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German Pages 278 Year 2015
Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hg.) Schwärme – Kollektive ohne Zentrum
... Masse und Medium 7
2009-07-09 14-35-33 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c5215043567110|(S.
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Editorial Masse und Medium untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht die Reihe von einer eigentümlichen Brisanz des Massenund Medienbegriffs aus: Die Massenmedien markieren keineswegs ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen auf z.T. unberechenbare Weise wiederkehrt - weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Eine Differenzierung zwischen Massen und Medien zeigt, dass es sich dabei um beidseitig fragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. Für Masse und Medium steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinander driften und zusammenwachsen. Somit benennt die Reihe Medialität und ›Massivität‹ als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische Re-Artikulationen öffnet. Die Reihe wird herausgegeben von Friedrich Balke, Jens Schröter, Gregor Schwering und Urs Stäheli.
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Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hg.)
Schwärme – Kollektive ohne Zentrum Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information
... Masse und Medium 7
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Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und der Max Geldner Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Getty Images, Photograf: Peter Scoones Lektorat: Eva Horn, Lucas Marco Gisi Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1133-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum - 1133.p 215043567150
Inhalt Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung .............................. Eva Horn
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Netzwerke – Schwärme – Multitudes ..................................................... Eugene Thacker
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Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge ..................................... Michael Gamper Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie ............................. Urs Stäheli
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Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction ........................ 101 Eva Horn Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung ....................................... 125 Sebastian Vehlken Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation ................ 163 Sebastian Giessmann Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel ................................................................................... 183 Niels Werber Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften ............ 203 Eva Johach
Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts ............................... 225 Lucas Marco Gisi Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem ...................................................... 253 Benjamin Bühler
Autorinnen und Autoren ......................................................................... 273
Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung Eva Horn
Steuerungen Schwärme haben Konjunktur: sei es als Gegenstand von Trend-Tagen und von entsprechend aufgeregten Publikationen, sei es als Hoff nungsträger für die »nächste soziale Revolution«, als Modellierung für paralleles Rechnen und verteilte Intelligenz oder als »Zukunft der Kriegführung«.1 Ihr Versprechen liegt in einer anderen Form der Organisiertheit, einer Form, die den traditionellen Architekturen des Politischen, des Denkens, des Rechnens und der Kriegführung radikal entgegengesetzt ist. Als Kollektive ohne Zentrum und ohne hierarchische Strukturierung erscheinen Schwärme im Sozialen als Organisationsformen mit größeren Freiheitsgraden, im Denken als kreativer und schneller, im Krieg als effi zienter. Aber diese Konjunktur dezentraler, nicht-hierarchischer und locker verbundener Kollektive ist nicht nur eine euphorische: Die Rede ist von »Terror-Netzwerken«, den Gefahren des Internet oder den unvorhersehbaren Schwarm-Logiken 1 | So John Arquilla/David Ronfeldt: Swarming and The Future of Conflict, Santa Monica: Rand 2000; Howard Rheingold: Smart Mobs: The Next Social Revolution, Cambridge/MA: Perseus 2003; Albert-László Barabási: Linked. The New Science of Networks, Cambridge/MA: Perseus 2002; Steven Johnson: Emergence. The Connected Lives of Ants, Brains, Cities, and Software, New York: Scribner 2001, um nur einige zu nennen. 2005 wurde ein Trend-Tag dem Thema »Schwarm-Intelligenz« gewidmet. Und die Uni Bremen führte während ihres Sommerfests 2008 mit dem anwesenden Publikum Versuche zur SchwarmIntelligenz in einer größeren Menschenmenge durch.
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des Finanzmarkts und des Konsumverhaltens. Schwärme sind darum auch ein Topos des populären Horrors: Schwarm-Invasionen, Monster-Insekten und attackierende Vögel sind die modernen Erben jenes Entsetzens, das das 19. Jahrhundert angesichts entfesselter Volksmassen empfand. Dabei sind das Versprechen wie die Drohung des Schwarms die eines Kollektivs ohne Zentrum – und das heißt: das einer zugleich sehr spezifischen und gänzlich abstrakten Organisationsstruk tur. Es geht um eine Organisation, die im gleichzeitigen, koordinierten, selbstgesteuerten Zusammen-Handeln von Einzelindividuen besteht, gleichartigen Einzelindividuen, die sich – auf Dauer oder nur für einen Moment – zu einem Ganzen zusammenschließen. Diese Einzelindividuen können Tiere sein (etwa Insekten oder Fische), ihr Schwarm-Verhalten kann in einem dauerhaften Ganzen (etwa einem Insektenvolk) bestehen, aber auch in einem vorübergehenden Zusammenströmen (etwa in Vogelschwärmen, die zusammenkommen und sich irgendwann wieder auflösen). Sieht man den Schwarm aber nicht mehr nur als biologische Lebensform, sondern als Strukturmodell, dann ist dieses übertragbar auf die unterschiedlichsten Felder: Kommunikationsverhalten, Bewegungsmuster, militärische Taktik, soziale Gruppenbildung, Formen politischer Mobilisierung bis hin zu schwarmartig kooperativen Formen der Wissenskonstitution im Web 2.0 (etwa in Form von Wikipedia oder Nachrichten-Blogs). Besondere Aktualität haben Schwärme gegenwärtig vor allem als Modellierung neuen, unkonventionellen sozialen Verhaltens: etwa in den Smart Mobs, die sich als politische Interessengruppen ad hoc, ohne zentrale Mobilisierungsinstanz zu neuen, situationsbezogenen Formen des Protests zusammenfinden (z.B. Menschenaufläufe, die durch SMS zusammengetrommelt werden), wie beispielsweise im Kampf der Globalisierungsgegner in Seattle 1999. Aber es gibt auch wesentlich profanere Formen menschlichen SchwarmVerhaltens, etwa im Verhalten von Konsumenten oder Börsenmaklern, wobei etliche Einzelpersonen plötzlich fast gleichzeitig und gleichsam ›affiziert‹ von einander exakt das Gleiche tun. Mag diesem sozialen und politischen Aspekt des Schwärmens heute die primäre Aufmerksamkeit gewidmet sein, so sind damit aber die Implikationen des Schwarm-Modells für politisches, ökonomisches und soziales Verhalten noch lange nicht geklärt. Bedeutet der Fortfall einer zentralen Steuerungsinstanz tatsächlich ein größeres Ausmaß an Freiheit für den Einzelnen? Oder sind nicht gerade die Wellen von gegenseitiger Affizierung (z.B. die Massenverkäufe einer Aktie, das plötzliche Bedürfnis nach bestimmten Konsumprodukten, die ad hoc organisierten Formen des Protests, die seltsam unzuverlässige Struktur kooperativ generierten Wissens im Netz, das selbstgesteuerte Angriffsverhalten disperser Kampfeinheiten etc.) vielmehr Anzeichen einer anderen Form von Gouvernementalität, die nur in den tradierten Analyse-
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begriffen noch nicht zu beschreiben ist? In der Euphorie, die sich gegenwärtig an die politische Form des Kollektivs ohne Zentrum knüpft – sei es im Smart Mob oder im Konzept der Multitude – werden diese Fragen entweder umgangen oder als immer schon gelöst betrachtet. Der andere, weniger spektakuläre, aber möglicherweise sehr viel wirkmächtigere Schwerpunkt der Faszination für Schwärme liegt in den Möglichkeiten ihrer digitalen Applikation. Die Forschung zur Swarm Intelligence ging in ihren Anfängen unmittelbar von der Beobachtung kooperierender Tier-Kollektive aus (insbesondere Insekten-Völkern), um an der Beobachtung ihres Verhaltens Lösungsformen für technische und informatische Probleme zu studieren. Die grundlegende Frage ist, wie es von relativ einfachen, gewissermaßen »dummen« Einzelakteuren zu komplexem, eben »intelligentem« Gesamtverhalten kommt. Und genau darin liegt die Herausforderung für technisch-digitale Anwendungen des SchwarmVerhaltens. Die Autoren der ersten grundlegenden Studie zur SchwarmIntelligenz verbinden darum jeweils die Untersuchung eines bestimmen Schwarm-Verhaltens (etwa Nahrungssuche, Arbeitsteilung oder Nestbau bei Ameisen) mit einem spezifischen technischen Problem – genauer gesagt: einem Software-Problem (wie z.B. Kommunikations-Routing, Aufgaben-Zuordnung oder Selbst-Montage).2 Die heutige digitale Forschung zur Selbstorganisation hat von diesen biologischen Modellen längst soweit abstrahiert, dass es nun vor allem darum geht, nicht mehr biologisches Schwarm-Verhalten zu untersuchen, sondern Rechenoperationen so zu organisieren wie Schwärme. Die Grundidee ist, simple »Agenten« (in diesem Fall Programme) so miteinander selbständig und gleichzeitig interagieren zu lassen, dass sie sich zu einer komplexen, nicht »programmierbaren« Problemlösung organisieren (Multiagenten-Systeme). Aus dem SchwarmVerhalten biologischer Akteure wird so die digitale Particle Swarm Optimization, ein kooperatives Selbstorganisations- und Lernverhalten digitaler Akteure. Seine ebenso politische wie epistemische Prominenz gewinnt der Schwarm somit ganz offensichtlich als Gegenstand von Übertragungen – vom Biologischen ins Politische, Technische oder Soziale, vom Natürlichen ins Künstliche, vom Tier auf den Menschen. Übertragungen, deren scheinbare Evidenz ihre Grundlagen ebenso ins Vergessen geraten lässt wie ihre grundlegenden Probleme.3 Voraussetzung einer solchen Übertragbarkeit ist die 2 | Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Preface, in: dies.: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999. 3 | Auf die dem Schwarm-Hype zugrundeliegenden Übertragungen ver-
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Abstrahierung des Kollektivs auf ein Modell der Aggregation, unabhängig von der Natur seiner Akteure (Menschen, Tiere, Programme, Kampfeinheiten), von der Form dieses Zusammenkommens (ist es Gruppenbildung, ist es ein kollektives Bewegungsmuster, ist es eine Form von verteilter Kooperation?) und unabhängig vom Medium, in dem dieser Prozess stattfindet (Wetware? Hardware? Software?). Betrachtet man diese Grundlagen, dann stellt sich nicht nur die oft behandelte Frage, was den Schwarm als Kollektiv ohne Zentrum von anderen, klassischen Modellen des Kollektivs (wie Klasse, Gemeinschaft, Gruppe, Partei, Nation) unterscheidet. Es fragt sich auch, was die unterliegende Logik dieser spezifischen Form der Aggregation oder Gruppenbildung ist. Diese Logik ist zuallererst eine Logik der Steuerung. Denn Schwärme sind Modelle alternativer Steuerungslogiken – sei es von Menschen- oder Tier-Gruppen, sei es von taktischen Einheiten, Konsumenten oder Computerprogrammen. Die Logik des Schwarms ist eine Logik der Selbstorganisation und der Selbststeuerung. Sie impliziert damit andere Begriffe der Einheit, andere Formen der Kohäsion, andere Modi der Kontrolle und andere Formen der Teleologie. Was zum Beispiel ist der ›Zweck‹ oder das ›Produkt‹ des Schwarms? Besonders deutlich kann man dieses »Hive Mind«, die Logik des Schwarms, in der Gegenüberstellung zu anderen Formen der Organisation konturieren, denen Schwarm-Organisation, anders als es der Smart-Mob-Hype will, durchaus nicht in allen Fällen überlegen sein muss. Schwärme funktionieren ohne zentrale Steuerung, allein durch die Kooperation einzelner Agenten, die lokal miteinander interagieren und einander gleichgeordnet sind (auch wenn ihre Funktionen stark ausdifferenziert sein können, wie etwa in der Arbeitsteilung von Ameisen). Diese Struktur impliziert nicht-lineare Formen von Kausalität und vernetzte Formen der Einflussnahme, d.h. eine gegenseitige »Affizierung« der Schwarm-Individuen anstelle von Ursache-Wirkungs-Abfolgen oder Befehls-Ketten. 4 Stellt man Schwarm-Systeme technischen »Uhrwerk-Lösungen« oder auch zentraliweisen zu Recht Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Kai van Eikels in: Übertragungen. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg: Rombach 2007, S. 7-61. Allerdings übernehmen sie diese Übertragung dann selbst, wenn sie den Schwarm vor allem als Modell und Metapher für soziale und politische Gruppenbildung und deren bewegungstechnische Performanzen behandeln, insbesondere S. 25-37. 4 | Zur Rolle des Affekts für die Selbstorganisation des Schwarms vgl. Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 44f., und die Beispiele für sich gegenseitig affizierende und ansteckende Mechanismen in der Massenpsychologie in den Beiträgen von Urs Stäheli, Michael Gamper und Eva Johach in diesem Band.
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sierten Systemen (wie beispielsweise dem Zentralen Nervensystem) gegenüber, also spezialisierter Top-down-Organisation, so lässt sich die Spezifik ihres Operierens als eine ambivalente Mischung von funktionalen Vorzügen und Nachteilen beschreiben – die Risiken nicht zu vergessen.5 Vorzüge von Schwärmen sind ihre Fähigkeit zur Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen, während die Uhrwerk-Lösungen immer nur in spezifischen Umwelten funktionieren. Daraus ergibt sich ihre Fähigkeit, als lebendige Systeme eine Evolution zu durchlaufen (was allerdings zentrale Nervensysteme über das Lernen auch können). Schwarm-Systeme sind zudem widerstandsfähig gegen Störungen und einzelne Ausfälle, weil sie sehr viel redundanter sind als technische Lösungen, die mit möglichst wenig Energie und Material ein spezifisches Problem lösen sollen. So rennen Ameisen zunächst einmal planlos in alle Richtungen auf der Suche nach Nahrung. Dabei legen sie bei jedem Weg eine feine, für die anderen Tiere wahrnehmbare Pheromonspur. Wenn eine oder einige von ihnen eine ergiebige Futterquelle finden, kommen sie schnell auf den gleichen Weg zurück und verstärken damit die Spur. So finden auch andere den Weg zur Futterquelle – und verstärken die Spur weiter, wodurch sie noch mehr Artgenossen anzieht. Ein zentralisiertes oder ein technisches System würde versuchen, vorher Kriterien für das Auffinden einer Nahrungsquelle festzulegen (etwa über den Geruch oder das Sehen) – und so möglichst direkt auf die Quelle zuzugehen. Das Schwarm-Verhalten dagegen arbeitet relativ unökonomisch: über eine »Abstimmung mit den Füßen«. Kybernetisch betrachtet, zeigt dieses Beispiel, dass Schwärme anders mit Rückkopplung umgehen. Im Fall der Nahrungssuche der Ameisen ist es nämlich die Aufaddierung der Spuren zur Futterquelle, die weitere Ameisen anlockt und damit das Signal weiter verstärkt – ein klassisches Beispiel für positives Feedback. Die Selbstorganisation von Schwärmen scheint interessanterweise vor allem über die An- und Abwesenheit von positivem Feedback zu funktionieren – unter weitgehendem Verzicht auf negatives Feedback, dem konstitutiven Moment von Selbstregulation. Ist die Nahrungsquelle erschöpft, findet kein negatives Feedback im engern Sinne statt (also die Einspeisung des Signals mit negativem Vorzeichen), sondern lediglich ein Fortfall des positiven Feedback: Immer weniger neue Spuren werden gelegt, die alten Spuren erlöschen. Während positives Feedback ohne Gegensteuerung in technischen Systemen zwar zu einer linearen Leistungssteigerung, aber schließlich zum Überschreiten von Grenzwerten bis hin zur Zerstörung der Maschine führt, erzeugen 5 | Vgl. dazu das Kapitel »Hive Mind« in Kevin Kellys brillantem Überblick zur Epistemologie der Schwarm-Logik. Kevin Kelly: Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization, Reading/MA: Addison-Wesley 1994.
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Schwärme allein aus der An-/Abwesenheit positiver Rückkopplung Ordnung. Selbstorganisation arbeitet vor allem mit positivem Feedback: Nur durch die ihm inhärente Dynamik der Selbstverstärkung und Steigerung ist Selbstorganisation in der Lage, genuin Neues zu erzeugen – während negatives Feedback vor allem für die Stabilisierung und Aussteuerung gegebener Systeme zuständig ist.6 Mehr vom Gleichen erzeugt etwas Anderes, aber durchaus nicht (notwendig) die Überlastung des Systems. Aus dieser Logik der Akkumulation – »more is different«7 – ergeben sich in Schwarm-Systemen Formen der Neuerung, die nicht aus den Einzelelementen oder Einzeloperationen der einzelnen Systemelemente ableitbar sind. Genau darum sind Schwärme ideale Studienobjekte von Emergenz. Aber darin liegt auch ihr Problem. Zunächst arbeiten Schwarm-Systeme durch ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Umwelten oder Problemstellungen nicht optimal. Da sie gleiche oder ähnliche Operationen auf viele verschiedene Akteure verteilen, machen viele Einzelne das Gleiche gleichzeitig – das Gegenteil von Effizienz. Mit anderen Worten: Schwarm-Systeme sind hochgradig redundant und haben damit zu Anfang ein schlechtes Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Maschinen-Lösungen dagegen sind effizient, weil sie möglichst spezialisiert operieren: Sie investieren so wenig Energie und Material wie möglich in jede einzelne Operation und erzeugen so wenig Abweichung wie möglich von der ursprünglichen Aufgabe. Schwärme dagegen arbeiten genau mit diesen minimalen Abweichungen zwischen den vielen parallelen Einzeloperationen und mit der positiven Rückkopplung bei erfolgreichen Operationen. Schwärme »probieren herum«, bis sie eine sinnvolle Lösung gefunden haben – genau deshalb können sie sich auf unterschiedlichste Umwelten einstellen. Uhrwerk-Lösungen dagegen können nicht evolvieren: Sie sind genau in der Umgebung und für genau das Problem optimal, für die sie hergestellt wurden. Darum aber brauchen Schwarm-Systeme lange, bis sie zur optimalen Anpassung oder maximalen Leistungsfähigkeit hochfahren. Das heißt auch, dass das Potential eines Schwarm-Systems (das ziellose Herumirren von Ameisen auf Futtersuche, das Chaos des Nestbaus, die Planlosigkeit schwirrender Vögel) lange nicht als Organisation hin zur Ordnung erkennbar ist. Schwärme operieren »an der Grenze zum Chaos«,
6 | Scott Camazine et al.: Self-Organization in Biological Systems, Princeton: Princeton University Press 2001, S. 15-27. 7 | So der Physiker Phil Anderson in einem für die Entwicklung der Emergenztheorie grundlegenden Aufsatz, Phil W. Anderson: More is different. Broken symmetry and the nature of the hierarchical structure of science, in: Science. New Series 177/4047 (Aug. 4, 1972), S. 393-396.
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zur scheinbaren Unordnung.8 Durch diese Latenz-Periode der Funktionalität ist die Entwicklung von Schwarm-Verhalten schwer antizipierbar, denn seine Dynamik oder seine Effekte sind nicht linear, sondern exponentiell. Plötzlich ist ein Effekt da, wo vorher lange nur unzielgerichtetes Gewimmel zu beobachten war. Genau dies ist der Emergenz-Effekt von SchwarmSystemen, eine Emergenz, die sich nur mit einiger Ambivalenz betrachten lässt.9 Denn da es keine zentrale Steuerungsinstanz gibt, ist es schwer, in das Schwarm-System einzugreifen oder es auszuschalten wie eine fehllaufende Maschine. Schwarm-Systeme haben eine grundsätzliche Tendenz zu eskalieren, gerade weil sie sich vor allem über positive Rückkopplung steuern, nicht aber über negative Rückkopplung. Man kann Schwärme schwer aussteuern oder stoppen, weil ihre Organisationsprozesse zu komplex sind und zu langsam reagieren. Man kann sie – das zeigen vor allem die populären Phantasien über angreifende Killer-Schwärme – nur vernichten. Schwärme sind, wie es Kevin Kelly auf den Punkt gebracht hat, tendenziell »out of control«.10 Es ist dieser Verlust an Steuerbarkeit in Prozessen der Selbstorganisation, die Unkontrollierbarkeit von Schwarm-Systemen, die sie so ambivalent – als Chance und als Bedrohung – erscheinen lässt.
Über tragungen Die Abstraktion, mit der sich von »Uhrwerk-Lösungen« und »SchwarmSystemen« sprechen lässt, reduziert die Erscheinungsweisen des Schwarms auf ein Modell des Operierens, egal, ob es sich um Fisch-Schwärme, Insektenvölker, Computerprogramme, Menschenmengen, Konsumenten-Verhalten, Logistik-Systeme oder Finanzströme handelt. Diese Abstraktion zum Modell ist die epistemische Grundlage der Übertragungen, die die Konjunktur und die (scheinbare) Evidenz des Schwarms ausmachen. Was dabei wegfällt, sind die Eigenarten der ›Medien‹, in denen das Schwär8 | So Christopher Langtons vielzitierter Aufsatz zur Mathematik der Emergenz, Christopher Langton: Computation at the edge of chaos, in: Physica D 42 (1990), S. 12-37. 9 | Zur genaueren Bestimmung des Konzepts der Emergenz vgl. Eva Horn: Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, in diesem Band, S. 104-106. 10 | Kelly: Out of Control, der sich wohltuend nicht nur durch sein differenziertes Verständnis der vielfältigen Schwarm-Phänomene und der ihnen unterliegenden Epistemologie von anderen Publikationen zum Thema abhebt, sondern auch durch seinen differenzierten Blick auf die Chancen und Gefahren von Schwarm-Systemen.
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men stattfindet: die Körper und Lebensweisen der Tiere, der Eigensinn der Akteure, die Unterkomplexität von digitalen Programmen gemessen an lebendigen Systemen, die politischen oder auch psychologischen Implikationen menschlichen Verhaltens. Es bedeutet, die Gesetzmäßigkeiten von Schwarm-Verhalten gerade »unabhängig von ihrem biologischen Zweck zu erforschen«, um ihn so in einer »Unschärfezone zwischen biologischen und technischen Systemen« ansiedeln zu können. 11 Erst diese Ablösung erlaubt dann die »Anwendungen« des biologischen Verhaltens im Dienste der Lösung eines technischen/informatischen Problems, wie es die Forschung zur Swarm Intelligence unternimmt. In dem Maße, wie sich der Schwarm als Modell von einem ›Medium‹ (dem biologischen Leben, der sogenannten »Wetware«) zum anderen (z.B. Software) übertragen lässt, sind drei verschiedene Ebenen in der Rede über den Schwarm zu unterscheiden, deren Gesamtheit eigentlich erst die Epistemologie des Schwarms ausmacht. (1) Zunächst stellt sich die ontologische Frage nach dem »Sein« des Schwarms. Was ist ein Schwarm, wenn er einzig in der ständigen Bewegung, im gemeinsamen Operieren, in der Relationalität, im plötzlichen Akt des Zusammenströmens existiert? Was ist der Bezug zwischen einem Schwarm als einem organisierten, kooperierenden Kollektiv (wie etwa einem Insektenvolk oder den Bibern) und dem Schwärmen als Akt, als lose gekoppelte gemeinsame Bewegung (wie etwa bei Fischen und Vögeln)? Worin besteht die Einheit einer Mannigfaltigkeit aus vielen gleichartigen Einzelakteuren? Ist ein Schwarm eher als ein Organismus oder eher als eine Kooperative adäquat beschrieben? (2) Zweitens stellt sich die Frage nach dem Operationsmodus des Schwarms. Worin genau besteht die Koordination seiner Einzelelemente? Welche Eigenschaften oder Handlungstypen der Individuen spielen dabei eine Rolle – und wie verbinden sie sich zu einem übergreifenden Ordnungszusammenhang? Was ist die Dynamik dieser Selbstorganisation, was ist ihr ›Zweck‹ und in welche Richtung geht sie? (3) Und drittens stellt sich die Frage nach der Darstellbarkeit des Schwarms. Es geht dabei um die Schwierigkeit einer Darstellung des Gestaltlosen oder der Ungestalt, eines »Körpers ohne Oberfläche«12, eines Objekts, dessen Vierdimensionalität (seine räumliche und zeitliche Struktur) in die Darstellung mit eingehen muss. Diese Frage nach der Darstellbarkeit des Schwarms ist nicht zuletzt auch die Frage nach den Bedingungen 11 | Eva Johach: Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften, in diesem Band, S. 217. 12 | Sebastian Vehlken: Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, in diesem Band, S. 126.
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der Möglichkeit eines Wissens vom Schwarm, ein Wissen, das gegenwärtig vor allem darin zu bestehen scheint, seine Operationsformen abzubilden und auf eine Formel zu bringen. Es ist die Frage nach dem technischen, epistemologischen und medialen Apriori dieses Wissens – und wohl auch die nach seinen blinden Flecken und unbefragten Voraussetzungen. Gegenwärtige Beschäftigungen mit Schwärmen konzentrieren sich zumeist lediglich auf die zweite Ebene, die Frage nach den Operationsformen – und verwischen dabei nicht selten auch die Differenzen zwischen dem Schwarm-Modell und anderen Formen von Kollektiven ohne Zentrum, wie etwa Netzwerken oder politischen Interessengruppen. Eine Epistemologie des Schwarms aber muss alle drei Ebenen in Rechnung ziehen. Das heißt nicht zuletzt auch, die Struktur der Übertragung selbst genauer zu untersuchen, die dem Schwarm als Modell für alles Mögliche Evidenz verleiht. Diese Übertragung findet über zwei Achsen statt: einer anthropologischen in Form einer Übertragung zwischen Mensch und Tier; und einer technologischen in Form einer Übertragung von lebendigen Systemen auf technische oder informatische. Während die technologische Ebene der Übertragung, in deren Zeichen die Forschung zur Swarm Intelligence steht, für sich absolute Neuheit in Anspruch nimmt und ohne die medientechnische Voraussetzung digitaler Rechner nicht denkbar ist, hat die anthropologische Übertragung zwischen Mensch und Tier eine Geschichte, die so alt ist wie die abendländische Kultur. Tier und Mensch sind immer wieder zu Metaphern füreinander geworden, die Sozialität der Tiere spiegelt die der Menschen, verbürgt die Naturgegebenheit menschlicher sozialer Organisation – oder aber wird umgekehrt zum normativen Modell, dem der Mensch nachzustreben habe (eine Option, die die heutigen politischen SchwarmDiskurse in besonderem Maße prägt).13 Im Blick auf die historische Genealogie der Rede- und Erkenntnisweisen des Schwarms erweisen sich diese Anthropomorphismen bzw. Theriomorphismen als erkenntnisleitende Metaphern: nicht nur für die Selbstbeschreibungen des Menschen und seiner Gesellschaft, sondern auch für die Formen seiner Erkenntnis von anderen Lebensformen. Das Wissen vom Schwarm ist immer schon metaphorisch, es ist durch Bilder, Figuren und Erzählungen strukturiert, deren epistemische, politische, ethische und anthropologische Implikationen es nicht einfach zu übernehmen, sondern zu allererst einmal freizulegen gilt. 13 | Zur normativen Aufladung des Schwarms vgl. die Aufsätze von Eva Johach für die historischen Modelle und für aktuelle Spielarten einer »Ethik des Schwarms« den Aufsatz von Niels Werber in diesem Band. Siehe auch Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie. Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 219-234.
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Politik – Kontrolle Ein erster und grundlegender Schritt in der Rekonstruktion einer Epistemologie des Schwarms ist dabei die Abgrenzung und Unterscheidung des Modells »Schwarm« von anderen Formen des Kollektivs ohne Zentrum. Eugene Thacker hat genau dies in der Gegenüberstellung von Netzwerk, Schwarm und dem von Toni Negri und Michael Hardt ausgearbeiteten Begriff der »Multitude« vorgenommen. Thackers zuerst in CTheory erschienener Text von 2004, den wir hier in deutscher Übersetzung vorlegen, ist bereits zum vielzitierten Klassiker eines kulturwissenschaftlichen Interesses an Kollektiven ohne Zentrum geworden. Thacker unternimmt den Versuch einer differenzierten Epistemologie dieser drei Modelle von Kollektiven ohne Zentrum, indem er sowohl ihre wissenshistorischen Grundlagen als auch ihre jeweiligen politischen Implikationen rekonstruiert. Während Netzwerke, deren Genealogie aus der Graphentheorie der Aufsatz nachzeichnet, Dezentralisierung als eine statische Topologie von Knoten und Kanten beschreiben, führen Schwärme in diese Statik die Dynamik eines permanenten Werdens ein. Schwärme sind immer auch in der Zeit, nicht nur im Raum, sie finden statt, sind reines Geschehen. Netzwerke können auf stabile Strukturen der Konnektivität bauen, Schwärme sind nichts als Kollektivität in actu. Diese ontologische Dimension einer Dynamik in der Zeit, die Bergson’sche durée des Schwarms, hat Konsequenzen nicht nur für die Beschreibbarkeit von Schwärmen als Organisationsstruktur, sondern auch für die Frage, wie die Akteure im Schwarm ihre Kollektivität herstellen, aufrechterhalten und zu welchem ›Zweck‹ sie operieren. Anders als Netze, deren Konnektivität sie definiert und die daher als gegeben vorausgesetzt werden kann, müssen Schwärme die Verbindung ihrer Einzelindividuen durch Formen der Interaktion oder Medien der Kommunikation (wie die Pheromonspuren der Ameisen, der Tanz der Bienen) ständig herstellen. Damit wird ein Begriff wie der des »Affekts« in dem Sinne, den ihm Spinoza gibt, zentral für Konzeptionalisierungen des Schwarms. Es geht dabei durchaus nicht um Emotionen, die den einzelnen Individuen zugeordnet werden können, sondern, wie Spinoza schreibt, um die »Affektionen des Körpers, durch die die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen«.14 Nur eine Theorie des gegenseitigen und gleichzeitigen »Affizierens« kann erklären, wie sich Schwärme nicht nur koordinieren, sondern auch wie sie sich überhaupt erst bilden. Diese Frage nach den Bedingungen für die Kollektivität des Schwarms, ebenso wie die nach 14 | Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übers. v. Otto Baensch, Hamburg: Meiner 1994, 3. Teil, Defi nition 3, S. 110.
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seiner Teleologie (was ist der ›Zweck‹ des Schwarms?), so bemerkt Thacker, werden in den Forschungen zur Schwarm-Intelligenz genau deshalb nicht adressiert, weil sie sich auf die Frage nach dem Operationsmodus des Schwarms (also dem »Wie«?) beschränken. In ihnen aber liegt die eigentliche politische Pointe des Schwarm-Modells, eine Pointe, die der – zugleich vitalistisch und radikal-demokratisch gemeinte – Begriff der »Multitude« nur insofern einlöst, als er sie in Paradoxa fasst. Negri beschreibt sie nicht ohne einige vitalistische Mystik als die Verbindung von »Systole« und »Diastole«, »Singularität« und »Mannigfaltigkeit«. In letzter Konsequenz bleibt unklar, wie die Multitude sich konstituiert und wie sie handlungsfähig werden – und das heißt im Politischen: Entscheidungen fällen soll. Thackers Diskussion der drei Modelle Netze, Schwärme und Multitudes legt in ihrer Kontrastierung auch deren konzeptionelle Unentschiedenheiten und blinde Flecken frei – und verweist gerade dadurch auch auf das produktive Potential aller drei Modelle für eine politische Theorie von Kollektiven ohne Zentrum. Wenn man in diesem Sinne das Schwärmen als Muster für das selbstgesteuerte, spontane und heterogene Zusammenkommen von Menschen aufgreift, die sich um bestimmte politische Anliegen, eine bestimmte Form von Widerstand oder auch nur in dem Willen zusammentun, überhaupt politisch sichtbar zu werden, dann muss die Frage nach dem Affekt des Schwarms gestellt werden. Ein solcher Begriff hat den Vorzug, gerade keine Annahmen über die Absichten, das »Bewusstsein« (im Marx’schen Sinne) oder die Gründe von individuellen Akteuren zu unterstellen, sondern allein auf die Tatsache zu reagieren, dass hier ein Mensch vom anderen »berührt«, affiziert und mobilisiert wird und diese Affizierung sich massenhaft fortsetzt. Genau dieses Phänomen steht im Zentrum von historischen Theoriebildungen zur Psychologie der Massen, die eine Theorie des sozialen Schwärmens avant la lettre entwerfen. Bezeichnend ist dabei, dass die ungelenkten und doch gewalttätigen und bedrohlichen Bewegungen großer Menschenmengen dabei schon im 19. Jahrhundert mit Schaudern und Faszination als Signatur des Zeitalters wahrgenommen werden. Michael Gampers Beitrag führt vor, in welcher Weise der Vergleich von Menschenmassen mit Tier-Kollektiven (oder auch einem einzigen »Raubtier«) den Versuch darstellt, die Komplexität moderner Massenphänomene auf einen gleichsam handhabbaren Begriff zu bringen. In den Entwürfen einer Psychologie der Masse (die zumeist sehr weit von einer »Psychologie« im engeren Sinne entfernt sind), etwa bei Gabriel Tarde oder Gustave Le Bon, gilt die Aufmerksamkeit genau dieser Frage: Was ist es, das die heterogene, chaotische und zerstreute Masse so zusammenbringt, dass sie als eine kompakte Kraft wirkt? »Aus Inkohärenz wird Kohäsion, aus Lärm wird Stimme, und diese Tausenden von zusammengepferchten Menschen
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bilden nur noch eine einzige und unvergleichliche Bestie, ein scheußliches und monströses Raubtier, das mit einer unwiderstehlichen Bestimmtheit sein Ziel verfolgt«, schreibt Tarde.15 Erfordert wird damit ein Mechanismus der »Mitteilung« (in dem Sinne, wie sich etwa eine elektrische Ladung oder ein Stoß mitteilt). Es ist jene Form der Affizierung, die die Vielen zu einem einzigen, monströsen und bestialischen Körper zusammenschließt, eine Form auch, die nicht aus dem Tun oder den Eigenschaften der Einzelnen herrührt, sondern sich ausschließlich in ihrer Interaktion ergibt. Mag man mit Sighele dabei an eine »Seele der Masse« glauben, mit Tarde an einen Imitations-Trieb des Menschen oder mit Le Bon an eine gegenseitige »Ansteckung«, so bleibt doch im Bild der Masse als Tier vor allem das Entsetzen festgehalten, das die Theoretiker angesichts ihres Gegenstands empfanden und das sie sehr viel weniger an eine Schwarm-Intelligenz als an eine Schwarm-Dumpf heit glauben ließ. Dieses Entsetzen ist keines, das einfach als ideologisch-autoritärer Gestus abzutun wäre, sondern es liegt gleichsam in der Natur der Sache. Selbstorganisation ist in actu kaum beobachtbar (alles, was man sieht, ist ein Chaos) und ebenso wenig kontrollierbar – und genau darin liegt die strukturelle Herausforderung für die frühen Theoretiker der Masse. Die Masse wird von ihnen als selbsterzeugende, selbststeuernde und selbstreferentielle Entität gefasst, deren Bewegungen und Dynamiken weder voraussehbar noch steuerbar sind. So gesehen, lässt sich die Massenpsychologie jenseits ihrer Metaphern als eine Theorie der Emergenz sozialer Phänomene lesen, wie Urs Stäheli zeigt: »Weil die Massenpsychologie die Masse als modernes Phänomen ernst nimmt, stößt sie auf die Notwendigkeit, Fragmente einer Theorie sozialer Emergenz zu entwerfen.« 16 Soziale Emergenz aber kann von einem politischen Standpunkt betrachtet nur ein dringliches Problem aufwerfen: das der Kontrolle. Angesichts dieser Einsicht versuchen Le Bon und Tarde darum, neue Konzepte sozialer Kontrollierbarkeit zu entwerfen: das Paradox einer »Kontrolle selbstreferentieller Massen«. Dabei betonen sie die Verwandlung, die die Masse mit den Individuen vornimmt: »Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat«, schreibt Le Bon.17 Wenn man nicht mehr mit einzelnen Akteuren zu tun hat, dann sind andere Kontrollmechanismen gefragt als die klassischen der Disziplinierung oder 15 | Gabriel Tarde: La philosophie pénale [1890], Lyon: Storck 41903, S. 324.
Übersetzung Michael Gamper. 16 | Urs Stäheli: Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, in diesem Band, S. 87. 17 | Gustave Le Bon: Psychologie der Massen [1895], mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart: Alfred Kröner 151982, S. 17.
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Erziehung, die sich immer ans Individuum wenden. Ein Modell der Massen-Steuerung ist der Führer, der bezeichnenderweise aber nicht als superiore Kontrollinstanz, sondern lediglich als Medium und Sprachrohr der eigendynamischen Masse gefasst wird. Von »Kontrolle« im engeren Sinne ist dabei kaum noch zu sprechen, eher von einer Ausrichtung und Modulation der gewaltigen Kräfte, die die Masse entfaltet – nicht aber von ihrer Überwindung. Im Gegenteil: »Massenkontrolle steigert die Dynamiken der eigentlich zu kontrollierenden Massen.« Aus dieser freiwilligen oder unfreiwilligen Aufgabe von Kontrolle im Sinne einer Handhabbarkeit und Beherrschbarkeit knüpft sich in seltenen Fällen allerdings auch eine gewisse Euphorie: Tardes »foules d’amour«, Fest-, Feier- und Vergnügungsmassen, sind die frühe Version einer euphorischen und utopischen Kraft, die Kollektiven ohne Zentrum heute von den Theoretikern der Multitudes oder der Smart Mobs zugesprochen wird. Zumeist aber sind sie Anlass zu blankem Horror – dem »Horror vor dem, was nicht Gestalt werden kann«.18 So sind Schwärme geradezu zum klassischen Topos von Horror- und Katastrophen-Szenarien im Genre der Science Fiction (also der Wissenschafts-Fiktion) geworden. Eva Horn geht den epistemischen Grundlagen dieses Horrors nach, der nichts anderes ist als die schrille und schreckhafte Inszenierung einer Dynamik von Emergenz. Dass eine quantitative Zunahme plötzlich in einen qualitativ anderen Zustand umschlagen kann, setzt eine kleine Szene aus Hitchcocks The Birds in einen Moment nackten Entsetzens um: Aus wenigen Vögeln werden plötzlich viele, ein Schwarm – und dieser greift an. Schwärme sind der Inbegriff eines Feindes, der nicht nur gestalt-, gesichts- und formlos ist, sondern auch praktisch unbesiegbar: etwa ein Schwarm evoluierender Maschinen bei Stanislaw Lem, halb-organischer Nano-Roboter bei Michael Crichton oder intelligenter Einzeller bei Frank Schätzing, um nur einige zu nennen. In diesen angreifenden, mutierenden, evoluierenden Schwärmen wird eine sehr grundsätzliche Frage bearbeitet: die Frage nach den Formen und Dynamiken des Lebens. In seinem plötzlichen, unvorhersehbaren Entstehen oder Auftauchen ist der Schwarm eine Figur dessen, was eigentlich nie als Erscheinung beobachtet werden kann: der Prozess der Evolution selbst. Vor dem Hintergrund neuerer Theorien vernetzter Evolutionsprozesse und biologischer Emergenz wird die Relationalität des Schwarms und die Emergenz seines Gesamtverhaltens zu einer Figur des ›Lebens selbst‹. Allerdings zu einer hochambivalenten: Denn die Schwärme der Wissenschafts-Fiktionen werfen nicht nur die Frage der Dynamik 18 | Sebastian Vehlken: Schwärme. Zootechnologien, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 235-257, hier: S. 240.
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des Lebens auf, sondern auch seiner künstlichen Herstellung und damit seiner ›Handhabbarkeit‹ für den Menschen. Nicht mehr das Monster oder die Superbombe, sondern der manipulierte Schwarm wird zum Experiment der Übertragbarkeit des Lebens von einem Medium ins andere – und rührt damit an die epistemologischen Grundlagen der Swarm-IntelligenceForschung und des Artificial Life. Was sich in diesem Versuch aber zeigt, ist, dass das ›Leben selbst‹ jenseits aller Kontrolle operiert. Der Schwarm figuriert die Komplexität und Unkontrollierbarkeit des Lebendigen.
Über tragung I: Leben – Information Ist der Schwarm im kollektiven Imaginären eine Figur des Lebens und hat damit selbst eine repräsentierende Funktion, so lässt sich umgekehrt nach der Darstellbarkeit des Schwarms fragen. Die Darstellbarkeit eines »Körpers ohne Oberfläche«, dessen Bewegungsdynamik »am Rande des Chaos« stattfindet, ist die Crux jeder Erforschung und Konzeptionalisierung des Schwarms. Jeder epistemologische Zugang zu den Schwärmen, so Sebastian Vehlken, »steht unter der Bedingung einer unhintergehbaren Störrelation, die sie medienhistorisch mehrfach als Grenzfälle experimenteller Anordnungen und repräsentationaler Verfahren erscheinen lässt«. 19 Ihre unhintergehbare Vierdimensionalität – sie sind immer Objekte im Raum und in der Zeit – macht sie zum Grenzfall der Aufzeichnung und Modellierung; die Wandelbarkeit ihrer Form wirft die Frage nach ihrer Kohäsion im Angesicht ihrer extremen Flexibilität auf, und schließlich stellt sich die Frage danach, warum (und wann) etwa Fische oder Vögel sich zu Schwärmen zusammenschließen. Verfahren der Durchmusterung ihrer Bewegungsweisen, soziobiologische Erklärungsmodelle der Vorteile, die das Schwärmen in Räuber-Beute-Beziehungen hat, oder agentenbasierte Simulationsmodelle sind Ansätze, biologische Schwärme zum Wissensobjekt zu machen, indem die Prinzipien ihres Operierens auf einfache, formalisierte Regeln gebracht werden. In dieser Zerlegung werden sie gleichsam ›digitalisiert‹. Dadurch aber werden sie gleichzeitig zur Wissensfigur, indem in der Informatik versucht wird, schwarm-artiges, dynamisches Operieren von Partikel-Relationen als reines Programm anzuschreiben. Leben wird in Information überführt – und in dieser Übertragung zeigt sich, dass Leben nie etwas anderes war als Information. Auf diese Weise entstehen synthetische Schwarm-Tiere wie vants (virtual ants), boids (bird-oid 19 | Vehlken: Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, in diesem Band, S. 26.
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objects) oder particles, die als Software das formalisieren, was biologische Körper (angeblich) tun. Damit ergibt sich eine tautologische Ineinanderblendung von Biologie und Digitalem, wie Eugene Thacker an anderer Stelle bemerkt hat: »The biological and the digital domains are no longer rendered ontologically distinct, […] the biological ›informs‹ the digital, just as the digital ›corporealizes‹ the biological.«20 Der paradigmatische Fall dieser Ineinanderblendung ist die Computer-Simulation von Schwarm-Verhalten, in dem die Erforschung eines biologischen Gegenstands (der Schwarm als Wissensobjekt) und die Erforschung und Entwicklung des Medienverfahrens Computersimulation in eins fallen. Indem er zeigt, wie die Ontologie des Schwarms und seine digitale Simulation epistemisch zur Deckung gebracht werden, verweist Vehlken aber gerade auch auf die Kompliziertheit des Schwarm-Modells für politische Übertragungen: Er schlägt vor, Schwärme als »Organisations- und Koordinationsstrukturen« zu denken, die »vor dem Hintergrund einer Kultur der Unschärfe, einer permanenten Flexibilisierung verschiedenster Gegenstands- und Lebensbereiche, als Optimierungsstrategie in diesen Bereichen wirksam werden«.21 In einer ähnlichen Weise geht Sebastian Gießmann der Digitalisierung des Lebens anhand der »Familienähnlichkeit« von Schwarm-Intelligenz und Netzwerklogiken nach. Die epistemologische Basis beider Ansätze ist eine Formalisierung, die sich besonders prägnant in der Biologie des 20. Jahrhunderts vollzogen hat: So hat François Jacob die moderne Biologie als Erforschung der »Algorithmen der lebenden Welt« beschrieben.22 Es geht ihr darum, das Leben mathematisch berechenbar zu machen. Als epistemische Parallele zu dieser Mathematisierung des Lebenden lässt sich nach Gießmann der Versuch verstehen, in Form von Netzwerkprotokollen eine »vernetzende universale Sprache« zu erstellen. Macht die Formalisierung der Biologie alles mit allem analogisierbar und berechenbar, so machen Netzwerkprotokolle alles an alles anschließbar und vernetzbar. Sowohl die Grammatiken der Netzwerkprotokolle als auch die formalisierten Sets von Bewegungsinformation, die Gegenstand der Schwarm-Forschung sind, erweisen sich so als Strategien, die Bedingungen für Selbstorganisation über bestimmte Verfahren der Repräsentation überhaupt erst herstellen. Die Repräsentation von Schwärmen, sei es in den Algorithmen ihrer Bewe20 | Eugene Thacker: Biomedia, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 6-7. Vgl. auch die Argumentation von Sebastian Gießmann in diesem Band. 21 | Vehlken: Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, in diesem Band, S. 161. 22 | François Jacob: Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung bis zum genetischen Code, Frankfurt a.M.: Fischer 1972, S. 319.
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gungen, sei es in den computergenerierten Simulationen ihres Operierens, verschwimmt so allmählich mit ihrem »Sein«. Es scheint, als würden die für das bloße Auge nur flirrenden Bewegungen von Fischen oder Vögeln erst und einzig in der digitalen Simulation intelligibel. Gleichwohl wird aus der unendlichen Schwierigkeit, auch nur die Dynamik einer kleinen Gruppe von schwärmenden Tieren in Algorithmen zu verwandeln und deren Datenmasse rechnerisch zu bewältigen, deutlich, dass es möglicherweise einen Punkt gibt, an dem sich die Dynamiken des Lebens bestenfalls näherungsweise auf berechenbare Regeln bringen lassen. Noch immer sind Schwärme nicht nur »on the edge of chaos«, sondern vor allem auch »on the edge of computability«.
Über tragung II: Tier – Mensch Mündet der Versuch einer Epistemologie des Schwarms in die Frage nach der Berechenbarkeit des Lebens und damit nach einer Näherung von Leben und Information, so stellt die lange Diskursgeschichte der Näherung von Tier und Mensch die Frage nach der Steuerung des Schwarms nicht im informatischen, sondern im politischen und anthropologischen Sinn. Betrachtet man die Geschichte dieses Blicks in seinem expliziten Gestus, das Wissen über Tiere auf den Menschen zu übertragen oder aber die normativen Modelle für menschliches Verhalten oder menschliche Gemeinschaften auf die Tiere zu projizieren, so erstaunt die Unterscheidung, die dieser Blick zwischen den Tieren macht. Denn sprechen die SchwarmintelligenzForscher gern von »Akteuren« oder »Partikeln« die bestenfalls »bird-oid«, also vogel-artig sein sollten, aber gern auch Fische sein dürfen, so ist die Tradition einer – wenn man so will – Anthropologie des Tieres sehr auf die Unterschiede zwischen den Arten bedacht. Da ist die Ameise defi nitiv etwas anderes als die Biene oder die Grille, da geht es um Biber, Wölfe, Schafe oder – auch nur ein anderes Tier – den »Urmenschen«. In diesem Blick sind die einzelnen Arten Charaktere, Verkörperungen bestimmter Eigenschaften und Eigenarten, die einander im Kanon einer Tugend- und Klugheitslehre gegenübergestellt werden können. Darum kommen die Arten fast immer im Singular vor: »der Fuchs«, »der Löwe« und eben auch jene berühmte »Ameise«, die sich von Äsop bis La Fontaine mit »der Grille« stritt. Ihre symbolische Valenz aber behalten die Tiere auch im Plural, wie Niels Werber am Beispiel der Ameise zeigt, die von der emblematischen Figur einer individuellen Tugendlehre zur Gestalt eines Sozialwesens wird. Der historische Bogen, den Werber in seiner kurzen Geschichte der Ameise von der antiken Fabel über die Renaissance-Emblematik bis zur moder-
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nen Myrmekologie und Kybernetik schlägt, präsentiert diese als eine solche Figur. In Absetzung von der »monarchisch« auf ihren König bezogenen Biene wird sie zunächst zum Inbegriff des Republikanischen: »omnibus aequales« heißt es von den Ameisen; dann, bei den Kybernetikern, Soziobiologen und Schwarm-Intelligenz-Forschern wird sie zum Inbild einer verteilten, dezentralen, mithin nicht-menschlichen Form der Organisation und Kommunikation. Aber genau dieser scheinbare Bruch mit den Anthropomorphismen im Blick auf die Ameise, so zeigt Werber, wird gerade in neueren Ansätzen der politischen Philosophie paradoxerweise zur Ethik, zum »moralischen Vorbild sozialer Ordnung«.23 Deleuze/Guattari sehen in der Ameise eine der vielen Verkörperungen des »Rhizoms«, für Hardt/ Negri ist sie das »Wappentier der Multitude«. Der Logik der Übertragung und Analogie, die den ersten Blick auf die Tiere geprägt haben, ist offenbar nicht zu entkommen, gerade auch da, wo man versucht, der radikalen Andersartigkeit des Tiers Rechnung zu tragen. Genau darum ist es wichtig, die jeweiligen politischen Implikationen sehr genau zu analysieren, die mit den Tierarten ins Spiel gebracht werden. Exemplarisch zeigt das Eva Johachs Re-Lektüre der Diskursgeschichte der Biene.24 Als das eigentlich »klassische« Beispiel eines Tieres, das jahrhundertelang das Abbild und normative Modell menschlicher Sozialität war, ist der Bienen-Schwarm gerade kein Beispiel für ein Kollektiv ohne Zentrum. Im Gegenteil wird die Biene – anders als die Ameise – für ihre intensive Bindung an den König (oder später die Königin) geschätzt und damit zum Garanten der »Naturgegebenheit« monarchischer Souveränität. Erst im nachrevolutionären 19. Jahrhundert feiern Republikaner wie Jules Michelet oder Ludwig Büchner auch den Bienenstaat als Republik. Nichts, was man über die Biene weiß, ist dabei je frei von den Metaphoriken und Denkmodellen des Politischen: So entwickelt etwa Alfred Espinas eine »Massenpsychologie« der Insekten, die exakt jene Modelle der Affizierung und Signalübertragung aufgreift, die die zeitgenössische Sozialtheorie für die Beschreibung von Menschenmassen nutzt. In letzter Konsequenz, so führt Johach vor, bleibt auch die moderne Erforschung der sozialen Insekten gebunden an ein Denken des Zentrums, das noch in der Emphase eines »leeren Zentrums« durchschlägt, die die neuere Entomologie prägt. Dieses »leere Zentrum« ist der Reproduktionszyklus der Insekten und die 23 | Niels Werber: Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, in diesem Band, S. 201. 24 | Vgl. dazu auch Johachs exzellenten Aufsatz zum Bienenstaat als politischem Paradigma: Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politischmoralischen Exempels, in: von der Heiden/Vogl (Hg.): Politische Zoologie, S. 7589.
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reproduktive Funktion der Königin. Jede teleologisch-funktionalistische Frage nach dem ›Zweck‹ des Schwarms muss zwangsläufig auf die Steuerungswirkung durch den Reproduktionszweck stoßen. Johachs Fazit stellt damit die Eignung sozialer Insekten als Modelle reiner Selbstorganisation grundsätzlich in Frage: »Um echte, d.h. auf Dauer autonome Schwarmlogiken zu konzipieren, muss das Modell sich also nicht nur im biologischen Sinne von jeglicher Einbindung in eine Reproduktionslogik lösen; darüber hinaus müsste auch die Faszination durch das ›leere Zentrum‹ aus der Konzeption eliminiert werden. Für beides sind soziale Insekten schlicht nicht die geeigneten Tiere.«25 Dass die Wahl des epistemischen Tiers neben den notorischen Insekten, Herdentieren oder Wolfsrudeln auch auf unwahrscheinlichere Kandidaten fallen kann, daran erinnert Lucas Marco Gisis Diskursgeschichte des Bibers. Die Gesellschaften der Biber sind im 18. Jahrhundert Faszinationsobjekt von Naturgeschichte und Reiseberichten, die in nuce eine Theorie der Selbststeuerung und Selbstorganisation am tierischen Modell entwickeln. Von der Antike bis in die Neuzeit war der Biber zunächst ein Exempel für beherzte Selbstverteidigung, der, wegen seiner angeblich wertvollen Drüsen gejagt, sich notfalls selbst die Hoden abreiße und sie seinen Jägern überlasse. Als man den Biber im 17. und 18. Jahrhundert in Nordamerika und Kanada in großer Anzahl (wieder-)entdeckt, wird seine Darstellung als moralisches Exempel in Fabel und Naturkunde von einem Interesse am Biber-Kollektiv abgelöst. Die Biber-Gesellschaften erscheinen in den Reiseberichten erst als zentral organisierte Monarchien, dann als ideale Republiken mit demokratischen Entscheidungsinstrumenten und schließlich als Arbeitskollektive, die keine hierarchischen Strukturen kennen. Für die Aufklärung wird der Biber damit zum doppelten – anthropologischen und politischen – Faszinosum: Einerseits wirft er die Frage auf, ob sich seine erstaunliche Bautätigkeit auf Instinkt oder Intelligenz zurückführen lasse und was die Form seiner Kommunikation sein könnte. Andererseits fragt man angesichts der hochorganisierten Biber-Gemeinschaften nach den grundsätzlichen Kriterien der Vergesellschaftung bei Tieren und Menschen. Gegenüber staatstheoretischen Traditionen, die ein gemeinschaftliches Werk (Aristoteles) oder vertragliche Übereinkunft (Hobbes) als Grundlage des Politischen postulieren, erscheint der Biber als Beispiel für eine staatliche Organisation, die naturgegeben aus dem kollektiven Handeln emergiert. Daraus lässt sich um 1800 eine politische Ökonomie ableiten, in der policeyliche Steuerung ›von oben‹ durch dezentrierte Selbstregulation ersetzt wird. Am Biber formuliert so das 18. Jahrhundert 25 | Eva Johach: Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Ordnung in Insektengesellschaften, in diesem Band, S. 224.
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Theoreme der Emergenz »intelligenten« Verhaltens und der Selbstorganisation in einem Arbeits-Kollektiv – Elemente einer Schwarm-Theorie avant la lettre. Dieser anthropologische Diskurs, der im Tier-Kollektiv eine Ur-Szene menschlicher Vergesellschaftung erblicken will, scheint dabei gegen die biologischen Einsichten der Moderne nicht nur resistent – er zehrt auch von ihnen. Dessen »Geschichten« – im Doppelsinn eines (fi ktionalen) Narrativs und einer historischen Genealogie – untersucht Benjamin Bühler anhand von Pjotr Kropotkin, Elias Canetti (unverkennbar die Quelle für Deleuze/Guattaris Rudel und Rhizome), dem Entdecker der Bienensprache Karl von Frisch und Stanislaw Lem. In explizit anti-darwinistischem Impuls nimmt Kropotkin das kooperative Sozialverhalten von herdenbildenden Tieren als Beweis für eine Anthropologie, die nicht (wie der Sozialdarwinismus) auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation setzt. Tiere sind die besseren Menschen – oder jedenfalls der Beweis dafür, dass der Mensch »von Natur aus« hilfreich und gut ist. Umgekehrt Canetti, dessen große Theorie zu Masse und Macht gleichsam eine kulturanthropologische Alternative zu den Massenpsychologien des 19. Jahrhunderts bieten will: Der Mensch war einst ein Raubtier unter anderen, »aber eines, das nie allein sein wollte.«26 Den Menschen zeichne vor den Tieren jener ursprünglichste Drang des Schwärmens aus, der »Drang, mehr sein zu wollen«.27 Der Biologe von Frisch dagegen versucht, den anthropologischen Kurzschluss zu meiden, wenn er das Kommunikationsverhalten der Bienen als kybernetische Selbststeuerung entschlüsselt. Was er damit entwirft, ist allerdings ein Begriff des »Lernens« und der Steuerung, der nicht mehr den Menschen, sondern die Maschine zum Paradigma solcher Selbststeuerung macht. Genau daraus zieht der Kybernetik-besessene Science-Fiction-Autor Lem die Konsequenz: Er entwirft ein Roman-Szenario, in dem es weder Tiere noch Menschen, sondern Maschinen sind, die sich selbst steuern und reproduzieren und damit zu einer eigenen Evolution fähig wurden. Dass das Ergebnis dieser Evolution ausgerechnet ein Schwarm ist, führt das Denken des dezentrierten Kollektivs dahin, wo es heute angekommen ist: heraus aus der suggestiven Übertragung Mensch-Tier hin zur Übertragung Leben-Technik. So epistemologisch suggestiv, politisch persuasiv und technologisch nützlich die Übertragungen sind, denen die Schwärme unterliegen und denen sie ihre Prominenz verdanken, so wenig darf das vergessen werden, was im 26 | Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 127. 27 | Benjamin Bühler: Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, in diesem Band, S. 263.
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metaphorischen Transfer verloren geht. Schwärme sind mehr und anderes als die Modelle, die aus ihnen abgeleitet werden. Fische sind nicht Vögel, und Vögel sind keine boids. Sie verhalten sich nicht einmal unbedingt so. Jenseits der Modellierungen und Abstraktionen, denen das Wissen vom Schwarm sich verdankt, bleibt ungestört das hypnotische Flimmern strömender Fische, das Pulsieren von Vogelschwärmen, aber auch die unwiderstehliche Gewalt von Menschenmassen oder Finanzkrisen. Schwärme sind je eine singuläre Lebens- und Bewegungsform, die nicht ist wie andere, ähnliche Leben. Manche Schwärme betrachten wir, in anderen befi nden wir uns, ohne uns dessen gewahr zu werden.
Dank Die Herausgeber danken dem Schweizerischen Nationalfonds, der Max Geldner-Stiftung und der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel für die großzügige Unterstützung der Tagung Kollektive ohne Zentrum: Netze – Schwärme – Massen, 12.–14.10.2007 in Basel und für die Publikation dieses Bandes. Wir danken Gelgia Caviezel und Jens Wörner für ihre Hilfe bei der Drucklegung des Buches.
Netzwerke – Schwärme – Multitudes1 Eugene Thacker
I. Net z werke Mutationen des politischen Körper s Sind wir vernetzt, weil wir ein Kollektiv bilden, oder bilden wir dieses Kollektiv, weil wir vernetzt sind? Verbunden mit dieser Frage ist eine andere: Ist es in der »Netzwerkgesellschaft« möglich, dem politischen Körper [body politic] eine neue Form zu geben, ohne auf das Paradigma der neuzeitlichen Souveränität zurückzugreifen? Netzwerke, Schwärme und Multitudes sind Beispiele für Mutationen des politischen Körpers in der Gegenwart. Diese Mutationen sind strukturell innovativ, aber politisch ambivalent. In einigen Kontexten – wie etwa den vielfältigen Anti-Globalisierungsbewegungen – bieten sie das Potential zu einer radikalen Politik. In anderen Kontexten – wie etwa der Diversifizierung von internationalen Wirtschaftsorganisationen – werden sie dagegen konservativ oder reaktionär. Diese Mutationen des politischen Körpers modellieren jeweils einen bestimmten Aspekt des Politischen: die Netzwerke ein technologisches Modell, die Schwärme ein biologisches und die Multitudes ein politisches. Sobald diese Modelle aber als Ausdruck eines politischen Körpers gesehen werden, geht ihre Reichweite über den jeweiligen Aspekt der Technologie, 1 | Dieser Text wurde zuerst 2004 unter dem Titel Networks, Swarms and Multitudes in zwei Teilen in CTheory, http://www.ctheory.net, online publiziert und erschien gedruckt in: Arthur Kroker/Marilouise Kroker (Hg.): Life in the Wires: The CTheory Reader, Victoria/Canada: CTheory Books 2004, S. 165-177. Die Herausgeber dieses Bandes danken Arthur und Marilouise Kroker (CTheory) für die Erlaubnis zur Publikation dieser Übersetzung.
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der Biologie oder der Politik hinaus. Netzwerke, Schwärme und Multitudes sind Instanzen, in denen die eigentliche Konzeption des politischen Körpers ständig neu verhandelt wird. Bereits der Charakter dieses Aushandlungsprozesses ist allerdings in sich ambivalent. Bemerkenswert ist, dass die dabei verwendeten Begriffe nicht die einer traditionellen Auffassung moderner Souveränität sind, aber auch nicht notwendig in Opposition zu ihr stehen. Diese Tradition ist in ihren unterschiedlichsten Ausprägungsformen analysiert worden. Die Rede vom »Gesellschaftsvertrag« und der Souveränität begleitet uns bis heute, auch wenn sie ihre Formen mehrfach verändert hat. Bei Hobbes impliziert die Idee des Gesellschaftskörpers eine strikte Trennung zwischen der chaotischen, sub-humanen Bedrohung des »Naturzustands« und der daraus resultierenden politischen Ordnung, die auf dem Transfer von Rechten an den Souverän und der Schaff ung des Gemeinwesens [commonwealth] gründet. Dieses hierarchische, segmentierte und mechanistische Bild des politischen Körpers wurde maßgeblich vom Modell der modernen Anatomie beeinflusst: In diesem Sinne bildet Vesalius’ anatomischer Text De Humani Corporis Fabrica das logische wissenschaftliche Gegenstück zu Hobbes’ Leviathan.2 Variationen dieses Modells lassen sich in Grotius’ juridischer Formulierung des Vertrags, Macchiavellis widerspenstigem »Plebs«, Spinozas »demokratischer« Multitude und Rousseaus organischer Beschreibung des »Allgemeinwillens« (der volonté générale) beobachten. Im aktuellen Kontext des »Empire«, der »Netzwerkgesellschaft«, der »Kontrollgesellschaft« (usw.) wissen wir um die politischen Grenzen technizistischer Utopien. Dass das Internet eine verteilte, dezentralisierte Topologie aufweist, ist noch kein Indikator für die inhärenten demokratischen Prinzipien der Informationstechnologie. Tatsächlich tritt durch die Kanalisierung von Online-Aktivitäten, durch im Keim erstickte Innovationen, durch »globalisierte« Netzzugänge (wie beispielsweise WSIS) und dadurch, dass die Verbindung von technischem und kritischem Denken verhindert wird (»don’t think, click«), in vielen Fällen der gegenteilige Effekt ein. Gefangen zwischen den Extremen von technischer Innovation und politischem Konservatismus scheinen neue Technologien sozialen und politischen Wandel zu versprechen, den sie gleichzeitig rigoros verhindern. Somit stellt sich die Frage, ob die Prävalenz von Netzwerken, Schwärmen und Multitudes tatsächlich brauchbare Alternativen zur Tradition moderner Souveränität aufzeigt und dabei einen in sich kohärenten Vorschlag darstellt, Technologie, Politik und ›das Leben selbst‹ in Form eines radikalen und kritischen Denkens zu verknüpfen. 2 | Siehe J.B. Saunders/Charles O’Malley: The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius, New York: Dover 1950.
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Konnektivität befragen, Kollektivität in Frage stellen Nehmen wir zunächst zwei Beispiele von Gruppenphänomenen: Das erste Beispiel sind die jüngsten Formen kollektiven Dissenses und Protests in unterschiedlichsten Kontexten, die man als »dezentralisierten Dissens« [»distributed dissent«] bezeichnen kann. Eine paradigmatische Fallstudie wäre hier der Kampf in Seattle während des WTO-Gipfels im Jahr 1999 und insbesondere die Koordination der Proteste durch das Direct Action Network. Die Literatur über diese und andere Anti-Globalisierungsbewegungen ist mittlerweile unüberschaubar geworden und kann hier nicht umfassend dargestellt werden.3 Als Teil der Anti-Globalisierungsbewegung waren die Ereignisse in Seattle aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Die Form, die die Proteste annahmen, bestand nicht ausschließlich in der Versammlung einer Masse von Körpern an einem zentralen und besonders sichtbaren Ort. Stattdessen organisierten sich so genannte »Interessengruppierungen« [»affinity groups«] aus einem breiten politischen Spektrum – von Demokraten bis zu Anarchisten – auf lokaler Ebene und verteilten sich in und um das Stadtzentrum Seattles, um sich dadurch einer Kontrolle sowohl durch die Bereitschaftspolizei als auch durch die Bewegung selbst zu entziehen. Bemerkenswert war zum anderen aber auch die Verwendung von mobiler Kommunikationstechnologie. Es ist hinreichend untersucht worden, wie der Einsatz von Mobiltelefonen, Pagern und anderen Technologien als wesentlicher Faktor die Kommunikation der Gruppen und die Koordination ihrer Bewegungen innerhalb der Stadt ermöglichte. Obwohl die meisten Interpretationen der Seattle-Proteste bestreiten, dass Anti-Globalisierungsbewegungen technologisch determiniert sind, ist die Verbindung zwischen dezentralisiertem Dissens und Mobiltechnologie nicht übersehen worden. Den dabei entstehenden Kollektiven sind viele Namen gegeben worden, unter anderem »Smart Mobs« und »Netwars«. 4 Neuerdings ist von so genannten »Flash Mobs« die Rede, ad hoc organisier-
3 | Siehe Paul de Armond: Black Flag Over Seattle, in: The Monitor, URL: www.monitor.net/monitor/seattlewto/index.html; John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.): Networks and Netwars: The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica: RAND 2001; Alexander Cockburn et al. (Hg.): Five Days That Shook the World: The Battle for Seattle and Beyond, London: Verso 2001. 4 | Zu Netwars siehe John Arquilla/David Ronfeldt: Networks, Netwars, and the Fight for the Future, in: First Monday 6/10 (October 2001), URL: http:// firstmonday.org/issues/issue6_10/ronfeldt/index.html; zu Smart Mobs siehe Howard Rheingold: Smart Mobs: The Next Social Revolution, New York: Perseus 2002.
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ten, für jeden offenen Zusammenrottungen.5 Andere Untersuchungen zu konkreten Fällen wie den »People Power II«-Protesten auf den Philippinen, dem seit Jahren andauernden Widerstand der Zapatisten und den internationalen F15-Demonstrationen verweisen alle auf diese intrikate Verknüpfung von Kollektivität und Konnektivität, eine Gruppenbildung, die sich überhaupt nur durch eine spezifische Technologie der Vernetzung ergibt.6 Ein zweites, wenngleich anders gelagertes Beispiel ist die rasante Ausbreitung und ebenso rasante Kontrolle des SARS-Virus (Severe Acute Respiratory Syndrome), das 2003 für internationale Schlagzeilen sorgte.7 Nach den Angaben der WHO verbreitete sich das SARS-Virus innerhalb von drei Monaten von China über Hong Kong, Taiwan, Kanada, Singapur, Vietnam bis in die USA mit über 8500 weltweit belegten Fällen.8 Während die SARS-Epidemie im Vergleich zu den weltweit immer noch steigenden AIDS-Fällen zwar verblasst, war die verdichtete Zeitspanne von SARS doch aus mehreren Gründen aufschlussreich.9 Die Geschichte dieser Epidemie zeigt, dass die erfolgreiche Ausbreitung des Virus durch die Transport5 | Siehe die Flashmob-Website auf www.flashmob.com. 6 | Siehe Vincente Rafael: The Cell Phone and the Crowd: Messianic Politics in the Contemporary Philippines, in: Public Culture 15/3 (2003), S. 399-425, URL: http://faculty.washington.edu/vrafael/cell_phone_and_crowd.pdf; und Harry Cleaver: The Zapatista Effect: The Internet and the Rise of an Alternative Political Fabric, in: Journal of International Affairs 51/2 (1998), S. 621-640. 7 | Es ließe sich hier einwenden, dass das SARS-Virus zuviel Aufmerksamkeit bekommen hat, insbesondere da andere, wohl gefährlichere emergente Infektionskrankheiten wie AIDS immer noch eine Reihe schwieriger Probleme aufwerfen (Verteilung der Behandlungsmöglichkeiten, Kosten, die Rolle der pharmazeutischen Industrie, AIDS im Afrika südlich der Sahara). Dies ist tatsächlich ein stichhaltiges Argument. Doch meine Absicht beim SARS-Beispiel ist, die über das Biologische hinausgehenden Dimensionen emergenter Infektionskrankheiten aufzuzeigen, besonders im Hinblick auf die Rolle der Informations- und Biotechnologie. 8 | Siehe die Website der WHO unter www.who.int. 9 | Auf einer politischen Ebene lassen sich Epidemien wie SARS als Miniaturskizzen der durch AIDS gestellten Problematiken begreifen. Einerseits gilt AIDS als vorrangige Angelegenheit des »Project Bioshield« der US-Regierung wie auch der WHO, anderseits wird diese »globale Bedrohung« in hinlänglich bekannte Begriffe gefasst: als eine Art totaler Krieg. Die RAND Corporation, ein US-Thinktank, die eine Reihe von die Politik der US-Regierung maßgeblich beeinflussenden Studien publiziert, hat kürzlich eine Studie über AIDS in Südafrika als Teil einer größeren Untersuchung der »global« auftauchenden Infektionskrankheiten veröffentlicht.
