ansehen, soll in den folgenden Unterkapiteln auch am Beispiel von Einzelfällen genauer untersucht werden. 4.2.4.1 Management des Risikos und Kontrolle In allen Studien sprachen die Frauen nicht nur über ihre Verantwortung, einen Test zu machen, sondern auch darüber, risikominimierende Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Robertson nennt diesen Topos „playing the odds“: die individuelle Verantwortung, etwas zu tun, bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass keine Kontrolle möglich ist. „Nearly every woman in this study talked about the individual responsibility that she and all women have for reducing their personal risks for breast cancer. This was always framed in terms of individual responsibility at the level of lifestyle behaviours such as diet, smoking and alcohol consumption, behaviours which they were well aware of as ‘risk factors’ for breast cancer.“ (Robertson 2000: 226f.)

Die Frauen versuchen, ihren Lebensstil entsprechend zu ändern oder reden über ihr schlechtes Gewissen, wenn sie sich einmal nicht daran halten. Manche beziehen den angenommenen Nutzen dieser Maßnahmen zur Verhinderung von Krebs in den Interviews sogar in die prozentuale Einschätzung ihres Risikos ein.73 Interessanterweise wurde von den meisten Frauen in der Studie von Robertson auch die Umweltverschmutzung als wesentlicher Faktor für die steigende Brustkrebsgefahr genannt, aber keine von ihnen redete über kollektive Gegenstrategien wie etwa politisches Engagement.74 Robertson interpretiert dieses Risikomanagement als Ausdruck einer bestimmten Subjektivität, wie sie auch hier als Postulat des Diskurses beschrieben wurde: Geradezu idealtypisch verkörpern beziehungsweise inkorporieren diese Frauen die „neoliberale Rationalität“ eines unternehmeri-

73 Siehe letzte Fußnote. 74 Ungewöhnlich ist, dass das Thema Umweltverschmutzung überhaupt auftaucht, da es in sonst keiner Interviewstudie erwähnt wird, genau wie es auch im BRCA-Diskurs ausgeblendet ist.

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schen Subjekts. Sie managen die Unsicherheit, indem sie einen (unsicheren) Pakt mit ihrem hinterhältigen Körper zu schließen scheinen (ebd.: 230f.). Gegenüber diesem als autonom konzipierten Unternehmersubjekt betont Hallowell auch hier das interdependente Selbst. Die Frauen in ihrer Studie gehen aus einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber sich und anderen nicht nur zur Beratung, sondern nehmen auch weitere Untersuchungen und Maßnahmen auf sich, die sie selbst als peinlich, unangenehm und schmerzhaft empfinden. In den Interviews ein Jahr nach der genetischen Beratung hatten sich fast alle Frauen um Mammographie- und Ultraschallscreening bemüht, eine Frau erwog eine prophylaktische Mastektomie und vier Frauen hatten inzwischen eine Ovarektomie in Verbindung mit einer Hysterektomie (Gebärmutterentfernung) durchführen lassen. Hallowell betont, dass die interviewten Frauen schon bevor sie überhaupt die Klinik aufsuchten, vom Diskurs der neuen Genetik, der sie als Risikopersonen („at risk“) definiert, und von ihrem Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie so alarmiert waren, dass sie sich selbst gegen die konkreten Empfehlungen der Ärzte für weitere Maßnahmen entschieden. (Da keine von ihnen eine „Bestätigung“ des erhöhten Risikos in Form eines positiven Gentests hatte, hielten die Genetiker diese Maßnahmen zu dem Zeitpunkt nicht unbedingt für sinnvoll.) Zwar empfanden die Frauen ihr Risikomanagement möglicherweise als Zuwachs an Stärke beziehungsweise Macht („empowering“), sie bezahlten aber eventuell einen hohen Preis für die Übernahme genetischer Verantwortung, nämlich erhebliche Einschränkungen ihrer Fruchtbarkeit, ihrer Sexualität oder ihres Körpergefühls. Ähnlich wie in den quantitativen Studien erklärten auch in Hallowells Studie alle Frauen, die prophylaktische Operationen vorgenommen hatten, im Nachhinein, sie wären damit zufrieden, obwohl sie zum Teil unangenehme hormonelle Nebenwirkungen erlebten. So erzählt zum Beispiel eine Frau: „I’ve got no regrets about having a hysterectomy... – it’s the best thing I’ve ever had done... it’s just – I just feel normal again. I don’t, I don’t think about I’m going to die soon and I don’t have all those fears any more.“ (Hallowell 1999: 113, Auslassungen im Orig.)

Offenbar gibt die rechnerische Risikoreduktion dieser Frau tatsächlich das Gefühl, wieder „normal“ zu sein, also nicht mehr mit der ständigen Vorstel-

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lung des nahen Todes zu leben. Anders als in manchen quantitativen Studien (siehe oben) haben sich die Ängste zumindest laut eigener Angabe tatsächlich reduziert. Über eine mögliche beschönigende Darstellung oder ambivalente Einschätzung schreibt Hallowell allerdings nichts. Sie findet es offenbar glaubwürdig, dass es den Frauen subjektiv besser geht. Interessante Phänomene schildert zudem Pelters (2013) anhand einiger Einzelfälle: Im Gegensatz zu ihrer Beobachtung des biomedizinischen Diskurses, in dem prophylaktische Operationen wenn auch empfohlen, so doch stets in Form eines Verlustes an Weiblichkeit beschrieben werden, stellen einige der von ihr interviewten Frauen diese Operationen nicht nur als Gewinn an Kontrolle, sondern auch als positive Möglichkeit dar, bestimmte Begrenzungen ihres Körpers zu überwinden (etwa die Last der Menstruation) und eine für sie passendere Form von Weiblichkeit zu entwickeln. Pelters sieht hierin auch Potentiale für queere Gender-Konzepte. Auch in dieser Studie erfährt man allerdings nichts über Ambivalenzen in dieser Selbstdarstellung als „empowered“. Einen besonderen Fall beschreibt Kaja Finkler in ihrer Studie75: Eine von Finkler befragte Frau erzählte gleich zu Anfang des Interviews, dass sie ein interessanter Krebsfall sei, weil sie Brustkrebs ohne Brüste bekommen habe: Trotz einer prophylaktischen Mastektomie bildete sich ein Knoten am Brustbein. Die Frau war aufgrund ihrer Familiengeschichte sicher gewesen, später Brustkrebs zu bekommen und entschied sich wegen häufiger Knoten schließlich zu einer Totalamputation. Danach war sie überzeugt, keinen Krebs mehr bekommen zu können und ignorierte zunächst auch den Knoten. Diese Frau sah die Entfernung der Brüste offenbar als wirksame Kontrollmöglichkeit an, auch wenn genau diese Illusion enttäuscht wurde. Allerdings macht sie für den Krebs ihren Arzt verantwortlich, der sie falsch informiert habe. Wenn sie gewusst hätte, dass sie trotz der Operation noch Brustkrebs bekommen könne, hätte sie nie einer Hormonersatztherapie mit Östrogen zugestimmt, die ihrer Ansicht nach den Brustkrebs hervorgerufen hat. Die Vorstellung, Krebs durch geeignete Maßnahmen verhindern zu können, besteht also weiter.

75 Finkler hat in ihrer Studie Tiefeninterviews mit gesunden Frauen mit einer Brustkrebs-Familiengeschichte und „Brustkrebsüberlebenden“ geführt (Finkler 2003, Finkler 2000).

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4.2.4.2 Kontrolle als Illusion Für viele Frauen besteht also eine klare Verbindung zwischen dem Wissen um das Risiko und der Möglichkeit, es durch bestimmte Maßnahmen zu kontrollieren.76 Andererseits wird aber auch häufig thematisiert, dass man viele Risikofaktoren nicht beeinflussen kann und letztlich keine vollständige Kontrolle über die Krankheit habe. In der kanadischen Studie formuliert eine Frau: „So really in the final analysis it’s probably—I bet—/ would be willing to bet that women don’t have as much control over [getting breast cancer] as they’d like to think.“ (Robertson 2000: 227)

Andere Frauen erzählen Geschichten von Bekannten, die trotz vorbildlichem Präventionsverhalten an Brustkrebs gestorben seien. Paradoxerweise sehen sich dieselben Frauen dennoch zur Minimierung der Risiken verpflichtet. Auch in den Fallbeispielen von Finkler wird deutlich, dass viele Frauen trotz der Erfahrung und des Wissens, dass es nicht unbedingt hilft, an der Notwendigkeit eines Risikomanagements festhalten. Finkler erklärt dies in Anlehnung an Bourdieu mit einer für jeden Menschen notwendigen „Illusio“, die dem Leben einen Sinn gibt und vor der Einsicht in dessen Kontingenz und Absurdität schützt (Finkler 2003: 62). Sie analysiert mit Bezug auf Dorothy Nelkin und Lily Kay, dass die Genetik gegenwärtig religiöse Funktionen übernehme und ähnlich wie die Prädestinationslehre funktioniere. Sie macht eine Paradoxie auf zwischen moderner Wissenschaft, die die Kontrolle über das Leben von den Göttern zu den Menschen verlagert habe, und dem Weiterbestehen eines Schicksals-

76 So wird es z.B. in der Studie von Scott et al. in einem Interview ausgedrückt: „You may have the gene, but provided you are educated you may be able to prevent that gene from developing into anything. And that I think is what the key is, that you have the knowledge... I just think you are taking control of things as opposed to sweeping it under the carpet, and don't talk about it... At least you are informed and you are taking precautions.“ (Scott et al. 2005: 1874, Auslassungen im Orig.)

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glaubens77: An diversen Zitaten von Genetikern macht sie deutlich, dass in der genetischen Vererbung die christliche Prädestinationslehre naturalisiert wiederauftauche. In ihrem Interviewmaterial wird von einigen Frauen sogar explizit in einem religiösen Sinne mit Prädestination argumentiert, parallel dazu aber mit der Notwendigkeit, durch Selbstmanagement die Krankheit zu verhindern. Diesen Glauben an das genetische Risiko und dessen Kontrolle betrachtet Finkler als einen Sicherheitsanker, der deutlich religiöse Züge trägt (Finkler 2003: 58-67). 78 Präziser könnte man von einem „ungeglaubten Glauben“ (Adorno 1962: 176), sprechen: dem verzweifelten Festhalten an etwas, an das man selbst nicht glaubt – hier, an dem Versprechen der aufklärerischen Medizin, den Körper kontrollieren zu können. Dieser Glaube funktioniert wie eine Tretmühle, in der sich die Menschen ohne Ergebnis abstrampeln, ohne jemals dem Ideal eines ewig gesunden und fitten Körpers gerecht werden zu können (Treusch-Dieter 1995: 150). Vor dem Hintergrund dieses Ideals ist die Säuberung des weiblichen Körpers durch die Entfernung ‚gefährlicher‘ Körperteile und deren Ersetzung durch Silikonimplantate nur die logische Konsequenz und nicht etwa eine ‚hysterische‘ Überreaktion. Diesen ungeglaubten Glauben affirmieren Kenen et al. (2003a, b) unter dem Begriff des „Coping“: Für Frauen sei es wichtig, Wahlmöglichkeiten zu haben, da sie diese mit Kontrolle gleichsetzten. Um ein Leben ohne die ständige Dominanz von Krebsängsten zu führen, sähen viele einen gesunden Lebensstil, Stressreduktion und die Teilnahme an Screeningprogrammen als besten Weg an (Kenen et al. 2003a: 315). Die Autoren verweisen auf Studien, die (bezüglich anderer Krankheiten) einen positiven psychischen und medizinischen Effekt der Illusion der Kontrolle erwiesen hätten und die ethische Frage aufwürfen, ob es in Anbetracht dessen nicht ratsam sei, Frauen eher einen großen Nutzen der Präventionsmaßnahmen vorzugaukeln, statt sie mit statistischen Details über den beschränkten Nutzen zu konfrontieren (Kenen et al. 2003b: 858f.).

77 Sie betrachtet die Wissenschaft dabei als „Mythos“, der allerdings anders als vormoderne Mythen funktioniere: Statt der Götter kontrollierten die Menschen das Leben. 78 Allerdings lässt sie den Unterschied zwischen Prädestination und der wissenschaftlichen Kontrollmöglichkeit durch Management am Ende unter den Tisch fallen, wenn sie genetisches Erbe mit Prädestination gleichsetzt.

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Es bleibt aber hier wie auch in den anderen bisher dargestellten Studien letztlich offen, wie effektiv die Kontrollillusion tatsächlich ist. Das liegt zu einem Teil daran, dass in den meisten zitierten Studien die Frauen noch mitten im Prozess der genetischen Risikodiagnostik sind und das „Management“ sich noch eher im Bereich von Überlegungen und Einschätzungen befindet. Zum anderen Teil war diese Frage offenbar aber auch nicht im Fokus der Interviewauswertung. Für meine eigenen Interviews im nächsten Teil soll aber dieses Thema anhand von Nuancen, Subtexten und Widersprüchen in den Erzählungen genauer angeschaut werden. Neben der Frage, ob manche Entscheidungen von den Frauen aus Gründen der psychischen Kohärenz zu positiv bewertet werden, ist die Möglichkeit einer Selbstinszenierung gegenüber der Interviewerin als „ideale PatientinKlientin“, die „gut mit ihrer Situation klarkommt“, in den dargestellten Studien wenig berücksichtigt – und damit die Möglichkeit, dass die Aussagen der Frauen mehr über den gesellschaftlichen Druck, sich entsprechend darzustellen, als über ihr tatsächliches Wohlbefinden mitteilen. Ich werde versuchen, solche Ambivalenzen in den Selbstinszenierungen durch entsprechende rekonstruktive Analyse aufzudecken.

4.3 F AZIT In diesem Kapitel (4) wurde deutlich, dass sich die Frage des Gentests nicht von einem allgemeinen Diskurs über „Brustkrebsrisiko“ abtrennen lässt. Die qualitativen Interviewstudien, die meist Frauen befragten, die noch keinen Test gemacht hatten, zeigten, dass sich die Frage, sich für oder gegen einen Gentest zu entscheiden, immer schon vor dem Hintergrund einer allgemeinen Risikodiskussion stellt. Es haben sich in allen Interviews immer wieder Topoi des allgemeinen BRCA-Diskurses gezeigt. Bezüglich der Frage, inwieweit sich die Präventionsideologie dieses Diskurses tatsächlich durchgesetzt hat, lässt sich festhalten, dass in den hier untersuchten Stichproben eine große Besorgnis beziehungsweise ein regelrechter Alarmismus in Bezug auf erblichen Krebs gegeben ist. Neben einem Gesundheitsethos, das, wie es für die „ideale Patientin“ im Kapitel 3 dargestellt wurde, durch aktive Übernahme von Verantwortung für die eigene Gesundheit gekennzeichnet ist, zeigt sich allerdings gleichzeitig ein starkes Bedürfnis nach medizinischer Betreuung, die auch als Recht eingefordert wird. Diese Seite

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des großen Vertrauens in Gesundheitstechnologie und fürsorgliche Expertenbetreuung bleibt in anderen Darstellungen häufig unterbelichtet, wenn im Kontext einer „neoliberalen“79 Eigenverantwortung von „Laien-Experten“ etc. die Rede ist, siehe zum Beispiel Novas/Rose 2000: 505.80 Zusätzlich wurde deutlich, dass die Präventionsideologie nicht fraglos aufgenommen wird, sondern dass sie häufig zugleich infrage gestellt und letztlich doch befolgt wird. Sie scheint wie ein „ungeglaubter Glaube“ zu funktionieren. Außerdem ergab sich, dass offenbar ein gewisser Druck besteht, sich selbst als „gute Klientin“ darzustellen, was eine Skepsis gegenüber expliziten Interviewaussagen und ein genaueres Achten auf Subtexte nahelegt. Aus der Sicht der quantitativen Studien erscheint die Entscheidung für einen Test als einzig rational für das Individuum: Wenn man sowieso schon als Risikoperson gilt, kann sich der eigene Status quasi nur verbessern, denn der Test könnte ergeben, dass man die Mutation nicht hat und in die Gruppe mit durchschnittlichem Risiko entlassen wird. Dies wird auch durch einige Ergebnisse der quantitativen Studien gedeckt, wonach sich die meisten Frauen kurze Zeit nach dem Test besser oder zumindest nicht schlechter

79 Oder, wie bei Niklas Rose und Carlos Novas formuliert: „fortgeschritten liberal“, bzw. „advanced liberal“: z. B. Novas 2000: 77, Rose 2000: 78. 80 Zwar weisen Rose und Novas an anderer Stelle selbst auf ein Zusammenspiel von autoritären Kanälen und Eigenengagement hin: „In part, of course, the languages that shape citizens self-understandings and self-techniques are disseminated through authoritative channels – health education, medical advice, books written by doctors about particular conditions, documentaries on television that chart individuals coping with particular conditions. [...] But the contemporary biological citizen sits at the intersection between these more or less authoritative endeavours and a variety of other flows of information and forms of intervention. Or perhaps, ‘sits’ is the wrong term – for even while sitting, an active scientific citizenship is increasingly enacted, in which individuals themselves are taking a dynamic role in enhancing their own scientific – especially biomedical – literacy. They are doing this using a variety of media, but most notably through linking up with support groups – often now through the use of the Internet.“ (Rose/Novas 2005: 446) Aber wie im zweiten Teil des Zitats deutlich wird, überwiegt deutlich die Seite der Eigenverantwortung selbstbewusster Subjekte. Dies wird auch in Bezugnahmen auf Novas und Rose meist hervorgehoben, etwa bei Robertson 2000.

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fühlen als vor dem Test. Verlässt man aber diese individualpsychologische Sicht, dann lässt sich nicht mehr der Schluss ziehen, der Test sei zu begrüßen; denn erst durch die Konzentration des Diskurses auf genetische Faktoren ist ja der (wie im Kapitel 3 gezeigt: fragwürdige) „Risikostatus“ entstanden, der zur Alarmierung dieser Frauen beiträgt.

5. Zum Subjekt der Gene werden? Selbstbeschreibungen in Interviews

Nachdem im letzten Kapitel die Forschungsliteratur zum Umgang mit BRCA-Gentests zusammengefasst wurde, stehen im Folgenden meine Interviews mit Frauen, die im Rahmen des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ einen Gentest gemacht haben, im Vordergrund. Der Kontakt zu den sieben Frauen wurde durch die Unterstützung eines humangenetischen Beraters vermittelt, der ebenfalls von mir interviewt wurde. Er fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, ein solches Gespräch mit mir zu führen. Sieben Frauen nahmen sich die Zeit dafür und ließen mich teilhaben an ihren Erfahrungen, ohne die diese Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Wie im Kapitel 2.3 beschrieben, konnte ich so eine Reihe von Beispielen zusammenstellen, die nach bestimmten SamplingKriterien möglichst kontrastiv sein sollten. Kriterien waren unterschiedliche Altersgruppen, Berufe und Untersuchungsergebnisse, außerdem sollten sie von verschiedenen Beratern des Instituts beraten worden sein. Alle Frauen waren selbst nicht an Krebs erkrankt, hatten aber viele Fälle von Brust- und Eierstockkrebs in der Familie. Die Mitteilung des Testergebnisses sollte zudem schon mindestens ein Jahr vergangen sein, um einen Eindruck von langfristigeren Konsequenzen der Untersuchung zu bekommen. Alle Interviews wurden im Zeitraum zwischen 2004 und 2005 geführt. Je nach dem Wunsch der Frauen fanden sie meist bei ihnen zuhause statt; ein Gespräch wurde im Büro der humangenetischen Beratungsstelle geführt; in einem Fall bot sich an, das Interview in der Wohnung eines Freundes zu führen. In der folgenden Darstellung werden ähnliche Phänomene auftauchen, wie sie in der zusammengefassten Forschungsliteratur beschrieben wurden.

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Einzelne Aspekte werden vertieft betrachtet. Die gewählte Interpretationsmethode legt einen Schwerpunkt auf die interaktive Selbstdarstellung der Interviewten und untersucht also inhaltliche Aussagen immer auch in Hinblick auf ihre Rolle in der Selbstinszenierung. Die Frage nach Subjektivierungsweisen hat immer diesen Anteil des Performativen; in Interviews ist diese Performanz jedoch durch die Aufforderung, von sich zu erzählen, besonders deutlich. Vermutungen, die im letzten Kapitel aufgetaucht sind, wie etwa die Funktion mancher Aussagen zur Selbstinszenierung als ‚gute Patientin-Klientin‘, können mit dieser Methode beleuchtet werden. Wie oben dargestellt, orientiere ich mich methodisch bei der Interpretation am rekonstruktiv-hermeneutischen Ansatz von Lucius-Hoene und Deppermann (2002), die davon ausgehen, aus Interviews die „narrative Identität“ von Individuen rekonstruieren zu können. Nach einer Einstiegsinformation über mein Forschungsinteresse sowie über Anonymisierung und Umgang mit den Interviews, war meine Eingangsfrage in den teilstrukturierten Leitfadeninterviews (leicht variierend): „Als erstes interessiert mich, wie es denn dazu gekommen ist, dass Sie einen Gentest gemacht haben?“ Daraufhin entstand meist eine erste längere Erzählung. Dann wurden weitere Fragen zum Verlauf und den Folgen der Studie gestellt.1 Die auf diese Weise entstandenen Interviews bilden die Grundlage meiner Auswertung wie sie in Kapitel 2.3.3 erläutert wurde: Ich arbeite heraus, ob und wie sich die Frauen mir gegenüber als Subjekte ihrer Gene darstellen. Wie schon erwähnt, ist ein wichtiges Instrument dafür die Analyse von Agency, also wie die Erzählerin Handlungsmöglichkeiten, Handlungsinitiativen und Behandelt-werden in Hinblick auf die erzählten Ereignisse sprachlich darstellt (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 59ff.). Zunächst werden hier in kurzen Fallbeschreibungen die sieben Interviewten anhand einiger biographischer Informationen und auffälliger zentraler Themen vorgestellt (5.1). Dann werden verschiedene Themenfelder der Interviews im fallübergreifenden Vergleich dargestellt (5.2). Die Frage der „Subjektivierung“ zum Subjekt der Gene wird hier ausdifferenziert in verschiedene Bereiche. Für den BRCA-Diskurs war oben festgestellt worden, dass dort die Begriffe „Risiko“, „Gen“, „Entscheidung“ und „Information“ zentral sind, dass außerdem ein Verhältnis der „Vertragspartnerschaft“ zwischen Ärzten und Patienten-Klienten postuliert wird. Unter an-

1

Vgl. den Leitfaden für die Interviews mit den Frauen im Anhang.

SELBSTBESCHREIBUNGEN IN INTERVIEWS | 161

derem durch die Leitfragen des Fragebogens habe ich versucht, die Widerspiegelung dieses Idealbildes des Diskurses in den Interviews und somit seine „Durchsetzung“ bei den befragten Individuen beziehungsweise seine Wirkung für die Subjektkonstitution zu überprüfen. Manche der Begriffe waren in Fragen des Leitfadens eingebaut, andere sollten gerade nicht durch die Fragen suggeriert werden (etwa: die „Entscheidung“ für den Test; stattdessen wurde gefragt, „wie es dazu kam“). Vielmehr sollte aus den Erzählungen der Frauen herausgefunden werden, wie hier Agency zugeteilt wird, also wessen Handlungsmöglichkeiten und -initiativen beschrieben werden. Für den Begriff „Risiko“ hat sich außerdem im Verlauf der Befragungsphase gezeigt, dass er für einige Frauen zentral ist und spontan häufig genannt wird, ohne dass konkret danach gefragt wurde. Die Analyse der Subjektivierung habe ich in der Kapiteleinteilung folgendermaßen bezüglich der verschiedenen diskursiven Begriffe aufgliedert: In Kapitel 5.2.1 ‚Entscheidung‘ und Verhältnis zu Ärzten wird zunächst der Begriff der Entscheidung selbst unter die Lupe genommen, um zu überprüfen, was die „informierte Entscheidung“ für den Gentest subjektiv bedeutet. Es wird untersucht, wie die Frauen mit vergangenen Ereignissen umgehen, wie sie den Gentest und eventuell darauf folgende Maßnahmen darstellen, welche Agency dabei auftaucht. Erscheint die Erzählerin in der rückwärtigen Selbstbeschreibung überhaupt als handelndes Subjekt, das Entscheidungen getroffen hat? Eng daran geknüpft ist das Verhältnis zu Ärzten: Es wird sich zeigen, dass in manchen Erzählungen nicht so sehr die Interviewten handeln, sondern vielmehr die Ärztinnen und Ärzte. Wie beschreiben sich die Frauen in der Interaktion? Wie ist ihre Selbstpositionierung im medizinischen System? Dies könnte man den interaktiven Aspekt der Agency nennen. In Kapitel 5.2.2 Gründe für den Test und Wahrnehmung als Risikoperson geht es um die Frage, mit welchen Motiven Frauen den Gentest machen. Welche Gründe nennen sie; inwieweit haben sie das Konzept des ‚erblichen Risikos‘ beziehungsweise der ‚Hochrisikofamilie‘ internalisiert; sehen sie sich als Risikoperson und wenn ja: seit welchem Zeitpunkt? In den Kapiteln 5.2.3 Vorstellungen vom Gen und 5.2.4 Subjektive Krankheitstheorien wird untersucht, welche Vorstellungen vom Gen und vom Zusammenhang zwischen dem Gen, anderen möglichen Ursachen und der Krankheit die Frauen äußern und welche Ideen und Konzepte aus dem BRCA-Diskurs hier auftauchen.

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In Kapitel 5.2.5 Management und Kontrolle der Krankheit wird der objektbezogene Aspekt der Agency verhandelt: Wird das Verhältnis zu einer möglichen Erkrankung so dargestellt, dass diese etwas mit eigenen Handlungen zu tun hat, also kontrollierbar ist? Wird die Krankheit also als „Risiko“ im Sinne Luhmanns2 begriffen? Im Unterschied zum Kapitel 5.2.1 Entscheidung geht es hier mehr um die Einstellung der interviewten Frauen zu der Frage, ob Krebs generell vermeidbar ist oder nicht, als um die Selbstwahrnehmung im Prozess des Selbstmanagements. Die Übergänge zum Kapitel Entscheidung sind allerdings fließend, wenn die gewählten Präventionsmaßnahmen geschildert werden. Für die meisten besprochenen Themenfelder werden unterschiedliche Arten der Wahrnehmung und Rezeption dieser Themenfelder oder Kategorien deutlich. Es wird sich zeigen, dass alle Frauen, die jeweils bezüglich einer Kategorie eine ähnliche Umgangsweise zeigten, sich auch bezüglich anderer Kategorien ähnlich verhielten. Daher erscheint es sinnvoll, von verschiedenen Typen zu sprechen. Wie schon im Methodenteil ausgeführt, werden Typen hier nicht als bloß zufällige Kombination verschiedener Merkmale verstanden, sondern als Einheit bestimmter Züge, zwischen denen sich theoretisch ein systematischer Zusammenhang herstellen lässt. Grob lassen sich die Selbstbeschreibungen in zwei Typen einteilen. Der erste Typus wird im Folgenden als „informierte Risikomanagerin“ bezeichnet, während der zweite „ratsuchende Klientin“ genannt wird. Die gewählte Typisierung soll hier vorab kurz erläutert werden, die ausführliche Darstellung der charakteristischen Merkmale erfolgt in den thematischen Unterkapiteln. Während die Selbstbeschreibungen der ersten Gruppe in vielen Punkten tatsächlich dem Bild der „idealen Patientin-Klientin“ gleichen, wie es sich im BRCA-Diskurs zeigt, erscheinen die Interviewpartnerinnen der anderen Gruppe in ihren Erzählungen nicht als aktive Subjekte, die sich informieren und daraufhin Entscheidungen treffen. Auch wird die Genmutation von ihnen nicht so sehr als handhabbares Risiko dargestellt, sondern als unberechenbare Gefahr. Insbesondere bezüglich des Verhältnisses zu den Ärzten (Kapitel 5.2.1) unterteilt sich dieser Typus der „ratsuchenden Klientin“ noch in zwei Varianten, die sich durch die Zitate „Der Arzt hat alles für

2

Nach seiner Unterscheidung von Risiko und Gefahr, die im Kapitel 3.2.1 skizziert wurde, wäre ein Risiko auf eigene Entscheidungen zurechenbar, im Gegensatz zur Gefahr, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegt.

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mich gemacht.“ und „Ich bin doch kein Arzt, ich frag dann ’nen Arzt.“ charakterisieren lassen. Im ersten Fall (Typ 2A) ist das Verhältnis zum Arzt paternalistisch gedacht, im zweiten (Typ 2B) besteht die eigene Entscheidung in der Wahl des ‚richtigen‘ Arztes. Es zeigte sich, dass die Typen quer zu den vorab ausgewählten Sampling-Kriterien verliefen, das heißt, in beiden Gruppen finden sich Frauen mit unterschiedlichen Ergebnissen, Berufen beziehungsweise Bildungshintergründen und Altersgruppen. Dies legt nahe, dass unterschiedliche Subjektivierungsweisen unabhängig von diesen Merkmalen sind, also nicht etwa, wie häufig vermutet, mit dem Bildungshintergrund zusammenhängen. Genauere Aussagen darüber lässt die geringe Anzahl der Interviews allerdings nicht zu. Zur besseren Übersicht werden die gewählten Typisierungen im Folgenden in einer Tabelle skizziert, deren Inhalte im Verlauf der Darstellung im Einzelnen expliziert werden.

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Tabelle: Typenübersicht Typ 1:

Typ 2:

„Informierte

„Ratsuchende Klientin“

Risikomanagerin“ Typ 1:

Typ 2A:

Typ 2B:

Frau Baumann,

Frau Althauser,

Frau Drescher

Frau Engelberger,

Frau Fischer

Frau Graf, Frau Haas Entscheidung/

fällt als informierte

Ärzte entscheiden,

eigene Entscheidung

Agency

Entscheiderin eigene

eigene Entschei-

besteht in der Wahl der

Beschlüsse

dungen werden nicht richtigen Ärzte

(starke eigene Agency) thematisiert (Agency (indirekte Agency) bei Ärzten) Verhältnis

gleichberechtigte Ver-

verlässt sich auf

„Ärzte des Vertrauens“

zu Ärzten

tragspartnerschaft mit

„Ärzte des Vertrau-

sind wichtig, Ärzte als

„Ärzten des Vertrau-

ens“

Berater

ens“, deren Empfehlungen sie nicht unbedingt folgt Krankheits-

wenig thematisiert,

Multifaktorialität,

Multifaktorialität,

theorien

stattdessen Risiko

Unbestimmtheit der

Unbestimmtheit der

Ursachen, aber nicht Ursachen, Suchbeweproblematisiert

gung

Risiko-

wägt Risiken gegen-

statt kalkulierbarem

Krankheit ist Gefahr,

management

einander ab, entschei-

Risiko ist Krankheit

nicht Risiko

det aufgrund dessen

unberechenbare Ge-

Kontrollversuche und

über Präventionsmaß-

fahr, aber Unsicher-

Thematisierung von

nahmen

heit wird akzeptiert

Kontrollillusion

„Wenn da in mir drin

„Der Arzt hat alles

„Ich bin doch kein

'n Risiko is, dann bin

für mich gemacht.“

Arzt, ich frag dann

typischer Satz

ich eigentlich die Erste, die's wissen sollte.“

'nen Arzt.“

SELBSTBESCHREIBUNGEN IN INTERVIEWS | 165

5.1 V ORSTELLUNG

DER I NTERVIEWTEN

Im Folgenden werden die sieben Interviewpartnerinnen kurz vorgestellt. Bei den Namen handelt es sich um frei erfundene Pseudonyme. Lebensdaten wie Alter, Berufe, Orte wurden ebenfalls anonymisiert oder leicht verändert, um Rückschlüsse auf die Identität der Interviewten zu verhindern. Frau Althauser: Die Interviewpartnerin ist zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 30. Sie lebt in einer Partnerschaft. Im Interview berichtet sie von einer früheren Partnerschaft, die durch ihre Brustentfernung zerbrach. Sie ist Mutter von zwei Kindern und zum Zeitpunkt des Interviews hochschwanger mit einem Mädchen. Ausgebildet ist sie als Bürokauffrau, arbeitet zur Zeit aber nicht. Zur Studie zum familiären Brustkrebs kam sie über den Befund der Mastopathie3. Nach mehrfacher Warnung durch verschiedene Ärzte, die eine Mastektomie (Brustamputation) empfahlen, ging sie schließlich nach Astadt zu dem Gynäkologen Doktor R., den sie privat kennt. Von ihm wurde ihr die Teilnahme am Verbundprojekt angeboten, da es in ihrer Familie schon viele Fälle von Brust- und Eierstockkrebs gab. Unabhängig davon wurde ihr die prophylaktische Mastektomie empfohlen und diese auch durchgeführt, da der Gentest zu lange dauere. Nach der Mastektomie war sie längere Zeit in Behandlung und Nachsorge. Beratungsgespräche: 2001 Ergebnismitteilung: 2003 Testergebnis: Neutral (eine uneindeutige Mutation wurde bei ihr gefunden) Zentrale Motive:

3

Dabei handelt es sich um Verknotungen in der Brust, wodurch es mit allen Früherkennungsmethoden schwierig wird, ein Karzinom zu erkennen; das betrifft Tastuntersuchung, Ultraschall, Mammographie; am ehesten möglich ist es mit der sehr teuren Kernspintomographie. Es besteht außerdem ein minimales ‚Entartungsrisiko‘ der Knoten, also ein leicht erhöhtes Krebsrisiko. Das Problem ist demzufolge, dass Früherkennung nur schwer möglich ist, da man nicht überall Gewebeproben entnehmen kann.

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Besonders ist in diesem Interview, dass Gentest und Ergebnis keine hohe Bedeutung beigemessen werden: erstens, da sie den genetischen Faktor für nicht allein ausschlaggebend hält und zweitens, da die Entscheidung für die Amputation bereits vor dem Test gefallen gewesen sei. Die Interviewte thematisiert sich als „Sonderfall“ und den Test eher für andere als für sich relevant. Frau Baumann: Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Interviewpartnerin Anfang 30. In der Zeit zwischen Test und Ergebnismitteilung hat sie geheiratet und eine Tochter bekommen, die mittlerweile zwei Jahre alt ist. Sie hat einen sozialwissenschaftlichen Hochschulabschluss und arbeitet als Krankenschwester. Die Tochter ist während des Interviews anwesend. Mehrere Tanten der Interviewpartnerin hatten Brustkrebs, bei ihrer Mutter gab es einen Verdacht auf Brustkrebs. Zu der Studie des Verbundprojektes kam sie auf den Rat ihres Gynäkologen, der mit einem der Humangenetiker der Studie bekannt war. Beratungsgespräche: 2000 Ergebnismitteilung: 2003 Testergebnis: Neutral (es wurde in der Familie keine Mutation gefunden, daher aber auch nicht ausgeschlossen, dass es in einem bisher nicht bekannten Gen eine Mutation geben könnte) Zentrale Motive: Der Begriff „Risiko“ ist sehr zentral im Interview, dagegen stehen „Wissen“ und „Vorsorge“ als Schutz. Zentral ist ein Gegensatz von „Wissen“, das Folgen verhindern kann, und „Nichtwissen“, das eine Gefahr darstellt („dann trifft’s einen“). Die Befragte beschreibt es als „Glück“, dass sie an der Studie teilnehmen konnte, dass sie die relevanten Kriterien erfüllt hat. Im Gegensatz zu anderen Sichtweisen, die die eigene Teilnahme eher als altruistischen Akt beschreiben („tuste ja ne gute Sache“, Frau Drescher) erscheint hier die Studie, vor allem der kostenlose Gentest, als etwas, von dem sie profitiert.

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Frau Drescher: Die Befragte ist zum Interviewzeitpunkt Mitte 40 und verheiratet, sie hat einen volljährigen Sohn. Sie ist als kaufmännische Angestellte tätig. Ihre Mutter ist an Brustkrebs gestorben. Auch viele andere Mitglieder ihrer Familie sind an Brustkrebs erkrankt, die meisten daran gestorben. In Kontakt mit der Studie kam sie nach eigenen Aussagen „zufällig“: Während der Brustkrebserkrankung ihrer Mutter sind in der Klinik, in der diese behandelt wurde, Informationsbroschüren über die Studie in ihre Hände gelangt. So sei sie in diese (und beinahe noch eine zweite Studie) „reingerutscht“. Beratungsgespräche: 2000 Ergebnismitteilung: 2001 Testergebnis: Positiv (es wurde bei ihr eine Mutation gefunden) Zentrale Motive: Ein wesentliches Motivbündel zeigt sich bereits in der Einstiegsinteraktion: Auf die Erklärung zur Anonymisierung des Interviews möchte sie meine Bestätigung, dass ihre Aussagen nicht an Versicherungen weitergegeben würden. Darauf erklärt sie jedoch, sie habe alles „geregelt“, was Versicherungen angeht. Eine Restunsicherheit bleibt aber offenbar bestehen. Außerdem fragt sie nach dem Ziel meiner Arbeit: Ob es sich um einen Ratgeber für Frauen handele, wie sie mit dem Testergebnis umgehen sollen? So werden bereits in der Einstiegspassage die relevanten Motive von Unsicherheit, Versicherung und Beratungsbedarf performativ und interaktiv inszeniert. Zentral ist außerdem ihre wiederholte Aussage, sie als Optimistin könne gut mit dem Testergebnis umgehen und würde weiterhin davon ausgehen, keinen Krebs zu bekommen. Frau Engelberger: Die Interviewpartnerin ist zum Interviewzeitpunkt 20 Jahre alt. Sie ist Gymnasiastin und arbeitet nebenbei als Aushilfe. Ihre Mutter erkrankte an Brustkrebs, als sie selbst ein Kleinkind war. Die Mutter hatte dann eine beidseitige Brustamputation, die zweite dieser OPs erfolgte nach einem positiven Gentest. In ihrer Familie hat „fast jeder“ Krebs gehabt, einige sind daran gestorben.

168 | Z UM S UBJEKT DER G ENE WERDEN

In Kontakt mit der Studie kam sie durch ihre Mutter, die schon vor einiger Zeit einen Test gemacht hatte, der positiv ausgefallen war. Wie ihre Mutter von der Studie erfahren hat, ist unklar. Beratungsgespräche: 2003 Ergebnismitteilung: 2003 (ca. drei Monate später) Testergebnis: Negativ (sie hat die Mutation der Mutter nicht) Zentrale Motive: Ein zentrales Motiv ist die Krebserkrankung der Mutter. Die Mutter wird sehr oft genannt; in der Sicht der Interviewpartnerin wäre diese eine viel auskunftsfähigere Expertin zum Thema als sie selbst. Krebs ist als Krankheit in der Familiengeschichte ständig präsent (die Befragte ist damit aufgewachsen), sie artikuliert ein starkes Bedürfnis, bereits in ihrem Alter vorzusorgen. Der Test und das Ergebnis haben ihr die Sorge nicht vollends abgenommen. Frau Fischer: Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Befragte Mitte 50, verheiratet und hat zwei Töchter im jugendlichen Alter. Sie arbeitet in Teilzeit als Angestellte im kaufmännischen Bereich. Sie hat eine Zwillingsschwester, die im Alter von 50 Jahren an Brustkrebs erkrankte. Eine Tante bekam mit Anfang 30 Brustkrebs, weitere Verwandte erkrankten ebenfalls an Krebs. Der Kontakt zur Studie kam zustande, als sie zur Vorsorge ging, nachdem ihre Zwillingsschwester erkrankt war. Dort bekam sie von ihrer Frauenärztin die Adresse der Beratungsstelle. Beratungsgespräche: 1999 Ergebnismitteilung: 2000 Testergebnis: Neutral (es wurde in der Familie keine Mutation gefunden, daher aber auch nicht ausgeschlossen, dass es in einem bisher nicht bekannten Gen eine Mutation geben könnte) Zentrale Motive: Einen großen Teil des Interviews nimmt die Krankheit der Zwillingsschwester ein, unter anderem reflektiert sie ausführlich darüber, warum diese Krebs hat und sie selbst nicht. Weiterhin bedeutsam ist das Verhältnis zu

SELBSTBESCHREIBUNGEN IN INTERVIEWS | 169

den eigenen Kindern. Wichtig ist auch eine Figur von „Stärke zeigen“ und „sich nicht gehen lassen“ angesichts eigener geringfügiger Leiden. Frau Graf: Die Interviewpartnerin ist zur Zeit des Interviews Mitte 30. Sie lebt in einer Partnerschaft und hat keine Kinder, möchte aber eventuell noch welche. Sie arbeitet als Angestellte im Dienstleistungsbereich. Ihre Mutter ist vor circa zwölf Jahren an Brustkrebs gestorben. Ihre Cousine bekam in frühem Alter Brustkrebs. Mit der Studie in Kontakt kam die Interviewpartnerin vermutlich durch ihre Cousine, die sich testen ließ. Sie war auch bei dem Gynäkologen Doktor R. in Behandlung, der im Verbundprojekt mitarbeitet. Beratungsgespräche: 2003 Ergebnismitteilung: 2003 (drei Monate später) Testergebnis: Negativ (hat Mutation der Cousine nicht) Zentrale Motive: Zentral ist ihre Angst vor Krebs; diese ist auch nach dem Test nicht vollkommen verschwunden, aber doch weniger gravierend. Des weiteren kommt im Interview ihr bestimmter und selbstbewusster Wille zum Ausdruck, sich zu informieren. Die Interviewpartnerin glaubt daran, dass die Kenntnis der Fakten und der sich daraus ableitenden Maßnahmen ihr helfen kann. Frau Haas: Die Befragte ist während des Interviews Mitte 40. Sie hat eine Tochter und einen Sohn im Erwachsenenalter. Von Beruf ist sie Arbeiterin. Sie hatte 2004, ein Jahr nachdem ihr das Testergebnis mitgeteilt worden war, eine „Totaloperation“, bei der Eierstöcke und Gebärmutter entfernt wurden. Ihre Mutter, ihre Großmutter und zwei ihrer Schwestern sind bereits in ihren 30ern an Brustkrebs erkrankt und die meisten inzwischen daran gestorben. Über ihre Schwester kam sie mit der Studie in Kontakt. Außerdem habe sie im Fernsehen davon erfahren. Beratungsgespräche: 2002 Ergebnismitteilung: 2003 (ein Jahr später)

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Testergebnis: Positiv (sie hat die Mutation, die in ihrer Familie gefunden wurde) Zentrale Motive: Das zentrale Motiv ist eine Entproblematisierung der ganzen BRCAThematik, die sich auch sprachlich ausdrückt: Aus ihrer Sicht ist der Gesprächsgegenstand scheinbar unproblematisch im Sinne von „nicht groß der Rede wert“ und bedarf keiner ausschweifenden Problematisierung. Es liegt auf der Hand, was zu tun ist: Wenn die Mutation vorhanden ist, dann bedeutet das in der Folge ein Risiko – da hilft nur, alles zu tun, um die Risikoprozente zu senken. In der Konsequenz ist sie zufrieden mit dem Wissen, das sie durch den Test gewonnen hat: Ihr gehe es gut mit diesem Wissen und mit der Operation, da sie so wisse, woran sie ist.

5.2 T HEMENFELDER

DER I NTERVIEWS

5.2.1 ‚Entscheidung‘ und Verhältnis zu Ärzten Neben dem Begriff des „Risikos“ und des „Gens“ wurde in Kapitel 3 die informierte Entscheidung als zentrales Element des allgemeinen BRCADiskurses herausgearbeitet. Sowohl in den Informationsmaterialien als auch im Beratungsgespräch wird immer wieder betont, dass die individuelle Entscheidungsfreiheit der Frauen hinsichtlich des Gentests und der Frage, welche Maßnahmen man danach in Angriff nehme, wesentlich sei. Damit wird dem Konzept des Informed Consent (der „informierten Zustimmung“ oder „Einwilligung“) Rechnung getragen, das sich – wie beschrieben – als ethischer Grundsatz in der Humangenetik wie in der Medizin allgemein durchgesetzt hat. Der Begriff der Entscheidung ist eng mit dem des Risikos verknüpft, da Risiko das ist, was man auf eigene Entscheidung zurechnen kann. Die Typ 1 genannten Frauen, die „informierten Risikomanagerinnen“, sind also immer auch „informierte Entscheiderinnen“. Es soll jedoch in diesem Kapitel der Fokus zunächst einmal allgemein auf die „Entscheidung“ gelegt werden. Dabei fällt auf, dass in den Interviews mit manchen der „ratsuchenden Klientinnen“, also des Typs 2, Entscheidungen gar nicht als solche thematisiert werden. Ereignisse scheinen ihnen vielmehr zu passieren, lediglich andere Personen werden als handelnd dargestellt. Durch die Analyse der Agency lassen sich solche Unterschiede gut herausarbeiten.

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Mit dieser Thematik auf das Engste verbunden zeigt sich das Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten: Während beim Typ 1 eine starke eigene Agency auch im Umgang mit diesen zu finden ist, handeln beim Typ 2 entweder die Ärzte oder die Entscheidung erscheint als ‚Wahl der richtigen Ärzte‘4, denen dann die Agency überlassen wird. 5.2.1.1 Informierte Entscheidung – Typ 1 Zunächst sollen die Erzählungen des Typs 1, also der „informierten Risikomanagerinnen“, vorgestellt werden. Für die hier eingeordneten Frauen kann man von einer geradezu idealtypischen informierten Entscheidung sprechen. Die Frauen stellen die Vorgeschichte des Tests und gegebenenfalls weiterer Maßnahmen als Folge eines Prozesses von Information und Planung dar. Ihre Agency und ihr ‚Wille‘ treten in diesem Prozess deutlich hervor. Das wird noch im Kapitel Management und Kontrolle der Krankheit deutlicher werden, wo Entscheidungen im Zusammenhang mit Fragen der Wahrnehmung von Krankheit als Risiko und deren Kontrollierbarkeit thematisiert werden. Dem soll hier aber nicht vorgegriffen, sondern zunächst nur die Ebene der Selbstdarstellung als ‚Entscheiderin‘ analysiert werden. Auf meine Frage danach, wie es zu dem Test gekommen sei, sind Formulierungen typisch wie „für mich war das klar“ (Frau Haas) oder wie bei Frau Engelberger:5 I:

(lacht) okay .hh ja gut dann (.) würd mich einfach mal interessieren wie es denn dazu geKOMMEN ist dass sie /den test/ diesen test geMACHT haben.

E: ja durch meine mutter also=durch meine ganze faMILIE eigentlich, weil die alle irgendwie an kKREBS erkrankt sind /mhm/ und ähm da hat meine MUTter mit ihrer mutter an so'ner gen(.)technikuntersuchung teilgenommen .h und da kam halt raus dass sie diese genmutation HAT (.) aber nicht von der MÜTterlichen seite sondern von der VÄterlichen seite /mhm/ aber leider war da mein OPA schon gestorben und dann konnte man den nich mehr .h ähm testen sozusagen

4

Im Folgende werden zentrale Motive der Interviews in einfachen Anführungszeichen dargestellt. Dies soll keine Distanzierung ausdrücken, sondern sie von direkten Zitaten aus den Interviews oder dem Diskurs unterscheiden.

5

Für das Transkriptionssystem siehe die Legende im Anhang. Namen von Personen oder Städten sowie Lebensdaten wurden in den Passagen anonymisiert.

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/mhm/ und ähm dann wollt ich das aber AUCH unbedingt machen, /mhm/ den test damit äm ich auch die gewissheit hab ob ich halt viel mehr VORbeugend mich unterSUCHen lassen muss /mhm/ weil es dann ja dann WENN man diese genmutation hat sind's ja glaub ich SIEBZIG bis achzig prozent höheres krebsrisiko, und bei 'ner normalen frau sind's sieben bis acht prozent oder so /mhm/ und es (.) war mir schon sehr wichtig dann zu wissen /mhm/ (2) ja und deswegen hab ich das gemacht /mhm/ (2)

Hier wird der eigene Wille formuliert und es werden Gründe für den Test genannt – das erhöhte Risiko und die Möglichkeit oder erhöhte Notwendigkeit zu vorbeugenden Maßnahmen – und mit der konsequenterweise daraus folgenden eigenen Handlung „hab ich das gemacht“ abgeschlossen. Ähnlich ist die Erzählung bei Frau Graf strukturiert. Nachdem sie von verschiedenen Fällen in der Verwandtschaft berichtet, die den Verdacht nährten, „erblich belastet“ zu sein, beschreibt sie ihre wohlabgewogene Entscheidung für den Test: I:

ja ähm vielleicht können sie einfach mal erzählen wie es überhaupt dazu gekommen ist dass sie so n /mhm/ gentest gemacht haben;

E: meine mutter hatte brustkrebs (…) und ähm das war also relativ weit fortgeschritten und sie hat dann auch ne chemotherapie bekommen, und äh zuerst mal wars okay wies halt meistens ist sach ich mal und ähm dann hatten sich lungenmetastasen gebildet die wurden (XXX Anfang der 1990er, A.z.N.) festgestellt und sie ist dann (XXX sechs Monate später, A.z.N.) verstorben. /mhm/ gut, das hat mich jetzt einfach noch in keine panik versetzt - ja es GEHT also ich mein ich war=ich war halt vorher schon immer bei der vorsorge (.) ähm (1) und danach bin ich halt AUCH regelmäßig hingegangen und hatte durchaus schon mal was was ich zu tasten glaubte was dann aber halt dann wieder DOCH nichts wa:r und. /mhm/ ähm (.) war dann auch (2) ja wegen=wegen meiner angst sag ich mal oder=oder auch dieser unklaren befunde die aber dann also für=für uns dann doch eindeutig waren (mikrorascheln) (?war ich dann auch mal in der klinik?) und hab mich da beraten und auch untersuchen lassen und (.) äh:m dann hat meine Cousine, brustkrebs bekommen, dazu (.) muss man halt sagen unsre mütter (räuspert) sind schwestern. meine mutter und die mutter meiner cousine. und das sind die EINzigen schwestern. /mhm/ (...) das heißt wir hätten jetzt nicht sagen können da sind noch fünf geschwister oder cousinen /mhm/ und die ham nichts ja; /mhm/ sondern es war halt n bißchen (.) äh:m ich weiß jetzt gar nicht

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genau wann =wann das bei bei ihr FESTgestellt wurde, moment, (2) vor vor sechs jahren ungefähr, /mhm/ (2) und ähm ich hab dann natürlich auch=auch nochmal n bißchen angst bekommen und ähm (2) sie hat sie hat dann direkt glaub ich an der STUdie teilgenommen, also sie ist an der uniklinik D-stadt. /mhm/ und wohnt auch da unten und äh sie GING auch davon aus dass es also sie ist zwei jahre älter als ich; sie ging auch davon aus dass sie (.) dass sie ähm (2) ja erblich belastet IST, weil in der familie von ihrem vater, mit dem ich halt NICHT verwandt bin ne /mhm/ (...) weil da wohl auch diverse fälle warn (...) und das hat mich jetz`jetzt nich so tangiert dass ich dachte ich könnte AUCH erblich irgendwas haben. /mhm/ zeitgleich is eine weitere (XXX Verwandte, A.z.N.) MEIner cousine erkrankt; mit der ich auch NICHT verwandt bin /mhm/ auch von=von der seite ihres vaters und ähm die hat sich auch testen lassen, also die dame kenn ich gar nicht ähm und dann hat=hat meine cousine mich angerufen, und hat=hat gesagt hier ich hab die ergebnisse, und ähm ich hab des brca1, und was mich aber in ziemliche panik verSETZT hat weil=war halt die tatsache dass diese ANDre (XXX Verwandte, A.z.N.) AUCH erblich belastet war aber mit dem brca2; /mhm/ die hatten also was unterschiedliches; /mhm/ dann hat man halt DOCH ähm ja=gut=ich=mein vorher war irgendwie vermutet worden meine (.) cousine hats halt von der seite ihres VATers und meine=meine mutter wahrscheinlich also sie (2) äh die hatte eine totaloperation (...) /mhm/ und ähm hat dann monatlich immer diese hormonersatzpräparate bekommen; /mhm/ per spritze und dass das in ihrem fall irgendwas damit zu tun haben KÖNnte, ja und jetzt war halt sachlage so dass man natürlich vermutet hat es könnte sein muss aber nicht, dass halt (.) meine cousine das DOCH von der seite ihrer mutter hat, und IHRe (XXX Verwandte, A.z.N.) das von vaters seite. /mhm/ und da ist mir natürlich zuerst mal sehr mulmich geworden; /mhm/ also (.) ich hatte vorher schon n gespräch mit herrn doktor h., hab mich allgemein beraten lassen über=über diese gengeschichte weil ja ich weiß nicht kennen sie herrn doktor a. noch? /nee/ der war früher oberarzt an der uniklinik a-stadt /mhm/ und der hatte mir auch mal schon mal so ne gewebeprobe rausgeholt der hatte halt gesagt hier sie können ja mal hingehn und sich beraten lassen, und ich hatte eigentlich erst mal vor das NICHT zu machen aber als ich dann dieses ergebnis hatte bin ich halt in ziemlicher panik nochmal zu ihm – hatte n termin gemacht – des war (2) ähm november zwotausendzwo, und ähm (3) irgendwie als er dann sagte ja also rein=rein rechnerisch beträgt die wahrscheinlichkeit fünfundzwanzig prozent da war es ZIEMlich vorbei mit mir; da hab ich mir gesagt okay, ähm (2) ich geb mir jetzt zeit in aller ruhe das=das zu überdenken, bis zum ende des jahres. im

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grunde wusst ich schon dass ichs machen will. /mhm/ aber ich wollte das jetzt wirklich mir in aller ruhe mir überlegen, und ähm (4) kam dann auch zu dem=zu dem schluß dass ichs machen will; für MICH war war das jetzt nich=nich so dass ich (1) also ich mein (.) ich denke es=es bringt NICHts wenn man jetzt weiß ups ich hab dieses brca1 und was tu ich mit dem ergebnis; sondern mir wars halt schon wichtig dass ich=dass ich mir überlege, was mache ich wenn ich positiv BIN; /mhm/ hab also das=das auch mit meinem freund besprochen – wir wohnen zusammen – und ich mein es=es gibt da zwei sinnvolle varianten halt entweder die=diese antihormone /mhm/ wechseljahre, die therapie über=über zwei drei jahre ist das wohl recht effektiv hat herr doktor h. mir gesagt, wobei das is=war auch was was ich mir nicht so vorstellen kann, ne, /mhm/ mein ich weiß nicht ob ich vielleicht doch noch mal irgendwann n kind MÖCHte oder nicht und irgendwie das wär ja alles also ich mein ich war fümundreißich zu dem zeitpunkt ne /mhm/ ähm (.) oder halt eine brustentfernung; und das wär auch die möglichkeit zu der ich mich entschlossen hatte bevor ich das ergebnis kannte; das klingt jetzt so BLÖD aber ähich=ich brauchte halt eine überlegung, die ich dann anstreben würde, /mhm/ halt dass es also dass ich=dass ich weiß okay wenn ich positiv BIN dann MACH ich das und dann hab ich zwar keine hundertproZENtige sicherheit aber ich hab eine recht GROße sicherheit ne, /mhm/ mein gut, es kann immer noch irgendwo im restgewebe oder im bauchfell oder was weiß ich nicht auftreten ok; /mhm/ aber immerhin is (.) is das schon mal ne ganz=ganz sinnvolle lösung für mich selber; und hatte dann im januar zwotausendrei das beratungsgespräch bei herrn doktor neuss, ähm (.) hab mir dann auch also zu dem zeitpunkt wusst ich schon dass ich das MAchen will, /mhm/ hab mir dann auch direkt blut abnehmen lassen und hatte dann irgendwie ein paar tage später oder was auch ähm den termin bei der psychologin,

Die Erzählung ist klar aufgebaut und stringent erzählt, fast so, als sei sie schon öfter erzählt worden und würde abrufbar bereitliegen. Der Begriff „Entscheidung“ wird von Frau Graf selbst eingebracht, ohne dass er in der Frage suggeriert wurde. Zunächst werden die Ereignisse der Familiengeschichte im Modus der Widerfahrnis, also als Ereignisse, die ihr zustoßen, erzählt, aber durch die Gefühle des erzählten Ichs6 beurteilt und kommen-

6

Der Begriff „erzähltes Ich“ kommt aus der Erzähltheorie und wird hier verwendet, um zwischen der Frau, die interviewt wird – dem „erzählenden Ich“ –, und

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tiert. Dann reagiert das erzählte Ich mit einer Abfolge von Handlungen. Völlig rational werden von der Interviewten das Sammeln neuer Informationen, Abwägungen und Entscheidungen mit einer klaren eigenen Agency inszeniert. Zwischendurch benennt sie ihre Gefühle, wodurch – quasi im Hintergrund – eine Geschichte von starken Krebsängsten und „Panik“ erscheint. „Information“ – sowohl die ärztliche Aufklärung, als auch die genetische – scheint sie zu Entscheidungen zu befähigen, die dann auch getroffen werden. Dies ist, genau wie bei Frau Engelberger, eng mit der Thematisierung von „Risiko“ und der Vorstellung, Krankheit und Ängste kontrollieren zu können, verknüpft, was im Kapitel Management und Kontrolle aufgegriffen wird. 5.2.1.2 Vertragspartnerschaft mit den Ärzten – Typ 1 In Umgang und Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten erscheinen die Frauen des Typs 1 sehr selbstbewusst, fragen laut eigenen Beschreibungen aktiv nach (das ist auch in den Beratungsgesprächen teilweise zu hören), suchen eigenständig nach Informationen und entscheiden sich auch gegen Empfehlungen. So berichtet etwa Frau Haas, dass sie sich gegen den Rat ihrer Frauenärztin für die prophylaktische Entfernung der Eierstöcke entschied, von der sie bereits vor dem Test als mögliche Präventionsmaßnahme gehört hatte: bin zu meinem frauenarzt hin (.) hier so=und=so und jetzt will ich nit mehr länger WARten und jetzt (.) wird gleich alles auf EINmal gemacht und sie hat mir dann auch (.) innerhalb von (.) ZWEI oder drei tagen (.) mir=n termin in: g-stadt geholt /mhm/ (2) das fand ich eigentlich GUT /mhm/ (.) die wollte mich erst davon abBRINGen aber ich hab dann (.) g’ ganz klipp und klar gesacht (.) nee also (.) ICH hab mir das jetzt (.) ich hab das jetzt so beSCHLOSSen und so wird das jetzt geMACHT und FEIerabend! /mhm/ (2) und (.) da GING das, /mhm/ (1) und das=is=einfach=so FRAUenärzte die: wollen=ja=erst=e=mal ne (.) nee hab ich gesacht das WILL ich jetzt net mehr ich: (.) will jetzt (.) alles oder nüscht. (2)

der Präsentation des Ichs, die die Interviewte in ihrer Erzählung wählt, zu unterscheiden.

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Die Vorsicht der Ärztin erscheint hier als lästig: Frau Haas will klare und schnelle Entscheidungen. Ähnlich verhält es sich bei Frau Graf. Sie erzählt, dass ihr Gynäkologe gegen den Gentest war, weil er seiner Ansicht nach psychologisch problematisch sei. Sie holte sich aber trotzdem sein Einverständnis beziehungsweise seine Unterstützung ihrer Entscheidung dafür. In der folgenden Passage geht sie ausführlich auf meine Frage ein, ob sich ihrer Meinung nach das Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten in den verschiedenen Generationen unterscheide. E: ich=ich frage ärzte auch sehr viel, /mhm/ und wenn mir n arzt nich gefällt dann geh ich auch nicht mehr hin sondern wechsel den arzt, ähm (1) bin da wahrscheinlich auch in gewisser weise recht OFFENsiv. /mhm/ ähm (2) (...) aber ich denk mir dass ähm dass ich da mit=mit einem das klingt immer so blöd, mit einem gewissen BILDUNGSniveau halt auch n bißchen anders rangeh (im Vergleich zu ihrer Mutter, A.z.N.) /mhm/ und auch vom=vom auftreten her anders bin und halt auch=auch eher fragen stell oder =oder eigentlich FORderungen stell; aber halt (.) /mhm/ ja das kann man jetzt=jetzt schlecht formuliern ne, (.) mit ja hm ich denk dass=dass ich KRItischer rangeh. /mhm/ (4) also ich weiß nich ob meine mutter je an der studie teilgenommen hätte. ich kanns NICHT sagen. /mhm/ (4) man=man WEIß heute auch einfach viel mehr, ne /mhm/(4) I:

hm. (1) (räuspert) (3)

E: oder auch also jetz meinem frauenarzt gegenüber also ich bin dann auch hingegangen und hab halt=halt gesagt hier so und SO is es und ich werd diesen test wahrscheinlich machen und ich möchte von ihnen darin (.) unterSTÜTZT werden. weil er war vorher immer so n bißchen HM, das is sehr sehr belastend und überhaupt /mhm/ und ich WOLLTE halt von=von ihm auch dann wirklich den psychologischen RÜCKhalt haben irgendwo. /mhm/ und (3) ich mein sowas hätte=hätte auch meine mutter bestimmt nicht geMACHT, ne. (2) I:

hm. (.) warum nicht?

E: (2) ja sie=sie war da ich sag mal ZAGhafter. hat=hat vielleicht mehr die AUtorität noch auch in=in den ärzten gesehn. /mhm/ ich mein die seh ich zwar AUCH, aber ich denk nich=nich in dem maße sondern ich mein ich war=ich war heute morgen bei meinem=bei meinem hausarzt, und so so ner=so ner generellen blutkontrolle halt blutbild was ich dann auch einmal im jahr machen lass weil ich halt denk es macht SINN, /mhm/ ähm mit dem red ich eigentlich wie ich mit auch mit=auch mit bekANNTen rede na; /mhm/ und ich denke bei älteren leuten da=da guckt man nochmal n stück HÖHer. /mhm/ (2)

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I:

ja ich fand das ganz interessant ich hab ja das=das tonband angehört da von der humangenetischen beratung; das sie ja teilweise fast mehr wussten als der als der ((lachend) arzt hatt ich den eindruck) also zum beispiel über lang=langstreckenflüge oder solche sachen da ham sie glaub ich nochmal nachgefragt das wusste er dann gar nich genau; konnte gar nichts dazu sagen.

E: ja das kann sein; ja das=das sind so=so fakten und ich mein oder was heißt fakten. (.) hm bemerkungen die man=die man AUFgreift ich mein ich bin da ich=ich hab natürlich von medizin überHAUPT keine ahnung. /mhm/ von sämtlichen naturwissenschaften. aber solche sachen sammelt man und dann fragt man auch=auch schon mal n arzt, ne. /mhm/ nee dass ich das gespräch mit doktor neuss war halt sehr informaTIV und sehr ausführlich, ich fand das auch ganz prima aber ich hatte natürlich von herrn doktor H. schon bestimmte fakten auch ne, /(lacht) ja/ (2) /mhm/

Wie am Schluss der Passage deutlich wird, schließt dieses Selbstbewusstsein nicht notwendigerweise ein, sich medizinisch besonders gut auszukennen. Trotzdem ist die Passage geradezu ein Paradebeispiel für den Informed Consent in einem vertragspartnerschaftlichen Verhältnis mit den Ärzten. Die Klientin-Patientin ist in der Lage mitzuentscheiden, weil sie sich gründlich informiert hat und gemeinsam mit den Ärzten die Maßnahmen debattiert. Sie bittet den Frauenarzt zudem um seine Unterstützung ihrer Entscheidung. Diese Frauen betonen auch, dass sie die Beratungsgespräche wichtig fanden und sie ihnen viel gebracht haben. Lediglich das psychologische Gespräch wurde zum Teil kritisiert: So fühlte sich Frau Baumann eher auf eine relativ durchsichtige Weise bezüglich ihrer psychischen Konstitution überprüft als hilfreich beraten. Auch das „Bedürfnis nach Überwachung“, das in den in Kapitel 4.2.1.2 zitierten britischen Studien konstatiert wurde, taucht häufig auf. Allerdings gab es keine Frau, die – wie es in der Studie von Scott et al. (2005) skizziert wurde – über ihre niedrige Risikoeinstufung unzufrieden war, weil ihr dadurch bestimmte Untersuchungen nicht bezahlt wurden. Im Gegenteil äußerten sich alle erleichtert, die ein negatives Testergebnis hatten.7 Die „informierten Risikomanagerinnen“ sehen sich also nicht etwa als autonom

7

Allerdings verzeichneten Scott et al. dieses Phänomen bei Personen, die aufgrund der niedrigen Risikoeinschätzung keinen Gentest bekamen. Solche Frauen habe ich gar nicht interviewt.

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und abgekoppelt vom Gesundheitssystem, sondern nehmen dessen Leistungen als selbstbewusste Klientinnen in Anspruch. 5.2.1.3 ‚Keine Entscheidung‘ und Agency der Ärzte – Typ 2 Im Gegensatz zu den Frauen des Typs 1 erscheinen die „ratsuchenden Klientinnen“, der Typ 2, in ihren Erzählungen kaum als aktive Subjekte, die sich informieren und dann entscheiden. Gefragt, warum sie den Test machen, sagen sie zum Beispiel: „Das war absoluter Zufall“ oder „Ich hab' da nicht lange überlegt“ oder beschreiben nur, was Ärzte und Ärztinnen ihnen geraten haben. Um diese Darstellung von Agency zu veranschaulichen, wird im Folgenden eine längere Passage aus dem Interview mit Frau Althauser zitiert. Die Passage beginnt mit meiner Erzählaufforderung: I:

ja, mhm - (2) diese, also so 'ne entscheidung diesen gentest zu machen, hat ja meistens 'ne längere vorgeschichte, können sie da einfach mal erZÄHlen, wie es dazu kam?

E: nee, bei mir gar nich'! also ich bin da, war bei der radiologin, und sie sagte (macht schreckenslaut) hilfe, da tut sich was ganz schnell in 'nen brustzentrum gehen, /mhm/ am besten noch am nächsten tag, ne, und das vorstellen, weil (.) vom verlauf der aufnahmen, von den jahren über, so hat 'se gesagt, na, das gefällt ihr alles nicht. und dann sagt 'se dann gibt's wie gesagt diese STUdie, diese=diese familiärer BRUSTkrebs, weil's bei mir in der familie sieben FRAUen sind, die, /mhm/ ne, EIerstock- oder BRUSTkrebs hatten, und dann bin ich dann nach A-stadt, weil in b-stadt war ich nicht zu- (?gut?) ich war schon mal in Bstadt, im jahr davor weil sie oder zwei jahre vorher hat 'se das schonmal s'nen bißchen erWÄhnt, und da bin ich nach B-stadt, nur die waren FÜRCHterlich da, also GANZ schlimm der guckte mich gar nicht an, dieser professor /aha/ K. oder K., ich weiß gar nicht mehr wie der hieß, und wollt' mir sofort die Brust abnehmen also das war, (macht Prustlaut), /mhm/ und dann bin ich da weg und (2) bin dann auch gar nicht mehr hingegangen zur vorsorge, wie gesagt ob zwei oder drei jahre, und dann bin ich nach A-stadt und (2) zu dieser studie. und dann (1) der doktor R., den kenn' ich so 'nen bißchen vom (räuspern) priVAT, und der hat dann alles so in die WEge geleitet./mhm/ und sagt er dann in dem rahmen ist dann, ähm, auch diese GENuntersuchung, diese-diese GENanaLYse wurde vorgeschlagen, ob ich /mhm/ dadrin interESse hätte, ne – (1, holt luft) weil es wär' für SIE auch sehr wichtig, um zu sehen, weil es sind schon SIEben FRAUen in der familie ob, was bei mir ist, ob das de-gleichdeckend ist, ob das so'ne gleiche

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veränderung da ist von der mutter her oder mit der tante her, (2, holt Luft) ja und dann kamen die gespräche mit 'ner psychologin dabei - /mhm/ und dann ha'm 'se mich gefragt, ob ich das machen möchte

Meine Suggestion, die Entscheidung für einen Gentest habe eine längere Vorgeschichte, weist sie für ihren Fall zurück. Sie erzählt dann aber trotzdem, wie es zu dem Test gekommen ist. Vermutlich versteht sie diese Geschichte aber nicht als Vorgeschichte in dem Sinne, dass erst lange Überlegungen dazu geführt hätten, dass sie den Test gemacht hat.8 Dieser erscheint in der Erzählung als Nebensache, während der Befund, der schließlich dazu führt, dass sie eine prophylaktische Brustamputation vornehmen lässt, die Hauptsache ist. Sie stellt sich dabei als Spezialfall dar (bei den anderen gibt es vielleicht eine lange Vorgeschichte, bei ihr aber nicht). Erstens relativiert sie damit explizit die Bedeutung des Gentests. Zweitens wird aber auch implizit durch die Art, wie sie die Geschichte erzählt, die ‚Entscheidung‘ für einen Gentest relativiert. Sie erzählt vor allem eine Abfolge von Handlungen und Aussagen der Ärzte und Ärztinnen, weder ihre Handlungen und Entscheidungen noch ihre Emotionen tauchen explizit auf. Im Gegenteil scheint etwa die Radiologin an ihrer Stelle zu erschrecken und „Hilfe“ zu rufen. Die Erzählung dieser Szene verweist einerseits darauf, dass insbesondere in der technisierten Medizin die Wahrnehmung von Krankheitssymptomen von Ärzten und Ärztinnen übernommen werden muss: Früherkennungsmethoden wie die Mammographie entdecken Befunde, von denen die Untersuchte selbst nichts gemerkt hat. Sie selbst hat keine (leibliche oder körperliche) Wahrnehmungsmöglichkeit und kann die Krankheitsgefahr nur durch den Blick dieser Spezialisten für ihren Körper wahrnehmen. Trotz der nur vermittelten Körperwahrnehmung könnte Frau Althauser die ärztliche Analyse und daraus entwickelte Empfehlungen aber entweder annehmen oder ablehnen. Die Ablehnung der Empfehlung des ersten Arztes in BStadt durch das erzählte Ich taucht aber ebenfalls nicht als ihre bewusste Entscheidung auf. Sie stellt zwar dar, dass sie danach einige Jahre nicht mehr zur Vorsorge gegangen sei; man kann aber höchstens implizit aus ih-

8

Nach dem Interview mit Frau Althauser, das gleichzeitig Probeinterview war, wurde der Leitfaden abgeändert, weil deutlich geworden war, dass mit dieser Einstiegsfrage schon eine „Entscheidung“ suggeriert wird.

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rer Skandalisierung des Verhaltens des Arztes folgern, dass sie sich der Behandlung bewusst entzogen hat. Gleichzeitig scheint es ihr peinlich zu sein, dass sie nicht zur Vorsorge gegangen ist, worauf die Vagheit der Angabe des Zeitraums, bis sie wieder zur Vorsorge gegangen sei, schließen lässt: Er wird bei jeder Wiederholung der Geschichte länger. Ihre Agency ist aber nicht als reine Passivität zu fassen. Sie beschreibt sich nicht als rein ‚Erleidende‘ oder Objekt der Ärzte: Im Gegenteil kritisiert Frau Althauser gerade eine solche Behandlung durch den Arzt aus B-Stadt: sie waren da kein mensch, sie waren da 'ne nummer, /mhm/ (1) mir GANZ massiv aufgefallen, /mhm/ u:nd die untersuchung, wurde man nicht ANgeguckt, /(lacht)/ gar nicht, also wirklich, der hat einen NICht angeguckt. /ja/ null; naja, der hat nur die FAKten gezählt, hat die BILder angeguckt, aja, ist klar, terminkalender, wann würde ihnen eine operation passen, (.)