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netzwerke der Luftfahrt signifikant begünstigt worden ist, was zu Reiserestriktionen und erhöhter medizinischer Überwachung ausgewählter Flughäfen führte. Zudem war die Schnelligkeit, mit der die WHO und die Amerikanische Gesundheitsbehörde CDC den Krankheitsausbruch kontrollieren konnten, das Resultat von Informations- und Kommunikationsnetzwerken. Das Global Outbreak Alert and Response Network der WHO benutzte Informationsnetzwerke, zentrale Server und Medizininformatik, um Empfehlungen über Reiserestriktionen, Behandlungen und Quarantänen abzugeben. Kurzum: die SARS-Epidemie verwies in sehr verdichteter Art und Weise darauf, dass die Biologie selbst ein Netzwerk-Phänomen ist. Aber gleichzeitig wurde deutlich, in welcher Weise SARS viel mehr ist als nur ein biologisches Netzwerk, bildet es doch gleichzeitig auch ein technologisches, ökonomisches und politisches Netzwerk. Genauer gesagt: Biologie ist Globalisierung. Was als eine allgemeine Gefahr für die Biologie und die Gesundheit von Individuen begann, wurde für Bevölkerungen und Nationen zu einer biopolitischen Gefahr, die das Reisen, den Handel und die nationale Sicherheit beeinträchtigte. Seit einigen Jahren hat eine wachsende Zahl von Forschern in Biologie, Epidemiologie und molekulare Genetik diese Netzwerk-Eigenschaften des organischen Lebens aufgegriffen.10 Zur Zeit erforschen verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern, inwiefern lebendige, soziale und technische Systeme als Netzwerke gedacht werden müssen und in welcher Weise lebensähnliche Eigenschaften wie Emergenz und Selbstorganisation Netzwerken innewohnen. Diese »Netzwerk-Wissenschaft« untersucht die gemeinsamen Netzwerk-Grundlagen in so unterschiedlichen Phänomenen wie Internet, AIDS und Terror-Organisationen. Besonders bemerkenswert an dieser Netzwerk-Wissenschaft ist, dass sie ihre Wurzeln in der Biologie hat. Studien über Komplexität und Selbstorganisation erheben oft den Anspruch, über »Leben« zu sprechen.11 So zeigen beispielsweise Unter10 | Studien des Santa Fe Institute haben schon vor langer Zeit auf die unheimliche Gemeinsamkeit von Mustern hingewiesen, die verschiedenen Phänomenen wie der Börse, den Epidemien und den Ökosystemen zugrunde liegen. Während der neunziger Jahre scheint das Schlagwort »Komplexität« das »Chaos«, das Schlagwort der achtziger Jahre, ersetzt zu haben. Als Beispiel siehe Stuart Kauffman: The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution, New York: Oxford University Press 1993. 11 | Dies ist ein oft wiederholtes Motiv der Komplexitätsforschung. Der Bezug auf das »Leben« ist bei Studien, die in der Biologie wurzeln, evidenter, so etwa bei Stuart Kauff man: »Meine These lautet, dass sämtliche komplexen adaptiven Systeme in der Biosphäre – von Einzelzellen bis zu Volkswirtschaften – einen natürlichen Zustand zwischen Ordnung und Chaos anstreben, der
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suchungen von Schwarm-Intelligenz auf der Ebene der Artenforschung, wie Ameisen, Bienen, Wespen und andere »soziale Insekten« fähig sind, komplexe Aufgaben durch Formen der Selbstorganisation zu lösen.12 Auf der Ebene der Mikro-Organismen haben Forscher gezeigt, wie Bakterien sowohl ihre Umwelt als auch sich selbst mit Hilfe einer »Wahrnehmung durch Mehrheitsbeschluss« [»quorum sensing«] erfassen können. 13 Auf molekularer Ebene hat sich die Erforschung des Lebens durch die postgenomische Systembiologie von einer genozentrischen Forschung hin zu einer Betrachtung von metabolischen und genetischen Netzwerken als Gesamtsystemen verschoben.14 Alle diese Beispiele verbindet das Modell eines emergenten globalen Musters, das sich aus einem Set lokaler Interaktionen ergibt, ein Ganzes, das aus der Analyse seiner individuellen Teile nicht ableitbar ist. Somit haben wir zwei Beispiele für Gruppenphänomene: ein politisches und ein biologisches. Oberflächlich gesehen existiert keine Verbindung zwischen ihnen, außer auf der allgemeinsten, metaphorischen Ebene. Natürlich wäre es absurd, die genetischen Netzwerke innerhalb einer Zelle mit den ideologischen Statements von hunderttausend Protestierenden zu vergleichen. In der Tat ist der Punkt hier nicht, unmittelbare Vergleiche zu ziehen, um entweder zu behaupten, dass Politik selbstorganisiertes Leben oder dass Leben politische Selbstorganisation ist. Was wir dagegen aus diesem Vergleich ableiten können, ist eine bessere Vorstellung der zwei Konzepte, die beiden Beispielen zugrunde liegen: Kollektivität und Konnektivität. einen großartigen Kompromiss zwischen Struktur und Zufall darstellt.« In: Stuart Kauff man: Der Öltropfen im Wasser. Chaos, Komplexität, Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, übers. v. Thorsten Schmidt, München, Zürich: Piper 1996, S. 30f. Dies lässt sich auch in den eher an der Makro-Ebene orientierten Studien zu Insektengesellschaften, Vogelschwärmen und Ökosystemen beobachten. 12 | Siehe Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999; und James Kennedy, Russell C. Eberhart, Yuhui Shi: Swarm Intelligence, San Francisco: Morgan Kaufmann 2001. 13 | Zur neueren Forschung siehe James Zhu et al.: Quorum-Sensing Regulators Control Virulence Gene Expression in Vibrio cholerae, in: PNAS 99/5 (March 5 2002), S. 3129-3134. Siehe hierzu auch die »Quorum Sensing Site«: www.nottingham.ac.uk/quorum/. 14 | Siehe dazu den grundlegenden Text von Troy Ideker et al.: Integrated Genomic and Proteomic Analyses of a Systematically Perturbed Metabolic Network, in: Science 292 (May 4 2001), S. 929-934. Siehe auch die Website des Institute for Systems Biology: www.systemsbiology.org.
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Fürs Erste lässt sich Kollektivität als Aggregation von individuierten Einheiten in Verbindung zueinander definieren, wobei die Qualität der Verbindungen größtenteils durch den Kontext spezifi ziert wird.15 Kollektivität setzt räumliche Organisation voraus, was aber nicht unbedingt räumliche Nähe impliziert. Die Eigenschaft einer »Aggregation« innerhalb eines Kollektivs ist nicht einfach eine zentralisierte, räumliche Ballung, vielmehr kann Kollektivität auch durch Zerstreuung zusammengehalten werden. Wenn also Kollektivität nicht durch eine zentrierte Ballung [clustering] definiert wird, was hält sie zusammen? Hier zeigt sich der Bezug zwischen Kollektivität und Konnektivität. Konnektivität lässt sich als eine Form von Verbindung zwischen individuierten Einheiten innerhalb eines weitreichenden Feldes möglicher topologischer Konfigurationen definieren. Sie ist eher ein Zustand [status] als eine Beschaffenheit oder ein Ding, ein Status sowohl im technischen wie politischen Sinn des Begriffs. Konnektivität kann stark oder schwach, weitreichend oder begrenzt, zentralisiert oder dezentralisiert sein. Sie ist nicht synonym mit »Relation«, sondern setzt diese voraus, kann sich ohne jeglichen Grund ergeben, aber benötigt üblicherweise einen Kontext (oder zumindest einen Vorwand [pretext]). Die elementare Form der Konnektivität – eine Verbindung zwischen zwei Einheiten – beruht auf einem Set von Gemeinsamkeiten, die eine Verbindung möglich machen. Während Konnektivität allerdings eine Bedingung für Kollektivität darstellt, ist das Gegenteil nicht unbedingt der Fall. Konnektivität kann sich innerhalb eines weitverbreiteten Feldes entfalten, ohne dass eine Aggregation oder ein Gruppenphänomen daraus folgt. So kann beispielsweise eine große Anzahl von Leuten ihre Ablehnung einer politischen Situation zum Ausdruck bringen, aber dies führt noch nicht zur Formierung einer Kollektivität, sondern diese tritt erst auf, wenn sich die Individuen zu gemeinsamem Handeln organisieren. Indessen setzt Kollektivität ein Minimum an Konnektivität voraus, denn Kollektivität wird durch Konnektivität kons15 | Mobil- und Drahtlos-Technologien, Pheromonspuren und das Bindungsvermögen von Zelloberflächen sind jeweils Beispiele verräumlichter Aggregationen, die durch Distanz getrennt werden. Die Rolle der »Kommunikation« scheint hier wichtig, weil sie Handeln über räumliche Entfernung hinweg ermöglicht. Doch das Kommunikationsmodell besitzt in der Technologie nicht dieselbe Bedeutung wie in der Biologie. Beispielsweise basiert der Gebrauch von Mobiltelefonen im Fall des dezentralisierten Dissenses auf dem Modell der klassischen Informationstheorie »Botschaft – Kanal – Sender – Empfänger«. In der Molekularbiologie wird jedoch nicht zwischen Botschaft und Kanal unterschieden, sondern nur zwischen physikalischen und chemischen Interaktionen zwischen Molekülen (zum Beispiel enzymatischen Reaktionen).
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tituiert. In manchen Fällen muss letztere nur ein einziges Mal hergestellt werden, um dezentralisierte Formen von Kollektivität zu ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen Kollektivität und Konnektivität ist wichtig, weil sie ein häufiges Missverständnis in vielen Analysen von NetzwerkPhänomenen aufdeckt. Es besteht darin, dass Konnektivität umgehend Kollektivität impliziere und dass die bloße Existenz dieser Kollektivität auf die Emergenz einer politischen Form hinweise (oft eine mehr oder weniger direkte Form von Demokratie). Derartige Annahmen fi nden sich nicht nur in den technikverliebten Erzählungen der Informationstechnologie, sondern – was etwas überraschender ist – auch in den Untersuchungen der Netzwerk-Wissenschaften.16 Das Problem bei dieser Auffassung ist, dass der Kurzschluss zwischen Konnektivität und Kollektivität zu einer Idee von Politik führt, die das einfache Einloggen ins Internet schon für politischen Aktivismus hält. Meine These ist, dass Aggregationen oder Gruppenphänomene gerade innerhalb dieser Spannung zwischen Kollektivität und Konnektivität politisch werden. Ebenso werden in dieser Spannung Gruppenphänomene »lebendig« – mit all den sozialen und ideologischen Implikationen, die mit diesem Begriff assoziiert sind. Oft wird behauptet, dass die Beispiele von dezentralisiertem Dissens sich von allen traditionellen Modellen von Protest und Aktivismus unterscheiden. Ihre horizontalen, dezentralisierten Strategien sind signifi kant anders als zentralisierte Formen von Massenprotest. Ebenso ist die Biologie der Komplexität, der Netzwerke und der Schwärme signifi kant anders als die Art der Biologie, die traditionell an Universitäten und in Labors praktiziert wird. Das »zentrale Dogma« der alles steuernden DNA weicht der Vorstellung eines Gene Expression Network, eines Netzwerkes, in dem Gene aktiviert (oder nicht aktiviert) werden, oder aber der eines epidemiologischen Netzwerks, das sich kontinuierlich »am Rande des Chaos« selbst organisiert. In dieser Spannung zwischen Kollektivität und Konnektivität äußert 16 | Bemerkenswert an Howard Rheingolds Smart Mobs ist der forciert optimistische Grundtenor. Während er eine Reihe relevanter Beispiele für dezentralisierten Dissens anführt, unterschlägt er die ambivalenteren Beispiele terroristischer Netzwerke. In ähnlicher Weise scheinen populäre Bücher über Netzwerk-Wissenschaften wie Mark Buchanan: Nexus, New York: Norton 2002; und Albert-László Barabási: Linked, Cambridge/MA: Perseus 2002, politische Forderungen stellen zu wollen, halten aber kurz davor inne. Barabási konstatiert: »No central node sits in the middle of the spider web, controlling and monitoring every link and node […]. A scale-free network is a web without a spider […]. They offer a vivid example of how the independent actions of millions of nodes and links lead to spectacular emergent behaviour.« (S. 221.)
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sich auch eine Spannung zwischen Politik und Biologie, zwischen Gruppenphänomenen, verstanden als politische Phänomene und als Manifestationen des ›Lebens selbst‹: In welcher Weise stellen diese von der Netzwerk-Wissenschaft beschriebenen biologischen Beispiele konventionelle Auffassungen von politischer Macht in Frage? Welchen Widerstand leisten sie und wie können sie traditionelle Machtformen verwandeln? Denn zwischen der Frage des Lebens und der Frage der Macht liegt die vieldeutige Verbindung zwischen Kollektivität und Konnektivität. Lässt sich aus dieser Spannung heraus ein neuer Weg finden, Widerstand zu denken?
Netzwerke existieren nicht Das Netzwerk ist bekanntlich das paradigmatische Modell geworden, um globale Kultur zu repräsentieren.17 Es scheint, als tauchten Netzwerke plötzlich überall auf – nicht nur in neuen Modellen aus den Bereichen des Konsumverhaltens, der Unterhaltung, des Marketings oder der Kommunikation, sondern auch zur Bezeichnung spezifischerer, aber sehr unterschiedlicher Phänomene wie Terror-Netzwerke, Peer-to-Peer-Netzwerke und der netzwerkförmigen Ausbreitung von neu auftauchenden Infektionskrankheiten. Forscher in unterschiedlichen Feldern (Physik, Mathematik, Biologie, Informatik) untersuchen neuerdings Netzwerke als eine allgemeine Eigenschaft partikularer Phänomene, d.h.: als eine Art Ontologie. Oft als »Netzwerk-Wissenschaft« bezeichnet, greifen diese interdisziplinären Untersuchungen auf Konzepte der Komplexitätstheorie (Selbstorganisation, Emergenz, Stymergie) zurück, um eine quantitative Analyse einer großen Auswahl unterschiedlicher Netzwerke durchzuführen. AlbertLászló Barabásis Forschergruppe an der University of Notre-Dame, Indiana, untersucht beispielsweise die gemeinsamen Netzwerk-Eigenschaften in Verknüpfungsstrukturen des Internets, die Ausbreitung des AIDS-Virus und die Kommunikationswege in terroristischen Netzwerken, während Duncan Watts’ Gruppe an der Columbia University Netzwerke aus einer soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Perspektive erforscht.18 Die Netzwerk-Wissenschaft liefert dabei nicht nur eigenständige konzeptuelle Werkzeuge, sondern beinhaltet auch die praktische
17 | Siehe Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske+Budrich 2002; Lawrence Lessig: The Future of Ideas, New York: Vintage 2002; Saskia Sassen (Hg.): Global Networks, Linked Cities, New York: Routledge 2002; Jan van Dijk: The Network Society, London: Sage 1999. 18 | Siehe Barabási: Linked; und Duncan Watts: Six Degrees: The Science of a Connected Age, New York: Norton 2003.
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Nutzung dieser Werkzeuge in der Analyse, Konstruktion und möglichen Instrumentalisierung von Netzwerken. Was also ist ein Netzwerk? Die meisten Felder der Netzwerkforschung – ob in der Informatik, der Biologie oder der Soziologie – verweisen auf ein Teilgebiet der diskreten Mathematik, das als Graphentheorie bekannt ist. Graphentheorie ist eine sonderbare Art von Geometrie, eine »Verbinde die Punkte«-Mathematik. Ein Standardproblem der Graphentheorie wurde im frühen 18. Jahrhundert durch den in Basel geborenen Mathematiker Leonhard Euler gestellt. Die Aufgabe wurde bekannt als »Königsberger Brückenproblem«: Man stelle sich eine kleine Insel vor, die auf jeder Seite Zugang zum Festland hat. Es gibt fünf Brücken, die die Insel mit dem Festland verbinden. Kann eine Person jede Brücke exakt einmal überqueren, ohne zum Ausgangspunkt zurückzukehren? Euler begann sein Gedankenexperiment damit, jedes Ende der Brücken als Punkt und jede Brücke als Linie darzustellen. Auch wenn dieses Problem noch einfach genug ist, um es mittels eines »Trial-and-Error«-Verfahrens zu lösen, wächst die Anzahl möglicher Lösungen bei größeren Datensätzen (zum Beispiel Handelsrouten, Stadt- und Raumplanung) exponentiell. Als Wissenschaftler der Aufklärung muss Euler die Signifi kanz dieser Art von Mathematik für Handel und koloniale Expansion verstanden haben (ebenso wie für das simple Herumkommen in der Stadt). Eulers erste Arbeiten zur Graphentheorie versuchten, Netzwerke zu konzeptualisieren, indem sie Dinge (Punkte oder »Knoten«) und Handlungen (Linien oder »Kanten«) abstrakt fassten und daraus Formeln entwickelten, um zu analysieren, wie Knoten miteinander via Kanten interagieren.19 Das Konzept des Netzwerks in seiner mathematischen Fundierung zu untersuchen, heißt, mit einer einfachen philosophischen Unterscheidung zu beginnen: Netzwerke sind fundamental räumliche Phänomene. Dies ist schon in Eulers Formulierung klar und findet seinen Widerhall in daran anschließenden Untersuchungen zur Graphentheorie, etwa in Paul Erdós und Alfred Reynis Arbeiten zu »zufallsbedingten Netzwerken« [»random networks«], Paul Barans militärwissenschaftlicher Untersuchung dezentralisierter Kommunikationsnetzwerke und der soziologischen Arbeit Stanley Milgrams über die berühmten »Six Degrees of Separation«.20 Würde man eine Genealogie der Netzwerk-Wissenschaft und Netzwerktheorie er19 | Für Zusammenfassungen von Eulers Arbeit über Graphentheorie siehe Norman Biggs et al.: Graph Theory 1736-1936, Oxford: Clarendon 1976; und Gary Chartrand: Introductory Graph Theory, New York: Dover 1977. 20 | Für Zusammenfassungen der Studien von Erdos und Renyi siehe Barabási: Linked, S. 9-25. Zu Barans Arbeit über Paketvermittlung in Netzwerken siehe Janet Abbate: Inventing the Internet, Cambridge: MIT 2000, S. 8-21.
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stellen, fände man als gemeinsamen Ausgangspunkt diese Prämisse der Räumlichkeit, die bereits in der Fixierung der Graphentheorie auf die Geometrie evident ist. Das Konzept der Netzwerke ist somit ›eulerianisch‹. Es beginnt mit dem Verständnis von Netzwerken als räumlicher Verteilung von Knoten (Dingen) und Kanten (Handlungen). Dies bedeutet, zwischen individuellen Entitäten und den durch sie verursachten lokalen Handlungen zu unterscheiden, also zwischen Akteur und Akt, Knoten und Kante. Von dieser begrifflichen und ontologischen Prämisse ausgehend, versuchen graphentheoretische Konzepte die allgemeinen Eigenschaften unterschiedlicher Netzwerk-Typen zu beschreiben. So weist etwa Mark Granovetters Konzept des »Clustering« in sozialen Netzwerken darauf hin, dass die Kanten oder Verknüpfungen zwischen Menschen innerhalb eines sozialen Netzwerks stark oder schwach sein können.21 Während die starken Bindungen (enge Freunde) den Effekt haben, lokale Cluster eng verwobener Gruppen zu bilden, sind es die schwachen Bindungen (Bekanntschaften), welche insgesamt die Konnektivität des Netzwerks zwischen den Clustern aufrechterhalten. Ebenso deutet Barabásis Studie von Netzwerktopologien darauf hin, dass die meisten Netzwerke einem »Potenzgesetz« [power law] folgen, gemäß dem viele Knoten wenige Verknüpfungen aufweisen, und wenige Knoten viele Verknüpfungen haben (was eine dezentralisierte Topologie bewirkt).22 Aus der Perspektive der Netzwerk-Wissenschaften ist das Netzwerk im Wesentlichen räumlich, und seine universalen Eigenschaften zeigen sich weniger in seinem dynamischen Funktionieren als vielmehr darin, dass ein Netzwerk statische Muster bildet, die jenseits seiner Temporalität existieren. Tatsächlich sprechen wir von der »Topologie« von Netzwerken als räumlichen, kartographierbaren, diskreten Entitäten. Die Arbeit von Barabásis Gruppe teilt mit anderen Netzwerk-Forschern einige allgemeine konzeptuelle Annahmen über das Wesen der Netzwerke. Das erste allgemeine Prinzip betriff t den Grad der Verbundenheit [connectedness]: Alles ist verbunden, nichts passiert isoliert. Das zweite Prinzip ist die Ubiquität [ubiquity]: Verbundenheit fi ndet überall statt und ist eine allgemeine Eigenschaft der Welt. Das dritte Prinzip schließlich ist die Universalität Für das ursprüngliche »Six Degrees«-Experiment siehe Stanley Milgram: The Small World Problem, in: Physiology Today 2 (1967), S. 60-67. 21 | Vgl. Mark Granovetter: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78/6 (May 1973), S. 1360-1380. 22 | Siehe Barabási: Linked, S. 65-79, und Réka Albert/Hawoong Jeong/ Albert-László Barabási: Diameter of the World Wide Web, in: Nature 401 (1999), S. 130-131, hier: S. 130f.
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[universality]: Netzwerke sind universell und ihre allgemeinen, abstrakten Eigenschaften können eine weitreichende Anzahl von Phänomenen beschreiben, analysieren und erklären.23 Wenn Netzwerke in Euler ihren Begründer haben, was ist dann ihre Politik? Politik meint dabei nicht die ideologischen Debatten innerhalb bestimmter Fallbeispiele (Peer-to-Peer, virtuelle Sit-Ins, die digitale Kluft [digital divide] usw.). Vielmehr geht es um eine Frage der politischen Ontologie, nämlich: Was ist der Unterschied zwischen einem Potenzgesetz [power law] im netztheoretischen Sinne und einer Machtbeziehung [power relation] im politischen Sinn? Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte die genauere Betrachtung des historischen Kontexts von Eulers Theorie geben. In Königsberg – und möglicherweise jene Brücken bei täglichen Spaziergängen überquerend, von denen Eulers »Königsberger Brückenproblem« handelt – lebte Immanuel Kant. Obwohl nur spärliche Aufzeichnungen über die Kommunikation zwischen Euler und Kant existieren, weiß man, dass Kant von Eulers mathematischer Arbeit Kenntnis hatte. 24 Kant schrieb nie ausführlich über Netzwerke, aber er schrieb über Geometrie, insofern sie zur Wahrnehmung und zu den Vermögen des Verstandes gehört. Wie die meisten politischen Philosophen verstand Kant Politik als die Aufgabe, Individuen und Gruppen zu steuern. Aber anders als Locke oder Rousseau ging Kant nicht davon aus, dass Menschen natürlicherweise Gruppen bilden (und daher von Natur aus zur Vergesellschaftung neigen). Mit dem Begriff der »ungeselligen Geselligkeit« des Individuums beschrieb Kant, wie soziale Gruppen aus der Spannung zwischen dem Wettkampf um eigenen Nutzen und Solidarität für den Vorteil der Gruppe entstehen.25 Die Idee ist: Wir mögen Menschen, aber so sehr auch wieder nicht. Wir schwanken ständig zwischen Selbstgenügsamkeit und dem Eingeständnis, dass wir der Anderen bedürfen. Politisch äußert sich 23 | Barabási: Linked, S. 16, fasst diese Weltsicht wie folgt zusammen: »Computers linked by phone lines, molecules in our body linked by biochemical reactions, companies and consumers linked by trade, nerve cells connected by axons, islands connected by bridges […]. Whatever the identity and the nature of the nodes and links, for a mathematician they form the same animal: a graph or a network.« 24 | Cassirers Standard-Biographie erwähnt Briefe und Notizen, aus denen hervorgeht, dass Kant Eulers Werk kannte. Siehe Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. 25 | Siehe Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, Bd. 6, Vierter Satz, S. 37-39 (A 392-394).
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diese Spannung als Spannung zwischen Freiheit und Recht. Kants Auffassung von politischen Rechten ist ebenso wie sein Konzept der Freiheit in einer negativen Begrifflichkeit definiert: Tu was du willst, außer es verstößt gegen das Recht eines anderen, zu tun was er oder sie will.26 Für Kant besteht die eigentliche Funktion des Staats – oder genauer: des »Rechts« – in der Regulierung dieses fragilen Gleichgewichts. Dies führt ihn zu einer Vorstellung des Staats, die eine Verbindung von individuellen Rechten und äußerlichem Gesetz ist – reziproke Freiheit verbunden mit einem Zwang von Außen.27 In einer kurzen Abhandlung mit dem Titel: »Was heißt: sich im Denken orientieren?«, definiert Kant Netzwerke sowohl politisch als auch mathematisch. In diesem Text diskutiert Kant die Art und Weise, wie der Verstand die Tropen »Orientierung« und »Navigation« gebraucht (so wie man etwa ein Schiff bei der Erkundung unerforschter Territorien navigieren würde).28 Kant stellt sich vor, in einem komplett dunklen Raum zu sein, blind für die eigene Umgebung. Wie navigieren wir innerhalb dieses Raums? Wir beginnen damit, unseren Weg zu erfühlen, indem wir die Eindrücke der erfassten Gegenstände empfangen. Doch dies ist nur der Anfang, da während des Erfühlens unsere Wahrnehmung eine gewisse Anzahl Koordinaten zu den Kategorien unseres Verständnisses liefert. – Wir begreifen, dass sich links von uns ein Tisch, rechts von uns ein Stuhl befindet usw. Somit müssen wir uns selbst in einen Knoten verwandeln, einen Punkt im Raum, der sich mittels Koordinatenachsen durch den Raum bewegt. Kurz, wir orientieren uns und navigieren, indem wir ko26 | Dies bringt Kant in Die Metaphysik der Sitten auf den Punkt: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.« In: Kant: Werke, Bd. 4, S. 337 (A 33). 27 | Siehe Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Der Rechtslehre Zweiter Teil: Das öffentliche Recht, Erster Abschnitt, in: Kant: Werke, Bd. 4, S. 429-465. 28 | Siehe Immanuel Kant: Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: Kant: Werke, Bd. 3, S. 269f. (A 307-309). Kant stellt fest: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. […] Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientieren kann ich nun erweitern, und darunter verstehen: sich in einem gegebenen Raum überhaupt, mithin bloß mathematisch, orientieren. […] Endlich kann ich diesen Begriff noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Raume, d.i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d.i. logisch zu orientieren.«
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ordinierte Daten zu einer Art virtuellem dreidimensionalen Raummodell versammeln. Für Kant befindet sich jeweils zwischen zwei Knoten eine »Ordinate« oder »rechte« Kante.29 Ausgehend von Kants Definition von politischen Rechten und Freiheit wird Politik so zu einer Angelegenheit des NetzwerkManagements. Dies bedeutet nicht, dass die richtige Relation zwischen zwei gegebenen Knoten eine gerade Linie ergibt, sondern eher, dass es neben der Fähigkeit eines jeden Knotens, sich mit einem anderen Knoten zu verknüpfen, ein äußerliches Gesetz geben muss, das die Verknüpfungen des Netzwerks überwacht und lenkt. Diese Spannung zwischen der lokalen Flexibilität der Knoten, die ihnen erlaubt, Kanten zu bilden (Relationen, Verbindungen, Verknüpfungen), und der globalen Festigkeit des externen Steuerungssystems (das Kant’sche »Gesetz«) ist gleichermaßen politischer wie mathematischer oder technischer Natur. In diesem Sinne sind die gegenwärtigen WSIS-Meetings Versuche, ein Euler-Kant’sches Model von Netzwerk-Gouvernementalität zu etablieren. Kants natürliches Gesetz einer »ungeselligen Geselligkeit« und das artifizielle, menschengemachte Gesetz des »Rechts« (negative Freiheit) konstituieren die universellen Prinzipien, welche Netzwerke als politische Ontologien bestimmen. Deren politische Topologie ist daher ein legislativer, juridischer Prozess zwischen äußerlichem Gesetz und emergenter Ordnung. Beide, Kant (für die Politik) und Euler (für die Mathematik), zeigen auf, inwiefern ein adäquates Verständnis von Netzwerken nicht aus Erfahrung abgeleitet werden kann, sondern von einem abstrakten, verräumlichenden Denken herkommen muss. Nur in dieser Weise ist es möglich, eine Metaperspektive (oder göttliche Perspektive) auf das Netzwerk einzunehmen, die Topologie des Netzwerks zu erkennen und dadurch zu verstehen, wie das Netzwerk am besten gesteuert werden kann. Eine zentrale Problematik dieses Euler-Kant’schen Netzwerk-Konzepts 29 | Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Kant: Werke, Bd. 4, S. 340 (A 37f.): »Das Rechte (rectum) wird [in der Geometrie] als das Gerade teils dem Krummen, theils dem Schiefen entgegen gesetzt. Das erste ist die innere Beschaffenheit einer Linie von der Art, daß es zwischen zweien gegebenen Punkten nur eine einzige, das zweite aber die Lage zweier einander durchschneidenden oder zusammenstoßenden Linien, von deren Art es auch nur eine einzige (die senkrechte) geben kann, die sich nicht mehr nach einer Seite als der andern hinneigt, und die den Raum von beiden Seiten gleich abteilt, nach welcher Analogie auch die Rechtslehre das Seine einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmt wissen will, welches in der Tugendlehre nicht erwartet werden darf, als welche einen gewissen Raum zu Ausnahmen (latitudinem) nicht verweigern kann.«
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ist damit aber noch nicht angesprochen: das Problem der Zeit. Während die Graphentheorie und die Topologie ein Netzwerk als Set von Knoten und Kanten (individuelle Entitäten und die Verbindungen zwischen ihnen) »kartographiert«, neigt dieser Ansatz zu einer rein räumlichen Sichtweise der Netzwerke. Eine Topologie oder Karte eines Netzwerks ist keine Repräsentation in Echtzeit; sie hat die Zeit auf den Raum reduziert, um uns alle möglichen Knoten und Kanten aufzuzeigen. Netzwerke erzeugen aber auch auf der Ebene unserer alltäglichen Erfahrung – in den Bereichen der Kommunikation, des Transports und des sozialen Lebens – Affekte, die irreduzibel auf Zeit basieren, also dynamisch und zeitlich sind. Netzwerke sind immer lebendige Netzwerke: Netzwerke, die funktionieren, und Netzwerke, die sich in einem Prozess befinden. Dies bedeutet, dass Netzwerke in sich dynamisch sind und punktuellen Veränderungen unterliegen, sowohl in Bezug auf die Komposition individueller Knoten als auch in Bezug auf die Verbindung zwischen Knoten. Wenn Eulers Graphentheorie räumlich gedacht ist, gilt dies folglich auch für Kants politische Metaphysik. Obwohl Kant dem Raum ebenso wie der Zeit einen apriorischen Status zugesteht, werden sie ausnahmslos räumlich konzeptualisiert. Kant verräumlicht Zeit, indem er sie (ähnlich wie Newton) als Gefäß konzipiert.30 In seiner Analyse der Zeit als Teil der Wahrnehmung beschreibt Kant Zeit als einen Raum, als eine Umgebung, in der Dinge passieren: »Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. […] Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei.«31 Zeitlichkeit bedingt daher Räumlichkeit: »Sie [die Zeit] hat nur Eine Dimension.«32 Die problematischen Aspekte dieser Perspektive zeigen sich in Kants Diskussion von »Bewegung und Veränderung«. Kants Analyse der Zeit akzeptiert Bewegung und Veränderung nicht als konstitutive Elemente der Zeit. Für Kant setzt die Fähigkeit, Bewegung und Veränderung geistig zu erfassen, bereits eine Umgebung (Zeit) voraus, in der und durch die Wandel und Veränderung stattfinden können: »Denn diese [Bewegung] setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus. […] denn die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist.«33 Somit sind tem30 | Dies findet sich in Kants Kritik der reinen Vernunft im Abschnitt über die »transzendentale Ästhetik« in: Kant: Werke, Bd. 2, S. 69-96 (A 19-73). 31 | Kant: Werke, Bd. 2, S. 78f. (A 31f.) 32 | Kant: Werke, Bd. 2, S. 78f. (A 31f.) 33 | Kant: Werke, Bd. 2, S. 86 (A 41). Kant stellt zusätzlich fest: »Hier füge ich noch hinzu, dass der Begriff der Veränderung und, mit ihm, der Begriff der
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porale, ephemere Vorgänge wie Bewegung und Veränderung a posteriori und hängen von unseren vorgängigen Anschauungsformen von Raum und Zeit ab: Wandel kann nur durch ein vorgängiges Konzept der Zeit (als verräumlichte »Gefäß«-Zeit) nachgewiesen werden. Angesichts von Eulers und Kants Netzwerk-Konzepten scheint es, dass dynamischer Wandel – also genau das, was ein Netzwerk ausmacht – nur eine Begleiterscheinung ist.34 Diese Auffassung von Netzwerken kann dem dynamischen Wandel nur insofern Rechnung tragen, als sie dynamischen Wandel bzw. Zeit verräumlicht. Eine der triftigsten Kritiken der Kant’schen Vorstellung der Zeit stammt von Henri Bergson. Bergson geht vom genauen Gegenteil aus: Der Prozess des Wandels ist konstitutiv, und unsere Konzepte von Raum und Zeit sind davon abgeleitet, als aposteriorische Werkzeuge, die wir aus Bequemlichkeit und praktischer Notwendigkeit benutzen.35 Bergsons Konzept der Dauer [durée] zielt darauf, unser Verständnis der Zeit und damit auch des Wandels komplexer zu gestalten. In Bergsons Frühwerk erfasst der Begriff der durée die Zeit in zweifacher Hinsicht: als externe, quantitative, diskrete Zeit und als interne, qualitative, kontinuierliche Zeit.36 Während diese Zweiteilung oft in psychologischen Begriffen interpretiert wird (»Uhrzeit« versus »innerliche Zeit«), hat Bergson selbst seine Auffassung später differenziert. In seinen Studien über Gedächtnis, Kognition, Evolution und Relativität versucht Bergson immer wieder zu zeigen, dass Dauer nicht nur ein Effekt der Subjektivität ist, sondern eine ontologische Realität darstellt.37 BergBewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist […].« In: Kant: Werke, Bd. 2, S. 80 (A 32). 34 | Dies wird weiter ausgeführt in Kants transzendentaler Analytik, 2. Buch, 2. Hauptstück, 3. Abschnitt, 3. Analogien der Erfahrung, in: Kant: Werke, Bd. 2, S. 216-248. 35 | Vgl. die Vorlesung von Henri Bergson: Die Wahrnehmung der Veränderung, in: Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. v. Leonore Kottje, hg. v. Friedrich Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 32000, S. 149-179. Bergson stellt fest: »Es gibt Veränderungen, aber es gibt unterhalb der Veränderung keine Dinge, die sich verändern: die Veränderung hat keinen Träger nötig. Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.« (S. 167). 36 | Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Berlin: Philo 2006, insbesondere das Kapitel über »Die Vorstellung der Dauer«, S. 60ff. 37 | Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Hanau: Cocon 1969; Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Meiner 1991; und Henri Bergson: Die
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sons Konzept der Dauer fasst Zeit auf als beständig und widerständig, d.h. als qualitativ (nicht quantitativ), kontinuierlich (nicht diskret) und intensiv (im Gegensatz zu extensiv oder verräumlicht). Bergsons sporadische Kommentare zu Kant lassen sich als eine Reihe von knappen Vergleichen fassen, die eine Alternative zur Euler-Kant’schen Konzeption von Netzwerken eröffnen.38 Im Gegensatz zu Kant akzeptiert Bergson Wahrnehmung (Raum und Zeit) nicht als apriorisches Vermögen. Vielmehr sieht Bergson Zeit und Raum als zweckmäßiges Mittel, um die Welt in statischen, verräumlichten Begriffen zu verstehen. »Zeit« in diesem Sinne ist verräumlichte Zeit und unterscheidet sich qualitativ vom Konzept eines Zeitflusses oder, noch wichtiger: von einer Zeit, die gleichbedeutend mit Wandel ist.39 Bergsons Konzept einer »schöpferischen Entwicklung« in der Biologie und der »offenen Gesellschaft« sind Beispiele einer Praxis von Zeit als Dauer. Biologische Morphogenese und Evolution ebenso wie gesellschaftliche Transformation können laut Bergson nur im Kontext der Zeit und als Zeit an sich verstanden werden. Zeit ist für Bergson kein KantNewton’sches Gefäß, sondern an sich konstitutiv: Dinge passieren nicht in der Zeit, sondern werden vielmehr als Dauer konstituiert. 40 beiden Quellen der Moral und der Religion, Olten, Freiburg i.Br.: Walter Verlag 1980. Bergson stellt in Schöpferische Entwicklung fest: »Das Universum dauert. Je mehr wir uns in die Natur der Zeit vertiefen, desto deutlicher verstehen wir, dass Dauer Erfindung bedeutet, Schöpfung von Formen, kontinuierliche Ausgestaltung des völlig Neuen.« (S. 17). 38 | Bergson äußert sich an mehreren Stellen zu Kants Konzeption der Zeit, vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 358-366; Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 220-224; Bergson: Zeit und Freiheit, S. 71-79. 39 | »Daraus ergeben sich alle Schwierigkeiten, die das Problem der Bewegung schon seit dem frühesten Altertum hervorgerufen hat. Sie hängen immer damit zusammen, dass man vom Raum zur Bewegung überzugehen sucht, von der durchlaufenen Bahn zum unteilbaren Verlaufe selbst. Von den unbeweglichen Lagepunkten zur Beweglichkeit selber, und dass man von einem zum anderen auf dem Wege der Zusammensetzung glaubt übergehen zu können. Aber tatsächlich geht die Bewegung der Unbeweglichkeit voraus, und es gibt zwischen den Lagepunkten und einer Ortsveränderung nicht die Beziehung der Teile zum Ganzen, sondern diejenige der Verschiedenheit von möglichen Gesichtspunkten zur wirklichen Unteilbarkeit des Objekts.« In: Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 205f. 40 | Bergson-Kommentatoren wie Deleuze haben diesen generativen, vielversprechenden Aspekt von Bergsons Ontologie betont. Siehe Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg: Junius 2001 [Gilles Deleuze: Le bergsonisme, Paris: P.U.F. 1966].
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Wir stehen also vor einem Problem. Einerseits existiert das Konzept eines Netzwerkes, dessen technische Wurzeln – wie wir gesehen haben – im Feld der Euler’schen Graphentheorie und dessen politisch-philosophische Wurzeln in Kants Metaphysik liegen. Andererseits muss jede Definition eines Netzwerkes dessen konstitutive, dynamische Aspekte berücksichtigen, mithin seine Temporalität. Beide Sichtweisen präsentieren das Modell eines Netzwerks als verräumlicht, statisch und universell, auch wenn sie Zeit und Wandel mit einbeziehen. Bergsons Kritik an Kant und sein Konzept der Dauer beziehen sich auf die Art und Weise, in der wir gewöhnlich Zeit in Begriffen des Raums denken. Einerseits ist ein Netzwerk das, was ein statisches Muster jenseits des partikularen, ephemeren Zustands des Netzwerks bezeichnet, andererseits ist ein Netzwerk etwas, das durch dynamischen Wandel definiert wird. In dieser Spannung geht es um die Differenz von Netzwerkeffekt und Netzwerkaffekt. Wenn wir entweder den Effekt eines Netzwerks oder die Modifi kation eines Netzwerks verstehen wollen (sei es das Internet, SARS oder Terrorgruppen), benötigen wir Konzepte, die das Netzwerk sowohl als Ganzes totalisieren als auch das Ganze auf konstitutive Teile (Knoten) herunterbrechen, aus denen Relationen (Kanten) abgeleitet werden können. Das daraus resultierende Muster – die Topologie – verzeichnet dabei alle messbaren Effekte dieses Netzwerks. Im Gegensatz dazu verlangt das Verständnis von Netzwerkaffekten – die Ethik des Informationsaustauschs, der globalisierte Kontext der Infektionskrankheiten, die politischen Bedingungen des Fundamentalismus – weit mehr als quantitative Analysen oder die Suche nach statischen Mustern. Dies liegt daran, dass der Aff ekt in einem Netzwerk von der Emotion losgelöst ist. Dieser Punkt ist ungeheuer wichtig: In Netzwerken ist Affekt nicht gleich Emotion. Affekte sind »die Affektionen des Körpers, durch die die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen«. 41 Ein Affekt ist etwas Vernetztes, Dezentralisiertes und von seinem anthropomorphen Ort im Individuum Losgelöstes. In einem dynamischen Netzwerk besitzt nicht das Individuum eine Emotion, sondern dieses wird vielmehr durch die Zirkulation der Affekte konstituiert. Die Affekte können dabei auf vielen Ebenen (biologisch, sozial, ökonomisch) und über mehr als eine Art von Netzwerk zirkulieren. Dieser Netzwerkaffekt selbst ist die lebendige, immanente Topologie des Netzwerks und nicht das abstrakte, transzendente Muster, das über dem Netzwerk steht. Die Frage nach dem Netzwerkaffekt wird im zweiten Teil dieses Texts noch anhand des Schwarms genauer zu verfolgen sein. Bis hierhin lässt 41 | Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übers. v. Otto Baensch, Hamburg: Meiner 1994, 3. Teil, Defi nition 3, S. 110.
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sich festhalten: In gewissem Sinne existieren Netzwerke nicht. Sie existieren gerade deshalb nicht, weil ihre dynamische Existenz innerhalb der Tradition des Euler-Kant’schen Netzwerkparadigmas nicht vollständig erfasst werden kann. Aus dieser Perspektive können Netzwerke nur als Teil eines Bezugssystems, das Zeit verräumlicht, gedacht werden, und gerade dies schließt aus, was für die meisten Netzwerke konstitutiv ist: ihre dynamischen Eigenschaften. 42
Lebendige Netzwerke Sobald wir Zeit als Dauer bei Netzwerken in Betracht ziehen, stellt sich die Frage, wie Netzwerke sich verändern. Denkt man Netzwerke als in der Zeit existierend – als lebendige Netzwerke, als Netzwerkaffekt – verkompliziert sich die Unterscheidung zwischen Knoten und Kanten um einiges. Sieht man Netzwerke als lebendige Netzwerke – werden dann Knoten zu Kanten, Dinge zu Funktionen, Handelnde zu Handlungen? Fassen wir zunächst zusammen, bevor wir die Implikationen einer solchen Sicht genauer untersuchen: Wie gesagt, basiert das meiste Denken über Netzwerke auf einem mathematischen (Euler’schen) und politisch-philosophischen (Kant’schen) Paradigma, nach dem die inhärent dynamischen Qualitäten der Netzwerke verräumlicht und zu einem statischen Muster abstrahiert werden, das als Topologie bezeichnet wird. Während diese Auffassung der Netzwerke anstelle der Dinge selbst die Relation zwischen Dingen (also eher die Kanten als die Knoten) privilegiert, kann dabei die Dynamik innerhalb der Netzwerke nicht berücksichtigt werden; sie ist blind gegenüber Dynamiken, die die Unterscheidung zwischen Knoten und Kanten komplexer machen. Zwar ist das Euler-Kant’sche Paradigma des Netzwerkdenkens für gewisse Probleme sehr fruchtbar (beispielsweise für die Lenkung des Verkehrs durch ein Computernetzwerk), aber es existieren Kontexte, die weit mehr als das verräumlichte, statische Netzwerk der Graphentheorie und des Netzwerks umfassen. Die oben erwähnten Beispiele – dezentralisierter Dissens, Selbstorganisation von Insekten, Muster von Infektionskrankheiten – sind zweifellos Netzwerke, insofern sich darin eindeutig Relationen zwischen Knoten und Kanten identifizieren lassen. Aber zugleich sind sie weit mehr als Netzwerke, weil darin Veränderungen innerhalb individueller Knoten (Veränderungen der politischen Ideologie oder der Umwelt, 42 | In gewissem Sinne ist die Rede von »Netzwerken« so ubiquitär geworden, dass der Begriff keine eindeutige Bedeutung mehr hat. Netzwerke sind gleichzeitig totalisierend (alles und jedes kann in ein Netzwerkparadigma gefasst werden) und fragmentierend (ein Netzwerk impliziert Selektivität und ist daher immer nur ein Teil des Ganzen).
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Mutationen innerhalb eines Virus) und zwischen individuellen Knoten stattfinden, die in Kanten oder Relationen resultieren, die selbst wiederum neue und andere Knoten erzeugen (z.B. die Parteinahme für eine Sache, das Auftauchen neuer Aufgaben oder neue Formen der Transmission). Darüber hinaus sind Knoten nie fi xiert, sondern in konstanter Bewegung – als Bewegung von Menschen, von Spezies, von Molekülen. Was würde es also bedeuten, Netzwerke als lebendige Netzwerke zu denken, als Netzwerke, die ontologisch von Zeit und Dauer konstituiert werden? Eine Reihe von Modifi kationen des Euler-Kant’schen Netzwerkparadigmas würde daraus folgen. Beispielsweise sind Netzwerke weder flach noch eindimensional, sondern können sich überlagern und koexistieren; d.h., Netzwerke können in Schichten [layers] aufgebaut sein, also eine topologische Schichtung zeigen. Ein biologisches Netzwerk, ebenso wie eine Infektionskrankheit, ist beispielsweise niemals nur biologisch, sondern muss in unserem gegenwärtigen globalisierten Kontext etwa auch im Kontext von Transport-Netzwerken (Luftfahrt) und Kommunikationsnetzwerken (WHO Website-Updates) gedacht werden. Eine weitere Modifikation besteht darin, dass nicht alle Knoten gleich sind, genauso wie nicht alle Kanten gleich sind. Netzwerke können auch eine topologische Diversifizierung entfalten. Eine Infektionskrankheit ist nicht an jedem Ort gleich, sondern kann in einer Lebensmittelfabrik, in einem Flugzeug und in einer dicht besiedelten, urbanen Umgebung ganz unterschiedliche Transmissions- und Mutationsgeschwindigkeiten aufweisen. Das heißt auch, dass verschiedene Methoden angewandt werden müssten, um das Netzwerk zu stören. Zudem haben Netzwerke nicht eine einzige Topologie, ein einzelnes Identifi kationsmuster. Vielmehr besteht ein Netzwerk aus einer in der Zeit gegebenen Anzahl von Multigraphen und Polygraphen. Das Netzwerk einer Infektionskrankheit mag als zentralisiertes Muster beginnen, von einer einzelnen Stadt oder Umgebung ausstrahlen, sich dann aber durch seine Schichtung und Diversifi zierung in ein eher dezentralisiertes Netzwerk verwandeln. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Ein in der Zeit existierendes Netzwerk ist nicht nur extensiv, d.h. eine Karte von fi xierten Knoten (oder Dingen) und stabilen Kanten (oder Relationen/Beziehungen). Ein lebendiges Netzwerk ist immer auch intensiv. Netzwerke können in Abhängigkeit von der Qualität, Kraft, Dauerhaftigkeit und Flexibilität ihrer Relationen an Intensität zu- und abnehmen. Topologien zu denken, bedeutet daher keine extensive Kartographie, sondern eine topologische Intensivierung, die einen Netzwerkaffekt hervorbringt. All diese Modifikationen beruhen auf einem Verständnis von Netzwerken als fundamental zeitbasierten Sets von Relationen, die die einfache Unterscheidung zwischen Knoten und Kanten schwierig machen. In manchen Fällen ergibt sich daraus ein Verständnis von Netzwerken als »Kanten-ohne-Knoten«
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[»edges-without-nodes«] oder von einem Netzwerk, dessen Knoten selbst spezifische Formen von Kanten sind.
II. Schwärme Sind Netzwerke, Schwärme und Multitudes Mutationen des politischen Körpers? Wenn ja, welche Bedeutung hat das für Kernkonzepte der politischen Theorie, Konnektivität und Kollektivität? Es gilt nun, die konzeptuellen Grundlagen des Netzwerkdenkens zu ordnen, um so die Bezüge zwischen Technologie, Biologie und Politik genauer zu beleuchten. Obwohl Netzwerke heute allgegenwärtig scheinen, sind wir immer noch weit davon entfernt, sie als grundlegende politische Ontologien zu verstehen, weil auch hier ein Netzwerk als ein statisches, meta-temporales Muster verstanden wird – eine Euler’sche und Kant’sche Sichtweise. Bergsons Theorie der Dauer liefert uns zwar eine Vorstellung von dynamischem Wandel in Netzwerken, lässt uns aber mit der eigenartigen Einsicht zurück, dass Netzwerke eigentlich nicht existieren (zumindest nicht in ihrer traditionellen, statischen Form). Wo lassen sich also theoretische Modelle finden, die die dynamischen Aspekte von Netzwerken und anderen Gruppenphänomenen mit einbeziehen? Ermöglicht uns das biologische Paradigma der »Schwärme«, das relativ statische Verständnis von Netzwerken komplexer zu machen? Das Konzept des Schwarms besitzt selbst eine spezifische Geschichte und eine Reihe eigener Problematiken. In einem ersten Schritt müssen wir daher Schwärme im Kontext von Komplexitätsforschung, Molekularbiologie und Ethologie betrachten. In einem zweiten Schritt müssen Schwärme dann in philosophischer Hinsicht auf ihren potentiellen Beitrag zu einer politischen Ontologie der Netzwerke hin untersucht werden.
Schwärme (Erster Anlauf) Das Konzept des Schwarms ist in erster Linie ein biologisches Konzept. Seine Ursprünge finden sich in der Ethologie und können bis in die Biologie des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. 43 Die Ethologie ist eine 43 | Siehe insbesondere Lorenz’ Studie über Tieraggression in RäuberBeute-Beziehungen und Wheelers Konzept des »Superorganismus« in seiner Studie über Ameisenkolonien: Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse: Zur Naturgeschichte der Aggression, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000; und William Morton Wheeler: Emergent Evolution and the Development of Societies, New York: Norton 1928.
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sonderbare Disziplin, weil sie sich zwischen Zoologie (Klassifikation), vergleichender Anatomie (Struktur) und der Untersuchung von Ökosystemen (Kontext) ansiedelt. 44 Sie vereinigt diese Felder, um zu verstehen, wie lebendige Organismen interagieren. Organismen sind niemals nur Individuen oder Gruppen; das Verhalten eines Organismus stellt den Kreuzungspunkt von Individuum, Gruppe und Umwelt dar. In ethologischen Studien über spezifische Arten (etwa über Insekten, Vögel oder Räuber-Beute-Beziehungen) ist eine Zurechnung der Handlungsinstanz auf einzelne Akteure schwierig. Vielmehr entsteht Verhalten aus den Interaktionen innerhalb von Gruppen, zwischen Individuen und als Reaktion auf Notwendigkeiten in der Umwelt. Nirgends wird dies deutlicher als in der ethologischen Erforschung »sozialer Insekten« wie Ameisen, Bienen und Glühwürmchen. Soziale Insekten liefern ein Beispiel dafür, wie »dumme« Tiere komplizierte, »intelligente« soziale Strukturen wie beispielsweise Arbeitsteilung, Kontrollhierarchien und koordinierte Aufgabenerfüllung bilden können. Im späten 19. Jahrhundert beschrieb der Insektenkundler William Morton Wheeler soziale Insekten als »Superorganismus«, wobei dem Ganzen eine Vitalität innewohnt, die die einzelnen Teile nicht besitzen. 45 Frühere Studien vermuteten eine Form zentralisierter Kontrolle – beispielsweise die Ameisen- oder Bienenkönigin – wie auch eine von oben nach unten verlaufende Steuerung der Aufgabenzuweisung und sozialen Funktion – wie bei Ameisen-Soldaten oder Arbeiterbienen. 46 Aber solche Modellbildungen wurden im 20. Jahrhundert heimgesucht vom Gespenst des Kommunismus. Auf der einen Seite implizieren ethologische Studien, dass Sozialität natürlich ist. Auf der anderen Seite zeigt sich dabei aber ein Typus von Sozialität, der rigide hierarchisch, totalitär und äußerst zentralisiert ist. 47 Solche Untersuchungen dienten dazu, das Soziale zu naturalisieren, da es schien, dass sogar Insekten ein präzise organisier44 | Als Beispiel für ein Lehrbuch der Ethologie siehe David McFarland: Biologie des Verhaltens: Evolution, Physiologie, Psychologie, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 1999. 45 | Siehe Wheeler: Emergent Evolution and the Development of Societies. 46 | Studien wie Edward Wilsons und Bert Hölldoblers Ameisen: Die Entdeckung einer faszinierenden Welt, Basel: Birkhäuser 1995, zeigen eine Verlagerung von frühen Studien über Insektengesellschaften zu »Hive Mind«-Modellen. 47 | Diese Spannung drückt sich auch in der Populärkultur aus, wo eine Vielzahl von Science Fiction-Filmen die erschreckende Transformation menschlicher Gesellschaften in inhumane Insekten(=Kommunisten)-Staaten vorführt. Es lässt sich eine kontinuierliche Linie der »Schwarm-Politik« ziehen von Die Vögel und Them! [deutsch als Formicula] über den Gebrauch von Com-
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tes und effizientes Sozialverhalten zeigen. Der ideologische Hintergrund dieser Untersuchungen zeigte sich in ihren Vergleichen mit menschlichen sozialen Institutionen, Produktionsverfahren und dem Prozess der Industrialisierung. Aus einer politischen und philosophischen Perspektive sind diese frühen Studien sozialer Insekten bemerkenswert, da sie durch die Gleichsetzung ähnlicher sozialer Strukturen zwischen verschiedenen Arten – dumm und intelligent, nicht-bewusst und bewusst – nahelegten, dass Sozialität und soziale Strukturen »naturgegeben« sind. Der Hobbes’sche »Naturzustand« [»state of nature«] war eigentlich ein natürlicher »Staat« innerhalb der Natur [»State of nature«]. Während frühe ethologische Untersuchungen soziale Insekten als Beispiele für die Universalität des Sozialverhaltens betrachteten, zeichneten spätere Studien ein anderes Bild. Insbesondere die Entdeckung, dass soziale Insekten keine zentrale Steuerungsinstanz – also keine Bienenkönigin – besitzen, führte zu einem neuen Verständnis sozialer Insekten, und in der Folge richtete man ein größeres Augenmerk auf das Verständnis ihrer systemischen Aktivitäten. 48 Untersuchungen über die Nahrungssuche von Ameisen, ausschwärmende Wanderameisen, Wespennestbau und koordiniertes Leuchten unter Glühwürmchen sind Beispiele für eine Verschiebung des ethologischen Fokus von den einzelnen Handlungen der Individuen zu den kollektiven Prozessen, die durch große Gruppen konstituiert werden. 49 Die wichtigste Einsicht dieser Studien ist, dass globale Muster nicht durch eine zentrale Kontrolle entstehen, sondern durch Aggregationen von lokalisierten Interaktionen und Entscheidungen. Im Fall der Nahrungssuche von Ameisen (einer der meiststudierten Bereiche) macht sich eine Gruppe von Ameisen auf die Suche nach einer Nahrungsquelle. Jede Ameise lässt dabei eine »Pheromonspur« oder einen chemischen Pfad zurück, den die anderen Ameisen aufspüren können. Findet eine Ameise eine Futterquelle, kehrt sie früher als die anderen zurück und festigt dabei ihre spezifische Spur. Nachfolgende Ameisen tendieren dazu, dem Pfad mit der stärksten Pheromonspur zu folgen. Das Resultat ist eine positive Rückkopplung, die die Mehrheit der Ameisen zum am stärksten markierputermodellen in Filmen wie Starship Troopers und Matrix Reloaded bis hin zu Computerspielen wie SimCity und State of Emergency. 48 | Für populäre Zusammenfassungen dieser Untersuchungen siehe Kapitel 1 von Steven Johnson: Emergence, New York: Scribner 2001; und Kapitel 2 von Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle: Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Heppenheim: Bollmann 1997. 49 | Für einen exzellenten Überblick über die aktuelle Forschung in diesem Bereich siehe Scott Camazine et al.: Self-Organization in Biological Systems, Princeton: Princeton University Press 2001.
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ten Pfad führt. In diesem Prozess existiert keine zentralisierte Steuerung der Nahrungssuche, die Ameisen beginnen ihre Suche durch zufällige Bewegung. Allerdings bildet die Ameisenkolonie mit der Zeit »Landstrassen« zu einer oder mehreren nahen Futterquellen.50 Die Untersuchung von Vogelschwärmen liefert ein anderes Beispiel dafür, wie Organisation ohne zentrale Kontrolle stattfindet. Es war die Verbindung von Ethologie und Informatik, die am stärksten zum Verständnis von Vogelschwärmen beigetragen hat.51 Computerforschungen und Simulationen zeigen, dass Vogelschwärme im wirklichen Leben wenigen einfachen Regeln folgen, die auf einer lokalen Ebene zwischen einzelnen Vögeln ausgeführt werden: Regeln der Aggregation (sich zum Schwarm hin bewegen), der Steuerung (Kollision mit anderen Vögeln vermeiden) und des variablen Tempos (Geschwindigkeitsanpassung, um sich mit den nächsten Nachbarn abzustimmen). Diese relativ frei defi nierten »Regeln« kommen nicht auf der Ebene des gesamten Schwarms zur Anwendung, sondern auf der Ebene der einzelnen Vögel und ihrem jeweiligen Bewusstsein für den direkten Nachbarn.52 Jeder Vogel, der diese einfachen Regeln befolgt, produziert Muster für den gesamten Schwarm, ein Muster, das nicht vom einzelnen Vogel bestimmt wird. Solche Studien haben die konventionelle Vorstellung der Naturwissenschaften vom ›Leben selbst‹ in Frage gestellt. Zunehmend findet eine Verlagerung von einer Wissenschaft des »Lebens« zu einer Technowissenschaft der »lebendigen Systeme« statt. Gegenwärtige Untersuchungen zur Schwarm-Intelligenz kombinieren Informatik, Ethologie und Elemente der Physik (Fuzzy-Logik), um zu erforschen, wie Schwarmpartikel in unterschiedlichen Kontexten miteinander interagieren (Particle Swarm Optimization PSO, ein populationsbasiertes Such- und Optimierungsverfahren, das über die Simulation von Schwarmverhalten operiert).53 Nirgends wird diese Verschmelzung von Biologie und Informatik evidenter als in der molekularen Biotechnologie und ihren verwandten Feldern (Genetik, Genomik, Proteomik). Die Biotechnologie stellt eine Lebenswissenschaft in ihrer reduziertesten Form dar, insofern sie das Leben auf seine kleinsten 50 | Vgl. Eric Bonabeau/Guy Théraulaz: Swarm Smarts, in: Scientifi c American 282 (March 2000), S. 72-79; und Camazine et al.: Self-Organization in Biological Systems, Kapitel 13 und 14. 51 | Vgl. Craig Reynolds: Flocks, Herds, and Schools: A Distributed Behavioural Model, in: Maureen C. Stone (Hg.): SIGGRAPH ’87. Computer Graphics 21/4 (July 1987), S. 25-34. 52 | Der Film Nomaden der Lüfte – Das Geheimnis der Zugvögel ist eine lehrreiche Demonstration dieser Prinzipien. 53 | Siehe James Kennedy et al.: Swarm Intelligence.
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Einzelteile und Prozesse herunterbricht. Im DNA-Molekül, das für über fünfzig Jahre die wissenschaftliche Ikone des Lebens war, ist dieser Reduktionismus verkörpert: Es ist gleichzeitig Blaupause, Wörterbuch und oberste Befehlsinstanz aller Prozesse des Lebens. Neuere Ansätze der Molekularbiologie dagegen zeichnen ein viel komplexeres Bild. Untersuchungen der »biologischen Kontrollsysteme« – Genexpression, Zellstoff wechsel, Membransignalisierung – haben gezeigt, dass diese molekularen Prozesse nicht einfach linearen Ursache-WirkungMechanismen zwischen einem Master-Molekül und seinen nachfolgenden Befehlen folgen.54 Ein einfacher, alltäglicher Prozess – wie etwa die Aufnahme von Zuckermolekülen durch eine Zelle und die Umwandlung von Zucker in brauchbare Energie (ATP) – benötigt ein Netzwerk vieler interagierender Einheiten (DNA, Aminosäuren, Enzyme, Lipide, Organellen). Die Ergebnisse der Kartographie des menschlichen Genoms (nämlich, dass der Mensch nur etwa 30.000 Gene hat, also nicht viel mehr als eine Maus) haben dieses Verständnis des Organismus als eines Systems, das weit mehr als die Summe seiner Einzelteile ist, auf molekularer Ebene bestätigt. In der biotechnologischen Forschung kann man drei Netzwerk-Topologien unterscheiden. Erstens das zentralisierte Modell der DNA als MasterMolekül, das sich am deutlichsten an der berühmten Formulierung des »zentralen Dogmas« der DNA von Francis Crick veranschaulichen lässt: DNA bildet RNA bildet Proteine, und Proteine bilden uns. Alle Anweisungen und Produkte gehen vom Zentrum aus, das die DNA bildet. Allerdings haben jüngste Unterdisziplinen der Genetik und Biotechnologie, die teilweise von der Informatik her kommen, differenziertere Analysen ermöglicht (wie etwa im Feld der Genomik und Proteomik). Dies hat zu einem systembiologischen Ansatz geführt, in dem die DNA bzw. die Gene lediglich als ein Baustein unter vielen angesehen werden, die an einem Netzwerk von Verfahren und Interaktionen partizipieren. Die Rolle der Gene ist zwar immer noch unbestritten, aber die Bandbreite dieser Forschungen ist viel flexibler als bei den Theorien, die auf dem »zentralen Dogma« basieren. Dieses zweite Modell ist dezentralisiert; es zeichnet ein Cluster von lokalen Knoten (DNA oder Gene), die in einen Kontext hineinwirken 54 | Siehe Leroy Hood: The Human Genome Project and the Future of Biology, in: Biospace.com (2001); Sui Huang: The Practical Problems of PostGenomic Biology, in: Nature Biotechnology 18/5 (May 2000), S. 471-472; Bernhard Palsson: The Challenges of in silico Biology, in: Nature Biotechnology 18/11 (November 2000), S. 1147-1150. Ein Schlüsseltext der Systembiologie ist Troy Ideker et al.: Integrated Genomic and Proteomic Analyses of a Systematically Perturbed Metabolic Network, in: Science 292 (May 4 2001), S. 929-934.
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und dabei mit anderen, ähnlichen Clustern (Proteinen) interagieren. Drittens gibt es das breite Forschungsgebiet der Biokomplexität, das die Idee eines biologischen Netzwerks noch weiter verfolgt. Untersuchungen des Genexpressions-Netzwerks, der Autokatalyse, der Antikörper-Produktion und der intrazellulären Protein-Interaktion arbeiten alle mit einem dezentralisierten Modell.55 Ein solches Modell zeigt Schwarm-Verhalten auf der molekularen Ebene. Nicht Moleküle, Komposita oder Substanzen, sondern Interaktionen, die sich in einem lokalisierten Kontext vollziehen (ohne externe Kontrolle oder einen von oben implementierten Plan), bilden die Basis dieses Modells. So kann beschrieben werden, wie das Zusammentreffen lokaler Interaktionen einen übergeordneten Effekt erzeugt. Die Koordination der Proteinsynthese, die Energieumwandlung von Molekülen in der Zelle und die Prozesse, in denen Moleküle selektiv in und aus Zellmembranen transportiert werden, sind allesamt elementare Prozesse, die allgemein einem Schwarm-Verhalten folgen.56 Vor dem Hintergrund dieser Beispiele lassen sich Schwärme nun wie folgt charakterisieren: • Ein Schwarm ist eine Organisation von multiplen, individuierten Einheiten mit einer Relation zueinander. Das heißt, ein Schwarm ist eine bestimmte Art von Kollektivität oder Gruppenphänomen, das von einem Zustand der Konnektivität abhängen kann (aber nicht muss). • Ein Schwarm ist eine Kollektivität, die sich durch Relationalität definiert. Dies gilt sowohl für die Ebene der einzelnen Einheiten wie auch für die gesamte Organisation des Schwarms. Die Relation konstituiert den Schwarm. • Ein Schwarm ist ein dynamisches Phänomen (was aus seiner Relationalität folgt). Dies unterscheidet ihn vom Konzept eines »Netzwerks«, dessen Wurzeln in der Graphentheorie und einem mathematischen, 55 | Siehe Brian Goodwin/Ricard Solé: Signs of Life: How Complexity Pervades Biology, New York: Basic Books 2000; und Kauffman: The Origins of Order. 56 | Andere Beispiele folgen dem Muster »lokale Interaktionen, globale Muster«. Oft wird dieser Prozess als »Selbstorganisation« bezeichnet und das globale Muster »emergiert« aus den lokalen Interaktionen seiner Agenten. Neben Studien über Vogel- und Fischschwärme sowie andere Gruppentiere wurden ähnliche Studien auf so vielfältige Bereiche wie Computergrafi k (zu sehen in vielen Filmen, in denen eine große Zahl von Agenten sich unabhängig bewegen muss), Ökonomie (in der Untersuchung von multiplen Transaktionen des Aktienmarkts) und Molekularbiologie (in der Analyse enzymatischer und metabolischer Zell-Netzwerke) ausgeweitet.
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räumlichen Verständnis von »Dingen« (oder Knoten) und »Relationen« (oder Kanten) liegen. Ein Schwarm existiert in der Zeit und handelt, interagiert und wandelt sich ständig. Auf einer bestimmten Ebene überschneiden sich lebendige Netzwerke und Schwärme. Ein Schwarm ist ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile, aber es ist auch ein heterogenes Ganzes. D.h., dass er nicht als eine vereinheitlichte, homogene Gruppe defi nierbar ist, die den heterogenen Bedürfnissen und Begehren von Individuen dient. Vielmehr erfordern die Prinzipien der Selbstorganisation, dass die Gruppe erst aus den lokalisierten, singulären, heterogenen Handlungen der einzelnen Einheiten entsteht. Schwärme haben ambivalente politische Implikationen. Der Schwarm ist nicht einfach die neuste Bezeichnung für das Konzept der »Massen«, des »Volks« oder des »Proletariats«; seine Einzelelemente sind nicht dem Ganzen untergeordnet – beide existieren gleichzeitig und bedingen einander. Ein Schwarm mag ein erkennbares globales Muster aufweisen, doch dies bedeutet nicht, dass ein Schwarm das Kollektiv über das Individuum stellt. Daher existiert ein Schwarm nicht auf einer lokalen oder globalen Ebene, sondern auf einer dritten Ebene, auf der sich Mannigfaltigkeit und Relationalität überschneiden.
In politischer Hinsicht unterscheidet sich die Schwarm-Intelligenz signifi kant von früheren ethologischen Modellen. Obwohl immer noch Differenzierungen innerhalb einer Gruppe (einer Ameisenkolonie, einem Wespennest) existieren, scheint das Wichtigste an den Forschungen zur Schwarm-Intelligenz ihre Betonung des kollektiven Verhaltens anstelle der statischen Beziehung zwischen Individuum und Gruppe zu sein. Diese Betonung der Kollektivität bedeutet auch, dass das globale Muster, das sich dabei herausbildet, nicht einfach ein »Ding« ist. Ein Vogelschwarm, ein Fischschwarm oder ein Insektenschwarm ist nicht ein homogenes Ding, sondern vielmehr eine dynamische und äußerst differenzierte Kollektivität interagierender Akteure. Schwarmforschung ist in jüngster Zeit auch auf menschliche Systeme wie die Formierung und Bewegung von Massen und Verkehrssystemen (Menschen, Flugzeuge, Autos) angewendet worden.57 Das Modell des Ausschwärmens von Wanderameisen, das gewisse Ähnlichkeiten mit der trotzkistischen Vorstellung der kommunistischen »Zelle« besitzt, wird seit 57 | Für einen Überblick über die Vielfalt der Komplexitätsforschung siehe den Essay von Manuel DeLanda: Non-Organic Life, in: Jonathan Crary/Sanford Kwinter (Hg.): Incorporations, New York: Zone 1992, S. 128-168.
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einiger Zeit vom US-Militär erforscht und genutzt.58 Zuletzt wurde das Phänomen des Schwärmens in einer neuen Form von Protest beobachtet (dezentralisierter Dissens, Netwars und Smart Mobs), der physische und technologische Schwarmbildung, Bewegungen von Körpern (Interessengruppen) und Datenbewegungen (drahtlose Netzwerke) verknüpft.59 Alle diese unterschiedlichen Ansätze verbindet, dass sie die praktischen Dimensionen von Selbstorganisation analysieren, indem sie untersuchen, wie eine emergente Kollektivität imstande ist, komplizierte Aufgaben auszuführen. Direkt oder indirekt wirft die Schwarmforschung damit Fragen der Intentionalität und Teleologie auf: Wie und warum formt ein Schwarm das Muster, das er vorführt? Wenn keine zentrale Kontrolle existiert, wie werden Aufgaben definiert, initiiert und verteilt? Möglicherweise liegt genau hier die schwierigste Frage für die Schwarmforschung. Biologen verweisen in ihren Antworten darauf gern auf die natürliche Selektion oder einen genetischen Determinismus. Aber gerade darin liegt der interessanteste Aspekt der Schwärme, weil hier die fundamentale politische Frage zutage tritt: Wie kann in einer dezentralisierten Organisation etwas durchgeführt werden? Wie kann das allzumenschliche Wesen von Begehren, Intentionen und Handlungen mit dem entschieden nicht-menschlichen Modell der Schwärme in Einklang gebracht werden?
Schwärme (Zweiter Anlauf) Die Antwort der Netzwerk-Wissenschaften, Schwarm-Intelligenz- und Biokomplexitäts-Forscher auf diese Frage war bisher insgesamt wenig befriedigend. Während die Selbstorganisation und das komplexe Wesen lebendiger Systeme sehr detailliert verstanden werden, wird unterstellt, dass diese Systeme immer schon im Gang sind und sich weiter entwickeln. Wie solche Systeme sich entwickeln, wie Initiativen innerhalb von Systemen angestoßen werden und wie die Kriterien für Selbstorganisation selbst »emergieren«, sind Fragen, welche die existierenden Untersuchungen nicht adäquat beantworten können. Aber es geht nicht einfach nur um Ursprünge oder Zwecke. Studien 58 | Siehe John Arquilla/David Ronfeldt: Swarming and the Future of Conflict, Santa Monica: RAND 2000. 59 | Während damit die Relativierung des Konzepts riskiert würde, könnte man zahlreiche andere Beispiele von »menschlichem Schwarmverhalten« [»human swarming«] miteinschließen, so etwa die Anarcho-Syndikalistische Bewegung, die holländische Hausbesetzer-Bewegung, die europäischen Tactical Media Labs, die internationalen Gewerkschaftsverbände, die Indymedia, den globalen AIDS-Aktivismus und so weiter.
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der Netzwerk-Wissenschaften, Schwarm-Intelligenz und Biokomplexität definieren Selbstorganisation als die Emergenz eines globalen Musters aus lokalen Interaktionen. Diese paradoxe Definition ist es, die Schwärme interessant macht – politisch, technologisch und biologisch –, weil sie eine Intentionalität ohne Intention unterstellt, einen Akt ohne Akteur und ein heterogenes Ganzes. In Schwärmen existiert kein zentrales Kommando, keine Einheit und kein Agent, der fähig ist, den gesamten Schwarm zu sichten, zu überwachen und zu steuern. Dennoch sind die Handlungen des Schwarms zielgerichtet, die Bewegungen motiviert und das Muster dient einem Zweck. Dies ist das Paradox der Schwärme. Tatsächlich ist die Spannung innerhalb von Schwärmen als ebenso politischen wie biologischen Entitäten eine Spannung zwischen Muster [pattern] und Zweck [purpose]. Organisation impliziert nicht notwendig einen Grund dafür, dass sie existiert, außer die Organisation ist selbst der Grund. Am einen Pol findet sich eine äußerst zielgerichtete, zweckmäßige Kollektivität, wie etwa eine Ansammlung von Demonstranten (deren Absicht es sein mag, die Straßen der Stadt zu blockieren oder Sichtbarkeit zu erlangen), oder, in rein biologischen Begriffen, ein Schwarm von Wanderameisen (deren Absicht es ist, Nahrung zu suchen). Solche Kollektivitäten können Schwärme genannt werden, insofern sie zwei grundlegende Eigenschaften von Schwärmen aufweisen: Sie zeigen ein globales Muster von lokalen Interaktionen, und sie stellen eine gerichtete Kraft ohne zentralisierte Kontrolle dar. Am anderen Pol befinden sich Kollektivitäten, die ebenfalls geordnet und dynamisch organisiert sind, jedoch keinen offenkundigen ›Zweck‹ oder kein offenkundiges Ziel aufweisen, außer sich selbst zu erhalten. Beispiele dafür wären unter anderem eine große Menschenansammlung bei einem Festival oder Konzert oder auf einer biologischen Ebene Vogel- und Fischschwärme. Forscher interpretieren solche Beispiele häufig evolutionstheoretisch als durch evolutionäre Notwendigkeit angetrieben (und damit vom Zweck des Überlebens diktiert). Aber diese Art von Teleologie ist schwach, indirekt und letztendlich vom Erklärungsvermögen der Evolutionstheorie abhängig. Dies mag Haarspalterei sein – angesichts der überwältigenden Präsenz eines Schwarms oder einer Menschenmenge ist die Frage nach der Teleologie oft sekundär. Doch gerade der Raum des Politischen macht es nötig, jenseits dieser schieren Überwältigung nach den Implikationen von politischer Selbstorganisation zu fragen. Die Biokomplexitäts-Forschung, die Selbstorganisation untersucht (wobei das Schwärmen einen spezifischen Fall von Selbstorganisation darstellt), versucht beides: einerseits die Entstehung von Mustern ohne zentrale Kontrolle zu erklären; andererseits die Funktionen von Evolution und natürlicher Selektion zu nutzen, um »Regeln« und Kriterien der Selbstorganisation zu fi nden. Komplexe bio-
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logische Phänomene wie Schwärme erscheinen somit sowohl innerlich organisiert als auch äußerlich konstituiert, sowohl mit vollem Handlungsvermögen ausgestattet als auch innerhalb äußerlicher Zwänge gefangen. Der Fall politischer Schwarmbildung ist ähnlich, etwa wenn Schwärme Formen der politischen Einbunkerung angreifen (zum Beispiel bei den WTO-Protesten in Genua). Eher optimistische Beschreibungen von Smart Mobs und Netwars betonen ihren selbstorganisierten Charakter – wenn sie einmal gestartet sind. Aber meist wird nicht dokumentiert, welche Myriaden von Kräften und Beziehungen die Existenz einer solchen Selbstorganisation überhaupt ermöglicht haben; ihre Existenzbedingung liegt außerhalb des Netwar oder des Smart Mob. Manche wissenschaftlichen Studien solcher Phänomene präsentieren eine soziobiologische Erklärung (und es ist kein Zufall, dass viele soziologischen Studien Edward Wilsons Schriften über soziale Insekten aufgreifen). Sie behaupten, dass explizit nicht-menschliche Kräfte wie natürliche Selektion oder vor-soziale physikalische Gesetze Verhaltensformen steuern, die oberflächlich betrachtet ideologische Anliegen zu sein scheinen. Während es in der Biologie adäquat sein mag, eine Untersuchung von Schwärmen auf die Ebene der Organisation und der Muster zu beschränken, ist dies im Raum des Politischen bestenfalls der Anfang. Die einfache Identifi kation von Mustern impliziert weder eine bestimmte Politik, noch kann sie erklären, wie Kontingenz und Potentialität in solchen Kontexten beeinflusst werden. Eine Menschenmenge an einer U-Bahn-Station als in einer bestimmten Weise organisiert zu beschreiben, sagt noch nichts aus über die Bedeutung eines solchen Musters in diesem Kontext und in diesem sozialen und kulturellen Moment. Schwärme bei einem Konzert, auf einer vollen Straße und anlässlich eines großen friedlichen Protests sind drei qualitativ verschiedene Phänomene, obwohl sie aus der Sicht der Netzwerk-Wissenschaften in dieselbe Kategorie fallen mögen. Somit gibt es zwei Achsen, auf denen jeweils zwei Konzepte in einer je eigentümlichen Art von Spannung zueinander stehen. Auf der einen Achse liegt die Spannung zwischen Kollektivität und Konnektivität. Während Konnektivität eine Voraussetzung für Kollektivität sein mag, ist Kollektivität nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für Konnektivität an sich. Problematisch ist der übertriebene Optimismus, wenn aus der Verbindung von technologischer Euphorie und neuen sozialen Praktiken der Schluss gezogen wird, dass aus Konnektivität unmittelbar Kollektivität entstehen müsse. Die extremste Form eines solchen technologischen Determinismus ist die Vorstellung, dass politische Formen wie Demokratie plötzlich sowohl der Natur als auch der Technologie inhärent seien. Auf einer anderen Achse liegt die Spannung zwischen Muster [pattern] und Zweck [purpose]. Zwar mögen Muster dem Zweck eines jeden
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Schwarms zugrunde liegen, aber es ist schwierig, den komplizierten Begriff »Zweck« für ein selbstorganisierendes System zu defi nieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Konsens über den Grad an Teleologie, Absicht oder Ziel in selbstorganisierenden Systemen. In manchen Fällen (wie bei der Futtersuche der Ameisen) ist die Absicht klar, während in anderen Fällen (wie Vogelschwärmen) die bloße Existenz als Teleologie gilt. In menschlichen Gruppen bekommt die Debatte einen schärferen Ton, nicht zuletzt, weil das Begehren, die Intentionen und die Handlungen einzelner Subjekte auf dem Spiel stehen. Versuchen wir, die Fragen zu ordnen, die durch diese neuen Gruppenformationen (Netzwerke, Schwärme, lebendige Netzwerke) aufgeworfen werden. Welches ist die Rolle der beiden Achsen Kollektivität-Konnektivität und Muster-Zweck auf der Ebene einer politischen Ontologie? Was dafür nötig ist, ist eine Betrachtung der Multitudes (als Modus politischer Gruppenbildung [aggregation]) in Ergänzung zur Diskussion der Netzwerke (als Modus technologischer Gruppenbildung) und Schwärme (als Modus biologischer Gruppenbildung).
III. Multitudes Das Konzept der Multitude, das kürzlich durch das Werk von politischen Theoretikern wie Antonio Negri und Michael Hardt in Umlauf gebracht wurde, kann schon im Entstehungsmoment des modernen politischen Denkens gefunden werden. »Multitude« ist ein Begriff, der von Machiavelli, Hobbes, Spinoza und späteren politischen Theoretikern wie Locke und Rousseau verwendet wurde. Dennoch herrscht zwischen diesen Denkern kaum Einigkeit darüber, was der Begriff bedeutet. Zeitweise wird »Multitude« als Synonym für das, was man »Masse« oder »Volk« nennen kann, gebraucht, während zu anderen Zeiten die Multitude eine sehr spezifische politische Aufladung als konstitutive Kraft des sozialen und politischen Lebens selbst erfährt. Auf die zentrale Spannung im Konzept der Multitude hinweisend, stellt Spinoza fest: Denn das Recht des Gemeinwesens [civitas] wird durch die Macht der Menge [multitudo], die wie von einem Geist geleitet wird, bestimmt. Diese geistige Einheit lässt sich aber in keiner Weise verstehen, wenn nicht das Gemeinwesen im höchsten Maße auf das aus ist, was die gesunde Vernunft als nützlich für alle Menschen ausgibt.60 60 | Baruch de Spinoza: Politischer Traktat. Tractatus Politicus, übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner 1994, Kapitel III, §. 7, S. 41.
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Während Hobbes und Machiavelli (in Der Fürst) die Multitude auf das reduzieren, was mit Gewalt regiert werden muss, eröff nen Spinoza und der Machiavelli der Discorsi Perspektiven auf die immanente und grundlegende Rolle der Multitude bei der Ermöglichung des sozialen und politischen Lebens.61 Tatsächlich verändert sich das Konzept der Multitude sogar im Denken eines einzelnen Autors – man vergleiche Spinozas Tractatus Theologico-Politicus mit dem unvollendeten Tractatus Politicus: Von einer flüchtigen, instabilen sozialen Energie wird der Begriff zu einer sozial konstruktiven und politisch radikalen Stimme des Kollektivs.62 Was auch immer der Fall sein mag, die Multitude scheint immer »quer« zu ihren eigenen Voraussetzungen zu stehen; denn sie konstituiert eine soziale und politische Ordnung und widersteht dieser gleichzeitig. Im Zentrum der aktuellen politischen Theorie steht offenbar eine Verschiebung in der Art, wie die Frage nach der Multitude gestellt wird. Sie bezieht sich nicht mehr auf die Alternative zwischen dem Vorrang des Individuums und dem der Gruppe. Eine solche Position würde fragen: Ist die Multitude regierbar? Dagegen 61 | Wie Spinoza im Tractatus Politicus feststellt: »[Es] ist klar, daß das Recht des Staates oder der höchsten Gewalten nichts anderes ist als eben das Recht der Natur, das durch die Macht, nun nicht mehr jedes Einzelnen, sondern der wie von einem Geist geleiteten Menge [multitudo] bestimmt wird. Gerade so wie im Fall eines einzelnen im Naturzustand hat also auch der Körper und der Geist eines ganzen Staates so viel Recht, wie weit dessen Macht reicht.« In: Ebd., §. 2, S. 35. Genauso beschreibt Machiavelli in den Discorsi eine komplexere und konfliktreichere Multitude als zuvor in Der Fürst: »Titus Livius berichtet dies mit folgenden Worten: ›Ex ferocibus universes singuli, metu suo, obedientes fuere‹. (Aus denen, die in ihrer Gesamtheit widerspenstig waren, wurden einzelne, von denen jeder aus Furcht für sein Schicksal gehorchte.) In der Tat lässt sich die Natur der Masse in dieser Hinsicht nicht besser beschreiben. Die Masse kritisiert oft mit Kühnheit ihre Führer: sowie sie aber die Strafe vor Augen sieht, traut keiner mehr dem anderen, und jeder beeilt sich, zu gehorchen.« In: Niccolò Machiavelli: Discorsi: Gedanken über Politik und Staatsführung, Stuttgart: Alfred Kröner 1966, 57. Kapitel, S. 146f. 62 | Sowohl Balibar als auch Negri weisen auf diese Verschiebung in Spinozas Auffassung der Multitude hin. Während Balibar daraus folgert, dass Spinoza damit die Widersprüche, die der Demokratie inhärent sind, artikulieren könne, schlägt Negri vor, dass Spinozas letzte Schriften über die Multitude den Weg für eine neue Art von radikalem Kollektivismus eröff nen könnten. Siehe Etienne Balibar: Spinoza and Politics, London: Verso 1998; Antonio Negri: Reliqua Desiderantur: A Conjecture for a Definition of the Concept of Democracy in the Final Spinoza, in: Warren Montag/Ted Stolze (Hg.): The New Spinoza, Minneapolis: University of Minnesota 1997, S. 218-246.
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lautet die Schlüsselfrage heute: Wie kann sich die Multitude selbst regieren?63 Um die Relevanz dieser Verschiebung zu verstehen, muss das Konzept der Multitude genauer betrachtet werden. Als politisches Konzept ist die Multitude in politischen wie in ontologischen Begriffen definiert worden. Ontologisch, weil die Multitude in ihrer Entstehung eine Menge von Affekten und Erfahrungen artikuliert, die als Grundlage für politische Affi liation und Handlung dienen. Hardt und Negri schlagen vor: »Ontologie ist keine Theorie der Begründung. Sie ist eine Theorie über unsere Immanenz und Immersion im Sein und über die fortwährende Konstruktion des Seins.«64 Grundsätzlich ist die Multitude also vor allem mit ihrer eigenen Konstitution beschäftigt, und damit mit ihrer Fähigkeit, sowohl dem Konsens als auch dem Dissens einen Raum zu geben. Ontologisch gesehen, ist die Multitude also weder das Individuum noch die Gruppe. Sie ist irgendwo dazwischen – oder ganz woanders.65 Die Multitude ist mit dem Konzept der Mannigfaltigkeit [multiplicity] verwandt, das von Bergson und – daran anschließend – von Deleuze entwickelt wurde. Die Multitude ist in dem Sinne vielfach [multiple], wie Vorstellungen von »der Gruppe« und »dem Volk« eine signifikante Anzahl von individuellen Körpern implizieren, die wiederum so zusammengefügt sind, dass sie eins werden. In diesem Sinne ist die Multitude singulär. Doch das Vielfache [the multiple] ist keine Mannigfaltigkeit [multiplicity] und das Singuläre [the singular] keine Singularität [singularity]. Die Multitude ist nicht nur eine große Zahl, die vereinigt, homogenisiert und einen Kör63 | Dies ist eine wiederkehrende Frage im gegenwärtigen an Spinoza anschließenden politischen Denken. Sowohl Balibar wie Negri stellen fest, dass die Problematik der Entscheidung für die Multitude zentral ist. Balibar äußert sich wie folgt: »Behind the question which arises for any regime – is the multitude governable? – lies another, which conditions to varying degrees this first question: to what extent is the multitude capable of governing its own passions?« In: Balibar: Spinoza and Politics, S. 58; Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M.: Campus 2003, S. 402, fügen hinzu: »Die Menge [multitude] entsteht nicht einfach dadurch, dass man Nationen und Völker willkürlich zusammenwirft und vermischt […].« 64 | Antonio Negri/Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos: Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin, Amsterdam: Edition ID-Archiv 1997, S. 150. 65 | »Thus the political problem no longer has two terms but three. ›Individual‹ and ›State‹ are in fact abstractions, which only have meaning in relation to one another. In the fi nal analysis, each of them serves merely to express one modality through which the power of the multitude can be realized as such.« In: Balibar: Spinoza and Politics, S. 69.
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per-über-dem-Körper (einen politischen Körper [body politic]) herstellt; sie ist ebenso durch ihre Zusammensetzung defi niert, die labil, durchlässig und morphologisch ist. Was die Multitude daran hindert, eins zu werden, ist, dass sie durch eine Vielfalt von Interessen, Affekten und Relationen bestimmt ist. Die Multitude besitzt keinen Gesellschaftsvertrag und ist nicht als im Moment gegebene Einheit-durch-Konsens konstituiert. Ihre vielfältigen Interessen decken sich höchstens in einer äußerst flüchtigen, vernetzen Form.66 Dies bedeutet, dass die Multitude konstant die Frage nach dem aufwirft, was Negri »das Gemeinsame« [»the common«] nennt: Das Set gemeinsamer Interessen, Anliegen oder Bedingungen, das es der Multitude ermöglicht, sich selbst zu organisieren – und sei es nur vorübergehend – und sich somit selbst zu steuern.67 »Das Gemeinsame« [»the common«] ist gleichzeitig materiell, da es in der andauernden Auseinandersetzung über die Produktion von »Leben« wurzelt, und (gerade deswegen) affektiv und erfahrungsgebunden ist. Doch die Selbstorganisation der Multitude impliziert nicht automatisch Selbststeuerung.68 Was beidem zugrunde liegt, ist etwas, auf das Spinoza hingewiesen hat, nämlich die fundamentale Relationalität (oder Konnektivität) von Körpern, Affekten und Subjekten. Es ist bezeichnend, wie Negri die Multitude wieder und wieder in einer fast paradoxen Art und Weise beschreibt: Eine Mannigfaltigkeit [multiplicity] von Singularitäten, eine Differenz, die eine Wiederholung ist, eine Kontraktion und eine Expansion, eine Systole und eine Diastole. Die Multitude ist ein Ganzes, das aus Singularitäten besteht.69
66 | Das durchgängigste Merkmal gegenwärtiger Theorien der Multitude ist ihre Opposition zur Tradition des Gesellschaftsvertrags. Siehe Michael Hardt/Antonio Negri: Globalization and Democracy, in: Stanley Aronowitz/ Heather Gautney (Hg.): Implicating Empire, New York: Basic Books 2002, S. 109-122. 67 | Siehe das Kapitel »Multitudo« in Antonio Negri: Time for Revolution, New York: Continuum 2003. 68 | Dies ist der Ursprung der Spannung zwischen »Gemeinschaft und Souveränität«, den Jean-Luc Nancy anführt: »The citizen becomes subject at the point where the community gives itself (as) an interiority, and at the point where sovereignty no longer contents itself with residing in the formal autoteleology of a ›contract‹ […].« In: Jean-Luc Nancy: The Sense of the World, übers. v. Jeff rey S. Librett, Minneapolis: Minnesota University Press 1997, S. 106. 69 | Antonio Negri: Approximations: Towards an Ontological Defi nition of the Multitude, in: Interactivist Info Exchange, URL: http://slash.autonomedia.org.
N E T Z WERKE – S CHWÄRME – M ULTITUDE S | 61 Anders als das Volk ist die Multitude keine Einheit, aber wir können sie doch, anders als die Massen oder den Pöbel [plebs], als etwas Organisiertes betrachten. Sie ist eine Instanz der Selbstorganisation.70 Heutzutage sprechen wir von Multitude als einer Gruppe von Singularitäten, die sich die Instrumente der Produktion, die Werkzeuge der Arbeit, wieder für sich selbst angeeignet haben.71 Eine Bewegung arbeitet mit großer Kraft auf eine Absolutheit im strengen Sinne hin, auf eine Einheit und Unteilbarkeit der Regierung und auf ihre Repräsentation als eine Seele und ein Geist. […] Die andere Bewegung dagegen ist vielfältig […] Das Leben der absoluten Regierung hat bei Spinoza eine Systole und eine Diastole, eine Bewegung zur Einheit und eine zur Expansion.72 Indem sie [die Menge/multitude] arbeitet, produziert sich die Menge [multitude] selbst als Singularität. Diese Singularität […] ist eine in Kooperation produzierte Wirklichkeit […].73
Die ontologischen Fragen der Multitude sind von den politischen Fragen der Multitude nicht zu trennen. Die lange Tradition der Vertragstheorien im modernen politischen Denken (von Machiavelli bis Grotius und Hobbes) neigt zu einer einseitigen Ausrichtung auf juridische Formen von Autorität und Legitimation. Zugleich existiert aber ein Gegen-Diskurs in der Vertragstheorie (von Althusius zu Spinoza), der sich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, der Möglichkeit öff net, Demokratie als »die natürlichste Form der Regierung« anzusehen. Von diesem zweiten, minoritären Strang des Denkens bezieht das gegenwärtige Konzept der Multitude sein Gewicht. Wie Hardt und Negri aufzeigen, ist die Multitude dem Gesellschaftsvertrag entgegengesetzt und stellt sich damit implizit gegen das Konzept des »Volkes«. Egal, ob der Gesellschaftsvertrag als ein tatsächlicher Vertrag verstanden oder ob er als notwendige Fiktion des Staates angesehen wird, immer beruht er auf der Frage: Ist die Multitude regierbar? Eine solche Frage führt unweigerlich zu einer aposteriorischen Legitimation moderner Formen der Souveränität. Hardt und Negri weisen bekanntlich darauf hin, dass monarchische und imperialistische Regimes historisch im Verschwinden begriffen sind; aber das bedeutet auf keinen Fall, dass 70 | Ebd. 71 | Antonio Negri: N for Negri: Antonio Negri in Conversation with Charles Guerra, in: Grey Room 11 (Spring 2003), S. 99. Übersetzung E.H. 72 | Negri: Reliqua Desiderantur, S. 229f. Übersetzung E.H. 73 | Hardt/Negri: Empire, S. 402.
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alle Souveränität verschwunden ist. Die zentrale Herausforderung für eine neue Fassung der Multitude liegt demnach darin, das Konzept von der Assoziation mit der neuzeitlichen Souveränität und dem Absolutismus abzulösen.74 Damit eröffnet sich ein anderer Blick auf Gruppenphänomene und Gruppenbildungen. Voraussetzung dafür ist der Abschied von der Fiktion eines vorsozialen »Naturzustands«, der gezähmt, domestiziert und diszipliniert werden muss. In dieser Hinsicht sollte die Multitude nicht mit den verwandten Begriffen der »Plebs«, des »Mobs«, der »Massen« oder sogar des »Volkes« verwechselt, aber auch nicht als Institution aufgefasst werden. Sie behält Negris »wildes« Element aufgrund ihrer ontologischen Zusammengesetztheit. Sie ist ebenso eine Versammlung [aggregation] wie eine Differenzierung [differentiation], eine Ausströmung [emanation] wie eine Kontraktion, aber weder eine Gruppe noch eine Anzahl von Individuen. Etienne Balibar weist darauf hin, dass es tatsächlich diese andauernde, dynamische Spannung ist, durch die die Multitude in Spinozas politischen Schriften charakterisiert ist.75 In der Tat war es Spinoza, der zwei wichtige Aspekte der Multitude hervorgehoben hat: Ihre Instabilität oder Volatilität und ihr Vermögen, sich selbst zu organisieren und eine kollektive, konstitutive Macht zu formen. Existiert die Multitude heute, oder ist sie eine politische Vision von etwas »Kommendem«? Demokratie impliziert keine Multitudes und eigent74 | Giorgio Agamben hat den umfassendsten Kommentar über moderne Souveränität vorgelegt, insbesondere was die Spannung zwischen »nacktem Leben« und souveräner Macht, die politische Inklusion der biologischen »Bevölkerung« [»population«] und dem exklusiven Status dieses biopolitischen Körpers betriff t: »Das heißt aber auch, daß die Konstituierung der menschlichen Gattung in einem politischen Körper sich mittels einer fundamentalen Spaltung vollzieht und daß wir im Begriff ›Volk‹ ohne Schwierigkeiten die kategorialen Paare ausmachen können, die für uns die originäre politische Struktur definiert haben: nacktes Leben (volk) und politische Existenz (Volk), Ausschließung und Einschließung, zoe und bios.« In: Giorgio Agamben: Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 187. 75 | Balibar stellt fest: »The less sovereignty is physically identified with one fraction of society (in the limiting case, with one individual), the more it will tend to coincide with the people as a whole, and the stronger and more stable it will be. But at the same time, the more difficult it will be to imagine its unity (its unanimity) and its indivisibility (its capacity for decision), and the more complicated it will be to organize them in practice.« In: Balibar: Spinoza and Politics, S. 57-58.
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lich ist eines der wesentlichen Angriffsziele der Multitude die repräsentative Demokratie (die Differenz zwischen »konstituierter« und »konstituierender« Macht, auf die Negri hinweist). Manches deutet darauf hin, dass Multitudes tatsächlich existieren, etwa im globalen AIDS-Aktivismus, in der Anti-Globalisierungsbewegung, in den »No Border«- und »Digital Commons«-Kampagnen und in der Idee einer internationalen Staatsbürgerschaft [global citizenship].76 Trotzdem wäre es ein Fehler, all die Spannungen und Widersprüche zu vergessen, die die Multitude ausmachen, ebenso wie die Unlösbarkeit [unresolvability] der Multitude, auf die Balibar hinweist. Fassen wir also zusammen: • Die Multitude ist zwischen dem Individuum und der Gruppe angesiedelt; sie ist eine »Mannigfaltigkeit von Singularitäten«. • Die Multitude operiert über Relationalität und Kooperation, die »das Gemeinsame« [»the common«] bzw. eine Schnittmenge von gemeinsamen Affekten, Themen und Erfahrungen konstituiert. • Die Multitude wendet sich gegen die Vertragstheorie und daher gegen die Unvermeidbarkeit der modernen Souveränität und des »Ausnahmezustands«. • Die zentrale Problematik der Multitude ist das »Problem der politischen Entscheidung«, oder genauer: wie das Gemeinsame [the common] unter Wahrung der Differenz hergestellt werden kann. • Die Frage, die sich die Multitude stellt, lautet: »Kann die Multitude sich selbst regieren?« anstelle der Frage, die der Multitude gestellt wird: »Ist die Multitude regierbar?« • Die gefährlichsten Seiten der Multitude – ihre Volatilität, ihre Unberechenbarkeit und ihre Instabilität – sind gleichzeitig ihre radikalsten Seiten: eine konstituierende Macht, eine kollektive Stimme und eine immanente Ethik.
Gibt es ein Leben der Multitude? Netzwerke, Schwärme und Multitudes sind nicht genug. Während sie Alternativen zur Tradition des modernen, souveränen politischen Körpers bieten, haben sie auch signifi kante Begrenzungen und entscheidende Probleme. Wenn Netzwerke, Schwärme und Multitudes brauchbare Modelle für eine radikale politische Ontologie sein sollen, ist es nötig, sie als Konzepte zu modifizieren. Netzwerke – so wie sie, basierend auf dem technischen, Euler-Kant’schen Paradigma, heute in der Netzwerk-Wissenschaft weiterentwickelt werden – 76 | Zur »Global Citizenship« siehe Hardt/Negri: Empire, S. 403-407.
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sind außerstande, Zeit, Dauer und dynamischen Wandel adäquat zu erfassen. Netzwerke werden zuallererst durch zeitliche Dynamiken konstituiert, d.h. als reale Netzwerke, die in und durch Zeit existieren, und müssen daher als lebendige Netzwerke verstanden werden. Diese Verlagerung erfordert ein Überdenken der konzeptuellen Voraussetzungen, die dem Netzwerkdenken inhärent sind, wie etwa die begriffliche Trennung zwischen »Knoten« und »Kanten«, das Wesen der Kausalität, die messbaren Qualitäten von Netzwerken und die Priorisierung von Knoten gegenüber Kanten. Das Konzept der Schwärme – basierend auf einem ethologischen oder biologischen Paradigma und heute weitergeführt in der Schwarm-Intelligenz-Forschung – ist beschränkt durch seine Unfähigkeit, die Teleologie von Schwärmen zu denken. Schwarm-Intelligenz- und Biokomplexitätsforschung haben Mühe damit, die konstitutiven Bedingungen von Schwärmen zu erklären oder zu analysieren, wie die Kriterien für Schwarmbildung [swarming] innerhalb des Schwarms funktionieren. Gegenwärtige Konzeptionen des Schwarms werden die spinozistische Zirkulation der Affekte im Schwarm-Verhalten stärker in Rechnung ziehen müssen, um analysieren zu können, in welcher Weise Schwärmen [swarming] immer auch affektives Schwärmen ist. Eine solche Perspektive würde Schwärme als konstitutive Kraft in den Blick nehmen, als die Instanz eines conatus (Strebens), der zugleich immer auch »Widerstand« bedeuten würde. Das Konzept der Multitudes – so wie es von Spinoza skizziert und in der aktuellen politischen Theorie weitergedacht wurde – spielt hier eine interessante Rolle, da es in vielen Fällen die technikbasierten Regime der Netzwerke und die biologiebasierten Regime der Schwärme vereint (beispielsweise im Fall der Smart Mobs, der Netwars oder des elektronischen zivilen Ungehorsams). Doch wenn das Konzept der Multitude Netzwerke und Schwärme vereint, wirft es auch einige möglicherweise unlösbare Fragen auf: Wie kann eine Gruppe sowohl als Mannigfaltigkeit [multiplicity] als auch als Singularität konstituiert werden? Wie können wir eine »Gemeinschaft ohne Einheit« ins Werk setzen? Wie ist in einer derartigen Mannigfaltigkeit, in der sich Heterogenität, Diversität und Differenz frei entfalten sollen, eine »politische Entscheidung« möglich, ohne dass auf die Tradition der Vertragstheorie rekurriert wird? In einem gewissen Sinne sind Multitudes nicht von Netzwerken und Schwärmen zu trennen; Netzwerke und Schwärme sind das, was Multitudes in eine Form bringt und transformiert. Für gewisse Situationen eignen sich Netzwerke besser, für andere Schwärme. Der Unterschied liegt in dem, was im jeweiligen Paradigma als »Kante« oder Relation bezeichnet wird. In Netzwerken wird eine Kante (oder Relation) oft durch eine Art tragendes System [facilitating system] ermöglicht, das von den Knoten oder Einheiten des Netzwerks unterschieden wird. Im paradigmatischen
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Fall von Computernetzwerken wären dies die Hardware-Elemente (Fasern, Netzknoten, Computer) und Software-Elemente (Anschlüsse, Links, Protokolle). In Computernetzwerken können Computer ohne Netzwerke existieren, aber nicht Netzwerke ohne die Computer. Im Gegensatz dazu basieren Schwärme weniger auf dem Austausch von Daten durch Kanäle als vielmehr auf der kontinuierlichen Modifikation von Handlungen und Bewegungen durch die affektiven Signale lokaler Zustände (eigener Zustand, Zustand des nächsten Nachbars, Umweltzustand). Nicht jede große Menschengruppierung bildet einen Schwarm. Sie mögen Menschenmengen, Massen oder Mobs sein, aber ein Schwarm ist eine spezifische Form kollektiver Organisation. Während eine Einzelperson zweifellos ohne einen Schwarm existieren kann, hängt ein Schwarm von einer spezifischen konstitutiven Macht der Individuen ab. Individuen werden in Schwärmen zu Individuen anderer Art, die lokalisierte Entscheidungsprozesse und Bewegung, Konsensbildung auf lokaler Ebene und eine affektive Kapazität (Zirkulation der Affekte) vereinen und so das Individuum mit dem gesamten Schwarm verknüpft. Darüber hinaus existieren Netzwerke und Schwärme in vielen Fallstudien nebeneinander. Der »Kampf von Seattle« ist ein Beispiel dafür. Auf der einen Ebene existierten selbstorganisierte Interessengruppierungen der Protestierenden, die durch das Direct Action Network koordiniert wurden. Diese Ebene bedeutete eine Schwarmbildung der Körper an spezifischen realen Standorten (Kreuzungen, Straßen, Gebäuden). Wie viele Kommentatoren aber festgestellt haben, wäre dieses Schwärmen nicht möglich gewesen ohne verschiedene Ebenen von Netzwerken, welche es den Protestierenden erlaubten, ihre lokalen Bewegungen zu koordinieren. Diese Ebene setzte sich wiederum aus mobilen und drahtlosen Geräten, Polizeiscannern und sogar Streaming-Videos zusammen. So gab es in diesem Fall eine Kombination von schwärmenden Körpern und Datenübertragungs-Netzwerken. Ähnliche Beispiele der Koexistenz von Schwärmen und Netzwerken lassen sich im Feld der Biologie beobachten. In der Ethologie besteht die Nahrungssuche bei Ameisen nicht nur im körperlichen Ausschwärmen individueller Ameisen. Was dem Schwarm ermöglicht, sein Ziel zu erreichen (also eine Nahrungsmittelquelle zu fi nden), ist der Informationsgehalt der Pheromonspuren. Pheromonspuren zu legen, bildet ein Datenaustausch-Netzwerk, das eine Botschaft kommuniziert (»Folgt diesem Weg!«) und es zugleich dem Schwarm ermöglicht, sein Gesamtziel zu erreichen. Auf einer mikroskopischen Ebene zeigt beispielsweise die Antikörper-Produktion im Immunsystem, dass zusätzlich zum Ausschwärmen der Antikörper und von anderen Ko-Enzymen ein Informationsnetzwerk existiert, das über die Signale von Molekülen untereinander operiert. Die Spezifität der Rezeptoren an der Zellwand funktioniert
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wie der Schlüssel eines Codes: sie bilden das genaue Gegenstück zur Oberflächenstruktur des Virus oder der von ihm infizierten Zellen. Trotz aller Ähnlichkeiten zwischen diesen Beispielen gibt es ebenso wichtige und offensichtliche Unterschiede. Beispielsweise wird der Begriff »Information« in jedem Fall unterschiedlich defi niert. Im Fall des dezentralisierten Dissens ist Information eine immaterielle, abstrakte Entität, die in eine Botschaft (ein E-Mail, eine Website, eine Nachricht in der Mailbox, eine SMS) verpackt wird. In diesem Fall folgt die Information dem klassischen Kommunikationsmodell der Informationstheorie: eine Botschaft, die durch einen von der Botschaft selbst zu unterscheidenden Kanal übermittelt wird. Im Gegensatz dazu liefert das biologische Beispiel der Immunologie (und der Molekularbiologie im Allgemeinen) uns eine gänzlich andere Auffassung von Information. Während man die DNA gewöhnlich als »Code« bezeichnet, ist dies vor allem eine nützliche Metapher, die den strukturellen Eigenschaften der DNA und anderen Molekülen des Körpers aber nicht gerecht wird. In der Antikörper-Produktion, bei Virusinfektionen, im Zellstoff wechsel und in einer ganzen Reihe anderer biologischer Prozesse kann die Botschaft nicht vom Kanal getrennt werden. Information ist dabei gänzlich materiell, chemisch und physikalisch. Die Synthese eines Proteinmoleküls aus einer Reihe von DNA-Sequenzen beinhaltet keine Übertragung von Informationsbotschaften über einen Kommunikationskanal. Sie bildet eine koordinierte Reihe von materiellen Relationen zwischen Molekülen (DNA, RNA, Aminosäuren, Enzymen, Lipiden). Auf der molekularen Ebene existiert keine Botschaft, sondern nur eine Reihe von materiellen Interaktionen, etwa die Produktion von Antikörpern des Immunsystems oder die Umwandlung von Substanzen innerhalb der Zelle. In diesem Sinne gibt es keine Information, nur Deformation und Transformation. Kommen wir also noch einmal zurück zu den zwei Spannungsachsen innerhalb solcher Gruppenphänomene: Kollektivität/Konnektivität und Muster/Zweck. Auf der Oberfläche verhalten sich diese beiden Achsen zueinander isomorph. Genauso wie Kollektivität durch ihren Zweck konstituiert wird, kreiert Konnektivität Muster von Verknüpfungen und Relationen. Netzwerke und Schwärme sind jedoch signifikant unterschiedliche Organisationsformen. Wenn Kollektivität mehr als eine Zahl (d.h. mehr als eine große Anzahl von Einheiten) ist, dann ist es der Zweck, der die Kollektivität kennzeichnet (ein Zweck aber, der von innen heraus formuliert und initiiert wird). Das gleiche gilt für die Konnektivität: Wenn sie mehr als eine zufällige Verknüpfung oder Relation sein soll, ist es das Muster, das sie kennzeichnet. Netzwerke sind folglich jene Formen einer dezentralen [distributed] Organisation, die Konnektivität (bedingt durch Muster) ermöglichen. Genauso sind Schwärme jene Formen dezentraler Organi-
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sation, die Kollektivität (bedingt durch Zwecke) ermöglichen. Dies liefert uns die Kriterien für Netzwerke wie Schwärme: Netzwerke können durch Konnektivität eine Kollektivität bilden, während Schwärme eine Konnektivität initiieren können – jedoch nur mittels Kollektivität. Jede politische Ontologie dezentraler Organisation muss sich somit einer Reihe von Herausforderungen stellen. Die Fähigkeit einer Gruppe, sich politisch (und nicht nur auf technologische oder biologische Weise) zu mobilisieren, hängt von ihrer Fähigkeit ab, sich diesen Herausforderungen zu stellen: • Eine fundamentale Herausforderung wird die Entwicklung einer »taktischen« Kombination von Konnektivität und Kollektivität sein. Diese Spannung liegt im Innersten der Netzwerke und Schwärme und äußert sich am ehesten im politischen Beispiel der Multitudes. Die Spannung zwischen individueller Erfahrung, politischer Ideologie und der Praxis von Individuen und Gruppen ist nur durch die Entdeckung der geeignetsten Kombination von Kollektivität und Konnektivität zu lösen. • Eine weitere Herausforderung wird darin bestehen, »Kontrolle« innerhalb von Netzwerken, Schwärmen und Multitudes zu verstehen. Ein Netzwerk oder Schwarm ist nicht nur ein arbiträres Muster, sondern eine gerichtete Bewegung, die eine materielle Basis für Konsens oder »das Gemeinsame« voraussetzt. Entgegen der verfrühten optimistischen Sicht von Netzwerken und Schwärmen als Beispiele für die »Abwesenheit von Kontrolle«, muss das Wesen der Kontrolle innerhalb der spezifischen Ontologie dezentralen Verhaltens neu gedacht werden. Und das heißt auch, über die Unterschiede zwischen Kontrolle, Autorität und Zwang als unterschiedliche Typen einer Machtdynamik in solchen Gruppenphänomenen nachzudenken. • Die Herausforderung, Kontrolle neu zu denken, bedeutet für Netzwerke, Schwärme und Multitudes auch, dass sie einen inneren Kontrollmodus benötigen, um dezentral operieren zu können. Die Aktualität der Konzepte Netzwerk, Schwarm und Multitude zeigt, dass wir in der Lage sein müssen, eine Form von Kontrolle zu denken, die dem dezentralen Verhalten immanent und inhärent ist. Dies bedeutet mehr als über die Selbstdetermination von Individuen und Gruppen nachzudenken; es bedeutet, über Selbstdetermination als Selbstorganisation nachzudenken. • Und schließlich erfordert eine politische Ontologie der Netzwerke, Schwärme und Multitudes die Revision vieler zentraler Begriffe des politischen Denkens wie »Macht«, »Recht« und »Demokratie«. Diese Begriffe sind wiederum mit philosophischen Fragen verbunden, nämlich den Fragen der Individuation, Mannigfaltigkeit und Materialität. Dies mag einfach sein, wenn man die Struktur des dezentralen Dis-
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sens (Politik) in Termini lebendiger Systeme (Biologie) reformuliert. Es kann aber auch bedeuten, politische Konzepte (wie »das Volk«) in einen Dialog mit technischen oder wissenschaftlichen Konzepten (wie »die Meute« oder »das Netzwerk«) zu bringen. Jenseits dieser Aufgaben aber sorgen die Unvorhersehbarkeit, die Instabilität und Unkontrollierbarkeit von Netzwerken, Schwärmen und Multitudes auch für Besorgtheit. Ihre Faszinationskraft liegt nicht zuletzt darin, dass ihre Organisationsform mit dem Fehlen zentralisierter Kontrolle auch eine Beunruhigung über diesen Kontrollverlust mit sich bringt. Es scheint den Wunsch zu geben, die Verbreitung von Netzwerken, Schwärmen und Multitudes zu fördern, aber gleichzeitig auch das Bedürfnis, diese wiederum kontrollieren und instrumentalisieren zu können. Besonders deutlich wird dieser Widerspruch im Diskurs der Massenmedien, wo ein Netzwerk wie das Internet einerseits als Instrument für die Globalisierung der Demokratie beworben wird, und andererseits die Angst vor amorphen Terrornetzwerken innerhalb der USA geschürt wird. Schwarm-Verhalten kann für einen Augenblick ein Beispiel für die neue Form eines Anti-Globalisierungs-Dissens bilden und im nächsten Moment als militärische Strategie zur Sicherung der politischen Vorherrschaft eingesetzt werden. Vielleicht ist es der Zweck der Multitude als Konzept, permanent zwischen diesen Spannungen zu vermitteln. Netzwerke, Schwärme und Multitudes scheinen gleichzeitig überall und allgemein, aber dennoch nirgendwo spezifisch zu sein. Die politische Phantasie, die als Nebenprodukt dieses Widerspruchs entsteht, ist die einer »Kontrolle ohne Kontrolle«: das absolut dezentrale, selbstorganisierende, flexible und widerstandsfähige Organisationsmodell, das für gewisse Zwecke eingesetzt werden, Menschen mobilisieren und deren Ziele und Intentionen global artikulieren kann.77 Aus dem Amerikanischen übersetzt von Tara Hill, Eva Horn und Lucas Marco Gisi
77 | Mein Dank geht an Harry und Dot Bowers, die mir ein Umfeld zum Forschen und Schreiben zur Verfügung gestellt haben. Ebenfalls danke ich CTheory für ihre redaktionelle Unterstützung.
Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge Michael Gamper
Beschreibungen von ›Massen‹ als ›Schwärme‹ beobachten zu wollen, heißt zu verfolgen, wie eine Metapher durch eine andere ergänzt, erweitert oder ersetzt wird. Beide Worte haben als Bezeichnungen für eine Vielheit von Menschen eine wechselreiche Geschichte, die hier in ihrer Bezogenheit skizziert und in einer historischen Konstellation, der Massenpsychologie des späten 19. Jahrhunderts, genauer untersucht werden soll. Dieses Interesse trägt sich einerseits ein in die Faszinationsgeschichte zentrumsloser Kollektive, anderseits betriff t sie das weite Feld der Vergleiche von Tier und Menschenmenge. Es handelt sich bei diesem Untersuchungsfeld also um den Spezialfall eines umfassenderen kulturgeschichtlichen Topos, nämlich der Analogie von menschlicher und tierischer Soziabilität. In dessen Rahmen wurden seit der Antike von Autoren wie Aristoteles,1 Plinius,2 John Day,3
1 | Aristoteles: Die Lehrschriften: Tierkunde, übers. u. hg. v. Paul Gohlke, Paderborn: Schöningh 1949, 488a. 2 | Gaius Plinius Secundus: Naturkunde, lateinisch-deutsch. C. Plinii Secundi Naturalis historiae Libri XXXVII, übers. u. hg. v. Roderich König et al., München: Heimeran 1973-1996, Buch XI, Kap. IV, Abschnitt 11-12, S. 24f. 3 | John Day: The Parliament of Bees, with their proper characters. Or a Beehive furnisht with twelve hony-combes, as pleasant as profi table. Being an allegoricall description of the actions of good and bad men in these our daies, London: William Lee 1641.
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Bernard Mandeville, 4 Carl Vogt5 und Auguste Forel,6 um nur einige wenige bekannte Namen zu nennen, Ameisen und Bienen als politische und staatsbildende Wesen dargestellt, und berühmte Ameisenforscher wie Edward O. Wilson oder Bert Hölldobler haben menschliche Gesellschaftsformen zur Erklärung des Tierlebens beigezogen.7 Hier soll aber nicht die Rede sein von institutionell gesicherten Sozialformen, bei denen Tier und Mensch metaphorisch oder konzeptuell in Zusammenhang treten, vielmehr geht es um institutionell nicht gesicherte, bewegte und auf nicht durchschaubare Weise koordinierte Vielheiten von Wesen, in denen die einzelnen Elemente scheinbar komplett als Funktionsteile des Ganzen aufgehen. Es geht also eben um die Menschenmasse und ihre rhetorische und diskursive Kopplung mit vergleichbaren Eigenschaften und Verhaltensweisen aus dem Tierreich, eben dem Schwarm. Die Absicht, von der Menschenmasse reden zu wollen, bedarf der definitorischen Präzisierung. Wenn hier von ›Masse‹ gesprochen wird, dann ist damit ein Phänomen der gesellschaftlichen Moderne gemeint, das als Gegenstand des Wissens im 18. Jahrhundert im bevölkerungspolitischen Dispositiv der Policeywissenschaften und der Politischen Ökonomie erscheint und in der kritischen Auseinandersetzung von Schriftstellern, Publizisten und Philosophen mit diesem Dispositiv als Negativkonzept begriffliche Konturen gewinnt. ›Masse‹ meint so die unübersehbare Anzahl der Vielen, das soziale und biologische ›Material‹, das in Statistik und politischen Maßnahmekatalogen als steuerbare Menge auftaucht und mit dem durch gouvernementale Akte der Zusammenfassung, Verteilung und Inbezugsetzung ökonomische und politische Effekte zu Gunsten des allgemeinen Besten erzielt werden sollten. ›Masse‹ waren diese Vielen in den Augen der Kritiker dieser bevölkerungspolitischen Konzepte, etwa von Möser, Herder und Schiller, weil sie, gemäß der Etymologie des Worts, als konturloser, beliebig formbarer ›Teig‹ behandelt wurden, dessen einzelne 4 | Bernard Mandeville: The Fable of the Bees, London: E. Parker 1714. 5 | Carl Vogt: Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt 1851. 6 | Auguste Forel: Les fourmis de la Suisse. Systématique, notices anatomiques et physiologiques, architecture, distribution géographique, nouvelles expériences et observations de mœurs, Zürich: Schweizerische Gesellschaft 1874; Auguste Forel: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und einiger anderer Insekten mit einem Anhang über die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes bei jenen Tieren, München: E. Reinhardt 1901. 7 | Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Ants, Berlin, Heidelberg: Springer 1990. – Der Beitrag von Eva Johach im vorliegenden Band geht auf diese Thematik differenzierter ein.
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Bestandteile nicht mehr wahrnehmbar und deren Individualität funktionslos war. Als positive Gegenbegriffe wurden, mit einigem diskursiven Erfolg, Termini wie ›Mensch‹, ›Volk‹ und ›Menschheit‹ emphatisch besetzt – ›Masse‹ war dabei der profi lierende Rahmen, der die Grenzen der neuen Konzepte markierte. ›Gleich‹ bzw. ›nivelliert‹ waren die Angehörigen dieser ›Masse‹, weil sie, wie dies schon Hobbes im Leviathan konzipiert hatte, alle in derselben Weise gegenüber dem Souverän unterworfen waren.8 Hungeraufstände in Frankreich und die Gordon Riots in London, vor allem aber die Französische Revolution demonstrierten dann, wie aus der ›virtuellen‹, ›latenten‹ ›Masse‹ eine ›aktuelle‹ ›Masse‹ werden konnte, die als politische Kraft auftrat und die bestehenden Machtverhältnisse umzustürzen in der Lage schien. »[W]ildgärende Masse« war die aufrührerische Menschenmenge – so bezeichnete sie Friedrich Gentz in der Übersetzung der Revolutionsschrift von Edmund Burke9 – ebenfalls auf Grund der Gleichheit der Glieder, des Zurücktretens des Einzelnen ins Kollektiv; nur war dieses Kollektiv nun nicht mehr verfügbares, ›träges‹ Material in der Macht der Obrigkeit, sondern eine dynamische Gewalt, welche diese Obrigkeit obsolet zu machen drohte. Diese Doppeltheit der ›Masse‹ und die konzeptuelle Verknüpfung der beiden ›Masse‹-Typen machen das politische Skandalon dieses Phänomens und dessen spezifisch moderne Signatur aus. Skandalon ist die Masse aber auch, weil sie sich den epistemologischen und ästhetischen Paradigmen widersetzt. Die Masse entgeht den am Individuum orientierten Erkenntnispraktiken der Humanwissenschaften und verweigert sich, wie Cornelius Castoriadis gezeigt hat, rational und mengenlogisch fundierten Wissensformen; die Masse überfordert aber auch durch ihre Ausdehnung, ihre Mannigfaltigkeit und ihre Dynamik die menschlichen Wahrnehmungsvermögen und entzieht sich den zur Verfügung stehenden medialen Darstellungstechniken. Deshalb gibt es ›Masse‹ einerseits als konkretes, momentanes Ereignis, als eine performative Erfahrung, anderseits als eine irreduzible Vielheit von Konzepten und Bildern, als ein die Repräsentationstechniken an und über die Grenzen hinaus führender Gegenstand. Das Phänomen der 8 | Vgl. dazu und zum Folgenden die ausführlichere Darstellung dieser Sachverhalte in Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskursund Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2007. 9 | Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution [1790], aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz [1793]: Gedanken über die französischen Angelegenheiten, aus dem Englischen übertragen von Rosa Schnabel, hg. v. Ulrich Frank-Planitz, Zürich: Manesse Verlag 1987, S. 147
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unzählbar Vielen und ihres Zusammenkommens verdankt seine Begriffswerdung denn auch einer Metapher, auf deren unterschiedlich konnotierte Bildspendebereiche aus Philosophie, Physik und Alltagssprache auch nach ihrer Habitualisierung immer wieder zurückgekommen wird. Dies belässt Bezeichnung und Phänomen stets in einem Zustand der vieldeutigen Beziehbarkeit. Das Phänomen Masse verlangt deshalb immer wieder nach neuen Bildern, um sprachlich repräsentierbar zu werden, und zu diesen Bildern gehören auch diejenigen aus der Tierwelt. Dabei stehen diese Bilder stets im Dienste einer diskursiven Konstruktion der Masse, nach deren Semantiken, Kontexten und Wirkungen bei jeder Analyse jeweils zu fragen ist.
I. Eine in dieser Weise angelegte Geschichte des Masse-Tier-Vergleichs in der Neuzeit kann bei Goethes Besuch in Verona 1786 und dessen literarischer Verarbeitung ansetzen. Goethe imaginierte, sich dabei auf seine Horaz-Lektüre stützend, im leeren Amphitheater die Menge als »das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, schwebende Thier […] zu Einem Ganzen vereinigt, zu Einer Einheit gestimmt, in Eine Masse verbunden und befestigt, und zu einer Form gleichsam von Einem Geiste belebt«.10 Goethe kontrastierte dabei das »Thier […] Masse« mit dem »Volck«, das »sonst nur gewohnt ist, sich durch einander laufen zu sehn«,11 und entwarf so, gegen die Wahrnehmungs-Zumutung einer wimmelnden, unkontrollierbaren Menge, das Bild des vielköpfigen Tiers als ästhetisch gebannter Einheit – ein Verfahren, das er später in der Schilderung des römischen Karnevals wiederholen sollte. Ein solcher historischer Aufriss kann dann fortgesetzt werden mit Joachim Heinrich Campes Briefen aus Paris während der Französischen Revolution geschrieben, in denen der vom politischen Umsturz begeisterte deutsche Auf klärer 1789 die irritierenden Geschehnisse auf den Straßen von Paris zu schildern versuchte. ›Versuchte‹ ist hierfür insofern die richtige Formulierung, als Campe, der sich gerne »von dem Strome dieser wallenden Volksmenge selbst stundenlang gefl issentlich fortreißen« ließ,12 größte Mühe bekundete, seine Eindrücke in eine druckreife Ordnung zu bringen. 10 | Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (= Frankfurter Ausgabe), hg. v. Friedmar Apel et al., Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985ff., Bd. I.15.1, S. 642. 11 | Ebd. 12 | Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris während der Französischen
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Denn die Menschenmenge erzeugte eine »zahllose Menge neuer Bilder, Vorstellungen und Empfi ndungen, die wie junge Bienenbrut dem Beobachter bei jedem Schritte, den er tut, hier jetzt schwärmend zufliegen«.13 Es ist also nicht die Menge selbst, die als Schwarm wahrgenommen wird, vielmehr sind es die von ihr hervorgerufenen äußeren und inneren Wahrnehmungen, die die Qualität einer unübersehbaren, nicht differenzierbaren und unkontrollierbaren Vielheit angenommen haben. Es ist das unsemantische »Rauschen des Menschenstroms«, das auch durch »Fenster, Türen und Wände bis in mein abgelegenes Kämmerlein« dringt, das als »eingesammelte[] Ideen- und Empfi ndungsmasse« das mentale »Chaos« immer »noch chaotischer« mache.14 Taugen bei Campe die Metaphern von Masse und Schwarm dazu, die Schreibkrise angesichts der revolutionären Menschenmenge wenn nicht zu lösen, so doch zumindest anschaulich machen zu können, so bietet bei Georg Forster das Gleichnis von einem »gedrängten Schwarm […] kleiner Leuchtkäfer« wiederum die Möglichkeit, die unfassbaren neuen Verhältnisse wenigstens in einem sprachlichen Bild zu repräsentieren.15 Wie Menschenmenge und neues Gemeinwesen in Frankreich »ein Ganzes« bilden, »das dem Philosophen sein Concept verrückt«, 16 soll der Mückenschwarm ein aus vielen kleinen Elementen zusammengefügtes, aber nur als Menge mit sich wandelnden Konturen Gestalt gewinnendes Wesen veranschaulichen. Der Schwarm wird damit zum erzählten Bild, das einzig für den deutschen Leser die irreduzible Komplexheit der neuen sozialen Wirklichkeit wiedergeben kann. Und diese Geschichte des Masse-Tier-Vergleichs kann sich erstrecken bis zu den Theorien der Swarm Intelligence des letzten Jahrzehnts, über die Eric Bonabeau, Marco Dorigo und Guy Theraulaz in ihrem gleichnamigen Buch sagen: »The social insect metaphor for solving problems has become a hot topic in the last five years.« 17 Die Probleme, die dabei gelöst werden, sind solche der Optimierung von Vorgängen in Einheiten der großen Zahl, ohne dass diese von einer höheren Instanz ausgedacht Revolution geschrieben [1789/90], hg. v. Helmut König, Berlin (Ost): Rütten & Loening 1961, S. 137. 13 | Ebd., S. 113. 14 | Ebd., 113f. 15 | Georg Forster: Werke in vier Bänden, hg. v. Gerhard Steiner, Leipzig: Insel o.J., Bd. 3, S. 749. 16 | Ebd., S. 750. 17 | Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. xi.
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und angeordnet werden. Es geht also um die selbstorganisierende Kraft von ungelenkten Vielheiten, die in der Problemlösung cleverer sind als die Summe der beteiligten Einzelorganismen.18 Der Ameisenhaufen und seine Organisation werden dabei zum strukturellen Vorbild für komplexe Prozesse der Massengesellschaft wie etwa für die optimale Verteilung von Heizöllieferungen oder den Paketversand der Post. ›Masse‹ ist hier kein wahrnehmungstechnisches Problem mehr wie noch bei Goethe, das in der Tier-Metapher stillgestellt wurde; sie ist auch kein politisches Rätsel mehr, wie sie die Vergleiche von Forster und Campe noch deuteten. Vielmehr hält sie nun die Aufgabe zur Koordination von unübersehbar vielen Elementen und von deren Bewegungen bereit, für deren Bewältigung Tiere Modell bildend sind; es geht hier nicht mehr um eine ästhetische Ordnung, die durch Imagination, Rhetorik und Intertextualität hergestellt werden soll, sondern um eine funktionale Ordnung der Gesetze und Regeln, die mit Datenerhebung, Mathematik und Kybernetik gebildet wird und ihren Entstehungsherd im Jahrzehnt zwischen 1830 und 1840 hat. Die Genealogie solcher Verwandlungen »from Natural to Artificial Systems«, wie der Untertitel des Buches von Bonabeau, Dorigo und Theraulaz lautet, findet den epistemologischen Ermöglichungsgrund dieser Tier-Masse-Analogie in Adolphe Quetelets Kombination von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, in jenem diskursiven Ereignis also, das die Sozialstatistik als, wie Wilhelm Lexis es formulierte, »Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft« begründete.19 Sozialstatistik als die Wissenschaft homogener Ereignisse war somit der Ausgangspunkt einer sich vielfältig verfeinernden Massenanalyse, die bis heute Masse als Problem und Aufgabe von Berechnung und Verteilung erkennt, dabei aber auch immer wieder an Grenzen der Erklärbarkeit gerät. Swarm Intelligence steht so gleichermaßen für ein letztlich rätselhaftes Aufsteigen von Sinn und Bedeutung aus der Materie wie für deren weitere Nutzbarmachung.
18 | Zur Thematik der Swarm Intelligence und ihrer ästhetischen Faszination vgl. den Beitrag von Sebastian Vehlken in diesem Band. 19 | Dazu ausführlich: Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 308-323. Das Zitat ist dem Titel von Wilhelm Lexis: Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft, Freiburg i.Br.: Wagner 1877, entnommen, einem Hauptwerk eines wichtigen Vertreters der deutschen Sozialstatistik.
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II. Der Bedeutung des Tier-Vergleichs für die Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Masse soll im Folgenden am Beispiel einer weiteren neuralgischen Stelle untersucht werden, nämlich anhand der Gründungsszenarien der so wirkungsmächtigen Massenpsychologie, die zwischen 1890 und 1895 zunächst aus den Rivalitäten der französischen und italienischen Kriminologie hervorging und dann von Gustave Le Bon popularisiert wurde. Dabei möchte ich zeigen, inwiefern Lektüre- und Montage-Akte Diskurs erzeugende Ereignisse sein können und wie durch Transfers zwischen verschiedenen Forschungskontexten Umdeutungen von Wissenselementen mit weit reichenden Konsequenzen von statten gehen. Und ich möchte zeigen, wie anhand von Tier-Vergleichen und Tier-Metaphern, also anhand von funktionalen und attributiven Übertragungen, sich eine prekäre Faszinationsgeschichte der Masse erzählen lässt. Eröffnet wurden die Versuche einer Formalisierung der Massenpsychologie 1890 von Gabriel Tarde in seiner Philosophie pénale. Tarde wandte sich dort den sozialen Ursachen des Verbrechens und dabei auch dem »seltsamen Phänomen« der »Masse« (»foule«) zu, das für den Tatbestand der Kollektivverbrechen, der Straftaten bei Aufruhr, Demonstrationen oder durch Bandenkriminalität, wesentlich war. Er richtete sich damit gegen die positivistische italienische Rechtsschule von Cesare Lombroso und Enrico Ferri und gegen deren Tendenzen, Verbrechen in Erbanlage und Psychophysiologie der Täter begründet zu sehen. Tarde interessierte sich dabei vor allem für den Vorgang der Einswerdung der Menge, wenn sich in einem »Haufen von heterogenen Elementen, die einen den anderen unbekannt«, durch einen »Funken von Leidenschaft« eine »Art von unerwarteter, spontaner Organisation« herstelle: »Aus Inkohärenz wird Kohäsion, aus Lärm wird Stimme, und diese Tausende von zusammengepferchten Menschen bilden nur noch eine einzige und unvergleichliche Bestie, ein scheußliches und monströses Raubtier, das mit einer unwiderstehlichen Bestimmtheit sein Ziel verfolgt.«20 Die Formierung der Masse als Tier verdankt sich hier nicht wie bei Goethe einer dichterischen Ima20 | Gabriel Tarde: La philosophie pénale [1890], Lyon: Storck 41903, S. 324:
»Une foule est un phénomène étrange: c’est un ramassis d’éléments hétérogènes, inconnus les uns aux autres; pourtant dès qu’une étincelle de passion, jaillie de l’un d’eux, électrise ce pêle-mêle, il s’y produit une sorte d’organisation subite, de génération spontanée. Cette incohérence devient cohésion, ce bruit devient voix, et ce millier d’hommes pressés ne forme bientôt plus qu’une seule et unique bête, un fauve innommé et monstrueux, qui marche à son but, avec une finalité irrésistible.« Übersetzung M.G.
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gination und profundem Lateinunterricht; vielmehr ist sie die rhetorisch auf den Punkt gebrachte Konsequenz intensivierter ›normaler‹ sozialer Interaktion. Tarde konnte sich dabei auf sein Hauptwerk Les lois de l’imitation beziehen, in dem er die kulturbildende Kraft der Gesellschaft mit der suggestiven Wirkung der »Nachahmung« (»imitation«) erklärt hatte. Aus der kollektiven assimilierenden Umwandlung der individuell entwickelten Ideen entstehe ein komplexes, heterogenes Geflecht von unilateralen und wechselseitigen Beeinflussungen, das den Sozialverband sowohl durch die beständige Interaktion als auch durch die in Gesetzen, Organisationen, Institutionen etc. sich materialisierenden Konstanten zusammenhalte. 21 Entstehe etwa beim Austausch zweier Menschen über die Musik Wagners und den realistischen Roman eine »zivilisatorische Wirkung«, so verkehre sich durch die multiplizierte »reziproke Nachahmung« das Ergebnis.22 Es entstehe eben jenes kollektive »Raubtier«, das sich so leicht zur »folie guerrière«, zum »Kriegswahnsinn« hinreißen lasse.23 Dabei konnte sich Tarde auf Hippolyte Taines weit verbreitete Ausführungen über die Französische Revolution beziehen, wo dieser »an die Stelle des Bauers, des Arbeiters, des Bürgers […] das einstige Thier« treten sah, das als »blutdürstige[r], grinsende[r], schadenfrohe[r] Affe […] hohnlächelnd mordet und inmitten der angerichteten Verheerung lustige Sprünge macht«.24 Taine überbietend, betrachtete Tarde aber nicht den Einzelmenschen in der Menge als Tier, sondern sah die ganze Masse zum Tier zusammenwachsen. Verdankte sich so bei Tarde der Tier-Vergleich darwinistischen Reversions-, Regressions- und Atavismus-Spekulationen25 und der Technik des impliziten Zitats, so zitierte Scipio Sighele dagegen explizit. Der italienische Kriminalist, Anthropologe und Jurist übernahm in seiner Abhandlung La folla delinquente Passagen aus Alfred Espinas’ 1878 publiziertem Buch Des sociétés animales, das sich mit dem Zusammenleben und Verhalten der Tiere beschäftigte. Sighele inserierte in seine Ausführungen zur »Psycho-Physiologie der Masse« einen dreiseitigen Auszug aus Espinas’ Beobachtungen der Wespen. Espinas schildert dort, auf welche Weise die Wachen der Wespen ihren Gefährten mitteilen, dass ein Feind anwesend sei und Gefahr drohe. Espinas schrieb dazu:
21 | Vgl. Gabriel Tarde: Les lois de l’imitation [1890], Paris: Le Seuil 2001. 22 | Tarde: La philosophie pénale, S. 325. 23 | Ebd., S. 325f. 24 | Hippolyte Taine: Die Entstehung des modernen Frankreich [1875-93], autorisierte deutsche Bearbeitung von Leopold Katscher, 2., veränderte Aufl., 3 Bände in 6 Teilbänden, Leipzig: Abel & Müller o.J. [1893], Bd. II/1, S. 75. 25 | Vgl. Gamper: Masse lesen, S. 366-368.