Die Erzählerin konstruiert sich als eine, der es wichtig ist, wahrgenommen und angeguckt zu werden. Die Entscheidung gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen beruht nicht auf einer rationalen Abwägung der Informationen und Risiken, sondern Frau Althauser entzieht sich der schlechten Behandlung durch den Arzt. Aus der weiteren Erzählung wird deutlich, dass sie, als die Empfehlung des ersten Arztes Jahre später von anderen Ärzten wiederholt wurde, dieser gefolgt ist. Trotzdem betont sie, auch später im Interview, dass es gut war, nicht auf den ersten Arzt gehört zu haben. Die Darstellung des Wehrens gegen eine Verdinglichung durch den ersten Arzt ist offenbar wichtiger als das, was im Ergebnis herauskam. Dies könnte man einerseits so deuten, dass sie sich erst in einem längeren Prozess als ‚Kranke‘ subjektivierte, denn sie sieht erst nach mehrfacher Diagnose eine Handlungsnotwendigkeit. Deutlich wird aber auch, wie wichtig es ihr ist, sich als Subjekt wahrgenommen zu fühlen, um den Ärzten zu vertrauen und ihren Empfehlungen zu folgen. Die Interviewpartnerin wiederholt häufig, dass man in A-Stadt „sehr behutsam“ war, wozu auch gehörte, Zeit für Entscheidungen zu lassen. Ebenso hebt sie hervor, dass man heute als Patientin aufgeklärter und mündiger sei als früher, und dass es wichtig sei, sich immer eine zweite Meinung einzuholen. In ihrer Selbstdarstellung taucht diese Selbständigkeit aber nicht auf. Bei der Thematisierung des Gentests beschreibt die Erzählerin sich ebenfalls nicht als handelndes Subjekt, sondern eher eine Art Konvergenz

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der Interessen von ihr und ‚der Forschung‘. In einer merkwürdigen Wendung am Ende der Passage wird sprachlich nicht getrennt zwischen ihrem Interesse und dem der Ärztinnen und Ärzte: In ihrer Darstellung soll sie deshalb Interesse haben, weil es für die Ärzte wichtig sei. Erst später im Interview tauchen weitere Gründe auf: Für ihre Kinder könnte es auch relevant sein, auch sie selbst fand es einfach „interessant zu wissen“. Dieselbe Vermischung findet sich auch schon im genetischen Beratungsgespräch bei der Antwort auf die Frage, worum es ihr genau gehe. Die Vermischung der Interessen ließe sich auch als ‚Vertrauen in die guten Ärzte‘ beschreiben. Passend dazu durchzieht ein Motiv das gesamte Interview: das ‚gut Aufgehoben-Sein‘ bei den Ärzten in A-Stadt. Ihren ‚Lieblingsarzt‘ beschreibt Frau Althauser folgendermaßen: I:

und wie, wie lief das dann alles AB, mit den (.) verschiedenen beRAtungen, können 'se mal 'nen bißchen erzählen, was dann da alles kam, oder (verlegenes lachen)

E: oh, ist schon so lange her, gell (lacht)? ja, dann (.) hat' ich da diesen, den doktor H., der das so 'nen bißchen geleitet hat, diese familiäre sache da, diese studiendingsda, und der hat eigentlich ALLes gemacht. der hat alle terMIne (lacht) gemacht, der hat mich von pontius zu pilatus geschleppt, und, (1) der hat dann auch den terMIN mit dem herrn doktor michels ausgemacht, der michels rief mich dann AN, und dann, ja, der hat eigentlich, also, das muß man sagen, der DOKtor, wie so'n beGLEITarzt, der war immer so, wie so'n SCHAtten nebendran und hat alles so koordiniert.

Statt einer „Vertragspartnerschaft“ von Ärztinnen/Ärzten und Patientinnen/Patienten, wie sie im Kapitel 3 beschrieben wurde, wird hier das Bild einer paternalistischen Beziehung als Ideal gezeichnet: Der Arzt des Vertrauens hat, wie es in einer für Typ 2 typischen Aussage heißt, „alles gemacht“. Es zeigt sich, dass die Vorstellung der informierten Entscheidung offenbar ein zu einfaches Schema voraussetzt. Statt einer klaren eigenen Entscheidung nach gründlicher Information finden sich andere Formen von Agency, die aber nicht als reine Passivität gedeutet werden können.9 Es

9

Ähnliche Phänomene finden sich in den Ergebnissen der Untersuchung „Männerleben“, in der das Konzept der Agency angewandt und aufgrund der empiri-

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geht um eine indirekte Form der Agency: Die Ärztinnen und Ärzte handeln, aber die Patientin-Klientin entzieht sich oder macht eben mit, wenn sie den Ärzten vertraut. Im Unterschied zum klassischen Autoritätsverhältnis gegenüber den ‚Göttern in Weiß‘ ist für dieses Vertrauen aber die Wahrnehmung als Person, der man einen Entscheidungsspielraum lässt, Voraussetzung. Auch in anderen Interviews des Typs 2 wird nicht von einer Entscheidung für den Test erzählt, sondern diese scheint sich wie automatisch aus der Erkrankung von Angehörigen zu ergeben. I:

dann würd' ich als erstes eigentlich gern mal wissen, wie es denn überhaupt bei ihnen dazu geKOmmen ist, dass sie diesen test gemacht haben.

E: das war 'nen absoluter zufall, ich war in der uniklinik in b-stadt inner andern sache, und hab' da so'n so'n so'ne broschüre in die hand gekriegt, /mhm/ und da stand drin, irgendwas mit, krebs brustkrebsvorsorge undsoweiter undsofort bitte melden sie sich bei dem doktor R. und meine mutter hatte zu dem zeitpunkt, ähm krebs, und da hab' ich gesagt, och da rufste mal an, weil ähm die war schon im schon in 'nen weiterem stadium, /mhm/ dass man einfach äh alle mögliche HILfe in anspruch nehmen wollte. /mhm/ und dann hab' ich den angerufen, und dann sacht er, ja prima, kommen 'se vorbei, und da wußt ich noch gar net dass das genforschung ist, /mhm/ und dann hat er sich mit mir unterhalten und hat mir das halt so erzählt, und dann hab' ich gedacht, och könntste eigentlich mal machen, wobei ich also ein sehr positiver mensch bin, und davon ausgegangen bin, ich seh' aus wie mein vater, ich bin wie mein vater, ich hab' gedacht, du hast das brustkrebsgen sowieso ((lachend) nich), ne, /mhm/ also ich bin VOLLkommen davon ausgegangen dass ich's net hab', und hab' einfach gedacht, na gut, tuste ja 'ne gute sache, und machst da einfach mal mit. /mhm/ das war so meine,

schen Ergebnisse ausdifferenziert wird. Am Beispiel der Reproduktionsentscheidungen von Männern werden verschiedene Varianten vorgeführt, welche Bedeutungsvarianten hinsichtlich der im standardisierten Fragebogen abgefragten Aussage: „das Kind war gewollt, auch auf den Zeitpunkt hin“ sich in der qualitativen Nachbefragung zeigen. Selten wird tatsächlich eine Abfolge von Wunsch, Planung und Umsetzung geschildert. Häufiger gibt es die Form „anonymer“ Agency („wenn's passiert, passiert's“) oder Formen, in denen die Agency der Partnerin sozusagen bewusst überlassen wird (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2005).

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(1) also es war zufall und dann (.) eben (.).und dann hab' ich einfach mitgemacht.

In dieser Erzählung von Frau Drescher wird durch Markierer wie „Zufall“, „einfach“, „och“ und „mal“ die Bedeutung der Entscheidung heruntergespielt. Gerade im Verhältnis zu dem aufwändigen Verfahren mit drei Beratungsgesprächen, die für eine informierte Entscheidung sorgen sollen, erscheint diese in der Erzählung sehr beiläufig, beinahe lapidar gefällt. Sie wird zudem kontextualisiert in eine Extremsituation, in der „man“ angesichts der Erkrankung der Mutter auch jede andere „Hilfs“-maßnahme in Anspruch genommen hätte – unklar bleibt hier, ob es um Hilfe für die Mutter oder etwa Unterstützung für sie selbst geht. Als weiteres Motiv taucht die „gute Sache“, also vermutlich der Beitrag zur Forschung, auf. Hier zeigt sich ein anderes Modell als das der informierten Entscheidung, das am unternehmerisch-nutzenmaximierenden und Risiken gewichtenden Rational-Choice-Modell orientiert ist, wie es für den Diskurs und für die humangenetische Beratung herausgearbeitet wurde und von Typ 1 tatsächlich repräsentiert wird. Bei den Frauen des Typs 2 erscheint der Weg zum Test oder zu präventiven Maßnahmen nicht als rational gestalteter Entscheidungsprozess. Stattdessen kann man von einem „breiten Pfad der Gewolltheit“10 reden: Es entsteht implizit der Eindruck, die Entscheidungen waren gewollt, ohne dass dies expliziert wird. Im Nachhinein sagen jedoch auch diese Frauen, dass sie den Test wieder durchführen ließen. Es ist schwer zu fassen, was es für die Vorstellung des Informed Consent beziehungsweise der informierten Entscheidung heißt, wenn trotz ausführlicher Information und Beratung manche Frauen sagen, sie haben „nicht lang nachgedacht“. Vielleicht hängen solche Aussagen auch damit zusammen, dass, wie oben in Bezug auf die meisten Beratungsgespräche herausgearbeitet wurde, für die ‚Entscheidung‘ häufig gar kein Raum, nämlich keine Bedenkzeit gegeben wird, obwohl immer wieder davon die Rede ist. Außerdem sind die diesbezüglichen Aussagen eines an der Studie mitarbeitenden humangenetischen Beraters interessant: Er wundert sich, dass sich – wie übrigens in allen Zentren (die Zahlen liegen bei über 90%) – fast

10 Dieser Ausdruck ist der Analyse männlicher Reproduktionsentscheidungen entnommen, die im Kontext der Untersuchung „Männerleben“ entstand (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2005).

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alle Frauen nach der Beratung für den Test entscheiden, vermutet aber, dass es an einer Vorauswahl liegt: Die Frauen, die in die Beratung kommen, sind ohnehin schon dafür eingestellt. Neben diesen äußeren Bedingungen, die eine Abweichung vom idealen Modell der Entscheidung erklären könnten, muss man aber festhalten, dass es offenbar unterschiedliche Umgangsweisen mit diesen Entscheidungen gibt. In Bezug auf Ärztinnen und Ärzte sehen sich die Frauen des Typs 2 nicht als „Laien-Experten“ (Novas/Rose 2000: 505), die eine gleichberechtigte Beziehung zu dem gewählten Experten haben, sondern suchen nach einem ‚guten Arzt‘, dem sie vertrauen können. Ein zentrales Thema bei allen Frauen des Typs 2 ist es, ‚gut aufgehoben zu sein‘. Sie wollen den Arzt persönlich kennen und weisen die Anonymität in den Brustzentren zurück. Im Unterschied zu den „informierten Risikomanagerinnen“ des Typs 1, deren Haltung in der Formulierung von Frau Graf zum Ausdruck kommt, mit einem Arzt „wie mit einem Bekannten“, also gleichberechtigt, zu reden, wird das Vertrauen bei den Frauen des Typs 2 durch die persönliche Bekanntschaft gebildet. Die Umgangsweisen lassen sich noch differenzieren in das eher paternalistische Verhältnis einerseits, in dem die ‚guten Ärzte‘ die eigene Entscheidung zu ersetzen scheinen: „Der hat alles gemacht“ (Typ 2A) und andererseits das Verhältnis einer nach professioneller Beratung suchenden Klientin, die die eigene Entscheidung als ‚Wahl der richtigen Ärzte‘ ansieht: „Ich bin ja kein Arzt, ich frag’ dann ’nen Arzt“. Dieser Typ (2B) soll im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt werden. 5.2.1.4 Entscheidung als Wahl der ‚richtigen Ärzte‘ – Typ 2B Auch bei Frau Drescher taucht das Motiv der ‚Ärzte des Vertrauens‘ auf. Allerdings ist in ihrer Erzählung eine stärkere Agency gegenüber den Ärzten vorhanden als bei Frau Althauser: Selbstbewusst geht sie gleichsam von einem Arzt zum anderen und entscheidet, wem sie vertraut. Sie thematisiert aber deutlich, dass sie sich selbst nicht medizinisch kompetent fühlt und auf einen fachkundigen Arzt angewiesen ist. In diesem Bedürfnis fühlt sie sich oft emotional allein gelassen. Ihrer Erfahrung nach ist es am besten, einen Arzt im Freundeskreis zu haben. (holt luft) ich bin halt der MEInung (1) ich bin WIRKlich der meinung; dass dir nix besseres passieren kann als wenn de 'nen arzt im bekannten oder familienkreis hast; weil (1) weil ich da immer das gefühl hab' die nehmen dich dann

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auch wirklich die nehmen dich /mhm/ ERNSt die nehmen diediedie (.) die können des irgendwie NACHfühlen leider gottes hab ich nur ne zahnärztin die sich allerdings 'nen BIßchen auskennt, (...) (2) und äh, manschmal da bin ich also ich find' fühl ich mich SCHON 'nen bißchen verlassen von den ärzten. /mhm/ also mein sohn hatte jetzt 'nen der war vor zwei jahren ist er nach aMErika gegangen, für 'nen jahr, und da mußt' er ja alle möglichen schutzimpfungen machen lassen für amerika und dann ha'm wir ich mein das war natürlich auch blöd, hätt' uns aber auch mal nen arzt drauf HINweisen müssen wir ham dann mehrere impfungen auch einmal macht, gemacht, /mhm/ machen lassen, und dann hatte der plötzlich nen riesen KNOten hinten hals, ne, ich dann zumzumzum äh, hausarzt, und da sagt er JA, ich weiß net und der geht jetzt nach aMErika, ich kann den doch net mit dem knoten wegschicken, ne, und sagt er JA dann geh'n se zum B. bin ich also das is chirurg, und dann bin ich zu dem chirurg, und dann sagt der ja jetzt operieren mehr. und bin ich nach haus und hab' meine freundin nochmal angerufen und dann guckt die in ihr, ich mein ich hätt ja selbst gucken können, ihr gesundheitsbuch und dann sagt se, DU das is ne nebenwirkung von der - ach von irgendner impfung, ne? mumps oder röteln oder sowas, ne? ich hab' nen natürlich dann net desdesdes wegmachen lassen. aber der hausarzt hat nen geIMPFT, /ja/ der hätt's doch wissen müssen, ne? also des dann so sachen da komm' ich mir dann schon so'n bisschen verlassen vor und denk' mein gott also wenn's die ärzte net wissen, also man kann ja net ALles studieren /mhm/ (lacht) das is wie wenn ich zum friseur geh' und der fragt mich wie er mir die HAARe schneiden /(lacht)/ das weiß ich doch net, das muß er doch wissen, ich sach wie's aussehen soll und er soll's /ja/ SCHNEIden, oder? (3)

Die sprachliche Verschiebung „wir ham dann mehrere impfungen auch einmal macht, gemacht, /mhm/ machen lassen“ deutet schon an, wie ambivalent sich ihre Agency im Verhältnis zu der der Ärzte für die Interviewpartnerin darstellt: Sie und ihr Sohn haben „gemacht“, aber eigentlich doch durch den Arzt „machen lassen“. Viel klarer als bei Frau Althauser sind hier die Handlungsanteile verteilt: Ihre Agency besteht in der Wahl der guten Ärzte, die dann aber autonom und kompetent für sie handeln sollen. Im vorliegenden Fall ergreift sie selber die Initiative, da die Empfehlung des Chirurgen ihr nicht vertrauenswürdig erscheint, doch hat sie eigentlich an ihren Hausarzt den Anspruch, dass er die richtigen Entscheidungen trifft und sie darauf vertrauen kann, dass er sie und ihren Sohn richtig behandelt.

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Als gute Ärzte erscheinen die, die persönlich behandeln, die erfahren sind und Kontinuität gewährleisten, während die Atmosphäre im Brustzentrum ähnlich wie in der Klinik, in der ihre Mutter behandelt wurde, durch Anonymität und ständig wechselnde Ärzte charakterisiert ist: ich geh' auch net mehr in die uniklinik nach b-stadt zu den ganzen äh untersuchungen, weil da is //mhm// jedesmal 'nen anderer assistenzarzt da, ich hab' überhaupt keinen Ansprechpartner

Frau Drescher will klare Ratschläge und weigert sich, sich mit Häufigkeitsaussagen abspeisen zu lassen, die die Entscheidung wieder an sie verweisen, wie an der folgenden anekdotischen Interviewpassage deutlich wird. Dieser ist vorangegangen, dass ihr ein junger Assistenzarzt über Anomalien in ihrer Brust berichtet hat: dann, ich mein' ich frag' dann 'nen arzt, ich bin ja kein arzt, /mhm/, ja was empfehlen 'se denn, oder was soll ich denn jetzt machen, und dann sacht der (junge Arzt, A.z.N.) zu mir, in meiner achtmonatigen erfahrung, /(lacht)/ reagieren die frauen meist so und so. und da hab' ich 'nen angeguckt /(lacht)/und hab'ich gesagt, alles in ordnung hab' ich gesagt, und hab'ich gesagt, alles in ordnung hab' ich gesat, packen 'se die sachen zusammen, ich geh' zu meiner gynäkologin. also wissen se, das sind dann so sachen, wo ich einfach denk' meiner mutter wurden teilweise die chemos vom assistenzarzt über telefon wurden die die chemos besti ähäh, bestimmt, des war für mich so grauenvoll, dass ich einfach sach, ich brauch' einfach jemand, dedem ich vertrauen kann /mhm/, wo ich weiß, der kennt mich, der kennt meine akte, der weiß genau, meine gynäkologin die entscheidet, wann ich zur mammographie geh', die entscheidet OB ich das mach oder ob ich das NICHT mache, und ich geh' halt jetzt alle halbe jahr, zur zur voruntersuchung

Für sie macht die statistische Aussage des Arztes über die Reaktionen anderer, die die Entscheidung bei ihr lässt, offensichtlich keinen Sinn. Sie kann mit dieser Art Aussagen nichts anfangen und wendet sich schließlich wieder an ihre Gynäkologin. Das Verhältnis zu Ärzten ist das einer Variante der „ratsuchenden Klientin“, deren Agency primär in der Wahl der richtigen Ärztin, des richtigen Arztes besteht. Zwar sucht sie diese aktiv und wählt dabei aus, will dann

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aber betreut werden. Dazu passt auch, dass ein zentrales Motiv in diesem Interview die Themen Unsicherheit, Versicherung und Beratungsbedarf sind (siehe die Vorstellung von Frau Drescher in Kapitel 5.1). 5.2.1.5 Fazit In Bezug zu den im Kapitel 4 dargestellten Studien lässt sich insgesamt sagen, dass sich zum Teil ähnliche Phänomene im Verhältnis der Frauen zum medizinischen System finden, wie etwa eine Kombination von informiertem Selbstmanagement und einem Bedürfnis nach Überwachung und Betreuung. In den hier untersuchten Interviews zeigten sich aber zusätzlich Differenzen zwischen verschiedenen Typen: Durch die rekonstruktive Analyse von Agency konnte herausgearbeitet werden, dass der Weg zum Test nicht überall als ‚Entscheidungsprozess‘ erscheint. Außerdem zeigen sich unterschiedliche Verhältnisse zu Ärzten und dem Medizinsystem, wobei die „selbstbewussten Klientinnen“, von denen in anderen Studien häufig die Rede ist, nur einen Teil der befragten Frauen ausmachten. 5.2.2 Gründe für den Test und Wahrnehmung als Risikoperson Hinsichtlich der Frage, wieso Frauen einen Gentest machen, hat sich im letzten Kapitel schon gezeigt, dass es sich für manche der Interviewten eher ‚irgendwie ergeben‘ hat, statt klar geplant gewesen zu sein. Damit erscheint auch die Frage nach den Gründen für den Test in einem anderen Licht. Wenn in anderen (vor allem quantitativen) Studien meist verschiedene mögliche Motive als ‚Gründe‘ abgefragt werden, wird damit eine bewusste, geplante Entscheidung vorausgesetzt. Zwar war es etwa in der zitierten Untersuchung von Nippert/Schlegelberger (2003) auch möglich, die Empfehlung durch Ärzte, also eher eine Fremdbestimmung, als Grund anzugeben. Dies tat nur eine Minderheit (wie oben zitiert, waren es jedoch immerhin 26,3% der positiv Getesteten und 19% der Negativen). Weil die Betroffenen aber zum Teil durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verbundprojektes befragt wurden, ist möglich, dass die Angaben beschönigend ausgefallen sind: Da im gesamten Setting der Beratung und Testung die „Entscheidungsfreiheit“ der Einzelnen betont wird, möchte man sich vielleicht nicht als Person darstellen, die aufgrund von Empfehlungen handelt. In der rekonstruktiven Analyse von Erzählungen, wie sie in der vorliegenden Stu-

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die vorgenommen wird, wird dagegen deutlich, dass bei manchen Frauen der Entscheidungsprozess nicht als selbstbestimmter erscheint, sondern eher als Zusammenspiel von eigenen Vorstellungen mit denen der Ärzte dargestellt wird. Deshalb sollen in diesem Unterkapitel außer den – in einem kurzen ersten Teil – dargestellten Gründen, die von Frauen als Motive genannt werden, auch Gründe im Sinne von äußeren Bedingungen, die zum Test geführt haben, dargestellt werden. Außerdem ist bei den „aktiven Entscheiderinnen“ beziehungsweise „informierten Risikomanagerinnen“ die Erzählung, wie es zum Test kam, meist folgendermaßen aufgebaut: „Weil es in der Familie so viele Fälle gibt [...], wollte ich für meine Vorsorge wissen [...], und habe dann den Test gemacht“. Es liegt also nahe, auch den ersten Teil dieser Argumentation, also die Wahrnehmung, zu einer sogenannten Hochrisikofamilie zu gehören, genauer zu untersuchen. Dies soll im zweiten und dritten Teil des Unterkapitels geschehen. Der vierte Teil beschäftigt sich mit der Präsenz von Familienangehörigen in den Interviewerzählungen. 5.2.2.1 Genannte Gründe für den Test Die Frauen des Typs 1 haben meist ein alarmiertes Bewusstsein eines persönlichen Risikos, das sie aus den vielen Krebserkrankungen in ihrer Familie ableiten. Wenn Motive explizit genannt werden, geht es meistens um den Wunsch, den eigenen Risikostatus genauer zu kennen, um gegebenenfalls die Vorsorge zu intensivieren (Frau Baumann, Frau Engelberger) oder durch prophylaktische Operationen das Risiko zu senken (Frau Graf, Frau Haas). Bei Frauen des Typs 2 bleiben die Motive eher im Unklaren. Der Kontakt mit der Studie erscheint vielmehr als zufällig oder ein automatischer Ablauf: So will etwa Frau Drescher alles in Anspruch nehmen, was der erkrankten Mutter oder ihr selbst helfen könnte („die [gemeint ist ihre Mutter, A.z.N.] war schon im schon in ’nen weiterem stadium, /mhm/ dass man einfach äh alle mögliche HILfe in anspruch nehmen wollte.“) und gerät dadurch schließlich an den Gentest. Frau Fischer wird von den Ärzten aufgefordert, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen und wird dann vom Gynäkologen weiter an die Studie verwiesen. Als Gründe tauchen Sätze auf wie „tuste ja ’ne gute sache“ (Frau Drescher), also ein Bezug auf Interessen der Allgemeinheit, während eigene Interessen unbenannt bleiben, oder das Forschungsinteresse der Ärzte (Frau Althauser, siehe Kapitel 5.2.1) oder –

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nachgeschoben – die Relevanz für die Kinder (Frau Althauser). Bei Frau Fischer findet sich auch die allgemeine Formulierung: „dann kann das ja nur richtig sein, (.) für uns beide (gemeint sind vermutlich die erkrankte Zwillingsschwester und sie, A.z.N.), /mhm/ inwieweit ich AUCH betroffen bin.“ Oft scheint das ‚Wissen wollen‘ als Begründung schon auszureichen. Von keiner Frau wurde angegeben, dass sie den Test auf Wunsch von Angehörigen durchführen ließ.11 Solche Fälle werden aber von einem der humangenetischen Berater genannt: Doktor Neuss: oder es gab zum beispiel frauen, die das eigentlich gar nicht für sich selbst machen lassen wollten, sondern weil irgendeine verwandte, ob jetzt, was weiß ich, jetzt cousine, tante oder wer auch immer das eigentlich für sich abklären, aber es war halt notwendig, dass noch eine weitere verwandte sich das ähm, halt sich auch untersuchen lässt, und dass sie das dann daraufhin hat machen lassen. also mehr oder weniger, teilweise kam es einem so vor, als wäre es schon fast erzwungen irgendwie. fast so als wären sie dazu überredet worden.

5.2.2.2 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 1 Bezüglich der Frage, ob man sich aufgrund der Familiengeschichte als Risikoperson ansieht, unterscheiden sich die beiden Typen stark. Zwar erzählen fast alle auf die Frage, wie es zum Test kam, von erkrankten Verwandten, die der Anlass waren, sich mit der Studie zu beschäftigen. Aber nur bei Typ 1 gibt es klare Erzählungen von den vielen Krebsfällen in der Familie, die die Sorge weckten, ebenfalls betroffen zu sein. Nur hier ist das Bewusstsein von einem ‚familienbedingten Risiko‘ offenbar schon Jahre vor dem Kontakt mit der Studie vorhanden. In der Darstellung von Frau Engelberger geht die Entscheidung für den Test klar aus der langen Präsenz der Krebskrankheit in der Familiengeschichte hervor. Direkt im Anschluss an die im Unterkapitel 5.2.1 zitierte Passage des Interviews wird besonders deutlich, wie allgegenwärtig die Beschäftigung mit Krebs in der Familie von Frau Engelberger ist:

11 Dies mag aber auch am Zustandekommen des Samples liegen: Vielleicht wurden solche Fälle vom Genetiker, der sie mir vermittelte, nicht als geeignet für meine Untersuchung angesehen: Er sprach nur Frauen an, von denen er annahm, dass sie für ein Interview bereit wären, also vermeintlich der Forschung gegenüber aufgeschlossen und nicht etwa durch subtilen Druck hineingeraten.

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I:

.hh (.) ja wie lange sin=sind sie denn schon so mit dem thema krebs beschäftigt?

E: hm meine mutter hat (.) ZIEmlich FRÜH krebs gekriegt da war ich erst drei oder so /mhm/ und da hat die beide brust=brüste abgemacht bekommen, und (.) ja wie gesagt, durch die ganze FamILie halt, weil fast jeder in unserer familie /mhm/ is schon mal an krebs erkrankt, oder dran geSTORben sogar (.) mein opa halt ja AUCH /mhm/ und (.) deswegen (.) bin ich eigentlich damit aufgewachsen /mhm/ sozusagen. /mhm/

Auch bei Frau Haas ist die familiäre Erkrankungsgeschichte die primäre Begründung, den Test zu machen. Dies wird gleich in der Anfangserzählung deutlich: I:

ja als erstes würde mich einfach mal interessieren wie es denn (.) dazu geKOMMen ist dass sie diesen test überhaupt geMACHT haben(.)

E: na da gibt=e ganz einfache erKLÄrung (1) meine mutter is an krebs erkrankt (.) meine .hh zwei geschwister sind an krebs erkrankt wobei einer schon verSTORben ist /mhm/ (.) und da lag das ganz einfach auf der HAND (1) also meine schwester hatte dann diesen test gemacht u:nd (.) da hab ich gesacht ja naTÜRlich ich mach den (.) mach=n AUCH /mhm/ (.) war (.) ga’=eigentlich ganz: (.) für MICH: (.) stand=s also fest dass ich den text auf JEDen fall mache (.) und da hab ich noch=ne ältere SCHWESter, (.) die hat diesen (.) test oder den (.) wollte sie NICHT mitmachen (.) /mhm/ (1) (glas wird abgestellt) also war für mich eigentlich ganz KLAR /mhm/ (.) dass der test gemacht wird (2) schon allein nur für MICH zu wissen (.) ob das (.) ob dieses gen da ist oder nit /mhm/ (2) ja

Allein durch die Familiengeschichte liegt es „auf der Hand“, sich selbst als betroffen anzusehen. Eine Erblichkeit von Brustkrebs wird dabei vorausgesetzt, aber nur in einem Fall (bei Frau Graf, siehe unten) explizit erwähnt. Es reicht, mir gegenüber von erkrankten Familienmitgliedern zu reden, um die erhöhten Krebssorgen zu plausibilisieren. Häufiges Thema in vielen Geschichten ist die eigene Angst, weil man eine Verbindung zwischen den anderen Verwandten und sich zieht. Die Erblichkeit erscheint wie ein selbstverständliches Faktum, das nicht weiter thematisiert werden muss. Da ich mich vorgestellt habe als jemand, die Frauen interviewt, die einen Gentest im Verbundprojekt gemacht haben, verwundert es nicht, dass diesbezüglich kein Explikationszwang gesehen wird, die Frauen also davon aus-

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gehen, das sei auch für mich selbstverständlich. Es wird aber auch von keiner Interviewten erzählt, wie sie selbst davon hörte, dass Krebs erblich sein könne, als sei dies auch für sie immer schon klar gewesen. Das erbliche Risiko auf die eigene Person zu übertragen und sich schließlich um einen Gentest zu bemühen, zeigt sich jedoch als Prozess, der mit jedem neuem Krebsfall in der Familie fortschreitet. Wie eine Sorge um die Erkrankten in Sorge um sich selbst übergeht, wird auch in der folgenden Passage bei Frau Baumann deutlich: I:

un= KÖNnen sie vielleicht mal so (.) sagen wie` wie LAnge sie mit dem thema KREBS schon= (.) beSCHÄFtigt sind? oder. .h

E: naja GUT (.) dadurch dass= eine meiner TANten das schon sehr FRÜH geKRIEGT hat das is beSTIMmt schon (.) ZEHN fünfzehn ja´=ich weiß=s nich geNAU also MINdestens zehn jahre is=s /mhm/ auf JEden fall her, .h ha'm=wer uns natürlich rech FRÜH damit beFASST (.) /mhm/ .h ähm (.) da war ich dann so= ZWANzig als die das geKRIEGt hat (.) und (1) KLAR das erSCHRECkt ein dann=natürlich im ersten moment SEHR /mhm/ man denkt MHM hoffentlich krieg ich das nich AUCH (.) und KLAR da (.) redet nich JEder so OFfen drüber, meine tante die das als ERstes gekriegt hat [(Kind hustet)] die hat auch hier ziemlich in der NÄhe gewohnt, von DAher (.) ha'm=wer das natürlich auch GUT mitgekriegt /mhm/bei IHR ,(.) und ähm (.) naTÜRlich war da auch viel ANGST dass ihr was pasSIERT weil es is bei IHR erst sehr SPÄT entdeckt worden. gut sie [(Kind brabbelt)] hat=es geSCHAFFT und sie lebt doch IMmer noch, /mhm/ (.) aber=ähm naTÜRlich war das erstmal beUNruhigend und von daher befassen wir uns eigentlich schon recht LANGE damit. und das GIng dann so (.) dann kam die NÄchste und dann die NÄchst und dann HAT man so LANGsam 'n MULmiges geFÜHL gekriegt /mhm/ weil man dachte NANU? /ja/ die kriegen alle BRUSTkrebs und=das hat ein' dann SCHON erSCHRECkt. (.) /mhm/ muß ich sagen. und natürlich als meine MUTter den verDACHT auf brustkrebs hatte natürlich erst RECHT (.) bei IHR hat=sich's GOTTseidank NICHT beSTÄtigt (.) sondern es war dann nur 'ne ZYSte die entFERNTwerden konnte und dann war's OKAY. (...) JA von DAher (.) beFASS ich mich eigentlich schon recht LANG damit und mein gynäkoLOge WEIß dadrüber auch schon recht lange beSCHEID, (.) /mhm/ und hat eigentlich ` schon IMmer von DAher 'ne INtensivere VORsorge geMACHT, /mhm/ (.) und hat sich da eigentlich schon immer beMÜHT, (.) [das REgelmäßig durchzuführen]

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Kind: [MAMA (???)] E: [naTÜRlich is man dann auch ANDers zur VORsorge gegangen] als wenn da GAR nichts /ja/ geWEsen wäre, .h also ich hab (.) SCHON=(.)mit UNter DREIßig hat=ich schon die erste mamograPHIE /mhm/ dadurch auch (1) weil da EINfach das RIsiko beSTAND /mhm/ (1) ((leise) ja.) (1) [(räuspert sich)] (3)

Auch hier wird der Übergang von Fällen in der Familie zu einer Vermutung der Erblichkeit gerade nicht erzählt, sondern vorausgesetzt: Die Frage „Nanu?“ ist offenbar eine rein rhetorische und muss nicht beantwortet werden. Wie die Interviewpartnerinnen jeweils zu dieser Ansicht kamen, lässt sich nicht rekonstruieren und ist auch nicht entscheidend, festzuhalten ist aber, dass es ein allgemein geteiltes ‚Wissen‘ über die Erblichkeit von Krebs gibt. Sich selbst nun als betroffene ‚Risikoperson‘ zu subjektivieren, scheint im Zusammenspiel von diesem Wissen mit institutionellen Praktiken zu passieren. Der Verdacht, eine ‚Hochrisikofamilie‘ zu sein, taucht in den Familien offenbar erst in dieser Generation auf, also erst, seit innerhalb der neuen Genetik ‚Krebsgene‘ gesucht werden. In keinem Interview gibt es Hinweise darauf, dass schon in früheren Generationen von einer erblichen Krebsbelastung der Familie geredet wurde. Erzählt wird hier ähnlich wie in anderen Interviews etwa, dass der Frauenarzt einen wegen der vielen Krebsfälle in der Familie besonders behandelt. Dies geht über in die eigene größere Sorge („anders zur Vorsorge gegangen“). Frau Haas hat offenbar durch die Medien von der Möglichkeit des Gentests, vielleicht aber überhaupt erst von der Erblichkeit gehört und stellt dies der Unwissenheit früherer Generationen gegenüber: aber ich denke m’=m’=ma HAT sich da früher net so: (3) inforMIERT was es: für möglichkeiten gibt und so (.) s’=s’ GLAUB ich net /mhm/ (.) das glaub ich einfach net (3) weil wir wären ja vielleicht AUCH NIE dadrauf gekommen wenn=mer net da:von was geHÖRT hätten ne /mhm/ von diesen (1) weil wurden doch immer beRICHte und was=weiß=ich im fernsehen (.) gezeicht und von DA (.) da sin=wir ja dann erst auf den gedanken gekommen überhaupt /mhm/ (.) und so=was GAB=s doch früher gar net, /mhm/ (1)

In dieser Erzählung werden die Handlungsmöglichkeiten betont, von denen man aus den Medien erfahren hat, wie überhaupt das gesamte Interview mit Frau Haas von einem pragmatischen Optimismus geprägt ist.

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In der langen Anfangserzählung von Frau Graf, die in Unterkapitel 5.2.1.1 zitiert wurde, wird deutlich, dass zusätzliche Informationen aber auch zusätzliche Ängste schüren können. Offenbar ist sie schon nach dem frühen Brustkrebs der Mutter regelmäßig mit Sorgen zu Vorsorgeuntersuchungen gegangen und ertastete selbst vermeintliche Knoten in der Brust. Schließlich erkrankt eine Cousine, was sie zwar mehr ängstigt, aber sie beruhigt sich damit, die Cousine könnte durch die sie selbst nicht betreffende andere Seite der Familie erblich belastet sein. In der Erzählung über diese Cousine taucht auch das erste Mal eine Genuntersuchung auf, der sich in deren Familie offenbar mehrere Frauen unterzogen haben. Erst als die erkrankte Cousine von ihrem positiven Gentest erzählt, in dem eine andere Genmutation festgestellt wurde, als in dem Teil der Familie bekannt war, mit der sie selbst nicht verwandt ist, geht sie von einer eigenen Betroffenheit durch Erblichkeit aus, was sie ängstigt: „was mich aber in ziemlich panik verSETZT hat“. Sie geht zur genetischen Beratungsstelle und wird mit der statistischen Krebswahrscheinlichkeit aufgrund ihres Stammbaums12 konfrontiert: „als er dann sagte ja also rein=rein rechnerisch beträgt die wahrscheinlichkeit fünfundzwanzig prozent da war es ZIEMlich vorbei mit mir“. Jede neue Information aus dem Gesundheitssystem verstärkt also den Verdacht, selbst erblich belastet zu sein und wird als Aufforderung empfunden, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, Informationen zu sammeln und zu handeln. Was im Sinne der Präventivmedizin eine neue Möglichkeit zur Verhinderung von Krebs ist, fußt auf einer Logik des Verdachts und der ‚Vor‘-Sorge der potentiell ‚Betroffenen‘, also der Aufmerksamkeit und Angst, bevor überhaupt ein Symptom besteht. Zusammenfassend gilt für die Frauen, die im Rahmen meiner Untersuchung als Typ 1 bezeichnet werden, was auch in anderen Studien beobachtet wurde: Sie sind sehr alarmiert und haben große Krebssorgen, weil sie häufige Krebsfälle in der Familie als Folge einer Erblichkeit betrachten. Der genetische Präventionsdiskurs ist ihnen so selbstverständlich, dass sie sich schon lange als Risikoperson ansehen und „pro-aktiv“ um Vorsorgemaßnahmen und einen Gentest bemühen. Sie nennen mir gegenüber von sich aus prozentuale Risikozahlen. Inwieweit die Vermutung der Erblichkeit im Kontext tradierter Vorstellungen von Vererbung zu sehen ist, lässt

12 Eventuell meint sie auch die Wahrscheinlichkeit, eine Mutation zu haben.

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sich nicht nachvollziehen, jedenfalls wird nicht von lange familiär weitergegebenen Ahnungen einer erblichen Belastung durch Krebs erzählt. Vorrangig scheint in der Wahrnehmung die Aktualisierung solcher Vorstellungen durch die neueren medizinischen Gendiskurse zu sein (vgl. dazu auch Robertson 2000 und Gibbon 2006, Kapitel 4.2). 5.2.2.3 Die Wahrnehmung des ‚familiären Risikos‘ bei Typ 2 Anders verhält sich die Selbstwahrnehmung bei manchen Frauen des Typs 2: Auch in den Erzählungen dieser Frauen sind Familiengeschichten präsent, aber hier werden nur einzelne Fälle betroffener naher Verwandter geschildert. Über diese Verwandten kam auch der Kontakt zur Studie zustande: Durch deren Erkrankungen wurde man „wachgerüttelt“ (Frau Fischer) und bemühte sich um Untersuchungen. Zur Studie des Verbundprojektes wurden die Frauen dann weiter verwiesen. Jedoch entstand für diese Interviewpartnerinnen erst durch die Recherchen, die für die Stammbaumerstellung notwendig sind, das Bild einer „Hochrisikofamilie“. Das wird zum Beispiel in der Erzählung von Frau Drescher deutlich: I:

ja. (2) hm. (klappern) und wenn sie jetzt so im nachhinein nochmal überlegen, würden sie dann diesen gentest NOCHmal machen?

E: hm, hm, wahrscheinlich schon ich wüßte ja dann auch net ob ich's hab /mhm/ oder net. ich würd' wahrscheinlisch immer noch davon ausgehen dass ich's net hab. ich denk ich würd's wieder machen lassen.(2) also ich hätte ja sowieSO zu den risikopersonen gehört, /mhm/ also die gefahr dass ich brustkrebs krieg war ja ist ja sowieSO größer wie bei ANderen frauen dadurch dass es meine MUtter ja schon hatte, gut natürlich hab ich mich dann mit beschäftigt das WUßt ich ja vorher net weil ich zu dieser verwandtschaft überhaupt keinen kontakt hatte dass da natürlich, da hat meine mutter immer mal erzählt die ist an brustkrebs gestorben, aber dass die so eigentlich so eng mit mir verwandt ist /ja/ das WUßt ich gar nisch, ne? die hat dann von irgendner frau erzählt und ich wußt nich wer's is. da is mir natürlisch, da hat ja meine mutter noch gelebt als mir des gemacht haben; da is mir natürlich dann SCHON bewußt geworden, dass in meiner familie da eigentlisch ziemlich viel mit brustkrebs /mhm/ undsoweiter ähm, is und (atmet aus) jetzt fragen se mich aber net mehr jetzt krieg ich ja schon fast ((lachend) das gefühl, dann bin ich DOCH dran)) (lacht auf) I:

was?

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E: irgendwann bin ich DOCH dran;/(lacht)/ mit brustkrebs. ja auch junge frauen, da is eine frau is mit paar'nzwanzig schon gestorben, I:

echt

E: an brustkrebs, ja. /mhm/

Zwar sagt sie, sie würde den Test wahrscheinlich wieder machen, da sie ja sowieso zu den Risikopersonen gehört hätte. Aus dem Verlauf der Erzählung geht aber hervor, dass ihr erst durch das Prozedere der Beratungen im Vorfeld des Tests „bewusst“ wurde, eine Risikoperson zu sein, da sie zuvor von anderen betroffenen Verwandten kaum Kenntnis hatte. Wie schon im letzten Kapitel deutlich wurde, hatte sie nicht gezielt nach einem Gentest gesucht, sondern nach allgemeiner Hilfe bezüglich Brustkrebs. Im genetischen Beratungsgespräch, das ich im Rahmen meiner Studie auch analysiert habe, weiß Frau Drescher schon mehr: Auf die Frage des Beraters, „was für sie das Wesentliche sei“, eröffnet sie zwar ähnlich, wie in unserem Interview, dass sie im Zuge der Erkrankung ihrer Mutter durch „Zufall“ von dem Gentest mitbekommen habe, sagt dann aber, sie wolle wissen, ob sie das Gen „auch“ habe.13 Nach der Beratung beim Gynäkologen Doktor R. geht sie offenbar davon aus, dass die Mutter „das Gen hat“ und sie selbst es möglicherweise geerbt habe. Frappierend ist, wie innerhalb unseres Interviews performativ die Subjektivierung zur ‚Risikoperson‘ noch einmal durchgespielt wird: Durch meine Fragen kommen ihr die vielen Fälle in der Familie offenbar emotional noch einmal näher und sie fühlt sich selbst gefährdet – entgegen der sonst im Interview geäußerten Überzeugung, auf-

13 Frau Drescher: „Also da meine MUtter brustkrebs hat und ich jetzt halt so MITkrieg wie die mit CHEmos undsoweiter /mhm/ behandelt wird /mhm/ und das /mhm/ ganze LEiden /mhm/ so mitkriege, /mhm/mhm/ ähm war das jetzt einfach ZUfall dass ich das mitgekriegt /mhm/ habe das man das überhaupt MAchen kann (.) ich hab' mir /mhm/ EINfach gedacht (1) da in meiner faMIlie also /ja/ in der (1) faMIlie meiner MUtter äh sehr VIEl äh Brustkrebskranke /mhm/ sind, wollt ich EINfach wissen ob ich dieses (1) GEN AUch hab'. /mhm/ und da des ja die MÖglichkeit GIBt /mhm/ hab' ich einfach gedacht /mhm/ /ja/. ich hab' mich ja mit doktor R. unterhalten und /ja/ und ich denke mir ich hab' ja keine NACHteile davon wenn /mhm/ ich diese unterSUchung mache. /mhm/.“

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grund ihrer optimistischen Veranlagung keinen Krebs zu bekommen (siehe Unterkapitel 5.2.4).14 Auch bei Frau Fischer wird die eigene ‚Betroffenheit‘ erst durch die Krankheit der Zwillingsschwester wahrgenommen: I:

ähm (4) ja könn` können sie dann vielleicht sagen seit wann sie denn überHAUPT mit dem thema krebs beschäftigt sind?

E: ja; seitdem meine schwester; /mhm/ in der familie bei uns hat es noch keiner gehabt ja ONKel /mhm/ aber jetzt von meinen fünf geschWISTERN nich, mein ältester bruder is ja auch schon siebenundsechzig, /mhm/ ja und wir sind die jüngst` nicht die jüngsten ich hab noch einen jüngeren bruder. /mhm/ ja drei vorm krieg drei nach‘m krieg und äh (.) hatte und meine eltern AUCH nich. /mhm/ aber wieder der GROßvater aber den hab ich ja gar nicht geKANNT und so /mhm/ da hat man dann ne, vergisst man und verdrängt man das auch. /ja/ ich hab auch nie zu ner frauenärztin gesagt ähm (1) dass=dass mein großvater oder meine TANTe die WAR so um dreißig erst; /mhm/ oder fümunddreißig ja also noch relativ JUNG, /mhm/ desWEGen; das musste dann ne tante mütterlicherseits, oder eben geschWISter; /mhm/ oder eltern selbst; und DESwegen haben die ja ausgewählt dass man das dann von den kriterien her dazu geHÖRT. /mhm/ und das (1) gut weil die tests ja sehr teuer sind. ne, /ja/ die gemacht werden dann. ja und von DAher aber vorher so wenns selbst nicht eltern betrifft oder geschwister betrifft nein aber daher eben durch meine zwillingsschwester. /ja/ ne, da wurd man dann n bißchen WACHgerüttelt. /mhm/

Sagt Frau Fischer zunächst, dass vorher in der Familie niemand Krebs gehabt hatte, korrigiert sie schließlich und nennt Onkel, Großvater und Tante, die sie vielleicht nicht zum engeren Kreis der Familie zählt. Die weiter entfernten Fälle wurden von ihr früher nicht als Indiz für eine erbliche Belastung angesehen. Das Bewusstsein, dass es viele Fälle in der Familie gibt und die etwas mit ihrer eigenen Gesundheit zu tun haben könnten – und damit die genetische Präventionsideologie – wird erst im Prozess der Teil-

14 Entgegen meiner Motivation könnte meine Untersuchung also für die Interviewten den Effekt einer Verstärkung der genetischen Präventionsideologie haben, da sie mit dem Akt des Interviews eine besondere Aufmerksamkeit auf das Thema „Gentest“ richtet und die Interviewten mit etwas konfrontiert, was sie sonst vielleicht weniger beschäftigt.

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nahme an dieser Studie an die Frauen herangetragen. Im Nachhinein wird der Anfang dieses Prozesses als ein „Wachrütteln“ empfunden, durch das etwas ans Licht gebracht wurde, das ‚zugeschüttet‘ (vergessen oder verdrängt) war. Das neue Wissen wird angenommen und nicht infrage gestellt, man richtet auch die eigenen Handlungen danach aus. Im „Spezialfall“ Frau Althauser lief der Prozess etwas anders: Sie war als ‚Risikoperson‘ – ihr Frauenarzt wusste von vielen Fällen in der Familie – jährlich zur Mammographie geschickt worden (in einem Alter, in dem dies in der Normalvorsorge nicht üblich ist: zum Zeitpunkt des Interviews war sie erst 35). Dort war die Mastopathie entdeckt und schließlich die prophylaktische Mastektomie empfohlen worden. Bei ihr wurde also der Patientinnenstatus nicht nur im Sinne einer präsymptomatischen KlientinPatientin (Scott et al. 2005), sondern in einem wesentlich physischeren Sinne vorweggenommen. 5.2.2.4 Die Präsenz der Familie In fast allen Interviews – sowohl mit Frauen des Typs 1 als auch des Typs 2 – war die hohe Präsenz der Familie in den Erzählungen auffällig, emotionale Schilderungen von Krankheit und Tod von Angehörigen, die den Frauen sehr nahe gingen, nahmen einen großen Raum ein. Frau Fischer kommt immer wieder auf die Krankheit ihrer Schwester sowie auf die Beziehung zu ihr zu sprechen, Frau Drescher erzählt ausführlich vom Tod ihrer Mutter, zu der sie eine sehr enge Beziehung hatte, Frau Engelberger berichtet von der ständigen Sorge um ihre erkrankte Mutter. Offenbar ist die Frage des Gentests assoziativ sehr stark mit den familiären Bezügen verknüpft, sodass die Interviewsituation diese Geschichten hervorruft. Fast scheint es, als würde über den Gentest eine neue Verbindung zu diesen Angehörigen erreicht: Zwar ist man nicht selbst krank, aber immerhin auch biologisch betroffen. Solche refamiliarisierenden Tendenzen der Gendiagnostik hat auch Britta Pelters (2011, 2012) in ihrer Studie genauer untersucht (vgl. Unterkapitel 4.2.1.3). In anderen, insbesondere in quantitativen Studien wurde häufig das eigene Erleben von Krankheitsfällen als Grund für einen Gentest angeführt. Meines Erachtens scheinen hier jedoch komplexere Beziehungen auf. Über die psychischen Dynamiken kann allerdings nur spekuliert werden, da die Interviewmethode keine tiefenpsychologischen Einsichten ermöglicht. Das in der Literatur häufig erwähnte Phänomen der Survivor-Guilt, also der

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Schuldgefühle derjenigen, die überlebt haben, gegenüber den Gestorbenen, könnte hier in abgewandelter Form zutreffen. Die Aussagen der interviewten Frau Fischer beispielsweise legen nahe, dass sie sich schuldig gegenüber ihrer Zwillingsschwester fühlt, da diese erkrankt ist und sie nicht. Sie stellt ihre eigene Nicht-Erkrankung in einen Zusammenhang damit und scheint die Theorie zu haben, dass bei Zwillingen nur eine Glück haben kann und die andere Pech hat, weswegen sie sich schuldig fühlt, die Gesunde zu sein. Auffällig ist jedenfalls, dass teilweise ein großer Aufwand getrieben wird, um zu erklären, warum andere in der Familie im Gegensatz zu einem selbst krank wurden. Die entsprechenden Stellen werden noch in anderen Kontexten interpretiert werden, etwa bei den Subjektiven Krankheitstheorien und der Frage nach Management und Kontrolle der Krankheit (Kapitel 5.2.4 und 5.2.5). In vielen Erzählungen werden die Schilderungen von Leiden oder Tod von Angehörigen auch als Argument für die Wichtigkeit des Gentests eingesetzt, wie hier bei Frau Haas: E: ich denke ich hab schon, RICHtich gemacht /mhm/ (2) und dadurch fand ich des schon net schlecht, /mhm/ dass genau zu WISSen dass dieses gen DA is oder nit /mhm/ (1) und das gen WAR da, /mhm/ das war bei mir meiner SCHWESter und=s is bei mir und ich (.) DENKe (.) da wird=s meine älteste schwester, die ja NIT dabei war, dass:, die des gen auch hat /mhm/ nehm ich also stark an /mhm/ (2) weil=s können ja dann net ZWEI nur sein (1) wo (1) müssen ja dann schon alle VIER (2) also ich hätte noch dr’=noch drei geschwister /mhm/ (3) die ältste, die wohnt, f’ h-stadt da unten /mhm/ (2) hh und dann komm ICH und dann kommt die die verSTORben ist und dann die (.) kleinste die selbst an krebs erkrankt war /mhm/ (3) und das war schon HEFtich /mhm/ (2) I:

in welchem alter sind die erkrankt dann? (2)

E: hh ähm: I:

ungefähr

E: jetzt muss ich erst=mal überLEgen (.) meine schwester die ä’ die mittlere (1) hh .hh (.) FRÜH eigentlich, dreißich, paar=en=dreißich (.) zweiendreißich dreiendreißich (1) ja und die, die KLEINste, das könnte, ja, AUCH so um den dreh gewesen sein (1) dreißich (1) /mhm/ ja (2) ja meine schwester is mit achtendreißich gestorben /mhm/ (3) und das war heftich /mhm/ (2) da zu=das zu sehen wie=se da, lag und, ah nee, /mhm/ schlimm, war ECHT schlimm (3) das war net so (1) na=ja gut und die mutter war ja selbst auch schon (.) an krebs erkrankt

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aber das is schon, poh (1) über dreißich jahre her (3) und da war=se AUCH so jung ((räuspert sich)) (1) war auch noch jung /mhm/ (1) und hat eine brust ganz ab /mhm/, da wurde das damals noch gemacht da wurde=se GANZ abgenommen /mhm/ (1) heute macht=ma das ja nit mehr ne, /mhm/ (4) ja (2) /mhm/

Die Angst vor der eigenen Erkrankung angesichts des Leidens von Angehörigen soll scheinbar durch den Test und daran anschließende Maßnahmen kontrolliert werden. Nicht nur familiäre Verbindungen, sondern auch Trennungen werden im Umgang mit der Gendiagnostik thematisiert: Häufig wird von anderen Verwandten berichtet, wie hier von der ältesten Schwester, die offenbar eine andere Strategie gewählt haben: zu verdrängen und sich möglichst wenig mit dem Thema zu beschäftigen. In fast allen Interviews tauchen solche Verwandten auf, von denen man sich geradezu vorwurfsvoll abgrenzt, und verständnislos ist, warum sie den Test nicht machen wollen, wie hier bei Frau Engelberger: ja. un dann war's für mich klar ich mach's auch auf jeden FALL /mhm/ auch wenn ich meine cousinen jetzt nich verstehen kann, weil die sin' eb'n auch schon fünfundzwanzig, dreiundzwanzig un ((leise) keine ahnung) siebenundzwanzig? glaub ich (.) un für die is es ja AUCH eigentlich wichtig zu wissen /mhm/ (3) ((leise) ja.) (.) also ich kann das NICH nachvollziehen un meine mutter kann's AUCH=nich nachvollziehen /mhm/ weil ich WEISS NICH ob's echt dadran liegt dass ich halt so= früh schon auf (.) AUFgeklärt wurde /mhm/ dadurch. (1) un=dass meine mutter halt gesacht hat, da gibt's so'ne genSTUdie da mach ich auf jeden fall MIT /mhm/ un=dass man halt überhaupt RAUSgefunden hat dass sie si `diese genmutation HAT /mhm/ (3) ((leise) ja.) (2)

Frau Althauser spricht sogar von einem Tabu in der Familie, das sie selber für schädlich hält – dagegen stellt sie sich als eine dar, die sich mit der Sache auseinandersetzen will und daher den Test macht. Auch im obigen Zitat von Frau Haas wird die älteste Schwester erwähnt, die nicht an der Untersuchung teilnehmen wollte. Fast scheint es, als würde diese ‚in Sippenhaft‘ genommen: Die Interviewte äußert, dass sie davon ausgehe, dass die vierte Schwester das Gen auch haben müsse. Das mag nur dem falschen Verständnis der Erbgänge geschuldet sein. Auch in anderen Passagen klingt aber eine gewisse Empörung gegenüber der Schwester durch. So äußert sie in der folgenden Stelle nochmals ihr Unverständnis:

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E: ich hatte dann noch=ma mit meiner gr’ (.) ÄLTsten schwester telefoniert ob=s net dann=doch (.) NEE! (.) das will ich net wissen=das will ich net wissen! /mhm/ (.) also sie war total daGEgen /mhm/ (1) wie kann man so=was MACHen=und (.) sach=ich waRUM DENN!? /mhm/ (.) sach=ich (.) du kannst doch damit dann ganz annerster umGEHen /mhm/ (1) die VORsorge kannst=du zum beispiel schon=ma mehr AUSweiten /mhm/ (.) a=ja es IS doch so! /mhm/ (.) nein die wollte ganz=und=gar=net (.) nein die hat auch net MITgemacht /mhm/ (1) (...) I:

und die schwester (.) warum wollte die das nich machen? (2)

E: ich WEISS=es net /mhm/ (2) keine ahnung (1) sie wollt=s net wissen /mhm/ (3) vielleicht kann=se auch net damit umGEHen /mhm/ (2) weiß ich net /mhm/ (2) aber=se wollt net /mhm/ (.) na dann BITteschön (2) und da haben wir das: (.) nur wir zwei das gemacht /mhm/ (1)

Von der Genmutation wissen zu wollen, erscheint fast als eine Verpflichtung. Vielleicht möchte man den ‚Willen zum Wissen‘, den man sich selbst auferlegt hat, nicht durch andere infrage stellen lassen, die sich dem entziehen. Insgesamt bekommt man den Eindruck, dass im Setting der familiären Risikobestimmung auch viele innerfamiliäre Beziehungen und Konflikte eine Rolle spielen. Wie schon dargestellt wurde (vgl. insbesondere Kapitel 2.3), würde deren genauere Analyse den Rahmen dieser Untersuchung jedoch schon allein deshalb sprengen, weil meines Erachtens die Interviewmethode solche psychologischen Interpretationen nur begrenzt ermöglicht. 5.2.3 Vorstellungen vom Gen Im letzten Unterkapitel Gründe für den Test und Wahrnehmung als Risikoperson wurde deutlich, dass alle Frauen von der Vererbbarkeit einer Krebsdisposition ausgehen. In diesem Teilkapitel soll nun beschrieben werden, welche Vorstellungen vom „Gen“ in den Erzählungen der interviewten Frauen auftauchen. Mir geht es dabei letztlich um die Frage, ob und in welcher Weise ihnen das BRCA-Gen als Ursache für Brustkrebs plausibel erscheint. Wie stellen sich die Interviewpartnerinnen eine BRCA-Mutation im eigenen Körper vor? Welche diskursiv vorhandenen Bilder werden dabei aufgenommen?

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Bevor ich die Interviews führte, hatte ich aufgrund der humangenetischen Beratungsgespräche, aber auch auf Basis der Analysen populärer Metaphern der Genetik, wie sie beispielsweise Dorothy Nelkin und Susan Lindee (2004) durchgeführt haben, konkrete Vorannahmen über diese Bilder und Vorstellungen. Ich vermutete, dass die vom humangenetischen Berater verwendeten Metaphern (siehe Kapitel 3.3.6), aber auch andere populäre Bilder von Genen bei den Interviewpartnerinnen einen Raum der Imagination über molekulare Prozesse im eigenen Körper eröffnen würden. So nahm ich an, einzelne Frauen würden sich – analog zur Beschreibung des Beraters – einen täglichen Krieg im eigenen Körper vorstellen zwischen freien Radikalen, welche die DNA beschießen, Vitaminen, die – je nach täglicher Obst- und Gemüsedosis – einen mehr oder weniger guten Schutzschild darstellen, und defekten BRCA-Reparaturlokomotiven, die ihre Arbeit nicht richtig tun, was schließlich zu zeitbombenartigen Krebszellen in ihrem Körper führen würde. Auch aufgrund anderer Studien erwartete ich, dass die Frauen explizit und körperlich lokalisiert über Ängste vor Krebs sprechen würden, wie dies etwa in den Studien von Hallowell15 und von Robertson (2000) berichtet wird. Wie beschrieben (vgl. 4.4.2 Subjektive Krankheitstheorien und Vorstellungsbilder), führte das in der Studie von Robertson zu einer Distanzierung vom eigenen Körper, wenn etwa die eigenen Brüste als ‚heimtückische‘ Körperteile angesehen wurden. Interessanterweise sprachen die meisten Frauen in meiner Studie aber weder sehr bildhaft über Gene, noch malten sie sich körperliche Bilder von Krebs aus. Das Wort „Gen“ tauchte manchmal verstreut in den Interviews auf, zusätzlich versuchte ich aktiv Erzählungen dazu zu motivieren, indem ich (leicht variierend) fragte: „Haben sie denn irgendwie eine (konkrete) Vorstellung davon, was das Gen in ihrem Körper bewirkt?“ Hierauf sagten einige Frauen, dass man es ihnen erklärt habe, sie sich aber nicht mehr erinnerten. Manche antworteten, sie wollten es sich nicht vorstellen, andere wiesen explizit zurück, eine bildliche Vorstellung davon zu haben. Bei den Frauen, die eine bildliche Vorstellung von Genen ausdrückten, zeigten sich häufig Bilder und Vorstellungen des allgemeinen BRCA-Diskurses. Auffällig war aber, dass diese offenbar kein zentrales

15 Krebs war hier z.B. als „silent killer [...] that eats away at your body“ bezeichnet worden (Hallowell 1999: 104).

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Thema für sie selbst waren. Keine Frau artikulierte etwa von sich aus ein Bedürfnis, sich das Gen vorzustellen. Insgesamt ist aber allen die Existenz von Genen in ihrem Körper evident, auch wenn manche interviewte Frauen sie sich nicht konkret vorstellen. Die Verkörperung des Risikos, die Vorstellung, dass eine statistische Relation zwischen bestimmten Basenpaaren und Krebs etwas mit dem eigenen Körper zu tun hat, die Verdinglichung dieser Relation als „Gen“ im Körper gelingt. Die Interviewpartnerinnen reden so selbstverständlich von Genen als diskreten Einheiten, wie es in Kapitel 3.2 für den Diskurs beschrieben wurde. Das Gen funktioniert als Glaube, auch wenn es nicht faktisch im Körper vorgestellt wird. Vielleicht ist die Tatsache, dass Gene kein ‚Problem‘ (der Vorstellung) für die Frauen darstellen, also ‚unproblematisch‘ sind, gerade Ausdruck dieser Evidenz. Thema ist eher das Spannungsfeld Gen – Disposition – Determination – Krankheitsausbruch, also eine subjektive Theorie über den Zusammenhang von Gen und Krankheit. Dieses Thema wird in den Kapiteln Subjektive Krankheitstheorien und Management und Kontrolle weiter behandelt. Doch zunächst einmal geht es darum, in welcher Weise das Gen selbst in den Erzählungen vorkommt. Im Folgenden werden unterschiedliche zentrale Motive, die auf die Frage nach der Vorstellung vom Gen aufgetaucht sind, detaillierter dargestellt. Darauf folgt die Diskussion der Metaphorik von Genen, soweit sie überhaupt in den Interviews Thema war. Die Darstellung wird im Unterschied zu den anderen Kapiteln nicht nach den Typen 1 und 2 differenziert, da diese Motive nicht systematisch mit den anderen Merkmalen zusammenzuhängen scheinen. Allgemein zeigte sich, dass fast alle Frauen meine Frage nach ihrer Vorstellung vom Gen als Anspielung auf das humangenetische Beratungsgespräch, geradezu als Abfrage, was sie davon behalten haben, zu verstehen schienen. In ihren Antworten nehmen sie nicht auf andere Wissensquellen Bezug, sondern verweisen auf das, was sie im Beratungsgespräch gehört haben. 5.2.3.1 Keine (bildliche) Vorstellung Vergessenes Wissen Der größere Teil der Frauen artikulierte, keine (bildliche) Vorstellung von Genen zu haben. Eine mehrfach auftauchende Variante davon ist die, sich

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nicht mehr an das Erklärte erinnern zu können, wie im Gespräch mit der positiv getesteten Frau Drescher: I:

(15) (murmelt unverständlich) ähm, ham sie denn irgendwie son' ne konkrete VORstellung davon, was das gen in ihrem körper bewirkt?

E: (4) das hat mir der herr doktor michels erklärt aber ich weiß es nicht mehr /mhm/ also irgendwie hat er mir erklärt, warte mal wie war des des war glaub' ich was ANderes mit dieser KETte und wenn da eins deFEKT ist und dann irgendwann wird man dann halt KRANK. (...)(1) ähm, (1) so genau weiß ich's net mehr ((leise) will's auch gar nicht wissen) (lacht) /(lacht)/ (2) nee weil ich weiß er hat's mir erklärt aber ich konnte mir daraus jetzt net schließen was ich persönlisch tun kann dass sich da nichts dran verändert /mhm/ außer eben von außen her dieses geSÜnder aber des hat er mir gesagt also ich wär' da jetzt von mir aus net drauf gekommen dass da dass ma das in der weise dass mer das also ma kann's eigentlich kann ma' kann ma's beEINflussen? ja nur durch gesundes LEben, WENN überHAUPT. /ja/ ununund äh, arznei HA'm 'se ja noch keine /nö/ medikamente HA'm se ja noch keins ne? /mhm/ /mhm/ also er hat mir das erklärt, aber ich weiß es net mehr [net dass se denken der hätt' SCHLECHT beraten] I:

[(lacht) nee ich dachte nur ob sie sich da überhaupt so (1) ob] 'ne vorstellung von machen oder so, aber dann (1) ja eher NICHT so.

Die Interviewte drückt aus, dass sie sich bemüht, sich an das Beratungsgespräch zu erinnern („warte mal wie war des“). Erst für mich versucht sie also, zu rekonstruieren, was man ihr erklärt hat. Daran wird deutlich, dass Frau Drescher offenbar keine unmittelbar präsente Vorstellung vom Wirkmechanismus des Gens hat; für sie ist es offenbar kein relevantes Thema. In ihrer Rekonstruktion finden sich Versatzstücke von Erklärungen, die der Berater benutzt hat, die sie aber auch aus anderen Quellen übernommen haben könnte (mit der Kette könnte sie zum Beispiel auf die „DNAStrickleiter“ des Beraters anspielen). Als ich ihre Antwort zum Anlass nehme, die Frage neu zu formulieren und zusammenfassend für sie antworte, sie mache sich „wohl eher nicht so“ eine konkrete Vorstellung, stimmt sie dieser Aussage non-verbal zu. Es tauchen drei Motive auf, die sich auch in anderen Interviews finden: Erstens betont die Interviewpartnerin, dass der Berater es zwar erklärt habe, sie sich aber nicht erinnern könne. Implizit und explizit stellt sie klar,

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dass sie nicht etwa unzureichend beraten wurde. Damit wird der Berater entlastet und sie schreibt sich selbst mangelndes Verständnis und Wissen zu.16 Möglicherweise assoziiert sie mit meiner Frage also eher eine Evaluation der Qualität der Beratung, wie sie im Rahmen der Studie schon in verschiedenen Fragebögen und im Rahmen eines Telefoninterviews abgefragt wurde, und weniger ein Interesse an ihren ganz persönlichen Vorstellungen. Das könnte ein Hinweis sein, dass die Interviewsituation (beziehungsweise die Art meiner Fragestellung) dazu beigetragen hat, dass die Frauen mir keine persönlichen Körpervorstellungen erzählten. Ein zweites Motiv ist in der Aussage beinhaltet, sie wolle es auch gar nicht genauer wissen. Interessant ist hier die Modalisierung: Der Satz wird leise gesprochen und mit einem Lachen beendet, in das die Interviewerin einfällt. Das Leisesprechen könnte eine Relativierung bedeuten, weil nun „etwas Persönliches“, ein Exkurs eingeschoben wird. Das nachträgliche Lachen relativiert die Aussage ebenfalls, heischt Verständnis bei der Interviewerin. Eine andere Interpretation wäre, dass die Relativierung stattfindet, weil es eigentlich sozial nicht akzeptiert ist, dass man so etwas nicht wissen will. Explizit begründet sie ihr Nicht-Wissen-Wollen schließlich mit der Tatsache, dass sie aus der Darstellung keine Handlungen ableiten konnte. Ein drittes wichtiges Motiv ist daher, dass sie von der Vorstellung vom Gen direkt zu einer Krankheitstheorie und zu Handlungsmöglichkeiten für sich kommt: Was sie interessiert, ist, ob sie krank wird und was sie „persönlich tun“ kann. Soweit sie das aus der Darstellung des Genetikers nicht ableiten konnte, hat diese für sie keine besondere Relevanz. Sie stellt die Glaubwürdigkeit des Wirkmechanismus von Gen und Krankheit aber dadurch, dass sie selbst sich die genauen Zusammenhänge nicht erklären

16 Das Motiv, „gut beraten“ worden zu sein, findet sich ebenfalls an anderer Stelle im Interview: „und das fand ich klasse das gespräch mit dem, also der hat mir da unheimlich viele ich mein da weiß ich natürlich vieles auch net mehr /mhm/ und der hat mir mir halt so erklärt, wie das mit den mit den genen, mit den brustgenen äh brustkrebsgenen wie des funktioniert, [...] also ich kann jetzt NIT mehr sagen was die mir im einzelnen so erzählt haben, ne also des die ha'm mir auch broSCHÜren mitgegeben also ich weis ich fand ich fand mich SCHON gut beraten.“

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kann, nicht infrage. Dies zeigt sich daran, dass sie an anderen Stellen selbstverständlich einen Bezug zwischen Gen und Brustkrebs herstellt. Auch die zweite positiv getestete Interviewpartnerin, Frau Haas, antwortet auf meine Frage, sie wolle es sich nicht vorstellen: I:

machen sie sich denn so öh=öh (1) so ne konkrete VORstellung davon was das gen in ihrem körper (.) beWIRKT?

E: mh=mh /mhm/ (1) nee (.) waRUM? (.) I:

könnte ja sein dass sie da so=n BILD vor augen haben [oder so=was oder]

E: [nee (.) nee] (1) eigentlich net. /mhm/ (5) wie soll ich mir da=ne VORstellung machen? (.) NEE, (2) mh- (.) eigentlich nein (.) /mhm/ (.) könnte ich mir auch gar nix drunter V:ORstellen buh (3) kann ich net. /mhm/ (.) vielleicht WILL ich=s auch net [ja] (.) denk ich /mhm/ (.) mir da irgendwie was vorzustellen was (.) nee /mhm/ (1) ich muss auch ganz EHRlich sagen da hab ich auch gar keinen gedanken (.) ((I schmunzelt kurz)) (1) dran verSCHWENdet /mhm/ (.) mir da irgendwas: v:orstellen zu wollen oder müssen /mhm/ (.) mh=mh (.) nee

Anders als die meisten anderen Frauen nimmt die Interviewte nicht Bezug auf das Beratungsgespräch oder ein bestimmtes ‚Wissen‘, das sie vergessen habe. Wieder wird aber deutlich, dass eine konkrete Vorstellung des Gens kein Thema ist, das sie beschäftigt. Ihr scheint die „konkrete Vorstellung“ so fern zu liegen, dass sie von sich aus noch nie darüber nachgedacht hat. Konkret danach gefragt, sinniert sie darüber, wieso sie sich überhaupt etwas vorstellen solle. Ähnlich wie Frau Drescher fragt sie sich außerdem, ob sie es sich vielleicht auch gar nicht vorstellen wolle. Diese Wendung ist interessant, da die mangelnde Vorstellung nun als Ausdruck eines Willens erscheint, der jedoch nicht weiter begründet wird. Möglicherweise ist es aber kein Zufall, dass beide positiv Getestete dieses „Nichtwollen“ einer Vorstellung ins Spiel bringen. Man könnte vermuten, dass das Wissen von der Mutation nicht zu nahe rücken soll, wie es durch eine bildliche Vorstellung der Fall wäre, und diese daher nicht erwünscht ist. Im Interview mit Frau Fischer findet sich der Topos des „vergessenen Wissens“ in einem ähnlichen Kontext wie bei Frau Drescher, was in der folgenden Passage deutlich wird: I:

und hatten sie da den eindruck dass sie was damit anfangen können mit den informationen?