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Um die Thatsache zu erklären, brauchen wir uns nur vorzustellen, wie Zorn und Beunruhigung von einem Individuum auf ein zweites übergehen. Von dem allgemeinen Aufruhr fortgerissen wird jedes durch diesen schnellen Eindruck plötzlich erregte Individuum herauseilen und sich auf das erste beste Wesen stürzen, namentlich wenn dieses fl ieht, da jedes Thier durch das Erblicken der Bewegung fortgezogen wird. Somit erübrigte uns nur noch die Erklärung, wie die Gemüthsbewegungen der ganzen Masse [toute la masse] sich mittheilen; worauf wir antworten: einfach durch den Anblick eines erregten Thiers. In dem ganzen Gebiete des intelligenten Lebens ist es ein allgemeines Gesetz, dass die Vorstellung eines erregten Zustandes denselben Zustand in dem Zuschauer entstehen lässt.26 Soweit Espinas. Sighele wiederum sah in dieser »meisterhafte[n] Schilderung […] klar und deutlich die physiologische Erklärung der Psychologie der Masse« (»folla«) gegeben.27 Neu daran war, dass es nun strukturelle Formen der Interaktion, nicht mehr Eigenschaften einzelner Exemplare waren, die, aus dem Bereich der Tiere stammend, auf die soziale Welt des Menschen angewendet wurden. Doch auch diese funktionalen Modelle implizierten und evozierten neue Bilder des Sozialen, die nun eher metonymisch als metaphorisch wirkten. Es war Sighele in dieser Weise möglich, die ›Masse‹ als Schwarm zu konzipieren, also als nicht-gelenkte, selbst organisierte und in ihrem Verhalten koordinierte Vielheit, die nicht als kompakter Körper gedacht werden musste. Damit brach Sighele mit einer Tradition, auf die sich Tarde noch bezogen hatte: Er ließ das Kollektiv nicht mehr als organischen Körper Bild werden, sondern als ein Agglomerat der Einzelnen, als ein durch Kommunikationsakte zusammengehaltenes Ensemble, das sich gemäß den äußeren Umständen formte und organisierte. Es war nicht mehr der ins Monströse verformte ehemalige Körper des Königs, der bei Tarde 1890 noch einmal sein Haupt erhoben hatte, sondern es war vielmehr ein ethologisch fundiertes ›kollektives Gespenst‹, das bei Sighele sein Unwesen trieb – und damit ein Nachfahre jenes geisterhaften Mückenschwarms, den Forster 1793 in Parisische Umrisse zum Modell nachrevolutionärer sozialer Figuration erklärt hatte.28 26 | Alfred Espinas: Die thierischen Gesellschaften. Eine vergleichend-psychologische Untersuchung [1878], nach der vielfach erweiterten 2. Aufl. unter Mitwirkung des Verfassers, übers. u. hg. v. W. Schlosser, Braunschweig: Vieweg 1879, S. 343f. 27 | Scipio Sighele: Psychologie des Aufl aufs und der Massenverbrechen [1891], autorisierte deutsche Übersetzung von Hans Kurella, Dresden, Leipzig: Reissner 1897, S. 73 und S. 70. 28 | Zum Konzept der ›kollektiven Gespenster‹ und zur Relevanz von
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Was so in vielerlei Hinsicht auch auf Swarm Intelligence vorauszudeuten scheint, war bei Sighele aber anders konnotiert und kontextuell eingebunden. Espinas hatte in der geschilderten Weise das Geheimnis der Kommunikation der Wespen gelüftet geglaubt, für Sighele hingegen war das Espinas-Exzerpt der Schlussstein einer längeren anthropologischen Argumentation mit juristischer Pointe. Ihm ging es darum, die Konstitution einer »Seele der Masse« psycho-physiologisch zu erklären, 29 deren Zustandekommen er mit einer Passage aus Guy de Maupassants Sur l’eau, also mit einem literarischen Zitat, veranschaulicht hatte.30 Für die wissenschaftliche Erklärung dieses Phänomens war Sighele prinzipiell Tarde gefolgt, indem er auf die Wirkungen von »Nachahmung« und »Suggestion« verwies.31 Die Suggestion in der Masse beschrieb er ebenfalls als intensivierte Form eines gewöhnlichen sozialen Vorgangs, der durch »die Einheit des Ortes und der Zeit und die unmittelbare Berührung vieler Individuen untereinander« die Geschwindigkeit der Erregungsübertragung steigere und so zur »epidemischen Form« gelange.32 Wie bei Tarde betraf der TierVergleich also den gleichen neuralgischen Punkt des ›Masse‹-Verhaltens, nämlich jenen kritischen Moment des Umschlags, der Koordination der Vielen zur Einheit, die Canetti später als »Entladung« beschreiben sollte.33 Im Gegensatz zu Tarde aber zielte Sighele nicht auf eine soziale bzw. kulturalistische Begründung von Imitation und Suggestion, sondern auf einen physiologisch sich manifestierenden anthropologischen Beweis für die Konstitution einer »Seele der Masse«. Diesen glaubte er bei Espinas gefunden zu haben, dessen bloße Beschreibung ihm, gemäß der positivistischen Doktrin und wie bereits zitiert, auch schon Erklärung war. Der Nachweis einer »Seele der Masse« diente bei Sighele einem präzise umrissenen argumentativen Zweck. Für Espinas waren die intensive Interaktion, die enge psychische Bindung und ein hohes Niveau von Zusammenarbeit Hinweise auf fortgeschrittene soziale Formen gewesen; seine Schilderungen von Wespen und Ameisen sollten zeigen, wie einfache Weisen der Koordination zu »Differenzierung der Thätigkeit und Functionen«
Forsters Text dabei vgl. Michael Gamper/Peter Schnyder: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg i.Br.: Rombach 2006, S. 7-26. 29 | Sighele: Psychologie des Aufl aufs, S. 45. 30 | Vgl. ebd., S. 41-43. 31 | Vgl. ebd., S. 45-74. 32 | Vgl. ebd., S. 69. 33 | Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg: Claasen Verlag 1960, S. 14-16.
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und damit zur »höhere[n] Stufe eines socialen Organismus« führten.34 Deshalb verstand er seine ethologischen Arbeiten als »Propädeutik für die Soziologie« und konzipierte sie als Beitrag zum besseren Verständnis der Politik seiner Zeit, der nach der Krise von 1870/71 die pragmatischen Werte eines friedlichen sozialen Zusammenlebens vermittelt werden mussten.35 Bei Sighele hingegen illustrierte das Zitat gerade das Gegenteil, nämlich die Primitivität solchen Kollektivverhaltens. Es trug dazu bei, die erklärte Absicht seines Buchs zu stärken, eine Tätigkeit von vernunftgeleitetem Handeln beziehungsweise von freiem Willen in der Menschenmenge zu widerlegen. Sigheles Arbeit war in gewisser Hinsicht eine Auftragsarbeit im Dienste seines Lehrers Ferri, der die damals in Italien anstehende Justizreform zur Revision des klassischen, auf den freien Willen und damit die Zurechnungsfähigkeit des Individuums gegründeten Strafrechts nützen wollte. Die von Ferri in Anschlag gebrachten biologischen, physio-chemischen und sozialen Faktoren des Verbrechens36 zeichneten das verbrecherische Individuum als weitgehend determiniertes und nach Maßgabe des klassischen Strafrechts schuldunfähiges Wesen, dem nur beizukommen war, indem die Prinzipien von absoluter vergeltender Gerechtigkeit und moralischer Verantwortung durch diejenigen von »sociale[r] Defensive« und »sociale[r] oder gesetzliche[r] Verantwortung« ersetzt wurden. Nur die pragmatische Perspektive des »Gesellschaftsschutzes« stellte, so Ferri, eine juristische Handhabe zur Verfügung, um die »geborenen Verbrecher« unschädlich zu machen.37 Um diese Position zu stärken und das umfangreiche Gebiet individueller Unzurechnungsfähigkeit wissenschaftlich auszuschreiten, veranlassten die Positivisten eine Reihe von Arbeiten, zu denen auch diejenige von Sighele zur gewalttätigen Auflaufmenge gehörte.38 Die azephale Qualität des Schwarms, seine unterhalb der Bewusstseinsschwelle angesiedelten selbstkoordinierenden Fähigkeiten standen deshalb in Sigheles Text im Zeichen von Verbrechen und Un34 | Espinas: Die thierischen Gesellschaften, S. 367-376, das Zitat S. 367. 35 | Ebd., S. 496 und S. 504. 36 | Vgl. Enrico Ferri: Das Verbrechen als sociale Erscheinung. Grundzüge der Kriminal-Sociologie [1884], autorisierte deutsche Übersetzung von Hans Kurella, Leipzig: Wigand 1896, S. 125f. Uneinig freilich waren sich die verschiedenen Kriminologen in der Gewichtung der einzelnen Faktoren, vgl. S. 127-134. 37 | Ebd., S. 263-292. Die neueren Erkenntnisse der Erforschung von Zurechnungsfähigkeit hätten »thatsächlich auf dem Boden der klassischen Lehre zu einer allgemeinen Straflosigkeit oder Halb-Straflosigkeit, zu einem wahren Jubeljahre gerade für die gefährlichsten Verbrecher« geführt (S. 242). 38 | Vgl. dazu Jaap van Ginneken: Crowds, Psychology, and Politics 18711899, Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 63-66.
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zurechnungsfähigkeit. Auch der Schwarm zeichnete damit ein Negativbild der Menschenmenge, dessen positives Gegenbild das zurechnungsfähige, nicht deviante und von keinen äußeren Einflüssen beeinträchtigte Individuum war.
III. Sigheles Formierung der Masse als Schwarm zeitigte Folgen. Tarde antwortete auf Sigheles Publikation mit dem Aufsatz Les crimes des foules, der 1892 auf dem kriminalanthropologischen Kongress in Brüssel vorgetragen wurde und gleichen Jahres in den Archives de l’anthropologie criminelle et des sciences pénales erschien. Tarde insistierte dort auf seinem Standpunkt, die Problematik der Masse im Rahmen einer umfassenderen Gesellschaftstheorie zu behandeln und die sozialen Faktoren stärker als die psycho-physiologischen zu gewichten. In der Einschätzung und Bewertung der Eigenschaften und Verhaltensweise der Masse stimmte er allerdings mit Sighele weitgehend überein. Dabei wiederholte er auch, nun in einer akzentuierten Form, die Art des Tier-Vergleichs aus der Philosophie pénale: Die Masse ist bei den zivilisiertesten Gesellschaften immer eine wilde und faunhafte Gestalt, ja weniger als das, eine impulsive und verrückte Bestie, ein Spielzeug ihrer Instinkte und ihrer mechanischen Gewohnheiten, manchmal ein Tier niederer Ordnung, ein Wirbelloses, ein monströser Wurm, dessen Empfi ndungsfähigkeit verschwommen ist und das sich in unkoordinierten Bewegungen windet, nachdem man ihm den Kopf abgeschnitten hat, der ohnehin kaum vom Körper zu unterscheiden ist.39 Entfernte sich die Tier-Metaphorik schon an dieser Stelle, über die rhetorische Figur der correctio und mehrere sich steigernde Attributionen hinweg, vom organischen Körper hin zum amorphen und kopflosen Wurm, so adaptierte Tarde einige Seiten weiter gar die Schwarm-Analogie von Sighele. Um das exaltierte Selbstwertgefühl der Menge zu erläutern, verwies Tarde 39 | Gabriel Tarde: Les crimes des foules, in: Archives de l’Anthropologie criminelle et des sciences pénales 7 (1892), S. 353-386, hier: S. 358: »La foule, parmi les populations les plus civilisées, est toujours une sauvagesse ou une faunesse, moins que cela, une bête impulsive et maniaque, jouet de ses instincts et de ses habitudes machinales, parfois un animal d’ordre inférieur, un invertébré, un ver monstrueux où la sensibilité est diff use et qu s’agite encore en mouvements désordonnés après la section de sa tête, confusément distincte du corps.« Übersetzung M.G.
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auf Stellen aus Auguste Forels Ameisenstudien und Espinas’ Des sociétés animales, die beschrieben, wie der Mut und der Kampfeinsatz bei Ameisen proportional zur Anzahl der Kombattanten steige. Tarde brachte zudem das Beispiel der Zugvögel ein, welche die weiten Reisen bloß auf sich nehmen und bestehen würden, weil sich ihr Wagemut im Schwarm vervielfache. Tarde erkannte hier »eine Freude an der Vereinigung«, »un plaisir de se réunir«, 40 die auch ihre gute Seite haben könne – womit er das Konzept der »Fest-« beziehungsweise »Freudenmasse« (»foule de fête«, »foule de joie«) antizipierte, das 1898 in seinem Buch Le public et la foule wichtig werden sollte. 41 1892 aber beharrte Tarde auch angesichts der Schwarm-Beispiele darauf, dass »in moralischer und intellektueller Hinsicht die Menschen in der Menge weniger vermögen als im Einzelnen.« 42 Die Tier-Analogien meinten nicht nur eine Struktur des kollektiven Verhaltens, sondern sie bezeichneten immer auch den Zustand des Einzelwesens, und in dieser Hinsicht bedeutete der Eintritt in die Masse die Depravation zum Tier.
IV. Der diskursive Ort, wo Tiere als Schwarm in den Diskurs der Massenpsychologie eintraten, so hat sich gezeigt, bezeichnete das eigentliche Rätsel der Massenbildung, die Gleichausrichtung der Einzelnen durch Übertragung. Sighele und Tarde hatten Vorgänge der Imitation, die letztlich nach dem Modell hypnotischer Suggestion funktionierten und sich auch bei Wespen und Ameisen beobachten ließen, verantwortlich gemacht für das Zusammenwachsen der Menge. Das Unheimliche dieses Ablaufs war dessen additive Selbsttätigkeit, die prinzipiell auf unendliche Akkumulation angelegte Dynamik des Geschehens. Die suggestive Imitation dauerte, sofern sie nicht künstlich unterbrochen wurde, so lange bis es keine Menschen mehr gab, die nicht Teil der Masse waren. Die Masse begründete sich so als auf unendliche Ausdehnung angelegtes amorphes soziales Ding. Es war diese Konturlosigkeit, der Mangel an Begrenzung, welche die Masse zu einer Befürchtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts machte – zu einer ›Befürchtung‹ nicht im Sinne einer Furcht vor einem präsenten 40 | Ebd., S. 363. 41 | Gabriel Tarde: Le public et la foule [1898], in: ders.: L’opinion et la foule [1901], Einleitung von Dominique Reynié, Paris: Presses Universitaires de France 1989, S. 31-71, hier: S. 60. 42 | Gabriel Tarde: Les crimes des foules, S. 364: »Ainsi, il est bien certain que, moralement et intellectuellement, les hommes en gros, valent moins qu’en detail.« Übersetzung M.G.
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Gegenstand, auch nicht als Angst angesichts einer diff usen Bedrohung, sondern als eine mit existenzieller Angst verbundene Sorge, die sich auf den Verlauf der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung bezieht. ›Befürchtung‹ versteht sich so als diskursiv angelegte und imaginativ überhöhte, als pathogen empfundene Tendenz der auf Kontingenz ausgerichteten und deshalb zukunftsoffenen modernen Sozialordnung. Eine solche Befürchtung war die Masse in besonderer Weise als Schwarm, als in ihren Grenzen variable Vielheit, die nicht mehr als Körper fi gurierbar war und damit die Bildqualität des Gestalthaften eingebüßt hatte. Es war nicht die konkrete Furcht vor dem Raubtier, der zwar gefährlichen, aber in Gestalt und Wesen erkennbaren und kontrollierbaren Bestie, welche die Massenpsychologie schürte, sondern diese verbreitete eine diff use Angst, die von der latenten Unsicherheit des massenartig fi gurierten Sozialen ausging. Dieser Sachverhalt lässt sich am Beispiel des bekanntesten und meistgelesensten massenpsychologischen Buchs der Zeit, an Gustave Le Bons Psychologie des foules, verdeutlichen. Le Bon hielt an Bildern der tierischen Vielheit fest und sprach von der »Masse« als einer »Herde, die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiß«. 43 Damit imaginierte er – die Passage stammt aus den Ausführungen zum »Führer der Massen« – die Menge als eine beschränkte und auf einen Lenker ausgerichtete Vielheit, die damit auch eine kontrollierbare, ja gar immer eine kontrollierte war. Einige Seiten weiter behandelte Le Bon dann aber das Phänomen der raschen Verbreitung einer Behauptung in der Masse, und nun verwandelte sich das Arrangement rhetorischer Übertragung in entscheidender Weise. Nun war die Rede von einer »geistige[n] Strömung« und von dem »mächtige[n] Mechanismus der Ansteckung«, die in der Menge sich ereigneten. Mit dieser Neukonzeptualisierung von Übertragung als »Ansteckung«, die also nicht mehr durch suggestive Imitation bewirkt wurde, kamen nochmals neue Lebewesen ins Spiel, die als ›Tiere‹ zu bezeichnen unpräzise wäre: nämlich die Mikrorganismen, also etwa Bakterien und Viren. Le Bon formulierte: »Unter den Massen übertragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben.« 44 Diese Kleinstlebewesen brachten nun das Dämonische zurück in die ›Masse‹. Denn die mikrobische Übertragung führte dazu, dass »ein Schreck, die wirre Bewegung einiger Schafe […] bald auf die ganze Herde« übergreife; »plötzliche Paniken«, »Gehirnstörungen« und »Wahnsinn« waren die Folge. 45 Die Herde verlor damit alle Kontrollierbarkeit, und sie gewann unter dem mikrobi43 | Gustave Le Bon: Psychologie der Massen [1895], mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart: Alfred Körner 151982, S. 83. 44 | Ebd., S. 89. 45 | Ebd., S. 83.
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schen Einfluss auch die Qualität der unendlichen Akkumulierbarkeit zurück. Denn, so Le Bon weiter, die »Übertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesenheit der Individuen an demselben Ort, sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen, die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besondere Merkmale der Masse verleihen«. 46 In der Angst vor dem unendlich Kleinen, dem zwar als materiell Vorliegendes gedachten, aber sich jeder menschlichen Handhabe Entziehenden, begründet sich bei Le Bon das bedrängend Unheimliche der Masse. Die Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Furcht vor infektösen Mikroben übertrug sich durch rhetorische Ansteckung nun auf die Masse47 und brachte damit auch ›Medialität‹ als Übertragungstechnik über weite Strecken neu ins Spiel. Implizierte das Konzept der suggestiven Imitation eine Übertragung innerhalb der Masse durch direkte Interaktion der Blicke, so traten nun die Mikroben als material-mediales Dazwischen auf, das eine Fernwirkung möglich machte. 48 Das besonders prekäre war, dass die Mikroben als »Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren« den Menschen in der Masse nicht in den dem Bewusstsein zugänglichen mentalen Schichten befielen, sondern sich unterhalb der Ebene von Wille, Verstand und Vernunft einnisteten. Im »[U]nzugänglich[en]«, im unendlich Kleinen und im Unbewussten lauerten die Gefahren, die von der ›Masse‹ ausgingen. Und dieses »Unbewußte« inklusive der dort angesiedelten mikrobischen Handlungen machte »das Geheimnis ihrer Kraft« aus. 49 Dieser nicht beeinflussbaren mikrobischen Ansteckung entsprach, dass Le Bon den Massen ein poietisches Vermögen zusprach, das sie ganz von der äußeren Wirklichkeit abkopple und deshalb so mächtig mache. Die »Massen« hätten einen inneren Drang nach Fiktionen, der produktiv mit den aufgenommenen Wahrnehmungen umgehe. Die »Masse« denke in »Bildern«, wobei das »hervorgerufene Bild« eine »Folge anderer Bilder« auslöse, die »ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten« sei. 46 | Ebd., S. 90. 47 | Vgl. Philipp Sarasin/Silvia Berger/Marianne Hänseler/Myriam Spörri (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 18701920, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Brigitte Weingart: »Rumoritis«: Zur Modellierung von Massenkommunikation als Epidemie, in : Jürgen Brokoff/ Jürgen Fohrmann/Hedwig Pompe/Brigitte Weingart (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen: Wallstein 2008, S. 278-299. 48 | Le Bon antizipierte in dieser Weise Tardes Medientheorie aus Le public et la foule, wo die »foule dispersée«, die verstreute Masse, durch Zeitungslektüre gebildet wird. 49 | Ebd., S. XLI.
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Die in ihrem Bewusstsein auftauchenden Bilder erhielten dann für die »Masse« den Status von »Wirklichkeit«, weshalb diese »Entstellungen« die »unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte« hervorbrächten.50 Es ist die Logik der implementierten und sich dann selbsttätig fortpflanzenden Bilder, die als rhetorische Übertragung der mikrobischen Ansteckung entspricht. Die Analyse der »auffallende[n] Einbildungskraft der Massen« führte Le Bon deshalb ebenso wie die bakteriologische Metaphorik zur Konstatierung einer imaginären gesellschaftlichen Instituierung, die nicht auf rationaler Logik und adäquater Wirklichkeitswahrnehmung beruhte, sondern auf Leistungen des kollektiven Unbewussten. Die Ideen als Mikroben mit ihrer unkontrollierbaren Verbreitung waren die geheimen Agenten, welche die »Macht der Massen« zu jener »einzige[n] Kraft« wachsen ließen, »die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen immer mehr wächst«, wie Le Bon prophezeihte. Die Mikroben als phantastischer Schwarm unter der Wahrnehmungsschwelle waren es deshalb, welche die Befürchtung nährten, dass, so das berühmte Le Bonsche Diktum, »[d]as Zeitalter, in das wir eintreten […] in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein« werde.51
50 | Ebd., S. 23. 51 | Ebd., S. 2.
Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie1 Urs Stäheli
Die Massenpsychologie um 1900 beschreibt den Zusammenbruch hergebrachter sozialer Ordnungen in dramatischen Worten: Vom evolutionären Rückfall in den Primitivismus, dem Zusammenbrechen traditioneller Ordnungen sowie der Zerstörung von Individualität ist die Rede. Und doch präsentiert sie sich selbst bei ihrem populärsten und polemischsten Vertreter – Gustave Le Bon – auch als ein erstaunlich nüchternes Programm der Regierbarmachung. Die Massenpsychologie hängt zwar dem nostalgischen Bild einer klar strukturierten und hierarchisch organisierten Gesellschaft an, weiß aber gleichzeitig sehr genau, dass es keine Rückkehr in die Welt geordneter Hierarchien und Eliten geben kann. Die Moderne, so stellt Le Bon lakonisch fest, ist das »Zeitalter der Massen« – und die Massenpsychologie versteht sich als Kontrollwissenschaft dieses neuen Zeitalters. Möchte man die Radikalität des massenpsychologischen Programms verstehen, reicht es nicht aus, dieses als reaktionäre Krisensemantik einer untergehenden Elite zu kritisieren. Gewiss, die Massenpsychologie befindet sich in Opposition zur Demokratisierung, die mit dem allgemeinen Wahlrecht eine geradezu exemplarische Verkörperung der Massenlogik darstellt; und sie setzt den Massenbegriff polemisch gegen den Klassenbegriff ein.2 Diese Position lässt sich ideologiekritisch ohne großen analy1 | Dieser Aufsatz beruht teilweise auf Urs Stäheli: Protokybernetische Figuren in der Massenpsychologie, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Transformationen des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 299-325. 2 | Ganz im Gegensatz übrigens zu Teilen der amerikanischen Diskussi-
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tischen Aufwand als Herrschaftsinstrument entlarven – nur verpasst eine derartige Lektüre, dass die Massenpsychologie selbst eine tiefgreifende Transformation moderner Machtformen zu ihrem Thema macht. Mit der Massensemantik wird ein sozialer Gegenstand entworfen, der auf den ersten Blick über keine innere Ordnung verfügt, dennoch aber gemäß einer eigenen Logik – so ist von einer ihr spezifischen »Psychologie« oder gar ihren »Gesetzen« die Rede – funktioniert. Die Erfahrung, dass alte Exklusions- und Disziplinierungstechniken versagt haben, hat die Massenpsychologie zu einem grundlegenden Überdenken sozialer Kollektive gezwungen: Verfügten traditionelle Kollektive über ihre eigenen Traditionen, eine Geschichte und damit auch eine verankerte Identität, kommt die Masse ohne diese strukturierenden Eigenschaften aus. Mehr noch, die Masse findet auch keinen Platz mehr in einem gesellschaftlichen Hierarchiegefüge – sie ist weder unten noch oben, was viele Zeitgenossen sogar dazu geführt hat, die Masse außerhalb des Sozialen anzusiedeln. Da die Massenpsychologie nicht bloß an kulturkritischen Beschreibungen interessiert ist, sondern sich als praktische Wissenschaft versteht, folgt auch diese neue Bestimmung sozialer Kollektive ihrem Interesse an politischer Kontrolle: Die anfängliche Verunsicherung über unerklärbare Massendynamiken schaff t den Raum für ein Interesse am Funktionieren dieses seltsamen Kollektivs ohne Zentrum. Alte Ordnungskategorien versagen bei der Erklärung dieses Gegenstandes – nur als rätselhaftes Phänomen sozialer Emergenz scheint die Masse zumindest halbwegs fassbar zu werden: Aus einer Reihe unverbundener und heterogener Elemente entsteht plötzlich ein soziales Phänomen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Massenpsychologie tritt also als Wissenschaft an, die sich danach fragt, wie emergente Massen funktionieren und wie diese überhaupt noch kontrolliert werden können: Welche Kontrolltechniken müssen entworfen werden, um in die dunkle Dynamik der Masse eingreifen zu können? Gesichert werden soll die Möglichkeit, zumindest ein Minimum an Kontrollmöglichkeit unter schwierigsten Bedingungen zu schaffen, um als Führer nicht selbst im Sog der Masse unterzugehen: Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen – das ist zu schwierig geworden –, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will.3
on, wo die Masse geradezu als Chiffre für eine Gesellschaft der Gleichen – die klassenlose Gesellschaft des Kapitalismus – gilt. 3 | Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner 151982, S. 6.
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Weil die Massenpsychologie die Masse als modernes Phänomen ernst nimmt, stößt sie auf die Notwendigkeit, Fragmente einer Theorie sozialer Emergenz zu entwerfen. Die Masse – so die hier zu entfaltende These – oszilliert zwischen einer dramatischen Metapher für das Außen sozialer Ordnung und dem, gewiss unsystematischen, Entwurf eines neuen Denkens des Sozialen. (Sie bezieht gleichsam die begrifflichen Ressourcen, um das »Neue« der Masse zu konzipieren, aus ihrer Position sozialer Äußerlichkeit – daraus also, dass sie zur dunklen Seite des Sozialen phantasmatisch aufgeladen wird). Die Originalität der Massenpsychologie liegt also nicht zuletzt darin, dass sie darauf verzichtet, die Masse als Außen zu »zivilisieren« und damit wiederum in etablierte Vorstellungen sozialer Ordnung einzuschließen. In anderen Worten: Die Massenpsychologie entwirft selbst keine unmittelbare Inklusions- oder Exklusionspolitik, sondern eine Politik der Kontrolle eines mit Eigenlogik ausgestatteten Gegenstandes – kurz: der Kontrolle selbstreferentieller Massen.
I. Die Masse wird zur theoretischen und politischen Herausforderung, weil sie zum einen als hochgradig dezentriert gilt, zum anderen aber dennoch eine eigene Einheit herausbildet. Alle Ordnungsmerkmale, welche als Zentren klassischer Ordnungsvorstellungen funktionieren, werden von der Masse außer Kraft gesetzt: sei es etwa die Fundierung in einer Klassenidentität, in kulturellen Identitäten oder in Berufs- und Geschlechterrollen. Der italienische Massentheoretiker und Kriminologe Scipio Sighele beschreibt dieses Wegfallen eindrücklich: Die Masse […] ist ein Aggregat typisch heterogener Menschen, da sie aus Individuen jeden Alters, beider Geschlechter, aller Klassen und aller sozialen Bedingungen, aller Stufen von Moral und Kultur zusammengesetzt ist, sie ist unorganisch par excellence, weil sie sich ohne vorhergehende Übereinstimmung bildet, plötzlich, unvorhergesehen. 4
Jede Form etablierter sozialer Ordnungen und Grenzen wird durch die Masse temporär außer Kraft gesetzt. Die Masse erscheint als unübersichtliche Vermischung des zuvor Getrennten, als Assoziation von Elementen, die normalerweise als dissoziativ gesehen werden. Das Massenphänomen wird also erst dadurch denkbar, dass etablierte Ordnungskategorien ausge4 | Scipio Sighele, zitiert nach Kurt Baschwitz: Du und die Masse: Studie zu einer exakten Massenpsychologie, Leiden: Brill 1951 [1938], S. 119.
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blendet werden – und dass durch diese Ausblendung aber nicht nur eine bloße Vermischung und Auflösung von Ordnung stattfindet, sondern die Masse als neuer sozialer Gegenstand mit einer eigenen Logik emergiert. In der Masse verwandeln sich zuvor heterogene und unzusammenhängende Elemente in ein »neue[s] Wesen«5 – in eine »Massenpsyche« oder in einen »Massengeist«.6 Durch die Masse werden zudem etablierte Kriterien sozialer und historischer Kausalität suspendiert. Massen sind unberechenbar und nicht vorhersagbar. Die Genese der Masse entzieht sich der Beobachtung: Wo zuvor noch vereinzelte Passanten unterwegs waren, treffen wir plötzlich auf eine neugierige, aufgewühlte und vielleicht sogar zerstörerische Masse. Gerade in dieser Plötzlichkeit liegt ihre Bedrohlichkeit. Nicht zuletzt wegen dieser Unvorhersagbarkeit sind Techniken der Massenprävention von vornherein stark begrenzt. Es gibt keine Warnzeichen, welche das Entstehen einer Masse ankündigen. Die Masse entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern sie existiert oder sie existiert nicht. Auf eigentümliche Weise erweist sich die Masse als geschichtsloses Phänomen, wodurch sie sich von klassischen Kollektivformen unterscheidet, die durch eine gemeinsame Geschichte und historische Mythen zusammengehalten werden. Die Entstehung dieses geschichtslosen Massengeistes wird als Emergenzphänomen beschrieben, auch wenn Le Bon über keine elaborierte Theorie der Emergenz verfügte.7 Der Emergenzbegriff wurde erstmals 1875 von dem britischen Philosophen George Henry Lewes verwendet, um Eigenschaften einer Entität zu bezeichnen, die weder additiv noch vorhersagbar sind.8 Die Leitmetaphern für diese frühen philosophischen Theorien der Emergenz stammen aus der Chemie und Biologie (wie z.B. Katalyse, Reaktion und Organismus). Le Bon knüpft an ein ähnliches Vokabular an, wenn er die Massenbildung mit einer chemischen Reaktion vergleicht, die etwas Neues schaff t: In der Masse gibt es keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Bestandteile, sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z.B. die Basen und Säuren bei ihrem Zustan5 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 13. 6 | Le Bon spricht sogar von einem »Gesetz der seelischen Einheit der Massen«, ebd., S. 10. 7 | Keith R. Sawyer: Social Emergence. Societies as Complex Systems, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 39. 8 | Ebd., S. 32. Wobei Emergenz in der Soziologie bereits vor Lewes von Auguste Comte – allerdings ohne den Begriff zu verwenden – als Irreduzibilität von Gesellschaft theoretisiert wurde, vgl. ebd., S. 38f.
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dekommen zur Bildung eines neuen Köpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind.9
Hier grenzt sich Le Bon mit größter Klarheit von einem Verständnis der Masse ab, das diese auf einen bloßen Durchschnitt der beteiligten Elemente reduziert. Stattdessen betont er, dass in der Masse nicht nur ein neuer sozialer »Körper«, sondern sogar neue Massen-Elemente entstehen: Die zuvor vereinzelten Individuen geben in der Masse ihre Individualität auf und untergehen so einen Transformationsprozess, der sie erst zu Massenelementen macht. Fast lehrbuchartig nimmt damit die Massenpsychologie vier zentrale Eigenschaften des Emergenzbegriffs vorweg: Nicht-Additivität, Neuheit, Unvorhersagbarkeit und die Undeduzierbarkeit.10 Die Nicht-Additivität der Masse zeigt sich bereits in den Definitionskämpfen der Massenpsychologie, welche diese von der bloßen Menge abzugrenzen versuchen. Zwar gibt es Vertreter einer »Mengentheorie« wie Werner Sombart, der die Masse als »einen zusammenhanglosen, amorphen Bevölkerungshaufen« und als »eine tote Menge von lauter Einsen« bestimmt.11 Die Massenpsychologie wirft einer derartigen Mengentheorie aber vor, dass ihr gerade das entscheidende soziale Moment der Masse entgeht – die »Verbundenheit« der Masse, durch welche aus ihren Elementen etwas Neues und Einheitliches entsteht.12 Beim »Massengeist« handelt es sich um ein qualitativ neues Phänomen, das über eine eigene Logik und eigene Funktionsgesetze verfügt. Die Unvorhersagbarkeit macht das Erschreckende von Massen aus: Sie können nicht genetisch erklärt werden, sondern sie entstehen plötzlich aus geringstem Anlass. Schließlich lassen sich die Verhaltensweisen und Strukturen einer Masse nicht aus den Eigenschaften von Individuen ableiten, aus welchen sie zusammengesetzt sind (Undeduzierbarkeit): Weder die sozialstrukturelle Herkunft von Individuen, noch ihre intellektuellen Fähigkeiten bestimmen die Struktur der Masse. Massen können also nicht durch die Eigenschaften oder Verhaltensweisen der einzelnen Massenmit9 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 13. 10 | Vgl. Stuart Kaufman, zitiert nach Kevin Mihata: The Persistence of ›Emergence‹, in: Eve A. Raymond et al. (Hg.): Chaos, Complexity, and Sociology: Myths, Models, and Theories, Thousands Oaks/CA: Sage 1997, S. 30-38, hier S. 32. 11 | Werner Sombart, zitiert nach Heinrich Bratz: Zum Begriff der Masse in der neueren Soziologie, Diss. Univ. Bern, Berlin: o.V. 1936, S. 37. 12 | So z.B. Wilhelm Vleugels: Der Begriff der Masse, in: Jahrbuch für Soziologie: eine internationale Sammlung 2 (1926), S. 176-201, hier S. 194.
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glieder erklärt werden. Das Konzept der emergenten Masse erweist sich damit nicht zuletzt auch disziplinenpolitisch als erfolgreich: Die Massenpsychologie hat sich so einen eigenen Gegenstand geschaffen, der nicht mehr den Gesetzen der Psychologie folgt und auch mit den Begriffen der klassischen Soziologie noch nicht zu erfassen ist. Die Massenpsychologie geht allerdings über die These der Nichtdeduzierbarkeit hinaus, indem sie – teilweise sehr drastisch – die Umwandlung von Individuen in Massenelemente beschreibt. Statt also von Individuen als kleinsten Elementen der Masse auszugehen, werden Imitationsereignisse zu den Letztelementen einer Masse. Individuen verwandeln sich in Massenelemente, die ihren freien Willen und ihre Reflexionsfähigkeit aufgegeben haben: Unter bestimmten Umständen […] besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert.13
In der Masse findet ein Prozess der Ent- oder Deindividuierung statt, innerhalb dessen Individuen jene Züge aufgeben, die das klassische Konzept des Individuums defi nieren.14 Sie sind ihrer individuellen Rationalität und auch ihres freien Willens entledigt: »In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit der einzelnen.« 15 Diese »psychische Umwandlung« 16 macht aus Individuen Automaten, die schnell auf Suggestionen reagieren: »Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.« 17 Die homogenen, von allen individuellen Eigenschaften befreiten Elemente dienen nun als Leitmedien für die Übermittlung von kognitiven, vor allem jedoch von affektiven Impulsen. Auf diese Weise werden Individuen zu bloßen Relaisstationen von Emotionen und Informationen – zu Stationen, welche keine eigenen und unabhängigen reflexiven Prozesse mehr erlauben. In anderen Worten: Die Masse optimiert Kommunikationsprozesse, indem Hindernisse, welche die Über13 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 10. 14 | Vgl. die breite sozialpsychologische Diskussion, die sich in den 1960er und 70er Jahren unter dem Titel der »deindividuation« an die massenpsychologische Diagnose anschließt. 15 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 14. 16 | Vleugels: Der Begriff der Masse, S. 184. 17 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 17.
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tragungsgeschwindigkeit beeinträchtigen, weitgehend reduziert werden. Die Suggestibilität sorgt dafür, dass Reize sofort weitergeleitet werden: Eine Masse befindet sich stets in einem Zustand größter Erregbarkeit – in einem Zustand (an)gespannter Erwartung, wodurch sich jeder Stimulus in hoher Geschwindigkeit verbreiten kann.18 Würden die Massenmitglieder ihre autonome Reflexionsfähigkeit aufrecht erhalten, dann würde auf diese Weise die auf höchste Kommunikationsgeschwindigkeit angewiesene Dynamik der Masse gestört werden. Als Beispiel wird in der Massenpsychologie immer wieder das Fluchtverhalten von Tieren – in Herden und Schwärmen – genannt, das auf eine überaus schnelle Übertragung des Fluchtsignals angewiesen ist. In Entsubjektivierungsprozessen sehen auch gegenwärtige informationstheoretische Lektüren der Massenpsychologie das entscheidende Merkmal von Massen: Crowds are unique phenomena […] because the behavior of each person in a crowd can be reduced to a level of an abstract finite machine – due to the deindividuation process, and spatio-temporal dynamics of crowds may expose nontrivial modes and regimes – due to irrationality of crowd global behavior.19
Der Informationstheoretiker Andrew Adamatzky geht von einem engen Zusammenhang zwischen Deindividuierung und dem Verlust individueller Rationalität aus. Allerdings erscheint aus informationstheoretischer Perspektive die Deindividuierung weniger dramatisch als für Le Bon, da sie nun als notwendige Voraussetzung für die Modellierung der Emergenz von Massen gilt. Erst die Deindividuierung führt zu dem automaten18 | Die Geschwindigkeitsvorteile von Suggestion hebt der russischamerikanische Massenpsychologe Boris Sidis hervor: »Suggestibility is of vital importance to the group, to society, for it is the only way of rapid communication social brutes can possibly possess.« Boris Sidis: The Psychology of Suggestion. A Research into the Subconscious Nature of Man and Society, New York: Appleton and Company 1898, S. 309. Vor Sidis hat bereits Alfred Victor Espinas in seiner Forschung zu Tiergesellschaften (1877) auf den evolutionären Vorteil von visueller Ansteckung zur Markierung von Gefahren hingewiesen. Erika G. King: Crowd Theory as a Psychology of the Leader and the Led, Lewiston: Edwin Mellen Press 1990, S. 48. Espinas’ Theorie der Tiergesellschaften – v.a. der Ameisengesellschaften – nimmt wiederum eine zentrale Stelle in Gabriel Tardes Soziologie der Nachahmung ein. Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 19 | Andrew Adamatzky: Dynamics of Crowd-Minds: Patterns of Irrationality in Emotions, Beliefs, and Actions, London: World Scientific 2005, S. 5.
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gleichen Verhalten, das zahlreiche Emergenztheorien voraussetzen: Die Grundlage für die Herausbildung von Emergenz besteht darin, dass einzelne Elemente anhand einfacher Regeln miteinander interagieren – dazu muss die individuelle Reflexionsfähigkeit reduziert werden.20 Die Massenpsychologie schaff t durch die »Entindividuierung« eine sozialtheoretische tabula rasa, die ohne die etablierten Ankerpunkte sozialer Ordnung auskommen muss.21 Die Ordnung der Masse muss von dieser selbst organisiert werden. Tarde leitet daher die Ordnung nicht aus übergeordneten Strukturen ab, sondern sucht in der ereignishaften Logik der Masse selbst die Entstehung von Ordnung zu beobachten. Die kleinste Einheit der Masse – und für Tarde auch des Sozialen überhaupt! – sind nicht Individuen oder individuelle Entscheidungen, sondern bewusste und unbewusste Nachahmungen. Diese Nachahmungsketten können selbstbezüglich werden und durch positives Feedback zur Verstärkung bestimmter Nachahmungsbahnen führen. Tarde spricht daher auch von »zirkulären Reaktionen«, um die Rückbezüglichkeit von miteinander verketteten Nachahmungsereignissen erfassen zu können.22 Besonders deutlich kommt dies in Gabriel Tardes Beschreibung von Massen zum Vorschein: Eine Masse ist ein seltsames Phänomen: Sie ist eine Versammlung heterogener Elemente, die sich gegenseitig unbekannt sind; aber sobald ein Funke der Leidenschaft entstanden ist, der von einem ihrer Elemente ausgeht, wird dieses Durcheinander elektrisiert; auf diese Weise findet ein spontaner und plötzlicher Organisationsprozeß statt. Die Inkohärenz wird kohärent, der Lärm wird zur Stimme, und die Tausende eng zusammengepferchten Leute verwandeln
20 | Mihata: The Persistence of ›Emergence‹, S. 31. 21 | Christian Borch: The Exclusion of the Crowd: The Destiny of a Sociological Figure of the Irrational, in: European Journal of Social Theory 9/1 (2006), S. 83-102. 22 | Dieses Verständnis von Zirkularität übernimmt Tarde von James Baldwin: »Die Kontraktion eines Muskelelements, die Innervation eines Nervenelements pflanzt sich in einem Muskel oder längs eines Nervs ebenfalls nur vermittelst eines kleinen Kreislaufes fort, der zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, und Baldwin hat kürzlich gezeigt, daß auch die Nachahmung ›eine zirkuläre Reaktion‹ ist, und daß man sie erklären kann als eine Muskelreaktion, die den stimulus zu erreichen sucht, der zu denselben Zuständen zurückführen kann, die dann abermals dem gleichen stimulus zustreben u.s.f.« Gabriel Tarde: Die sozialen Gesetze, Leipzig: Klinkhardt 1908, S. 71.
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sich in nichts anderes als eine einzige Bestie, ein wildes Biest ohne Namen, das mit einer unauf haltsamen Finalität seinem Ziel entgegenstrebt.23
Massen schaffen also ihre Ordnungen aus sich selbst heraus, indem sich eine unstrukturierte Ansammlung von Elemente zu organisieren beginnt.
II. Mit der Masse wird nicht nur ein neuer sozialer Gegenstand geschaffen, sondern auch das Problem von sozialen Kontrolltechniken grundsätzlich reformuliert: Das einzelne Individuum dient nicht mehr als Ausgangsund Zielpunkt von Kontrolltechniken, sondern die entindividuierten Kommunikations- und Affektströme der neuen sozialen Einheit Masse werden nun Gegenstand dieser Techniken. Die Massenpsychologie ist nicht nur eine Kontrolltechnologie, die bereits konstituierte Subjekte regulieren soll, sondern sie soll eine Entität kontrollieren, die aus entindividuierten, rekursiven Imitationsströmen besteht. Der Massenpsychologie geht es nicht um »Menschenfassungen« (Seitters) oder die Erziehung der Masse; sie verweigert sich konsequent sozialreformerischen Illusionen, hat sie doch jede Hoffnung auf die Erziehung oder Kultivierung der Massen aufgegeben. Kontrolle – und darin liegt die politische und theoretische Brisanz der Massenpsychologie – löst sich von Erziehung. Kontrolle meint nun »nur« noch die Regulierung der affektiven Kräfte, welche die Masse zusammenhalten. Eine Überwindung der Massenkräfte oder deren Transformation in eine andere Qualität ist nicht mehr vorgesehen. Wie aber sollen diese Massendynamiken kontrolliert werden? Die klassische Antwort von Le Bon und vielen anderen Massenpsychologen ist die Figur des Führers. Dies mag zunächst überraschen. Wurde nicht gerade hervorgehoben, dass sich die Masse als selbstorganisierter Gegenstand nicht mehr mit den etablierten Machttechniken steuern lässt – ja, dass sie unbeherrschbar geworden ist? Kehrt Le Bon mit der Einsetzung des Führers nicht gerade zu jenem hierarchischen Herrschaftsmodell zurück, das in die Krise geraten war und auf dessen Krise die Massenpsychologie eine neue Antwort zu formulieren suchte? Dem wäre vielleicht so, wenn der Führer, wie in der Freud’schen Massenpsychologie, nun die Position eines Zentrums der Masse einnehmen würde – eines Zentrums, das außerhalb der Masse deren Prozesse zu kontrollieren trachtet. Le Bon löst allerdings eine solche Führerkonzeption 23 | Gabriel Tarde: La philosophie pénale, Lyon, Paris: Storck, Masson, 1890, S. 29.
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konsequent auf. Wir haben es mit einem Führer zu tun, der kaum mehr zur Führung in der Lage ist und der seine außerordentliche Position aufgegeben hat. So wird betont, dass der Führer in der Regel nicht von außen an die Masse herantritt, sondern eines ihrer Elemente ist.24 Ihn zeichnen einzig sein starker Wille und seine hervorragenden Eigenschaften als MassenMedium aus. Seine Empfänglichkeit für die Massendynamik wird durch seine Nervosität und Reizbarkeit unterstrichen: [Führer] haben wenig Scharf blick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharf blick im allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befi nden.25
Der für die Massenelemente typische Entsubjektivierungsprozess macht selbst vor dem Führer keinen Halt: Auch seine Qualitäten bemessen sich nicht an Reflexionsfähigkeiten, sondern an Entschlossenheit und Schnelligkeit. Le Bon, dem häufig seine verächtliche Haltung gegenüber den Massen vorgeworfen worden ist, verschont auch die Massenführer nicht mit seiner Kritik. Die Differenz zwischen Führer und Masse ist kleiner, als die vermeintlich klare Opposition zunächst vermuten ließ. Gerade weil Le Bon weder an einer Psychologie von Massenführern interessiert ist noch eine Analyse des Führercharismas jenseits der Massendynamik unternimmt, hebt er die Führungs- und Kontrolltechniken zur Steuerung von Massen hervor. Durch die Konzentration auf solche Kontrolltechnologien wirkt Le Bons Massenpsychologie passagenweise wie ein Führungs- und Propaganda-Handbuch.26 Wenn sich die Masse nicht durch das Vorbild heldenhafter Individualität oder Sittlichkeit kontrollieren lassen, dann müssen die Kontrolltechniken auf die Funktionsweise von Massen abgestimmt sein. Ausgeschlossen ist der Einsatz von argumentativen Persuasionstechniken, da die Masse in erster Linie affektiv reagiert und nicht über die Fähigkeit verfügt, komplexe Aussagen zu verstehen. Jeder Steuerungsversuch muss klare Signale einsetzen, damit diese im Lärm der Masse nicht überhört werden27 – die Steuerungsbefehle dürfen nicht im 24 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 83. 25 | Ebd., S. 83. 26 | Vgl. auch die Artikulation von Massenpsychologie und Predigerratgeber zu einer frühen Form der PR-Theorie bei Gerald Stanley Lee. Gregory Bush: Lord of Attention. Gerald Stanley Lee and the Crowd Metaphor in Industrializing America, Amherst: University of Massachusetts 1991. 27 | Vgl. Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien: Econ-Verlag 1963, S. 18f.
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Rauschen der Masse untergehen. Die Ordnung der Masse folgt selbst einer klaren binären Logik: »Die Einfachheit der Ideen, von denen sie gelenkt wird, drängt auf ein entschiedenes Ja oder Nein.« 28 Le Bon nennt auf der Grundlage eines solchen Modells hypnotischer Steuerung zwei zentrale Führungstechniken: die Behauptung und die Wiederholung. Die Behauptung zehrt von der Willensstärke des Führers, nicht aber von dessen argumentativer Brillanz: »Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie.«29 In der Behauptung wird eine Aussage aufs Wesentliche reduziert. Empfohlen wird die Zuspitzung auf einschlägige Slogans oder auch die Verwendung von Bildern oder Metaphern. Gerade die eher visuell orientierte assoziative Logik der Masse reagiert am ehesten auf redundante Reize. Die Behauptung beeindruckt nicht so sehr durch ihren (auswechselbaren) Inhalt, sondern durch das entschiedene Mitteilungsverhalten. Behauptungen müssen stets in möglichst identischer Form wiederholt werden, wodurch sie wie von selbst Überzeugungskraft gewinnen: Was ständig wiederholt wird, wird wohl seine Richtigkeit haben. Durch die Wiederholung löst sich die Behauptung aber auch vom behauptenden Subjekt. Denn je häufiger eine Aussage wiederholt wird, um so eher vergessen wir, von wem diese Aussage gemacht wurde.30 Auf diese Weise wird der Führer als Subjekt dezentriert, da einzig die kommunikativen Effekte für das Funktionieren einer Masse in den Vordergrund gerückt werden. Die Massenpsychologie präsentiert damit eine holzschnittartige kommunikationstheoretische Reformulierung des Führerproblems: Sie verwandelt das klassische Problem des Führers in das der Kontrolle von selbstorganisierten Prozessen. Eine derartige Kontrolle der Masse ist im Idealfall präzise auf ihre Funktionsweise abgestimmt – die Kontrolltechniken extrapolieren gleichsam die für die Masse typischen Kommunikationsformen. So befinden sich weder der kontrollierende Führer noch die Steuerungstechniken außerhalb der Masse, sondern gehören beide zu dieser selbst. Mit dem Funktionieren von Kontrolltechniken geht daher nicht die Auflösung der Masse einher; ganz im Gegenteil, erfolgreiche Kontrolle muss sich so sehr auf die Logik der Masse einlassen, dass sie ihr eine Zukunft verschaff t – und häufig sogar erst jenes Massenphänomen generiert, das sie sich zu kontrollieren anschickt. Dies führt zu einer grundlegenden Kontrollparado28 | Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über Formen der Vergesellschaftung, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 [1908], S. 123. 29 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 88. 30 | Ebd., S. 89.
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xie: Massenkontrolle steigert die Komplexität und die Dynamiken der zu kontrollierenden Massen. Die Kontrollmechanismen sind immer schon in die Funktionsweise von Massen eingelassen und damit Teil des zu kontrollierenden Gegenstandes: Sie erhöhen die Aufmerksamkeit der Masse, hypnotisieren sie und verhindern ihr Auseinanderfallen. Die Kontrolltechniken der Massenpsychologie können daher ihrem Gegenstand nicht äußerlich bleiben. Jeder Kontrollversuch droht positive Rückkoppelungen auszulösen, wodurch die Masse zunehmend instabil und unberechenbar wird. Wie andere Psychopolitiken entwickelt auch die Massenpsychologie ein mimetisches Verhältnis zu ihrem Gegenstand: PSYCHO-Macht ist eine Form der Rationalität, die das, was sie als das ›Irrationale‹ oder das Unbewußte bezeichnet, sowohl nachahmt wie auch reguliert, indem sie die Figur des Wahnsinns abwechselnd als ihr radikal ›Anderes‹ sowie als ihr vertrautes Bekanntes übernimmt.31
So sehr die Massenpsychologie ihren Gegenstand verachtet, so sehr verwandelt sie sich ihm auch an, um überhaupt auf ihn einwirken zu können. Sie konzipiert daher in ihren stringentesten Passagen das Problem der Kontrolle von Massen konsequent als ein Problem der Kontrolle in der Masse. Es gibt keinen äußeren, dem Geschehen enthobenen Kontrollpunkt, sondern das Zentrum der Masse ist ihrem Kräftespiel weitgehend schutzlos ausgesetzt.
III. Versteht man die Masse als selbstorganisiertes Phänomen, dann hat dies also Konsequenzen für ihre Kontrollierbarkeit. Die Diskussion der Führerfigur zeigt, wie unter diesen Bedingungen sogar der Führer in den selbstreferentiellen Kreislauf eingelassen wird. Er mag zwar noch als zeitweiliges Zentrum dienen, aber eben nicht mehr als ein Zentrum, das außerhalb der Massenstruktur steht. So betont etwa Jean-Pierre Dupuy, dass der Führer ein von der Masse selbst erzeugter Fixpunkt ist – eine Art von »Selbst-Transzendenz« des Systems, die aber immer von den Leistungen des »Massesystems« abhängig ist.32 Die Figur des Führers wird damit – im Gegensatz zu psychoanalytischen Konzeptionen – zu einem Kontrollmittel unter anderen. Massen 31 | Jackie Orr: Panic Diaries. A Genealogy of Panic Disorder, Durham: Duke University Press 2006, S. 14. 32 | Jean-Pierre Duput: La Panique, Paris: Delagrange 1991.
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beruhen aber nicht auf der notwendigen Existenz des Führers. Hatte Le Bon bereits angefangen, den Führer in Kommunikationstechniken aufzulösen, so entwirft Gabriel Tarde mit grosser Konsequenz einen führerlosen Massebegriff. In Le public et la foule hebt Tarde33 hervor, dass der Einklang der Masse durch einen Prozess des wechselseitigen Reflektierens zustande kommt. Diese Logik steigert sich zu einer explosiven Selbstreferenz, durch welche sogar der ›ursprüngliche‹ Anlass für die Massenbildung – z.B. ein spektakuläres Ereignis oder die anfängliche Asymmetrie – in den Hintergrund gerät oder ganz vergessen wird. Die wechselseitige Reflektion führt zu einer sich selbst verstärkenden Aufgeregtheit der Massenmitglieder.34 Das Aufschaukeln der individuellen Aufgeregtheit steigert die Aufmerksamkeit der Massen. Nun kann fast jedes Ereignis eine kaum vorausschaubare Massendynamik entfalten. Mehr noch, dieser Steigerungsprozess wird selbst zur Attraktion und fesselt die selbsterzeugte Aufmerksamkeit der Masse. Die Masse wird vollends selbstreferentiell, indem sie sich selbst nicht nur zum Gegenstand macht, sondern dadurch auch weiter ihre spektakuläre Dynamik steigert: »La foule attire et admire la foule.«35 Die Aufmerksamkeit der Masse richtet sich nun vollends auf diese selbst. Selbst Le Bon, der stärker noch als Tarde die Bedeutung des Führers hervorhebt, betont diese selbstreferentielle Wirkung der Masse auf die Masse selbst: »[D] er einzelne [erlangt] in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht.«36 Die Figur des Führers dient letztlich nur noch als Projektionsfigur für die Massivität der Masse.37 Tarde zeigt sich eigentümlich fasziniert von dieser Figur der selbstreferentiellen Masse. Denn zum einen symbolisiert die Masse eine destruktive Kraft. Zum anderen jedoch wird die Masse mit dem Begriff der »Liebes-Massen« ( foules d’amour) auch utopisch aufgeladen. Mit Widerstreben beginnt Tarde über diese andere Seite der selbstreferentiellen Masse zu 33 | Gabriel Tarde: Le public et la foule, in: ders.: L’opinion et la foule, Einleitung von Dominique Reynié, Paris: Presses Universitaires de France 1989 [1901], S. 49. 34 | Ebd., S. 54. 35 | Ebd., S. 58. 36 | Le Bon: Psychologie der Massen, S. 15. 37 | Ähnlich hebt auch Bataille in der Psychologischen Struktur des Faschismus diese Selbstreferentialität der Masse hervor: Im Faschismus funktioniert die Identifizierung mit dem Führer über »die Funktion eines gemeinsamen Bewusstseins von sich steigernden, gewaltsamen, ins Maßlose anwachsenden Energien, die sich in der Person des Führers akkumulieren.« (George Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus, München: Matthes und Seitz 1997, S. 19).
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sprechen, allerdings nur um euphorisch ihre soziale Bedeutung hervorzuheben: »Aber ich beeile mich zu sagen, daß es eine Vielfalt an Liebesmassen gibt, alle sehr verbreitet, die eine der wichtigsten und heilsamsten sozialen Rollen spielen, und all dem Schlechten, das durch die ganzen anderen Formen des sich Versammelns geschaffen wurde, ein Gegengewicht entgegensetzen.«38 Diese »Liebesmassen« – zu denen die »Fest-«, »Feier-« und die »Freuden-Massen« gehören – relativieren das zerstörerische Tun anderer Massenformen. Liebes-Massen nennt Tarde diese Massen, weil sie keinen Zweck außerhalb ihrer selbst suchen.39 Ihre Liebe gilt der Masse selbst: Sie ist eine in sich selbst verliebte Masse (»la foule amoureuse d’elle-même«). Geradezu trunken von sich selbst erfreut sie sich am eigenen Zusammensein, am interesselosen »plaisir de se rassembler pour se rassembler«. 40 Die führerlosen Massen inszenieren im Rausch des Feierns die Möglichkeit des Sozialen. 41 Mehr noch, sie garantieren geradezu den Fortbestand von Gesellschaft, indem sie, obgleich häufig auf unspektakuläre Weise, das Soziale mit gegenseitiger Solidarität imprägnieren. Diese Massen sind, ganz im Gegensatz zur klassischen Masse, keineswegs nur destruktiv, sondern hochgradig produktiv, indem sie »sozialen Frieden« herstellen. Dieser kommt nicht durch eine normative Integration von Gesellschaft zustande, sondern durch die sinnliche Feier der Vergesellschaftung – dadurch, dass ein fruchtbarer Boden für Nachahmungsereignisse geschaffen wird. Auch wenn Tarde den Liebes-Massen nur einige Seiten widmet, so lässt er keinen Zweifel an der hervorragenden Bedeutung dieser Massen: Vergleicht man die Effekte der »Liebes-Massen« mit jenen der »Hass-Massen«, so sind erstere deutlich produktiver. 42 Damit aber denkt die Massenpsychologie auch ihr Ende als mimetische Kontrollwissenschaft: Waren bei Le Bon Massen und Führungstechniken in ein schwieriges, sich gegenseitiges verstärkendes Verhältnis getreten, so zelebriert Tarde die Möglichkeit reiner Selbstbezüglichkeit. Kontrolle 38 | Tarde: Le public et la foule, S. 60. 39 | Zum Zusammenhang zwischen Tardes Konzept der Liebesmassen und dem der Liebe siehe Urs Stäheli: Übersteigerte Nachahmung – Tardes Massentheorie, in: Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 397-416. 40 | Tarde: Le public et la foule, S. 60. 41 | Urs Stäheli: Populationernes Opstand (Der Aufstand der Populationen), in: Christian Borch/Lars Thorup Larsen (Hg.): Luhmann & Foucault til Diskussion. Perspekt, Magt og Styring. Kopenhagen: Hans Reitzels 2003, S. 6082 (dt. 2008 in Tumult 30). Borch: The Exclusion of the Crowd. 42 | Tarde: Le public et la foule, S. 61.
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und Masse vereinigen sich in den führerlosen Liebes-Massen, auf die sich von keinem äußeren Punkt mehr einwirken lässt – mehr noch, die sogar auf die Illusion einer fremdreferentiellen Kontrolle verzichtet (einzig ihr Effekt wird als fremdreferentielle Leistung für die Nation verstanden). Die selbstreferentielle Feier der eigenen Existenz, die sich von jeder äußeren Führung befreit hat, bezeichnet für Tarde eine Feier der Möglichkeit von Sozialität überhaupt. Sie wird zum Ausdruck der utopischen Hoffnung auf eine Sozialität, die sich in ihrem Kern jeder Fremdkontrolle versagt. Gleichzeitig ist das Bild der von sich selbst trunkenen Masse auch eine Erinnerung daran, wie schnell sich diese »produktive« Selbstreferentialität in ihr Gegenteil verkehren kann – wie plötzlich aus den Liebesmassen eine unkontrollierbare Dynamik entsteigen kann – kurz, wie nahe sich Liebesund Hassmassen stehen.
Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction Eva Horn
Qui est-ce qui règne ici? Qui est-ce qui donne les ordres, prévoit l’avenir, trace les plans, équilibre, administre, condamne à mort? Maurice Maeterlinck: La vie des termites (1928) 1
Der Schwarm erscheint Eine Frau sitzt wartend vor einem Schulhaus in einem kleinen Ort an der Küste Kaliforniens. Hinter ihr sieht man – in einer leicht entfernten Kameraeinstellung jenes Films, der wohl die wichtigste visuelle Etüde zum Schwärmen darstellt, Hitchcocks The Birds (1963) – das Klettergestell eines Spielplatzes. Eine Krähe landet auf den Stangen des Gestells. Dann eine Nahaufnahme: Man sieht Melanie Daniels’ (Tippi Hedren) angespanntes Gesicht beim Rauchen, im Hintergrund ertönt der Gesang der Schulkinder wie ein akustisches Maß für die verfließende Zeit. Wieder ein Blick auf den Hintergrund: Vier Krähen sitzen da, eine fünfte landet. Schließlich folgt Melanies Blick dem Flug eines einzelnen Vogels – und als man sieht, wo er landet, bemerkt der Zuschauer im gleichen Moment wie die Figur, dass das ganze Klettergestell nun übersät ist mit Vögeln. – Was dann folgt, ist nur der gleichsam bewegte Ausbruch dieses Erschreckens über die schiere 1 | Maurice Maeterlinck: La vie des termites, Paris: Eugène Fasquelle 1928,
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Menge und die Geschwindigkeit, mit der sie zusammengekommen ist: der Angriff der Vögel auf die Schulkinder, ein das Sichtfeld verdunkelndes, flackerndes Flattern, ein Schwärmen, das zugleich diff uses Bewegungsmuster und taktisches Manöver ist. Dieses Schwärmen inszeniert Hitchcock gerade nicht als Naturereignis mit ›natürlich‹ aussehenden und klingenden Vögeln, sondern als eine Bild- und Tonstörung. Ihr Schwirren und Zwitschern sind elektronische Töne zwischen Naturgeräusch und technischem Summen; ihr Flattern, Zusammenströmen und Schwirren ist ein Flackern des Bildes selbst, eine Bildstörung, die in einem Feld zwischen Betrachter und Betrachtetem stattfindet, gleichsam vor dem Gesehenen. Das Schwärmen ereignet sich damit nicht so sehr im Bild, sondern am Ort des Blicks selbst, als Verwirrung und Störung der Möglichkeit, überhaupt zu sehen.2 Hitchcocks Vögel sind der Schwarm und das Schwärmen, mithin die Essenz von etwas, dessen »Seinslosigkeit«3 es eigentlich der Bebilderung und dem Narrativ entzieht. In schlagender Prägnanz führt die Szene vor, was der Schwarm ist: ein reines Erscheinen, ein Moment des Umschlagens von einer bloßen Mehrzahl zu einem multiplen Ganzen, eine zugleich kompakte und diff use Vielheit, von der nicht klar ist, woher sie gekommen ist und was ihr Auslöser, ihr Grund und ihr Ziel sein könnte. Der Schrecken, jener Moment, an dem nicht mehr einige Vögel, sondern ein Schwarm auf dem Geländer sitzt, die plötzliche Emergenz eines komplexen und rätselhaften Ganzen, ist der wesentliche Modus, in dem Schwärme im kollektiven Imaginären in Erscheinung treten. Ihnen eignet ein Horror, der »epistemische Horror vor dem, was nicht Gestalt werden kann«. 4 Nicht zufällig sind darum Schwärme von Insekten oder Vögeln, aber auch diff use Aggregationen von Partikeln oder Einzellern in modernen Fiktionen zu einem Inbegriff des Feindlichen, der Bedrohung und der Katastrophe geworden. So wie das Schwirren der Vögel nicht nur einen Angriff auf die Menschen im Film darstellt, sondern eine Störung des Blicks und der Sichtbarkeit schlechthin, so sind die Schwärme in modernen Fiktionen eine Bedrohung und ein Anderes des Menschen, eine Ungestalt – und doch auch eine Grundlage seiner Existenz. Nicht zufällig nämlich wirft alles Erscheinen von Schwärmen die Frage nach dem Grund dieses Erschei2 | Vgl. dazu Joseph Vogl: Lovebirds, in: Claudia Blümle/Anne von der Heiden (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2005, S. 51-64. 3 | Sebastian Vehlken: Schwärme. Zootechnologien, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 235-257, S. 238. 4 | Ebd., S. 241.
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nens, den Gesetzen und der Dynamik ihrer Existenz auf. Diese Frage ist eine nach dem Leben. Der Schwarm ist eine form-lose Lebensform, deren rein relationale Existenz die Organisation dieses Lebens selbst thematisch macht. Im Schwarm scheint eine Dynamik des Lebendigen verkörpert und zugleich als Frage aufgeworfen: »Was ist es, das hier herrscht? Was ist es, das hier die Befehle gibt, die Zukunft vorhersieht, die Pläne macht, ausgleicht, reguliert und zum Tode verurteilt?«5, wie Maurice Maeterlinck sich angesichts der Termiten gleichermaßen fasziniert und befremdet fragt. Es ist kein Zufall, dass diese Frage nicht von einem Entomologen, sondern von einem Schriftsteller gestellt wird. Jenseits der kühlen Modellierungen, mit denen gegenwärtige Forschungen die Bewegungsmuster von Fischen oder die Nahrungssuche von Ameisen in Algorithmen fassen und im Computer simulieren, sind Schwärme eine Quelle tiefster Beunruhigung: Sie erscheinen als neue Formen der Kriegführung, als einbrechende Naturkatastrophe oder als technologie-induziertes Desaster. Der Schwarm ist eine Ungestalt – und diese Ungestalt weist ihn als Feind aus.6 So jedenfalls werden sie in etlichen Thrillern, Science Fiction-Romanen oder eben Horror-Filmen wie The Birds vorgeführt: Der Kalte-Kriegs-Thriller Them! (1954) zeigt durch Nukleartests manipulierte Riesen-Ameisen, der Biokatastrophen-Film The Swarm (1978) dagegen geht von natürlichen Bienen aus, allerdings einer extrem giftigen Spezies, die aus Afrika über Brasilien durch Hurricanes nach Nordamerika geweht worden ist und nun eine Kleinstadt in Texas bedroht. Das gleiche Szenario, nur mit ausschwärmenden Spinnen, in Arachnophobia (1990). Bezeichnend ist dabei, dass das Invasions-Szenario des Kalten Kriegs in Them! schon 1978 einem Bio-Szenario gewichen ist, in dem es gelehrt um Reproduktionszyklen und Schwarmbewegungen der Bienenstämme geht und nicht zufällig ein Wissenschaftler (gespielt von Michael Caine) der Held ist. Ungleich drastischer ist das Feindschafts-Szenario in Stanislaw Lems utopischem Roman Der Unbesiegbare (1964), wo Schwärme von Mikro-Maschinen auf einem fremden Planeten nicht nur alles Leben auf dem Festland ausgelöscht haben, sondern auch Krieg führen gegen die Insassen zweier dort gelandeter Raumkreuzer. Die gleichsam ›pazifistische‹ Version dieses Konfliktszenarios liefert schließlich eine kleine Geschichte von Isaac Asimov, Hallucination (postum 1995), in der ein Schwarm feinster intelligenter Partikel den aggressiven menschlichen Siedlern auf einem anderen Planeten deutlich macht, dass diese kein Recht haben, ihre Welt auszubeuten. Nur selten 5 | Maeterlinck: La vie des termites, S. 137, Übersetzung E.H. 6 | Zum Schwarm als Feind-Modellierung in der Moderne vgl. Eva Horn: Die Ungestalt des Feindes: Nomaden und Schwärme, in: Modern Language Notes, Nr. 123/3, German Issue, Spring 2008, S. 656-675.
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gehen Schwarm-Konfrontationen so friedlich aus. Klar bleibt auch hier, dass der Schwarm die Figuration des schlechthin Anderen des Menschen ist: seiner Organisationsform, seines Geistes, seiner Kultur, seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten. Frank Schätzing hat diese Konfrontation in seinem extrem erfolgreichen Meeres-Thriller Der Schwarm (2004) schließlich zu einem globalen Katastrophenszenario ausgearbeitet, in dem intelligente Einzeller die Menschheit angreifen, um ihren Lebensraum, das Meer, zu schützen. Zwei Jahre zuvor erschien Michael Crichtons Prey (2002); auch hier geht es um einen – allerdings technisch generierten – Schwarm, der plötzlich zum Angriff auf seine Erzeuger übergeht. Gemeinsam ist Fiktionen wie denen von Lem, Crichton oder Schätzing, dass sie präzise recherchierte Gedankenexperimente auf dem jeweils verfügbaren Wissensstand eines ganzen Geflechts von Disziplinen sind: Biologie, Ethologie, Computerwissenschaft, Nanotechnologie, Kybernetik und Militärwissenschaft, um nur einige zu nennen. In diesem Sinne sind sie – anders als das deutsche Verständnis von Science-Fiction als literarisches Genre es will – science fiction, Wissenschaftsfi ktion, narrative Experimentalanordnungen, die bestimmte Fragestellungen oder Hypothesen im Modus einer Erzählung durchspielen und zu Ende denken. Solche Fiktion muss als ein Gedankenexperiment gelesen werden, das nicht nur die Struktur eines gegebenen Wissensstands exploriert, sondern auch seine Voraussetzungen, seine Umsetzbarkeit, Folgen und Pathologien mit bedenken kann. Damit erlauben es gerade Fiktionen, Wissensformationen gleichsam erzählerisch zu durchleuchten: ihre Potentiale ebenso wie ihre blinden Flecke und unbefragten Grundannahmen.