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E: DOCH, in dem moment SCHON, /mhm/ ja, aber nach zwei tagen oder (???) dann is ja vieles wieder weg /mhm/ dann krieg ich das nicht mehr zuSAMMen. ja also von daher SCHON dann hätt` sonst hätte ichs nicht machen lassen. ne, /mhm/ wa=wa=was da an untersuchungen und was so teuer is diesen (.) ich will jetzt nix falsches sagen; von den MOLekülen bis=bis /ja/ äh=äh (.) ich hab zu HAUse noch was aber das hab ich mir jetzt weiterhin gar nicht /mhm/ durchgelesen ja, und ähm ja; und da hab ich gedacht ja; dann kann das ja nur richtig sein, (.) für uns beide, /mhm/ inwieweit ich AUCH betroffen bin. (...) ja (2) gut und da wars mir eben halt wichtig hier doktor michels ich hab mich auch gut AUFgehoben gefühlt /mhm/ bei ihm und auch ähm von der berAtung her von der erklÄrung her (1) sehr gut aber wie gesagt das medizinische /mhm/ das kann ich nach fünf jahren NICH mehr /ja/ behalten wie das nun zusammenhängt. /ja/ ja, (1) aber das da hab ich das hab ich auch immer wieder angekreuzt; also es war sehr ausFÜHRlich /mhm/ nur äh für=für jemanden der medizinisch keine vorkenntnisse hat /mhm/ oder so sind einfach diese fachausdrücke schwer wiederzugeben. /mhm/ damit hätt ich mich dann viel mehr damit beFASSen müssen; NACHträglich noch. /ja/ ja, aber in dem moMENT war die beratung oke.

Auch hier wird eine Evaluation der Beratung vorgenommen und damit eine Abwertung der eigenen Person verbunden: Die Beratung war „sehr gut“, nur fühlt sich die Interviewte medizinisch zu ungebildet, um sich diese Dinge zu merken. Dieses Motiv wird häufig wiederholt: Die Interviewte stellt sich als jemand dar, die sich solche Informationen nicht gut merken kann, im Gegensatz zu „Intelligenteren“ oder Gebildeteren. Bezüglich des Verhältnisses zu Ärzten wird hier außerdem eine eher paternalistische Beziehung inszeniert, wie in Unterkapitel 5.2.1 beschrieben wurde. Frau Fischer sagt explizit, sie habe sich „gut beraten gefühlt“, das auch „immer wieder angekreuzt“ (in den Fragebögen der Studie, von denen sie vorher im Interview erzählte): Tatsächlich erinnert sie meine Frage also an die Evaluationsabfrage aus der Studie. Sie erinnert sich vor allem daran, dass sie damals die Informationen plausibel fand und entschied, dass diese Untersuchung richtig für sie und ihre Zwillingsschwester sei. Auch hier wird also deutlich, dass die Evidenz des Gens weder an eine konkrete Vorstellung noch an ein genaues Verständnis der medizinischen Zusammenhänge gebunden ist. Das Interesse der Interviewpartnerin liegt nicht so sehr auf einer konkreten Vorstellung

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vom genetischen Zusammenhang als auf der Frage, warum ihre Zwillingsschwester erkrankte und ob auch sie erkranken wird.17 Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Evidenz des Gens nicht so sehr von einer konkreten Vorstellung gestiftet wird, findet sich im folgenden Zitat von Frau Graf: I:

hm (1) können sie ham sie da irgendwie so ne vorstellung davon was dieses gen in ihrem körper bewirkt? /(atmet ein und aus)/(3) ich mein einfach so ob sie sich davon ne vorstellung MACHen oder [ob sie da gar nicht drüber nachdenken.]

E:

[was heißt gut ich mein] ich hatte leider biologie bis=bis zur dreizehn eins. dreizehn zwei ich weiß es nich. und ich fands grauenhaft, ich fands kompliziert und langweilich, und gentechnik oder überhaupt genetik (.) dieser bereich der blieb mir verschlossen. ich habe kein großartiges biologisches verständnis ich bin mehr ein sprachlicher typ. /mhm/ so. (.) ich kannte die fakten die mir dargelegt wurden, dass das risiko so hoch is, und es=es=es ist ne erbliche geschichte, und eigentlich das REICHte mir; also /mhm/ (5)

Auch in diesem Interview wird auf meine Frage eher mit einer Erklärung zum Verständnis geantwortet als zur bildlichen Vorstellung. Die Interviewte scheint aber rechtfertigen zu wollen, warum sie das nicht verstanden habe. Indem sie sich als einen eher sprachlichen Typ einordnet, wertet sie sich dabei nicht als „inkompetent“ oder „nicht so intelligent“ ab und unterscheidet sich damit beispielsweise von der vorangehend zitierten Passage des Interviews mit Frau Fischer. Vielmehr benennt sie recht selbstbewusst ihre eigenen Kompetenzen und Schwächen. Obwohl sie die genauen biologischen Zusammenhänge nicht verstehe, hat sie offenbar den Eindruck, die notwendigen „Fakten“ zu kennen, die für sie einerseits in einem prozentual bezifferbaren Risiko, andererseits in der Erblichkeit bestehen. Zurückgewiesene Vorstellungen Eine andere Form der Distanz zu konkreten Vorstellungen von Genen findet sich bei Frau Baumann. Sie expliziert zwar eine Visualisierung, weist sie aber als für sich unangemessen zurück:

rien noch Thema sein.

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I:

hm (.) ähm h=ha=ham=sie sich denn irgendwelche geDANken darüber gemacht ähm (.) WAS (.) was dieses GEN in ihrem körper beWIRKT, oder .h also=so kö`könn'n ham=sie da irgendwie so'ne PLAStische VORstellung von? oder

E: EIgentlich nich, also ich halte NICHTS davon mir .h mir GEne als ((lachend) BÖse dinger VORzustell'n) /(lacht)/ die dann= (.) das MAUL aufREISsen und den ganzen KÖRper auffressen oder sonstige dinger NEIN davon halt=ich eigentlich NICHTS. /mhm/ (.) ich seh das EIgentlich ähm (.) SEHR bioLOgisch und=ähm (2) nee=EIgentlich nich. (.) nee. /mhm/ also ich DEnke ZWAR dass=es vielleicht in der KREBStherapie HILFreich is sich die= (.) ABwehrzellen als BÖse FRESSdinger vorzustellen oder so was das hab=ich schon ÖFter geHÖRT dass=das auch erFOLge bringt, aber`/mhm/ (.) ähm (.) NEE seh ich eigentlich NICH so. /mhm/ (.) ne VIELleicht bin ich da einfach ZU ähm (1) zu NÜCHtern für. /mhm/ (.) das kann SEIN. (3) eigentlich NICH ne (1) /mhm/ (3)

Hier wird im Gegensatz zu den bisher zitierten Interviews auf meine Frage mit einem Bild reagiert statt mit einer Verständniserklärung. Vielleicht hat die leichte Variation in meiner Frage („plastische Vorstellung“) diese Verschiebung bewirkt. Es wird sogar eine „biologische Sicht“ gegen eine bildliche Vorstellung ausgespielt. Der Interviewten ist offenbar ein bestimmtes Bild präsent: „Gene als böse Dinger, die das Maul aufreißen“, das sie aber für sich unangemessen findet. Ihre Beschreibung mutet wie eine Karikatur bestimmter Visualisierungen in populärwissenschaftlichen Filmen oder in der Werbung an. Sie schreibt solchen Vorstellungen zwar einen möglichen Nutzen in der Krebstherapie zu – sie spielt vermutlich auf die SimontonMethode an, in der durch solche Imaginationen die Selbstheilungskräfte des Körpers gestärkt werden sollen – beschreibt sich aber demgegenüber als „nüchtern“. Die Vorstellung ist offenbar etwas für Leute, die nicht nüchtern beziehungsweise biologisch an den Körper herangehen, und wird im Bereich des Irrationalen angesiedelt. Ähnlich wie bei Frau Fischer wird außerdem eine Assoziation von Genvorstellung und Krebsvorstellung vorgenommen. Das Bild, das Frau Baumann aufruft („Dinger, die den ganzen Körper auffressen“), ist, wie es im Kapitel 3.2.2 dargestellt wurde, eine Metapher für Krebs, die besonders in den 1970ern und 1980ern üblich war: Krebs wurde oft als etwas dem Körper Fremdes, als gefräßiges Tier beschrieben. Von der Interviewpartnerin wird nun genau dieses Bild mit Krebstherapie assoziiert, wobei es aber,

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indem die körpereigenen Abwehrzellen zu den „bösen Fressdingern“ werden, ganz anders angewendet wird. Eingeschränkte Vorstellungen Eine weitere Variante, keine bildliche Vorstellung zu haben, wird im folgenden Zitat von Frau Engelberger deutlich: I:

hm machen sie sich denn irgendwelche konkreten geDANKen darüber was dieses gen (.) in ihrem körper bewirkt, .h /bewirken KÖNNTE/ ja beziehungsweise NICH bewirkt /((leise) ja)/ haben sie da irgendwie 'ne VORstellung von wie das (.) ((lachend) aussieht) oder `?

E: ja wie gesacht, herr doktor michels hat's mir ja aufgezeichnet /mhm/ so'n bisschen so in GROBform un (.) JA ich konnt mir das eigentlich schon gut vorstellen, weil ich hatte auch jetzt BIO-LK in der schule un= /mhm/ hab auch VIEL genetik gemacht un (1) ja keine ahnung also (2) ja eigentlich kann ich mir das schon ((lachend) vorstellen) /mhm/ .hh (4) ja vielleicht nich grad das=s so BILDlich in meinem körper abläuft aber /mhm/ als ich d's da so aufgemalt kriegt hab dann (.) war's ja schon in vereinfachter form ((lachend) dargestellt) /mhm/ ((leise) un deswegen `) ich mein es is schon= ziemlich heftig was so'n (.) kleines geh `was so'ne kleine genmutation AUSmachen kann im körper /ja/ .hh (2) wenn ma' sich d's mal so vorstellt /mhm/

Zwar antwortet die Interviewpartnerin, sie könne es sich gut vorstellen, schränkt diese Aussage aber mehrfach durch Modalisierungen wie „eigentlich“ oder durch relativierende Nebensätze ein. Auch sie macht offenbar einen Unterschied zwischen vorstellen im Sinne von „verstehen“ und vorstellen im Sinne von „bildlich ausmalen“. Zwar habe sie die Zusammenhänge verstanden, es sei ihr auch vereinfacht aufgemalt worden, aber sie male es sich nicht bildhaft im eigenen Körper aus. Das Bild, das aufgemalt wurde, überträgt sie nicht auf oder in ihren Körper. Eine weitere Einschränkung findet sich am Schluss der Passage: Zwar sei es frappierend, welche massiven Veränderungen etwas Kleines wie ein Gen im Körper bewirken können, aber nur, „wenn man sich’s vorstellt“. Als Zwischenfazit lässt sich also festhalten, dass bildliche Vorstellungen vom Gen kein zentrales Thema der interviewten Frauen sind. Wichtig ist außerdem, zwischen Vorstellung im Sinne von „Verständnis“ einerseits und Vorstellung im Sinne von „Bild“ andererseits zu unterscheiden. Während

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die meisten Frauen auf meine Frage nach der Vorstellung mit einer Aussage zu ihrem Verständnis reagierten, und angaben, sie hätten keins, differenzieren andere genau zwischen diesen beiden Konzepten. Diese antworten, sie hätten zwar ein Verständnis, würden sich das Gen aber nicht bildlich vorstellen. Ein mangelndes Verständnis wird aber jeweils versucht zu rechtfertigen, was auf das Ideal der „informierten Patientin“ verweist, wie es für den Diskurs beschrieben wurde. Ein interessantes Phänomen ist außerdem, dass viele Frauen sich durch die Frage nach ihrer Vorstellung zu einer Evaluation der Beratungssituation aufgerufen fühlen und beschreiben, wie gut der Berater erklärt habe. Es mag sein, dass die Interviewten hier auch aufnehmen, was sie aus den anderen Interviews im Rahmen der Studie kennen: dass sie nach einer Bewertung der Beratung gefragt werden. Ich interpretiere diese Antworten aber auch als Ausdruck dessen, dass Kommunikation zu einem zentralen Thema wird – in diesem Fall die Kommunikation zwischen Arzt und Patientin – und Probleme von Beratung und Entscheidung relevant werden. Ähnlich hat Karpenstein-Eßbach es für die Krebs-Literatur der Gegenwart feststellt (siehe Kapitel 3.2.2). Wie oben dargestellt, interpretiert sie die Zentralität von Kommunikation auch als Resonanz der Veränderung in den Erklärungen von Krebs, da in den wissenschaftlichen Modellen Krebs als ‚Kommunikationsproblem‘ zwischen verschiedenen ‚Akteuren‘ in den Zellen beschrieben wird. Im Folgenden wird anhand der explizierten Genvorstellungen untersucht, inwiefern dieses Paradigma auch in den Interviewaussagen auftaucht. Neben dem Thema der Kommunikation beschäftigt die Frauen außerdem, ob sie krank werden, was in verschiedenen Eigentheorien verhandelt wird, die im Teilkapitel Subjektive Krankheitstheorien genauer dargestellt werden. Für diese Frage ist eine konkrete Visualisierung des Gens scheinbar nicht relevant. 5.2.3.2 Explizierte Vorstellungen Wenige Frauen explizieren tatsächlich bildliche Vorstellungen vom Gen. Nur Frau Althauser nimmt an einer Stelle des Interviews das komplette Bild aus dem Beratungsgespräch explizit auf: I:

ja das sind ja teilweise sehr komplexe informaTIOnen, also, zum BEIspiel jetzt in der huMANgenetischen beratung, hatten sie da das, den eindruck, dass sie das alles nachvollziehen konnten, was da

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[behandelt wurde, mhm] E: [ja, die ha'm das ganz toll erklärt erklärt, also ich hab' das auch so] meinen KINdern erklärt, mit der lok, die dna dieses dann, äh, repaRIERt, /mhm/ das da verschiedene EINflüsse, das dann kaPUTTmachen, die GLEisen und so, also ganz ganz toll erklärt, wirklich. /mhm/ ich hab' mich dann so'n, klar, logischerWEIse dann, nebenBEI informiert, hab' mir dann BÜcher besorgt, ist ja ne, und dann ((leise) (1) dass man dann nicht so DAsteht und sagt, uhu) (2) /mhm/ sie haben wenig FREMDwörter benutzt, das ist mir soFORT aufgefallen /(lacht)/ also IMmer versucht, /ja/ ja das (3) zu verdeutlichen ganz (2) nachvollzieh-nach-ja wirklich auch bildlich nachzuvollziehen, ne, haben 'se bildchen (lacht) gemalt, /mhm/ war toll, war WIRklich gut.

Auch hier steht das Motiv des Evaluierens der Beratungssituation im Vordergrund. Anders als bei Frau Drescher und Frau Fischer stellt die Befragte die Informationen jedoch als geradezu ‚kinderleicht‘ zu verstehen dar. Die bildliche Vorstellung wird in diesem Fall von ihr eingebracht (ich hatte sie in der Frage nicht erwähnt) und als Mittel einer weiteren Vereinfachung und Hilfe beim Nachvollziehen eingeführt. Frau Althauser erzählt außerdem in diesem Kontext von der Suche nach zusätzlicher Information: Sie hat sich Bücher besorgt, die ihr bei der Vorstellung beziehungsweise beim Nachvollziehen offenbar geholfen haben. Im Folgenden sollen die Vorstellungen von Genen, die expliziert werden, genauer auf ihre Metaphorik untersucht und die Assoziationsräume, in die sie gestellt werden, erkundet werden. Wie bereits grundsätzlich festgestellt werden konnte, waren die Interviewerzählungen arm an sprachlichen Bildern, also Metaphern, sowie an bildlichen Vorstellungen. Von den wenigen Sequenzen, die vorhanden sind, werden nachfolgend einzelne exemplarisch herausgegriffen. Gene als Dinge Zunächst lässt sich feststellen, dass Gene als klar umgrenzte Dinge benannt werden. Diese Dinge werden im Assoziationsraum von Besitz oder Vererbung angesiedelt: ich hab zwar jetzt das Gen (Frau Drescher)

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ich hab es geerbt oder ich hab es nicht geerbt (Frau Baumann)

Dabei wird von fast allen Frauen von einem „Gen“, nicht von einer „Genmutation“ geredet. (Nur Frau Graf redet vom „Gendefekt“, den sie nicht habe, und Frau Baumann von einer Mutation.) Die Vorstellung ist, das betreffende Gen (geerbt) zu haben, und nicht nur eine Mutation, also eine abweichende Basenfolge darin. Dies unterstreicht den Ding-Charakter. Gene als Substanzen und Akteure Ein weiterer Assoziationsraum ist der von Ursache und Wirkung. Hier wird ein eindimensionales Modell zugrunde gelegt: man kann `man findet jetzt schon SO viel dadrüber äh also herAUS (.) WAS welches gen beWIRKT (.) man ` 'TÜRlich man steht am ANfang vor'm riesen PUZzle. (Frau Engelberger)

Das Gen wird wie ein Akteur aufgefasst, der etwas initiiert. Diese Formulierung war allerdings an anderer Stelle (an dieser Stelle geht es um die Einstellung zur Gendiagnostik) auch von mir selbst in der Frage nach der Vorstellung vom Gen benutzt worden. Es findet sich ebenfalls die Metaphorik einer Entwicklung, wie in der folgenden Frage: was passiert denn damit das Gen zu Krebs wird? (Frau Drescher)

Hier scheint das Gen eine Substanz zu sein, die wie ein Keim ein Potential in sich trägt, das sich entfalten kann oder auch nicht. DNA als Sprache/Code der hat mir das halt alles ganz (.) detailliert gesacht so .h WO d's sich im körper abspielt, /mhm/ was es ähm (.) was es für AUSwirkungen hab'n kann, dass (.) d's dann ähm (.) hm, hh wie heißt die dnA nich mehr richtig ABgelesen wird, /mhm/ öh (.) von der= ` keine ahnung RNA oder was `(.) welche (.) die abliest (lacht) (Frau Engelberger)

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Wie in der Darstellung des humangenetischen Beraters wird hier auf das Bild der DNA als Text Bezug genommen. Das im Kapitel 3.2.2 beschriebene Kommunikationsparadigma wird also aufgenommen: Das erhöhte Erkrankungsrisiko erscheint als Fehler des Lesens, ob innerhalb einer Zelle oder an welchem Ort, bleibt unklar. Ähnliche Assoziationen bemüht das nächste Zitat von Frau Althauser: I:

(räuspern): haben sie denn irgendwie so 'ne VORstellung, was was dieses GEN in ihrem körper macht, oder (.) können sie sich das irgendwie vorstellen?

E: ich denke das ist einfach, das ist ein MERKmal, (2) ganz normales wie=soll=man=sagen (1) ein knöpfchen, das gedrückt werden kann oder nicht. /mhm/. ne? einfach 'n, 'n 'n (.) 'n button, der da ist, der vielleicht bei jemand anderem nicht da ist, und (.) ganz individuell, und wenn da irgendwas dazu kommt, und der gedrückt wird, dann geht's halt los.

Auffällig ist zunächst die Normalisierung im Zitat: Durch die Wörter „einfach“ und „ganz normales“ stellt die Interviewte heraus, dass es sich bei dem mutierten Gen nicht um etwas A-normales handelt und normalisiert sich damit auch selbst. Die assoziierten Bilder des „Knöpfchens“ oder „Buttons“ sind aus dem Feld der technischen Geräte. Sie könnten beispielsweise auf den Button einer Computeroberfläche verweisen, durch dessen Drücken ein vorgegebenes Programm abläuft. Der Assoziationsraum Informatik und Computertechnik wird bedient. Unklar ist, wer oder was das Agens des „Drückens“ ist. Auch bleibt die Frage, die ich gestellt hatte – ich hatte das Gen als Agens benannt, das etwas „im Körper macht“ – unbeantwortet. Zwar liegt eine klare Veranlagung (das Knöpfchen ist da) vor, daneben wird aber die Zufälligkeit des Prozesses betont. Anders als im Modell von Keim, Substanz oder Akteur gibt es hier zwar verschiedene Faktoren, die hinzukommen, aber auch in diesem Modell nimmt das Gen die zentrale Stellung im Krankheitsverlauf ein: Es ist der Schalter, über den das Programm eingeschaltet wird. Bei der Darstellung der Krankheitstheorien (Kapitel 5.2.4) wird dieses Thema wieder aufgenommen und die Details der Eigentheorie werden nachgezeichnet. Ein mit dem Assoziationsraum Informatik und Computertechnik verwandter Assoziationsraum ist der der Kybernetik, also des Zusammenspiels verschiedener Faktoren und der Kommunikation innerhalb eines Systems,

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der an anderen Stellen in den Gesprächen auftaucht. So stellt eine Interviewpartnerin die Frage: wieviele Sachen da bei dem einen oder dem anderen zusammenspielen (Frau Althauser)

In dem Zitat, das bereits in diesem Kapitel in dem Abschnitt Vergessenes Wissen zitiert wurde, heißt es: mit dieser KETte und wenn da eins deFEKT ist und dann irgendwann wird man dann halt KRANK. (...)mit dieser mit dieser KEtte ne, die immer so weiter funktioniert und äh wenn da eins deFEKT ist (Frau Drescher)

Die „Kette“ spielt vermutlich auf die DNA-Doppelhelix an, die häufig auch als Perlenkette bezeichnet wird, an der die Gene aufgereiht sind. In den untersuchten Beratungsgesprächen ist meist von einer DNA-„Strickleiter“ die Rede. Eine „immer so weiter“ – also unendlich – funktionierende Kette erinnert an die Zahnräder einer Maschinerie, die wie eine Kette ineinandergreifen. Das Gen beziehungsweise die Genmutation wird als ein beschädigtes Glied angesehen, durch das der Mechanismus unterbrochen wird, was in ihrer Beschreibung „irgendwann“ zur Krankheit führt. Im Bild der nicht mehr funktionierenden Kette taucht die – in Kapitel 3.2.2 in Referenz auf Johach und Karpenstein-Eßbach beschriebene – Kontrollproblematik auf, „die sich als beängstigende Rückseite der ausgetüftelten Kontroll- und Regelwerke darstellt, die die molekularbiologische Forschung der letzten Jahrzehnte ans Licht bringt: Krebs gilt als schrittweiser Ausbruch aus den Regelwerken des Körpers.“ (Johach 2003: 3) Körperliche Metaphern In wenigen Interviews tauchen Metaphern auf, die aus dem Assoziationsfeld körperlicher Prozesse stammen. So werden in manchen Assoziationen zu Schwangerschaft aufgerufen. Der zitierten Passage geht die Schilderung von Frau Baumann voran, dass sie erblich mütterlicher- wie väterlicherseits ‚vorbelastet‘ sei, was ich im Folgenden aufgreife: I:

[also] von BEIden seiten /ja/ sozusagen dann mhm.

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E: und von DAher (.) war halt die frage WIRKlich, ob ich dieses gen IN mir TRAge oder eben Nicht.

Der Ausdruck, etwas „in sich zu tragen“ wird meist im Kontext von Schwangerschaft verwendet. Hier ist es aber kein Kind, das ausgetragen wird, sondern eine familiäre ‚Belastung‘, die weitergegeben wird oder nicht. Eine andere Metapher ist die des Ausbruchs, wie bei Frau Fischer: weil die GENE trägt ja jeder im körper. ne? die krebsgene. /mhm/ und aber wenn sie zum ausbruch kommen durch irgendwas seelisch ja, psychisch (1) und dann durch hat sie eben dann is es ausgebrochen. ne, die wachsen ja zehn jahre, diese=diese=diese krebs (.) zellen, /mhm/ oder=oder ne? und teilen sich ja ganz langsam immer und – (1) und dann kommt des durch irgendwas zum ausbruch.

In dieser Eigentheorie ist die Rede von Krebsgenen, die jeder im Körper trage, die durch irgendeinen Anstoß „zum Ausbruch“ kommen. Das Konzept der vererbten Mutation taucht in dieser Theorie nicht auf. Kurz darauf wird statt von Genen nun von Krebszellen geredet – Gene und Zellen werden scheinbar gleichgesetzt. Ein Ausbruch (etwa ein Vulkanausbruch) ist ein plötzliches, eruptives Ereignis, in dem angestaute Energiemassen eine Schranke durchbrechen und in ein neues Gebiet eindringen. Hier könnte auch auf das Durchbrechen der Gewebegrenzen durch die Krebszellen angespielt werden. Wie bei der Metaphorik der Entwicklung oder des Programms wird offenbar an eine Substanz gedacht, die, durch irgendetwas angestoßen, zu dem wird, was potentiell in ihr angelegt ist: zu der Krankheit. „Schwangerschaft“ oder „Ausbruch“ sind Metaphern, die außerdem häufig zur Beschreibung von Krankheiten verwendet werden. Das könnte bedeuten, dass die Frauen keinen großen Unterschied zwischen dem Gen und einem krankheitsauslösenden Virus machen, sich selbst also als potentiell krank ansehen. Darauf verweist auch das folgende Zitat von Frau Althauser: man kann die veranlagung haben, aber wann 'se hervortritt, das ist, wie man jetzt 'nen virus hat, der 'nen ganzen dein ganzen leben lang in deinem körper SCHLUmmert.

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Schwangerschaft ist eine besonders typische Metapher für Krebs, den Susan Sontag als „dämonische Schwangerschaft“ (Sontag 2003: 16) bezeichnet. In diesem Bild wird – im Gegensatz zu den Bildern von Texten oder Programmen, die eher auf ein Kommunikationsproblem verweisen – die alte Vorstellung vom mysteriösen Krebs aufgerufen. Auch das langsame, hinterhältige Arbeiten der Krebszellen, der „Krankheit des Wachstums“ (ebd.: 15) taucht im Zitat von Frau Fischer auf. Die Ein- oder Verkörperung von etwas ist auch Thema der folgenden Interviewpassage, in der der Begriff „Gen“ von Frau Baumann nicht explizit genannt wird: ICH=würd=ihn IMmer wieder MAchen, (.) EINfach WEIL=ich es (.) GUT finde über die dinge die IN mir dr`DRIN sind beSCHEID zu WISsen, /mhm/ und wenn da IN mir drin 'n RIsiko is, /(Kind): MAMA/ (1) dann bin=ich EIgentlich die ERste die's wissen SOLLte, /mhm/ (1) und=ähm (.) damit ICH auch damit UMgehen kann, GANZ egal WIE ich dann damit UMgehe, /mhm/ dass=is ja DANN auch (.) im GRUNde genommen erst mal MEIN proBLEM wie ich mit so was UMgehe, /ja/ .hh aber ähm (.) ich FINde (.) man SOLLte auch ähm (.) WISsen was in ei'm SELber DRIN steckt. (.) und (.) ich DENke (.) das RIsiko es NICH

zu

WISsen

und

sich

DAdurch

UNnötich

ANGST

zu

ma-

chen=dann=TEILweise, is SO HOCH. /mhm/ (1) WEIL man MACHT sich naTÜRlich auch immer WIEder geDANKen drüber; KÖNNT=ich das jetzt HAben; KÖNNT=ich das geERBT HAben; und (.) mit SO'm TEST ham=sie dann EINfach die geWISSheit; ich HAB=es geERBT oder ich hab=es NICHT geERBT.

Hier wird nicht das Gen, sondern das Risiko direkt im Körper angesiedelt, verkörpert. Die ungewöhnliche Rede vom „Risiko in mir drin“ fasst pointiert eine Tendenz zusammen, die sich insgesamt in den voranstehenden Zitaten ausdrückt: Das Kernkonzept des medizinischen Diskurses, die Verkörperung des Risikos, gelingt. Das Risiko wird durch das Vehikel des Gens zum Ding im eigenen Körper, also verdinglicht. Denn auch wenn sich die Frauen kaum Vorstellungen des molekulargenetischen Prozesses im eigenen Körper machen, besteht die Evidenz des Gens als wesentliche Ursache für Krebs, wie sie im medizinischen Diskurs hergestellt wurde. Anders als in Analysen populärer Bilder von Genen (z.B. Nelkin/Lindee 2004) gedacht, wird diese Evidenz für viele der interviewten Frauen offenbar nicht

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über ein vereinfachendes Bild gestiftet: Dieses ist nicht abrufbar oder wird zurückgewiesen. Andere Interviewpartnerinnen haben zwar eine (bildhafte) Vorstellung, siedeln diese aber nicht im eigenen Körper an. In der genaueren Analyse der wenigen Bilder, die auftauchen, wurden verschiedene Metaphern und Assoziationsräume, in denen sich genetische Konzepte bewegen, herausgearbeitet: Die Frauen übernehmen die aus dem BRCA-Diskurs stammende Vorstellung von Genen als „Dinge“, die man besitzen und vererben kann, wie sie auch in den Beratungsgesprächen auftauchte. Sie adaptieren auch das eindimensionale Ursache-Wirkungs-Konzept aus der Beratung, was sich einerseits in den Keim- oder Substanzmodellen zeigt, andererseits in der Vorstellung des Zusammenspiels mehrerer Faktoren, in denen jedoch das Gen der zentrale Faktor bleibt. Einige Interviewpartnerinnen referieren auf das Kommunikationsparadigma, in dem die DNA als Code oder Sprache begriffen wird, und auf die Vorstellung von Kontrollverlust innerhalb von regulativen Mechanismen. Es wird auch die Geschichte des Beraters von der kontrollierenden und reparierenden Lokomotive aufgegriffen. Keine der Frauen übernimmt allerdings die komplette Kriegsmetaphorik des Beraters. Die benutzten körperlichen Metaphern (Schwangerschaft, Ausbruch) kommen aus dem Krankheitsbereich. Gänzlich andere Assoziationen wie Schicksal und Prädestination (wie etwa Finkler 2003 in ihrer Studie herausarbeitet, vgl. Kapitel 4.2.4.2) oder Zeitbombe (wie in der Studie von Robertson 2000), Körper aufessen (Hallowell 1999, vgl. Kapitel 4.2.2) kommen nicht vor – oder, wie Letztere, nur als Vorstellung, die zurückgewiesen wird (von Frau Baumann). Mit den Metaphern Schwangerschaft, Wachstum oder Ausbruch tauchen latente Assoziationen zu den Krebsbildern der 1970er und 1980er Jahre auf, in denen Krebs als Fremdes, Tierhaftes, Unheimliches metaphorisiert wurde. Die damit zusammenhängende Psychisierung von Krebs wird im nächsten Abschnitt über Krankheitstheorien noch genauer zu untersucht. Ansonsten ist jedoch, entsprechend Karpenstein-Eßbachs Beobachtungen der literarischen Entwicklung, eher das Kommunikationsparadigma als die Tiefenmetaphorik der 1970er und 1980er zu finden, das sich auch in der Thematisierung der Arzt-PatientKommunikation wiederholt (Kapitel 3.2.2). Es wurde deutlich, dass das Gen kein zentrales Thema in der Gedankenwelt der befragten Frauen darstellt. Wichtig sind für sie vor allem jene Krankheitstheorien, die ihnen erklären, ob sie selbst krank werden oder

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nicht und welche Faktoren das weiterhin beeinflussen können. Diese Theorien kommen weitgehend ohne Bilder oder Verständnis des Gens aus. 5.2.4 Subjektive Krankheitstheorien In diesem Teilkapitel sollen von den befragten Frauen geäußerte subjektive Krankheitstheorien näher untersucht werden. Es handelt sich um verschiedene Eigentheorien über die Entstehung von Krebs, die schon im letzten Teilkapitel angerissen wurden. Mich interessiert vor allem, welche Vorstellungen die Frauen über den Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und Krebserkrankung formulieren und welche aus dem BRCA-Diskurs stammenden Bilder und Motive dabei aufgenommen werden. Es interessiert also, welche Theorien die Interviewpartnerinnen über die Ursachen von Krebs haben – jenseits der genetischen Disposition oder im Zusammenspiel mit dieser. Außer in der oben mehrfach zitierten Frage nach der Vorstellung vom Gen (und seiner Wirkung) wurde in den Interviews nicht direkt nach den Vorstellungen von Krankheitsursachen gefragt; sie werden jedoch von einem Teil der Frauen von sich aus thematisiert. Da Theorien über Ursachen und über Handlungsmöglichkeiten schwer trennscharf zu unterscheiden sind, geht es hier auch zum Teil um Themen, die ausführlicher erst im Kapitel Management und Kontrolle der Krankheit behandelt werden. Ein Teil der Frauen (Typ 2) hält die Ursachen der Krankheit und auch ihren Ausbruch für eher unbestimmt und schätzt sie als unkalkulierbare Gefahr ein. Darum wird es im nächsten Teil des Unterkapitels gehen. Auffällig ist, dass die Frauen des Typs 1 sich wenig mit Theorien über Krankheitsursachen beschäftigen. Nur am Rande erzählt beispielsweise die Interviewpartnerin Frau Graf, dass man den Krebs ihrer Mutter zunächst als Folge einer Hormonersatztherapie angesehen hatte, statt an eine Erblichkeit zu denken (zitiert im Kapitel 5.2.1). Implizit haben diese Frauen zwar eine multifaktorielle Krankheitstheorie, was aus den Überlegungen zur Risikoreduktion hervorgeht, aber die Gedanken über Ursachen nehmen keinen großen Raum ein oder kommen gar nicht vor – bis auf die Frage, ob man das Gen geerbt haben könnte oder nicht. Bei den Thematisierungen von Krankheitsursachen taucht neben Lebensstilfaktoren eine weitere Variante der Ursachentheorien auf: Psycho-

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somatische Theorien werden in fast allen Interviews18 Thema und nehmen in einigen eine zentrale Stellung ein.19 Deshalb wird dieser Gegenstand in den weiteren Teilen dieses Unterkapitels besonders ausführlich dargestellt. Dabei interessiert zunächst der Inhalt der Theorien – also etwa „psychosomatische Erklärung“ –, dann aber auch die Funktion dieser Erklärungen in den Selbstdarstellungen und Subjektivierung der Interviewpartnerinnen. Es finden sich nämlich verschiedene Ausprägungen psychosomatischer Theorien, die auf unterschiedliche Funktionen verweisen. 5.2.4.1 Unbestimmtheit der Ursachen Besonders interessant ist, dass bei den Frauen des Typs 2, die sich viel mehr als die anderen Frauen Gedanken über die mögliche Entstehung der Krebserkrankung machen, gleichzeitig das Motiv der Unbestimmtheit der Ursachen hervorsticht. Dies ist unabhängig davon, ob eine klar zu bestimmende Mutation gefunden wurde, wie bei Frau Drescher, eine unklare Variante, wie bei Frau Althauser, oder gar keine Mutation wie bei Frau Fischer. Das Gen wird nie als allein ausschlaggebend angesehen, aber woran es liegt, ob man mit einer Disposition krank wird oder nicht, ist nicht klar zu bestimmen. Dies wird in dem folgenden Zitat von Frau Althauser deutlich, von dem ein Teil bereits oben im Zusammenhang mit den Vorstellungen vom Gen wiedergegeben wurde:

18 Nur Frau Graf und Frau Haas formulieren keine psychosomatische Erklärung für Krebs. 19 In der Literatur über subjektive Krankheitstheorien finden sich ähnliche Ergebnisse auch in Bezug auf andere Krankheiten. Thurke findet in ihrer Interviewstudie mit jungen Rheumatikerinnen zwei Gruppen: Für die eine Gruppe waren Krankheitstheorien kein großes Thema, für die andere nahmen sie viel Raum ein (Thurke 1991: 160-167). Die angegebenen Gründe für die Krankheit kamen aus verschiedenen Bereichen (medizinisch-biologisch, psychosomatisch, fatalistisch-magisch (von der Natur/von Gott bestimmt/auserwählt; Schicksal), am häufigsten wurden aber ähnlich wie in meiner Untersuchung medizinischbiologische und psychosomatische Gründe genannt. Die differenzierten Krankheitstheorien, die in der zweiten Gruppe genannt wurden, stammten meistens aus dem Bereich der Psychosomatik. So wird zum Beispiel mehrfach die Trennung vom Partner als Hauptursache genannt.

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ich denke das ist einfach, das ist ein MERKmal, (2) ganz normales wie=soll=man=sagen (1) ein knöpfchen, das gedrückt werden kann oder nicht. /mhm/. ne? einfach 'n, 'n 'n (.) 'n button, der da ist, der vielleicht bei jemand anderem nicht da ist, und (.) ganz individuell, und wenn da irgendwas dazu kommt, und der gedrückt wird, dann geht's halt los - (1) also ich denk', das (.) das ist 'ne veranlagung.(1) ob die ausbricht oder zuvorkommt, das ist (.) da gehören da gehören auch noch andere sachen dazu, /mhm/ (2) also ich denk' das ist, das ist vielleicht ein zufallsprinzip, (1) es kommt vielleicht die ernährung dazu, stress, psyche, weiß der geier was wieviele sachen da bei dem einen oder dem anderen zusammenspielen. aber ich denk' mir jetzt so, nur weil es mal jetzt von von der von der GENseite her nur weil es jetzt meine MUtter hatte krieg' ich das auch; find' ich quatsch./mhm/ (2) weil wie gesagt, da gibt's andere faktoren, die da noch zusammenspielen deswegen; /mhm/ (.) also das bin, (.) nach der ganzen aufklärungssache bin ich da also dann dazu gekommen, dass es wirklich quatsch ist, wie jetzt der HERZinFARKT, den mein vater herzinfarkt hatte ist es dann klar, dass dann ich auch mal - oder zucker jetzt, wie meine oma hatte zucker, also diabetes, dass ich jetzt auch auf alle fälle diabetes kriege, ja? was 'nen quatsch, also ich denke, NEE. /mhm/ ich hab' jetzt zwar die veranlagung, das ist jetzt wohl rausgekommen, dass ich ähm leicht erhöhten zuckerwert hab', und dann sagen 'se achja, es könnte mal so 'nen alterszuckerdiabetes werden oder so, so latent, aber dann kommt's ja auch drauf an, ne, wie ich mich ernähre, ob ich sport treibe, ob ich, ähm, ja was ich esse, (.) /ja/ wo ich lebe, wie ich lebe, kommt ja auch nochmal dazu, kann ja sein dass es die ganze ZEIT im HINtergrund ist und (.) auch da bleibt oder aus irgendwelchen gründen rauskommt. ich denk' mir einfach nur, der schalter ist da, und (1) ob der gedrückt wird, ist 'ne andere sache. /mhm/ (1) deswegen denk' ich mir ist ganz gut, wenn man manchmal das vielleicht nicht weiß, ja? /mhm/ das wär' genau wie bei 'ner schwangerschaft, wenn ich jetzt äh (.) das im vornerein bestimmen könnte oder sagen könnte, wenn ich jetzt 'ne erKRANkung hab', die das kind auch hundertprozentig kriegt. /ja/ also hundert prozent geht's ja nich', dann dürft' ich ja nie ein KIND kriegen, oder? /ja/ (1) weil ich hab' ja bestimmt irgendwelche veranlagungen, die nicht gut sind, /mhm/ hat ja jeder! dann dürft' ich ja nie schwanger werden, ich konnte=würde ich doch nie sagen, ich kann 'nen kind in die welt setzen, weil die geFAHR, dass es diese veranlagung hat, ist ja geNAUso hoch, 'ne?

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Wie oben schon festgestellt wurde, wird das Gen hier sprachlich normalisiert: Es ist ein zwar „individuelles“, aber auch „ganz normales“ Merkmal. Auch die Verniedlichungsform „Knöpfchen“ unterstreicht diese Relativierung. Für die Interviewte führt das Gen nicht zwangsläufig zur Krankheit; es ist kein determinierender, allein ausschlaggebender Faktor. Dieses zentrale Motiv der geringen Bedeutung des Gentests taucht mehrfach im Interview auf, auch etwa auf die Frage hin, ob der Test für sie etwas geändert habe. Dieses Phänomen der Normalisierung deckt sich auch mit Befunden aus anderen Studien: Wie bereits beschrieben, war in der Untersuchung von Scott et al. ein häufiges Motiv in Laientheorien, dass auch bei vorhandener Mutation andere Faktoren für die Krebsentstehung hinzukommen müssen (Scott et al. 2005: 1875). Weitere Faktoren, die nach der Theorie dieser Frau eine Rolle spielen, sind „Ernährung, Stress, Psyche“, „Zufall“, „Sport“ sowie „wo ich lebe, wie ich lebe“. Die Interviewte verfolgt also, wie der Berater, ein multifaktorielles Modell, in dem allerdings, wie schon oben erwähnt wurde, das Gen als „Schalter“ die zentrale Stellung einnimmt. Interessant ist außerdem der Schluss der Passage: Hier rechtfertigt Frau Althauser indirekt, dass sie trotz ihres Wissens um die Genmutation ein Kind – ausgerechnet ein Mädchen, das auch von Brustkrebs betroffen sein könnte – bekommt. Sie suggeriert, dass ihre Schwangerschaft unverantwortlich wäre, wenn sie von einer Determination ausgehen würde. Die Spekulation liegt nahe, dass ihre Betonung der Nicht-Determiniertheit auch eine Art Selbstversicherung ist, richtig zu handeln. Die Unklarheit der Ursachen von Krebs ist für sie daher weniger ein Problem als ein Vorteil. Als weiteres und damit verwandtes Motiv wird in diesem Zusammenhang von ihr genannt: dass es vielleicht besser ist, bestimmte Sachen nicht zu wissen. Im Kontext der Thematik des Kinderkriegens wäre daher zu spekulieren, ob die Frau in ihrer Situation als Schwangere vielleicht lieber auch nichts von ihrer (wenn auch unbestimmten) Mutation gewusst hätte – auch wenn sie explizit das Gegenteil behauptet. Kurz danach im Interview verweist sie auch auf ihre Mutter, die besser nicht von der Mutation wissen sollte, siehe unten. Das Motiv des „Zufalls“ oder der „Krankheit als Gefahr“ zeigt sich auch in der Metapher des „Roulettes“, die sie in Bezug auf ihre eigene Brustentzündung dem Onkologen in den Mund legt:

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der onkoLOge guckte sich das so auch an und sagte OH! das ist wie'n roulette bei mir,(2) er würd' auch nicht mehr lange warten. /mhm/ (Frau Althauser)

Sie beschreibt also für sich selbst einen Krebsausbruch als jederzeit möglich und damit unberechenbar. Aus diesem Erleben folgte, dass sie – auch auf Rat der Ärzte – ‚prophylaktisch‘ eine Entfernung der Brüste durchführen ließ. Auch in anderen Interviews taucht das Motiv der Unbestimmtheit auf, hier allerdings häufig als Problem. Dies ist auch bei der im Folgenden zitierten Passage von Frau Drescher der Fall: E: jetzt fragen se mich aber net mehr jetzt krieg ich ja schon fast ((lachend) das gefühl, dann bin ich DOCH dran)) (lacht auf) I:

was

E: irgendwann bin ich DOCH dran; /(lacht)/ mit brustkrebs. ja auch junge frauen, da is eine frau is mit paar'nzwanzig schon gestorben, I:

echt

E: an brustkrebs, ja. /mhm/ deshalb es würd' mich ja, äh, EIgentlich würd's mich ja schonmal interessieren wie's nachher funktioniert, aber so genau kann's einem ja sicher keiner sagen. ich mein GUT, ich hab zwar jetzt das GEN, aber wiewie was passiert denn damit das gen zu KREBS wird? /mhm/ das, aber des kann mir mit SICHerheit keiner sagen. is es weil ich mich (1) weil ich, was wei ich psychische proBLEme hab weil's einfach passIERT, oder isses weil ich mich ungesund erNÄhre; /mhm/ wissen se, des, interessieren würd' mich schon aber ich denk' das is ja des was se eigentlich net wissen I:

ja, ja

E: sonst könnt ja JEder was dagegen TUN, ne? I:

ja Eben, ich glaub' das WISsen se einfach nicht nicht genau; kann total verSCHIEdene (1) AUSlöser haben,

E: ja. (2) und ich denke auch diese GANzen fragenbogen20 , ne,we- (stößt luft aus) ich denke erstens mal, wie ehrlich werden se ausgefüllt? zweitens mal das sind so, da war'n manchmal so fragen dabei wo ich gedacht hab' aber ich weiß es jetzt net mehr was es war, hab=ich=dacht ((mikrophon rauscht, wind?) eigent-

20 Gemeint sind die Fragebögen, die die Frauen im Rahmen des Verbundprojektes ausfüllen mussten.

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lich wär's doch viel interessanter das und das und DAS noch zu fragen, weil ich mir immer gedanken gemacht vielleicht hängts ja auch DAmit zusammen, aber ich weiß nich mehr was es war; /mhm/ ich mein KLAR, wann man) KINder geboren hat, ob man die pille genommen hat, und sowas ich denk' des spielt schon ALles mit ne rolle, /mhm/ ne, aber ich denk' brustkrebs gibt's ja auch schon gibt's ja auch schon Ewisch, also des is, ich denk es muß jetzt auch net unbedingt mit der PIlle oder so. meine mutter hat nie die pille geNOmmen, die gab's /mhm/ ja damals noch gar net un später hat se se AUCH net genommen, ne? (3) /mhm/ zweimal geboren, einmal früh, einmal spät, (4) also (3) es isis es WÄre ich BIN mal gespannt ob's irgendwann 'rauskommt. ob ich's noch erlebe. (lacht) /(lacht leise)/ (2) wahrscheinlich werden se eher was daGEgen finden als dass se irgendwas finden dass man weiß warum. /mhm/

Die Passage beginnt mit einer interessanten Wendung, die schon im Kapitel Gründe und Wahrnehmung als Risikoperson thematisiert wurde: Frau Drescher, deren zentrales Motiv im bisherigen Interview die Überzeugung war, dass sie trotz positivem Test keinen Krebs bekommen würde, weil sie Optimistin sei (dazu später, vgl. den Abschnitt Psychosomatische Ursachentheorien), erklärt sich durch meine Fragen verunsichert in dieser Überzeugung.21 Sie führt die vielen Krebsfälle in der Familie, als Grund an für ihr fast abstrakt-wissenschaftlich erscheinendes Interesse daran, „wie es nachher funktioniert“ mit dem Zusammenhang von Gen und Brustkrebs. Es wird aber deutlich, dass sie sich schon viele Gedanken über die Ursachen von Krebs gemacht hat, dass dieses Thema sie offenbar auch schon vor dem Beratungsgespräch beschäftigt hat. Sie spielt verschiedene mögliche Ursachen (etwa: Ernährung, psychische Probleme) durch und findet es unbefriedigend, dass die Medizin den Zusammenhang von Gen und Krankheit nicht klar bestimmen kann. Auch den medizinischen Erkenntnissen der Zukunft scheint sie nicht besonders zu vertrauen. Wie schon im Unterkapitel über die Vorstellung vom Gen festgestellt, verbindet sie auch an dieser Stelle die Krankheitstheorie direkt mit der Möglichkeit beziehungsweise vielmehr Unmöglichkeit präventiver Handlungen („sonst könnt ja JEder was dagegen TUN, ne?“).

21 Diese Wendung kommt auch für mich als Interviewerin überraschend, was an meiner Nachfrage deutlich wird.

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In den zitierten Beispielen wird deutlich, dass von manchen Frauen – anders als im Diskurs propagiert – die mögliche Krankheit nicht etwa als kalkulierbares Risiko wahrgenommen wird, sondern als unberechenbare Gefahr (siehe die Unterscheidung von Luhmann, Kapitel 3.2.1), die man durch eigene Handlungen nicht gezielt beeinflussen kann. Dies ist charakteristisch für den Typ 2 („ratsuchende Klientin“): Frauen dieses Typus beschäftigen sich zwar viel mit Krankheitsursachen, kommen aber zu keinem überzeugenden Schluss, der die Krankheit im Modus des Risikos und damit als eigenen Entscheidungen unterworfen erscheinen ließe. Luhmann prognostizierte: „In dem Maße, als mit chemischen und biologischen Kenntnissen sich die Medizin entwickelt, wird Krankheit aus einer möglichen Gefahr zu einem stets gegenwärtigen Risiko.“ (Luhmann 1990: 150)

Luhmann wählt das Beispiel von Lungenkrebs, der sich zwar für Raucherinnen und Raucher als Risiko darstelle, für alle anderen aber weiterhin eine Gefahr bleibe. Hingegen wird, wie oben dargestellt, im allgemeinen Gesundheitsdiskurs Krebs generell zunehmend als Risiko statt als Gefahr beschrieben. Für den hier beschriebenen Typus ist das nur bedingt der Fall. Zwar werden Faktoren aufgezählt, die Krebs verursachen können, aber es überwiegt das Moment der Unberechenbarkeit von Krebs. Dass diese Unberechenbarkeit eine häufige Assoziation in subjektiven Krankheitstheorien von Krebs ist, stellen schon Filipp und Aymanns in ihrer Zusammenfassung zu Vorstellungsbildern von Krebs fest. In den von ihnen vorgestellten Studien wird Krebs insbesondere von selbst nicht Erkrankten als eine der schlimmsten oder gar die schlimmste Krankheit angesehen. Die Metaphorik der Krebserkrankung ist gekennzeichnet durch Tod, Unberechenbarkeit, Grausamkeit (Filipp/Aymanns 1997: 15).22 Ähnliche Bilder hatten, wie in Kapitel 4.2 beschrieben, in den internationalen Studien auch sogenannte Risikopersonen (Krebs als „silent killer“, als hinterhältig etc.). Metaphorische Aufladungen und Zuschreibungen dieser Art fanden sich in meinen Interviews ebenso selten wie körperliche Metaphern für Krebs, aber die Thematik der Unberechenbarkeit zieht sich zumindest bei einem Teil der Frauen durch die Interviewerzählungen.

22 Allerdings beziehen sich die Autoren nur auf Studien aus den 1980er Jahren.

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Auch in einzelnen Passagen der Interviews mit Frauen des Typs 1 findet sich das Motiv der unklaren Krebsursachen, wie in folgendem Zitat: man SAgt ja auch dass d's irgendwie auch STRESSbedingt is (.) /mhm/ (1) diesen (.) KREBSfa `äh r`dieses KREBSrisiko. ich weiß nich ob's bei meiner mutter STRESSbedingt war, weil se=sich da grad von meinem VAter geTRENNT hat/mhm/ .h (.) vielleicht hat d's AUCH mit'n grund (.) aber (1) keine ahnung /mhm/ man WEIß halt `ich glaub man WEIß noch nich SO viel über KREBS. (Frau Engelberger)

Im Unterschied zu dem vorangegangenen Zitat der Interviewpartnerin Frau Drescher klingt hier im „man weiß noch nicht“ die Vorstellung an, in Zukunft könne Krebs erklärbar sein. Momentan wird er noch im Modus der Gefahr beschrieben, grundsätzlich wird aber der Forschung vertraut, dass die Ursachen von Krebs entdeckt werden und damit im Sinne eines Risikos (Luhmann 1990) in den Bereich des Entscheidbaren rücken. Im letzten Zitat ist eine Variante der Ursachentheorien angesprochen worden, die im Folgenden Thema wird, da sie von meinen Interviewpartnerinnen am häufigsten genannt wird. Von den Frauen, die die Ursachen als eher unbestimmt thematisieren, wird sie sogar durchgängig angeführt: die Vorstellung, dass „psychische Probleme“ oder „Stress“ einen großen Anteil an der Entstehung von Krebs hätten, also eine im weitesten Sinne psychosomatische Erklärung von Krebs.23

23 Im hier zitierten Fall, die Interviewpartnerin Frau Engelberger, hatte der Humangenetiker im Beratungsgespräch nicht nur allgemein auf den Faktor „Lebensfreude“ verwiesen, wie in anderen Gesprächen, sondern zum möglichen Einfluss der Psyche gesagt, er sei zwar schwer zu messen, aber es gebe einen Einfluss auf das Immunsystem, was wiederum das Erkrankungsrisiko oder den -verlauf beeinflusse. Oft würde man bei Betroffenen im Nachhinein feststellen, dass der Krebs nach Krisensituationen wie zum Beispiel Trennungen auftritt. Die Interviewte hat also ihre Ansicht, dass „Stress“ – wie zum Beispiel die Trennung der Mutter von ihrem Partner – Krebs bedingen könne, möglicherweise aus diesem Gespräch bezogen oder dort mindestens bestätigt bekommen.

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5.2.4.2 Psychosomatische Ursachentheorien Fast alle Frauen24 kommen von sich aus auf psychosomatische Ursachen zu sprechen. Solche Erklärungen waren auch in den skizzierten britischen Studien (vgl. die Darstellung von Scott et al. 2005 und Hallowell 1999 in Kapitel 4.2.2) häufig vorgekommen. Diese Krebserklärung scheint also sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland weiterhin im allgemeinen Bewusstsein verbreitet zu sein, auch wenn diese für die 1970er und 1980er Jahre typischen Vorstellungen im medizinischen und literarischen Diskurs eher von anderen abgelöst wurden, wie in Kapitel 3.2.2 dargestellt. Auch in der wissenschaftlichen Psychosomatik gelten rein psychosomatische Ursachentheorien, also solche, in denen psychische Faktoren als primär ursächlich für organische Krankheiten (z.B. auch für Krebs) angesehen werden, mittlerweile als überholt und man geht von multiplen Faktoren aus. Zwar war auch in Beratungsgesprächen von der „Erhaltung der Lebensfreude“ als Präventionsstrategie die Rede, jedoch nur als ein Faktor unter vielen. In meinen Interviews hat die Psyche einen wesentlich höheren Stellenwert. Allerdings wird nicht so sehr eine vom Konzept der „Krebspersönlichkeit“ geleitete tiefenpsychologische Seelenerforschung vorgenommen, wie es in der Krebsliteratur der 1970er und 1980er der Fall war, wo Krebs „zum Effekt einer mangelnden Selbstentwicklung, eines ungenügenden Sexuallebens und fehlenden Bewusstseins vom eigenen Körper, einer depressiven Antriebsarmut, der Entfremdung und Blockierung der Äußerungsfähigkeit, ungenügender Trauerarbeit nach Verlusterfahrungen, zwanghafter Charakterstärke oder anpassungsbereiter Charakterschwäche [wurde]“ (Karpenstein-Eßbach 2006: 238).

Stattdessen folgen die Äußerungen einer wesentlich pragmatisch-instrumentelleren Logik, in der „Stress“ oder „negatives Denken“ als Risikofaktoren erscheinen. Dies soll an einigen Beispielen ausgeführt werden.

24 Nur Frau Graf und Frau Haas reden nicht über psychosomatische Krankheitsursachen. Das heißt allerdings nicht, dass Psychologie oder psychische Probleme für sie kein Thema sind: So erzählt die Interviewpartnerin Frau Graf von ihrer Psychotherapie und beide betonen, wie wichtig eine psychologische Betreuung auch im Rahmen der Gendiagnostik sei.

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Im Interview mit Frau Fischer ist die Krebserkrankung der Zwillingsschwester das zentrale Thema. Mehrfach bringt sie dabei eine psychosomatische Erklärung ins Spiel: eine WAR jetzt betroffen aber ich hab mir dann immer gesagt auch beVOR ich mir das ergebnis hab sagen lassen ähm (1) also zwei (.) gleiche kann es gar nicht treffen. /mhm/ ja, eine ja; (..., sie redet von einer schwierigen Schwangerschaft ihrer Schwester, A.z.N.) ja SOLche dinge; die hat von daher (.) hat die viel mehr mitmachen müssen /mhm/ als ich. immer kränklicher und (1) damit auch aber ich denke auch so die trennung das hat (.) das=das=das hat dazu beigetragen. dass das zum AUSbruch gekommen is. /mhm/ weil die GENE trägt ja jeder im körper. ne? die krebsgene. /mhm/ und aber wenn sie zum ausbruch kommen durch irgendwas seelisch (.) ja, psychisch (1) und dann durch hat sie eben dann is es ausgebrochen, ne, die wachsen ja zehn jahre, diese=diese=diese krebs (.) zellen, /mhm/ oder=oder ne? und teilen sich ja dann ganz langsam immer und – (1) und dann kommt des durch irgendwas zum ausbruch. und ich denk das war der; (1) /mhm/ punkt bei ihr. ne, (3) ja (2).

Ähnlich wie Frau Engelberger stellt Frau Fischer die Krebserkrankung ihrer Schwester in den Kontext einer konkreten psychischen Leiderfahrung, der Trennung vom Partner. Sie formuliert eine spezifische Theorie: Die (wie schon oben festgestellt, mit Krebsgenen gleichgesetzten) Krebszellen, die jeder als Anlage habe, hätten durch diese Leiderfahrung angefangen, sich zu teilen und zu wachsen. Zehn Jahre später wäre daraus der Brustkrebs entstanden. Auch, dass die Schwester generell „viel mehr mitmachen“ musste, sieht sie offenbar als verstärkenden Faktor. Die Zentralität des Themas in ihrer Erzählung legt die Vermutung nahe, dass diese Theorie auch der Selbstversicherung dient, dass sie im Gegensatz zur Schwester (bei gleicher Genausstattung) nicht krank werden wird.25 Sie verhandelt diese Frage wiederholt, führt dabei verschiedene Eigentheorien an („zwei

25 Allerdings bleibt unklar, wie die Interviewte den Zusammenhang zwischen Gentest und Krebs genau sieht. Zwar bezeichnet sie selbst ihr Ergebnis als „kein vererbter Brustkrebs“, aber an anderer Stelle wird deutlich, dass sie sich doch nicht als ungefährdet ansieht und wegen eines nicht eindeutigen anderen Früherkennungsbefundes will sie den humangenetischen Berater ansprechen.

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gleiche kann es gar nicht treffen“) und sucht Unterschiede zwischen sich und ihrer Schwester. Hier erscheint das von Karpenstein-Eßbach beschriebene Motiv: „Das Wachstum des Krebses wird zur komplementären Bewegung des Ausfüllens unbesetzter Stellen des Mangels“ (2006: 238). Allerdings ist das in diesem Interview nicht mit einem Vorwurf „ungenügender Trauerarbeit“ oder einem „Auftrag zur Psychohygiene“ (ebd.) verbunden, sondern zunächst einmal scheint die Schwester einfach Pech gehabt zu haben, sie erscheint als „Patiens“, als passiv die Ereignisse Erleidende. An anderer Stelle aber wird deutlich, dass es offenbar doch in der Verantwortung des Individuums liegen kann, ob die Erkrankung auftritt: dann kann ich WENN ich es weiß dass ich belastet BIN, dass das irgendwie vom ja fümundfünfzigsten oder vom fünfzigsten lebensjahr bis zum siebzigsten dass man dass das ausbricht oder so ja dann kann man da bewusst nach leben und (.) ja oder sein leben ändern wenns nich gut gelaufen is /mhm/ oder so ja? ja.

Relativ pragmatisch wird hier von Frau Fischer suggeriert, man könne sein Leben jederzeit „ändern“, wenn es nicht „gut gelaufen“ sei und damit das Erkrankungsrisiko senken. Dieses Motiv taucht mehrfach im Interview mit Frau Fischer auf, und zwar in zweifacher Hinsicht: Während viele Stellen wie die hier zitierte auch die Interpretation offen lassen, dass das Leben zum Besseren geändert werden soll, um es vor einer möglichen Krebserkrankung noch auskosten zu können, wird an anderen Stellen deutlich, dass Frau Fischer auch hofft, diese dadurch verhindern zu können (vgl. dazu das Kapitel 5.2.5 Management und Kontrolle der Krankheit). Diese Strategie der Krebsprävention hatte die Interviewte sich für den Fall eines positiven Ergebnisses vorgenommen. Auch bei Frau Drescher durchzieht als zentrales Motiv das ganze Interview, dass „positives Denken“ sie vor Brustkrebs bewahren könnte: und wenn se mich fragen wie's mir danach ging also oder wie mer's jetzt geht, mir geht's gut weil ich immer noch denk' ich krieg's nit, ich hab zwar das gen aber ich muß es ja nich kriegen, ne? meine, mein, öh, bei mir is natürlich die gefahr wesentlich größer, wie bei anderen frauen, aber ich geh immer noch davon aus, dass ich's NICHT kriege. /mhm,/ und ich denk' es is auch 'ne psychosoMA-

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tische krankheit, ich versuch' halt ich bin halt 'nen optimist, ich versuch' halt einfach (.) gut zu leben, positiv zu leben und, äh, der doktor michels hatte ja auch, hat mir des, hat mich ja dann da mal eingeladen hat mir das alles erklärt, /mhm/ wie das funktioniert, mit dem brustkrebsgen, und da hab' ich immer so gedacht, wenn er mir jetzt nur sagen würde, was man dagegen TUN kann, gell? (lacht) und da hat er, zum schluß hat er gesagt, und sie wollen jetzt beSTIMMT wissen, was man dagegen tun kann, da hab'=ich=gesagt=ja das interessiert mich brennend, und dann hat er gesagt, dreimal in der in der woche an die frische luft stramm spazieren gehen, /(lacht)/ fünfmal am tag ähm obst oder gemüse nach der ampelmethode, also net fünf bananen, und lebensfreude. und daran versuch' ich mich zu halten, /mhm/

Die Erzählerin führt das Motiv des „positiven Denkens“ wie eine Beschwörungsformel (ähnlich „toi, toi, toi“) ein. Ihre Erklärung, dass sie „Optimist“ sei, dient dabei sowohl als Erläuterung, warum sie hofft, nicht krank zu werden – Optimisten hoffen eben immer auf das Beste –, als auch als wissenschaftlich gestützte Krankheitstheorie: In der Anekdote werden die Ratschläge des Arztes26 zwar zunächst lachend wie ein Witz erzählt, sind dann aber doch der Maßstab ihres Handelns. Die Autorität des Arztes unterstützt erzählerisch die Vorstellung, positives Denken und Leben hätten ähnlich wie andere Lebensstilfaktoren einen großen Stellenwert in der Krebsentstehung. Sie vergleicht sich auch mit ihrer an Krebs gestorbenen Mutter, die ihr Leben nicht geändert habe: also war das so ungefähr seit fünfundneunzig, wo sie's erstemal 'n knoten bei ihr festgestellt wurde, sie wurde operiert und es wurde auch festgestellt das bösartig war, /mhm/ aber des war dann (.) viernhalb jahre war's dann ok, und dann is des wieder ausgebrochen. aber in den viernhalb jahren ha'mer eigentlich dann au net mehr so äh also ich zumindest net mehr soviel drangedacht meine mutter wahrscheinlich eher. /mhm/ nur sie war halt net geläutert, sie hat ihr leben NICHT geändert.

26 Im Beratungsgespräch mit der Interviewpartnerin Frau Drescher wird die Empfehlung wesentlich vorsichtiger und ‚nicht-direktiver‘ formuliert, die Wendung „stramm spazieren gehen“ kommt nicht vor und erinnert an einen väterlichen Arzt alten Schlags, worin sich wieder das Motiv des ‚gut aufgehoben Seins‘ (vgl. Kapitel 5.2.1) zeigt.

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Es wird suggeriert, die Mutter könnte noch am Leben sein, wenn auch sie die Erkrankung zum Anlass genommen hätte, sich zu läutern – also zu „reinigen“ oder zu „bekehren“ – und ihr Leben zu ändern. Allerdings wird schon oben in der Wendung: „Ich bin Optimist“ (statt zum Beispiel „ich bin optimistisch“) ihr Optimismus als Wesenseigenschaft bestimmt, und sie reflektiert später anhand einer Anekdote, dass es sehr schwierig sein müsse, positiv denken zu lernen: ich bin ja zum glück n positiver mensch also ich ich les', mich interessieren einfach so psychologische BÜcher und /mhm/ ähm, un da steht ja auch drin dass ma des angeblich LERnen kann positiv zu sein. und da denk ich mir also des MUß doch SAUmäßig schwer sein; /(lacht)/ nee ehrlich ich denk des einfach, weil ich ich hab zum beispiel so'n problem, ich geh walken. und ich hab angst allein in WALD zu gehen; /mhm/ also ich hab einfach angst dass mir was pasSIERT, und dann hat mein hausarzt mal zu mir gesacht ich soll des net unterSCHÄTZen weil wenn ma wenn ma angst also man würde des auch AUSstrahlen, und dann passiert einem einfach kann einem einfach EHER was passieren, als /mhm/ wenn ma einfach so forsch da REIn geht, ne und jetzt denn sag ich mir JEdesmal wenn ich in wald geh du brauchst keine ANGST zu haben und ich hab trotzdem angst also ich denk ma kann so sehr KANN ma s einfach net beeinflussen /ja/ ne? also des is so des ding wo ich des an MIR merke wenn ich mer jetzt vorstell dass es da n mensch gibt der einfach hm (1) nich positiv EINgestellt is /mhm/ soso'n pessimist und der kriegt dann so ne diaGNOse? wie geht n der damit um? /mhm/

Erzählerisch plausibilisiert durch die eigene Erfahrung mit dem Versuch, ihre Angst suggestiv zu beeinflussen, wird hier eine Ansicht infrage gestellt, die dem Individuum eine Eigenverantwortung für die Krankheitsprävention durch „positives Denken“ zuweist. Statt einer Handlungsanweisung erscheint „Optimismus“ hier als eine Art Disposition, ähnlich einer Gendisposition, die man hat oder auch nicht.27 Insgesamt besteht hier also eine Ambivalenz zwischen der Vorstellung von Optimismus als Charaktereigenschaft, die sie vor Krebs schützen wird, und der Vorstellung, bestimmte

27 An anderer Stelle bringt die Erzählperson ihr Optimist-Sein auch mit ihrem Sternzeichen in Verbindung.

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Dinge gegen die Krankheit tun zu können, unter denen „Lebensfreude“ einer von mehreren Lebensstilfaktoren ist. In beiden Varianten liegt nahe, dass ihre Erklärung auch die Funktion eines Selbstschutzes hat: Sie wird im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht erkranken. Vor dem Hintergrund der oben konstatierten Unbestimmtheit der Krankheitsursachen und Handlungsmöglichkeiten erscheinen die Verhaltensregeln allerdings ähnlich wie die Optimismus-Disposition als schon fast magische Beschwörungen, die von der Interviewten selbst nicht ganz geglaubt und daher lachend erzählt werden. Als Strategien zur Bewältigung von Sorge und Angst scheinen diese Vorstellungen auch nur teilweise zu funktionieren, da die Krankheit gleichzeitig eine unberechenbare Gefahr bleibt. 5.2.4.3 Psychosomatik in Form der self-fulfilling prophecy Ein mehrfach auftauchendes Motiv ist auch die Theorie der „self-fulfilling prophecy“: Allein das Wissen vom erhöhten Krebsrisiko könne solchen Stress auslösen, dass sich die Krankheit gerade dadurch entwickelt. Auch hier hat die psychosomatische Erklärung geradezu magischen Charakter. aber ich denke viele frauen oder oder ja, (.) jetzt zum beispiel meine MUtter find' ich's ganz gut, dass sie davon gar nichts WISsen will, weil die würd' sich wahrscheinlich verrückt machen. (laut) die würd's dann auch KRIEgen; /(lacht)/ die würd sich dann so 'reinsteigern, die würd' es auch hundertprozentig kriegen, /(lacht)/ das ist so 'ne psychopathische tante da, die würd' das psychosomatisch hätte sie dann wahrscheinlich in dem moment, wo sie (.) sagen= wo sie jetzt sagen würden, sie hätt' ein mutiertes GEN und dann kann man drauf wetten, dass sie 'nen halbes jahr später wirklich die erkrankung hat. /(lacht)/ mhm: GIbt's! (Frau Althauser)

Der Psyche wird in dieser Eigentheorie eine noch größere Macht zugesprochen als in der „positiv denken“-Variante, da hier der Krebs allein durch Autosuggestion aus einer Disposition heraus entstehen kann. Damit erscheint das Wissen von der Genmutation plötzlich als Gefahr, zumindest für bestimmte Charaktere. Auch beim Typ 1 der interviewten Frauen, den „Risikomanagerinnen“, die Krebs eher als kalkulierbares Risiko thematisieren denn als Gefahr, taucht die Theorie der self-fulfilling prophecy auf. Hier ist sie jedoch lediglich ein Faktor in der Risikokalkulation, der zu berücksichtigen ist:

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naTÜRlich is=es e'n erHÖHtes risiko wenn=ich jetzt mir TAG und NACHT geDANken drum machen würde. /mhm/ (.) DAS weiß=ich AUCH. /ja/ also das sind=so diese sich SElbst erFÜLlend'n propheZEIung'n (.) die GIBT es ja tatSÄCHlich /ja/ (.) (Frau Baumann)

Im Hinblick auf die Funktion in der Selbstdarstellung der Frauen beider Typen zeigt sich diese Theorie in einem Kontext, in dem sie sich selbst ähnlich wie das Ideal des Diskurses als kompetente und wissende Klientinnen darstellen: Sie wissen über die Gefahr der self-fulfilling prophecy Bescheid, im Gegensatz zu anderen können sie aber gut mit der Geninformation umgehen. Im Design des Verbundprojektes wurde ein solches Ideal durch das psychologische Beratungsgespräch verstärkt, das häufig als Prüfung empfunden wurde, ob man dieser Belastung standhalten könne. Bezüglich des Inhalts wird vor allem im letzten Beispiel wieder deutlich, dass die psychosomatische Krebstheorie, auch wenn sie sehr verbreitet ist, einen wesentlich operationalisierteren Charakter hat als noch in den 1970er und 1980er Jahren. Statt als Verpflichtung auf die tiefenpsychologische Erforschung unbewusster Motive wirkt sie als Aufforderung, die Psyche als Risikofaktor einzuberechnen. Dennoch bleiben zentrale Topoi und Implikationen der psychosomatischen Krebstheorie bestehen. Exkurs: Die Geschichte psychosomatischer Vorstellungen In ihrer berühmten Kampfschrift „Krankheit als Metapher“, in der sie die zeitgenössischen Vorstellungen von Krebs sowohl in der Fachliteratur als auch in der Belletristik mit den Vorstellungen von Tuberkulose im 19. Jahrhundert vergleicht28, analysiert Susan Sontag en detail die Problematik von psychosomatischen Krankheitsvorstellungen. Der zentrale Punkt ihrer Kritik ist, dass das Individuum für seine Krankheit verantwortlich gemacht wird, da es diese (unbewusst) selbst erzeuge (Sontag 1978: 42). „Krankheit wird als psychologisches Ereignis interpretiert, und die Menschen werden ermuntert zu glauben, daß sie krank werden, weil sie es unbewußt wünschen, und daß sie sich durch die Mobilisierung des Willens selbst heilen können; daß sie wählen können, an dieser Krankheit nicht zu sterben. [...] Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzu-

28 Und ebenfalls deren Verschwinden aufgrund der Heilbarkeit.

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wälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdient haben.“ (Ebd.: 50f.)

Sontag erklärt die große Popularität der Psychologisierung damit, dass es sich um einen sublimierten Spiritualismus handelt, „einen säkularen, offenkundig wissenschaftlichen Weg, das Primat des ‚Geistigen‘ über die Materie zu bekräftigen“ und scheinbare Kontrolle über den Tod zu gewinnen, der nicht akzeptiert werden kann: „nur der stirbt, der sterben will“ (ebd.). Folgt man der Darstellung von Monica Greco, so war das Projekt der Psychosomatik entscheidend beteiligt an der Moralisierung von Krankheit als Produkt des eigenen Willens (vgl. auch Kapitel 3.1). Entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ging es der Psychosomatik zunächst darum, die Rolle des Gefühlslebens in der Genese von Krankheiten zu berücksichtigen. Ausgehend vom Modell der Hysterikerin entstand eine Kritik des „reinen Materialismus“ in der Medizin, die im Gegensatz zu diesem Materialismus behauptete, das Individuum erzeuge somatische Zustände unbewusst, aber willentlich selbst (Greco 1993: 364). Dabei war die Frage, ob das für alle oder nur für bestimmte Krankheiten gelte, in der Fachdebatte umstritten. Laut dieser frühen psychosomatischen Theorie ist Krankheit ein unbewusst gewollter Eintritt in die Krankenrolle, der den Patienten psychisch weniger kostet als mental krank zu sein (Greco 1993: 366).29 Greco bringt dies in Verbindung mit Talcott Parsons’ Beschreibung der Krankenrolle: Er sieht in ihr eine – im Gegensatz zu kriminellem Verhalten – akzeptierte Form sozialer Abweichung mit besonderen Rechten und Pflichten (Parsons 1951). Auch wenn nun eine Krankheit als „psychosomatisch“ dechiffriert wird, bleiben Patientin oder Patient legitimiert: Da er die Krankheit nur unbewusst will, bleibt er unschuldig, es liegt eine „schuldlose Verantwortung“ vor. Ähnlich wie der biomedizinische Diskurs richtet damit auch der psychosomatische den Fokus in der Beschäftigung mit Krankheit auf eine „dispositionelle“ Phase vor der physisch manifesten Erkrankung. Das erfolgt zwar in unterschiedlicher Weise – einerseits psychosomatisch: das

29 Krankheit ist somatischer Ausdruck einer innerseelischen Konfliktspannung (Konversion), das wäre der primäre Krankheitsgewinn. Das Symptom ist eine neurotisch-kompromisshafte Befriedigung. Die Krankenrolle und die Beziehungsmuster, die man damit erzwingt, sind der sekundäre Krankheitsgewinn.