More is dif ferent: Emergenz und Evolution Schwärme erscheinen. Zwischen zwei Zigarettenzügen Melanie Daniels’ ist aus ein paar Vögeln ein Schwarm geworden, eine Bedrohung, etwas Unbekanntes und Unvorhergesehenes. Alle Fiktionen über Schwärme kreisen um diesen Punkt: Wie ist der Schwarm entstanden? Welches ist die Dynamik seines Zusammenkommens und seines Operierens? Was wird der Schwarm tun? Wie wird er sich entwickeln? Schwärme werfen die Frage nach den Gesetzen und Voraussetzungen eines Erscheinens auf, das gerade nicht gesetzmäßig vorhersehbar ist. Forschungen zur Emergenz haben darum immer wieder in Schwärmen und Schwarm-Phänomenen ihre sinnfälligsten Beispiele gefunden. Dabei geht es genau um das, was den Schrecken bei Hitchcock ausmacht: jenes Moment des Umschlagens von Quantität in Qualität, von vielen Vögeln in einen aggressiven Schwarm. »More is different«, brachte der Emergenztheoretiker Phil W. Anderson
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das in einem kurzen, wegweisenden Papier auf den Punkt, in dem er unter anderem zeigte, dass sich bereits große Mengen von Molekülen fundamental anders verhalten als kleine.7 Fasst man Emergenz als das »Auftauchen von neuartigen und kohärenten Strukturen, Mustern und Eigenschaften im Prozess von Selbst-Organisation in komplexen Systemen«8, dann sind Schwärme mit ihren zahlreichen, aber einfachen Akteuren, die zusammen ein äußerst komplexes Ganzes bilden, Paradebeispiele von Emergenz. Dabei lassen sich nach Jeffrey Goldstein fünf Kriterien für emergente Phänomene festhalten: (1) Sie sind radikal neu, d.h. die Eigenschaften und Fähigkeiten des Ganzen sind nicht zurückzuführen auf die der Einzelindividuen oder -faktoren. Sie sind damit auch nicht vorauszusehen, bevor sie sich tatsächlich zeigen. (2) Sie sind kohärent, d.h. sie erscheinen als integriertes Ganzes. (3) Ihre Kohärenz erscheint auf einer Makro-Ebene des Gesamtverhaltens. (4) Sie sind dynamisch und evolvieren in der Zeit. (5) Emergente Phänomene sind »anschaulich«, sie zeigen sich deutlich als neuer und anderer Zustand des Systems.9 Sofern emergentes Verhalten »radikal neu« ist, ist es auch stets an einen Schwellenwert oder eine Synergie gebunden, d.h. es entsteht mit einer bestimmten Menge von Individuen oder mit dem systemischen Zusammenkommen bestimmter Umweltbedingungen.10 Diese Unableitbarkeit emergenter Eigenschaften oder Verhaltensweisen aus den Einzelakteuren bedeutet aber auch eine grundsätzliche Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit solcher komplexen Strukturen. Die Gesamtfunktion des Ganzen entsteht nicht aus der Addition einzelner Subfunktionen, sondern aus deren »Nebeneffekten«.11 Das heißt nicht nur, dass Komplexität nicht auf einen Akteur oder eine Regel zurückzuführen ist, sondern nur auf die Relationalität mehrerer Akteure oder Faktoren; es heißt auch, dass das Ergebnis und die Dynamik emergenter Prozesse nicht voraussagbar sind. Und es heißt drittens, dass es auf den genauen Umschlagspunkt ankommt, an dem purer Zuwachs an 7 | Phil W. Anderson: More is different. Broken symmetry and the nature of the hierarchical structure of science, in: Science. New Series 177/4047 (Aug. 4, 1972), S. 393-396. 8 | Jeff rey Goldstein: Emergence as a Construct: History and Issues, in: Emergence Bd. 1/1 (1999), S. 49-72, hier S. 49. 9 | Ebd., S. 50. 10 | Peter A. Corning: The Re-Emergence of »Emergence«: A Venerable Concept in Search of a Theory, in: Complexity 7/6 (2002), S. 18-30. 11 | Luc Steele: Towards a Theory of Emergent Functionality, in: JeanArcady Meyer/Stewart W. Wilson (Hg.): From Animals to Animats. Proceedings of the First International Conference on Simulation of Adaptive Behaviour, Cambridge/MA: MIT Press 1990, S. 451-461, hier S. 452.
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Elementen zu einem plötzlichen Umschlag ihrer Eigenschaften führt. Exakt dieser Umschlagspunkt und die Frage nach einem Ergebnis, das sich selbst bei genauer Kenntnis des Objekts nicht antizipieren lässt, scheint aber die Crux von Emergenz, eine Crux, die sich in lebenden Systemen radikalisiert – und zwar als Evolution. Selbstverständlich ist Emergenz nicht an Leben geknüpft (auch Wirbelstürme oder die Instabilität von Maschinen sind Phänomene von Emergenz) – aber das Lebendige ist irreduzibel emergent. Ein Bienenforscher im Thriller The Swarm (1978) bringt das auf den Punkt: »I never dreamed that it would turn out to be the bees. They’re our friends. Until this species evolved.« 12 Es ist diese Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit des Lebens und seiner Evolution, die in den narrativen Szenarien über Schwärme bearbeitet wird. Das Unvorhersehbare emergenter Prozesse, das Unvorhersehbare des Lebens selbst wird in einer hypothetischen Geschichte vorweggenommen und ausgeleuchtet. Einige der Schwarm-Erzählungen tun das mit bemerkenswerter Vorausschau.
Evolution I: Swarm Wars Lange bevor das koordinierte Verhalten von Insekten oder die Bewegungsmuster von Fischen und Vögeln über die Ethologie hinaus das Interesse von Informatikern, Militärtheoretikern oder Kommunikationswissenschaftlern erwecken, ist es ein Roman von Stanislaw Lem, der schon 1964 das entwirft, was in den 1990er Jahren als Swarm Intelligence zu einem völlig neuen Forschungsfeld wird. Mitten im Kalten Krieg, kurz nach der Kuba-Krise, die die Schlagkraft moderner Massenvernichtungswaffen beiden Seiten zum Greifen nahe gebracht hatte, erzählt Lem hier eine Geschichte, deren eigentliche Protagonisten nicht Menschen, sondern Waffensysteme sind. Sein utopischer Roman Niezwyciężony (deutsch erschienen als Der Unbesiegbare) trägt schon im Titel, dass es hier um Formen der Kriegführung gehen wird.13 So beginnt der Roman mit der Landung des schweren Raumkreuzers »Der Unbesiegbare« auf dem Planeten Regis III, um dem Verbleib seines verschwundenen Schwesterschiffs »Kondor« nachzuforschen. Der Planet erweist sich als rätselhaft: Es gibt Fische und Pflanzen im Wasser, eine der Erdatmosphäre nicht unähnliche Luft, aber keinerlei Leben auf dem Festland; nur sinnlos verschnörkelte metallene Reste von Architektur, von denen nicht klar ist, ob es sich um Ruinen von 12 | The Swarm, USA 1978, Regie: Irvin Allen, Drehbuch: Stirling Silliphant, nach einem Roman von Arthur Herzog. 13 | Den Hinweis auf Lems Buch verdanke ich Benjamin Bühler und seiner Lektüre von Lems Roman in diesem Band.
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Gebäuden oder von Maschinen handelt. Im ersten Teil des Romans, der der Exploration des Planeten und der Entdeckung der havarierten »Kondor« gewidmet ist, entfaltet Lem ein Arsenal von Waffen, Transportern, Fluggeräten und Kommunikationstechnologien, das sich wie der Wunschtraum eines Kalte-Kriegs-Generals liest. Die Astronauten, die auf Regis III landen, besitzen Flugzeuge, die in der Luft stehen können, Antimateriewerfer, Photonenstrahlen als Antrieb, allgegenwärtige Bildüberwachung, Satellitenkommunikation und einen sphärischen Schutzschild, an dessen Feld jedes gegnerische Projektil verglüht. Der Witz dieses Wunderwaffenarsenals, das Lem mit technischer Präzision schildert, ist, dass es sehr genau die Waffenphantasien des Kalten Krieges verwirklicht: nicht nur HBomben und Kampfhubschrauber, sondern auch zielsuchende Missiles, Luftauf klärungs- und Nachrichtenübertragungstechnologie bis hin zum Abwehrprogramm SDI – kurzum eine Technik, die in Angriff und Abwehr (wie der Name des Raumschiffs sagt) »unbesiegbar« ist. Am Ende des Romans aber, der mit der Glorie des »größten Schiffs, über das die Flottenbasis im Sternbild der Leier verfügte«14 beginnt, wird deutlich geworden sein, dass diese Wunsch-Technik des Kalten Krieges alles andere als unbesiegbar ist. Sie findet einen Gegner, vor dem sie bestenfalls schnell und für immer das Weite suchen kann. Die Maschinen des in die Zukunft hochgerechneten Kalten Kriegs – monolithisch, riesig, schwer, von ungeheurem Zerstörungspotential und scheinbar unangreif bar – werden sich als durchaus besiegbar, nutzlos und hilflos gegenüber einer Macht erweisen, die (wie so oft bei Lem) ganz anders strukturiert ist als die konventionellen Waffen des Menschen. Dieser Gegner ist ein Schwarm. Zuerst scheinbar Fliegen, dann eine riesige schwarze Wolke, in der mehrere Auf klärungsflugzeuge verschwinden, schließlich ein Geschwirr von kleinen Metallpartikeln, die sich zerstreuen, aber bei Bedarf zu einer einheitlichen Formation zusammenfinden. Ihre Wirkungsweise besteht bezeichnender weise darin, dass sie die zentrale Steuerungsinstanz von Menschen und Maschinen außer Kraft setzen: sie löschen den Inhalt von Hirnen und Speicherchips. Als lose Partikelwolke ist dieser Schwarm nicht nur unangreif bar, er ist auch ungeheuer schwer abzuwehren: Der Schwarm umhüllt den Gegner, greift von allen Seiten an, zieht sich plötzlich zurück, um an anderer Stelle wieder anzugreifen. Es ist genau diese Taktik des »pulsing«, des von allen Seiten kommenden, immer neu geführten Angriffs, die heute als »Swarming« zum letzten Schrei militärischer Taktik-Theorie geworden ist. »Swarming occurs when several units conduct a convergent attack on a target from 14 | Stanislaw Lem: Der Unbesiegbare, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995,
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multiple axes. Attacks can be either long range fi res or close range fi re and hit-and-run attacks. Swarming usually involves pulsing where units converge rapidly on a target, attack and then re-disperse.« schreibt Sean J. A. Edwards in seiner 2004 eingereichten Dissertation für die RAND Corporation über Swarming.15 Was die Militärtheorie soeben erst als »the future of conflict« feiert, entwirft Stanislaw Lem hier als romaneske Phantasie vierzig Jahre zuvor. Dabei ist das Schwärmen durchaus keine genuine Erfindung post-moderner Kriegführung, sondern vielmehr eine der ältesten Taktiken überhaupt, von den Operationen Alexanders des Großen über die Mongolenstürme bis hin zu den Kämpfen um Grosny (1994-2000) und Bagdad (2003). Schwärmen gehört zum Krieg immer dann, wenn ein besser bewaffneter, aber weniger mobiler Gegner bekämpft werden muss, also eine starke Asymmetrie zwischen den Kriegsparteien herrscht. Wenn sich Ungleiche auf dem Schlachtfeld begegnen, dann wird geschwärmt. Im Essay mit dem Titel Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution (1983) macht Lem deutlich, worum es ihm mit dem Schwarm-Szenario aus dem Unbesiegbaren gegangen ist. Die SchwarmTechnologie ist der Versuch, das Ungedachte der Waffentechnik des Kalten Kriegs zu denken. Der Emphase auf das Große und Komplizierte, auf die machtvolle Maschine, die Massenvernichtung, den hohen Kosten- und Energieaufwand und die top-down-Befehlsstrukturen, die die Waffentechnologie des 20. Jahrhunderts geprägt haben, setzt Lem eine Figur entgegen, die alles das nicht ist: simple und kleine Waffen, Dispersion statt konzentrierte Vernichtungsschläge, Selbstorganisation statt zentraler Befehlsstruktur. »Die letzte Phase der militärischen Panzer-Gigantomanie«, so Lem in seinem fi ktiv auf das 21. Jahrhundert zurückblickenden Essay, »brach Mitte des Jahrhunderts zusammen und ging in die Phase der beschleunigten Mikrominiaturisierung unter dem Zeichen der künst15 | Sean J. A. Edwards: Swarming and the Future of Warfare, RAND Corporation 2005, URL: www.rand.org/pubs/rgs_dissertations/2005/RAND_RGSD 189.pdf. Edwards war Doktorand von John Arquilla und David Ronfeldt, die für die RAND Corporation die ersten und wegweisenden Studien zur vernetzten, dispersen Taktik, Netwar und Swarming, verfasst haben. Vgl. John Arquilla/ David Ronfeldt: Swarming and The Future of Conflict, Santa Monica: Rand 2000, S. vii, URL: www.rand.org/publications/DB/DB311/. Und dies.: Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime and Militancy, Santa Monica: RAND 2001, URL: www.rand.org/publications/MR/MR1382/. Für eine ausführlichere Analyse der »Feinde der Zukunft« in Netwar- und Swarming-Konzepten siehe: Eva Horn: Die Zukunft der Feindschaft: Netze, Schwärme, Viren, in: dies.: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 478-503.
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lichen ›Nicht-Intelligenz‹ über.«16 Lems spöttische Anspielung auf die zeitgenössische Forschung zur Künstlichen Intelligenz, die »in vergeblichen Versuchen die Funktionen des menschlichen Gehirns in Computern zu simulieren« suchte, hat sich mittlerweile bewahrheitet. Die KI-Forschung ist zunehmend der Erforschung von Swarm Intelligence und Artificial Life gewichen, die gerade nicht mehr anthropomorph vorgeht (d.h. als Simulation des menschlichen Denkens), sondern kooperativ Lösungen finden lässt von verteilten, simplen Akteuren ohne vorgefertigten Plan.17 »Statt eines globalen Planes zur Aufgabenbewältigung existieren viele lokale und einfache Verhaltensregeln, die dicht an der physikalischen Wirklichkeit liegen und in ihrer Struktur so unkomplex sind, dass sie oft durch einfache Schaltkreise realisierbar sind« – so lässt sich der Unterschied von Artificial Life und Artificial Intelligence für die Robotik beschreiben.18 Es ist diese andere Form der Organisation (und damit der »Intelligenz«), um die es Lem geht: Nicht die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ, sondern den KÜNSTLICHEN INSTINKT hätte man in erster Linie simulieren und programmieren sollen, denn die Instinkte sind so gut wie eine Milliarde Jahre früher entstanden, was ein klarer Beweis ist, dass sie leichter machbar sind. Die Spezialisten des 21. Jahrhunderts begannen sich mit der Neurologie sowie der Neuroanatomie der völlig gehirnlosen Insekten zu befassen. […] Natürlich handelte es sich nicht darum, an leblosen Elementen vom Typus der CHIPS oder CROP Wespen, Fliegen, Spinnen oder Bienen zu simulieren, sondern lediglich um ihre Neuroanatomie mit eingebauten Serien der erforderten Verhaltensweisen, die auf das gewählte und programmierte Ziel gerichtet sind.19
Genau dies ist es, was die Forschung zur Swarm Intelligence (die de facto erst in den späten 1980er Jahren begann) untersucht.20 Biologische Beispie16 | Stanislaw Lem: Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder The Upside Down Evolution, in: ders.: Provokationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 67-118, hier S. 91. 17 | Vgl. dazu Hans-Joachim Metzger: Genesis in silico. Zur digitalen Biosynthese, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.): HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997, S. 461-511. 18 | Werner Kinnebrock: Künstliches Leben. Anspruch und Wirklichkeit, München: Oldenbourg 1996, S. 102. 19 | Lem: Waffensysteme, S. 93. Hervorhebungen bei Lem. 20 | Zu den Anfängen der Swarm Intelligence Forschung vgl. Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artifi -
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le aus dem Verhalten der Insekten (Nahrungssuche, Arbeitsteilung, Aufräumarbeiten, Nestbau, oder kooperativer Transport) werden beschrieben, modelliert und dann als Vorlagen für die Form eines Algorithmus, eines Multiagenten-Systems oder das Design von Roboter-Gruppen genommen. »Swarm intelligence offers an alternative way of designing ›intelligent‹ systems, in which autonomy, emergence, and distributed functioning replace control, preprogramming, and centralization.«21 Der Vorzug von Schwarm-Intelligenz-Lösungen ist, dass sie »learning by doing« betreiben: So finden etwa virtuelle Ameisen (also kleine Programme, die exakt das Ausschwärmverhalten von Ameisen mit Pheromonspur simulieren) die Lösung eines klassischen Graphentheorieproblems (den kürzesten Weg durch 15 Punkte nehmen).22 Das bedeutet aber auch, dass ihr Verhalten nur in seinen Grundparametern bestimmbar ist, nicht aber das Ergebnis. Damit hat die Untersuchung von Schwarmintelligenz also mit zwei Rätseln zu tun. Einerseits: welches ist das Resultat von Schwarm-Verhalten? Und: Wie kommt es zu Schwarm-Verhalten? Ab wann »schwärmt« eine gegebene Menge von Individuen? Was ist der Ursprung des Schwarms? Genau auf diese fundamentale Frage nach dem Ursprung des Schwärmens gibt Lem eine Antwort, die – so hochspekulativ sie sein mag – auf den ›Grund‹ dessen zielt, was als emergentes Schwärmen immer erst dann beschrieben werden kann, wenn es bereits vorliegt. Lem, darauf hat Benjamin Bühler hingewiesen, erzählt zu diesem Zweck eine Geschichte.23 Der Name dieser Geschichte ist Evolution. Im Roman Der Unbesiegbare überlegen die Wissenschaftler, nachdem sie bereits mehrere Männer und Flugzeuge an den Schwarm-Feind verloren haben, was auf dem Planeten geschehen sein mag, um diese seltsame, alles dominierende »Spezies« hervorzubringen. Einer der anwesenden Biologen trägt nun eine hypothetische Geschichte von Regis III vor. Vermutlich seien vor Jahrmillionen auf dem Planeten einst die Raumfähren einer anderen, technisch hoch entwickelten Zivilisation havariert. Während die Besatzung starb, blieben cial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 7f. Allerdings haben die Studien zur Bienensprache und zum Verhalten von Ameisenvölkern hier wichtige Grundlagen gelegt. Für einen pointierten Überblick dazu siehe Benjamin Bühler/Stefan Rieger: Vom Übertier, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 60-75. 21 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. xi. 22 | Ebd., S. 39-56. Zur Graphentheorie als Ursprung einer Theorie der Netzwerke siehe Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 36ff. 23 | Benjamin Bühler: Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Cannetti, Frisch und Lem, in diesem Band, S. 269.
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die hochpotenten Maschinen intakt. »Es waren hochspezialisierte homöostatische Mechanismen, fähig, unter den schwierigsten Bedingungen zu überdauern. Sie hatten niemanden mehr über sich, der ihnen hätte befehlen können.«24 Die Automaten beginnen einen Kampf gegen die lokale Fauna und Flora und schließlich auch gegen einander. Einige Automaten machen sich von den anderen unabhängig. »Wesentlich«, so führt der Biologe aus, »war dabei meines Erachtens, dass diese Automaten imstande waren, je nach Bedarf andere Automaten zu produzieren. […] Im Laufe ihres Bestehens auf dem Planeten, Hunderte von Generationen später, hörten die nachfolgenden Mechanismen auf, jenen ähnlich zu sein, von denen sie ausgegangen waren […] Verstehen Sie? Damit begann eine tote Evolution, eine Evolution von Maschinen. Denn was ist schließlich das oberste Prinzip der Homöostase? Unter veränderlichen Bedingungen überdauern.«25
Diese »tote Evolution« ist die Evolution nicht-lebender Organisationsformen, Organisationsformen allerdings, die sich verändern, sich an die Umwelt anpassen, sich reproduzieren und lernen können. Mit anderen Worten: diese Evolution ist alles andere als tot, auch wenn die Chemie ihrer Organismen nicht auf Kohlenstoff-Verbindungen und Proteinketten, sondern auf Metallen und Silicium beruht. Die Vorstellung, dass auch Maschinen »evoluieren« können, setzt voraus, dass sie das tun, was Evolution ausmacht: Umweltanpassung, Selbstreproduktion und Verarbeitung/ Weitergabe von Information. Die Idee, dass theoretisch auch Maschinen evoluieren können, folgt Überlegungen Norbert Wieners, der 1961 seiner Kybernetik von 1948 ein Kapitel Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen anfügt.26 Wiener geht dabei von John von Neumanns Theorie selbst-reproduzierender Automaten aus.27 Bezeichnend ist, dass Wiener (nach langen Ausführungen über nichtlineare Übertrager und Rückkopplung) in einem kurzen Nachsatz auf biologische Organismen verweist: »Ich frage, ob dies, philosophisch betrachtet, sehr verschieden von dem ist, was geschieht, wenn ein Gen als Modell handelt, um andere Moleküle
24 | Lem: Der Unbesiegbare, S. 119. 25 | Lem: Der Unbesiegbare, S. 119-120. 26 | Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine [1948], Reinbek: Rowohlt 1968, Kap. Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen [1961], S. 204-217. 27 | John von Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, hg. u. kommentiert v. A.W. Burks, Urbana, London: University of Illinois Press 1966. Der Text entstand 1952, wurde von von Neumann aber nicht beendet.
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des gleichen Gens aus einer unbestimmten Mischung von Amino- und Nukleinsäuren zu formen […]«.28 Als Mitglied der polnischen Gesellschaft für Kybernetik war Lem mit diesen Überlegungen zweifellos vertraut. Die Frage ist aber, was er daraus macht. Denn ein Schwarm als Paradigma und Ergebnis der Evolution von Maschinen, gewissermaßen als Telos von Evolution überhaupt, ist nichts, worauf Wiener oder von Neumann selbst gekommen sind. Ihre selbstreproduzierenden Automaten sind komplexer als nicht-selbstreproduzierende Automaten, das heißt: mit der Möglichkeit zur Evolution ist immer ein Zuwachs an Komplexität zu verzeichnen. Die Idee sich selbst reproduzierender Maschinen wurde darum – in der Wissenschaft wie in der Fiktion – eher in anthropomorphe (Schreckens-)Szenarien der Robotik umgesetzt, in Maschinen also, die so wie Menschen – aber erheblich besser – sein würden.29 Lems selbstorganisierender Schwarm dagegen eröffnet ein anderes Szenario – eine Entwicklung hin zum Einfachen, zum Kleinen, zur Minimalausstattung –, ein Szenario, das Grundideen der Kybernetik weiterdenkt. Im Essay ›Waffensysteme‹ entwirft er eine umgekehrte Theorie der Evolution. Das Massensterben der großen Organismen zwischen Kreidezeit und Tertiär haben, so bemerkt Lem, vor allem die Insekten relativ unbeschadet überstanden: »Gruppenbildende Insekten wie Ameisen, Termiten oder Bienen überlebten das Elementarereignis in fast unverletztem Zustand.«30 Gerade aufgrund ihrer verhältnismäßig einfachen Struktur seien sie außerordentlich anpassungsfähig an radikale Umweltveränderungen. Dieser Überlebensvorteil sei nun von der Technologieentwick lung des 21. Jahrhunderts aufgegriffen und imitiert worden: »Diese neue Epoche des Militärwesens nannten die zeitgenössischen Fachleute eine ›verkehrte Evolution‹ (upside down evolution), denn in der Natur entstanden in den ersten Anfängen einfache und mikroskopisch kleine Organismen, aus denen sich im Laufe von Millionen Jahren immer größere Gattungen entwickelten. In der Evolution der militärischen post-Atom-Ära herrschte hingegen der umgekehrte, nämlich der mikrominiaturisierende Trend.«31 Von einzelnen großen, in sich komplexen, von einem zentralen Nervensystem gesteuerten, energieverschlingenden Strukturen geht die Entwicklung hin zur Komplexität durch Selbstorganisation einfacher, kleiner Elemente, von den 28 | Wiener: Kybernetik, S. 217. 29 | So etwa bei Hans Moravec: Mind Children. Der Wettlauf zwischen
menschlicher und künstlicher Intelligenz [zuerst 1988], Hamburg: Hoff mann & Campe 2001, der sich explizit auf Szenarien des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov bezieht. 30 | Lem: Waffensysteme, S. 99. 31 | Ebd., S. 107.
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Dinosauriern des Kalten Krieges zur Swarm Intelligence neuer Kriegführungsformen: eine invertierte Evolution. Lems doppelte Umkehrung – die Evolution von groß nach klein verlaufen zu lassen und als ihr Paradigma ausgerechnet Maschinen, nicht lebendige Organismen zu nehmen – hat eine heuristische Pointe. Das Schwarm-Modell ermöglicht es Lem, die Prozesse des Lebens und seiner Evolution neu und anders zu denken. Sein Gedankenexperiment besteht dabei darin, das Leben aus seinem Medium des Organischen zu lösen. Genau dies ist nämlich die Implikation jener Überlegungen, die John von Neumann in seiner Theorie selbst-reproduzierender Automaten anstellt hat. Wenn es möglich ist, Selbstreproduktion von Maschinen zu denken, dann ist das Leben ein Vorgang, der in ein beliebiges Medium übertragen werden kann.32 Erst diese Verschiebung – eine Verschiebung oder Übertragbarkeit, die auch Wiener in seinem Nachsatz zur Biologie als Welt selbst-reproduzierender Maschinen vornimmt – ermöglicht es, das Leben als Form, als Organisationsstruktur zu sehen, jenseits seiner stofflichen Träger. Der Schwarm figuriert damit etwas, das als solches gar nicht figurierbar ist: das »Leben selbst«, und zwar als ein Prozess, der nicht auf eine anthropomorph gedachte Form von Komplexität zuläuft (»im Evolutionsspiel siegt doch immer das Wesen mit dem höher entwickelten Nervensystem, nicht wahr?« fragt ungläubig einer der Astronauten im Unbesiegbaren33). Komplexität als Ergebnis evolutionärer Dynamik ist, so die Lehre Lems, nicht notwendig anthropomorph.34 Evolution ist ein Prozess, der möglicherweise eine andere, den Menschen ausschließende, ihn zugleich unter- und überbietende Organisationsform hervorbringen und favorisieren wird – den Schwarm. Lems Gedankenexperiment macht so eines deutlich: Möglicherweise ist der Mensch, sind die Tiere, die Pflanzen, ist alles Organische nur »Medien« einer Organisationsform, die – wie die Forschungen zum Artificial Life seit einigen Jahren demonstrieren – auch in ganz anderen Medien stattfinden kann. Der Schwarm figuriert so ein Ende des Menschen, ein Ende, das zugleich aber auch die Grundlage seiner Existenz ist: die Selbstorganisationsprozesse des Lebendigen.
32 | von Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, insb. S. 78f., S. 126-131. Neumanns gesamte Theorie der Selbst-Reproduktion benutzt Begriffe, die analog zu biologischen Funktionen gedacht sind: Stimulus, Muskeln, Wachstum, Neuronen, Evolution, Organe, Degeneration etc. 33 | Lem: Der Unbesiegbare, S. 121. 34 | Ähnlich argumentiert von Neumann, dass die Fähigkeit zur Selbstreproduktion nicht notwendig zu komplexeren Automaten führen muss, s. von Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, S. 79 und S. 287.
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Evolution II: hard, soft, wet und nano Lems Konzept einer »toten«, nicht im Organischen stattfindenden Evolution nimmt die epistemologischen Grundlagen gegenwärtiger Modellierungen von »Leben« im Computer vorweg und denkt damit Leben als reine, abstrakte Form von Organisation. So aktuell dies ist, so altmodisch ist doch seine Vorstellung davon, was Evolution antreibt. Lems umgekehrte Evolution ist eine, deren Mechanismen noch ganz vom Darwinschen Narrativ vom Kampf der Arten und dem survival of the fittest getragen ist. In ihr gibt es nur zwei Optionen – überleben oder aussterben. Selektion und Überleben sind ihr Motor, ein im Grunde linearer Prozess des langsamen und kontinuierlichen Verschwindens gewisser Formen beim Vormarsch anderer. Jener Umschlagspunkt, die Emergenz des Schwarms oder neuer Arten muss darum in Lems Narrativ ausgespart werden. Das Narrativ »Evolution« in seiner (neo)darwinistischen Ausprägung ist ein kontinuierlicher, gradueller Prozess ohne Sprünge, das Auftauchen neuer, unableitbarer Formen von Leben ist hier nur ex post und nur als Form der Umweltanpassung beschreibbar.35 Genau diese Vorstellung ist von EvolutionsBiologen wie Stephen Jay Gould oder Komplexitätstheoretikern wie Stuart Kauffman in den letzten Jahren massiv in Frage gestellt worden. Gould schlug vor, Evolution nicht als graduellen Prozess, sondern die Ausdifferenzierung von Arten als »unterbrochenes Gleichgewicht« (punctuated equilibrium) zu beschreiben, in dem lange Phasen ohne Veränderungen von kurzen Momenten des intensiven Umbruchs unterbrochen werden.36 Was diese Veränderungen hervorruft, sind nicht einfach zielgerichtete Formen der Anpassung, sondern Nebeneffekte, die Gould und Lewontin »spandrels« genannt haben: »Evolutionary biology,« so Gould/Lewontin, »needs such an explicit term for features arising as byproducts, rather than adaptations, whatever their subsequent exaptive utility […]«.37 Eigenschaften sind da oder entstehen, ohne dass sie sofort funktional sein müssen – sie sind Nebeneffekte, die lange bestehen können, bevor sie irgendwann plötzlich 35 | Vgl. den prägnanten Überblick über die gegenwärtigen Ansätze der Biologie bei Martinez J. Hewlett: Biological Models of Origin and Evolution, in: Nancy Murphy/William Stoeger (Hg.): Evolution and Emergence. Systems, Organisms, Persons, Oxford: Oxford University Press 2007, S. 158-172. 36 | Stephen Jay Gould/Niles Eldredge: Punctuated Equilibria: An Alternative to Phyletic Gradualism, in: T.J.M. Schopf (Hg.): Models in Paleobiology, San Francisco: Freeman, Cooper & Co. 1972, S. 82-115. 37 | Stephen Jay Gould: The exaptive excellence of spandrels as a term and prototype, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 94 (1997), S. 10750-10755, hier: S. 10750, Hervorhebung E.H.
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Funktionen übernehmen. Genau dieses plötzliche Ineinandergreifen solcher Eigenschaften mit Umweltbedingungen oder mit den Eigenschaften anderer Organismen (etwa in Symbiosen oder im Schwarm-Verhalten) ist das Moment evolutionärer Emergenz. Stuart Kauff man hat argumentiert, dass damit Prozesse der Selbstorganisation für die Entstehung biologischer Komplexität (in Systemen wie in einzelnen Organismen) genau so wichtig sind wie die der Selektion.38 Das Leben, so Kauff man, entsteht – oder besser: entspringt – der »spontanen Kristallisation« präbiotischer Moleküle, die zum Katalysator für Netzwerke von Reaktionen werden können. Leben ist eine kollektive Eigenschaft eines Systems interagierender Moleküle.39 Mit anderen Worten: Leben besteht in und entsteht aus Prozessen, die im plötzlichen und unvorhersehbaren Ineinandergreifen von Faktoren eine komplexe Ordnung hervorbringen. Seine Erscheinungen sind unvorhersehbar und kontingent, Evolution ist, wie Kauffman Jacques Monod zitiert, »chance caught on the wing«. 40 Auf diesem Stand einer post-darwinistischen Biologie, die systemische Prozesse der Selbstorganisation und Emergenz untersucht, die zu diesem Zweck Organisations- und Operationsformen des Lebens in Computern simuliert und die schließlich auch in der Lage ist, dieses Wissen in künstlich erzeugte Organismen umzusetzen, operieren neuere Bio-Thriller. Auch sie stellen die Frage nach einer Geschichte des Lebens, einer Geschichte, die nicht mehr die des Darwinschen Kampfs ums Überleben ist, sondern eine von schnellen, überraschenden, spontanen Ereignissen. Geschichten von Schwärmen, die sich plötzlich zusammenballen. Geschichten von Spezies, die plötzlich auftauchen. Geschichten von harmlosen Arten, die plötzlich angreifen. Wenn Emergenz, wie Goldstein sie fasst, sich per definitionem durch die ostentative Wahrnehmbarkeit eines neuen Phänomens (oder einer neuen »Gestalt«) auszeichnet, dann ist der Schwarm im kollektiven Imaginären genau der Modus oder besser: die Figur dieser – nicht selten schrillen und schrecklichen – Wahrnehmbarkeit biologischer Emergenzphänomene. Wo Lem den Moment der Emergenz in seiner geraff ten paläologischen Hypothese nur einklammern kann, geht es neueren Schwarm-Fiktionen gerade darum, die Dynamiken von Selbstorganisation und Evolution am konkreten Fall und im Moment ihres Erscheinens aus38 | Vgl. Stuart Kauff man: The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution, New York, Oxford: Oxford University Press 1993, Themes, S. xiii–xviii. 39 | Stuart Kauff man: At Home in the Universe. The Search for the Laws of Self-Organization and Complexity, New York, Oxford: Oxford University Press 1995, S. 23. 40 | Kauff man: The Origins of Order, S. 25.
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zuleuchten. Bemerkenswert ist dabei, dass sowohl Michael Crichtons Prey wie Frank Schätzings Der Schwarm den Menschen dabei nicht mehr als fassungslosen, externen Beobachter der »toten Evolution« denken, sondern als Agent und Akteur im biologischen Geschehen. Der Mensch ist Teil jenes Lebens, das der Schwarm fi guriert, er ist Teil, aber auch Verursacher einer Evolution oder einer Emergenz, deren Gesetze und Dynamiken er – trotz aller Forschung – gerade nicht versteht. Beide Romane erzählen von den Folgen dieses Nicht-Verstehens, und beide wollen eine Lehre erteilen: eine Lehre über die Konsequenzen eines Handelns, das nicht in der Lage ist, die komplexe Verflochtenheit und Unvorhersehbarkeit des Lebendigen in Rechnung zu ziehen. Beide Romane sind Warngeschichten. Crichtons Plot folgt getreu jenem ältesten Schema der Wissenschafts-Fiktion, das Mary Shelleys Frankenstein (1818) geprägt hat: ein Experiment, das schief geht, weil seine Folgen nicht absehbar waren. Jack Forman, studierter Biologe und nun arbeitsloser Experte für die Programmierung von Multiagentensystemen und Artificial Life, versorgt als Hausmann seine drei Kinder, während seine Frau Julia im Vorstand einer Nanotechnologie-Firma ist. Diese Firma hat einen Großauftrag des Militärs für Aufklärungskameras im Nano-Format erhalten, die sie in einer Fertigungsanlage von Nevada herstellen. Die Nano-Drohnen sollen sich zu einem Scharm zusammenschließen können, der weder abgeschossen noch wahrgenommen werden kann und damit ideal ist für die heimliche Aufklärung feindlichen Terrains. Hergestellt werden sie von sogenannten biologischen Assemblern (in diesem Fall von der Darmbakterie Escherischia coli), die die Einzelteile der Nano-Kameras zusammenfügen. Eingepflanzt wird ihnen ein Computerprogramm, das ihnen ermöglicht, zusammenzuströmen, sich auf ein Ziel zu fokussieren und dieses zu »jagen«. Es ist ein Programm, das die Verhaltensweisen von Raubtier-Rudeln im Umgang mit ihrer Beute simuliert (nach diesem Programm der Titel Prey) – und Autor dieses Programms war Jack Forman. Um zu testen, ob die Idee außerhalb des Labors funktioniert, lassen die Nano-Forscher den Schwarm nach draußen in die Wüstenlandschaft. Und natürlich beginnt damit das Desaster: Die Schwärme sind zwar für militärische Zwecke nicht zu gebrauchen, weil sie vom Wind auseinandergeweht werden können, aber sie entwickeln in schnellster Zeit ein eigenständiges Verhalten und sind von ihren Erfindern nicht mehr zu steuern. Zunächst versucht Julia als ehemalige Kinderpsychologin, den Schwarm wie ein Kind zu erziehen. Der Schwarm lernt zwar, aber anders als Kinder lernt er gerade nicht zu gehorchen. Darum wird schließlich Jack Forman als Experte für Swarm Intelligence in Computerprogrammen gerufen, den Schwarm in den Griff zu bekommen. Er lernt dabei zwar – wie der Leser – eine Menge über das aus dem Ruder gelaufene Schwarm-Verhalten, am Ende hilft
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aber nur Thermit und ein biologisches Gegenmittel, um eine katastrophale Ausbreitung der Schwärme in letzter Minute zu verhindern. Eine klassische Frankenstein-Geschichte also: künstliches Leben außer Kontrolle. Dabei sind die Nano-Apparaturen, aus denen der Schwarm bei Crichton besteht, alles andere als klassische Formen organischen Lebens. Vielmehr sind sie seltsame Hybride, die von Neumanns Hypothese, dass das Leben als Form unabhängig von einem bestimmten Medium ist, auf unheimliche Weise bestätigen und radikalisieren. Sie sind nämlich dreierlei: teils Maschine, teils Organismus und teils Programm – Hybride aus Nanotechnologie, Gentechnik und Informatik. Was die Nanotechnologen nicht begreifen, ist, dass diese von ihnen geschaffenen Partikel leben – mit allem, was dazu gehört: Sie versorgen sich mit Energie, sie können sich reproduzieren, koordinieren und kollektiv handeln – und (was das Schlimmste ist) sie lernen. So vermehrt sich der Schwarm exponentiell und legt jeden Tag ein neues, immer gefährlicheres Verhalten an den Tag: erst jagt er, dann simuliert er seine Erfi nder, schließlich tötet er sie. Die Voraussetzungen seiner Eigenständigkeit wurden ihm absichtlich durch die Konstrukteure mitgegeben: eine eigene Energieversorgung durch Solarkollektoren, die Programmierung zum intelligenten kollektiven Verhalten, die Bio-Assembler, die auf jedem Stück organischer Materie ihre Nahrung fi nden und sich in der Wärme der Wüste mit ungeheurer Geschwindigkeit reproduzieren. Aber die Konstrukteure waren sich nicht bewusst, was sie mit dieser systemischen Kombination von Eigenschaften geschaffen haben: etwas, das sich nicht mehr ›ausschalten‹ lässt, weil es sich selbst steuert, versorgt und reproduziert. Genau dies ist gleichermaßen der Traum wie die (unbedachte) Kehrseite der Schwarm-Intelligenz, wie Jack Forman sinniert: »In all the years that I had been programming agents, the focus had been on getting them to interact in a way that produced useful results. It never occurred to us that there might be a larger control issue, or a question of independence.«41 Der Schwarm stellt und ist ein Kontroll-Problem. In dem Maße, wie die Nano-Maschinen anfangen zu »schwärmen«, sich selbst zu organisieren, Informationen zu verarbeiten und sich zu reproduzieren – in genau diesem Maße geraten sie außer Kontrolle. Dieses Außer-Kontrolle-Geraten des Schwarms verweist dabei – das vorzuführen ist Crichtons erklärtes Anliegen – auf fundamentale Denkfehler der Wissenschaft. Insbesondere die Nano-Technik hält Crichton, wie er im Vorwort des Buches darlegt, für außerordentlich gefährlich. 42 41 | Michael Crichton: Prey, New York: Avon 2002, S. 198. Hervorhebung
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Nanotechnologie, das macht einer ihrer Begründer, K. Eric Drexler deutlich, sieht sich selbst als Technologie, das heißt als ein mechanisches Bauen mit unbelebter Materie, wenngleich am »ultimate limit of fabrication«. 43 Nanotechnologie ist aber nicht nur eine Form von grenzwertigem Maschinenbau, sie ist durch und durch interdisziplinär, nutzt Einsichten von Biologen, Physikern, aber auch Werkstoffchemikern, Ingenieuren und Informatikern. So hybrid die epistemologischen Grundlagen und Quellen nanotechnologischer Forschung sein mögen, sehen sich Gründerfiguren wie Drexler dennoch in letzter Konsequenz als eine Avantgarde von Ingenieuren: Man baut Maschinen, Roboter (sogenannte nanobots), so klein diese auch sein mögen. Genau dieses Selbstverständnis der Nanotechnik wird aber innerhalb der Community heftig diskutiert, wobei dem mechanistischen Modell der Ingenieure ein organizistisches Verständnis von Nanotechnologie entgegengehalten wird. 44 Dieses setzt weniger darauf, die richtigen Teile im richtigen Verhältnis an ihren Platz zu bekommen als darauf, dass die Nanomaschinen sich selbst zusammensetzen. Ihre Modelle sind nicht die Baupläne der Mechanik, sondern die Selbstorganisationsprozesse der Biologie: »A self-assembling process is one in which humans are not actively involved, in which atoms, molecules, aggregates of molecules and components arrange themselves into ordered, functioning entities without human intervention. […] People may design the process, and they may launch it, but once underway it proceeds according to its own
nung vor neuen Technologien (Gentechnologie, Computertechnologie und Nanotechnologie sind seine Kandidaten), die Produkte hervorbringen, deren Wechselwirkungen mit anderen Organismen die beteiligten Wissenschaftler nicht absehen können. Crichton führt vor, wie genau er den Stand der Forschung (von 2002) recherchiert hat und gibt dem Leser am Ende des Romans eine recht brauchbare Bibliographie zur Einführung in die Themen Verteilte Intelligenz, Nanotechnologie und Genetik samt der einschlägigen Werke zur Swarm Intelligence. 43 | So ein Aufsatztitel von K. Eric Drexler: Molecular Manufacturing: Perspectives on the Ultimate Limit of Fabrication, in: Philosophical Transactions of The Royal Society. Mathematical, Physical & Engineering Sciences 353/1703 (Dec. 15, 1995): Perspectives on the Limits of Fabrication and Measurement, S. 323331. Siehe auch K. Eric Drexler: Nanosystems, Molecular Machinery, Manufacturing, and Computation, New York: Wiley & Sons 1992. 44 | Vgl. dazu Bernadette Bensaude-Vincent: Nanobots and Nanotubes. Two Alternative Biomimetic Paradigms of Nanotechnology, in: Jessica Riskin (Hg.): Genesis Redux. Essays in the History and Philosophy of Artificial Life, Chicago, London: University of Chicago Press 2007, S. 221-236.
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internal plan […]«. 45 Nanotechnologie ist eine Technologie, die sich idealiter selbst baut. Als Selbstorganisationsprozess bewegt sie sich damit an einer Grenze: der Grenze zu den Prozessen des Organischen, der Grenze zum Lebendigen. Und genau das scheinen die Nanotechniker im Roman nicht verstanden zu haben. Denn sie haben gerade auf diese quasi-organischen Selbstbauprozesse (in diesem Fall das Hinzuziehen von lebenden Organismen als Assembler) gesetzt. Sie fusionieren so Hardware (also die Bauteile der Nano-Kameras), Software (den Schwarm- und Jagd-Algorithmus, der die Partikel dazu bringt, sich zu koordinieren und rasant schnell zu lernen) und Wetware, das organische Material, das die Verkörperung des Funktionsprogramms ist. Das künstliche Leben der Computer-Simulation von (in der Natur gegebenem) Schwarm-Verhalten oder Jagd-Verhalten wird so in die Natur zurückeingespeist in Form von hybriden künstlichen Lebensformen.46 Damit sind die Schwärme in Prey mehr als nur warnende Beispiele für unabsehbare Technologiefolgen, als die Crichtons besorgtes Vorwort sie einführt. Das künstliche Leben lehrt etwas über die Dynamiken des Lebendigen – und diese Lehre bezieht sich genau auf jenen Moment, in dem der Schwarm sich zusammenballt, in dem er lernt und sich der Lenkung von außen entzieht: die Emergenz von Intelligenz. Diese Emergenz haben die Wissenschaftler erzeugen wollen und in ihrem Resultat dennoch nicht vorhergesehen. Der Schwarm ist damit das sinnfällige Bild des Kontrollverlusts, der der Preis von Dynamiken der Selbstorganisation ist. Denn die komplexe Ordnung, die in Prozessen der Selbstorganisation entsteht, garantiert nicht, dass sie sich selbst in der Balance halten kann. Während negatives Feedback ein System stabil hält und Gleichgewichte herstellt, sorgt positives Feedback, die Verstärkung des System-Outputs durch mehr vom Gleichen, für Selbststeigerung der Systemdynamik. Es ist genau dieses »Mehr«, das in der exponentiellen Vermehrung der Schwarm-Partikel stattfindet. Auch wenn keine Selbstorganisation ohne positives Feedback zustande kommen kann, so ist es doch diese Steigerungsdynamik des positiven Feedbacks, die Systeme zur qualitativen Veränderung, aber auch zur Eskalation treibt: more is different. Nur durch positives Feedback und die ihm inhärente Dynamik der Selbstverstärkung und Steigerung ist Selbstorganisation in der Lage, genuin Neues hervorzubringen. 47 Genau darin 45 | Geoge Whitesides: Self-Assembling Materials, in: Scientifi c American 273/3 (Sept. 1995), S. 146-149. 46 | Auf diese geradezu ironische Struktur des Feedback im Artificial Life verweist Metzger: Genesis in silico, S. 462. 47 | Vgl. Scott Camazine et al.: Self-Organization in Biological Systems, Princeton: Princeton University Press 2001, S. 15-27.
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liegt aber auch das Risiko selbstorganisierter Systeme. Die Emergenz nicht vorhersehbarer Ergebnisse ist die beunruhigende, aber um so faszinierendere Seite der Selbstorganisation: Ihre Produkte und Dynamiken lassen sich nicht restlos im Blick auf die Teilsysteme erklären und noch weniger kontrollieren. Schwärme sind »out of control« in exakt dem Moment, wo sie beginnen, ein Schwarm zu werden. 48
Evolution III: Globale Intelligenz Crichtons Desaster, das am Ende nur durch eine biologische Lösung alter Schule (Phagen, die die Assembler-Bakterien umbringen) in den vorläufigen Griff gebracht werden kann, ist gleichwohl ein lokales. Um nicht weniger als die ganze Welt geht es dagegen Frank Schätzings Thriller Der Schwarm. 49 Der Technik-Skepsis Crichtons setzt Schätzing einen NaturSpiritualismus entgegen, der dem Schwarm eine letzte, gleichsam ethische Aufladung verleiht. Schätzings Schwarm ist das große Ganze: die Allegorie der Dynamik des Lebendigen, des Lebens selbst. Wo es um dieses große Ganze geht, kann das Szenario nichts anderes sein als eine Katastrophe globalen Ausmaßes. Schätzings Buch erzählt von einem Krieg, einem Angriff auf die Menschheit, der von einer gänzlich vernachlässigten, scheinbar völlig harmlosen Seite her kommt: den Tieren. Innerhalb weniger Wochen werden nicht nur Fische und Meeressäuger plötzlich aggressiv gegen Menschen und Schiffe, sondern es tauchen auch seltsame Mutationen bekannter Lebewesen auf: Tiefsee-Schlammwürmer mit überdimensionierten Kiefern, Hummer, die hochtoxische Mikroalgen enthalten, wandernde Muscheln, die Schiffsschrauben blockieren können. Schiffskollisionen, massenhafte Vergiftungen, von Walen angegriffene Segler und schließlich ein von unterirdischen Methanverpuff ungen ausgelöster Tsunami an den Küsten Nordeuropas sind die Folge. Natürlich fragt sich die von einer amerikanischen Generalin einberufene Expertentruppe eine ganze Weile lang, ob nicht arabische Terroristen ganz einfach den Rohöl-Markt manipulieren wollen. Irgendwann aber wird klar, dass es hier nicht um Terroristen geht – sondern um animalische Akteure. Große und kleine Tiere, vom Einzeller bis zum Blauwal, sind es, die Schiffe zum Kentern bringen und schließlich einen ganzen Kontinentalhang abrutschen lassen, um sich des Menschen 48 | Genau diesen Aspekt von Dynamiken der Selbstorganisation hebt der hervorragende Überblick von Kevin Kelly hervor: Kevin Kelly: Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization, Reading/MA: Addison-Wesley 1994, insbesondere Kap. Hive-Mind, S. 5-24. 49 | Frank Schätzing: Der Schwarm, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004.
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zu entledigen. In dieser Krise sind Walschützer und Meeresbiologen plötzlich nicht mehr die Verkörperung des ökologischen Gewissens, sondern einfach die besseren Analysten, weil sie biologische Emergenz denken können. Was sie finden, ist eine hoch entwickelte Intelligenz, die nichts anderes ist als die Aggregation einer riesigen Menge von Einzellern: ein Schwarm, den die ratlosen Forscher die »Yrr« nennen. Offenbar existieren sie seit Anbeginn der Besiedlung des Planeten und haben nun den Menschen, der die Meere überfischt und vergiftet, als ökologischen Störfaktor ausgemacht. Was diese Instanz der biologischen Intelligenz tut, ist nichts anderes, als was avancierte Biotechnologie bestenfalls versucht: Sie erzeugt ihre Waffen in Form von mutierten Krabben, Würmern und Bakterien. Aber anders als der gentechnologisch experimentierende Mensch »weiß« die Intelligenz der Yrr sehr genau, welche globalen systemischen Folgen ihre lokalen Eingriffe haben werden (z.B. der Abrutsch eines Kontinentalhangs durch die Kombination von methanabbauenden Bakterien, mutierten Schlammwürmern und einer Manipulation der Meeresströmung). Sich des Menschen zu entledigen, der die Meere verseucht und überfischt, ist aus dieser globalen Perspektive nichts anderes als eine ökologisch stabilisierende Maßnahme, ein Eingreifen in jenen Teil des Netzwerks, der sich zum Schaden des Gesamtsystems auswirkt. So aberwitzig dieser Plot klingen mag, so präzise recherchiert sind gleichwohl seine epistemologischen Grundlagen.50 Denn der Kern des Szenarios, ein intelligentes, selbstorganisiertes Kollektiv aus Einzellern, das alle möglichen Formen annehmen, sich dissoziieren und assoziieren kann ohne irgendeine Leitungsinstanz greift frühe Forschungen von Evelyn Fox Keller und Lee A. Segel zur biologischen Selbstorganisation auf und denkt sie weiter. Keller/Segels Gegenstand war ein zellulärer Schleimpilz, Dictyostelium discoideum.51 Dieser Pilz tritt unter bestimmten Umständen als Amöbe auf, unter anderen aggregiert er zu einem Zellorganismus, der 50 | Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Liste der Danksagungen am Ende von Schätzings Buch, die so ähnlich funktioniert wie Crichtons Bibliographie: als Ausweis der Wissenschaftlichkeit. Bedankt werden etliche Genetiker, Meeresbiologen und -geologen, sowie zahlreiche Wissenschaftsjournalisten. Unter ihnen sind einige Wissenschaftler, die selbst als Autoren populärer Sachbücher oder Romane in Erscheinung getreten sind, wie U.A.O. Heinlein oder Manfred Reitz. 51 | Der bahnbrechende Artikel der Biologin Evelyn Fox Keller und des Mathematikers Lee A. Segel und ihre nachfolgenden Forschungen werden seither als das »Keller-Segel-Modell« zitiert. Evelyn Fox Keller/Lee A. Segel: Initiation of slime mold aggregation viewed as an instability, in: Journal of Theoretical Biology 26/3 (März 1970), S. 399-415.
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sich wie eine Made bewegt und schließlich durch die Ausbildung eines Fruchtkörpers vermehrt. Andere Forscher haben nachgewiesen, dass diese Amöben sogar »intelligent« genug sind, den kürzesten Weg durch ein Labyrinth zu einer Futterquelle zu finden.52 Schätzings Yrr sind damit ein fi ktives Modell biologischer Selbstorganisation, hochgerechnet auf globalen Maßstab: ein Gedankenexperiment über die Entstehung von komplexer Intelligenz aus der Aggregation simpelster Organismen. Die Yrr sind eine amorphe Masse, die immer wieder andere Formen annehmen kann, die wie die Schleimpilze oder Ameisen über Signalstoffe kommuniziert und die denken und erinnern kann. Wie beim Bienenschwarm, der auch ohne Speichermedien ein weitaus längeres Gedächtnis hat als das Leben der einzelnen Biene, ist es bei den Yrr die unendliche Vielzahl der Einzelorganismen, aus der Denkfähigkeit und ein unendliches Gedächtnis erwachsen. Die Yrr sind so die Verkörperung der Swarm Intelligence, sie sind das Wesen der ›Schwarmhaftigkeit‹. Spiritueller gesonnen als Crichton, der für vorsichtige Technikfolgenabschätzung plädiert, entwirft Schätzing seinen Schwarm als Alternative zum Menschen: Sie »verkörpern einen zweiten Weg der Evolution zu intelligentem Leben«.53 Statt eines zentralen Nervensystems, das dem Individuum ermöglicht, im Verlauf seines begrenzten Lebens zu lernen, aber dieses Wissen nur in sehr beschränkter Menge und über fragile Medien weiterzugeben, sind die fi ktiven Yrr das Modell für ein Wissenssystem, in dem nichts verloren geht: Sie speichern Informationen auf bestimmten, reparaturresistenten Abschnitten ihrer DNA. Damit ist das Kollektiv der Yrr ein großes und simultan abrufbares Archiv des Wissens aller Einzelzellen seit Beginn ihrer Existenz. »Individuelles Wissen wird vereinheitlicht, Unbekanntes untersucht. Anfangs sind einige Kollektive neuen Herausforderungen nicht gewachsen, aber im Austausch lernen sie dazu. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt läuft die Lernentwicklung linear, darüber hinaus ist das Verhalten der Kollektive nicht mehr vorhersagbar.«54 Die andere Evolution, die der Schwarm verkörpert, wirft ein Licht auf die Mängel jener Evolution, die die menschliche Intelligenz möglich gemacht hatte – und damit auch auf die Mängel der menschlichen Denkmöglichkeiten. Zentrale Nervensysteme werden nicht nur immer wieder 52 | So die Forschungen von Toshiyuki Nakagaki, Bio-Mimetic Control Research Centre, Nagoya, Japan, am Schleimpilz Physarum polycephalum von 2000. Toshiyuki Nakagaki/Hiroyasu Yamada/Ágota Tóth: Intelligence: MazeSolving By An Amoeboid Organism, in: Nature 407/6803 (Sept. 28, 2000), S. 493-496. 53 | Schätzing: Der Schwarm, S. 839. 54 | Ebd., S. 847.
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von Neuem das Wichtigste vergessen, sondern auch nie das große Ganze erfassen können, weil sie nicht im System, nicht im Schwarm denken. Für Schätzing ist die akkumulative, globale und vergessenslose Schwarm-Intelligenz der Yrr ein Anderes des Menschen, das diesen zugleich umfasst und übersteigt: eine Meta-Intelligenz. In diesem Schwarm-Spiritualismus ist der Schwarm am Ende ein romantisches Modell der intelligenten Natur, der sich der Mensch nur ehrfürchtig unterwerfen kann, indem er sich als ein kleiner Teil des Systems denkt – und damit anfinge, selbst Schwarm zu werden.
Schluss Schwärme sind nicht nur mehr als die Summe der Individuen, die sie bilden. Schwärme sind, in der Wissenschaft wie in der Fiktion, Modellierungen für etwas, das den Grund allen »Lebens« darstellt. Schwärme sind das »Leben selbst«, sie machen die unüberschaubare Verwobenheit der Prozesse des Lebens sichtbar in einer Figur, die immer zugleich vieles und eines ist. Als Relationalität, aus deren Einzelelementen das Zusammenspiel der Gesamtheit nicht ableitbar ist, figuriert der Schwarm die irreduzible Konnektivität des Lebendigen; als ständige Bewegung die Dynamik einer Evolution, die reiner Prozess, reines Erscheinen ist. In der hypnotischen Wirkung, die Schwarm-Formationen auf das Auge haben, in der irritierenden und nicht selten im Modus des Horrors wahrgenommenen Undurchschaubarkeit ihres zugleich chaotischen und koordinierten Operierens sind Schwärme Makro-Darstellungen dessen, was das »Leben selbst« auf der molekularen Ebene ausmacht. In diesem Sinne ist Schwarmforschung immer Grundlagen-Forschung, und Schwarm-Fiktionen sind narrative Reflexionen auf diese Grundlagen. Diese mögen als Gedankenexperiment auf die Implikationen der Kybernetik für die Evolutionstheorie (Lem), als pädagogische Parabel über mangelnde Technikfolgenabschätzung (Crichton) oder als Meditation über die Selbstverortung des Menschen in einer vernetzten und intelligenten Natur (Schätzing) angelegt sein. Immer ist der Schwarm auch hier mehr als die Summe seiner Teile, mehr als eine Aggregation kooperierender Tiere – mit anderen Worten: mehr als ein Schwarm. Er wird zum Modell für überlegene Waffentechnologie, für effiziente Computerlösungen, für die Emergenz unerwarteten und bedrohlichen Verhaltens, oder für eine systemische Intelligenz, die der des Menschen konstitutiv überlegen ist. Während die Modellierungen und Theorien zu Schwarm-Intelligenz und Selbstorganisation sich aber auf die (Re-)Konstruktion der Operationsalgorithmen im Schwarm-Verhalten konzentrieren und damit vor allem John von Neumanns Idee folgen, dass
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Leben als reine Organisationsstruktur auch in anderen Medien als dem Organischen gedacht werden kann, gehen die Fiktionen in die entgegengesetzte Richtung: weg von der Abstraktion hin zur schrillen Bebilderung. Die Darstellung von Schwärmen in der Wissenschafts-Fiktion schwankt darum ähnlich wie die populärwissenschaftlichen Publikationen über Smart Mobs und »Swarming« zwischen Euphorie und Horror.55 Aber auch das sind nur weitere Modi der Darstellung und des Verstehens. Am Ende werden Schwärme das gewesen sein, was weder Wissenschaft modellieren noch Fiktion imaginieren kann: Erscheinung des Lebens.
55 | So bei Howard Rheingold: Smart Mobs: The Next Social Revolution, Cambridge/MA: Perseus 2003, Albert-László Barabási: Linked. The New Science of Networks, Cambridge/MA: Perseus 2002, dagegen kritischer und differenzierter Kevin Kelly: Out of Control.
Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung Sebastian Vehlken
Man könnte mit einer jener Stellen beginnen, die pathetisch die Faszination von Vogel- oder Fischschwärmen beschreiben, ihr ›Schweben‹ und ›Tanzen‹ imaginieren, und das erhebende Gefühl angesichts der Schönheit dieses Schauspiels betonen. Eine solche phänomeno- oder anthropologische ›Anschauung‹ dieser Kollektive ohne Zentrum verstellt jedoch den Blick dafür, dass im Schwarm selbst stets etwas die Wahrnehmung verzerrt: Schwärme schillern in einem Spannungsfeld von Störung und Organisation, dessen diskursive und historische Dynamiken einem subjektzentrierten Blick geradezu diametral entgegenstehen.1 Von Weitem noch als diff us-kohärente Bewegungsdynamik sichtbar, übersteigt ihr Flirren und Wimmeln von Nahem schnell nicht nur das Vermögen menschlicher Wahrnehmung sondern auch das visuell operierender technischer Aufzeichnungsmedien. Ein Geschehen, dass sensuell oder medial übertragen werden soll, wird hier vom eigenen Übertragungsgeschehen eingeholt.2 An Schwärmen lässt sich geradezu ein Präzedenzfall des Medialen ablesen, wenn ›das Schwärmen‹ zwischen Beobachter und Schwarm intermittiert. »Am Anfang ist das Rauschen«, schreibt Michel Serres, und dieses Rauschen ist, wie Bernhard Siegert anmerkte, der »Anfang 1 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 15. 2 | Vgl. Joseph Vogl: Gefieder, Gewölk, in: Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln: Herbert von Halem Verlag 2004, S. 140-149, hier: S. 147.
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der Medientheorie, jeder Medientheorie«:3 Erst durch Akte der Rauschunterdrückung stellt sich Medialität ein. Eine Erforschung von Schwärmen problematisiert sich mithin erstens durch die Suche nach adäquaten medialen Zugangsweisen zu einem »Körper ohne Oberfläche«, der durch seine Feinstofflichkeit und Bewegtheit je schon die Grenzen des zentralperspektivischen Codes markiert. 4 Schwärme zeigen in einem Chaos von Raum-, Zeit- und Bewegungsdaten die »Unfähigkeit zu Gegenständen überhaupt, die Unfähigkeit zu empirisch erfahrbaren Objekten«5 an: Ein epistemischer Zugang zu ihnen steht damit je unter der Bedingung einer unhintergehbaren Störrelation, die sie medienhistorisch mehrfach als Grenzfälle experimenteller Anordnungen und repräsentationaler Verfahren erscheinen lässt. Sie stehen damit stellvertretend für eine Klasse von Problemen nicht-linearen Systemverhaltens, an denen sich eine Transformation im Umgang mit Nicht-Wissen ablesen lässt, die von analytischen zu performativen Strategien führt. Diesen Verfahren geht es kurzum nicht darum, was ein Schwarm ist, sondern wie er ist, und dieses Wie? wird je unterschiedlich in »Paper Tools« (Ursula Klein), visuellen und akustischen Beobachtungsmedien, und schließlich in Modellen und dynamischen Computersimulationen implementiert. Sie integrieren in Forschungen der vergleichenden Verhaltensbiologie (Ethologie) ›das Schwärmen‹ zu einem eingeschlossenen Ausgeschlossenen, das als basaler Funktionsparameter in Relation zu den Globalbewegungen und zu Umwelteinflüssen genauer spezifiziert werden kann. Mit den eingesetzten Medien der »Durchmusterung« (Norbert Wiener) verändert sich damit von Fall zu Fall auch der Begriff, der sich von Schwärmen gemacht werden kann – von einem Problem der Entstörung medialer Übertragung zu einer produktiven Umwertung eben jenes stets nur approximativen Wissens nicht-linearen Systemverhaltens. In dieser Perspektive zeigen Schwärme dann zweitens selbst eine 3 | Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 28; Bernhard Siegert: Die Geburt der Literatur aus dem Rauschen der Kanäle. Zur Poetik der phatischen Funktion, in: Michael Franz/Wolfgang Schäffner/Bernhard Siegert/Robert Stockhammer (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 5-41, hier: S. 7. 4 | Hubert Damisch: Die Geschichte und die Geometrie, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Wolken. Archiv für Mediengeschichte 5 (2005), S. 11-25; vgl. Leonardo Da Vinci: Codex Atlanticus, in: Edward MacCurdy (Hg.): Les Carnets de Léonard de Vinci, Paris: Gallimard 1942, Bd. 2, S. 301, zit.n. Damisch: Geschichte der Geometrie, S. 24. 5 | Vogl: Gefieder, Gewölk, S. 145.
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eigentümliche Medialität. Sie können als relationale Ensembles beschrieben werden, deren relativ einfach aufgebaute Individuen nur über ein begrenztes Wissen über ihre Umwelt verfügen, und die sich dezentral, also ohne eine übergreifende Instanz oder hierarchisch organisierte Führung, durch lokale Interaktionen mit wenigen nächsten Nachbarn organisieren. Trotz dieser Simplizität sind Schwärme zu komplexen Koordinationsleistungen fähig: Sie zeigen emergente Verhaltensweisen, die sich nicht aus den Fähigkeiten der Einzelnen ableiten lassen, und organisieren sich schnell, adaptiv und unablässig neu in Bezug auf sich ändernde Umweltbedingungen. Dieses Umschlagen von Quantität in neue Qualitäten macht Schwarm-Prinzipien interessant als Programmierparadigma einer Computational Swarm Intelligence. Diese arbeitet mit biologisch inspirierten Softwaremodellen, die sich in Abgrenzung gegenüber formalistischen Programmieransätzen durch ein Design des Kontrollverzichts auszeichnen: Swarm Intelligence nutzt bewusst Unschärfen, um die Beschreibung kontingenter Realweltphänomene zu verbessern.6 Beide Bereiche einer solchen ›Kultur der Unschärfe‹7 kulminieren vor dem Hintergrund einer umfassenderen Epistemologie der Computersimulation. Dabei lassen sich Fish & Chips in neuartigen Zusammenhängen denken, die an dieser Stelle medienhistorisch an der Frage des Wie?, des Funktionierens von Schwärmen, aufgehängt werden, und die sich im Folgenden auf jene Forschungen konzentrieren, die seit Ende der 1920er Jahre dezidiert eine Perspektive einnehmen, die man heute als agentenbasiertes Verfahren bezeichnen würde. Diese kombinieren die Frage nach der Art der lokalen, interindividuellen Relationen in Schwärmen mit jener nach den Rück- und Wechselwirkungen auf und mit ihrer Globalstruktur sowie mit jener nach der Interaktion mit ihrer Umwelt. Im Durchgang durch einschneidende ethologische und soziobiologische Modellierungsansätze wird deutlich, dass Schwärme in ihrem spezifischen relationalen Sein und in ihren Dynamiken erst durch leistungsstarke Computersimulationen adäquat beschreibbar werden. Doch zugleich informieren diese biologischen Schwarmforschungen die Entwicklung von Computersimulationsmodellen – eine derart verwobene Mediengeschichte von Fish & Chips zeichnet eine Umwertung von Schwärmen von einem störenden zu einem produktiv einsetzbaren Nicht-Wissen nach. 6 | Dieser Text wird sich auf jenen Bereich der Swarm Intelligence beschränken, der sich vornehmlich an Fisch- und Vogelschwärmen orientiert (Particle Swarm Optimization). Daneben existieren ausgiebige Anwendungen auf Basis der Organisation sozialer Insekten (ANT Algorithms etc.). 7 | Vgl. z.B. die Tagung Hyperkult 13: Unschärfe der Fachgruppe »Computer als Medium«, 2004.