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Subjekt ist psychisch krank, bevor es Symptome produziert, andererseits biomedizinisch: Risikofaktoren sind vor der Erkrankung vorhanden –, aber nicht konträr zueinander (Greco 1993: 361). Im Gegenteil lassen sich die beiden Konzepte offenbar gut miteinander verbinden. Psychosomatische Erklärungen gibt es für verschiedene Krankheiten, das Bild von Krebs, das Sontag beschreibt, ist aber „weit strafender“ als etwa das von Tuberkulose, weil der Krebs durch die „Unterdrückung von Gefühlen“ entstehe. Sontag schreibt dies zu einer Zeit, als das Konzept der „Krebspersönlichkeit“ Hochkonjunktur, aber auch schon eine lange Geschichte hat. Sie stellt fest, dass sich die Krebspersönlichkeitsattribute nach Epochen ändern; sie spiegeln das Typische oder Problematisches der jeweiligen Epoche wider (Sontag 1978: 47f.). Sie schließt: „Die Anwendung der Theorie, die gegenwärtig in Mode ist – und die den Krebs auf das emotionale Zukurzgekommensein und den Mangel an Selbstvertrauen und Vertrauen in die Zukunft bezieht –, wird sich wahrscheinlich als nicht haltbarer erweisen als […] [die Theorie über, A.z.N.] die Tuberkulose.“ (Ebd.: 49) Mit dieser Aussage sollte sie Recht behalten: Medizinisch gilt das Konzept der Krebspersönlichkeit inzwischen als widerlegt (vgl. z.B. Schwarz 1993), und auch die Annahme, bestimmtes psychologische Copingstrategien würde sich auf den Krankheitsverlauf auswirken, konnte bisher trotz zahlreicher Studien nicht erwiesen werden.30 Interessant ist, dass diese Ansichten in den Interviewaussagen im starken Maße Resonanz finden. Vergleicht man allerdings die hier gegebenen psychosomatischen Erklärungen mit Sontags Beschreibung, so hat sich ein Wandel vollzogen. Anders als Karpenstein-Eßbach es für den gegenwärtigen literarischen und (populär-)medizinischen Krebsdiskurs festgestellt hat (Karpenstein-Eßbach 2006: 253), sind psychologische Ursachentheorien nicht zurückgedrängt, sondern transformiert worden. Statt von „unterdrück-

30 Im Jahr 2002 erschien ein Review von Mark Petticrew und anderen, das 26 Studien zu psychologischen Copingstrategien zusammenfasste mit dem Ergebnis: Die einzigen Studien, die Effekte nachzuweisen vorgaben, arbeiteten mit geringen Fallzahlen oder waren aus anderen Gründen methodisch fragwürdig. Fazit: „There is little evidence that psychological coping styles play an important role in survival from or recurrence of cancer. People with cancer should not feel pressured into adopting particular coping styles to improve survival or reduce the risk of recurrence.“ (Petticrew et al. 2002: 1066)

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ten Leidenschaften“ ist von Stress verursachenden Lebensereignissen die Rede, statt von einer „inneren Stimme“ von der Psyche als Risikofaktor. Es kann wohl wiederum als „Typisches der Epoche“ gedeutet werden, wenn von einer Rhetorik der Innerlichkeit zu einer der Operationalisierung gewechselt wird, wie auch schon in der Analyse der Informationsmaterialien (vgl. das 6-Punkte-Programm gegen Stress; Kapitel 3.3.5) festgestellt wurde. In der institutionalisierten Medizin kommt die Psychosomatik meist erst dann zum Zuge, wenn organische Ursachen ausgeschlossen worden sind. Außerhalb der Medizin haben sich aber zentrale Themen der Psychosomatik popularisiert und ein allgemeines Bewusstsein für die Rolle des Psychischen in der Krankheitsentstehung geschaffen. Mit dieser allgemeinen Bewusstwerdung verschwindet aber auch die oben skizzierte ‚Schuldlosigkeit‘ des Patienten, da eine mögliche Verantwortlichkeit ja nun nicht mehr unbewusst ist. Verflacht und durch Medien verbreitet wurden unbewusste psychische Konflikte in Faktoren transformiert, die bei der Entstehung von Erkrankungen eine Rolle spielen (können). „In the media treatment of this vast new health-relevant domain, behaviours and attitudes have the same logical status as viruses or germs in the theory of infectious diseases, contradicting the basic postulates of a psychosomatic conception.“ (Greco 1993: 369)

Wie schon in Kapitel 3.1. angesprochen, hatte die Psychosomatik außerdem gelehrt, dass jegliche Prävention den Willen mit einbeziehen muss. Da somatische Krankheiten als Folge des unbewussten Wunsches oder Willens betrachtet werden, in die Krankenrolle einzutreten, können Zwangsprogramme nicht funktionieren. Die daraus resultierende Präventionsaufforderung propagiert vielmehr den freien Willen zur Prävention: Von einer „guiltless responsibility“ (Parsons 1951) fand ein Wandel zu einer neuen Verantwortung und Pflicht statt: Es gibt nicht mehr nur die Pflicht, gesund zu werden, die Parsons für die Krankenrolle beschrieben hat, sondern auch die Pflicht, gesund zu bleiben. Zusammenfassend kann man in Bezug auf die vorliegenden Interviews feststellen: Dieses Verpflichtungsgefühl zeigt sich bezüglich psychosomatischer Themen wie „positives Denken“ angesichts von Stress oder Autosuggestions-Methoden, die physiologische Prozesse modifizieren sollen (wie

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z.B. die Simonton-Methode, auf die sowohl Frau Baumann als auch Frau Drescher im Interview anspielen), aber auch bezüglich anderer Präventionsfaktoren, die im folgenden Kapitel Management und Kontrolle noch thematisiert werden. Damit zeigt sich, dass zentrale Themen und Problematiken der Psychologisierung, die Sontag beschrieben hat, weiterhin bestehen. Wie Sontag zu Recht kritisiert, wird dem Subjekt zum Schaden noch die Schuld zugewiesen. Die Vorstellungen in den Interviews befinden sich in der auch von ihr beschriebenen Ambivalenz von „Krankheit als Ausdruck des Charakters“ (Sontag 1978: 39) und „Krankheit als selbstverantwortet/gewollt“, wenn etwa zwischen „Optimismus“ als unveränderbarem Persönlichkeitsmerkmal und „positiv leben“ beziehungsweise „positiv denken“ als beeinflussbarem Risikofaktor geschwankt wird. Gerade in den fast magischen Vorstellungen, man könne den Krebs suggestiv hervorrufen (self-fulfilling prophecy) oder durch „positives Denken“ verhindern, zeigt sich der Wunsch, die materiellen Prozesse des Körpers als geistig bestimmt zu denken. Diese Erklärung kann als Selbstschutz für die (noch) Gesunden fungieren, die sich hiermit erklären wollen, warum zwar ihre Verwandten erkrankten, sie selbst aber verschont bleiben werden. In den Interviews klingt aber auch die perfide Kehrseite, nämlich die Abgrenzung von den „psychisch Problematischen“ an, die sich (zwar verständlichen) Ängsten hingeben, anstatt sich durch das Wissen um die genetische Disposition erst recht zur „Lebensfreude“ verpflichtet zu sehen. Der Krebs bleibt, wenn auch weniger mysteriös und leichter zu entziffern als in den 1970ern und 1980ern, eine Botschaft, adressiert an das verantwortliche Subjekt, die eine „Läuterung“ zur Änderung des Lebens initiieren soll (wie im Zitat von Frau Drescher, siehe oben). Die Krankheit steht damit weiterhin im Horizont von Schuld und Selbstverantwortlichkeit. Partiell wird eine solche Ideologie in den Interviews aber auch infrage gestellt – wenn etwa angezweifelt wird, ob „positives Denken“ erlernbar sei – oder sie wirkt wie ein „ungeglaubter Glaube“ (Adorno 1962: 176). An anderen Stellen erscheint Stress auch eher als Pech, denn als eigene Fehlleistung. Insgesamt ist aber ein Modell vorherrschend, das den Eindruck erweckt, als würde sich die Operationalisierung der Psyche als Moment der allgemeinen inneren Verdinglichung bewahrheiten, die Adorno 1951 folgendermaßen beschrieb:

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„Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst. Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz aufgehen.“ (Adorno 1951: 263)31

Ähnlich ist die Wendung vom „positiven Denken“ zu verstehen: Als wäre im Innern das Denken mechanisches Betriebsmittel, das vom Ich als Betriebsleiter abgespalten und gezielt eingesetzt werden kann. Vielleicht sind es aber gerade die in den Interviews geäußerten Zweifel, ob ein solches gezieltes Einsetzen von Denken überhaupt möglich ist, an denen deutlich wird, dass der Subjektverfall – Adorno spricht von der „Person als Meßinstrument, disponibel und ablesbar für die Zentrale“, in der das „Subjekt ganz gelöscht“ sei (ebd.: 264) – doch weniger fortgeschritten ist als Adorno diagnostiziert. Die Zweifel wären damit als Moment des Widerstandes gegen die Verdinglichung und Umorganisierung des Selbst im Dienste des Erhalts der Funktions- und Leistungsfähigkeit zu lesen.

31 Adorno stellt dies in Bezug zum ökonomischen Prozess, der sich in dieser subjektiven Verdinglichung ausdrückt: „Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses, und sein Bewußtsein von sich als einem an sich Seienden jener Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf, während der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes fungiert. Die innere Komposition des Individuums an sich, nicht bloß dessen gesellschaftliche Rolle wäre daraus abzuleiten. Entscheidend ist dabei in der gegenwärtigen Phase die Kategorie der organischen Zusammensetzung des Kapitals. [...] Es wächst die organische Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebendige Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.“ (Ebd.: 261f.)

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5.2.5 Management und Kontrolle der Krankheit 5.2.5.1 Krankheit als Risiko – Typ 1 Wie oben schon festgestellt, sprechen die Frauen des Typs 1 (die „informierten Risikomanagerinnen“) weniger über die Ursachen von Krebs als über Möglichkeiten, ihn zu verhindern oder zu kontrollieren. Im Gegensatz zu den anderen Interviewpartnerinnen, die die Ursachen und auch den Ausbruch der Krankheit als eher unbestimmt thematisieren, erscheint Krankheit den „Risikomanagerinnen“ nicht so sehr als unberechenbare Gefahr, sondern als beeinflussbares Risiko. Auch die „ratsuchenden Klientinnen“ reden über Versuche, die Krankheit zu kontrollieren, aber diese sind meist kein zentrales Thema und Kontrolle erscheint wenig möglich. Die implizite Krankheitstheorie der „Risikomanagerinnen“ ist zwar wie bei Typ 2 eine multifaktorielle, die Faktoren werden aber nicht als unberechenbar, sondern als Risikofaktoren beschrieben. Die Frauen des Typs 1 hantieren also mit dem Risikobegriff, wie er im BRCA-Diskurs verwendet wird. 5.2.5.1.1 Thematisierung des Risikos Es fällt auf, dass die Frauen dieser Gruppe das Wort „Risiko“ häufig benutzen und mit dem Begriff selbstverständlich umgehen. Die Risikoziffern, die im Diskurs für die genetische Disposition, aber auch für verschiedene präventive Maßnahmen angegeben werden, scheinen für sie reale Bedeutung zu haben: Risiken können gegeneinander abgewogen werden und sind Grundlage von Entscheidungen. Die Frauen verhalten sich ähnlich, wie es im Kapitel 4.2.3 für einige Frauen in der Studie von Robertson (2000) beschrieben wurde, die sich selbst einen numerischen Risikostatus zuweisen und diesen aufgrund neuer Informationen kontinuierlich aktualisieren. Aus dem Interview mit Frau Baumann, in dem das Wort „Risiko“ besonders häufig erwähnt wird (insgesamt 22-mal), soll hier noch einmal auf die Stelle „Risiko in mir drin“ verwiesen werden, die bereits im Kapitel 5.2.3 Vorstellungen vom Gen zitiert wurde. ICH=würd=ihn IMmer wieder MAchen, (.) EINfach WEIL=ich es (.) GUT finde über die dinge die IN mir dr`DRIN sind beSCHEID zu WISsen, /mhm/ und wenn da IN mir drin 'n RIsiko is, /(Kind): MAMA/ (1) dann bin=ich EIgentlich die ERste die's wissen SOLLte, /mhm/ (1) und=ähm (.) damit ICH auch damit UMgehen kann, GANZ egal WIE ich dann damit UMgehe, /mhm/ dass=is ja

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DANN auch (.) im GRUNde genommen erst mal MEIN proBLEM wie ich mit so was UMgehe, /ja/ .hh aber ähm (.) ich FINde (.) man SOLLte auch ähm (.) WISsen was in ei'm SELber DRIN steckt. (.) und (.) ich DENke (.) das RIsiko es NICH

zu

WISsen

und

sich

DAdurch

UNnötich

ANGST

zu

ma-

chen=dann=TEILweise, is SO HOCH. /mhm/ (1) WEIL man MACHT sich naTÜRlich auch immer WIEder geDANKen drüber; KÖNNT=ich das jetzt HAben; KÖNNT=ich das geERBT HAben; und (.) mit SO'm TEST ham=sie dann EINfach die geWISSheit; ich HAB=es geERBT oder ich hab=es NICHT geERBT.

Hier wird deutlich, wie das Risiko, eine statistische Größe, durch das Vehikel des Gens im eigenen Körper verdinglicht wird. Es wird aber auch ein anderes Risiko außer dem genetischen erwähnt: die eventuell unnötige Angst, wenn man den Test nicht macht. Diese Passage zeigt, dass die Interviewte annimmt, dass man sich schon vorab über den eigenen Risikostatus bewusst ist und daher Angst hat. Sie geht also von einer allgemeinen Alarmsituation aus, innerhalb derer der Test tatsächlich das Rationalste ist. An einer anderen Stelle geht es dagegen um das „Risiko, sich testen zu lassen“: es=is naTÜRlich SCHON'n RIsiko sich heute auf so was TESten zu lassen (.) weil zum beispiel viele verSICHERungen, (.) ähm /ja/ dann NICHT mehr einen AUFnehmen wollen wenn man wirklich dieses gen HAT (.) und wenn man es verSCHWEIgt das is auch so'ne SAche weil denn= könn'n=se ein hinterher DOCH abLEHN, /mhm/ und so geschichten, also es=is SCHON mit RIsiko verbunden auch sich testen zu LASsen weil man dadurch irgendwo DURCHsichtiger wird. /mhm/ (1) aber=ähm (.) and'rerseits is=es natürlich auch gut zu WISsen wenn man dieses GEN hat. also=s=s ((Kind redet) von der mediZINischen seite her) is=s BESser es zu wissen weil man dann besser HANdeln kann aber von der (2) geSELLschaftlichen seite her sag=ich mal is=es DENK=ich SCHWIErig.

Die mögliche Ablehnung durch Versicherungen und andere gesellschaftliche Konsequenzen tauchen hier als Risiken auf, ähnlich wie an anderer Stelle (im Kapitel 5.2.4 Subjektive Krankheitstheorien zitiert) die „selffulfilling prophecy“. Für die Erzählerin stellen sich die verschiedenen Möglichkeiten also tatsächlich wie in einem unternehmerischen Nutzenmaxi-

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mierungskalkül32 in Form von handhabbaren ‚Risiken‘ dar, die man gegeneinander abwägen und dann eine optimale Entscheidung treffen kann. Im ersten der beiden voranstehenden Zitate der Interviewpartnerin Frau Baumann wird außerdem deutlich, dass die Interviewte die Verantwortung für den Umgang mit der Testinformation sich selbst zuschreibt, statt etwa Ärzte dafür zuständig zu machen. Auch bezüglich des Verhältnisses zu Ärzten spiegelt sich hier also das Modell des neueren medizinischen Diskurses, der die eigenverantwortliche und „informierte Patientin“ propagiert. 5.2.5.1.2 Präventionsmaßnahmen als Risikomanagement Die Selbstverständlichkeit der Rede vom Risiko bezieht sich auch auf risikomindernde Maßnahmen, die die Frauen nach einem positiven Testergebnis in Betracht ziehen: weil also wenn ich weiß ich hab n risiko von maximal achzich prozent das is verdammt VIEL; /mhm/ dann=dann macht es keinen SINN regelmäßig alle drei monate zur kontrolle zu gehn. da macht es wesentlich mehr sinn wenn ich dann wirklich mal was gravierendes mach. (Frau Graf)

Die prozentuale Wahrscheinlichkeit hat für diese Frau eine klare Bedeutung und wird direkt an eine Handlungsoption gekoppelt, und zwar eine ganz bestimmte. Dabei steht für jede der interviewten Frauen eine andere Option im Vordergrund, während sie die anderen häufig als „übertrieben“ oder für sich selbst unangemessen verwirft. Prophylaktische Operationen Die vorangehend zitierte Interviewpartnerin Frau Graf berichtet an einer anderen Stelle, wie sie vor dem Test verschiedene Maßnahmen gegeneinander abwog und sich für eine prophylaktische Brustamputation entschieden hatte, sollte sie ein positives Ergebnis bekommen (was nicht der Fall war). Die entsprechende Passage des Interviews wurde schon im Unterkapitel 5.2.1 ‚Entscheidung‘ und Verhältnis zu Ärzten in voller Länge zitiert. Hier soll noch einmal der Ausschnitt wiedergegeben werden, der sich auf die prophylaktische Operation bezieht:

32 Dies wurde mit Silja Samerski schon in Kapitel 3.3.6 für die Beratungsgespräche beschrieben.

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hab also das=das auch mit meinem freund besprochen – wir wohnen zusammen – und ich mein es=es gibt da zwei sinnvolle varianten halt entweder die=diese antihormone /mhm/ wechseljahre, die therapie über=über zwei drei jahre ist das wohl recht effektiv hat herr doktor h. mir gesagt, wobei das is=war auch was was ich mir nicht so vorstellen kann, ne, /mhm/ mein ich weiß nicht ob ich vielleicht doch noch mal irgendwann n kind MÖCHte oder nicht und irgendwie das wär ja alles also ich mein ich war fümundreißich zu dem zeitpunkt ne /mhm/ ähm (.) oder halt eine brustentfernung; und das wär auch die möglichkeit zu der ich mich entschlossen hatte bevor ich das ergebnis kannte; das klingt jetzt so BLÖD aber äh ich=ich brauchte halt eine überlegung, die ich dann anstreben würde, /mhm/ halt dass es also dass ich=dass ich weiß okay wenn ich positiv BIN dann MACH ich das und dann hab ich zwar keine hundertproZENtige sicherheit aber ich hab eine recht GROße sicherheit ne, /mhm/ mein gut, es kann immer noch irgendwo im restgewebe oder im bauchfell oder was weiß ich nicht auftreten ok; /mhm/ aber immerhin is (.) is das schon mal ne ganz=ganz sinnvolle lösung für mich selber;

Auffällig ist, dass die Interviewte die Entscheidung über die bei einem positiven Ergebnis des Tests zu realisierende Maßnahme traf, bevor sie das Textergebnis erhielt. Dieses schien für sie nur dann wertvoll zu sein, wenn eine Handlungsoption gegeben war, die sie als eine „sinnvolle Lösung für sich selber“ akzeptieren konnte. Damit führt sie geradezu idealtypisch die „informierte Risikoabwägung“ eines decision-makers vor. Eine andere Frau erzählt ebenfalls im Kontext der Mitteilung des Testergebnisses (hier ein positives) sogleich von risikominimierenden Maßnahmen. Wie in den beiden vorherigen Zitaten erscheinen die Prozentzahlen als etwas, das eine Einschätzung und Handhabung gewährleistet, der Krebs als ein beeinflussbares Risiko: I:

und was hatten sie dann (.) für erWARtungen denn: (.) also WENN sie dann das ergebnis haben da’ (.) was sie dann damit (.) anFANGen können oder (1)

E: ja gut im ERSten moment wenn man das gesacht kricht (1) ob ja oder nein (.) und da musst=e schon erst=e=ma: (.) etwas SCHLUCKen (.) ja: (.) ähm (.) hatt ich schon so bisschen äh: (.) ((sehr betont) proBLEme damit KLARzukommen (.) muss ich GANZ ehrlich sagen /mhm/ (.) aber (1) f’ dadurch dass der ARZT ja dabei war) (.) der konnte uns ja dann auch schon=ma bisschen WEIterhelfen (.) u:m hh (.) VORzubeugen (.) was man machen kann: (.) damit diese pro-

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ZENTzahl (.) an krebs äh zu erkranken /mhm/ (.) SENKT /mhm/ (3) und das war dann für mich schon wieder=ne ZWEIte entscheidung /mhm/ (3) I:

was wurde da so konkret dann (.) mit ihnen besprochen oder?

E: na=ja zum BEIspie:l dass ja VIEle frauen an (.) äh: EIERstock oder geBÄRmutterhalskrebs /mhm/ hh (.) äh so=was und da hatten wir ja: (1) hat er uns gesagt also wenn=ma die EIERstöcke entfernen lässt (.) hasst=e [lautes rascheln am mikro] (.) oh schuldigung (.) haste schon=ma wieder (.) soVIEL prozent weniger /mhm/ (3) und ich hab ja dann äh: (2) mir gleich (.) oh weiß net wie lange (.) ich hab ja dann ne tor’ toTALoperation machen lassen I:

ja?

E: ja (.) aber net in a-stadt (.) ich war hier in g-stadt /mhm/ (.) in der (.) in der frauenklinik /mhm/ weil ich sowieSO äh: (.) probleme immer hatte mit meiner tage /mhm/ hh (.) und von daher lach für mich des auf der HAND das waren für mich dann (.) fünf=en=vierzich prozent weniger /mhm/ (2) wo=ma halt wieder VORbeugen kann ne /mhm/ (2) also meine SCHWESter die is damals in (.) in a-stadt gewesen und hat sich (.) äh die eierstöcke entFERnen lassen /mhm/ (7) /mhm/ von daher hat=ma ja jetzt das (.) dieses risiko (.) DA dran zu erkranken schon=ma wieder gesenkt /mhm/ (3) ja so einfach is das eigentlich. /mhm/ (1) (Frau Haas)

Wie im gesamten Interview ist auch an dieser Passage die Entproblematisierung des Themas „Gentest“ auffällig. Für diese Interviewpartnerin ist die Frage, was auf Grundlage des Ergebnisses des Gentests zu tun sei, „so einfach“, dass es kaum lohnt, darüber lange zu reden. Sie signalisiert das durch wiederkehrende Klarheitspartikel („so einfach“) und kurze Antworten, obwohl ich lange Pausen lasse. Frau Haas’ Einstellung zeigt sich nicht nur performativ in der Interviewkommunikation, sondern taucht auch als Topos in der Erzählung auf: Die verschiedenen Beratungsgespräche, die vor dem Test durchgeführt wurden, erschienen ihr als zu lang und unnötig, da für sie die Entscheidung schon lange feststand. In dieser Entproblematisierung unterscheidet sie sich von Frau Graf, die gleich in der Anfangserzählung ihre Familiengeschichte von Krebs, ihre diesbezüglich sich steigernden Ängste und den Gang ihrer eigenen Überlegungen mit der Abwägung verschiedener Alternativen und möglicher psychologischer Probleme zu einer Geschichte verwebt, die auf die Entscheidung für den Test (und eventuell folgende Maßnahmen) hinausläuft (vgl. 5.2.1). Solche Unterschiede lassen sich auch milieuspezifisch deuten: Für die akademisch gebildete Angestell-

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te, die im Dienstleistungsbereich arbeitet, ist es vermutlich selbstverständlicher als für die Arbeiterin Frau Haas, Ereignisse ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihre Gefühlswelt zu reflektieren und gegenüber anderen zu versprachlichen. Die Psychotherapie, von der Frau Graf erzählt, hat vielleicht ebenfalls zu dieser narrativen Kompetenz beigetragen. Trotz der unterschiedlichen Formen der Thematisierung besteht aber für beide ein klarer Zusammenhang zwischen den Risikoinformationen und bestimmten präventiven Handlungen; die Informationen ermächtigen zum Handeln. In der Erzählung von Frau Haas wird die berichtete kurzfristige emotionale Verstörung durch das positive Testergebnis gleich wieder aufgefangen durch die Möglichkeit, das in Prozenten ausgedrückte Risiko durch eine Eierstockentfernung zu mindern. Wie in einem Rechenexempel weist sie sich nun ein geringeres Risiko zu. Eine Brustamputation weist die Befragte hingegen von sich: ähm: (1) ja gut (.) wer WILL=n das schon /mhm/ (2) wer WILL=n das schon? (.) also das kam für=für mich jetzt eigentlich nit so in FRAge (4) /mhm/ (2) bist ja kein MENSCH mehr ((I schmunzelt)) (.) ja! (.) /mhm/ IS doch so! (.) nee also das (.) wollt ich auf KEInen fall /mhm/ (.) doch (.) der arzt hatte glaub ich was erzählt von diesen (.) aber ich sach ja ich (.) es sind DREI jahre und dann (.) weiß ma das auch alles net mehr so genau /mhm/ (1) der hatte wohl was gesacht aber das g’ (.) also (.) nee das find ich dann nit so (.) mh mh (.) nee DA:mit hätt ich vielleicht GAR nit umgehen können /mhm/ (1) glaub ich net /mhm/ (1) so is=es oKAY: (1) und (2) was anneres hätt ich net gemacht (.) /mhm/ glaub ich net ((I schmunzelt kurz)) (.) nee (.) mh mh (.) nee hh auf KEInen fall (.) glaub ich net (.) nee /mhm/ (2) mh (1) so wie=s jetz is is GUT so ((I atmet kurz aus)) (.) ha=ja: was will man da SAgen ne? /mhm/ (2) was anneres hätt ich net gemacht. /mhm/

Anders, als es über einen Teil der Frauen nach prophylaktischen Ovarektomien in anderen Studien berichtet wird33 (vgl. 4.1.2.3), ist die Interviewte

33 Negative Folgen von Operationen werden auch in meinen Interviews erwähnt. So erzählt Frau Engelberger von ihrer Mutter, dass diese unter den hormonellen Folgen („Gefühlschaos“) zumindest anfänglich litt: I: „h. und (.) so SOnst kommt ihre mutter da jetzt eigentlich (.) einigermaßen mit KLAR un` also nach diesen operaTION'N?

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mit den Folgen der Operation sehr zufrieden. Zwar schwitzt sie viel, aber sonstige typische Wechseljahresbeschwerden hat sie nicht: E: das sind EIERstöcke und geBÄRmutter /mhm/ (.) also alles raus /mhm/ (2) /mhm/ (1) hat=mer zwar dann (.) wird=mer praktisch ja: äh (.) FRÜher in die wechseljahre versetzt /mhm/ also ich hatt äh (.) ganz schöne meine probleme mit /mhm/ (.) schwitzen und (.) ja /mhm/ heut noch (.) heut noch (1) also ich schwitze SEHR viel /mhm/ (2) ja (.) so ist das (2) I: E:

und

[sonstige] [das ist schon HEFtich] /mhm/ (.) SONST hab ich eigentlich KEIne prob-

leme weil viele (.) äh: (.) durch diese operatio:n können: ja: dann (.) depreSSIOnen und so=was: (.) kann ja dann (.) entstehen /mhm/ oder (.) kommen (1) das hatte ich eigentlich NICHT (1) muss ich sagen ich bin eigentlich (.) (1) /mhm/ und ich komme eigentlich im moment GANZ gut damit klar /mhm/ (2) und das is für mich wichtig /mhm/ (.) dass ich mir jetzt net sagen muss (.) vielleicht hast=es DOCH falsch gemacht oder (.) nit falsch gemacht (.) nee: (.)

Ähnlich wie Pelters (2013) es für einige Fälle beschrieben hat, ist die Operation für sie offenbar sogar eine Möglichkeit gewesen, bestimmte Begrenzungen ihres Körpers zu überwinden. So erzählt sie an einer anderen Stelle, dass es ihr im Gegenteil auch emotional viel besser gehe als früher, wo sie häufig unter den Folgen von Hormonschwankungen litt: JETZT: hab ich meine tage net mehr, (I schmunzelt) jetzt geht=s mir gut, ((schmunzelnd) ja (1) ja ich sach=s ganz EHRlich!), es IS so, /mhm/ es is wirklich so, ich bin=n ANNerer mensch im moment, /mhm/ es is einfach es=es STIMMT einfach (1) /mhm/ früher=immer schlechte LAUne, selbst meine kinder haben das gesacht, /mhm/ du schreist net mehr da rum was is mit dir LOS?,

E: .hh jo is halt 'ne KÄMpferin (lacht) /(lacht)/ ((leise) also) /mhm/ .h (3) ja ich denk SCHON dass sie gut damit klar kommt. /mhm/ (.) natürlich so (.) hormoNELL (.) hat d's natürlich ZIEMlich starke nachwirkungen /ja/ so einfach die EIERstöcke rauszukriegen /eben /mhm/ .h aber im (1) ja (1) ich denk (.) s' geht schon. am ANfang war natürlich BLÖD (1) so d's erste halbe JAHR glaub ich (.) nach der oP /mhm/ (.) .h aber jetzt (.) geht's ihr ganz GUT. /mhm/ (lacht) /(lacht)/ ((leise) ja.) (1)“.

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(I schmunzelt) bist so ANDers, ja JA, die haben=s auch gemerkt (1) und=s IS seitdem so! /mhm/ ich sehe alles net mehr so, .hh puh, so ENG: /mhm/, eher schon, lässich und, ja, doch, stimmt /mhm/ (4) fühl mich leichter /mhm/ (4) is einfach das geFÜHL so /mhm/ (2) (I schmunzelt) ja! (schmunzelt kurz) (3)

Auffällig ist, dass die Darstellung der Folgen der Operation im Laufe des Interviews immer positiver wird. Kam sie im ersten Zitat nur „ganz gut damit klar“, betont sie zunehmend – wie hier – die positiven Veränderungen durch die Operation und führt dafür auch Zeugen an. Die Interviewpartnerin Frau Haas sagt außerdem im oberen Zitat explizit, dass sie nicht das Gefühl habe, etwas falsch gemacht zu haben und formuliert gleichzeitig, dass ihr dieses Gefühl wichtig sei. Beides deutet auf eine performative Vergewisserung im Gespräch hin, es tatsächlich richtig gemacht zu haben. Hier agiert sie vielleicht auch gegen allgemeine Auffassungen des biomedizinischen Diskurses, der eher negative Folgen von Ovarektomien wie die von ihr erwähnten Depressionen betont (vgl. Pelters 2013, siehe Kapitel. 4.2.4.1). Diese Vorannahme hatte auch ich als Interviewerin, gegen deren spürbare Skepsis sie hier eventuell argumentiert. Durch ihre Schilderungen gelingt es aber tatsächlich, auch bei mir den überzeugenden Eindruck zu hinterlassen, dass es ihr nach der Operation besser gehe. Prävention durch ‚gesundes Leben‘ Eine weitere häufig genannte Präventionsmaßnahme ist es, ‚gesund‘ zu leben. Fast alle Frauen (sowohl die „Risikomanagerinnen“ als auch die „Ratsuchenden“) beziehen sich auf die im BRCA-Diskurs verbreiteten Empfehlungen, Lebensstilfaktoren wie Sport und gesunde Ernährung zu berücksichtigen. Manche sprechen sogar explizit von den „fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag nach der Ampelregel“, wie sie vom humangenetischen Berater genannt wurden. Die Aufforderung zum gesunden Leben ist damit der diskursive Topos des Risikomanagements, der am durchgängigsten von den Interviewten beider Typen rezipiert wird – vielleicht auch, weil er im allgemeinen Gesundheitsdiskurs sehr präsent ist. Es wird deutlich, dass, ähnlich wie es in den internationalen qualitativen Studien beschrieben wurde, die Frauen sich dazu regelrecht verpflichtet fühlen und ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich nicht daran halten, wie hier im Interview Frau Baumann:

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I:

hm wenn=sie jetzt EINfach mal so= (.) spekuLIEren würden also wenn=sie jetzt 'n= (.) ANderes testergebnis geHABT hätten, hätten sie=sich dann vielleicht auch noch ANdere MASSnahmen überlegt (.) AUßer der VORsorge?

E: ja dann hätt=ich mit SIcherheit auch verSUCHT etwas geSÜNder zu ESsen, wobei ich (.) ((lachend) NICHT weiß ob=ich das DURCHgehalten hätte) /(lacht)/ dass=is nämlich immer so'n WUNder PUNKT .hh KLAR man versucht ganz norMAL und AUSgewogen zu essen aber es KLAPPT NICHT IMMER, (.) sie wissen das wahrscheinlich SELber, /ja/ man (.) KANN sich ja beMÜhen aber (.) manchmal WILL man halt auch mal was UNgesundes zu sich neh=m, (.) .hh=ähm (.) das hätt=ich mit SIcherheit verSUCHT, (.)