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Demzufolge, so eine erste These, werden Schwärme fast gleichzeitig in der Biologie als Wissensobjekt durch agentenbasierte Verfahren beschreibbar und in der Informatik als Wissensfigur an den Grenzen des Berechenbaren operabel. Schwärme sind zugleich Objekt als auch Prinzip agentenbasierter Simulationsmodelle. Dabei, so eine weitere These, spielen Verfahren der grafischen Visualisierung von Simulationsergebnissen eine entscheidende Rolle für das Tuning der zugrundeliegenden Parameter. Und mehr noch: Die agentenbasierte Beschreibung von Schwärmen wird maßgeblich geprägt von Anwendungen aus dem Grafi kdesign, deren »distributed behavioral models« eigentlich für filmische Special Effects entwickelt werden. Erst dieses Zusammenfallen einer techno-biologischen Operabilität von Schwarm-Systemen und deren visueller Imaginationskraft im Zuge einer neuen Epistemologie, so eine dritte These, bereitet schließlich die Basis für eine diskursive Konjunktur auch rund um ›soziale Schwärme‹, rund um eine Übertragung dezentraler, flexibler, adaptiver, und effizienter Organisationsprinzipien auf menschliche Kollektive. Nicht mehr ein bloßes soziobiologisches Verständnis von Tierschwärmen8 oder die destratifizierende Vielheit »dämonischer Tiere« im Sinne der Politischen Zoologie von Gilles Deleuze und Félix Guattari9 sind mithin die Fluchtlinien dieser Übertragungen. In Schwärmen, so könnte man in Anspielung auf Ernst Jüngers Erzählung Gläserne Bienen vielmehr formulieren, sind es nicht länger Tiere, die als Vorbild für den Menschen dienen, sondern biologische Prinzipien, die sich mit informationstechnischen Verfahren amalgamiert haben.10 Schwärme sind eine Form von Zootechnologie, die längst das zoé, das unbeseelte tierische Leben im Schwarm, mit der experimentellen Epistemologie der Computersimulation kombiniert hat. Mit ihr lässt sich neben biopolitischen Diskursen eine Zoopolitik denken, die das Verhältnis von Mensch, Tier und Technik neu verhandelt. 11 Schwärme werden so zum Untersuchungsgegenstand einer technisch informierten 8 | Vgl. Edward O. Wilson: Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge: The Belknap Press of Harvard University Press 1976; vgl. Kevin Kelly: Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, London: Fourth Estate 1994. 9 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin: Merve Verlag 1997, S. 328ff. 10 | Vgl. den Hinweis auf Ernst Jünger: Gläserne Bienen, Stuttgart: Klett 1957, S. 110, in: Benjamin Bühler/Stefan Rieger: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 74-75. 11 | Vgl. Sebastian Vehlken: Schwärme. Zootechnologien, in: Anne Von der Heiden/Joseph Vogl: Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 235-257.
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Medien- und Wissenschaftsgeschichte, die sich im Kontext einer Theorie und Geschichte der Computersimulation formiert – Schwärme, Simulation und Selbstoptimierung fallen in dieselbe Episteme.
Datengestöber und Psychomechanik Einem Satz von Claude Bernard zufolge ist es das »Vage, das Unbekannte, das die Welt bewegt.« Gaston Bachelard geht den Möglichkeiten approximativer Erkenntnis nach. Abraham Moles sucht in Les Sciences de l’Imprécis systematisch nach der Funktionalität von Unschärfephänomenen in den Wissenschaften. Und Hans-Jörg Rheinberger greift nicht nur die genannten Autoren auf, sondern benennt mit seinem Begriff des »epistemischen Dings« Diskursobjekte, die sich ausbilden in einer Wechselwirkung zwischen den technischen Dingen eines Experimentalsystems und einer steten Neu- und Überschreibung von Ge-/Schichten, von jeweiligen Strategien des Vorantastens. Diesen epistemischen Dingen, so Rheinberger, gelte die Anstrengung des Wissens. Sie müssten nicht materielle Objekte, sondern könnten auch »Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein«, die sich in einer »für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit« präsentieren.12 In ihrem konzeptuellen Changieren zwischen vielen Einheiten und einheitlicher Vielheit, in ihrer Hybridhaftigkeit zwischen lokalen Interaktionen und einer Globalbewegung, die ihrerseits auf diese lokale Ebene zurückwirkt, scheinen Vogel- und Fischschwärme auf den ersten Blick epistemische Dinge par excellence zu sein. Diese Schwärme zeichnen sich durch eine unhintergehbare Vierdimensionalität aus, indem sie sich in den drei Dimensionen des Raumes und einer stetigen Bewegung in der Zeit konstituieren. Seit den späten 1920er Jahren werden sie in ethologischen Forschungen im Hinblick auf ihre systemischen Eigenschaften erforscht. Ältere anthropomorphe oder teleologische Erklärungsmodelle ihrer Organisation, wie sie besonders im Hinblick auf soziale Insekten eine lange Tradition hatten,13 sowie altruistische Motivationen, soziale Instinkte oder
12 | Claude Bernard: Philosophie. Manuscrit inédit, Paris: Hatier-Boivin 1954, S. 26, zit.n. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 24; Gaston Bachelard: Essai sur la connaissance approchée, Paris: Vrin 1928; Abraham Moles: Les Sciences de l’imprécis, Paris: Ed. du Seuil 1990; vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 24-25. 13 | Vgl. den Beitrag von Eva Johach in diesem Band.
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gar Gedankenübertragungsprozesse14 treten zugunsten von Versuchen zurück, Schwarm-Kollektive als »emergentes« Ergebnis vieler paralleler lokaler Relationen zu bestimmen.15 Sie erscheinen zunächst einmal als Datengestöber, als ein ständiges Bewegungsrauschen, dem Wissen abgewonnen werden will – es gilt, ihre multiplen Bewegungen zu analysier- und vermessbaren Standbildern zu zerschießen. Als Verfahren der Durchmusterung kommen im Fall von Fischschwärmen im offenen Meer Unterwasserkameras und die Sonartechnik zum Einsatz. In den Laboren meereswissenschaftlicher Institute wird versucht, in Kombination verschiedener Formen gerasterter Aquarien mit stereoskopischen Kameras zwei- und dreidimensionale Aufnahmen von Schwärmen in der Zeit zu erstellen. Durch chronofotografische Reihen oder mittels aus Filmen extrahierten Standbildern sollen die Moment-to-moment-Relationships in Schwärmen nachverfolgt werden. Spiegel- und TrennwandExperimente sind Versuche, die an der Schwarmbildung beteiligten Sinne zu identifizieren. Im offenen Ozean wird mit den vielfachen Störeinflüssen des opaken Umweltmediums Wasser und der Mobilität des Untersuchungsobjekts gekämpft: »[T]racking a fish in the ocean is […] difficult, as it is likely to swim away«, konstatiert ein wenig konsterniert die Meeresbiologin Julia Parrish.16 In den Laboren verzweifelt man an der schieren Menge der Bewegungsdaten, selbst wenn es sich um Schwärme mit nur sehr wenigen Individuen handelt. Im Kontext erster Verhaltensexperimente in speziellen Forschungsaquarien notiert Guy Malcolm Spooner: Unfortunately the reactions of the fish to each other and to a mirror are not sufficiently cut-and-dried to provide a basis on which accurate comparisons can be drawn. […] For any given fish it is impossible to predict definitely how it will 14 | Vgl. David Starr Jordan: Fishes, New York: Appleton 1925, S. 41; vgl. Pjotr A. Kropotkin: Mutual Aid. A Factor of Evolution, London: Heinemann 1902; vgl. Edmund Selous: Thought-transference (or what?) in birds, London: Constable 1931. 15 | Vgl. zur Verwendung des Begriffs C. Lloyd Morgan: Emergent Evolution, London: Williams and Norgate 1923; vgl. zu einer eingehenden Diskussion des Begriffs in der Biologie Achim Stephan: Emergente Eigenschaften, in: Ulrich Krohs/Georg Toepfer (Hg.): Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 88-105. 16 | Julia K. Parrish/William M. Hamner/Charles T. Prewitt: Introduction – From Individuals to aggregations. Unifying properties, global framework, and the holy grails of congregation, in: Julia K. Parrish/William H. Hamner (Hg.): Animal Groups in Three Dimensions, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 1-14, hier: S. 7.
F ISH & C HIPS | 131 behave, but it is possible to say how it will most probably behave […]. But it is not possible to measure this probability […] accurately.17
»Truly schooling fish are notoriously difficult laboratory materials«, schreibt Charles Breder 1951,18 und rückblickend wird in Bezug auf Filmaufnahmen festgehalten, dass »[m]ethod sections in several fish schooling papers from the 1960s and 1970s are full of agonizing descriptions of the number of frames analyzed«.19 Die ›Wahrheit‹ der Schwarm-Organisation bleibt bei diesen Versuchen im »technological morass« der Beobachtungsmedien und Experimentalanordnungen stecken – erst Ende der 1970er Jahre werden z.B. halbautomatische ›Data Tablets‹ eingesetzt, um die TrackingDaten von Schwarm-Individuen zu digitalisieren und im Computer weiterverarbeitbar zu machen.20 Schwärme zeigen sich auf den zweiten Blick als ein epistemisches Relationen-Objekt, dessen Erforschung im Rahmen einer ›material culture‹ problematisch ist. Als relationale Ensembles sind sie nicht stillzustellen: Selbst wenn aufgrund empirischer Messungen und Experimente mögliche Funktionsweisen und Regelmäßigkeiten isoliert werden, gilt es, diese wieder zum Laufen zu bringen, um ihr Verhalten in der Zeit zu überprüfen.21 Parallel werden jedoch bereits sehr früh hypothetische Annahmen und Modelle formuliert, welche die globale Organisationsweise von Schwärmen nicht empirisch angehen, sondern grundsätzlich fragen, wie sie sich bilden und ihre Kohäsion in der Zeit sichern. Dabei geht es um die Identifi kation und Spezifizierung jener basalen Parameter, die die Relationalität von Schwärmen ausmachen – nicht also um das ›Wesen‹ ihrer Elemente, sondern um die Beziehungen zwischen diesen Elementen und um die (physiologischen) Kanäle, die ein Funktionieren dieser Relationalität ermöglichen. Die Fokussierung dieser Funktionen transzendiert dabei nicht nur ein älteres mechanistisches Verständnis von der Organisation biologischen 17 | Guy Malcolm Spooner: Some Observations on Schooling in Fish, in: Journal of the Marine Biological Association of the United Kingdom 17/2 (Juni 1931), S. 421-448, hier: S. 444. 18 | Charles M. Breder: Studies on the Structure of the Fish School. Bulletin of the American Museum of Natural History 98 (1951), S. 22. 19 | Parrish/Hamner/Prewitt: Introduction, S. 10. 20 | Ebd., S. 7. 21 | Die Mediengeschichte visueller und akustischer Durchmusterungsverfahren von Fischschwärmen wird detailliert untersucht in Sebastian Vehlken: Fishy Business. Eine Mediengeschichte der Fischschwarmforschung, in: Thomas Brandstetter/Karin Harasser (Hg.): Grenzfl ächen des Meeres. [In Vorbereitung.]
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Verhaltens in Richtung eines Konzepts, das Ende der 1940er Jahre in der nachrichtentechnischen und kybernetischen Informationstheorie formalisiert wird.22 Sie stellen zudem individuenbasierte Überlegungen an, die schließlich in ähnlicher Form auch in agentenbasierte Computersimulationen einfließen. Sowohl das funktionale Verständnis der Relationalität von Schwärmen als auch deren Verankerung in individuenbasierten Modellen müssen als signifi kante Bestandteile einer Mediengeschichte angesehen werden, in der sich Fish & Chips, in der sich Schwärme aus ›Animals‹ und ›in the Machine‹ zunehmend durchmischen. Diese Durchmischung gebiert (und basiert zu einem guten Teil auf) Visualisierungsverfahren, die sich mediengeschichtlich seit den 1930er Jahren – ausgehend von zweidimensionalen Paper Tools – immer mehr an die Vierdimensionalität und die Dynamiken von Schwärmen anzunähern versuchen. Einfache Funktionen, Relationalität, Individuenbasiertheit und eine Dynamisierung von Visualisierungsverfahren als epistemologischer Zugang zu komplexem Systemverhalten sind demnach jene Bestimmungen, an denen sich dieser Beitrag mediengeschichtlich orientieren wird, um Schwärme als ein paradigmatisches Wissensobjekt für agentenbasierte Computersimulationen und zugleich als Wissensfigur für Computergrafi k- und Software-Entwicklung zu situieren. Im Jahr 1927 entwirft der Meeresbiologe Albert Parr, der im New Yorker Aquarium Fischschwärme erstmals »in the light of cold reason« auszuleuchten trachtet, eine Psychomechanik von Schwarmfi schen: »[T]he author perceived the possibility of a comparatively very simple set of reactions, which would explain the apparently complicated and mysterious behavior of the fishes in question«.23 Beim Geheimnis der Schwarmbildung zeige sich nur scheinbar ein soziales Verhalten, das lediglich Ergebnis psycho- und physiomechanisch integrierter, automatisch ablaufender Reaktionen sei.24 Parr identifiziert derer drei: Eine sofortige Attraktion der Individuen bei Sichtkontakt, das parallele Ausrichten, und die Einnahme eines gleichen Abstands zueinander. Dieses basale »psycho-mechanical equilibrium« von 22 | Zum Informationsbegriff in Nachrichtentechnik und Kybernetik vgl. Claude E. Shannon/Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana: University of Illinois Press 1949; vgl. Norbert Wiener: Cybernetics, or Communication and Control in the Animal and the Machine, New York: MIT Press 1948. 23 | Albert E. Parr: A Contribution to the theoretical analysis of the schooling behaviour of fishes, in: Occasional Papers of the Bingham Oceanographic Collection 1 (1929), S. 1-32, hier: S. 1. 24 | Vgl. ebd., S. 3.
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Attraktions- und Abstoßungskräften, vermittelt über Sehsinn und Seitenlinienorgan, könne ›hochgerechnet‹ werden zu Kongregationen mit vielen Schwarm-Individuen. Hierbei betont er die Rolle des Randes für eine Verdichtung und Stabilität der Kongregation: In any number of specimens, however, some will always have to be at the side of the columns. These peripheral specimens certainly are under constant stimulation from one side only, id est, from the next specimen towards the centre of the school, as they have no companions on the other side. In the peripheral fi les on the two sides of a school one should therefore expect to find a constant tendency to seek towards the centre. […T]he reactions caused by this tendency may serve to explain the condensation of the school as a whole and the subsequent maintenance of a constant density of the individuals in space.25
Man mag als Leser stocken, wenn von »columns« und den »two sides« des Schwarms die Rede ist, doch sind diese Begrifflichkeiten einem Reduktionismus zuzuschreiben, mit dem Parr seine Aquarium-Beobachtungen in einen zweidimensionalen, papiernen »simple theoretical case« überführt, der die Verdichtungstendenz als Effekt des Randes plausibilisieren soll. Die einseitige Attraktion der randständigen Individuen zum Zentrum hin führe mittels einer Art Kettenreaktion schließlich zu einem neuen psychomechanischen Equilibrium: Es ergeben sich verkleinerte Abstände zwischen den Schwarm-Individuen, indem sich deren Verringerung von Außen nach Innen fortsetze: »an automatically transmitted tendency to turn inwards«,26 vermittelt durch den Sehsinn. Der Rand wirke dabei geradezu als Wand, die für Schwarm-Individuen der inneren Bereiche schwer zu durchbrechen sei – auch, weil ein tangentiales Wegbewegen vom Zentrum dazu führen würde, die äußeren ›Reihen‹ von Fischen mit wachsendem Abweichwinkel zu durchschwimmen. Dies würde den Stimulus, sich parallel an den Nachbarn auszurichten, je vergrößern und den AusbrechImpuls nivellieren (Abbildung 1). Fischschwärme werden bei Parr mithin vorgestellt als cartesische Tiermaschinen, als Kollektiv-Automaten, in denen auf lokaler Basis Bewegungsinformationen verarbeitet und in eine Gesamtmechanik überführt werden.
25 | Ebd., S. 5-6. 26 | Ebd., S. 16.
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Abbildung 1: Herstellung eines neuen psychomechanischen Equilibriums im Fischschwarm (A, B, C) und Stabilität des Randes nach Parr.
Quelle: Albert E. Parr: A Contribution to the theoretical analysis of the schooling behavior of fishes, in: Occasional Papers of the Bingham Oceanographic Collection 1 (1929), S. 1-32, hier: S. 7 und S. 12.
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Selfish Fish Fröschen wird im Kontext physiologischer Experimente traditionell recht übel mitgespielt, etwa in den Elektrisieranordnungen Luigi Galvanis und Emil du Bois-Reymonds, oder per inverser Verbindung der Sehnerven in frühen biokybernetischen Versuchen. 27 William D. Hamiltons epochemachender Text Geometry for the Selfish Herd von 1971 setzt sie als ›egoistische‹ Wissensfigur ein, um die Genese von dichten Ansammlungen ebenfalls von deren Rand her geometrisch als Prozess zu entwerfen, der auch für das Wissensobjekt Schwarm interessant ist. Hamiltons Artikel beginnt wie ein böses Märchen: Stellen Sie sich einen kreisrunden Seerosenteich vor. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass der Teich Lebensraum einer Kolonie Frösche und einer Wasserschlange ist. Die Schlange ernährt sich von den Fröschen, jedoch nur zu einer bestimmten Tageszeit – bis dahin schläft sie auf dem Grunde des Teichs. Kurz bevor die Schlange erwacht, klettern alle Frösche auf den Rand des Teichs, denn die Schlange zieht es vor, Frösche im Wasser zu jagen. Doch wenn sie dort keine Beute findet, streckt sie ihren Kopf aus dem Wasser und mustert die trostlose Reihe auf dem Rand. Wir nehmen an, die Frösche hopsen aus Angst vor Landfeinden nicht vom Rand fort. Die Schlange begutachtet also diese Reihe und schnappt sich den Nächstsitzenden.28
Nicht Schwärme als Feinde liegen diesem Ansatz zugrunde, 29 sondern der Feind des Schwarms – und diese Ausgangssituation ist Auslöser für eine recht dynamische Kettenreaktion. Denn da sich die hypothetischen Frösche Hamiltons im Modell frei entlang des Tümpelrandes bewegen können, werden sie sich nicht mit der zufällig eingenommenen Position begnügen, auf die sie zunächst geklettert sind. Vielmehr sind sich die hypothetischen Frösche darüber im Klaren, dass sich die Gefahr, der Schlange bei deren 27 | Vgl. z.B. das Kapitel ›Frosch‹ in: Bühler/Rieger: Vom Übertier, S. 99113; vgl. Jerôme Y. Lettvin/Humberto R. Maturana/Warren S. McCulloch/Walter H. Pitts: What the frog’s eye tells the frog’s brain, in: William C. Corning/ Martin Balaban (Hg.): The Mind: Biological Approaches to its functions, New York: Wiley 1968, S. 233-258. 28 | William D. Hamilton: Geometry for the Selfi sh Herd, in: Journal of Theoretical Biology 31/2 (1971), S. 295-311, hier: S. 295, Übersetzung und Hervorhebung v. S.V.; vgl. zur schützenden Funktion dichter Fischschwärme auch William D. Hamilton: The Moulding of Senescence by Natural Selection, in: Journal of Theoretical Biology 12/1 (1966), S. 12-45. 29 | Vgl. den Beitrag von Eva Horn in diesem Band.
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Auftauchen am nächsten zu sein, reduzieren lässt, wenn sie nah zwischen zwei weiteren Fröschen sitzen. Das Ziel ist die Reduktion der individuellen »Domain of Danger« (DOD). Diese Gefahrenzone ist definiert als die Summe der halben Abstände zu den Nachbarn, die naturgemäß umso kleiner wird, je näher die Nachbarn sind. Doch natürlich versuchen auch die Nachbarn, ihre jeweiligen Positionen zu optimieren: »[O]ne can imagine a confused toing-and-froing in which the desirable narrow gaps are as elusive as the croquet hoops in Alice’s game in Wonderland«30 (Abbildung 2). Abbildung 2: »Confused toing and froing«: Verringerung der DOD im Froschmodell nach Hamilton.
Quelle: William D. Hamilton: Geometry for the Selfish Herd, in: Journal of Theoretical Biology 31 (1971), S. 295-311, hier: S. 296. Das Modell wird mit 100 hypothetischen Fröschen durchgespielt, die zu Beginn zufallsverteilt entlang eines in 10-Grad-Abschnitte unterteilten Teichrandes sitzen. Bereits nach wenigen ›Runden‹ bilden sich selbst in diesem eindimensionalen Linien-Universum einige wenige große Agglomerationen, von denen nur die größte am Ende noch rapide wächst.31 Im Universum von Schwärmen scheinen die Dinge noch einfacher zu liegen, schließlich sehen sie sich Angriffen von außen und nicht aus ihrer Mitte heraus ausgesetzt, so dass eine enge Zusammenballung bei Gefahr sogar plausibler erscheint als im Frosch-Modell: Da im offenen Ozean oder am Himmel keinerlei Deckungsmöglichkeit besteht, dient hier die Kongregation selbst als Schutz und reduziert die DOD der einzelnen SchwarmIndividuen. Ganz ohne die Annahme sozialer Bindungen wird also auch hier Schwarmbildung als mathematisiertes Modell individuellen Verhaltens konzeptualisiert (Abbildung 3) – und ganz ähnlich wie bei Parr wird sie auf einen einfachen, formalisierten Prozess reduziert. Hinzu kommt 30 | Hamilton: Geometry for the Selfish Herd, S. 296. 31 | Ebd., S. 297.
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Abbildung 3: Verringerung der DOD im Fischschwarm nach Parrish/Viscido.
Quelle: Julia K. Parrish/Steven V. Viscido: Traffic rules of fish schools: a review of agent-based approaches, in: Charlotte Hemelrijk (Hg.): Self-Organisation and Evolution of Social Systems, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 50-80, hier: S. 54. jedoch ein szenarisches Durchspielen des Modells mit unterschiedlichen Zufallsverteilungen auf dem Teichrand und deren diagrammatische Repräsentation – beides gibt eine Ahnung von der Zeitlichkeit, die in diesen Prozessen involviert ist. Am Rand eines Schwarms scheiden sich Dichte und Leere. Von hier lassen sich Beschreibungsparameter herleiten, wie Schwärme in ihrer Oszillation zwischen Ordnung, Unordnung und Umordnung, zwischen Formation, Deformation und Transformation, und schließlich zwischen regelmäßigen Gebilden und nichtlinearen Turbulenzen entstehen. Der ständige Wechsel von Positionen der Schwarm-Individuen hat zur Folge,
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dass jedes Element unversehens Rand werden kann und damit Gefahr läuft, bezeichnet zu werden, aus dem Kollektiv zu fallen. Der Rand spannt das Verhältnis von Schwarm-Individuum und Schwarm-Kollektiv auf und umzeichnet es zugleich. Er ist in paradoxer Weise das periphäre organisatorische Zentrum des Kollektivs.
Kristallgitter und Multi-Animal Processing Systems Bis in die 1970er Jahre wird Albert Parrs Ansatz vom Biologen Charles Breder weiterentwickelt. Breder sucht immer wieder auch Anleihen aus physikalischen Aggregationsphänomenen und konzentriert sich – anders als Hamiltons geometrischer Ansatz – auf die internen Strukturen von Schwärmen. Indem er Schwarmfische z.B. als Massepunkte abstrahiert, die mit bestimmten Anziehungs- und Abstoßungskräften ausgestattet werden, versucht er, geometrisch beschreibbare Regelmäßigkeiten zu erzeugen, denn: »The establishment of a geometrical model of a fi sh school is relatively simple, for whatever else a fish school may be, it is essentially a closely packed group of very similar individuals united by their uniformity of orientation« (Abbildung 4). Die dreidimensionale Form von Fischschwärmen wird so zu einem Problem effizienter Packung und Raumausnutzung. Schwärme werden als geometrisch defi niertes Raumgittermodell entworfen – gemäß jener modellierten »third dimension of science«, deren Bedeutung für die Wissensproduktion Soraya de Chadarevian und Nick Hopwood unlängst herausstellten.32 Abbildung 4: Space Lattice: Quadratisch und rhomboedrisch nach Breder.
Quelle: Charles M. Breder: Fish Schools as operational structures, in: Fishery Bulletin 74/3 (1976), S. 471-502, hier: S. 473. 32 | Vgl. Soraya de Chadarevian/Nick Hopwood (Hg.): Models. The Third Dimension of Science, Stanford: Stanford University Press 2004.
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Die Basis-»Unit« von Breders Modellschwarm bildet aufgrund der Notwendigkeit eines jeweils genügend großen Umraums für Schwimmbewegungen ein Fisch samt eines kugelförmigen ›Gehäuses‹ aus Wasser. Ein Schwarm sei folglich die gepackte Anordnung dieser identischen Einheiten. Breder bedient sich eines rhombohedrischen Modells, da dieses nicht nur den empirisch beobachteten Schwarm-Strukturen näher komme als ein quadratisches, sondern zudem eine größere Dichte aufweise. Stellt man sich dieses System als eine Ebene von Kugeln vor, kann man es zu einem dreidimensionalen System mit mehreren Lagen erweitern. Schichtet man mehrere dieser Lagen so aufeinander, dass die Mittelpunkte der Schwarm-Units der nächsten Reihe im Mittelpunkt eines gleichseitigen Dreiecks liegen, welches man zwischen drei Mittelpunkten der ursprünglichen Ebene aufspannt, lassen sich die Schwarm-Unit-Kugeln der zweiten Ebene in den Leerräumen zwischen drei Kugeln der ersten Lage einsenken und sich so eine für Kugeln optimale dreidimensionale Raumnutzung erzeugen. Jede Schwarm-Unit – abgesehen von jenen an den Rändern der Raumform – grenzt in diesem Modell somit an zwölf Nachbar-Units, ihre »nearest neighbors.«33 Hinzu tritt eine morphologische Flexibilisierung der Struktur: Schooling fishes should not be expected to space themselves exactly as spheres and they do not so in precise detail […], but a basic resemblance exists. If the rigid sphere of geometry be mentally replaced by a soft rubber ball, the approximation comes closer to that of a fish embedded in a school of its fellows.34
Nachbarschaften können sich so unter Krafteinwirkungen aus der Umwelt räumlich ausdehnen oder zusammenziehen, ohne ihre grundlegende hexageometrische Relation zu verlieren (Abbildung 5). Mit diesem geometrischen Raummodell kann der Zusammenhang von individueller und kollektiver Bewegung einer aus verformbaren Schwarm-Units zusammengesetzten Raumform vorgestellt werden. Da die modellierte geometrische Grundstruktur beibehalten wird und ihre Nachbarschaften nicht den Kontakt verlieren, ergibt sich diese als ein »three-dimensional blob«, der theoretisch fast jede Form annehmen könnte und mit dem auch Rich33 | Vgl. Charles M. Breder: Fish Schools as operational structures, in: Fishery Bulletin 74/3 (1976), S. 471-502, hier: S. 474-476. Eine eingehende kulturwissenschaftliche Analyse der hexagonalen Geometrie am Beispiel der Bienenwabe findet sich bei Peter Berz: Die Wabe, in: Peter Berz/Annette Bitsch/ Bernhard Siegert (Hg.): FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag, München: Fink 2003, S. 65-81. 34 | Ebd., S. 476.
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Abbildung 5: Problem der Packung und Verformung der hexageometrischen Anordnung durch Komprimierung nach Breder.
Quelle: Breder: Fish Schools as operational structures, S. 473, S. 477. tungsänderungen geometrisch nachvollzogen werden.35 Doch Breders Modell befasst sich essentiell nur mit dem isolierten Aspekt des ›geordneten‹ Dahinschwimmens. Sein hexagonales, dreidimensionales Raster defi niert die Bewegungsmöglichkeiten der Schwarm-Units, indem es sie zueinander in feste Relationen setzt – dynamische Positionswechsel werden nicht modelliert. Individuelle Trajektorien werden zusammengeklebt zu relativ statischen Nachbarschafts-Clustern, die die Entstehung flexibler Globalstrukturen und ganz anderer Muster als dynamische Adaptionen an Umwelt-Stimuli in der Zeit nicht mitdenkt. Ein Schwarm bleibt hier gerasterter, gar kristalliner Raum. Bestimmte Bewegungsdynamiken jedoch erwähnt ebenfalls Breder 35 | Ebd., S. 482f. Woher Breder den Begriff ›blob‹ nimmt, wird aus seinen Texten leider nicht klar. Möglich ist jedoch, dass er sich auf den Horrorfi lm The Blob von 1958 bezieht, in dem ein junger Steve McQueen eine gefräßige, extraterrestrische Glibbermasse bekämpft.
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1951 zum ersten Mal: Das Entstehen von Erregungswellen oder »waves of agitation« – durch sie werden Fischschwärme als Informationsinfrastrukturen auch erstmals explizit interessant als Diskursobjekt kybernetischer Forschungen.36 Diese Wellen sind das Ergebnis individueller Roll-Bewegungen, die eine Art durch den Schwarm laufenden »Lichtblitz« erzeugen, wenn die silbrige Unterseite von Schwarmfischen ›ans Licht kommt‹ und selbiges spiegelt. »Each neighbour receiving this flash repeats the movement, and the synthesis produces a flash frontline crossing the whole school.«37 Die Brisanz, die bei diesen Untersuchungen mitschwingt, liegt in der Vermutung, es hier mit einem emergenten Phänomen effizienter Informationsübertragung zu tun zu haben. Durch gegenseitige Orientierung der Schwarm-Individuen aneinander und in Reaktion aufeinander könne im Schwarm ununterbrochen Information über simultane und sequentielle Reize aus allen möglichen Richtungen verarbeitet und eine entsprechende kollektive und koordinierte Reaktion durchgeführt werden.38 Grundlegende experimentelle Beobachtungen stellt neben Breder auch der sowjetische Forscher Dimitrii Radakov Mitte der 1950er Jahre in einer kleinen Bucht auf Kuba an. Mittels eines Propellers injiziert dieser ›Angst‹ ins Umweltsystem eines Schwarms von etwa 300 Individuen, und zwar so, dass dieser Reiz nur von einer begrenzten, randständigen Anzahl von Schwarm-Individuen wahrgenommen werden kann. Nach einer kurzen Latenzzeit bildet sich eine »wave of agitation« ähnlich der Ausbreitung einer konzentrischen Welle an der Wasseroberfläche, in die ein Stein geworfen wurde. »It is a rapidly shifting zone in which the fish react to the actions of their neighbors by changing their position […]. The speed of propagation […] is much higher than the maximum (spurt) speed of forward movement of individual specimens.«39 Hinzu kommt, dass zufällig verteilt jeweils einige Fische geringfügig früher auf die ankommende 36 | Vgl. Charles M. Breder: Studies on the Structure of the Fish School, S. 7-9; vgl. Herbert G. Birch: Communication in Animals, in: Claus Pias (Hg.): Cybernetics/Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953, Band 1: Protokolle, Zürich, Berlin: Diaphanes 2003, S. 446-528. 37 | Francois Gerlotto/Sophie Bertrand/Nicholas Bez/Mariano Guiterrez: Waves of agitation inside anchovy schools observed with multibeam sonar: a way to transmit information in response to predation, in: ICES Journal of Marine Science 63 (2006), S. 1405-1417, hier: S. 1406. 38 | Vgl. Carl R. Schilt/Kenneth S. Norris: Perspectives on sensory integration systems: Problems, opportunities, and predictions, in: Parrish/Hamner/ Prewitt (Hg.): Animal Groups in three Dimensions, S. 225-244, hier: S. 229. 39 | Dimitrii Radakov: Schooling in the Ecology of Fish, New York, Toronto: Wiley 1973, S. 82.
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Welle reagieren, sie sozusagen zu antizipieren scheinen. 40 Die Rapidität der Positionsänderungen übersteigt dabei die zeitliche Auflösung der zur Beobachtung eingesetzten Filmbilder, so dass die Transmission der Welle nicht lückenlos verfolgt werden kann. Radakov kommt zu dem Schluss, dass diese Bewegungswellen indirekt die Anwesenheit etwa eines Räubers an jene Teile des Schwarms signalisierten, die diesen nicht direkt wahrnehmen könnten: This mechanism […] serves firstly to transmit a signal to those parts of the school in which the fish do not perceive the action of the primary stimulator directly, and secondly to automatically inhibit the propagation of signals elicited by fortuitous factors that have no essential value. Thus, if congestion in the school lowers the effectiveness of individual means of orientation, vision, for example, in compensation the fish receive additional possibilities of reacting to enviromental factors which are undoubtedly of considerable biological importance for them. 41
Die Koordination der »wave of agitation« bedarf keiner ›Ansage‹, keines Führers und keines Zugangs zu globaler Information, wie andere Forscher vermuteten. Sie entsteht allein aus der rapiden Weiterleitung lokaler Information über die Bewegung der nächsten Nachbarn. 42 Zur Interaktion werden keine Spuren, keine durch Pheromone codierten ›Zeichen‹ in der Umwelt hinterlassen und keine der Frisch’schen ›Bienensprache‹ ähnlichen Tänze aufgeführt – die Bewegung der Schwarm-Individuen selbst übermittelt Information im laufenden Bewegungsprozess. Dieser Kurzschluss ruft immer neue Bewegungs-Informationen hervor, die sich durch 40 | Wayne Potts postulierte 1984 in Bezug auf Kleinvogelschwärme (hier: Alpenstrandläufer, ein reichlich bizarr anmutender Name für eine Vogelart) die chorus line hypothesis, nach der eine ankommende »manoeuvre wave« beobachtet und das eigene Verhalten individuell auf den rechten Moment des Manövrierens abgestimmt werde. Vgl. Wayne K. Potts: The chorus-line hypothesis of manoeuvre coordination in avian flocks, in: Nature 309 (1984), S. 344345. Jüngste Forschungen hingegen identifizieren, ähnlich wie bei Fischen, drucksensible Sensoren, die – an den Flügeln von Schwarmvögeln situiert – sehr schnelle Körperreaktionen in Bezug auf Luftdruckänderungen ermöglichen. Vgl. Graham Taylor: URL: www.3sat.de/3sat.php? www.3sat.de/nano/ cstuecke/120674/index.html. 41 | Radakov: Schooling in the Ecology of Fish, S. 89. 42 | Vgl. Iain D. Couzin/Jens Krause: Self-Organization and Collective Behavior in Vertebrates, in: Advances in the Study of Behavior 32 (2003), S. 1-75, hier: S. 22.
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den Schwarm propagieren: Knoten und Kanten fallen in diesem »living network« in eins. Doch hat man es hier tatsächlich mit einer kybernetischen »communication in the animal« zu tun? Communication, which includes the transmission of information, can be defined as a process in which two or more individuals interact. Could we therefore consider a WA [Wave of agitation, S.V.] to be a communication process? It is certainly a transmission of information. Communication is less obvious, because there is no visible feedback message. Nevertheless, the fact that a strong change in structure appears means that, once the signal is transmitted, fish change their behavioural pattern and adopt new rules of aggregation. 43
Die Propagation von Information in Agitationswellen ist als eine Informationsstruktur zu denken, die das Rauschen individueller Bewegungen ›verrechnet‹, abgleicht und in eine globale, koordinierte Reaktionsbewegung in Bezug auf ein hochgradig »noisy environment« überführt. 44 Agitationswellen beruhen somit als eine Art Informationsübertragung zweiter Ordnung auf der besonderen, wie man vielleicht mit einem etwas paradoxen Begriff sagen könnte, ›medialen Unmittelbarkeit‹ der lokalen Bewegungen der Schwarm-Individuen, die sich gegenseitig beeinflussen und gleichzeitig eine Globalbewegung evozieren, die sich wiederum auf die lokale Ebene zurückwirft. Die Ebene dieser Informationsübertragung zweiter Ordnung ist jedoch nicht mit den bisher vorgestellten Paper Tools zur Untersuchung individuenbasierten Verhaltens zu untersuchen, ergibt sie sich doch erst aus einer Vielzahl parallel ablaufender interindividueller Verschaltungen. In dieser Gleichzeitigkeit fließen ›das Schwärmen‹ und ›der Schwarm‹ zusammen – in diesem besonderen Kurzschluss von Knoten und Kanten wird das Ergebnis der Informationsübertragung in einer neuen Formation des Schwarm-Kollektivs sichtbar, überträgt sich diese doch unmittelbar in neue Bewegungsformen, oder kurz: in Formation durch Information (Abbildung 6). Es galt, adäquate Formen der Präsentation oder Repräsentation für derartige Globaldynamiken zu finden.
43 | Gerlotto/Bertrand/Bez/Guiterrez: Waves of agitation, S. 1414. 44 | Vgl. zur Relevanz einfacher Interaktionsregeln für eine Koordination unter gestörten Kommunikationsbedingungen z.B. André A. Moreira/Abhisek Mathur/Daniel Diermeier/Luís A. N. Amaral: Efficient system-wide coordination in noisy environments, in: PNAS 101/33 (17. Aug. 2004), S. 12085-12090.
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Abbildung 6: Emergente kollektive Manöver von Fischschwärmen in Reaktion auf Fressfeinde: Illustration (Vabø/Nøttestad) und Stills aus der Computersimulation von Couzin/Krause.
Quelle: Links: Rune Vabø/Leif Nøttestad: An individual based model of fish school reactions: predicting anti-predator behaviour as observed in nature, in: Fisheries Oceanography 6/3 (1997), S. 155-171, hier: S. 164. Rechts: Iain D. Couzin/Jens Krause: Self-Organization and Collective Behavior in Vertebrates, in: Advances in the Study of Behavior 32 (2003), S. 1-75, hier: S. 30.
Bats, Boids and Par ticles In Schwärmen als Körper ohne Oberfläche im Sinne Leonardo da Vincis, als fragwürdige Objekte mit unscharfen Rändern, verbindet sich eine ästhetische mit einer epistemologischen Grenzerfahrung. Das Problem der Darstellung von »fuzzy objects« wie z.B. Wolken, Rauch, Staub oder Feuer beschäftigt nicht nur die Maler der Renaissance, sondern auch Entwickler im digitalen Grafi k- und Animationsdesign. Seit den frühen 1980er Jahren werden Partikelsysteme entwickelt, die mittels des definierten Verhaltens vieler einzelner virtueller Teilchen Visualisierungen solcher dynamischer Relationen-Objekte ermöglichen. 45 Deren Auf bau differiert auf drei wesentliche Arten von der üblichen Darstellung in der computergraphischen Bildsynthese. Erstens wird ein Objekt nicht durch eine Menge einfacher 45 | William T. Reeves: Particle Systems – A Technique for Modeling a Class of Fuzzy Objects, in: ACM Transactions on Graphics 2/2 (April 1983), S. 91-108.
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Oberflächenelemente konstituiert, die seine Begrenzungen, seine Ränder definieren, sondern als Wolken rudimentärer Partikel, die ihr Volumen beschreiben. Zweitens sind Partikelsysteme keine statischen Entitäten. Ihre Partikel ändern ihre Form und bewegen sich über die Zeit hinweg. Und drittens verhält sich ein durch ein Partikelsystem definiertes Objekt nicht deterministisch, denn seine Gestalt und Form sind nicht vollständig spezifiziert. Stattdessen werden stochastische Prozesse eingesetzt, um die Gestalt und das Aussehen eines Objekts zu erstellen und zu verändern. Dadurch ergeben sich signifikante Vorteile gegenüber klassischen, oberflächenorientierten Ansätzen: Zunächst ist ein Partikel – vorgestellt als ein Punkt im dreidimensionalen Raum – eine sehr viel einfachere geometrische Grundform als etwa ein Polygon als das einfachste Element der Oberflächendarstellung. Daher können mit derselben Rechenkapazität eine wesentlich größere Zahl solcher basalen Formelemente berechnet und so ein komplexeres Bild erzeugt werden. Ein zweiter Vorteil liegt in der prozeduralen Modelldefinition, die von Zufallszahlen kontrolliert ist und den Arbeitsaufwand für die Erstellung sehr detailauflösender Modelle reduziert. Hinzu kommt, dass ein Partikelsystem seinen Auflösungslevel durch Zooming an jeweils spezifi zierte Ansichtseinstellungen anpassen kann. Und nicht zuletzt können »lebendige« Systeme modelliert werden, die ihre Form über die Zeit hinweg ändern – ein Vorgang, der mit oberflächenbasierten Verfahren sehr aufwendig ist. 46 Daher drängt sich eine Integration von Partikelsystemen in die Visualisierung von Schwärmen eigentlich geradezu auf. Doch erst in den 1990er Jahren werden sie wissenschaftlich in der Schwarmforschung eingesetzt, z.B. als 3D-Bildgeber für Sonare. 47 Reeves erstellt mit Partikelsystemen im Auftrag der Special EffectsFirma Lucas Arts die berühmte Genesis-Animationssequenz für den Film Star Trek II: The Wrath of Khan (1982). Darin wird Kirk, Scottie und Spock im Film anhand einer Simulation vorgeführt, wie ein Planet von einer Partikelsystem-Feuerwalze überrollt und anschließend ›terraformed‹ wird – eine der ersten die ganze Kinoleinwand einnehmenden Grafi kanimationen überhaupt, die zugleich eine als Science-Fiction-Technologie präsentierte Visualisierung mit der Produktionsweise der Filmsequenz rückkoppelt (Abbildung 7). Wenige Jahre später entwickelt Craig Reynolds auf bauend auf Reeves’ Partikelsystemen jenes Schwarm-Animationsmodell, das ironischerweise fast 46 | Vgl. ebd., S. 91f. 47 | Vgl. z.B. Yanchao Li: Oriented Particles for Scientifi c Vizualisation, New Brunswick: o.V. 1997. [Masterarbeit, abruf bar unter URL: http://dspace.hil. unb.ca:8080/bitstream/handle/1882/506/mq23818.pdf?sequence=1]
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Abbildung 7: Partikelsystem und generierte Feuerwalze in Star Trek II.
Quelle: William T. Reeves: Particle Systems – A Technique for Modeling a Class of Fuzzy Objects, in: ACM Transactions on Graphics 2/2 (April 1983), S. 91-108, hier: S. 95 und S. 102. immer als eine Art ›Urtext‹ computergestützter biologischer Schwarmforschung zitiert wird, obwohl Reynolds gar nicht an realistischen Verhaltensvariablen, sondern nur an einer naturgetreuen Performance seiner
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»bird-oid objects« oder kurz: »boids« interessiert war. 48 Für die realistische Animation eines Schwarms sei es eine fehleranfällige Sisyphos-Arbeit, die einzelnen Pfade einer großen Anzahl von Boids separat zu programmieren, wenn in allen Frames etwa Kollisionen verhindert und gleichzeitig eine kohärente Formation aufrechterhalten werden solle. Zudem sei eine solche Programmierung unflexibel, denn schon die Änderung einer Flugbahn betreffe auch jene der anderen Schwarm-Individuen. 49 Das Verhalten dieser simplifizierten, universellen, oder besser: prinzipiellen Schwarm-Individuen sei weniger komplex als jenes realer Schwarm-Individuen, jedoch komplexer als etwa Reeves’ Partikel.50 Reynolds definiert jeden Punkt des Partikelsystems als ein je eigenes Subsystem mit vollständigem lokalen Koordinatensystem und einem geometrischen Bezugsrahmen. Dadurch generiert er für jeden Partikel, jeden »Boid«, eine geometrische Orientierung. Im Unterschied zu den stochastischen Diff usionsprozessen der Partikelsysteme sind die Einheiten bei Reynolds nun fähig, sich gemäß eines einfachen Algorithmus aus drei definierten ›Traffic Rules‹ in Relation zueinander anzuordnen: 1.) Collision Avoidance 2.) Velocity Matching und 3.) Flock Centering. In Testläufen mit verschiedenen Werten für diese Parameter stellt sich heraus, dass eine realitätsnahe Schwarmbewegung nur dann auftritt, wenn sich die Boids an einem lediglich lokal wahrgenommenen Zentrum nächster Nachbarn orientieren: Before the current implementation of localized flock centering behavior was implemented, the flocks used a central force model. This leads to unusual effects such as causing all members of a widely scattered flock to simultaneously converge toward the flock’s centroid. An interesting result of the experiments reported in this paper is that the aggregate motion that we intuitively recognize
48 | Vgl. Julia K. Parrish/Steven V. Viscido: Traffic rules of fish schools: a review of agent-based approaches, in: Charlotte Hemelrijk (Hg.): Self-Organisation and Evolution of Social Systems, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 50-80, hier: S. 66; vgl. Craig W. Reynolds: Flocks, Herds, and Schools: A Distributed Behavioral Model, in: Computer Graphics 21 (1987), S. 25-34. Diese Boids könnten laut Reynolds jedoch ebenso Fische simulieren. 49 | Vgl. Reynolds: Flocks, Herds, and Schools, S. 25. 50 | Vgl. ebd., S. 26. Reynolds Überlegungen tragen signifi kant dazu bei, im Kontext eines im selben Jahr auf einer ersten Konferenz propagierten Artificial Life-Ansatzes, ein ›Leben im Computer‹ zu visualisieren. Vgl. Christopher G. Langton (Hg.): Proceedings of the First Artificial Life Conference, Redwood: Addison-Wesley 1989/1991.
148 | S EBASTIAN V EHLKEN as ›flocking‹ (or schooling or herding) depends upon a limited, localized view of the world.51
Auch Schwärme tauchen damit ein in jenes »Zentrum des Prinzips der Unsichtbarkeit«, das Michel Foucault als Grundlage marktliberalen Kollektiv-Denkens identifiziert.52 Laut Reynolds müsse ein »constant time algorithm« die Entscheidungskapazität der einzelnen Boids begrenzen, damit deren Bewegungsänderungen nicht mit einer steigenden NachbarAnzahl zeitintensiver und die nötigen Koordinationsleistungen bei wachsender Schwarmgröße nicht sehr viel komplexer würden. Bewegungspfade werden dabei von den orientierten Boids selbst gefunden und ständig lokal miteinander abgeglichen. Das Ergebnis sind kollektive Bewegungen, Abbildung 8: Flocking Behavior mit Obstacle Avoidance im Reynolds-Modell.
Quelle: Steven Levy: KL – Künstliches Leben aus dem Computer, München: Droemer Knaur 1993. 51 | Reynolds: Flocks, Herds, and Schools, S. 29-30. 52 | Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 383f.
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die jenen biologischer Schwärme sehr nahe kommen und die etwa ohne Hinzunahme weiterer Modellierungsparameter selbsttätig Hindernisse passieren oder ganz plötzlich ihre Richtung ändern (Abbildung 8). Wegen ihrer Einfachheit und Flexibilität werden computergraphische Boid-Kollektive ebenfalls bald im Special-Effects-Bereich eingesetzt, etwa für die Animation von Fledermausschwärmen in Batman Returns (1992), für Herdenszenen in The Lion King (1994) oder Schlachtensequenzen in The Lord of the Rings (2001). Hier kehren Schwärme im Film zurück, die nicht mehr bloß visuelle Bedrohungen und Deformationen, also Bildstörungen darstellen,53 sondern die gleichzeitig organisatorisches Prinzip der Animation, der Bildgebung sind. Als Simulationen beschreiben sie den Kulminationspunkt einer Beschäftigung mit Schwärmen als unscharfen Phänomenen, indem sich diese selbst zum Modell, zur Möglichkeitsbedingung erheben: Um realistisch aussehende Schwärme im Computer zu simulieren, wird mit Distributed-Behavior-Parametern ›experimentiert‹, die danach auch als mögliche basale biologische Verhaltensregeln erscheinen. Oder, wie Eugene Thacker es auf den Punkt bringt: »The ›bio‹ is transformatively mediated by the ›tech‹ so that the ›bio‹ reemerges more fully biological. […] The biological and the digital domains are no longer rendered ontologically distinct, but instead are seen to inhere in each other; the biological ›informs‹ the digital, just as the digital ›corporealizes‹ the biological.«54 Reynolds spricht den Nutzen seines Modells für biologische Forschungen selbst an: One serious application would be to aid in the scientific investigation of flocks, herds, and schools. These scientists must work almost exclusively in the observational mode; experiments with natural flocks and schools are difficult to perform and are likely to disturb the behaviors under study. It might be possible, using a more carefully crafted model of the realistic behavior of a certain species of bird, to perform controlled and repeatable experiments with ›simulated natural flocks‹. A theory of flock organization can be unambiguously tested by implementing a distributed behavioral model and simply comparing the aggregate motion of the simulated flock with the natural one.55
53 | Vgl. z.B. Hitchcocks The Birds (1963) oder den Killerbienenfi lm The Swarm (1978). 54 | Eugene Thacker: Biomedia, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 6-7. Vgl. auch die Argumentation von Sebastian Gießmann in diesem Band. 55 | Vgl. Reynolds: Flocks, Herds, and Schools, S. 32.
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Auch wenn Reynolds’ Distributed Behavioral Model teilweise »biologically improbable«56 sein mag, weisen seine dynamischen computergraphischen Visualisierungen von Schwarm-Simulationen auf eine epistemische Strategie jenseits des erwähnten »technological morass« der biologischen Schwarmforschung hin. Sie präsentieren eine prozedurale Erkenntnisweise in der Zeit, bei der der zentralperspektivisch-geometrische Code, der klassischerweise je schon scheiterte an diff usen Körpern ohne Oberfläche, ersetzt wird durch einen Code, der nicht mehr lokalisierbar macht, sondern durch den sich Schwarm-Individuen selbsttätig lokalisieren und organisieren. Die euklidische Geometrie der Zentralperspektive wird abgelöst durch ein topologisches System, das sich seinen Raum selbst schafft und mit dem »Computerexperimente« durchgeführt werden können.57
Agent-Based Modeling Parrs Psychomechanik wie auch Breders Überlegungen zu Gravitation und Raumgittern und Hamiltons Räuber-Beute-Modell sind Studien, die von ihrem epistemologischen Charakter her bereits auf Computersimulationen hindeuten. Deren Potential wird jedoch erst im Zuge leistungsfähiger Visualisierungssoftware und rechenstarker Computerhardware nutzbar. So experimentieren v.a. japanische Ichtyologen bereits um 1980 mit Schwarmsimulationen, müssen sich dabei aber auf sehr wenige Modellparameter und Individuen beschränken.58 Ab dem Beginn der 1990er Jahre jedoch werden eine große Zahl von Schwarm-Computersimulationen entwickelt. Diese Simulationsmodelle variieren dabei jeweils einen »Sum-of-forces«-Ansatz, der die globalen Dynamiken aus dem Verhalten simulierter ›agents‹ entwirft, das sich gemäß einer Kombination interindividueller Einflüsse konstituiert. Sie lassen sich damit einem Ansatz zuordnen, der als Agent-Based Modeling (ABM) oder Individual-Based Modeling (IBM) in einem breiten Anwendungsspektrum eingesetzt wird: 56 | Parrish/Viscido: Traffic rules of fish schools, S. 66. Kritisiert werden z.B. die Variable Flock Centering und ein übergeordneter »forward target point«, der überhaupt eine Bewegung des simulierten Schwarms veranlasst. 57 | Vgl. Evelyn Fox Keller: Models, Simulations and ›Computer Experiments‹, in: Hans Radder (Hg.): The Philosophy of Scientific Experimentation, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2003, S. 198-215. 58 | Vgl. z.B. Ichiro Aoki: A Simulation Study on the Schooling Mechanism in Fish, in: Bulletin of the Japanese Society of Scientific Fisheries 48/8 (1982), S. 1081-1088. Aoki visualisiert dabei das Verhalten von acht Schwarmfi schen auf einem Apple II mit angeschlossenem TV-Bildschirm.
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»The benefits of ABM over other modeling techniques can be captured in three statements: (i) ABM captures emergent phenomena; (ii) ABM provides a natural description of a system; and (iii) ABM is flexible.«59 Gerade um emergente Phänomene wie z.B. die zuvor beschriebenen »waves of agitation« zu simulieren, die sich nicht vorab in Differenzialgleichungen schreiben lassen, gilt es, das Potential von ABM zu nutzen. Schwärme entsprechen dessen Problemspektrum in idealer Weise: Individual behavior is nonlinear and can be characterized by thresholds, if-thenrules, or nonlinear coupling. Describing discontinuity in individual behavior is difficult with differential equations. […] Agent interactions are heterogeneous and can generate network effects. Aggregate flow equations ususally assume global homogeneous mixing, but the topology of the interaction network can lead to significant deviations from predicted aggregate behavior. Averages will not work. Aggregate differential equations tend to smooth out fluctuations, not ABM, which is important because under certain conditions, fluctuations can be amplified: the system is lineary stable but unstable to larger perturbations.60
Auf Schwärme appliziert, fokussieren ABM die Selbstorganisationsprinzipien also ebenfalls mittels eines Distributed Behavioural Models: alle Individuen werden mit denselben Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet.61 Während also die Individuen völlig determiniert sind, ist das Verhalten des Gesamtsystems nicht determiniert – es entwickelt sich aus den Relationen der einzelnen, simpel geregelten Schwarm-Individuen (Abbildung 9).62 59 | Eric Bonabeau: Agent-based modeling: Methods and techniques for
simulating human systems, in: PNAS 99, Suppl. 3 (14. Mai 2002), S. 72807287, hier: S. 7280. 60 | Ebd., S. 7281. 61 | In dieser Homogenität stellen sie mithin einen Sonderfall von ABM dar, mit denen oftmals Relationen zwischen ›agents‹ mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften simuliert werden. 62 | ABM steht damit in einer konzeptionellen Linie, die sich bis zu John von Neumanns und Stanislaw Ulams Überlegungen zu zellulären Automaten zurückverfolgen lassen. Zelluläre Automaten sind laut Christopher Langton gute Beispiele für ein auf Selbstorganisation zielendes Computerprogrammprinzip. Sie werden daher verschiedentlich auch in der biologischen Schwarmforschung eingesetzt, wobei ihre Grid-Struktur ähnlich wie im Kristallgittermodell von Breder die Bewegungsmöglichkeiten der simulierten SchwarmIndividuen einschränkt. Vgl. Nancy Forbes: Imitation of Life. How Biology is Inspiring Computing, Cambridge, London: MIT Press 2004, S. 26; vgl. John von
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Abbildung 9: Mit zellulärem Automaten simuliertes Ausweichverhalten nach Vabø/Nøttestad.
Quelle: Julia K. Parrish/Lea Edelstein-Keshet: Complexity, Pattern, and Evolutionary Trade-Off s in Animal Aggregation, in: Science 284 (1999), S. 99-101, hier: S. 101. Abbildung 10: Lokales Verhalten und Zonierung von Verhaltensparametern in Simulationsmodellen von Huth/Wissel und Aoki.
Quelle: Links und Mitte: Andreas Huth/Christian Wissel: The simulation of fish schools in comparison with experimental data, in: Ecological Modelling 75/76 (1994), S. 135-145, hier: S. 137f. Rechts: Ichiro Aoki: A Simulation Study on the Schooling Mechanism in Fish, in: Bulletin of the Japanese Society of Scientific Fisheries 48/8 (1982), S. 1081-1088, hier: S. 1082. Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, in: Arthur W. Burks (Hg.): Essays on Cellular Automata, Urbana, London: University of Illinois Press 1966; vgl. Christopher C. Langton: Artificial Life, in: Margaret M. Boden (Hg.): The Philosophy of Artificial Life, Oxford: Oxford University Press 1996, S. 39-94, dort: S. 48.
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ABMs in der Schwarmforschung, die sich in der Regel am Reynolds-Modell orientieren, ist gemeinsam, dass sie für jedes Individuum Zonen definieren, die verschiedene Verhaltensweisen festlegen. Dazu gehören etwa die Suche nach anderen Individuen, die Anziehung, die parallele Ausrichtung, eine innere Zone der Abstoßung und ein außerhalb des Sichtwinkels liegender Bereich (Abbildung 10). Diese variablen Basiseigenschaften werden kombiniert z.B. mit einer variierenden Größe des Schwarms und der Anzahl von Nearest Neighbors, an denen sich die einzelnen simulierten Fische orientieren, mit einer Priorität für Nearest Neighbors in bestimmten Positionen (Abbildung 11), einem gegenseitigen Abgleich der Bewegungsgeschwindigkeit, Ober- und Untergrenzen möglicher Beschleunigung und verschiedenen Einflüssen von außen, z.B. angreifenden Räubern. Zudem sollen durch die Implementierung von stochastischen Fehlern unpräzise natürliche Bewegungen von Schwarm-Individuen und zufällige Einflüsse auf deren Trajektorien wie Windstöße oder Strömungen einfließen. Abbildung 11: Präferenzen: Decision vs. Averaging Model bei Huth/Wissel: Nur bei einer Orientierung an mehreren Nachbarn und einer Mittelung der Einflüsse kommt eine Schwarmformation zustande.
Quelle: Scott Camazine/Jean-Louis Deneubourg/Nigel R. Franks/James Sneyd/Guy Theraulaz/Eric Bonabeau (Hg.): Self-Organization in Biological Systems, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. 183. Diese und weitere Parameter werden nun in der Zeit durchgespielt und zunächst in zwei Dimensionen, später und in Abhängigkeit von genügenden Hardware-Rechenkapazitäten und geeigneter Visualisierungssoftware auch in Echtzeit-3D computergrafisch entworfen. Das unhintergehbare Schillern zwischen Schwarm und Schwärmen macht diese BewegungsKollektive ohne Zentrum zu einem paradigmatischen Problem für Computersimulationen. Sie lösen sich als Computerexperimente von konkreten Materialisierungen, von den Störungen empirischer Forschungen in Meer und Labor und erscheinen in Möglichkeitsräumen, in denen viele Szenarien durchgespielt und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden
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Abbildung 12: Kollektives Verhalten von Schwärmen nach Couzin/Krause: A) Swarm B) Torus C) Dynamic Parallel Group D) Highly Parallel Group.
Quelle: Couzin/Krause: Self-Organization and Collective Behavior in Vertebrates, S. 26. können (Abbildung 12). Simulationsverfahren etablieren somit geradehin etwas, das man vielleicht eine ›immaterial culture‹ von Schwärmen nennen müsste.63 Diese verlieren grundlegend ihre optische und akustische Widerständigkeit, werden aber im Gegenzug unter verschiedensten Aspekten als ›material culture‹ simulierbar. Zwischenstufen und -räume für epistemische Dinge oder Modellorganismen, wie sie in Rheinbergers und Latours Arbeiten immer wieder vorkommen, schrumpfen dabei zusammen auf die Raumzeit virtueller Szenarien, oder allgemeiner: Der Einsatz von Computersimulationen führt zu einer simultanen Explosion und Implosion epistemischer Dinge. Eine Explosion deswegen, da sie sich in immer neuen Szenarien multiplizieren lassen, und eine Implosion aus dem Grunde, dass sie damit ihren verfestigenden Charakter verlieren, fluide oder besser: prozessierbar werden. In Schwärmen konzentrieren sich gewissermaßen jene Problemfelder, die durch die experimentelle Epistemologie der Computersimulation an63 | Vgl. Claus Pias: Details zählen. Zur Epistemologie der Computersimulation, Unv. Manuskript. 2008, S. 15.
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geschrieben werden und die sich im Zuge dieser Epistemologie zu etwas wie einer Kultur der Unschärfe ausweiten. Computergrafi k macht dabei einen visuellen Abgleich verschiedener Globalstrukturen im Hinblick auf veränderte Parametereinstellungen im Regelwerk der agentenbasierten Simulationsmodelle als auch im Hinblick auf die sporadischen empirischen Daten von Open-Water- und Laborstudien von Fischschwärmen möglich. Erst in diesen Verfahren der Animation von Schwarm-Modellen kann entschieden werden, ob die gewählte Parameterkombination ein Ergebnis produziert, das dem Verhalten eines biologischen Fischschwarms ähnlich ist. So stellt Evelyn Fox Keller fest: »In actual pratice, the presentation – and, I argue, the persuasiveness […] depends on translating formal similitude into visual similitude. In other words, a good part of the appeal […] derives form the exhibition of computational results in forms that exhibit a compelling visual ressemblance to the processes they are said to represent.«64 In diesem Möglichkeitsraum, der eine Unterscheidung in epistemisches und technisches Ding unterläuft, werden Schwärme entworfen, und zwar ganz exemplarisch in einer Oszillation zwischen zwei Polen: »noch Objekt und schon Zeichen, noch Zeichen und schon Objekt.«65 Die Ebene der Visualisierung von Daten wird essentiell für die Wissensproduktion: Die Sichtbarmachung von Prozessen ist der eigentliche Vorteil der Visualisierung numerischer Simulationen, da sie diese intuitiv in der Zeit erfassbar macht […]. Mit der ikonischen Visualisierung nutzt die Simulation die mediale Freiheit der Präsentation digitaler Zeichen […,] macht die Strukturen, die sich mit der Veränderung der numerischen Werte entfalten, als Gestalt in der Zeit sichtbar und ermöglicht so Aussagen über das Lösungsverhalten der [zugrundeliegenden] Gleichung unter spezifischen Bedingungen. Da mit diesen Gleichungen naturwissenschaftlich interessante Systemprozesse mathematisch modelliert werden, erlauben die Visualisierungen darüber hinaus einen anschaulichen Vergleich mit den beobachteten Systemen bzw. visualisierten Prozessen, die nicht beobachtet werden können. […] Die Interferenz von Wahrnehmungsraum und Realraum wird dabei aufgehoben.66 64 | Evelyn Fox Keller: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines, Cambridge, London: Harvard University Press 2002, S. 272. 65 | Michel Serres: Statues, Paris: Bourin 1987, S. 191, zit.n. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 25. 66 | Gabriele Gramelsberger: Semiotik und Simulation: Fortführung der Schrift ins Dynamische. Entwurf einer Symboltheorie der numerischen Simulation und ihrer Visualisierung, Berlin: o.V. 2000 [Diss., abruf bar unter URL: www. diss.fu-berlin.de/2002/118/index.html], S. 96.
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Erst im digitalen Bild, das es bekanntlich nicht gibt, kann eine Mediengeschichte von Schwärmen zu sich fi nden.67 Erst mit computergrafischen Visualisierungen und den ihnen zugrundeliegenden Algorithmen erscheint Anfang der 1980er Jahre eine Analyse der Relationen in Schwarm-Kollektiven in vier Dimensionen am Horizont des Wissens. Die Fokussierung auf die Performativität dieser grafischen Verfahren in der biologischen Fischschwarmsimulation sowie die Beschreibung komplexer globaler Dynamiken durch ein relativ simples lokales Set von Vorschriften plus massenhafter, simultaner Interaktionen auf Basis dieses Regelsets sind darüber hinaus, wie wir gesehen haben, kurzgeschlossen mit Animationstechnologien aus dem digitalen Grafi kdesign. Die Basisfunktion dieses Wissens ist demnach ein ›seeing in time‹. Simulationen können in ihrer Zeitgeworfenheit oder besser: Zeitentworfenheit mathematische Modelle animieren, mit ›Leben in Laufzeit‹ füllen. Denn, wie schon der Pionier der interaktiven, grafischen Mensch-Maschine-Schnittstelle, Joseph Licklider 1967 schreibt: Steckerschnüre in der einen Hand und den Knauf des Potentiometers in der anderen, beobachtet der Modellierer auf dem Bildschirm eines Oszilloskops ausgewählte Aspekte des Verhaltens seines Modells und reguliert dessen Parameter […] bis es sich seinen Kriterien entsprechend verhält. Wer je das Vergnügen hatte, mit einer guten, schnellen, reaktionsfreundlichen […] Simulation eng zu interagieren, empfindet vermutlich ein mathematisches Modell, das aus bloßen Zeichen auf dem Papier besteht, als ein statisches, lebloses Ding.68
Dabei erschöpfen sich Computersimulationen jedoch nicht in einer bloßen Erweiterung bestehender epistemologischer Strategien. Sie sind mehr als nur eine Verbesserung numerischer Berechnungsverfahren durch die ›calculating power‹ von Computern. Ihnen kann vielmehr ein ganz eigener epistemologischer Status des Experimentierens mit Theorien zugeschrieben werden, indem eine pragmatische Operationalität eine genaue theoretische Fundierung ablöst, indem ein kategorischer Wahrheitsanspruch durch provisorische Erkenntnis ersetzt wird, oder kurz: indem »performance beats theoretical accuracy.«69 Anders als im Falle von Theorien 67 | Vgl. Claus Pias: Das digitale Bild gibt es nicht. Über das (Nicht-)Wissen der Bilder und die informatische Illusion, in: zeitenblicke 2/1 (2003), dort: S. 19. 68 | J.C.R. Licklider: Interactive Dynamic Modelling, in: George Shapiro/ Milton Rogers: Prospects for Simulation and Simulators of Dynamic Modeling, New York: Spartan 1967, S. 281-289, hier: S. 282, Übersetzung S.V. 69 | Günter Küppers/Johannes Lenhard: The Controversial Status of Sim-
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geht es nicht um ihre Wahrheit oder Falschheit, sondern um Fragen von Brauchbarkeit und Richtigkeit.70 Verschiedene konkurrierende Schwarm-Simulationsmodelle zeigen diesen hypothetischen Charakter des Wissens der Computersimulation an – anstatt sich gegenseitig zu beweisen und Gewissheiten zu produzieren, erzeugen sie ein Spektrum an Meinungen und Auffassungen.71 Denn »schooling behavior remains largely an enigma, primarily because of the difficulty to obtain such data experimentally. As a result, simulations […] continue to be based more on the presumptions of their authors than on actual data.«72 Es ist eben nicht ohne Weiteres möglich, die Prozesse von Schwarm-Simulationen mit den Prozessen in biologischen Schwärmen zu vergleichen und so ihre (Re-)Präsentationalität zu überprüfen. Vielmehr müssen sie sich quasi intern verifizieren: Since simulations are used to generate representations of systems for which data are sparse, the transformations they make use of need to be justified internally; that is, the transformations need to be considered well motivated based on their own internal form, and not solely on the basis of what they produce. Simulation requires an epistemology that will guide us in evaluating the trustworthiness of an approximation qua technique, in advance of being able to compare the results with the broad range of the phenomena we whish to study. In general, the inferential moves made in simulations are evaluated on a variety of fronts, and they can be justified based on considerations coming from theory, from empirical generalizations, from data, or from experience in modeling similar phenomena in other contexts.73
Was mit Computersimulationen, sehr viel mehr noch als bei den eingangs betrachteten statischen Modellen, in den Mittelpunkt des Interesses rückt, ulations, in: Proceedings of the 18th European Simulation Multiconference SCS Europe, 2004, URL: www.scs-europe.net/services/esm2004/pdf/esm-44.pdf 70 | Vgl. Sergio Sigismundo: Models, Simulations, and Their Objects, in: Science in Context 12/2 (1999), S. 247-260, hier: S. 247. 71 | Vgl. Claus Pias: Details zählen. Zur Wissensgeschichte der Simulation, Unv. Manuskript, 2008, S. 10. 72 | Steven V. Viscido/Julia K. Parrish/Daniel Grünbaum: The effect of population size and number of influential neighbors on the emergent properties of fish schools, in: Ecological Modelling 183/2-3 (2005), S. 347-363, hier: S. 361. 73 | Eric Winsberg: Simulations, Models, and Theories: Complex Physical Systems and their Representations, in: Philosophy of Science 68 (2001), S. 442454, hier: S. 447.
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sind Relationen innerhalb von Systemen – Relationen, die immer nur mit einem Zeitpfeil gedacht werden können. In diesem Punkt treffen sich das Wissensobjekt Schwarm und die Epistemologie der Simulation: Das relationale Sein von Schwärmen in seiner Durchkreuzung von mikroskopischem und makroskopischem Blick kann nur in einer Technologie adäquat erscheinen, die selbst die Unterscheidung zwischen epistemischem und technischem Ding durchkreuzt, die Erkenntnisrelationen fokussiert. Agentenbasierte Computersimulationen werden dabei modelliert in Anlehnung an Schwarmprinzipien, um diese zugleich als Forschungsobjekt anzuschreiben. Im Gegensatz zu anderen je durch Schwarmdynamiken gestörten papiernen, visuellen und akustischen medientechnischen Verfahren bringen sie die visuelle Unschärfe von Schwärmen mit ihrer eigenen epistemologischen Unschärfe zur Deckung, die jedoch – und das ist der springende Punkt – ihrerseits jeweils ganz genau codiert ist. Das Wissen von Schwärmen und jenes von Computersimulationen gehen Hand in Hand: Was in vivo und in vitro nicht hinreichend anschreibbar ist, lässt sich in silico schreiben.