Die Interviewte bemüht sich, ihre nicht immer ausgewogene Ernährung zu relativieren, indem sie mich als Gleichgesinnte anspricht, der es vermutlich ähnlich geht und die deshalb Verständnis hat. Auch die häufige Empfehlung, als Prävention gegen Brustkrebs Kinder möglichst lange zu stillen, nimmt Frau Baumann auf: Sie habe ihre Tochter bewusst ein halbes Jahr gestillt, schon bevor sie das Testergebnis wusste (wobei sie relativiert, sie hätte das vermutlich „auch so“ gemacht, weil sie es für ihre Tochter gut finde). Früherkennung als Prävention Für manche Frauen ist die wesentliche Möglichkeit, Krebs zu kontrollieren, ihn früh zu erkennen. Sie hatten sich daher vorgenommen, im Fall eines positiven Testergebnisses häufiger zur Vorsorge beziehungsweise Früherkennung zu gehen. wie gesagt also ich hätte das dann halt LIEber geWUSst und ähm (.) dann halt eben besser VORsorgen können weil ich ja WEISS dass brustKREBS bei entsprechender vorSORge auch HEILbar ist. /mhm/ (1) also dass=es nich UNbedingt dieses TOdesurteil SEIN MUSS was es oft is /ja/ sondern dass es häufig einfach zu SPÄT erKANnt wird und eben DEShalb so gefährlich is. /mhm/ (1) (Frau Baumann)

Hier findet sich interessanterweise die Assoziation von Krebs und Gefahr, die eher für die Krankheitstheorien der „ratsuchenden Klientin“ beschrieben wurde. Aber genau diese Gefahr wird relativiert: Zwar bleibt der Topos von Krebs als gefährlicher oder gar „der gefährlichsten“ Krankheit, diese

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Gefahr ist aber keine im luhmannschen Sinne, da sie nur durch eigenes Fehlverhalten (nicht regelmäßig zur „Vorsorge“ zu gehen) entsteht. Sie wird hier also in ein Risiko transformiert, da durch frühes Entdecken der Gefahr entgegengewirkt werden kann. Der gesamte Früherkennungstopos beruht eigentlich auf dieser Konstruktion: Krebs ist, wie Sontag beschrieben hat, immer noch die Krankheit, die im Verborgenen arbeitet (Sontag 2003: 15), kann aber durch ausgefeilte Methoden ans Licht gezerrt werden. Kontrolle als Illusion? Insgesamt erscheint, ähnlich wie Luhmann prognostiziert hatte, Krankheit, die von verschiedensten Faktoren abhängt und nur statistisch mit verschiedenen Maßnahmen korreliert, also eigentlich nicht direkt beeinflussbar ist, den Typ 1 genannten Interviewpartnerinnen als ein Risiko, das auf eigene Entscheidungen zugerechnet werden kann. Sie reproduzieren die diskursive Vorstellung, eigentlich könne man alle Krankheiten verhindern, wenn man sich entsprechend verhalte. Obwohl in der Selbstbeschreibung dieser Frauen Risikomanagement sinnvoll ist und die Verkörperung des Risikos – die statistische Relation zwischen Krebs und Basenpaaren hat mit dem eigenem Körper zu tun – gelingt, wird im Subtext mancher Interviews aber deutlich, dass die Hoffnung auf Kontrolle vielleicht doch nicht erfüllt wird. Interessanterweise sind gerade einige der „Risikomanagerinnen“ sehr mit Krebsgedanken, also Angst vor Krebs beschäftigt, waren vor dem Gentest sehr alarmiert und durch ein negatives Ergebnis nicht beruhigt. Zum Beispiel spricht Frau Graf sehr viel über ihre Angst vor Brustkrebs und hat deshalb sogar eine Psychotherapie angefangen. Der Test sollte ein Mittel sein, mehr Sicherheit zu gewinnen. Aber obwohl das Testergebnis negativ war, und sie erzählt, dass sie sich erleichtert fühlt, hat sie immer noch große Angst vor Krebs. Offenbar hat sich ihre Hoffnung, mittels des Tests die Angst ‚in den Griff zu kriegen‘, als illusionär herausgestellt: Gefühlsmäßig war die ‚Risikoreduktion‘ durch das Kontrollinstrument nicht befriedigend. Frau Engelberger fragt sich sogar, ob der Test sicher sei. Das genetische Wissen dient scheinbar einer unendlichen Logik des Verdachts: Statt einen Punkt der Sicherheit zu erreichen, wird man umso stärker vom Ungewissen verfolgt, je mehr man weiß. Je massiver man versucht, den Körper via Prävention zu kontrollieren, desto größer wird die Abhängigkeit von diesem Wissen um den Körper. Als

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„Wiederkehr des Naturzwangs“ wird diese Figur in der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1969) beschrieben. Ob die positiv getestete Frau in der Gruppe der „Risikomanagerinnen“ durch die Kontrollmaßnahmen wirklich beruhigt ist oder ob ihre Erzählung, dass es ihr sehr gut mit dem Wissen gehe, vor allem eine selbstschützende nachträgliche Rechtfertigung ist, wie es in anderen Studien vermutet wurde (siehe Unterkapitel 4.1.2.3), lässt sich dagegen schwer beurteilen. Zunächst aber erscheint glaubwürdig, dass es ihr nach der prophylaktischen Eierstockentfernung wesentlich besser geht als vorher. 5.2.5.2 Umgang mit der Unsicherheit – Typ 2 Die beschriebenen Frauen des Typs 2 sprechen über Krebs nicht im Modus des Risikos. Die Krankheitsursachen erscheinen ihnen als so unbestimmt, dass der Krebs unberechenbar und letztlich unkontrollierbar bleibt. Der Begriff „Risiko“ taucht in den Interviews selten und in manchen gar nicht auf. Aber auch die „ratsuchenden Klientinnen“ beschäftigen sich mit verschiedenen präventiven Maßnahmen, wie bereits bei den psychosomatischen Krankheitstheorien anhand des Topos des „positiven Denkens“ deutlich wurde. Diese werden aber weniger ausgeprägt als strategisch einsetzbare Faktoren zur Risikominimierung gesehen als in der anderen Gruppe. Prophylaktische Operationen werden zurückgewiesen oder nicht thematisiert. Frau Althauser hatte zwar eine prophylaktische Brustamputation, das jedoch schon, bevor sie das Ergebnis des Gentests wusste – aufgrund des Befundes einer Mastopathie, die von den Ärzten als unkontrollierbar eingeschätzt wurde. Wegen eines positiven Gentests eine Amputation vorzunehmen, hält sie für falsch, weil in ihren Augen Krebs so multifaktoriell ist, dass diese radikale Maßnahme unangebracht wäre. Für sich selbst zieht sie daher außer häufigerer Früherkennung keine Konsequenzen aus dem Testergebnis (bei ihr wurde eine „unclassified variant“ festgestellt, also eine bisher nicht als pathologisch bekannte Mutation). Außerdem sieht sie sich vermutlich als geschützt an, da die Brust amputiert wurde. Über diese Mastektomie äußert sie sich ambivalent: Einerseits sagt sie, dass sie es nicht gemacht hätte, wenn sie vorher gewusst hätte, welche physischen und psychischen Schmerzen damit verbunden seien. Unter anderem sei ihre Partnerschaft daraufhin zerbrochen. Andererseits äußert sie, dass sie gerade darüber froh ist, vorher nicht vor diesen Schmerzen gewusst zu haben, da sie sich dann vermutlich gegen die Maßnahme entschieden hätte. Entspre-

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chend der medizinischen Empfehlung rechtfertigt sie die Operation im Nachhinein immer noch als richtig, obwohl sie ihr Leben auch entscheidend belastet hat. Bezüglich des Risikoempfindens hinsichtlich Eierstockkrebs sind ihre Aussagen etwas vage, es bleibt unklar, ob sie hier ein erhöhtes Risiko annimmt. Für ein insgesamt höheres Risikoempfinden spricht, dass sie sich an anderer Stelle des Interviews darüber äußert, dass es für ihre Tochter von Bedeutung wäre, gegebenenfalls auf die „Schwachstelle“ zu achten und Lebensstilfaktoren zu berücksichtigen: da werd' ich jetzt SCHON dann drauf achten, /mhm/ dass wenn 'se mal älter ist, ne? /ja/ dass 'se da, dass das regelmäßig geguckt wird, /mhm/ und dass wenn dann mal 'was ist, dass man sagen kann, da war mal bei mir 'ne genanalyse einfach nur umzu gucken, ne, hat 'se jetzt die gleichen veranlagungen wie ich? /mhm/ wenn JA, dass man doch da die vorsorge ANders staffelt, und /mhm/ dass da einfach 'nen bißl aufmerksamer wird. grad jetzt bei dem frauenkrebs ist also /mhm/ in ANführungstrichen, können ja auch MÄnner kriegen, aber dass se da da auch einfach 'nen bißl, (1) dass 'se nicht unbedingt raucht, kein sport treibt und PIlle nimmt, (lacht) /(lacht)/ also diese drei, 'ne? /ja/ das einfach da 'nen bißchen da 'nen bißl drauf geachtet wird. dass man einfach sagt, ok, du - da ist 'ne SCHWAChstelle, da muß man aufpassen. /mhm/ (5)

In den Interviews erscheint der Topos „positiv zu leben“ oder „positiv zu denken“ in hoher Dichte. Die Interviewpartnerin Frau Fischer bezieht sich ebenfalls darauf: Sie wolle sich im Falle eines positiven Ergebnisses beraten lassen und dann bewusst danach leben, also „gut leben“: I:

ja jetzt nochmal zu dem=zu dem gentest zurück hatten sie da irgendwelche bedenken den zu machen, oder gabs da irgendwelche –

E: nein. GAR nicht GAR nicht. ich habs meiner schwester erklärt, /mhm/ und die war AUCH soFORT bereit. /mhm/ und hat gesagt wenn ne, wenn für DICH etwas dabei rauskommen sollte ne, dann kannst du schon im vorfeld was dagegen tun, /mhm/ oder dann lässt man sich weiterberaten wie muss ich leben was /mhm/ hilft mir und dass die krankheit NICHT ausbricht ja. da wär ich dann hätt ich dann vielleicht mich noch intensiver beraten lassen. ne, /mhm/ was kann ich jetzt tun, um (.) ja nicht nur um glücklich zu sein das gibt es äh ja auch im traum aber ja gut zu leben worauf muss ich achten /mhm/ was=was kann passieren

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wenn ja, oder so/mhm/ da hätt ich mich dann intensiv mit auseinander gesetzt; denke ich. ne, /mhm/ (2)

Es gibt aber gerade bei diesen Frauen des Typs 2A wie Frau Fischer auch ein Moment der Akzeptanz der Unbestimmtheit: Da schließlich jede Frau Brustkrebs bekommen könne, müsse man sich letztlich damit abfinden: wenn man DREIßig ist ist das was anderes oder zwanzig /mhm/ oder ja, aber mit fünfzig erkrankt jede siebte bis zehnte /mhm/ frau und das ham die schon mich über alles aufgeklärt /mhm/ dass das eigentlich NICHTS ungewöhnliches ist. ne, damit muss man halt im leben irgendwann AUCH vielleicht selber rechnen. (Frau Fischer)

Der Situation müsse man sich dann stellen und dürfe nicht verzweifeln: man kann sich nicht in die ecke legen und sagen so wer hilft mir jetzt /mhm/ und ne, das geht eben einfach alles nich. da muss man auch n bißchen stärke beweisen und (1) ja. (Frau Fischer)

Wie schon bei den Theorien zu Krankheitsursachen angesprochen (siehe Kapitel 5.2.4, Frau Drescher: „So genau kann’s einem ja keiner sagen“), wird einerseits von manchen Frauen die Unmöglichkeit der Kontrolle deutlich empfunden. Andererseits werden daraus aber keine eindeutigen Konsequenzen gezogen. So beschreibt zum Beispiel die Interviewpartnerin Frau Drescher zwar verschiedene Lebensstiländerungen als sinnvoll, zeigt sich aber gleichzeitig von ihrer Wirksamkeit nicht überzeugt. Wie schon angesprochen wurde, erscheinen die Maßnahmen eher wie ein Beschwörungsritual. Diese Form des „ungeglaubten Glaubens“, der auch schon in den internationalen qualitativen Studien auftauchte (z.B. Finkler 2003, vgl. Kapitel 4.2.4.2), wird von der Interviewten selbst thematisiert: Anhand einer Anekdote plausibilisiert Frau Drescher, wie man sich verpflichtet fühlt, etwas zu tun, und schuldig fühlt, wenn man es nicht tut – obwohl man weiß, dass man das Ergebnis nicht kontrollieren kann: ich sag' einfach was ich net ändern kann ich net ändern, undunund versuch einfach das BEste draus zu machen von daher, (2) denk' ich einfach auch also, wenn ich dann irgendwann mal die diagnose krieg' (?du hast?) BRUSTkrebs

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dann sach ich SCHEIße; (lacht) /mhm/ aber aber dann hab ich 's halt und dann MUß ich mich mit auseinandersetzen, ich KANN ja nix machen, /mhm/ (2) von daher dann würd' ich (?da?) hättest de endlich mit'm RAUchen aufgehört würd ich dann vielleicht /(lacht leise)/ sagen aber, ja aber wenn aber wenn ich net aufgehört hab' (...) mein SOHN hatte PSEUdokrupp. des erste mal da war er glaub ich nen jahr alt; net einmal nen jahr alt, und als - mein mann und ich wir ham ja beide geraucht, und als die als ich schwanger war hab ich NICH geraucht, und dann hab ich ge:stillt und dann hab ich auch net geraucht, aber dannach hab ich wieder ANgefangen und da ham wa uns also BEIde vorgenommen mein mann hat das auch VORher schon gemacht, wir rauchen NICHT MEHR IN DER WOHnung; /mhm/ stelln sich mal vor wir hätten in der wohnung geraucht und das kind hätt PSEudokrupp gekriegt. /(lacht)/ hätten wer doch gedacht es kommt /ja/ vom rauchen und wir ham ja NICHT mehr ((lachend) geraucht.) so is des, ne. deshalb denk ich mir hörste vielleicht auf zu rauchen kriegst ((lachend) trotzdem.) /ja/(lacht) (3)

Sie formuliert hier genau die Krux, dass man sich verantwortlich fühlt für mögliche Folgen des eigenen Verhaltens, obschon man nicht weiß, ob es wirklich die Folgen sind. Obwohl in den Erzählungen der „ratsuchenden Klientinnen“ deutlich wird, dass für sie eine Kontrolle durch Risikomanagement illusionär ist, nehmen sie doch ebenfalls teil am Präventionsdiskurs, zum Beispiel auch, wenn sie den Test (darin waren sich alle Frauen einig) im Nachhinein rechtfertigen. Der ideologische Effekt des Konzepts der genetischen Verantwortung wirkt also auch bei Frauen, die nicht an eine Kontrollmöglichkeit glauben. 5.2.5.3 Eine paradoxe Anforderung Bezieht man die Ergebnisse des Teils zu psychosomatischen Ursachentheorien ein, führt die Verknüpfung von biomedizinischer und psychosomatischer Präventionsaufforderung im Diskurs der genetischen Disposition augenscheinlich in ein äußerst prekäres Management: Die ideale PatientinKlientin ist aufgefordert, eine geradezu paranoische Aufmerksamkeit auf selbst beobachtete (Selbstuntersuchung) oder medizinisch zu untersuchende (vom Gentest bis zur Mammographie) physiologische Anzeichen zu richten. Gleichzeitig soll sie aber psychisch gesund zu bleiben, damit die Krankheit nicht „psychosomatisch“ – was je nach Verständnis Stress, nega-

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tives Denken oder Autosuggestion heißen kann – entsteht. Besonders sichtbar wird diese prekäre Situation im Topos der sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Man erfüllt (unbewusst) die genetische Prophezeiung des Krebses. Durch die von Greco (1993) eingeführte Perspektive auf die moralische Dimension des Psychischen wird noch deutlicher, weshalb es für die Frauen wichtig sein könnte, sich immer wieder in Abgrenzung zu anderen als nicht psychisch problematische Subjekte darzustellen: Die Aufgabe ist, die Balance zu finden zwischen einer guten Präventionsarbeit und einer schlechten hypochondrischen, emotional belastenden und im schlimmsten Fall autosuggestiv den Krebs hervorrufenden Beschäftigung mit einer möglichen Erkrankung.

6. Zusammenfassung

Diese Untersuchung war der Frage gewidmet, in welcher Weise man zum „Subjekt seiner Gene“ wird. Dafür wurde ein konkretes Fallbeispiel untersucht, die prädiktive – also vorhersagende – Gendiagnostik für sogenannten familiären Brust- und Eierstockkrebs. Dieses Beispiel wurde in den im Kapitel 1 umrissenen Kontext der zivilisatorischen Verdinglichung des Körpers einerseits und einer „Biopolitik der Bevölkerung“ andererseits gestellt. Es ist dabei der Versuch unternommen worden, die Analyse mit der ideologiekritischen Frage danach zu verbinden, warum gerade dieses Wissen und diese Praktiken zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in dieser Gesellschaft entstehen. Es wurde im Methodenkapitel festgehalten, dass solche Bezüge vom Besonderen auf das Gesellschaftlich-Allgemeine sich nicht operationalisieren lassen, sondern auf die Kraft der Reflexion und Spekulation vertraut werden muss. Die Anwendung qualitativer Methoden möchte ich vor diesem Hintergrund als „Spurensuche“ oder „Herantasten“ an die Wirklichkeit verstanden wissen. Inwieweit die so entstandenen Schlüsse überzeugend sind, mögen Leserin und Leser beurteilen. Die ideologiekritische Analyse des neueren gesundheitspolitischen Diskurses sowie von Texten, die sich im Rahmen des Verbundprojektes der Deutschen Krebshilfe an Frauen aus sogenannten Hochrisikofamilien richten, und der humangenetischen Beratungsgespräche wurde mit einer Befragung dieser Frauen kontrastiert. Dabei sollten die Interviewpartnerinnen, die einen Gentest gemacht hatten, ausführlich zu Wort kommen; anhand ihrer Erzählungen versuchte ich nachzuvollziehen, was es subjektiv heißt, zum Subjekt der eigenen Gene zu werden. Hierfür erschien die hermeneutisch vorgehende Methode der „Rekonstruktion narrativer Identität“ nach Lucius-Hoene und Deppermann (2002) als geeignete Wahl. Während dort

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allerdings bei einer Interpretation „subjektiv gemeinten Sinns“ verblieben wird und die Rolle des Sozialen unbestimmt bleibt, habe ich die Methode im Rahmen meiner Untersuchung erweitert. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen wurden auf das darin aufscheinende Gesellschaftliche, auf die vorher für den Diskurs herausgearbeiteten ideologischen Figuren untersucht. Neben einer Präsenz solcher Figuren zeigten sich bei den Frauen aber durchaus unterschiedliche Subjektivierungsweisen, die sich zwei verschiedenen Typen zuordnen ließen. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Für den allgemeinen gesundheitspolitischen sowie den Diskurs um die BRCA-Testung wurde festgestellt, dass die Frauen dort aufgefordert werden, sich wie ein nutzenmaximierender ökonomischer decision-maker zu verhalten. Als solche haben sie auf Grundlage umfänglicher Informiertheit verschiedene Optionen nach persönlichem Nutzen zu gewichten und daraufhin Entscheidungen zu treffen. Gerade (potentielle) ‚Risikopersonen‘ sollen ihren Körper als medizinisch analysierbares Objekt betrachten, über das sie mithilfe eines Gentests Erkenntnisse gewinnen sollen, um es dann ‚selbstbestimmt‘ und in ‚Vertragspartnerschaft‘ mit Ärztinnen und Ärzten einem Gesundheitsmanagement zu unterziehen. Diese Phänomene wurden in den gesellschaftlichen Kontext einer allgemeinen Individualisierung von Risiken gestellt. In Abgrenzung zu Nikolas Rose und Thomas Lemke wurde diese jedoch nicht als reine Rationalisierung oder Ökonomisierung des Sozialen verstanden, da Mythologisierungen wie der Bezug auf den Staat oder „das Volk“ in internalisierter Form beibehalten werden. Denn es ist meiner Ansicht nach fraglich, ob sich die Veränderung im biopolitischen Regime so eindeutig in die Richtung entwickelt, die von Rose skizziert wird: Zumindest für Deutschland kann kein eindeutiger Wandel weg von einem Bezug auf die „nationale Identität“ und hin zu vielgestaltigen Identitätspolitiken, weg vom Bezug auf die Gemeinschaft und hin zu einem auf „communities“ (Rose 2001: 6) festgestellt werden. Stattdessen wurde ein Ineinandergreifen von Bevölkerungs- und individueller Ebene angenommen. Denn die Tatsache, dass derzeitige Biopolitik nicht mehr wie frühere eugenische Regimes mit Zwang, sondern vielmehr mit dem Appell an die ‚selbstbestimmte‘ Entscheidung des Einzelnen operiert, könnte ein Hinweis sein, dass biopolitische Normen sich derartig internalisiert haben, dass kein Zwang mehr nötig ist. Dies zeigt sich

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am verallgemeinerten Topos einer „Pflicht, gesund zu sein“, der die gesamte Präventionspolitik bestimmt. Im Fall der BRCA-Testung zeigten sich allerdings keine expliziten gemeinschaftlichen Aufladungen dieser Verpflichtung. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich Tendenzen einer „Eugenik von unten“, wie sie für die Pränataldiagnostik festgestellt wurden, auch im BRCA-Bereich fortsetzen: Seit Kurzem ist auch in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik (PID)1 in Ausnahmefällen erlaubt, die in Ländern wie USA oder Großbritannien schon zur Verhinderung von Nachwuchs mit BRCA-Mutationen eingesetzt wurde. Wie fragwürdig die Anforderung ist, Subjekt seiner Gene zu werden, wurde bei der Analyse des Diskurses rund um das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ deutlich. Schon mit Horkheimer und Adornos Überlegungen in der „Dialektik der Aufklärung“ wird klar, wie illusionär jene die Medizin antreibende Vorstellung ist, völlige Kontrolle über den Körper zu erlangen. Zweifelsohne hat unter anderem der medizinische Fortschritt für eine immer längere Lebensdauer gesorgt, aber der Mensch bleibt doch Teil der Naturgeschichte und damit ein sterbliches und krankheitsanfälliges Wesen. Geradezu perfide wird diese Illusion jedoch, wenn mit Konzepten wie „Gesundheit als Kompetenz“ eine Verantwortung des Subjekts für seine Krankheit konstruiert wird. Die Hinwendung zu krankheitsverursachenden Faktoren, die man am Individuum festmachen kann, ist auch in der innermedizinischen Logik problematisch. Krebs wird – wie die meisten anderen Krankheiten auch – multifaktoriell verursacht. Mit der Konzentration auf genetische und Lebensstilfaktoren werden Krankheitsursachen ausgeblendet, die gesellschaftliche Veränderungen erfordern würden, wie Umweltverschmutzung oder schädliche Arbeitsbedingungen, beispielsweise Gifte am Arbeitsplatz. Diese werden auch im analysierten Informationsmaterial oder in den Beratungen an keiner Stelle erwähnt. Gerade im Fall des Brust- und Eierstockkrebs gibt es außerdem keine überzeugenden individuellen Präventionsmöglichkeiten. Eine Beeinflussung des Risikos durch Lebensstiländerung ist in den sogenannten Hochrisikofamilien bisher nicht erwiesen und auch die Früherkennung birgt Risi-

1

Es handelt sich hierbei um zellbiologische und molekulargenetische Untersuchungen, die der Entscheidung dienen, ob ein durch In-vitro-Fertilisation erzeugter Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt werden soll oder nicht.

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ken. Die Versuche, über Antihormone, die künstlich die Wechseljahre herbeiführen, präventiv zu wirken, stecken noch im Forschungsstadium. Die bisher effektivste ‚Prävention‘ ist die Entfernung genau der Organe, die nicht krank werden sollen, also der Brüste und Eierstöcke – eine sehr hilflose Form der ‚Vorbeugung‘. Vor dem Hintergrund des Forschungsstandes diskutierte ich meine auf Interviewanalysen basierende Untersuchung, wie sich Frauen im Zeichen der beschriebenen Genetisierung von Brustkrebs subjektivieren. Es wurde kein automatisches „Produkt des Diskurses“ ausfindig gemacht, sondern in den verschiedenen Subjektivierungsweisen zeigten sich Brüche und Widerstände. So befürworteten alle interviewten Frauen den Test, es wurde jedoch in der qualitativen Analyse der Erzählungen deutlich, welche Zumutung die Möglichkeit eines solchen Tests – also allein schon die Notwendigkeit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden – letztlich darstellt. Das verdeutlicht, dass es nicht ausreicht, die Bedeutung solcher Gentests für die Frauen durch die Erforschung „psychischer Konsequenzen“ zu bestimmen oder durch die bloße Frage, ob man den Test wieder machen würde. Dabei zeigten sich im Umgang mit dieser Situation zwei unterschiedliche Typen: Für den ersten Typ, der als „informierte Risikomanagerin“ beschrieben wurde, machte ihrer Selbstbeschreibung nach das Risikomanagement Sinn. Die Verkörperung des Risikos, also die Verdinglichung einer statistischen Relation zwischen Krebs und Basenpaaren zu einem „Risiko in mir drin“ (Frau Baumann) gelingt und ein entsprechendes Management scheint möglich. Auf Informationen folgen klare Handlungsentscheidungen, die Interviewpartnerinnen dieses Typs scheinen tatsächlich verschiedene Optionen abzuwägen und wie nutzenmaximierende beziehungsweise risikominimierende decision-maker zu agieren. Das Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten beschreiben sie wie der Diskurs als eine „Vertragspartnerschaft“. Es wird in den Erzählungen allerdings auch deutlich, wie alarmiert und ängstlich diese Frauen sind, wie sehr sie die Erkrankung von Familienangehörigen auf eine mögliche eigene Erkrankung beziehen. Die Hoffnung, die an das Risikomanagement (als verstärkte Überwachung und Vorsorge) geknüpft ist, scheint ebenfalls nicht restlos erfüllt zu werden: Manche Frauen haben trotz negativem Testergebnis immer noch große Angst vor Krebs. Offenbar hat sich ihr Wunsch, ein Kontrollinstrument zu haben, als illusionär herausgestellt, die „Risikoreduktion“ war nicht befriedigend.

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Das genetische Wissen offenbart hier eine paranoide Struktur: Je mehr man weiß, desto mehr wird man vom Ungewissen verfolgt – der Punkt der Sicherheit, der das ursprüngliche Ziel war, wird nie erreicht. Das scheint besonders bei einem Wissen der Fall zu sein, das keine direkten UrsacheWirkungs-Relationen enthält, sondern nur in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden kann. Sofern es um das Wissen über den zukünftigen Zustand des eigenen Körpers geht, ist dies besonders unbehaglich und verweist auf die „Dialektik der Aufklärung“, die um so mehr in die Abhängigkeit von Natur führt, je mehr sie auf Beherrschung der Natur aus ist. Für die Interviewpartnerinnen des zweiten Typs, die „ratsuchende Klientinnen“ genannt wurden, hat sich demgegenüber gezeigt, dass sie sich nicht wie die „ideale Patientin“ des Diskurses darstellen. Ihre „Entscheidungen“ erscheinen häufig gar nicht als solche, sondern eher wie ein automatischer Ablauf. Im Verhältnis zu Ärzten und Ärztinnen begreifen sie sich außerdem nicht als gleichberechtigte Vertragspartnerinnen, sondern suchen nach dem Arzt, dem sie vertrauen können und bei dem sie gut aufgehoben sind. Auch ein Risikomanagement scheint nicht in der vom Gesundheitsdiskurs ‚vorgesehenen‘ Form möglich, da die mögliche Krankheit eher von unbestimmten, nicht kalkulierbaren Ursachen hervorgerufen wird als von abwägbaren Risikofaktoren. Trotzdem fühlen sich auch diese Frauen verpflichtet, „etwas zu tun“, und schuldig, wenn sie es nicht tun. Der ideologische Effekt des Konzepts der genetischen Verantwortung wirkt also auch bei jenen Interviewpartnerinnen, die nicht an eine Kontrollmöglichkeit glauben. Ob diese Verpflichtung allerdings als eine gegenüber „der Gesellschaft“ wahrgenommen wird, ließ sich auf Grundlage der Interviews nicht erkennen. Explizit tauchten diese Bezüge bei beiden von mir ermittelten Typen nicht auf, höchstens als Angst vor Diskriminierung etwa durch Versicherungen aufgrund des positiven Tests. Eine Unterscheidung zwischen dem Wunsch, selbst nicht leiden zu müssen; der potentiellen Scham, familiär von erhöhtem Brust- und Eierstockkrebsrisiko betroffen zu sein; der Verantwortung gegenüber der Familie und der biopolitischen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft war nicht möglich. Insbesondere angesichts der Erzählungen des Typs 2 wirkt – vor dem Hintergrund des ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisstandes sowohl hinsichtlich der Diagnostik als auch der Prävention – das neue Vertragsmodell der Medizin geradezu zynisch. Wie beschrieben, wird der Kör-

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per, über den die Entscheidungen zu treffen sind, als medizinisches Objekt gedacht. Es ist damit ein Körper, über den eine studierte Ärztin wesentlich mehr aussagen kann als eine medizinisch meistens weniger gebildete Patientin. Diese tatsächlich existierende Wissenshierarchie wird im Vertragsmodell ignoriert. In Formulierungen wie „Ich bin doch kein Arzt, ich frag dann ’nen Arzt“ (Frau Drescher) wird die implizite Verantwortungsverschiebung vom Arzt zum Patienten, die in diesem Modell steckt, auch explizit zurückgewiesen. In der Formel der informierten Entscheidung wird zudem ignoriert, auf Grundlage welcher Bedingungen etwa die ‚freie‘ Entscheidung für einen Gentest stattfindet: Zunächst einmal entsteht durch das Testangebot überhaupt erst die Notwendigkeit einer Entscheidung. Die Alarmierung, die der Diskurs des genetischen Risikos bei den interviewten Frauen hervorruft, befördert diesen Entscheidungsdruck. Wenn gleichzeitig ein bestimmtes Ideal der Aktivität und Informiertheit propagiert wird, ist zudem eine positive Entscheidung als erwünscht nahegelegt. Die Umgangsweisen beider Typen weisen auf einen weiteren schwierigen Punkt hin, mit dem das risikominimierende Subjekt der eigenen Gesundheit konfrontiert ist. Das prekäre Management hat laut den Erzählungen nämlich auch noch die Psyche als ‚Risikofaktor‘ einzubeziehen. In den Interviews sind psychosomatische Erklärungen sehr präsent, zum Teil in der Form, dass die genetische Information selbst eine Gefahr darstellen kann: Es wird mehrfach thematisiert, dass man sich allein aufgrund dieses Wissens so „verrückt“ machen könne, dass man dadurch krank würde. Die Betonung mancher Interviewpartnerinnen, sie selbst hingegen könnten gut mit diesen Informationen umgehen, muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass zum Ideal der guten Klientin-Patientin auch ein möglichst stressfreier Umgang mit dem Wissen gehört. Ein selbstbestimmtes Risikomanagement der informierten PatientinKlientin, die Subjekt ihrer Gene ist, ist also eine fragwürdige Konstruktion. Dagegen wäre zu halten, dass Krankheit und Tod letztlich unkontrollierbar sind, dass zwar viele Faktoren an ihnen beteiligt sind, aber niemand daran schuld ist.

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Anhang

L EGENDE

UND

T RANSKRIPTIONSREGELN

Personen I: Interviewerin E: Erzählerin Doktor Klein, Doktor Lange, Pseudonyme der humangenetischen Doktor Michels, Doktor Neuss Berater und Beraterinnen Transkriptionsregeln (in Anlehnung an das Basistranskript des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem, kurz: GAT) 1. Verlaufsstruktur [] Überlappungen/Simultansprechen /ja/ kurze Beiträge des anderen Gesprächsteilnehmers (meist Aufrechterhaltungen, Zustimmungen, etc.) # „mhm“ des anderen Gesprächsteilnehmers = Schneller Anschluss beziehungsweise Verschleifungen 2. Pausen (.) Mikropause beziehungsweise Pause unter 1 Sekunde (1),(2),(3)... Pausen in Sekundenlänge 3. Tonhöhenbewegungen ? Hoch steigend , Mittel steigend Schwebend ; Mittel fallend . Tief fallend : Dehnung ` Abbruch

282 | Z UM S UBJEKT DER G ENE WERDEN

4. Sonstige Konventionen AkZENT (hustet), (lacht) ((leise) satzteil), (lachend) satzteil) (?dieser?) (???) (...) (im Vergleich, A.z.N.) (XXX), (XXX Jahreszahl, A.z.N.) mhm, ja, etc. hmhm hm, äh, ähm, öh .h, .hh, .hhh h, hh, hhh

Primärakzent außersprachliche Handlungen/ Ereignisse Art, in der ein Satzteil gesagt wird vermuteter Wortlaut im Redefluss unverständlicher Beitrag Auslassungen im Transkript erklärende Einfügungen der Autorin Anonymisierungen Affirmationen Verneinungen Verzögerungssignale Einatmen, je nach Dauer Ausatmen, je nach Dauer

L EITFADEN

FÜR DIE I NTERVIEWS MIT BETROFFENEN F RAUEN Leitfrage (Erzählaufforderung)

Check – Wurde das erwähnt? Memo für mögliche Nachfragen

Frage 1: Als Erstes interessiert mich, wie es denn dazu gekommen ist, dass Sie einen Gentest gemacht haben? Erzählen Sie doch mal…

Familiengeschichte? Gründe? Wie kamen Sie darauf? (Empfehlung, Überweisung, eigene Information) Vorkenntnisse/Wissen über Gentests? Bedenken, Test zu machen? (Falls hier passt: Kommunikation in der Familie über Daten?) Erwartungen? (z.B. eindeutiges Ergebnis?)

A NHANG | 283

Frage 2: Wie ist das dann alles abgelaufen mit den verschiedenen Beratungen?

Frauenklinik, genetische Beratung, psychologische Beratung: wie jeweils erlebt? (Verständnis, hilfreich zur Entscheidungsfindung?) Warum Test gemacht (gedrängt/freiwillig/ Bedenkzeit?) Information über weitere Möglichkeiten/ was aus positivem/negativem Test folgt?

Frage 3: Und wie ging es dann nach den Beratungsgesprächen weiter?

Testergebnis abgeholt – war das fraglich? Wie entschieden? Ergebnismitteilung: Empfehlungen? Wie empfunden? (Verständnis, emotionale Reaktion, Hilfestellung der Ärzte)

Frage 4: Hat sich Ihr Leben durch diesen Test irgendwie verändert?

Auswirkung auf Lebensführung/Entscheidungen: Maßnahmen überlegt? (Operationen, Medikamentenstudie, intensivierte Früherkennung, Maßnahmen wie Ernährung, Sport?) Versicherungen? Weitere Anforderungen durch die Studie (Fragebögen)? Unsicherheit/Angst vor Krebs anders als vorher? Erleichterung? Einstellung zur Zukunft? (Wenn Kinder: Gefährdung, Zukunft mit ihnen) Körperwahrnehmung verändert? Vorstellung vom Gen? Risiko: hoch/niedrig? Auswirkungen in der Familie? (Kommunikation, Zusammenhalt, unterschiedliche Umgangsweisen)

284 | Z UM S UBJEKT DER G ENE WERDEN

Frage 5: Wenn Sie mal zum Beispiel in Ihrer Familie vergleichen – haben Sie den Eindruck, es gibt in den verschiedenen Generationen unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Thema?

Umgang mit Krankheit, Umgang mit Ärzten Eigenverantwortung, Aufklärung

Frage 6: Wenn Sie jetzt im Nachhinein zurückblicken – würden Sie den Test nochmal machen oder den Test weiterempfehlen?

Erwartungen erfüllt? Sicherheit/Unsicherheit Kindern empfehlen?

Frage 7: Zu konkreten Maßnahmen: würden Sie das wieder machen? Oder: Halten Sie das für unbedenklich (etwa: Vorsorge ja auch immer wieder in der Kritik)?

Erwartungen erfüllt? Gut informiert?

Frage 8: Meinen Sie, dass die Gendiagnostik weiter ausgedehnt werden sollte?

Im Krebsbereich? Für andere Krankheiten?

Abschlussfrage: Fällt Ihnen noch ein Aspekt ein, der Ihnen (im Zusammenhang mit meiner Fragestellung) wichtig wäre, der aber in unserem Gespräch bisher nicht aufgetaucht ist?

Weitere Infos, falls nicht aufgetaucht: • Kinder • Beruf • Zeitpunkt der Ergebnismitteilung • Zeitpunkt verschiedener Maßnahmen

KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Arno Böhler, Christian Herzog, Alice Pechriggl (Hg.) Korporale Performanz Zur bedeutungsgenerierenden Dimension des Leibes März 2014, ca. 240 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2477-9

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

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KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Dezember 2013, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings April 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven 2010, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

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KörperKulturen Karl-Heinrich Bette Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1725-2

Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise 2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2042-9

Franz Bockrath (Hg.) Anthropotechniken im Sport Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung? 2011, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1868-6

Kathrin Dengler, Heiner Fangerau (Hg.) Zuteilungskriterien im Gesundheitswesen: Grenzen und Alternativen Eine Einführung mit medizinethischen und philosophischen Verortungen September 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2290-4

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit 2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Nino Ferrin Selbstkultur und mediale Körper Zur Pädagogik und Anthropologie neuer Medienpraxen Juli 2013, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2505-9

Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen 2012, 256 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9

Julia Diekämper Reproduziertes Leben Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik

Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis

2011, 416 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1811-2

2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1

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