Swarm Intelligence und (Selbst-)Optimierung Während Verfahren der Computersimulation unter epistemologischer Schützenhilfe des Grafi kdesigns zu einer Computerisierung der Biologie beitragen, informieren Schwärme als effiziente, adaptive ›multi-animalprocessing systems‹ ihrerseits eine Biologisierung der Computertechnik. Deren Programmierparadigmen änderten sich laut Frederick Brooks seit den 1950er Jahren von einem frühen »writing« als Kampf um begrenzte Rechen-Ressourcen, über ein »building« strukturierter Programmierung hin zur heutigen »growing«-Konjunktur evolutionärer Software-Entwürfe.74 Diese Veränderung von Programmierleitbildern situiert Jörg Pflüger innerhalb einer allgemeinen Dynamisierung der Ordnung des Wissens. Die Episteme der Struktur und ihre Analyse als Zergliederung eines geschlossenen Problemraums weichen der Episteme der Selbstorganisation als Synthese veränderlicher Formationen, zur iterativen Näherung einer Lösungskonfiguration.75 Zugespitzt könnte man vielleicht formulieren, dass die Code-Zeichen im evolutionären Programmierparadigma eine 74 | Vgl. Frederick Brooks: No Silver Bullet, in: IEEE Computer 20/4 (1987), S. 10-19. zit.n. Jörg Pflüger: Writing, Building, Growing. Leitvorstellungen der Programmiergeschichte, in: Hans-Dieter Hellige (Hg.): Geschichten der Informatik, Berlin: Springer 2004, S. 275-322, hier: S. 316. 75 | Vgl. Pflüger: Writing, Building, Growing, S. 276f.
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Geschichte erhalten – und damit wiederum je mögliche Zukünfte. Die Grenzen des Berechenbaren markieren hier ein Umschwenken auf biologische Prinzipien. In den Bereich der seit 1999 so genannten Swarm Intelligence,76 und genauer: in den Bereich evolutionären Programmierens, fällt dabei auch ein stochastisches Optimierungsverfahren namens Particle Swarm Optimization (PSO). Mitte der 1990er Jahre werden die Mathematiker James Kennedy und Russel Eberhart inspiriert einerseits durch die überzeugenden Visualisierungen der Grafi k-Animationen von Reeves und Reynolds – der Name PSO rekurriert direkt auf das Grafik-Tool von Reeves. Zum zweiten beziehen sie sich auf Frank Heppners Forschungen zum Verhalten von Vogelschwärmen, der auf ähnliche Parameter wie Reynolds zurückgreift und mithilfe zellulärer Automaten simuliert.77 Die Idee der PSO basiert auf der Frage, wie ein Vogelschwarm verstreut in einem Suchraum liegende Futterstellen fi ndet und lehnt sich an den von Heppner implementierten »cornfield vector« an, ein Suchziel, das die Bewegung des simulierten Schwarms motiviert. Kennedy und Eberhart modellierten damit einen Suchalgorithmus für Maxima und Minima nichtlinearer Funktionen oder für Multiobjective Optimization-Probleme. Eine mögliche Anwendung wäre etwa ein Fertigungsprozess, in dem sämtliche in die Produktion einfließende Parameter sich wechselseitig beeinflussen und ihre Kombination sich auf das Verhältnis von Quantität und Qualität des Prozesses auswirkt. Für eine perfekte Einstellung müssten daher alle möglichen Parameterkombinationen durchprobiert werden – deren Summe schon bei wenigen Parametern exorbitant groß wird. Zu76 | Verbreitung erlangt der Begriff durch die Forschungen zur Simulation des Verhaltens sozialer Insekten in Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999. Sie verallgemeinern damit dessen Problemspektrum: Ursprünglich wurde der Begriff in der Robotik geprägt von Gerardo Beni/Jing Wang: Swarm Intelligence in Cellular Robotic Systems, in: Proceedings of the Seventh Annual Meeting of the Robotics Society of Japan, Tokio: RSJ Press 1989, S. 425-428. 77 | Vgl. James Kennedy/Russell C. Eberhart: Particle Swarm Optimization, in: Proceedings of the IEEE International Conference on Neural Networks, Piscataway: IEEE Service Center 1995, S. 1942-1948. Vgl. Frank Heppner/Ulf Grenander: A stochastic nonlinear model for coordinated bird flocks, in: Saul Krasner (Hg.): The Ubiquity of Chaos, Washington: American Association for the Advancement of Science 1990, S. 233-238. Zur Relevanz von PSO vgl. Andries P. Engelbrecht: Fundamentals of Computational Swarm Intelligence, Chichester: Wiley 2005, S. 85-359, und das 2008 erscheinende Sonderheft Particle Swarm Optimization des Springer-Journals Swarm Intelligence.
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dem sind die Parameter oftmals nicht ganzzahlig, sondern reellwertig, so dass ein Durchrechnen aller Möglichkeiten ausgeschlossen ist.78 PSO macht derartige Probleme adressierbar, indem es den Raum aller möglichen Zustandskombinationen ›schwarmhaft‹ erforscht. Ein vereinfachtes Reynolds-Modell dient dabei als Optimierungsalgorithmus. Dazu werden Partikel zunächst zufällig im Suchraum verteilt. Die Partikel besitzen in diesem Modell nurmehr eine Position und eine Geschwindigkeit. Sie stehen mit einer definierten Menge von Nachbar-Partikeln in Kontakt. Die jeweilige Position ist hier gleichzeitig ein Lösungsvorschlag für die Zielfunktion. In iterativen Schritten werden nun einerseits die personalBest-Positionen (deren Optimum wird als eine Art ›Gedächtnis‹ erinnert) und die neighborhoodBest-Positionen einer festgelegten Anzahl an nächsten Nachbarn bestimmt. Diese werden miteinander abgeglichen, und aus den bestimmten Abständen ergeben sich in Kombination mit der Größe der Geschwindigkeit die neue »Flugrichtung« und Geschwindigkeit für jeden einzelnen Partikel. Ähnlich dem Umschwirren und der schließlichen Versammlung von Vögeln um die Futterstelle verdichtet sich der Partikelschwarm nach und nach an einem Ort – dem Maximum oder Minimum der gesuchten Funktion (Abbildung 13). Wichtig ist dabei wiederum das Schwärmen der Partikel – eine zu schnelle Konzentration an einem Punkt (Lösungswert) birgt ansonsten die Gefahr, nur ein lokales Maximum aufzuspüren. Dabei spielt die Größe der berücksichtigten Nachbarschaft eine entscheidende Rolle: Ist sie zu groß, tendiert das System zu einer zu frühen Konvergenz, ist sie zu klein, verlängert sich die Berechnungszeit. Schließlich indizieren die Art und Weise der Formation des Partikelschwarms, die Bewegungs- und Abstandsbeziehungen der einzelnen Partikel im SuchAbbildung 13: Information durch Formation: Eine PSO-SimulatorVisualisierung der schwarmhaften Bewegung auf ein Optimum hin.
Quelle: Cai Ziegler: Von Tieren lernen. Optimierungsprobleme lösen mit Schwarmintelligenz, in: c’t 3 (21. Januar 2008), S. 188-191, hier: S. 190. 78 | Vgl. Cai Ziegler: Von Tieren lernen. Optimierungsprobleme lösen mit Schwarmintelligenz, in: c’t 3 (21. Januar 2008), S. 188-191.
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raum eine nahezu optimale Lösung: Information durch Formation. Der Schwarm und das Schwärmen als klassische Verkörperung des Irrationalen79 verkehren sich spätestens in derartigen Anwendungen zu einem effektiven Problemlösungsmodell. Schwärme verwirren demnach in einer medien- und wissensgeschichtlichen Perspektive, die hier vorgeschlagen und skizziert werden sollte, auf produktive Weisen. Sie fordern erstens als Wissensobjekt Medientechnologien der Durchmusterung heraus. Zweitens fallen in ihnen im Chiasmus einer gleichzeitigen Biologisierung der Computertechnik (Agent-based Modelling und Simulation) und Computerisierung der Biologie (Einsatz von Computersimulation in der Schwarmforschung) Objekt und Prinzip von Computersimulationsverfahren ineins. Diesem Chiasmus liegt drittens ein Wissen von Schwärmen zugrunde, das angeregt und zugänglich gemacht wird durch computergrafische Visualisierungstools. Viertens reagieren Schwärme als ›multi-animal processing systems‹ nicht nur adaptiv und effizient auf Störeinflüsse. Sie emanzipieren ein nur begrenztes Wissen der Schwarm-Individuen über den gesamten Schwarm und ihre Umwelt und daraus folgendes fehlerhaftes Verhalten als grundlegende Voraussetzung für die Ausbildung jenes dynamischen Equilibriums, das Vogel- und Fischschwärme zeigen. Und fünftens kann dieses Prinzip als Optimierungstool in unscharfen Problemräumen angewendet werden. Indem Schwärme somit seit den 1990er Jahren in neuer Form als technisierte, rational einsetzbare und effektvoll visualisierbare Kollektive ohne Zentrum erscheinen, liegt es nicht fern, sie als eine machtvolle Metapher auch auf verschiedenste Prozesse ›sozialen Schwärmens‹ zu übertragen. Deren kritische Beschreibung sollte jedoch genau untersuchen, inwieweit darin etwa Schwärme mit Netzwerken gleichgesetzt werden oder wo sich auf emanzipatorische Potentiale berufen wird, die vergessen, dass es sich bei Menschen um grundlegend andere ›agents‹ handelt als bei jenen in Schwarmsimulationen. Vielleicht lässt sich festhalten, dass Schwärme nicht als avancierteste Form älterer Kollektive wie der Masse oder sozialer Gruppierungen, sondern eher als Organisations- und Koordinationsstrukturen gedacht werden sollten, die vor dem Hintergrund einer Kultur der Unschärfe, einer permanenten Flexibilisierung verschiedenster Gegenstands- und Lebensbereiche, als Optimierungsstrategien in diesen 79 | Vgl. z.B. Norbert Hinske: Die Auf klärung und die Schwärmer – Sinn und Funktion einer Kampfidee, in: Auf klärung 3/1 (1988), S. 3-6, hier: S. 4; vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 238.
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Bereichen wirksam werden. Oder besser: als distribuierte Selbstoptimierungsstrategien, deren spezifische Gouvernementalität gesondert zu untersuchen ist.80 Schwärme, und damit wären wir wieder am Anfang, schreiben diese Kultur der Unschärfe verschiedentlich an – verwoben mit einer Epistemologie der Computersimulation, welche diese Kultur spiegelt. Schwärme produzieren Störungen, machen sie aber auch produktiv. Sie sind Figuren und Defigurationen, die nicht nur am Anfang von Medientheorien, sondern auch am Anfang eines unscharfen Wissens intermittieren – am Anfang einer Epistemologie, deren Untersuchung hier mit jener Beobachtung Michel Serres’ (nicht) endet: »Alles geschieht so, als wäre der folgende Satz wahr: Es läuft, weil es nicht läuft. […] Schwankung, Unordnung, Unschärfe und Rauschen sind keine Niederlagen der Vernunft, sind es nicht mehr […]. Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor. Vielleicht ist der Wurzelgrund der Dinge gerade das, was der klassische Rationalismus in die Hölle verbannte. Am Anfang ist das Rauschen«81 – ein Rauschen, in dem sich Fish & Chips auf ganz neue und ungewohnte Weise durchmischen.
80 | Vgl. Vehlken: Schwärme. Zootechnologien. 81 | Serres: Der Parasit, S. 27-28.
Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation Sebastian Giessmann
Gegenwar t I: Was schwärmt?
»Der organlose volle Körper ist ein Körper, der von Mannigfaltigkeiten bevölkert ist«. – »Ein Ameisengewimmel, ein Wolfsdurcheinander«. Gilles Deleuze/Félix Guattari 1
Das Zentrum ist leer, und doch schwebt alles zu ihm hin. Scheinbar schwerelos gleiten die dunkelblauen Flugzeuge in die Mitte eines hellblauen Raumes. Nur ihre Umrisse sind erkennbar, von der Umgebung heben sie sich allein durch den dunkelblauen Farbton ab. Die Bewegung verläuft nicht allein in eine Richtung, bildet aber immer wieder temporäre Muster: die fast synchronen Bewegungen entfalten eine hypnotische Wirkung. Pier and Ocean nennt der amerikanische Videokünstler Paul Pfeiffer seinen elfminütigen Videoloop.2 Die 2004 entstandene Arbeit ist keine klassische Computeranimation oder -simulation, sondern basiert auf Film1 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, 5. Aufl., Berlin: Merve 2002, S. 48 und S. 50. 2 | Paul Pfeiffer: Pier and Ocean, 2004. Digital video loop, 11 Minuten. Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Signatur 2004.123.
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aufnahmen. Das Grundprinzip entwickelt dabei ein Spiel mit einfachen Elementen: ein pattern von wenigen Jets wird immer neu variiert und in Schichten übereinander gelegt, verschoben, fragmentiert. Die vereinzelten Bewegungen des Anfangs verdichten sich zu einem Flugzeug-Schwarm, der immer aufs Neue auseinander driftet, bevor er sich sanft auflöst (Abbildung 1). Das Zentrum dieses medialen Maschinenkollektivs bleibt immer leer und ist doch jener Pier, um den sich der Ozean allererst gruppieren kann. In der Sprache von Netzwerktheorie und internationalem Fluggeschäft ist jener Nicht-Ort der Flughafen selbst; ein hub als prominenter Knoten, an dem sich die Luftbewegungen der Netzwerkgesellschaft verdichten. Deren Bodenhaftung, d.h. die komplexen Abläufe, die zur Regelung des Luftverkehrs vonnöten sind,3 wird hier zugunsten einer Ästhetik komplexer Lebendigkeit aufgehoben. Während sich Rollbänder, Passagiere, Kerosintankwagen, Runways und Aluminiumvögel mitnichten von selbst organisieren, ist die Komplexität jener Vorgänge am ehesten durch die faszinierende Aneignung als lebendiges, offenes System zu repräsentieren.
Abbildung 1: Paul Pfeiffer: Pier and Ocean. Videostill [2004], in: Solomon R. Guggenheim Museum, New York: GuggenheimGuide. Exhibitions AprilSeptember 2007, S. 1. Pfeiffers künstlerische Intervention ist in ihrer schwebenden Hybridität symptomatisch für unsere Gegenwartskultur. Die Praktiken des Vernetzens und die verfügbaren Netzwerktechnologien suspendieren Unterschiede zwischen Lebendigem und Mechanischem, Natur und Kultur, Menschen, Tieren, Institutionen und Dingen. Dies allein ist nichts Neues
3 | Vgl. Jörg Potthast: Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft. Eine Ethnografie von Pannen an Großflughäfen, Berlin: Kadmos 2007.
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und eine der Grundeigenschaften von Netzwerken als Kulturtechnik. 4 Bemerkenswert ist jedoch die zunehmende Verschiebung und Radikalisierung von Netzwerklogiken zu dynamischen biomorphen Konfigurationen des Schwarms hin. Die Familienähnlichkeit beider Phänomene beruht, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auf den selben wissenshistorischen Agenten: der Informatisierung sowohl der Biologie als auch der »sprechenden« Computer, dem Aufstieg topologischen Denkens, dem Universalitätsanspruch der Systemtheorie und Computern als rechnenden Medien von Modellierung und Simulation schlechthin. Meine These ist dabei, dass die emergente Qualität von Schwarm-Verhalten keine Selbstverständlichkeit ist, sondern sich epistemologisch dem modellierenden Experiment mit basalen Bewegungsmustern verdankt. Jene werden wiederum zur protokollarischen Vorschrift für die Simulation tierischen, menschlichen und maschinellen Verhaltens. Der Schwarm stellt so eine biomorphe Figur von Communication & Control in Netzwerkgesellschaften dar. Ein ebenso populäres wie signifi kantes Beispiel für das widersprüchliche Verhältnis von Netzen, Netzwerken und Schwärmen findet sich in Frank Schätzings tausendseitigem Bestseller Der Schwarm. Dessen Narration lässt keinen Zweifel daran, wer bei einer Konfrontation von menschengemachtem Netz und lebendigem Schwarm als Sieger hervorgehen wird. Der im Stile eines Filmteasers geschriebene Auftakt vor der Küste von Peru lässt uns mit behaglichem Schauern und nachdrücklich wissen, dass ein traditionell geknüpftes Fischernetz machtlos gegenüber den vom Zellenschwarm der Yrr ferngesteuerten Fischen ist. Ein solcher Auftakt wäre allein noch nicht der Rede wert, aber Schätzing wiederholt die Konfrontation zwischen Netz und »Schwarmanomalien«5 exakt zu Beginn des zweiten Teils, diesmal aber unter wesentlich moderneren Vorzeichen. Nach einem durch den Absturz weiter Teile des Kontinentalschelfs hervorgerufenen Tsunami in der Nordsee sind die transatlantischen Glasfaserkabel zerfetzt, so dass Kommunikation mühsam via Satellitentelefon anstelle über E-Mail erfolgen muss. Das gibt zu Verwunderung Anlass: War es nicht gerade die verteilte Struktur, die bei Teilausfällen des physikalischen Netzes die Kommunikation noch aufrechterhalten sollte? Warum Nachrichten aus Kiel nicht über das europäische Festland, London und Irland nach Nordame4 | Vgl. hierzu Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie-Verlag 1995, S. 10f., und Hartmut Böhme: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion, in: Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln: Böhlau 2004, S. 17-36. 5 | Frank Schätzing: Der Schwarm, 13. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 25ff.
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rika gelangen können, erklärt uns Der Schwarm erst einige Seiten später; die restlichen Kabel wurden offenbar mutwillig zerstört. Die Yrr haben die anthropogenen Netzstrukturen als strategisch wichtiges Ziel ausgemacht. Im weiteren Verlauf der Erzählung erweisen sich die übermenschlichen Feinde für das überforderte menschliche Verständnis selbst als vernetzte Wesen, deren Topologie unklar ist.6 Nicht nur erscheint die Netzförmigkeit als Bedingung der Existenz der Yrr – sie dient auch als Chiffre für deren Charakter als die Natur und das Leben selbst. Der Schwarm wird so zum prominenten Teil einer Natur, deren intakte räumliche Gesamtheit kaum anders gedacht werden kann als fluide und vernetzt. Am Ende des Romans wird dies explizit, wenn die Zerstörung des »Verbindenden, das unser Überleben sichert« appelativ verurteilt wird: […] weiterhin schädigen wird die Erde. Mit der Vielfalt der Lebensformen zerstören wir eine Komplexität, die wir nicht verstehen, und schon gar nicht können wir sie neu erschaffen. Was wir auseinander reißen, bleibt zerrissen. Wer will entscheiden, auf welchen Teil der Natur im großen Geflecht wir verzichten können? Das Geheimnis der Vernetzung offenbart sich nur intakt. Einmal sind wir zu weit gegangen, und das Netz hat beschlossen, sich unserer zu entledigen. Einstweilen herrscht Waffenruhe.7
Gegenwar t II: Politisch-militärische Konfigurationen des Schwarms in der Net z werkgesellschaf t Wer glaubt, die Widersacher als lebendes Netz und Schwarm erkennen zu können, schaff t neue Modellformen von naturalisierter Feindschaft. Kern von Konflikten wird so ein Ringen mit dem Unbegreifl ichen des Gegners
6 | »Wir wissen nicht, wie dicht ihr Netz ist. Möglicherweise bilden sie zelluläre Ketten über Hunderte von Kilometern«. Ebd., S. 857. 7 | Schätzing: Der Schwarm, S. 987. Schätzing greift eine Semantik auf, die sich bereits in Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen findet. Die Natur ist dort allgemein verkettet, aber »nicht in einfach linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe«. In: Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg. v. Hanno Beck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, S. 39. Zur Wiederkehr dieser humboldtianischen Gesamtschau siehe programmatisch Frithjof Capra: Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt, Bern: Scherz 1996.
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im Zeichen von dessen naturhaft erscheinender Überlegenheit.8 In Schätzings Fiktion verschwimmen die Grenzen von Netz und Schwarm, sobald sie ein großes Territorium abdecken und kontrollieren. Der stärkste Unterschied liegt hingegen in den Formen der Verzeitlichung: Fisch- und Vogelschwärme handeln schneller als zerstrittene Menschen. Sie können dies, weil ihre Bewegungsformen auf einer radikal reduzierten Grammatik beruhen. Diese nomadologischen Schwarmmodelle unterscheiden sich deutlich von den staatenbildenden, sozialen Insekten. Im Falle der Yrr mischen sich beide Formen: Sie kommunizieren und agieren in ihrer natürlichen Umgebung rasant und sind in der Lage, diese territorial zu beherrschen. Lose Kopplung und feste Kopplung gleichzeitig – eine perfekte, unmögliche Kombination. Gemessen an einer ebenso biomorphen wie bewegungsökonomischen Dynamisierungsfigur wie Vogel-, Fisch- und Menschenschwarm9 formieren sich technische und soziale Netzwerke vergleichsweise langsam. Zudem sind sie in den allermeisten Fällen auf die Herausbildung von zentralen Knoten – den eingangs erwähnten hubs – angewiesen, die Datenströme und Handlungsmacht verbinden. Manuel Castells verwendet dafür den plastischen, aber schwer übersetzbaren Begriff der »nodality«.10 Die Frage nach den Machtpotentialen, die mit der Besetzung von strategischen Knotenpunkten verbunden sind, ist zudem einer der wichtigsten Aspekte seiner Theorie der Netzwerkgesellschaft. Eine besondere Rolle kommt dabei denjenigen Akteuren zu, die das switching von Strömen (Finanzen, Daten, Verkehr) beherrschen.11 Dezentralität und Verteilung heißt also nicht: Freiheit von Hierarchie und Machtverteilungen.12 Dies gilt insbesondere für soziale Netzwerke – ein Konzept von Soziabilität, das erst nach dem Auf bau technischer Netzstrukturen im Laufe des 20. Jahrhunderts entsteht.13 8 | Vgl. hierzu Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 478f. 9 | Vgl. zur Dynamisierung die Einleitung »Übertragungen« in Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegungen zwischen Affekt und Masse, Freiburg: Rombach 2007, S. 7-61, hier: S. 7. 10 | Manuel Castells: The Internet Galaxy. Refl ections on the Internet, Business, and Society, Oxford, New York: Oxford University Press 2001, S. 228. 11 | Manuel Castells: The Rise of the Network Society, 2. Aufl., Oxford, Malden/MA: Blackwell Publishers 2000, S. 502. 12 | Vgl. hierzu aus informatischer Sicht Rainer Fischbach: Mythos Netz. Kommunikation jenseits von Raum und Zeit? Zürich: Rotpunktverlag 2005. 13 | Vgl. hierzu ausführlich Erhard Schüttpelz: Ein absoluter Begriff. Zur Genealogie und Karriere des Netzwerkkonzepts, in: Stefan Kaufmann (Hg.):
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Mit der Analyse von Akteursnetzwerken verbindet sich daher immer die Frage nach dem unabschließbaren Prozess des Vernetzens selbst. Samuel Weber hat im Anschluss an Walter Benjamins Erzähltheorie darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Silbe »-werk« das nicht Festzulegende festgeschrieben wird. »Ist es möglich, sich eine ›Bewegung‹ vorzustellen, die vernetzen und nicht netzwerken würde, eine die Raum lassen würde für die Frage, die, für Benjamin zumindest, dem Ende jeder Geschichte folgt – ›Wie ging es weiter‹?«14 Webers Vorschlag, das Werk im Netz zu streichen, folgt seiner Analyse einer in den 1990er Jahren programmatisch-präventiv entwickelten US-amerikanischen ›Sicherheitspolitik‹. Innerhalb dieser Doktrin der Netzkriege – die sich anhand von John Arqillas und David Ronfeldts 2001 erschienenen Buch Networks and Netwars auch für NichtMilitärs nachvollziehen lässt – geht es um nicht weniger als Strategien und Taktiken des Schwärmens, des gezielten Verwischens und Vermischens der eigenen Aktionen. So werden Aktionen von Guerilla und Terroristenzellen nicht nur nachgeahmt, sondern sollen organisatorisch übertroffen werden. Schwärmen und Netzstruktur werden eins: Swarming occurs when the dispersed units of a network of small (and perhaps some large) forces converge on a target from multiple directions. The overall aim is sustainable pulsing — swarm networks must be able to coalesce rapidly and stealthily on a target, then dissever and redisperse, immediately ready to combine for a new pulse.15
Erklärtes Ziel eines solchen Programms ist ein verteiltes, beschleunigtes, nahezu instinktives Agieren. Um dem Feind beizukommen, muss man selbst möglichst ökonomisch zum überlegenen, zum kollektiven Über-Tier werden. Weil der Schwarm das gleichzeitige, synchronisierte Zupacken erlaubt, fingiert der militärische Diskurs, dass man durch Schwärmen den Ungleichzeitigkeiten verteilten, rhizomatischen Handelns in der Zuspitzung auf einen entscheidenden Moment beikommen kann. Den auf asynchronen Kampf abzielenden Strategien von Terroristen und Partisanen setzt man den Schwarm als synchronisierende Zootechnologie16 entgegen. Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich: Chronos 2007, S. 25-46. 14 | Samuel M. Weber: Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens, Berlin: Diaphanes 2006, S. 159. 15 | John Arquilla/David F. Ronfeldt: Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica: RAND 2001, S. 12. 16 | Vgl. Sebastian Vehlken: Schwärme. Zootechnologien, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich, Berlin: Diaphanes
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Eine mögliche Antwort auf die Frage nach der aktuellen Konvergenz von Netzwerklogik (Castells) und der Rede von »Schwarm-Intelligenz« bezieht sich, wenn man so will, auf deren Hervorbringung politischer Körper. Ich möchte im Folgenden aber einen anderen Weg einschlagen, welcher die gegenwartsorientierte Analyse der Gouvernementalität von Netzwerken, Schwärmen und Multitudes17 um wissens- und medienhistorische Aspekte ergänzt. Denn die Annahme, dass sich auf einer bestimmten Ebene lebende Netzwerke und Schwärme überlappen,18 fordert ihre Historisierung heraus. Mit anderen Worten: Es geht mir im Folgenden um die Frage nach den gestellten und offenen Fragen, auf die Netzwerk- wie Schwarmkonjunkturen zu antworten versuchen.
Geschichte I: Leben im Zeichen der (Un-)Berechenbarkeit Wenn man den Schwarm als Figur der Gegenwart verstehen will, so wird man um Differenzierungen zwischen verschiedenen Schwarm-Logiken nicht umhinkönnen. Denn so wie die Analyse von Diskursen und Performanzen der Masse aufzeigt, dass die Reduktion der Masse auf eine Form die Komplexität ihrer Erscheinungsweisen hintergeht,19 so wartet die Schwarmanalyse noch auf einen Lernprozess, den die Netzwerktheorie bereits langsam durchläuft. Denn auch wenn die verschiedenen Formen beider jeweils auf formalisierbare Grundprinzipien zurückführbar sind, sagt die bloße Struktur von Relationen und Bewegungen noch nichts über die zugrundeliegenden kulturellen Praktiken aus. So verrät die Topologie eines Netzes und die Quantifizierung von Interaktionen nur unzureichend, was es zum Netzwerk, d.h. zum Akteurs- oder Agentennetzwerk, macht. Samuel Weber hat vorgeschlagen, Narrationen als Grund für den Zusammenhalt von selbst sehr lose gekoppelten Netzwerken zu denken.20 2007, S. 235-257 zum Begriff der Zootechnologie; zur Asynchronität der »Neuen Kriege« siehe Herfried Münkler: Die neuen Kriege, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002; zu Kulturtechniken der Synchronisation vgl. den gleichnamigen Band von Christian Kassung/Thomas Macho (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation, München: Fink 2009 (in Vorbereitung). 17 | Vgl. den Beitrag von Eugene Thacker in diesem Band. 18 | Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 53. 19 | Vgl. die Beiträge von Michael Gamper und Urs Stäheli in diesem Band. 20 | Weber: Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens, S. 150f.
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Michel Serres wiederum verdanken wir ein geschichtsphilosophisches diagrammatisches Modell solcher netzförmiger Erzählungen.21 Im Falle der verschiedenen Schwarmtypen sind solche poetologisch-narratologischen Fragen jedoch noch kaum gestellt. Die Bio-Logiken der Schwarmforschung bedürfen einer genaueren Analyse, die auch die Kulturwissenschaften zu Grundlektionen in politischer Zoologie zwingen dürfte: Ameisenschwärme sind etwas anderes als Fischschulen und sind etwas anderes als Flash Mobs aus Menschen und Mobiltelefonen – auch wenn deren mathematische Modellierung und computertechnische Simulation verwandte Strukturprinzipien verheißt. Als Diskursfigur verdankt sich der Schwarm einer Korrespondenz von Biologie, Physik und Informationstheorie. Erwin Schrödingers initiale, 1943 gestellte Frage »Was ist Leben?« steht stellvertretend für die Eröffnung eines gemeinsamen Wissensraumes, in dem sich Leben ganz entlang der aristotelischen Tradition durch seine komplexe Eigenbewegtheit auszeichnet und Ordnung durch Ordnung entsteht.22 Die heutige Schwarmforschung befindet sich hingegen in einem permanenten Wechselspiel von einfachen Grundmustern der Ordnung und emergentem Verhalten »at the edge of chaos«. Sie setzt jedoch die Tradition der Verbindung von Leben mit Bewegung fort und hypertrophiert diese: Je bewegter, desto komplexer, desto lebendiger. Mit dem formalisierten Wissen um die basalen Bewegungsmuster wächst die Faszination für das aufgezeichnete und generierte bzw. simulierte Bewegungsbild des Schwarms, das so als Repräsentation »fantastischer Genauigkeit« (Musil) für das Leben selbst einstehen kann. Dies ist in der Tat eine neue Qualität, die sich deutlich von der Faszinationsgeschichte der staatenbildenden sozialen Insekten seit der Antike absetzt. Gleichwohl bleibt die longue durée eines politischen Imaginären die Basis der aktuellen Schwarm-Konjunkturen.23 Mindestens genauso schwer wiegt aber eine wissenshistorische Wende, deren Konturen bei Schrödinger bereits einmal auf blitzen. Der traditionelle Widerstreit zwischen vitalistischen und mechanischen Auff assungen des Lebens wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Einführung informationstheo21 | Michel Serres: Das Kommunikationsnetz: Penelope, in: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 155-165. 22 | Vgl. Erwin Schrödinger: Was ist Leben?, 7. Aufl., München, Zürich: Piper 2004, S. 120f. 23 | Vgl. hierzu die Beiträge von Eva Johach und Niels Werber in diesem Band. Zu weiteren politischen Implikationen, speziell im Kontext des Neoliberalismus, vgl. neben Eugene Thackers Analysen auch Gabriele Brandstetter/ Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion.
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retischer Konzepte radikal in Frage gestellt. Im engeren Sinne betriff t dies jene Molekularbiologie der 1940er und 1950er Jahre, welche paradigmatisch die anhaltende Informatisierung der Biologie einleitete. Die Genetik hat, wie wir durch die Wissenschaftshistorikerinnen Lily Kay und Evelyn Fox Keller wissen, die nachrichtentechnisch informierten Begriffe der Kybernetik (Information, Code, Nachricht, Sender, Empfänger etc.) produktiv missbraucht und umgeschrieben.24 Während für die Molekularbiologie organismische Funktionen weitgehend uninteressant wurden, machten die Kybernetiker wiederum klassische biologische Begriffe wie Zweck, Organisation und Harmonie zum Teil ihrer Sprache. Oder, wie Evelyn Fox Keller es formuliert: »Sie griffen weitgehend eben jene Bilder, Formulierungen oder sogar begriffl ichen Modelle auf, die im prämolekularen (am Organismus orientierten) biologischen Diskurs vorgeherrscht hatten, und bedienten sich ihrer, um neue Paradigmen von Regelkreisen in der Kybernetik und der Systemtheorie zu entwickeln.«25 Umgekehrt werden Vorstellungen von Netzwerken und komplexer Organisation interessant für die Biologie, die damit an ältere Vorstellungen von am Organismus orientierter Entwicklung anknüpfen kann. Die Molekularbiologie ist ein paradigmatisches Beispiel für ein anderes Fragen nach der Berechenbarkeit der Objekte biologischer Erkenntnis. Zahl oder Leben? – Kulturtechniken des Rechnens oder theoretische Biologie – diese Frontstellung beginnt sich ab den 1920er Jahren nach und nach zu verschieben, zu verändern und teils neu zu formieren.26 Die epistemischen Gemengelagen sind dabei alles andere als übersichtlich, selbst als Anfang der 1960er Jahre mit der Systemtheorie eine Inter-Disziplin auf die Bühne tritt, um die herum sich die heute kanonisierten Begriffe der Selbstorganisation, Emergenz und – 24 | Vgl. Evelyn Fox Keller: Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, München: Antje Kunstmann 1998, S. 120f. Lily Kay: Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code, Writing Science, Stanford: Stanford University Press 2000, S. 38ff. Die parasitäre Aneignung geht dabei teils mit einer expliziten Ablehnung der Informationstheorie von Shannon und Weaver einher, so dass die Verwendung des Begriffs »Information« in der Molekularbiologie eher der alltagssprachlichen Verwendung folgt. 25 | Fox Keller: Das Leben neu denken, S. 115f. 26 | Vgl. zu diesem Konflikt exemplarisch Erich Hörl: Zahl oder Leben. Zur historischen Epistemologie des Intuitionismus, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1 (2005), S. 57-81. Zu den älteren Modellübertragungen zwischen Lebendem und Technischem siehe die Beiträge in Wolfgang Maier/Thomas Zoglauer (Hg.): Technomorphe Organismuskonzepte. Modellübertragungen zwischen Biologie und Technik, Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 1994.
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mit Humberto Maturanas und Francisco Varelas Arbeiten um 1970 – Autopoiesis verdichten. François Jacobs fundamentale Geschichte zur Logik des Lebenden fasste, nicht ganz unparteiisch, diese Tendenzen zugunsten der Berechenbarkeit zusammen: »Heute interessiert sich die Biologie für die Algorithmen der lebenden Welt.«27 Entgegen dem Essenzialismus einer solchen Formulierung müsste man ergänzen, dass sie sich vor allem um deren Modellierung bemüht. Die zentrale Maßgabe eines solchen Modellierens fi ndet sich im 20. Jahrhundert gehäuft: das Komplexe ist komplex durch einfache, basale Operationen, deren erzeugte Formen und Muster sich nicht aus den Grundoperationen erklären lassen. Ludwig von Bertalanff y macht dies zu einer Grundannahme seiner allgemeinen Systemtheorie, wenn er schreibt: The meaning of the somewhat mysterical expression ›the whole is more than the sum of parts‹ is simply that constitutive characteristics are not explainable from the characteristics of isolated parts. The characteristics of the complex, therefore, compared to those of the elements, appear as ›new‹ or ›emergent‹.28
Entscheidend für diese Form von Emergenz ist aber nicht nur die quasi holistische Gesamtschau eines offenen Systems. Die Berechenbarkeit der grundlegenden Elemente und Prozesse, die im Sinne einer guten Modellierung möglichst einfach sein müssen, kann zwar nicht monokausal die insgesamt entstehenden Eigenschaften beschreiben. Aber sie macht sie handhabbar, so dass man über ein fortwährendes ›Daneben-Zielen‹ approximativ Relationen und Verteilungen modellieren kann. Heinz von Foerster hat ein solches Vorgehen »heterarchisch« genannt, wobei die griechischen Wurzeln des Wortes (heteros: der Andere, der Nachbar; archein: herrschen) anstelle der Hierarchie eine plurale Heterarchie zum Maßstab erheben.29 Dieses ›Zielen‹ auf das Verhalten des jeweiligen Nachbarn ist in Netzwerktheorie und Schwarmforschung eines der wichtigsten Elemente. Es findet sich bereits in der frühen verhaltensökologischen Analyse von Fischschu27 | François Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt a.M.: Fischer TB 2002, S. 319. 28 | Ludwig von Bertalanff y: General System Theory. Foundations, Development, Applications, New York: George Braziller 1968, S. 55. Zudem gilt: »Selbstorganisierende Systeme sind Systeme, die Umweltordnung in ihrer eigenen Organisation abbilden«. Heinz von Foerster: Gedächtnis ohne Aufzeichnung, in: Wolfram K. Köck (Hg.): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1985, S. 133-171, hier: S. 149. 29 | Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 4. Aufl., Heidelberg: Carl Auer 2001, S. 86f.
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len durch den Meeresbiologen Alfred Parr. In seinen Forschungen stellte er bereits Ende der zwanziger Jahre die (richtige) Vermutung an, dass die Bewegungsmuster eines Fischschwarms sehr einfachen Grundprinzipien gehorchen.30 Parallel dazu entstand die moderne Netzwerktheorie in den 1920er und 1930er Jahren, ihre bis heute anhaltende Konjunktur setzt nach dem zweiten Weltkrieg ein.31 Mit ihr teilt die Schwarmforschung ein topologisches Vorgehen, das einer verteilten Räumlichkeit Berechenbarkeit abringt. Neben dem Epistemologem »einfache Basis – komplexes Werden« und dem Aufstieg topologischen Modellierens kommt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Computer noch ein dritter Agent ins Spiel, ohne den die Historizität heutiger Schwarm-Figuren nicht denkbar ist. Denn das Diktum Varelas, dass Autopoiesis ausschließlich die Ebene der Zellen betriff t,32 ist in der Aneignung des Begriffs quer durch andere Wissenschaftsdisziplinen – darunter auch in Niklas Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft – suspendiert. Selbstorganisation, Emergenz und Autopoiesis reinstantiieren sich so als Beschreibungsmodelle, kulturtechnisch unterstützt durch vernetzte Rechner und das Aufkommen bioinformatischer Software. In der Artificial-Life-Forschung oder der Systems Biology bilden sich ebensolche informationsbasierte Protokolle der Wissenserzeugung aus, wie sie zur Kommunikation zwischen Rechnern nötig sind.33 Eugene Thacker hat dies als »Biomolecular Transport Protocol« (BmTP) charakterisiert und die Laborpraktiken auf drei grundlegende Operationen reduziert: encodieren, 30 | Vgl. hierzu den Beitrag von Sebastian Vehlken in diesem Band. 31 | Vgl. zur ›Verspätung‹ der Graphentheorie Sebastian Gießmann: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik, 1740-1840, Bielefeld: transcript 2006, S. 27f. und ders.: Graphen können alles. Visuelle Modellierung und Netzwerktheorie vor 1900, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle, München: Fink 2008, S. 269-284. Für einen nicht-historischen und nicht kritisch motivierten Überblick zur Netzwerktheorie siehe Albert-László Barabási: Linked. The New Science of Networks, Cambridge/MA: Perseus 2002. 32 | Francisco Varela: Das auftauchende Ich, in: John Brockman (Hg.): Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaften, München: btb 1996, S. 289-308, hier: S. 292f. 33 | Vgl. zur Geschichte und Ästhetik von Artificial Life Jutta Weber: Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Techoscience, Frankfurt a.M., New York: Campus 2003, S. 156f.; Ingeborg Reichle: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience, Wien, New York: Springer 2005, S. 116f.; zur Systems Biology vgl. Eugene Thacker: Biomedia, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 141ff.
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recodieren und decodieren.34 Ich möchte anschließend anhand der informatischen Netzwerkprotokolle die Frage nach Communication & Control von Netzwerken wie Schwärmen noch einmal stellen. Welche sprachlichen Voraussetzungen sind nötig, damit Ingenieure verteilte Rechnerstrukturen implementieren können? Wie ist die uns heute selbstverständlich gewordene Organisation von Rechnerkollektiven möglich geworden? Und wie wirkt sich dies auf die generative Konstruktion von Schwarmlogiken aus?
Geschichte II: Sprechende Computer, Net z werkprotokolle Der Computerbefehl »traceroute« gehört zum spurenlesenden Handwerkszeug jedes Netzwerkadministrators. Er erlaubt die Nachverfolgung des Weges, den die Datenpakete vom eigenen Rechner zu einem anderen Computer im Internet nehmen, inklusive einer Liste der sonst unsichtbar bleibenden Vermittlungsknoten. Bedingung jeder solchen Datenübertragung im Internet sind die sogenannten Netzwerkprotokolle, die uns im Alltag – dem Gegenstand gemäß stark verkürzt – meist nur als kurze Buchstabenfolge begegnen. So setzt das p in »http://« ein weitreichendes schriftliches Maschinengeplapper in Gang, welches die Übertragung von Hypertexten im World Wide Web steuert. Auf einer tiefer liegenden Schicht ermöglicht wiederum die Kombination von Transmission Control Program und Internet Protocol (TCP/IP), dass Computer miteinander Kontakt aufnehmen und Daten austauschen können. Nachrichten können so in kleine Datenpakete aufgeteilt werden, die am Zielort wieder zusammengesetzt werden – nachdem sie ihre Wege distribuiert über unterschiedliche Rechner genommen haben.35 Im Falle des Transmission Control Program läuft die maschinelle Diplomatie nach folgenden Regeln ab: Computer A schickt ein Paket an Computer B: »Ich möchte eine Verbindung auf bauen.« Computer B antwortet: »Bereit.« Computer A signalisiert: »Verstanden. Verbindung hergestellt.« Eine solche basale Synchronisationstechnik 34 | Thacker: Biomedia, S. 15f. 35 | Die Spezifi kation von TCP/IP ist in der für die Ingenieurskommunikation im Internet typischen Form des Request for Comment 1981 festgelegt worden. Vgl. Transmission Control Protocol. DARPA Internet Program Protocol Specification, Techn. Ber. DARPA, 1981, URL: ftp://ftp.rfc-editor.org/in-notes/ rfc793.txt; Internet Protocol. DARPA Internet Program Control Specification, Techn. Ber. DARPA, 1981, URL: ftp://ftp.rfc-editor.org/in-notes/rfc791.txt. Vgl. zum Unterschied zwischen zentralisierten, dezentralisierten und distribuierten Netztopologien Abb. 2.
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triff t per fernschreibendem »Handschlag« (handshake) eine äußerst kurze Verabredung zu einem imaginären Schaltkreis.36 Etymologisch lässt sich protocollum im Lateinischen und prōtókollon im Griechisch-Byzantinischen auf ein vorgeleimtes, mit allgemeinen Informationen zu Verfasser und Chronologie des Schriftstücks versehenes Blatt, zurückführen: es beinhaltet eine Vorschrift. Seit dem 19. Jahrhundert kennt die Diplomatie das Protokoll nicht nur als Vor- bzw. Niederschrift und Bericht, sondern auch als Gesamtheit der Bestimmungen über den Ablauf eines diplomatischen Zeremoniells.37 Die explizite Genealogie der Computer-Netzwerkprotokolle führt zurück in die 1960er Jahre, an deren Anfang sich die Kybernetik in Richtung einer allgemeinen Systemtheorie verändert. Zeitgleich entwickelt die junge Computer Science mit Bildschirm und Maus die Grundlagen systemischer Mensch-Maschine-Interaktion und vollzieht so eine kognitive Wende, die auf Sprache und Symbolkommunikation abzielt.38 Auf der praktischen Ebene geht es hier ganz handfest um die Ordnung der vielfältigen entstehenden Programmiersprachen und das Bedürfnis der Techniker, beim fehlerbereinigenden debugging auch von Großrechnern ein zeitnahes Feedback zu erhalten.39 Man spricht mit Computern, hat eine Konversation, führt ein Gespräch: Die sprachfähigen Bordcomputer wie HAL in Stanley Kubricks 2001 oder in Gene Roddenberrys Star Trek-Serienuniversum sind populäre Spuren jener Gründungszeit. Sie sind Teil des Diskurses um »conversational programming«, »conversational computers« und »conversational languages«. 40 So schreibt der 36 | Vgl. hierzu neben der TCP-Spezifi kation Alexander Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentralization, Cambridge, London: MIT Press 2004, S. 43f.; vgl. als Überblicksdarstellung zur Evolution der Netzwerkprotokolle Mercedes Bunz: Vom Speicher zum Verteiler. Die Geschichte des Internet, Berlin: Kadmos 2008, S. 96f. 37 | Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 7. Aufl., München: dtv 2004, S. 1052. 38 | Vgl. hierzu Kirsten Wagner: Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Zur Verräumlichung des Wissens und Denkens in der Computermoderne, Freiburg: Rombach 2006, S. 127f. 39 | Vgl. Jörg Pflüger: Konversation, Manipulation, Delegation. Zur Ideengeschichte der Interaktivität, in: Hans-Dieter Hellige (Hg.): Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin u.a.: Springer 2004, S. 367-408. Zur unübersichtlichen Evolution allein der amerikanisch-westlichen Programmiersprachen siehe Jean E. Sammets Kartierung im Einband von Richard L. Wexelblatt (Hg.): History of Programming Languages, New York u.a.: Academic Press 1981. 40 | Pflüger: Konversation, Manipulation, Delegation, S. 375.
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Psychologe und Computerwissenschaftler J.C.R. Licklider am 25. April 1963 in einem Memo: »There will be programming languages, debugging languages, time-sharing system control languages, computer-network languages, data-base (or file-storage-and-retrieval languages), and perhaps other languages as well.«41 Eine babylonische Sprachverwirrung scheint absehbar, und sie betriff t insbesondere zu vernetzende Großcomputer und die sie bedienenden Menschen. Mit der Netzwerk-Kontroll-Sprache muss die Kommunikation zwischen Rechnerkollektiven ermöglicht werden, während mit der Weiterentwicklung von Online-Angeboten auch die Notwendigkeit für eine vereinheitlichte Mensch-Computer-Interaktionssprache oder eine kohärente Familie von Sprachen steigt. 42 Lickliders Software-Visionen, die in den berühmten Traktaten zur Mensch-Computer-Symbiose und zum »Computer as a Communication Device« gipfelten, 43 übten tiefgreifenden Einfluss auf eine ganze Generation von Entwicklern aus. Die Fragen einer Netzwerk-Kontroll-Sprache stellen sich umso mehr, wenn man nicht mehr von den gebräuchlichen Großrechnerinstallationen mit ›dummen‹ Terminals ausgeht, deren Sterntopologie das universitäre Time-Sharing der 1960er Jahre bestimmt. In Paul Barans berühmter, auf Arbeiten aus den Jahren 1961 bis 1964 beruhender Artikelserie On Distributed Communications spielt sprachförmige Interaktivität hingegen keine Rolle. Im Vordergrund steht das Kriterium der Ausfallsicherheit kommunikativer Verbindungen im Falle eines Atomschlags. 44 Dieses relativiert sich zwar im Laufe der weiteren Artikel, bestimmt aber Barans klassisch gewordene Ikonografie der Netztopologien: vom Stern über die Dezentralisierung zu den »distributed communications« (Abbildung 2). Ganz im Gegensatz zu Baran argumentierte der britische Physiker 41 | MC 499.3, J.C.R. Licklider Papers, Massachussets Institute of Technology, Archival Collections, Cambridge/MA (Correspondence 1958-1969, Typoskript, S. 2). 42 | MC 499.7, J.C.R. Licklider Papers, Massachussets Institute of Technology, Archival Collections, Cambridge/MA (»Man-Computer Communication« drafts and correspondence, c. 1965, Typoskript, S. 3). 43 | J.C.R. Licklider: Man-Computer Symbiosis, in: IRE Transactions on Human Factors in Electronics HFE 1/1 (1960), S. 4-11. J.C.R. Licklider/Robert W. Taylor: The Computer as a Communication Device, in: Science and Technology (1968), S. 21-31. 44 | Dies betriff t vor allem den meist referenzierten ersten Teil der Serie. Vgl. Paul Baran: MEMORANDUM RM-3420-PR. On Distributed Communications, Techn. Ber. RAND Corporation, 1964, URL: www.rand.org/publications/ RM/RM3420/.
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Abbildung 2: Paul Baran: Netzwerk-Topologien. Zeichnung [1964], in: Paul Baran: MEMORANDUM RM-3420-PR. On Distributed Communications, Teil I. Rand Corporation, August 1964, S. 2. Donald Davies eher in Richtung eines nicht-militärischen Kommunikationsnetzwerkes. 45 Sein am National Physical Laboratory entstandener Vernetzungsentwurf vom 18. März 1966 hat wie Barans Design nationale Reichweite, orientiert sich aber an zivilen makroökonomischen Prioritäten und verwendet anstelle von Barans Terminologie der »message blocks« erstmals das Wort Paket für die Übertragung von Nachrichten in Einzelteilen. 46 Zentraler Bezugspunkt ist, ganz wie in J. C. R. Lickliders Visionen, das interaktive Agieren mit dem nunmehr vernetzt gedachten Computer. Unterhaltungen mit dem Computer sollen in Echtzeit ablaufen, deren Maß die Ungeduld des Users ist: »In a conversation, it has been found, that there is a critical time, near to 10 seconds, beyond which the user will tend to do something else to fi ll in time and thus spoil the effectiveness […].« 47 Davies sieht die Nützlichkeit und Notwendigkeit eines solchen Zeitregimes vor 45 | Vgl. Janet Abbate: Inventing the Internet, Cambridge/MA, London: MIT Press 2000, S. 23. 46 | Vgl. ebd., S. 21f.; Jochen Koubek: Vernetzung als kulturelles Paradigma, Diss. HU Berlin 2003, URL: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/koubekjochen-2003-02-10/HTML/index.html, S. 61f.; Jens Schröter: Das Netz und die virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld: transcript 2004, S. 41f. 47 | Donald W. Davies: Proposal for a Digital Communication Network,
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allem für »real-time business systems« gegeben, während Wissenschaft und Design weiterhin die übliche lochkarten-basierte Stapelverarbeitung verwenden könnten. Die Konversation von Mensch und Maschine setzt dann eine Kaskade von Computergeraune in Gang, damit beispielsweise eine Flugticketbuchung zwischen den verschiedenen Agenten (Reisebüro, Fluglinie, Bank, Kunde) ausgehandelt wird. »Typically […] each human action may lead to several computer to computer conversations.«48 In gewisser Weise befinden sich die Computerkonstrukteure so auf der Suche nach der vollkommen vernetzenden universalen Sprache49 – und wissenschaftshistorisch auf einer Höhe mit Jacques Derridas Kritik des Verhältnisses von Sprache und Schrift, der Sprechakttheorie und dem »linguistic turn« der Humanwissenschaften. Derrida hat bezeichnenderweise eine Stelle aus Claude Lévi-Strauss’ Buch Das wilde Denken kommentiert, welche von solchen Schöpfungsfantasien der »Sprache des Ingenieurs«50 handelt: Der Ingenieur, den Lévi-Strauss dem Bastler entgegensetzt, müßte dann aber seinerseits die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik, konstruieren. In diesem Sinne ist der Ingenieur ein Mythos: ein Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre. Ein derartiges Subjekt, welches das Ganze seines Diskurses ›aus einem Stück‹ erzeugte, wäre der Schöpfer des Wortes, das Wort selbst.51
Freilich sind die Sprachwünsche der meisten Netzwerk-Ingenieure – sieht man von notorischen Propheten wie Licklider einmal ab – weitaus bescheidener und tastender, als es eine solche ebenso theologische wie sprachmagische Vorstellung vermuten lässt. Sie zielen auch nicht darauf ab, den Systemteil menschlicher Sprache in ein Universum vernetzter Computer
Techn. Ber. National Physical Laboratory, Großbritannien, 1966, S. 4, Hervorhebung S.G. 48 | Davies: Proposal for a Digital Communication Network, S. 5. 49 | Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentralization, S. 46; vgl. zur Herkunft solcher Fantasmen Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München: Beck 1994. 50 | Wolfgang Pircher: Die Sprache des Ingenieurs, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1 (2005), S. 83-108. 51 | Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 422-442, hier: S. 431; vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 29f.
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zu externalisieren, wie man mit Hartmut Winkler annehmen könnte.52 Es handelt sich bei den entstehenden Netzwerkprotokollen um Protosprachen oder besser: Grammatiken des Netzes, die ganz und gar Praktiken der Schrift und des Schreibens sind. Sie zeichnen sich vor allem durch ihr einfaches Set von Regeln und Anweisungen aus. Gerade dadurch erlauben sie in komplexen Verbünden das internetworking, dem wir im Ensemble mit den Praktiken der User die emergente Superstruktur des Internet verdanken. Als Vorschrift des Vernetzens und angewandte Grammatologie machen sie Dezentrierungen möglich. Derrida beschreibt diese Wirkung in seinem am 21. Oktober 1966 in Baltimore gehaltenen Vortrag über »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen« sehr präzise: »Infolgedessen mußte man wohl eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, daß es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt.«53 Das Zusammenspiel verschiedener Protokolle ist so ein Algorithmus des steten NetzWerdens, der durch Visualisierungen wie z.B. in Paul Pfeiffers eingangs besprochener Videoarbeit Pier and Ocean ästhetische Präsenz gewinnt: »Protocol is as protocol does.«54 Seine privilegierte Erscheinungsform ist aber weniger das für den Schwarm charakteristische Bewegungsbild. Viel eher wird das Protokoll als »distribuiertes Management-System, das die Existenz von Kontrolle in einem heterogenen materiellen Milieu erlaubt« von sichtbaren wie unsichtbaren diagrammatisch-topologischen Formen bestimmt.55
52 | Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 28f. 53 | Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 424. 54 | Auf diese prägnante Formel bringt Eugene Thacker die Operativität der Netzwerkprotokolle in seiner Einleitung zu Alexander Galloways Medienund Machtheorie des Internets. Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentralization, S. XI. Zu den juridischen und bürokratischen Logiken des »doing protocol« vgl. Cornelia Vismann/Markus Krajewski: Computer Juridisms, in: Grey Room 29 (2008), S. 99-109, S. 102f. 55 | Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentralization, S. 8 und S. 30, Übersetzung S.G.
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Gegenwar t III: Schwarm-Intelligenz, Bioinformatik »For each ant do« Codezeile aus einer Beschreibung des Algorithmus Ant Based Control (ABC)56
Netzwerkarbeit ist Ameisenarbeit. Von allen schwärmenden Tieren scheinen die wegekundigen Logistik-Expertinnen am ehesten den bioinformatischen Brückenschlag zwischen Netz und Schwarm zu provozieren.57 So spielen einige Algorithmen-Konzepte in Eric Bonabeaus, Marco Dorigos und Guy Theraulaz’ 1999 erschienenem Buch Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems mit den Möglichkeiten kombinatorischer Wegeoptimierung. Noch überwiegend als »proof of concept« verstanden, erproben sie andere Möglichkeiten zur Modellierung von Netzwerkverkehr als sie die klassische Graphentheorie anbietet. Die Ebene der Beschreibung ist dabei strikt formal. Gerade die explizite Modellübertragung kann nicht außer Acht lassen, dass sich biologisch-metaphorisierte Algorithmen in der konkreten Ingenieurstätigkeit von ihren anfänglichen Metaphern weit entfernen: »understanding nature and designing useful systems are two very different endeavours«.58 Und doch zeichnen sich Kulturtechniken des Modellierens dadurch aus, metaphorische Transfers und Gedankenexperimente handhabbar zu machen. Virtuelle Ameisen telefonieren nicht. Aber man kann mit ihnen telefonische Interkonnektionen experimentell durchspielen, indem man heterarchische Selbstorganisation durch Interaktion mit dem nächsten Nachbarn konstruiert. Ein Beispiel hierfür liefert der für die British Telecom entwickelte Algorithmus Ant Based Control (ABC) aus dem Jahr 1996 (Abbildung 3).59 Mit der Anwesenheit von »Ameisen« stehen Agenten zur Verfügung, die auf veränderte Umgebungsbedingungen in einem Netz reagieren können, indem sie sich am Verhalten der anderen »Ameisen« orientieren. Verbindungsanweisungen können so zeitnah und effizient den sich ändernden Umweltbedingungen angepasst werden. Die imaginären, aber fleißigen nomadischen »Ameisen« übernehmen so protokollarische Funktionen des Dirigierens von Datenflüssen. 56 | Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 86. 57 | Zudem erlauben sie mittlerweile der Actor Network Theory, ihr eigenes Kürzel ANT zeitgemäß am Schwarm zu orientieren. 58 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 17. 59 | Vgl. R. Schonderwoerd et al.: Ant-Based Load Balancing in Telecommunications Networks, in: Adaptive Behavior 5 (1996), S. 169-207.
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Abbildung 3: Ruud Schoonderwoerd et al.: Ant Based Control. Algorithmus, high-level description [1996], in: Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 86. Quasi-Tiere als Quasi-Objekte. Ihre Aufgabe bewegt sich, um mit Eugene Thacker zu sprechen, auf der Encoding-Ebene biomedialer Protokolle. BioEngineering partizipiert dabei an einer Bewegung, die kennzeichnend für die Life Sciences ist: [T]he ›bio‹ is transformatively mediated by the ›tech‹ so that the ›bio‹ reemerges more fully biological. […] The biological and the digital domains are no longer rendered ontologically distinct, but instead are seen to inhere in each other; the biological ›informs‹ the digital, just as the digital ›corporealizes‹ the biological.60
Mit dem Leben kann man rechnen – diese operationale Devise überdeckt in unserer Computerkultur auf pragmatische Art und Weise ältere Frontstellungen zwischen mechanistischen und vitalistischen Modellen. Die Bioinformatik wählt Schwarm-Modelle, wenn sie räumliche Verteilungen und schnelle zeitliche Veränderungen zugleich modellieren will: »One desirable feature of the swarm-based approach is that it may allow for enhanced efficiency when the representation of the problem under investiga-
60 | Thacker: Biomedia, S. 6f.
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tion is spatially distributed and changing over time.«61 Zwar entfalten sich auch soziotechnische Netzwerke zeitlich; sie zeichnen sich aber durch eine hohe Asynchronität aus. Technisch ist dies ein Problem, dem man immer wieder durch Synchronisierungsaufwand entgegenarbeiten muss. Terroristisch ist dies von Vorteil, da sozial-militantes Handeln so raumzeitlich unberechenbar wird (während der vernetzte Soldat auch bei hoher Autonomie fortwährend per Kommando gesteuert werden muss).62 Das Versprechen des Schwarms als techno-epistemischer wie politisch-ökonomischer Wunschmaschine lautet: ich agiere aus mir selbst heraus auch unter den widrigsten Bedingungen synchron. Er verspricht Kollektivität aus bloßer Konnektivität heraus und wird so – vorerst – zu einer bio-logischen Epochensignatur der Netzwerkgesellschaft im Zeichen der Life Sciences. Ich habe versucht zu zeigen, dass sich die Familienähnlichkeit der modernen technischen Netzwerk- und Schwarm-Logiken entlang der selben wissenshistorischen Agenten entwickelt hat: der Informatisierung sowohl der Biologie als auch der »sprechenden« Computer, dem Aufstieg topologischen Denkens, dem Universalitätsanspruch der Systemtheorie und Computern als rechnenden Medien von Modellierung und Simulation schlechthin. Einfache Grammatiken und Regelsets – seien es Netzwerkprotokolle oder die Formalisierung von Bewegungsinformationen – bilden die kulturtechnische Bedingung faktisch-fi ktiver Selbstorganisation. Im Falle der Netzwerke führt dies zur bevorzugten Repräsentation als Diagramm, während die mediale Erscheinungsform des Schwarms ihre Faszinationskraft durch Bewegungsbilder gewinnt. Vom Schwarm zu schwärmen heißt vor diesem Hintergrund nichts anderes, als die Logiken eines zeitgenössischen Swarm Transport Protocol (SwTP) zu erkunden: Manchmal können virtuelle Ameisen eben doch telefonieren.
61 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 80. Hervorhebung S.G. 62 | Vgl. zum »network centric warfare« als Beispiel vernetzter Steuerung Stefan Kaufmann: Soldatische Subjekte. Disziplinierung in militärischen Netzwerken, in: ders.: Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich: Chronos 2007, S. 145-158.
Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaf t. Eine Ameisenfabel Niels Werber
Ein politisches Tier »Aristoteles rechnet zu den Geschöpfen, welche er politisch nennt, nicht bloß die Menschen, sondern noch viele andere, wie die Ameisen, die Bienen usw.«, erinnert Thomas Hobbes in seinen Grundzügen der Philosophie an die Lehre einer klassischen Autorität.1 Diskutiert wird ein noch heute »berühmter«2 Topos.3 Seit der Antike gilt der Mensch als politisches Tier, als zoon politikon. Mit diesem von Aristoteles geprägten Begriff ist einerseits viel gesagt, denn er unterscheidet den Menschen von all jenen Tieren, die nicht zu den politischen zählen; zugleich aber beschämend wenig, denn was das Politische ausmacht, ist alles andere als eindeutig. Aristoteles selbst hat 158 ganz unterschiedliche Verfassungen menschlicher 1 | Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger (1642-58), Leipzig: Meiner 1918, S. 131. 2 | So etwa Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 12. 3 | Und zwar in der Absicht, ihn zu zerstören. Hobbes’ kontraktionistisches Modell der Staatenbildung macht dem Gemeinplatz des zoon politikon ein Ende. Diese Kritik Hobbes’ tut hier im Moment nichts zur Sache, mir kommt es auf die lange Tradition der Analogisierung von menschlichen und tierischen Organisationsformen an.
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Gemeinwesen sammeln lassen, griechischer wie barbarischer, und man sieht: Sparta ist nicht Sizilien, und Persien nicht Athen. Woanders ist es anders, auch in politicis. Das Medium des Politischen scheint unterschiedlichste Formen zuzulassen, und jede Form der sozialen Organisation, so könnte man folgern, wäre demzufolge kontingent. Diese Folgerung säße allerdings einem modernistischen Missverständnis auf. Denn aus der Sicht des Aristoteles gibt es nur eine gute Verfassung – und viele schlechte. Oder, mit anderen Worten, es gibt eine naturgemäße Weise der Gesellschaftsbildung und viele Depravationen, ähnlich, wie es eine Gesundheit und viele Krankheiten gibt. Um die Frage zu beantworten, was denn die naturgemäße Form des Politischen sei, hat man sich nur daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein Tier, »ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist.«4 Als zoon politikon gehört er zum Reich der Natur, dessen Ordnung ewig währt bzw. dessen Gesetze sich in Äonen nicht verändert haben.5 Wenn es seiner Natur gerecht wird, gelangt das politische Tier zur guten Verfassung. Gibt nicht »die Natur« allen politischen Tieren, den Ameisen, Wespen, Bienen oder Kranichen, aber auch den Menschen das Muster einer Ordnung vor? Der Mensch unterscheidet sich freilich von den Tieren durch seine Sprache.6 Dennoch zählen beide Gattungen, Mensch und Insekt, zu den »staatenbildenden Lebewesen«, wenn auch in unterschiedlichem Grade. Und sie sind »von Natur aus« politisch: »Alle Menschen haben also von Natur aus den Drang zu einer solchen Gemeinschaft«, der Polis nämlich.7 Dieselbe Natur drängt auch andere Tiere zur Staatenbildung. Das Ergebnis kann »schlecht« ausfallen, nämlich dann, wenn die Relationen der Mitglieder und Einrichtungen »naturwidrig« verfasst sind; oder »bestens«, wenn die Verhältnisse »naturgemäß« organisiert sind.8 Diese in der Aristotelischen Formel enthaltende Grundlegung des Politischen in der Natur setzt offensichtlich voraus, dass man bereits weiß, was eine gute oder schlechte Organisation eines Gemeinwesens sei, bevor man die Sammlung von Verfassungen durchmustert, um die einen als naturwidrig und die anderen als naturgemäß zu bezeichnen. Gewiss: »Aristote4 | So mit Bezug auf Aristoteles und die »Jahrtausende« der Wirkung des Topos Michel Foucault: Der Wille zum Wissen [1977], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 171. 5 | Vgl. Wolfgang Kullmann: Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 233. 6 | Vgl. Aristoteles: Politik, hg. von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1973, S. 49. 7 | Ebd., S. 49f. 8 | Ebd., S. 53.
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les argumentiert zirkulär. Er weist das, was er für gut hält, als naturgegeben aus, um dann im Anschluß das Gute aus dem Naturgegebenen wieder hervorzuzaubern«.9 Mir kommt es hier allerdings nicht auf eine Kritik der »politischen Zoologie« des Aristoteles an,10 sondern auf die Bedingungen, denen der Topos seine tausendjährige, ungebrochene Karriere verdankt. »Derart ist die menschliche Gesellschaft«, schreibt Henri Bergson, »wie sie aus den Händen der Natur hervorgeht. Der einzelne Mensch ist nur für sie da, wie die Ameise für den Ameisenhaufen«.11 Die Rekonstruktion des »ursprünglichen« Zustands der menschlichen Vergesellschaftung stützt sich auch im 20. Jahrhundert auf die Beobachtung der Ameisengesellschaft. Bergson ist weit entfernt davon, diesen Naturzustand als Optimum zu empfehlen, zitiert aber wie so viele andere vor und nach ihm den Gemeinplatz vom staatenbildenden Wesen der Ameisen und verweist auf ihr natürliches Gemeinwesen, um qua Analogie den Naturzustand der menschlichen Gesellschaft zu erschließen. Die Vergleichbarkeit von Ameisen und Menschen, deren Möglichkeit Aristoteles mit seinen Ausführungen über die staatenbildenden Lebewesen begründet hat, führt aber auch bei Bergson zu Annahmen über eine »natürliche« Relationierung von Ganzen und Teilen, Individuen und Kollektiv in der sozialen Organisation – mit der Konsequenz, dass diese unterstellte »Natürlichkeit« einer bestimmten Form des Politischen eben diese »natürliche« Form gegenüber allen »unnatürlichen« Abweichungen aufwertet. Aus der Vielfalt möglicher Verfassungen wird, wie in der Antike, nicht auf die Kontingenz politischer Organisation geschlossen. Vielmehr wird diese Kontingenz dadurch invisibilisiert, dass die möglichen Ausprägungen des politischen Mediums anhand der Differenz naturgemäß/widernatürlich sortiert werden. Wie eine solche naturgemäße Ordnung aussieht, lässt sich an der »weise« eingerichteten Ameisengesellschaft beobachten.12 Ihre Ordnung versorgt den Entwurf eines analog konzipierten menschlichen Gemeinwesens mit der schwer zu überbietenden Autorität der Natur.13 Diese Autorität macht die 9 | Dirk Jörke: Politische Anthropologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 21. 10 | Vgl. Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 8. 11 | Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion [1932], Leipzig: Diederichs 1933, S. 265. 12 | Altes Testament, Sprüche Salomos, 6,6. 13 | Vgl. Abigail J. Lustig: Ants and the Nature of Nature in Auguste Forel, Erich Wasmann, and William Morton Wheeler, in: Lorraine Daston/Fernando Vidal (Hg.): The Moral Authority of Nature, Chicago, London: University of Chicago Press 2004, S. 282-307.
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sozialen Insekten auch in der allerneusten Semantik der Schwarmforschung unverzichtbar.
Fabeln und Schwärme A colony of ants […]. This is the swarm model. […] We know these paralleloperating wholes by different names. We know a swarm of bees, or a cloud of modems, or a network of brain neurons, or a food web of animals, or a collective of agents.14
Kevin Kelly entfaltet das Schwarm-Paradigma anhand einer ganzen Reihe von Analogisierungen: Bienen und Schwärme, Ameisen und »paralleles Operieren«, Modems und Wolken, Netzwerke und Neuronen, Kollektive und Agenten. Zugleich illustriert ein Bild das andere: Einen Schwarm habe man sich wie eine Wolke (ein Netzwerk, eine Multitude, ein Rhizom, eine Ameisenkolonie …) vorzustellen. Hier ist offensichtlich ein poetisches oder rhetorisches Verfahren am Werk, das die einzelnen Sachgebiete zu einer Isotopie verschaltet, die dann die Aussagen des Typs »so wie« plausibilisiert: Das Ameisenest sei wie ein Rhizom, wie ein Bienenschwarm, wie eine Routerwolke, wie eine Multitude. Die Poetologie, die hier zum Einsatz kommt, ist die der Fabel, in der Ameisen und Bienen seit eh und je ihre Rolle spielen. In der Organisation des Ameisennestes habe man, so formuliert Kelly, einen konkreten Fall von Swarm Intelligence vor Augen. So hat Lessing einst die Fabel definiert, als anschauliche Darstellung einer allgemeinen Wahrheit an einem konkreten Fall.15 Der Zusammenhang zwischen konkreter Geschichte und der in ihr verbildlichten Lehre sei der einer Analogie: »Ein Analogieverhältnis besteht sowohl zwischen der Gesamtheit der erzählten Geschichte und der Gesamtheit der zugehörigen Lehre wie auch zwischen bestimmten Elementen der erzählten Geschichte einerseits und bestimmten Elementen der Lehre anderseits.«16 Diese Überzeugung der neuesten Fabeltheorie teilen so unterschiedliche Poetologen des 18. Jahr14 | Kevin Kelly: Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization, Reading/MA, Wokingham: Addison-Wesley 1994, Chapter 2: The Hive Mind. Advantages and disadvantages of the swarms. 15 | Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen (über die Fabel) [1759], in: ders.: Werke in 8 Bänden, hg. v. Herbert G. Göpfert, München: Winkler 1970, Bd. 5, S. 355-419, S. 385, S. 390 und Kontext. 16 | Hans Georg Coenen: Die Gattung Fabel. Infrastrukturen einer Kommunikationsform, Göttingen, München: Vanderhoeck und Ruprecht 2000, S. 108.
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hunderts wie Wolff, Gottsched, Bodmer, Breitinger und Lessing. Einigkeit herrscht darüber, dass die Fabel auf einem »analogischen« Prinzip beruht. Kelly nutzt diese Eigenschaft der Gattung, wenn er sich unter Vernachlässigung der Differenzen in Natur und Gesellschaft, Körper und Computer, Transport und Kommunikation nach dem »swarm model« umschaut und überall fündig wird. Ohne sich auf die Komplexität und disziplinäre Spezialität dieser unterschiedlichen Forschungsfelder einzulassen, stiften Analogie und Bildspender einen Zusammenhang. Es schwärmt, ob dies nun Ameisen oder Soldaten, Bienen oder Roboter tun. Der meist nur herbeizitierte, aber ubiquitäre Verweis auf die Naturwissenschaftlichkeit des Modells gestattet darüber hinaus die Behauptung seiner Universalität. Was Ameisen tun, tun Ameisen seit Äonen, und dies »evolutionär« erfolgreich.17 Die positive Selektion hat das Naturgemäße als Grund der Autorität abgelöst. Von den »Bienen, Ameisen und Wölfen« bzw. den Kyber-, AI-, Neuro- oder Biowissenschaften, die ihr Verhalten modellieren, sei zu erlernen, wie ein Kollektiv vorbildlich zu organisieren sei. »Die Ameisen haben uns gezeigt, […] wie Macht im Schwarm entfaltet werden kann.« 18 Das Schwärmen lässt sich überall auf der Welt, in der Natur wie in der Gesellschaft, beobachten und überall auf der Welt implementieren. Der Siegeszug der Schwarmsemantik kann auf die fabelhafte Evidenz der topoi setzen, die sie einsetzt. Ihre Genese und einige ihrer Funktionen möchte ich hier kurz skizzieren.
Derridas Ameisen Nicht-politische Tiere sind nach Aristoteles all jene Lebewesen, die entweder nicht fähig sind, in Gemeinschaft zu leben, oder die der Gemeinschaft nicht bedürfen. Götter brauchen keine polis.19 Ameisen und Menschen sind als Einzelorganismen nicht lebensfähig, sie sind auf soziale Organisation angewiesen. Mit dieser Differenz: der Ameise im Singular und den Ameisen im Plural hat sich Jacques Derrida in einem Essay beschäftigt, der deshalb besonders interessant ist, weil er explizit auf Ameisenfabeln rekurriert. 17 | Vgl. John Arquilla/David Ronfeldt: Swarming & the Future of Conflict, hg. v. RAND Corporation, Santa Monica/CA: RAND 2000, S. 25f. »Swarming appears in the animal kingdom, long before it does in human affairs …,« so beginnt das Narrativ. 18 | Kevin Kelly: Net Economy. Zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft [1998], München, Düsseldorf: Econ 2001, S. 38. 19 | Und »wilde Tiere« auch nicht. Vgl. Aristoteles: Politik, S. 50.
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In der Fabel lernen wir die Ameise im Singular kennen. Von der antiken Fabel bis zu Lafontaine und Lessing ist von einer Ameise die Rede. Als Vorbild wird sie Individuen zur Imitation empfohlen, oder umgekehrt, ihre Eigenschaften werden als Sünde – avaritia – deklariert, vor denen man sich hüten soll. Dieser Tradition will Derrida nicht folgen: »I am not in the process of writing a new fable about la cigale et le fourmi«.20 Derrida betont demgegenüber, dass die Ameisen nur im Plural auftreten – »as if there were never one insect but a collective of insects, an anthill of insects«.21 Nur von Ameisen im Plural vermag man zu sagen, argumentiert Derrida etymologisch, dass sie wimmeln (fourmi – fourmiller): Fourmi, this is not only the figure of the very small, the scale of the miniscule (small as an ant) and the microscopic figure of innumerable multiciply, of the incalculable of what teems and swarms whithout counting, without letting itself be counted, without letting itself be taken in. […] The ant, the swarming of the ant is also the thing that is insect. […] It teems and swarms.22
Die Ameise tritt in Kollektiven auf. Und dies seit langem: Sie »wimmeln« bereits auf den Illustrationen der Physiologus- oder Psalter-Handschriften des Mittelalters.23 Ihr Organisationsmodus ist der Schwarm. Mit dem Ameisenschwarm, so meint Derrida, lässt sich nicht rechnen, man kann ihn nicht zählen. Aus der Sicht eines gouvernementalen Diskurses wäre dies der Gipfel der Zumutung.24 Die Ameisengesellschaft ist nicht nur – anders als das Bienenkönigreich – ein Kollektiv ohne Drohnen und ohne König, sie entzieht sich auch noch den grundlegenden Techniken administrativer Kontrolle. Wir sind beim Thema: Schwärme, soziale Insekten und Beschreibungen der Gesellschaft. Zu einer Selbstbeschreibungsformel kann dieses Bild der »schwärmenden Ameise« deshalb werden, weil der Gebrauch der Ameise als Bildspender, der Fabel sei dank, für Menschliches, Allzumenschliches kulturell etabliert ist. Auch Derrida verfällt dem 20 | Jacques Derrida: ›Fourmis‹. Lectures de la différence sexuelle, in: Helene Cixous/Mireille Calle-Gruber (Hg.): Footprints. Memory and Life Writing, London, New York: Routledge 1997, S. 119-127, hier: S. 119. 21 | Ebd., S. 121. 22 | Ebd., S. 120f. 23 | Vgl. den Artikel »Ameise«, in: Engelbert Kirschbaum (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br.: Herder 1968-1976, Bd. 1, Spalte 111. 24 | Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, übers. von Jürgen Schröder, Claudia Brede-Konersmann, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
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Charme der fabelhaften Insekten der griechischen, römischen, jüdischen, syrischen und persischen Ameisenfabeln und zieht Analogien vom Insekt zur menschlichen Gesellschaft. Etwa: »Families are also anthills.« Auch Derrida erinnert daran, dass der Mensch ein Tier ist (zoon) und zwischen dem Biologischen, Zoologischen und Anthropologischen engste Beziehungen und Überschneidungen bestehen.25 Die Preisfrage der politischen Anthropologie ist dann: dem Menschen und welchem Tier? Schaf oder Wolf, Biene oder Ameise …? Die Antwort steht inzwischen fest: Die Ameise gilt als »the paragon of social animals«.26 Und obgleich die Myrmekologen genau wie Derrida immer wieder behaupten, alles zu tun, um den »Aesopian error« der Analogiebildung und Anthropomorphisierung zu vermeiden,27 erzählen sie doch allzu gerne Ameisenfabeln. In entomologischen Studien werden nicht nur mit Vorliebe das Alte Testament und die Äsopischen Fabeln zitiert,28 vielmehr operieren gerade die Myrmekologen selbst »fabelhaft«, indem sie von den Straßen und Städten, Kriegen und Bauten, dem Altruismus und dem Mut, dem Fleiß und der Intelligenz, der Sprache und dem Staat, vom Jagen und Sammeln, vom Ackerbau und der Viehzucht der Ameisenvölker erzählen.29 »Since we ourselves are social animals«, zitiert der bedeutendste Myrmekologe des frühen 20. Jahrhunderts und Vorgänger des ebenso berühmten E. O. Wilson in Harvard den Aristotelischen Topos, »and I had almost said social insects – the philosophically inclined cannot fail to find food for thought in the strange analogies to human society.«30 Aus der Beobachtung von Ameisen qua Analogie auf die Welt der Menschen zu schließen fällt allzu leicht – »thanks to the writer of the Proverbs and Aesop.«31 Bei aller Kontinuität markiert der Wechsel vom Singular zum Plural, von der fleißigen oder geizigen, weisen oder habgierigen Ameise der An25 | Vgl. Jacques Derrida: The Animal That Therefore I Am (More to Follow), in: Critical Inquiry 28/2 (Winter, 2002), S. 369-418, hier: S. 393. 26 | William Morton Wheeler: Ants. Their structure, development and behavior, New York: Columbia University Press 1910, S. 503. 27 | So etwa Wilson 1998 in einer Rede. Vgl. Charlotte Sleigh: Six Legs Better. A Cultural History of Myrmecology, Baltimore: John Hopkins University Press 2007, S. 225. 28 | Barbara J. Abraham: Review: The Value of Insects in Nature, in: Ecology 84/12 (2003), S. 3408-3409, hier: S. 3408. 29 | Vgl. Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: Journey to the Ants. A Story of Scientific Exploration, Cambridge/MA, London: The Belknap Press 1994. 30 | William Morton Wheeler: Social Insects, New York, London: Constable & Comp. 1928, S. 1f. Hervorhebung N.W. 31 | Sleigh: Six Legs Better, S. 9.
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tike zu den Ameisenhaufen, Schwärmen, Nestern und Vielheiten der Moderne einen entscheidenden Einschnitt: Der Ameisenschwarm lässt sich nicht als Tugendlehre für Individuen nutzen wie die – um ein typisches Beispiel zu nennen – von Heinrich Steinhöwel kommentierte und von Sebastian Brant illustrierte äsopische Fabel De formica et circada (Abbildung 1).32 Der Schwarm entwirft eine Sozialform. Erst wenn die Ameise als soziales Insekt auftritt, kann ihr Verhalten im Kollektiv qua Analogie auf unsere Gesellschaft bezogen werden und als Modell für ihre Beschreibung dienen. In Steinhöwels Fabel ist die Ameise wie alle Fabeltiere seit Äsop sprachbegabt. Sie spricht noch in den neusten medialen Umschriften der antiken Fabel im Film, A Bug’s Life oder Ant Bully. Im Verlauf der Etablie-
Abbildung 1: De formica et cicada, in: Heinrich Steinhöwel: Esopi appologi sive mythologi cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastiani Brant, Basel: Jacob Wolff von Pforzheim 1501, S. [138]. 32 | Heinrich Steinhöwel: Aesopus: Vita et Fabulae/Ulmer Äsop, 1476/77, Illustration von Sebastian Brant, Ulm: Johann Zainer 1501.
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rung der Ameisengesellschaft als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft, verliert aber die aristotelische Distinktion immer mehr an Gewicht: Sprachfähigkeit ist kein Kriterium mehr, um Sozialität zu unterscheiden. Was zählt, ist die Fähigkeit zur Selbst-Organisation und zur kollektiven Intelligenz oder Schwarm-Intelligenz. Dieser Ebenenwechsel vom Einzelindividuum zur Gesellschaft lässt ein Problem der älteren Myrmekologie zurück, das Pierre Huber in seinem epochalen Werk Sur les moeurs des fourmis von 1810 in die Frage gefasst hat, wie die Ameise eigentlich »entscheide«.33 Nutzt sie ihre eigene »Intelligenz«? Oder handelt sie wie ein »Automat«, der tut, wozu er bestimmt ist?34 Besonders beim Beginn einer neuen Tätigkeit meine man, so Huber, bei der Ameise das Auftauchen eines Gedanken zu sehen, der sich dann in ihrem Handeln realisiere.35 Die zu beobachtende Einheit des Ameisenforschers ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts dagegen die Gesellschaft.36 Wheeler stellt die Konsequenzen für den Soziobiologen 1928 sehr klar heraus: Weil die Ameisengesellschaft als Superorganismus als lebendes und organisiertes Ganzes betrachtet werden muss, beobachtet der Ethologe nicht die Individuen, aus denen die Kolonie besteht, sondern ihre »Kommunikation untereinander«.37 Die alte Streitfrage, ob Ameisen »automatisch« handeln oder ihr Verhalten individuelle »Intelligenz« erfordere, wird von Wheeler in eine mit dem Label »scholastische« Metaphysik versehene black box verschlossen, die in seiner Theorie des »sozialen Mediums« der Ameisen auch nicht mehr ausgepackt wird.38 Die Tatsache, dass einzelne, selbst gut verproviantierte Individuen sterben, wenn sie von der Gesellschaft isoliert werden, bestärken Wheeler in der Annahme, dass die Kommunikationsmedien die entscheidende
33 | Pierre Huber: Recherches sur les Moeurs des Fourmis indigènes, Paris, Genève: Paschoud 1810, S. 139. 34 | Ebd., S. 51. 35 | Ebd., S. 41: »C’est surtout lorsque les fourmis commencent quelque entreprise, que l’on croiroit voir une idee naître dans leur esprit, et se réaliser par l’exécution.« 36 | Vgl. Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Ants, Berlin, Heidelberg u.a.: Springer 1990, S. 358. Diese Sicht wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unpopulär, wird dann aber zusehends rehabilitert. Vgl. David Sloan Wilson/Elliot Sober: Reviving the Superorganism, in: Journal of theoretical Biology 136 (1989), S. 337-356, hier: S. 346. 37 | Wheeler: Social Insects, S. 230f. Communication ist hier keineswegs ein Synonym zum Begriff Sprache. Wheeler benutzt den Begriff etwa so wie Harold Adams Innis in Empire & Communications. 38 | Ebd., S. 225.
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Untersuchungsgröße darstellen39 – und zwar für Ameisengesellschaften genauso wie für unsere »zivilisierten Gesellschaften«, deren Verhalten sich vorhersagen lasse, so Wheeler, indem man die »öffentliche Meinung« beobachte – und nicht etwa, indem man Individuen studiere. 40 Die Ameisengesellschaft reproduziert sich in sozialen Medien wie der Trophallaxis, das von Wheeler in Analogie zum symbolisch generalisierten Medium Geld konzipiert wird. Wheelers Kommunikationstheorie reagiert auf ein Problem, das die Ameisen im Plural aufgeben: Wie können sie ihr Kollektiv so komplex und überdies dezentral wie ›isokratisch‹ organisieren, ohne miteinander zu sprechen?
Abbildung 2: Universus Status, Isokratia, in: Johannes Sambucus: Emblemata, et al.iquot nummi antiqui operis, 2. Aufl., Antwerpen: Plantin 1566, S. 21. 39 | Ebd., S. 311. Vor allem Trophallaxis, aber auch chemischer Signalaus-
tausch. 40 | Ebd., S. 313.
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Bereits in den Emblemata des Johannes Sambucus von 1564 ist von den Ameisen im Plural die Rede (Abbildung 2). Die Ameisen sind alle gleich und agieren gemeinsam, und das, obwohl sie keine Instanz haben, die ihnen befiehlt oder Gesetze gibt. Sie bilden eine Gemeinschaft ohne hierarchische oder zentralistische Organisation. »Omnibus aequale est, sine legibus imperiumque.«41 Als soziale Insekten sind die Ameisen von größtem Interesse, zumal sie mit den Menschen gemeinsame Wurzeln haben, wie man von den Dichtern – und nicht von den Philosophen – weiß: »Formicas hominines factas dixere poetae […].« »Was heute eine Ameise ist, war ursprünglich ein Mensch«, heißt es bei Äsop. 42 Nicht ihr Fleiß, ihre Vorsorge oder auch ihr Geiz und ihr Zynismus, sondern die soziale Organisation der Ameisen steht hier auf dem Spiel. Und die von dieser Fabel aufgeworfene Frage zielt bei Johannes Sambucus nicht auf irgendwelche guten oder schlechten, tugendhaften oder sündigen Eigenschaften oder Taten, sondern auf die Möglichkeit einer ›isokratischen‹ sozialen Ordnung als Alternative zu den hierarchischen und zentralistischen Bienenkönigreichen. Das Ameisenvolk der Antike hat »keinen Herrscher, keinen Aufseher oder Vorgesetzen«. 43 Vernunftlos, wie Hobbes meint, ohne miteinander sprechen zu können, wie Aristoteles betont, agieren sie kollektiv und zielführend, »indem sie in allem übereinstimmen, d.h. dasselbe tun oder unterlassen, ihre Handlungen so auf ein gemeinsames Ziel richten, dass ihre Vereinigung keinem Aufruhr ausgesetzt ist.«44
Ameisengesellschaf ten: Von der Fabel zur Selbstbeschreibungsformel Beschreibungen der Gesellschaft können nur innerhalb der Gesellschaft angefertigt werden, daher handelt es sich bei ihnen um Selbstbeschreibungen. Außensichten auf die Gesellschaft sind damit ausgeschlossen. Mit Niklas Luhmann gehe ich davon aus, dass jede Beschreibung der Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft verfertigt wird und daher die »Komplexität des Gesamtsystems nur durch gezielte Reduktionen im System wieder zugäng41 | Johannes Sambucus: Emblemata, Antwerpen: Plantin 1564, S. 24. 42 | Zitiert nach Harry C. Schnur/Erich Keller (Hg.): Fabeln der Antike, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 121. 43 | Für diese Ansicht aus dem antiken Nahen Osten (hebräisch, arabisch, AT) vgl. Peter Riede: Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, Freiburg/CH, Göttingen: Universitäts-Verlag, Vanderhoeck und Ruprecht 2002, S. 7. Dank an Christian Frevel, Bochum. 44 | Hobbes: Grundzüge der Philosophie, S. 131.
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lich machen« kann. 45 Man greift daher, folgert Luhmann, auf »spektakuläre Merkmale« zurück, mit denen man das Charakteristische exemplarisch einzufangen sucht. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass Luhmann bei seiner Analyse »spektakulärer« Selbstbeschreibungsformeln in keiner Weise an Bilder denkt. Eine Beobachtung der visuellen Semantik findet nicht statt. Der Begriff wird nicht entwickelt. Die »Evidenz« 46 von Selbstbeschreibungsformeln, die Luhmann beobachtet und beschreibt, verdankt sich allein der »Form des […] schriftlich fi xierten Ideenguts«, 47 nicht überzeugenden visuellen Formen. Diese verengte Perspektive auf die »gepflegte Semantik« in Textform bekommt die von Derrida beschworene Kraft der Bilder, welche die Ameise evoziert, erst gar nicht in den Blick. Der Reiz, mit diesen »images«, 48 wie Derrida schreibt, unsere Gesellschaft zu beschreiben oder alternative Möglichkeiten ihrer Organisation zu erkunden, liegt aber gerade auch in der Evidenz der Ameisen als »sozialen« Bildspendern. Es kommt also darauf an, welches Bild der Ameise entworfen und inszeniert wird. Zieht sie in geordneten Reihen den Triumphwagen der Arbeit, wie man es auf zahlreichen Allegorien des 17. Jahrhunderts beobachten kann (Abbildung 3), oder wimmelt sie unregiert und unregierbar im Fundament des Staatswesens (Abbildung 4)?49 Die Ameisen im Plural fungieren als Modell der Gesellschaft, freilich entkommt auch diese Modellbildung nicht dem Gravitationsfeld der Fabel und ihren anthropomorphisierenden Analogien. Im Gegensatz zu vielen anderen »politischen Tieren« der äsopischen Tradition – man denke nur an den Löwen, an Wolf, Lamm oder Fuchs, deren fabelhafte Eigenschaften noch die Tierwelt bei Machiavelli oder Hobbes prägen50 – taugen die Amei45 | Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1997, S. 1088. 46 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 149. 47 | Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, Bd. 1, S. 9-71, hier: S. 47. 48 | Derrida: ›Fourmis‹, S. 119. 49 | Vgl. in den laut Subscriptio führungslosen und doch entschlossen agierenden Ameisenhaufen unter einem Felsen, auf dem der königliche Löwe Platz genommen hat, auf dem hier abgebildeten, illustrierten Flugblatt (Abb. 4). 50 | Anthony Ashley Cooper, Lord Shaftesbury, hat gegen Hobbes Diktum, homo homini lupus, eingewendet, der Wolf sei zu seinesgleichen ein guter und zärtlicher Freund (»kind and loving«). Hobbes Wolf stammt aber nicht aus der Natur, sondern aus der Fabel. Vgl. W. C. Allee: Co-Operation Among Animals, in: The American Journal of Sociology 37/3 (1931), S. 386-398, hier: S. 386.
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Abbildung 3: Guillaume de La Perrière: Le théâtre des bons engins, auquel sont contenus cent emblèmes, Paris: D. Janot 1539, Abb. 101.
Abbildung 4: Anonymus: Prognosticon, das ist Prophezeyung welche vor 462 Jahren nemlich im Jahr Christi 1158 zur Zeit des Großmütigen Keysers Friderici Barbarossae prognosticiert und prohezeyet worden und sich auff gegenwertige und folgende Zeit erstrecket, Flugblatt, o.O. 1620, Nationalmuseum Nürnberg.
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sen und Bienen jedoch für die Verfertigung von Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft, die nicht auf einer Charakterlehre von Herrschern, ihren Beratern, ihren Truppen und ihren Untertanen basiert, sondern auf der Organisation grundsätzlich in allen Dingen »gleicher« Individuen einer Spezies, »omnibus aequales«.51 Diese Qualität wird sie für soziologisierende Myrmekologen und entomologisch interessierte Soziologen des 20. Jahrhunderts so interessant machen. Dass die Ameisen keine monarchische oder ständische Gemeinschaft bilden, muss den Rezipienten der Emblemata als selbstverständlich erscheinen, so oft wird immer wieder erzählt, dass sie trotz ihres Gewimmels und ihrer Führungslosigkeit doch genau wissen, was sie tun: »Alle Onmeissen wispeln durcheinand un weiß doch jetliche was sy thun sol,« wiederholt ein Autor des frühen 16. Jahrhunderts das, was er bei Aristoteles, Plinius, Isidorus und Albertus Magnus gelesen hat.52 Die von Plinius beschriebenen Ameisen kommunizieren nicht nur miteinander (»hae communicantes …«) auf dem Forum und halten untereinander Markt, sie bilden eine Republik und berücksichtigen bei ihren Aktionen die Vergangenheit und Zukunft, sind also als sozialer Organismus lernfähig (»et his rei publicae ratio, memoria, cura«).53 Diese Eigenschaften zu erklären, bestimmt die Forschungsagenda der Myrmekologie bis heute.54 Die ›isokratische‹ Ameisengesellschaft wird deshalb zur Alternative, weil sie die moralische Autorität einer »natürlichen« oder »göttlichen« Ordnung besitzt, die nicht von den Depravationen der menschlichen Zivilisation entstellt ist.55 Es sind Literaten, zu deren Gemeinsamkeiten es gehört, äsopische Fabeln übersetzt oder verfasst zu haben, die im 18. Jahrhundert die Ameise als »republikanisches« Tier in Stellung gegen die monarchische Biene bringen. Alexander Pope unterscheidet 1734 »Der Ameis 51 | Die Kastenstruktur der Ameisenvölker ist noch unbekannt, die Tatsache, dass Ameisen Sklaven der gleichen Spezies halten, ebenfalls. Erst Pierre Huber bringt hier eine Wende im seit der Antike recht stabilen Ameisenbild. Vgl. Huber: Recherches sur les Moeurs des Fourmis indigènes. 52 | Johannes Geiler von Kaysersberg: Die Emeis oder Quadragesimale, Straßburg: Johann Grieninger 1516, S. VIII und S. VI. 53 | Gaius Plinius Secundus: Naturalis historiae libri XXXVII. post L. Iani obitum recognovit et scripturae discrepantia adiecta edidit Carolus Mayhoff, Lipsiae: Treubner 1892-1909, Liber XI, vs. 108. Zitiert nach der Ausgabe der Bibliotheca Augustana, URL: www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost01/ PliniusMaior/plm_hi11.html. 54 | Vgl. Sleigh: Six Legs Better. 55 | Zur Autorität der Natur vgl. Jean-Marc Drouin: Ants and Bees. Between the French and the Darwinian Revolution, in: Ludus Vitalis, 13/24 (2005), S. 3-14.
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freyen Staat« von der »Monarchie der Bienen«56 und betont ausdrücklich, dass die »Anarchie« der Ameisen von »Verwirrung frey« sei, ein jeder nehme die Gesetze der Republik wahr und erhalte sie zugleich. Voltaire setzt 1764 ebenfalls das Vorbild der demokratischen Ameise der von einer Königin regierten Bienenmonarchie entgegen: »Les fourmis passent pour une excellente démocratie; elle est au-dessus de tous les autres États, puisque tout le monde y est égal et que chaque particulier y travaille pour le bonheur de tous.«57 Und wenig später greift auch Lessing diese Unterscheidung auf und lässt seine Freimaurer von der »wunderbaren« Sozialordnung der Ameisen schwärmen: ERNST. Das Leben und Weben auf und in und um diesen Ameisenhaufen. Welche Geschäftigkeit, und doch welche Ordnung! Alles trägt und schleppt und schiebt; und keines ist dem andern hinderlich. Sieh nur! Sie helfen einander sogar. FALK. Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen. ERNST. Und in einer noch wunderbarern Gesellschaft als die Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammen hält und regieret. FALK. Ordnung muß also doch auch ohne Regierung bestehen können. ERNST. Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß: warum nicht? FALK. Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommen wird? ERNST. Wohl schwerlich! FALK. Schade! ERNST. Ja wohl!58
Bei Lessing ist exemplarisch zu beobachten, dass die soziale Ordnung der Ameisen noch als Summe individuellen Verhaltens gedeutet wird, nicht als Emergenz. Lessings Gesellschaft ist nichts als die Gesamtheit seiner Mitglieder, und wenn »jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß«, dann wird eine Gesellschaft denkbar, die auf Hierarchien und Zentralisierung verzichten könnte. Ein Jahrhundert später, unter anderen soziologischen und entomologischen Prämissen, hat sich die Auffassung der Ameisengesellschaft derart verändert, dass Bildspender (Ameisennest) und Bild56 | Alexandre Pope: Essay sur l’Homme – en cinque langues [1734], Strasbourg: Amand König 1772, S. 323. 57 | François Marie Arouet Voltaire: Dictionnaire Philosophique portatif [Genf 1764], London: Flammarion 1767, Bd. 2 (G-V), S. 342. 58 | Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk [entstanden 1776-1778], in: ders.: Werke in 8 Bänden, hg. v. Herbert G. Göpfert, München: Winkler 1970, Bd. 8, S. 451-488, hier S. 14.
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empfänger (Humangesellschaft) in der Literatur ein anderes Verhältnis eingehen und neue Beschreibungen der Gesellschaft ermöglichen. Wenn Gesellschaften als emergente Einheiten von Kommunikation und Kontrolle aufzufassen sind, statt als Resultat intentionalen, womöglich rationalen Handelns, dann besteht zwischen Ameisen und Menschen in dieser Hinsicht kein Unterschied mehr. Um nur ein Beispiel nennen: In der ersten der legendären Macy-Konferenzen über Kybernetik wird ausdrücklich festgehalten, dass die dort betriebene Forschung für »ants and men« relevant sei.59
Die Ameise der Myrmekologen und Kybernetiker Scientists, if no sluggards, go to the ant to study her ways and be wise.60
Doch die moderne Ameisenforschung begnügt sich nicht mit der Bewunderung des fabelhaften Fleißes der Ameise, sondern studiert an der Ameisengesellschaft die universalen Grundprinzipien von Kommunikation und Kybernetik, also Regeln und Algorithmen, die sich auf die menschliche Gesellschaft übertragen lassen, weil Menschen in Gesellschaft kommunizieren. Der Transfer basiert also nicht auf einer Analogie, sondern auf dem Postulat, dass Gesellschaften welcher Wesen auch immer nach einheitlichen Regeln beschrieben werden können, wie die Myrmekologie von Wheeler bis Wilson immer wieder feststellen wird.61 Statt die seit Jahrhunderten bewunderte materielle wie organisatorische Komplexität dieser sozialen Insekten mit dem Generalplan eines »Kollektivinstinkts« zu erklären,62 der dann als »größerer Rahmen« allen Details ihren Platz zuweist, favorisiert die kybernetisch geschulte Nachkriegs-Myrmekologie die Modellierung einer Ameisengesellschaft auf der Grundlage weniger Ver59 | Sleigh: Six Legs Better, S. 163f. 60 | Lustig: Ants and the Nature of Nature, S. 282. 61 | Wheeler: Social Insects. Wheeler rezipiert hier die Werke Paretos, Spencers, Durkheims, Le Bons und Tardes. Vgl. zur Expansion der soziobiologischen Thesen in den Raum der Humansoziologie bei Wilson: Donald Stone Sade: Review: The Evolution of Sociality, in: Science 190/4211 (Oct. 17, 1975), S. 261-263. 62 | Maurice Maeterlinck: Das Leben der Termiten. Das Leben der Ameisen [1926/1930], hg. v. dem Kreis der Nobelpreisfreunde, Zürich: Coron o.J. [1966], S. 254. Vgl. zur Polemik gegen Erich Wasman als »Jesuit instinct monger« bei Wheeler: Social Insects, S. 230.
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haltensregeln und ihrer Verstärkung durch »feed-back loops«.63 Die Genese hochkomplexer Nestarchitekturen und kollektiver Aktionen wird nicht ›von oben‹ erklärt, sondern auf dem Level der »simplen Akteure« und ihrer einfachen Regeln.64 Genauso wie Soziologen wie Talcott Parsons und Niklas Luhmann darauf verzichten, in ihren Modellierungen der Gesellschaft das Individuum mit seinen Intentionen und Emotionen zu berücksichtigen, wendet sich auch die Myrmekologie von der Frage der Intelligenz oder des Instinkts der Einzelameise ab und der kybernetischen Beschreibung der Ameisengesellschaft als selbstorganisierendem Kommunikationssystem zu. Es geht um eine Verlagerung des Untersuchungsfokus: »away from the inner mechanisms of the individual – and especially from the brain – and out into the connection between people«, anderer »agents« oder »ants«.65 Die moderne Ameisenforschung ersetzt die hierarchische Asymmetrie zentraler Steuerung und peripheren Befehlsempfangs durch die emergente Selbstorganisation der Akteure.66
Schwarm-Intelligenz. Von den Ameisen zur Multitude 1990 wird das von Edward Osborne Wilson, dem Nestor der Soziobiologie und bedeutendsten amerikanischen Ameisenkundler, gemeinsam mit dem deutschen Spitzenforscher Bert Hölldobler verfasste Standardwerk 63 | Hölldobler/Wilson: The Ants, S. 359 und S. 362. Vgl. für ein frühes Beispiel dieses Paradigmas Arturo Rosenblueth/Norbert Wiener/Julian Bigelow: Behavior, Purpose and Teleology, in: Philosophy of Science 10/1 (1943), S. 1824. 64 | Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 205 und S. 41. Vgl. auch James Kennedy: Review of Engelbrecht’s Fundamentals of Computational Swarm Intelligence, in: Genet Program Evolvable Mach 8 (2007), S. 107-109, dort: S. 108: »The ant algorithms largely derive from studies of social insects. It was found that complex patterns of behaviors could be simulated by implementation of small sets of simple rules. Phenomena such as dome-building, discovery of the shortest path from nest to food, and aggregation of corpses in discrete and well-ordered »cemeteries« can be accomplished by organisms with very simple brains by distributing the task across the population. No individual has to accomplish much or understand the whole problem, but collectively they can perform incredible engineering feats.« 65 | James Kennedy/Russel C. Eberhart: Swarm Intelligence, San Francisco u.a.: Morgan Kaufmann Publishers 2001, S. 419. 66 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. xi und S. 6.
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Ants zum Bestseller und Publikumserfolg, das 1991 den Pulitzer Prize in the Arts and Journalism gewinnt und dessen Plädoyer für »cybernetic simulations« die Tür zur Schwarm-Forschung öffnet,67 die es ihnen mit vielen Zitaten dankt. Deren Gründungstexte von 1999 und 200168 finden in den bewundernswert effizienten, kooperativen, flexiblen und arbeitsteiligen Ameisen der Entomologie69 ein »biologisches Exempel«70 für Problemlösungen mit distribuierten, dezentralen, robusten Schwärmen.71 Die für jeden einzelnen Menschen vollkommen unverständlich gewordene, allzu komplexe Welt könne – unter Verzicht auf das für jede Soziologie und Kybernetik unverständlich und allzu komplex gewordene menschliche Individuum, seine Motive, sein Bewusstsein oder Unbewusstsein – nach dem Muster der Organisation sozialer Insekten modelliert und verstanden werden, begründen die Kybernetiker und Ethologen ihren Ansatz.72 Es ist spannend zu beobachten, wie in diesen Texten an die Stelle des mystischen »hive minds«73 oder der »unsichtbaren Hand« der Vorkriegs-Entomologie74 die Schwarm-Intelligenz tritt.75 Aber die großartige Ameisengesellschaft wird nicht nur in einen ANTAlgorithmus destilliert, der ihre sprichwörtliche Effizienz in die Bilanzoder Allokationstheorien der Ökonomen oder in die Selbststeuerungsprogramme von Routern oder Verkehrsleitsystemen überträgt.76 Nein, 67 | Hölldobler/Wilson: The Ants, S. 359. 68 | Kennedy/Eberhart: Swarm Intelligence, S. 101. Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence. 69 | Hölldobler/Wilson: Journey to the Ants, S. i. 70 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. xii. Dieses Beispiel solle ebenso »enjoyable« wie »useful« sein, schreiben die Autoren mit Horaz. 71 | Ebd., S. xif. 72 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 22, vgl. S. xi und S. 271. 73 | Mit Verweis auf Maurice Maeterlinck Hölldobler/Wilson: Journey to the Ants, S. 111f. 74 | Man wisse nicht, wer oder was die Insekten bei so komplizierten, arbeitsteiligen Verfahren anleite, schreibt Bastian Schmid: Gesellschaft und Staat unter den Tieren, Stuttgart: Franck 1935, S. 46ff., es sei, als würden sie von einer »unsichtbaren Hand geführt«. 75 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 1, zitieren Maeterlincks Frage, was denn die sozialen Insekten lenke: »What is it that governs here?« 76 | Vgl. Steven Blythe: Von den Ameisen lernen, in: Brand Eins 6 (2002), S. 122-125. Vgl. Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 39ff.
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die Ameise, von der schon die alttestamentarischen Sprüche künden, der Mensch solle »ihr Tun sehen und von ihr lernen«77, die Ameise, von denen der HERR durch seinen Propheten sagt, sie zähle zu den »Kleinsten auf Erden« und sei doch »klüger als die Weisen«, die Ameise, deren Voraussicht, Organisationstalent, Disziplin und Fleiß in den äsopischen Fabeln seit Jahrtausenden gelobt wird,78 und die immer wieder besonders deshalb bewundert wird, weil sie »keinen Herrscher, keinen Aufseher oder Vorgesetzen« hat,79 diese Ameise macht nach ihren Erfolgen in der Schwarmforschung einen weiteren Karriereschritt – sie wird, re-modelliert nach dem Muster der neuesten Soziobiologie und Kybernetik, erneut zum moralischen Vorbild sozialer Ordnung. »Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein […] Rhizom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn sein größter Teil zerstört ist«, schreiben auch Deleuze und Guattari bewundernd,80 und während die Kybernetiker die Robustheit der Ameisenlogistik überall zu implementieren suchen, lassen sich Michael Hardt und Antonio Negri vom Rhizomatischen ihrer Organisation beeindrucken. Die Autoren nutzen einen Mix aus neuester Schwarmforschung81 und alter Entomologie,82 um von den sogenannten »Swarm Raids« der Ameisen83 über die computergestützte Simulation dieses Schwarmverhaltens durch Algorithmen schließlich zu ihrem Transfer des Bildes auf die menschliche Gesellschaft zu kommen. Die Ameise der Schwarmforschung wird zum Vorbild einer »kollektiven Intelligenz«, die »aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen […] Vielfalt entstehen kann.«84 Der Insektenschwarm wird zum Muster einer besseren Gesellschaft. Hardt und Negri glauben nun endlich zu verstehen, warum Arthur Rim77 | Sprüche Salomos, 6,6. 78 | Schnur/Keller: Fabeln der Antike, S. 319-321. 79 | Für diese Ansicht aus dem antiken Nahen Osten (hebräisch, arabisch, Altes Testament) vgl. Riede: Im Spiegel der Tiere, S. 7. 80 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus [1980], übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1997, S. 19. 81 | Zitiert wird Kennedy/Eberhart: Swarm Intelligence. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M., New York: Campus 2004, S. 110. 82 | Verwiesen wird auf Karl von Frisch, den Entdecker des Schwänzelund Rundtanzes der Bienen. Hardt/Negri: Multitude, S. 401. 83 | Hardt und Negri: Multitude, S. 109, zitieren Arquilla und Ronfeldt: Swarming & the Future of Conflict, die wiederum Hölldobler und Wilson: Journey to the Ants, S. 25, zitieren. 84 | Hardt/Negri: Multitude, S. 111.
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baud in seinen »wunderbaren Hymnen an die Pariser Commune von 1871« die Kommunarden mit Ameisen verglichen habe, die auf den Barrikaden »wimmeln« und die Straßen in »Ameisenhaufen« verwandeln. Rimbaud habe mit seinen »Insekten-Versen« eine »kollektive Intelligenz, eine Schwarmintelligenz […] antizipiert«, deren globale Stunde nun geschlagen habe. Rimbaud habe das »Lob des Schwarms gesungen«,85 und genau dies tun auch Hardt und Negri. Die Ameise der Entomologen, der »Neurobiologen« und »Kybernetikexperten« wird zum Wappentier der »Multitude«,86 und der Ameisenhaufen löst den Leviathan als »starkes Bild« der Selbstbeschreibung der Gesellschaft ab. Der in diesen Selbstbeschreibungen stets präsente entomologische, soziobiologische und biokybernetische Diskurs autorisiert mit dem Verweis auf die Natur selbst das neue Leitbild der Gesellschaft, denn die Myrmekologen und Schwarmforscher haben schließlich an einem 600 Millionen Jahre alten Volk gezeigt, mit welchem Rezept es unter wechselnden Bedingungen stets so »amazingly successful« sei.87 Diese Erfolgsstory gilt es zu kopieren. Es war die Bildung von Analogien, die typisch für das Genre der Fabel ist und die Derrida als anthropozentrisch ablehnt. Und doch fasziniert auch ihn gerade das an den Ameisen, was sich nun ganz deutlich als moralisch und utopisch aufgeladene Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft entziffern lässt: »Fourmi, […] figure of innumerable multiplicity, of the incalculable of what teems and swarms without counting, without letting itself beeing counted, without letting itself be taken in«.88 Aus der Ethologie sozialer Insekten ist eine Ethik geworden. Mit dem Bild der Ameise wandelt sich auch der angepriesene Gesellschaftsentwurf. So schreiben Bert Hölldobler und Edward Wilson 1994: »Es scheint, als ob der Sozialismus wirklich funktioniert. Karl Marx hatte nur die falsche Spezies im Blick.«89 Hardt und Negri dagegen haben sich bei den Ameisen- und Schwarmforschern mit Hoffnung für ihren Glauben versorgt, dass es doch die richtige Gattung gewesen sei. Soweit die Fabel über die Tiere, die wir sind – »more to follow …«
85 | Hardt/Negri: Multitude, S. 111. Gemeint ist wohl der Chant de guerre Parisien, der ungeheuer forciert gelesen werden muss, wenn man sich Hardt und Negri anschließen will. 86 | Hardt/Negri: Multitude, S. 370ff. 87 | Hölldobler/Wilson: Journey to the Ants, S. 1. Vgl. Lorraine Daston/ Fernando Vidal (Hg.): The Moral Authority of Nature, Chicago, London: University of Chicago Press 2004. 88 | Derrida: ›Fourmis‹, S. 120. 89 | Hölldobler/Wilson: Journey to the Ants, S. 9.
Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaf ten Eva Johach
Seit den aus der Antike bekannten naturkundlichen Texten ist der Blick auf die Gesellschaften der Insekten durch die Wiedererkennung menschlicher Sozialformen geprägt. Geradezu im Widerspruch zu heutigen Definitionen von Schwärmen erschienen sie ihren menschlichen Betrachtern in keiner Weise als Gebilde »am Rande des Chaos« (Christopher Langton), 1 sondern schienen in ihrer hochgradig stabilen und harmonischen Sozialstruktur geradezu das Ideal menschlicher Gesellschaften vorzuführen. Das Studium der Schwärme lässt sich, zumindest soweit es die sozialen Insekten betriff t, von diesem Begehren nach idealisierender Wiedererkennung kaum ablösen. Aufgrund der traditionsreichen Kulturpraxis der Imkerei standen vor allem die Gemeinwesen der Honigbienen im Fokus der Aufmerksamkeit, und diese schienen ihre soziale Stabilität vor allem einem zu verdanken: dem Bienenkönig, der seinen Staat wie ein souveräner Herrscher regierte. Hierin liegt ein Grund dafür, dass die »SchwarmLogik« nicht ohne den Bezug auf ihr Zentrum in Betracht kam. 1 | Christopher Langton: Computation at the edge of chaos, in: Physica D 42 (1990), S. 12-37. Sebastian Vehlken hat zu Recht die Frage gestellt, ob soziale Insekten – gemessen zumindest an den Kriterien heutiger Schwarmintelligenz-Forschung – überhaupt als »schwärmende Spezies« in Betracht kommen. Sebastian Vehlken: Schwärme. Zootechnologien, in: Joseph Vogl/Anne von der Heiden (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 235-257, hier: S. 238, Anm. Verwiesen sei auch auf seinen Beitrag in diesem Band.
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Das Prinzip der Führung liegt auch der deutschen Bezeichnung des Bienenkönigs (bzw. später der Bienenkönigin) als »Weisel« bzw. »Weiser« zugrunde: Abgeleitet von »weisen, führen«, bringt der Name die Vorstellung zum Ausdruck, dass der Bienenkönig »beim Schwärmen den Weiser oder Zugführer bilde«.2 Diese ›Führungsrolle‹ zeigt sich den Erfahrungen der Bienenzüchter entsprechend nicht nur im außergewöhnlichen Zustand des Schwärmens, sondern ist auch für das konstitutiv, was im 17. Jahrhundert die »Policey-Ordnung« der Bienen genannt wird.3 Colerus schreibt 1680 etwa in seiner Hausväterlehre: [E]tliche heissen ihn auch ein Weiser/vom anweisen/daß er seinem Volcke Anleitung und Anweisung gibt/darnach sie sich in allem ihrem Thun und Arbeit richten müssen/welches man daran spüren und mercken kann. Dann sobald er stirbt so thun die Bienen kein gut mehr/sondern sitzen mit grosser Traurigkeit bey ihrem verstorbenen König/ohn alle fernere Sorg der Nahrung/und arbeiten gar nichts/sondern sterben viel mehr/es wäre dann/daß man ihnen einen andern König gebe. 4
Die empirische, von Bienenvätern immer wieder gemachte Beobachtung, dass »weisellose« Stöcke, also solche, die durch unglückliche Umstände, Krankheit und Tod ihr Oberhaupt verloren haben, so intensiv trauern, dass sie nicht mehr arbeiten, bildet die Grundlage dafür, die Beziehung zwischen Bienen und Weisel in den Begriffen souveräner Herrschaft zu modellieren. Die »Trauer« um den toten König gilt als Ausdruck von Treue und Gehorsam und liefert so die Evidenz, dass die soziale Ordnung auf einem Ensemble von Tugenden basiert. Diese wiederum bestimmen weniger die 2 | »Den vielgebrauchten Namen ›Weisel‹ erhielt die Königin, weil man sie früher für ein Männchen hielt und glaubte, daß sie beim Schwärmen den Weiser oder Zugführer bilde. Aus demselben Grunde nannten sie die Alten, welchen die außerordentliche Anhänglichkeit nicht entging, König«. (Ludwig Büchner: Aus dem Geistesleben der Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen, 2. Aufl., Leipzig: Theodor Thomas 1880, S. 249.) Grimms Wörterbuch zu Folge geht »Weisel/Weiser« (mhd. wîsel) als Bezeichnung für den Bienenkönig (dux apium) auf »weisen, führen« zurück. Im Mittel- und Frühneuhochdeutschen werde auch das Adjektiv »weisellos« (wîselos) im Sinne von »führerlos« gebräuchlich, etwa in Bezug auf Heere, Schiffe, Herden, Bistümer oder Königreiche. In der Bienenkunde hält sich der Ausdruck in der Spezialbedeutung für Bienen, die ihren König bzw. ihre Königin verloren haben. 3 | Johannes Colerus: Von der Bienen Policey-Ordnung, in: ders.: Oeconomia ruralis et domestica, Frankfurt a.M.: Joh. Martin Schönwetter 1680. 4 | Ebd., S. 544.
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Interaktionen der Individuen untereinander, als das Verhältnis der einzelnen Biene zu ihrem König: Die affektive Bindung an den »Weiser« wird als eine Macht vorgestellt, welche die Individuen eines Bienenstocks miteinander verbindet, indem sie alle auf ihr Oberhaupt hin orientiert. Dem Bienenkönig wird damit zugetraut, zusammen mit der affektiven auch die soziale Integration des Stocks zu gewährleisten. Die organisierende Macht seiner Weisung bezieht sich, wie das Colerus-Zitat zeigt, sowohl auf die soziale Ordnung des stationären Zustands, wie auf die Interimszustände des Schwärmens. Während er im einen Fall die Rolle eines Herrschers übernimmt, erfüllt er im zweiten Fall die eines Führers, der sein Gefolge an eine neue Heimstätte geleitet. Die Weisungsfunktion des Bienenkönigs überbrückt somit auch die beiden organisatorischen Grundformen des Gemeinwesens: Stock und Schwarm, die im Deutschen voneinander geschieden sind, während das englische swarm wie das französische essaim sich auf beide Formen gleichermaßen beziehen können. Der Schwarm – aufgrund der zentrierenden Macht des Königs eher ein »Zug« – ist dabei eine flüchtige Übergangsform, die nur im Intervall zwischen dem Auszug aus dem Stock und der Etablierung einer neuen Kolonie gegeben ist. In einem längeren Prozess, der sich über das 17. und 18. Jahrhundert erstreckt, wird der Bienenstaat in eine biologische Ordnung transformiert und die Rede vom »König« der Bienen zur bloßen Metapher erklärt. Der englische Naturforscher Charles Butler entdeckt 1609 aufgrund anatomischer Sektionen die Eierstöcke des vermeintlichen Bienenkönigs und plädiert entsprechend dafür, das lat. rex, das dem Bienenkönig verliehen wurde, »to grace so worthy a creature with the worthier title«, künftig der Wahrheit zuliebe mit »Queene« zu übersetzen.5 Auf der Basis neuen Wissens über Anatomie und Fortpflanzung dieser Tiere entsteht eine neue Geschlechterordnung, die sich – wie es in Jan Swammerdams posthum erschienener Bibel der Natur (1738) steht – aus drei Geschlechtern zusammensetzt, wobei »ihr so genannter König das Weibgen, die Hummel [=Drohne] das Männgen, und die gemeinen Bienen keines und zugleich etwas von beyden sind«.6 Die anatomische Entdeckung, dass der bisher als männlich erachtete Bienenkönig biologisch ein Weibchen ist, hat zugleich zur Folge, 5 | In der Nachfolge Aristoteles’ habe es sich eingebürgert, von einem König der Bienen zu sprechen. Er selbst sehe sich jedoch gezwungen, »to straine the common significatio [sic!] of the word Rex, and in such places, to translate it Queene, sith the males heer beare no sway at al, this being an Amazonian or feminine kingdome.« Charles Butler: The Feminine Monarchie or A Treatise concerning Bees and the due Ordering of them [1609], Reprint, Amsterdam, New York: Da Capo Press 1969, Preface. 6 | Jan Swammerdam: Bibel der Natur, Leipzig: J. F. Gleditsch 1752, S. 149.
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dass die Herrschaftsordnung in eine Reproduktionsordnung transformiert wird.7 Ich möchte im Folgenden aber argumentieren, dass auch nach der Biologisierung die Sozialgebilde der Insekten nicht zu ›Kollektiven ohne Zentrum‹ werden. Was Bienenzüchter schon lange wissen, ja was zu wissen eine der wesentlichen Grundlagen für den Erfolg ihrer Kulturtechnik darstellt, bestätigen auch die Experimente mit anderen sozialen Insekten: Ihre Gesellschaften sind Gebilde, die auf ihre Königinnen zentriert sind. (Abbildung 1 bis 3) Wo nicht mehr auf die Metaphorik der Herrschaft zurück-
Abbildung 1: Wilhelm Goetsch: Vergleichende Biologie der Insekten-Staaten, 2., neubearbeitete Aufl., Leipzig 1953 [1. Aufl. 1939], S. 424.
Abbildung 2: Goetsch: Vergleichende Biologie der Insekten-Staaten, S. 425 (Originaluntertitel: »›Hofstaat‹ bei Termiten, Bienen und Ameisen«). 7 | Einer der ersten Akteure dieses Prozesses ist Luys Méndez de Torres, der bereits 1586 den ehemaligen Bienenkönig als »female egg layer« identifiziert, vgl. Danielle Allen: Burning The Fable of the Bees: The Incendiary Authority of Nature, in: Lorraine Daston/Francisco Vidal (Hg.): The Moral Authority of Nature, Chicago, London: University of Chicago Press 2004, S. 74-99, hier: S. 95. Üblicherweise jedoch wird die Reform der Geschlechterverhältnisse im Bienenstaat Jan Swammerdam zugeschrieben.
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Abbildung 3: Goetsch: Vergleichende Biologie der Insekten-Staaten, S. 424. gegriffen werden kann, müssen andere Erklärungen für den zentrierenden und koordinierenden Einfluss der Königin gefunden werden, der auch bei anderen sozialen Insekten wie Wespen, Ameisen und Termiten beobachtet wird. Dabei ist es vor allem die in der Königin konzentrierte biologische Reproduktionsfunktion, die die Gesellschaften der Insekten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in teleologischen Deutungen gefangen hält.
Kollek tive ohne Zentrum? Die ersten, die sich für die »Schwarmform« interessieren müssen, sind die Imker – hängt es doch von ihrer Kenntnis des Schwarmverhaltens ab, ob sich der ökonomische ›Wert‹ ihrer Nutztiere realisieren lässt oder nicht. Die Anzeichen des bevorstehenden Schwärmens richtig zu deuten, gehört zu den basalen Fähigkeiten, die ein erfolgreicher Imker entwickeln muss, um sich diese zu »sichern«. Der Imker muss mit den Gesetzmäßigkeiten des Schwärmens vertraut sein, um es zum Zweck der Ertragssteigerung optimieren zu können – etwa indem er die Schwarmneigung seiner Bienenvölker fördert oder unterdrückt. Vor allem aber muss er mit geeigneten Gerätschaften zur Stelle sein, wenn das Schwärmen beginnt und sich ein Teil seiner Bienen typischerweise als »Schwarmtraube« an einem Baum unweit der Stöcke niederlässt (Abbildung 4). Zaudert er zu lange, die Schwarmtraube zu »pflücken«, ist ihm der Schwarm verloren. In seiner Neuen nützlichen Bienenzucht (1905) rügt etwa Ludwig Huber, dass durch die Unachtsamkeit mancher seiner Kollegen »alljährlich Hunderte von Schwärmen nicht gefaßt werden und zuletzt elend umkommen«.8 Unter8 | Zitiert nach Johann Witzgall (Hg.): Das Buch von der Biene, 2. Aufl., Stuttgart: Ulmer 1906, S. 418.
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Abbildung 4: Johann Witzgall (Hg.): Das Buch von der Biene, 2. Aufl., Stuttgart: Ulmer 1906, S. 420. lässt der Imker seine Pflicht, die vor allem eine Pflicht der aufmerksamen Beobachtung ist, kann sich zudem leicht ein Typ von Schwarm ausprägen, der nicht nur für ihn selbst von ökonomischem Nachteil ist, sondern ihn unter Umständen sogar in rechtlicher Hinsicht haftbar macht: sog. »Hungerschwärme, auch Not- und Motten- oder Bettelschwärme« genannt, die über Stöcke in der Nachbarschaft herfallen.9 Für die Bienenkunde bleibt die Zentriertheit des Sozialgebildes um die Königin also eine unhintergehbare Tatsache. Ihr Tod bedeutet – zumindest wenn es Stockinsassen oder Bienenzüchter versäumt haben, rechtzeitig eine neue Königin heranzuzüchten – unweigerlich die Auflösung der Staatsform. Das gegliederte Ganze zerfällt, und auch »die einzelnen Angehörigen desselben, gehen, indem sie sich zerstreuen, entweder zu Grunde oder werden zu unnützen Gesellen und schädlichen Wegelagerern«.10 Hier wird erneut deutlich, dass sein Erfahrungswissen den Bienenzüchter dazu bringt, auch das (geregelte!) Schwärmen an das Vorhandensein eines funktionablen Zentrums zu binden: die Königin hält das Ganze zusammen, nicht weil sie als Führerin den Schwärmenden voranfliegt, sondern weil im Falle ihres Todes die soziale Koordination und zyklische Ordnung der gesamten Kolonie in sich zusammenbricht. Innerhalb des züchterischen Wissens vom Schwärmen der Bienen werden insbesondere zwei Schwarmformen unterschieden, deren Auftreten für den Lebenszyklus eines Bienenstocks charakteristisch ist. Sofern der 9 | Ebd., S. 415. 10 | Büchner: Aus dem Geistesleben der Thiere, S. 247.
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Stock volkreich genug ist, schart sich im Frühsommer ein Teil, meist aus älteren Bienen bestehend, um die alte Königin und fliegt gemeinsam mit dieser als »Vorschwarm« aus, der andere Teil hält sich an die junge, kurze Zeit danach schlüpfende Königin und zieht mit dieser als »Nachschwarm« aus, um eine neue Kolonie zu gründen. In dieser zweiten Form geht das Schwärmen mit dem sog. Hochzeitsflug einher, der Befruchtung der jungen Königin, was immer wieder Anlass zu romantisierenden Darstellungen gegeben hat.11 Auf die zyklische Logik der Kolonie (sowie die züchterischen Anforderungen des »Bienenjahrs«) bezogen, ist der Schwarm damit nichts anderes als eine Interimsform, eine Passage zwischen Auszug aus und Wiedereinzug in die stationäre Form des Stocks. Aber auch eine von Zuchtinteresse freie biologische Betrachtungsweise geht von der Maxime aus, dass sich der ›Zweck‹ des Gebildes in der gelungenen Etablierung der Kolonie – und das bedeutet wiederum: in der stationären Form realisiert. In beiden Fällen fügen sich die Gesetzmäßigkeiten des Schwärmens in die Logik der Reproduktion ein. Wann und unter welchen Voraussetzungen kann der Schwarm also eine Eigenlogik entwickeln, ein eigenständiges Organisationsmodell verkörpern, das sich von der Logik des Zentrums emanzipiert? Bemühungen, das empirische Faktum der Zentriertheit von seinen politischen Konnotationen zu befreien, prägen auch im 19. Jahrhundert die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Sozialgebilden der Insekten. Durch ihre Bezeichnung als »Gesellschaften« (Espinas 1879) erhalten diese Versuche der Konzeption sozialer Ordnung einen hohen Grad an Allgemeinheit, was den Analogiebildungen zwischen menschlichen und tierischen Sozialformen eine neue Legitimität verschaff t. Dass sich der soziale Zusammenhalt nicht der »Herrschaft« der Königin verdankt, wird nachdrücklich betont. So schreibt etwa Alfred Espinas 1879 in seiner Studie Des Societés Animales: Die vermeintliche Königin übt über den Stock keine Herrschaft aus; sie bildet nur den Mittelpunkt, auf den Alles abzwecket […]. [D]ie Arbeiterinnen sind 11 | Eindeutig literarische Qualität kommt dabei den Schilderungen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck zu, die jedoch auch von vielen ›ernsthaften‹ Insektenforschern in ihre Arbeiten integriert wurden. Vgl. hierzu Eva Johach: ›Schicksalvolles Zauberbild‹. Maurice Maeterlincks Leben der Bienen zwischen Wissenschaft und Poesie, in: Texte, Tiere, Spuren. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 322-338, sowie dies.: Schwärmen nach der fernen Geliebten. Naturpoesie und Geschlechtermetaphysik in Maurice Maeterlincks ›Das Leben der Bienen‹, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 18/2 (2008), S. 308-317.
210 | E VA J OHACH in Beziehung auf sie nicht Unterthanen, sondern Hülfsmütter oder Erzieherinnen (éleveuses); jede andere Benennung ist vom socialen Gesichtspuncte zu verwerfen; nur die Poesie kann davon Gebrauch machen.12
Zunächst ist interessant, dass es Espinas zweihundert Jahre nach Swammerdams vehementer Ablehnung anthropomorpher Begriffe immerhin noch für gerechtfertigt hält, von den sterilen Arbeitsbienen wissenschaftlich als »éleveuses« zu sprechen. Wichtiger ist aber wohl die symptomatische Rede von der Bienenkönigin als Daseinszweck des Sozialgebildes: War der Bienenkönig personaler Repräsentant souveräner Herrschaft, ist sie nun der personifizierte biologische Zweck des Kollektivs: seiner Reproduktion. Jules Michelet hat hierfür in seiner populären Darstellung des »Insektenlebens« (L’Insect 1852)13 eine aufschlussreiche Metapher gefunden: Für ihn ist die Bienenkönigin ein temporäres »Idol«, das sich die Arbeitsbienen selbst schaffen. Sie ist »ein Gegenstand öffentlicher und gesetzmäßiger und constitutioneller Verehrung«14 – allerdings nur so lange, wie sie die Reproduktionsfunktion ausüben kann. Das Bienenvolk betet demnach in der Königin keine Instanz souveräner Herrschaft, sondern eine biologische Funktion an, der auch sie selbst unterworfen ist. Die politische Metapher der »constitutionellen Verehrung« soll gewissermaßen die alte Herrschaftsbeziehung in eine auf biologische ›Zwecke‹ gegründete Relation transformieren. In Michelets Perspektive ist das Verhältnis der Bienen zu ihrer Königin durch ein »Naturgesetz« bestimmt, das letztere auf eine lediglich ›repräsentative‹ Funktion festlegt. Die monarchische Metaphorik von »Volk« und »Königin« bleibt zwar erhalten, wird jedoch in die Metaphorik einer konstitutionellen Monarchie verschoben, indem ihr ein biologischer Sinn unterlegt wird. Der emphatische Rekurs auf die rein biologische Funktionslogik dieser Gebilde führt demnach nicht dazu, dass die anthropomorphe Betrachtungsweise aufgegeben wird, die schon Swammerdam endgültig verabschieden wollte. Vielmehr erweist sich Michelets Deutung als Ausdruck einer »politischen Zoologie«15, die auf der 12 | Alfred Espinas: Die Thierischen Gesellschaften, Braunschweig: Friedrich Vierweg und Sohn 1879, S. 334f. 13 | Jules Michelet: Das Insekt. Naturwissenschaftliche Betrachtungen und Refl exionen über das Wesen und Treiben der Insektenwelt, Braunschweig: Vierweg 1858. 14 | Ebd., S. 316. 15 | Den Begriff entlehne ich von Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl: Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie, in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhard Liebsch (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft,
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Analogisierung biologischer und politischer Funktionen basiert: Im Fall der Bienenkönigin fällt die biologische Funktion (Reproduktion) mit der politischen Funktion (Repräsentation) in eins. Dabei bleibt unentscheidbar, ob es sich um eine ›Übertragung‹ politischer Deutungsmuster in den Geltungsbereich von Naturgesetzen handelt oder umgekehrt. Zudem besitzt die solchermaßen reformierte Deutung selbst wiederum politisches Potential: Die Naturgesetze sind zugleich zweckmäßig und demokratisch und lassen sich deshalb zur Legitimierung politischer Reformen einsetzen. Diese Korrespondenzen interessierten auch den Physiologen Ludwig Büchner 16, der wie Michelet und sein Fachkollege Carl Vogt als Vertreter einer im Geiste von 1848 formulierten »politischen Zoologie« der sozialen Insekten gelten kann. Auch er verknüpft die biologische Zweckhaftigkeit dieser Sozialgebilde mit den politischen Attributen einer konstitutionellen Monarchie. Für Büchner gründet die Logik des Schwärmens auf einem Antagonismus zweier Triebe: Die Königin sei von einem »Wunsch oder Trieb zur Alleinherrschaft« bestimmt, während die Arbeitsbienen auf einen »Wechsel der Herrschaft« und deshalb zum regelmäßigen Schwärmen drängen.17 Büchner vermutet, dass sich dieser Trieb »durch natürliche Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein« entwickelt hat.18 Was das Schwärmen auslöst, ist damit ein stark in politische Metaphorik gekleideter Konflikt zwischen zwei gegenläufigen Impulsen, der immer dann auftritt, wenn die Zeichen auf Expansion stehen. Während die alte Königin in diesen Momenten den beharrenden Impuls verkörpert und von den Bienen zum Auszug ›gedrängt‹ werden muss (eine von Bienenzüchtern häufig gemachte Beobachtung), vertritt das Bienenvolk den progressiven, der Zukunft und dem Wohle des Ganzen zugewandten Impuls. Bei Büchner wie bei Michelet sind es also vor allem die Arbeitsbienen, die ihre Eigeninteressen zugunsten der Zukunftssicherung des Gemeinwesens zurückzustellen. Wahrhaft »republikanisch« sind für Michelet allerdings nur die Ameisen, denn sie haben »kein Bedürfniß eines sichtbaren und lebendigen Symbols der Stadt«, während die Bienen ihren »moralischen Halt in dem Cultus der Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 207-217. Hier bezieht sich der Term vor allem auf den Wolf/Werwolf als Grenzfigur des Sozialen. Ein weites thematisches Spektrum wird dagegen entfaltet in Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007. 16 | Büchner: Aus dem Geistesleben der Thiere. Im 19. Jahrhundert ist es gebräuchlich, statt von Verhaltenskunde von »vergleichender Seelenkunde« der Tiere zu sprechen. 17 | Ebd., S. 266f. 18 | Ebd., S. 266f.
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gemeinsamen Mutter« finden: »Darin besteht für diese Jungfrauen-Städte gewissermaßen die Religion der Liebe«.19 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert werden eine Vielzahl neuer Hypothesen über die Kommunikation und soziale Integration von Insektengesellschaften entwickelt. Das ebenso universale wie unscharfe Konzept der »Liebe«, in der alle Individuen eines Bienenstocks auf ihre Königin bezogen sind, stellt sich dabei als eine metaphorische Ressource dar, die auch in der weiteren wissenschaftlichen Konzeptualisierung des sozialen Bandes zum Tragen kommt. Innerhalb des biologischen Rahmens erhält sie allerdings eine neue Bedeutung: Sie gilt nicht mehr der Königin als Individuum, als ›Souverän‹, sondern der von ihr ausgefüllten reproduktiven Funktion. Die Königin ist, obgleich ihr Name erhalten bleibt, weder Herrscherin noch Schwarmführerin, sondern eine Art behäbiges, passives ›Organ‹, das durch die Schwarmenergie des ›Volkes‹ in Bewegung versetzt werden muss. Nicht ihr, sondern dem als Volk konzipierten Kollektiv obliegt es demnach, die Logik des Schwärmens am ›Zweck‹ des Ganzen auszurichten. Der Königin wird nur so lange mit »constitutioneller Verehrung« begegnet, als sie ihrer biologischen Funktion, der Reproduktion, nachzukommen vermag. In dieser Lesart wird der Schwarm also, trotz der Bemühung um eine ›Demokratisierung‹ und Dezentralisierung des Sozialgebildes, gerade nicht aus einem teleologisch-funktionalen Denken herausgelöst. Vielmehr zeigt sich hier exemplarisch, wie der leere Platz des Königs durch den biologischen Zweck ersetzt wird. Was im alten Herrschaftsmuster als Zuneigung der Untertanen zu ihrem Oberhaupt gedeutet wurde, muss nun auf materielle Trägersubstanzen verlagert werden, die für den sozialen Zusammenhalt sowie die Zentriertheit auf die Königin verantwortlich sind. Die Austauschbeziehungen, die in ihrer Gesamtheit als Basis sozialer Integration gelten, werden dabei gerne in Analogie zu physikalischen, technischen, psychologischen oder gar parapsychologischen Wirkungen gebracht. Ein rätselhafter Rest bleibt dabei stets konstitutiv. »Dunkel« sei ihre Sprache, schreibt etwa Michelet, und erinnere »an die Formen des Freimaurerthums«.20 Durch die »Berührung ihrer Fühlhörner« (einer Art elektrischer Telegraph) scheinen sie sich »gegenseitig die Neuigkeiten mitzutheilen oder Rathschläge und Weisungen zu geben«.21 Dank der im 19. Jahrhundert gängigen Vergleiche zwischen Nerven- und Telegraphensystem kann diese Kommunikation über Fühlersprache als eine Reizübertragung gedeutet werden, die sowohl in Analogie zu den nervösen Übertragungen innerhalb des physischen Orga19 | Michelet: Das Insekt, S. 340. 20 | Ebd., S. 247. 21 | Ebd., S. 244.
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nismus als auch zu den Techniken der Telekommunikation in modernen menschlichen Gesellschaften steht. Inwiefern hält nun das Telegraphie-Modell das Potential bereit, die Eigenlogiken von Schwarmbewegungen ins Auge zu fassen? Hierzu ist es sinnvoll, den Blick auf eine Spezies unter den sozialen Insekten zu lenken, in deren Lebensweise das ›Schwärmen‹ besonders großen Raum einnimmt: die Ameisenart eciton. Bereits die Autoren des 19. Jahrhunderts berichten mit großer Faszination von den Raub- und Beutezügen dieser »Wanderameisen« (im Englischen etwas weniger neutral als »army ants« bezeichnet), für deren Realisierung – zumindest in diesem Zeitraum22 – die Fühlersprache als entscheidend gilt. Büchner zitiert aus den Schilderungen des Naturforschers Henry Bates: Eines Tages sah B. [Bates] bei Villa Nova an einem günstig gelegenen Platz eine solche, sechzig bis siebzig Ellen lange Colonne, bei der weder Vor- noch Nachtrab zu bemerken war. Dagegen wurde die Ordnung durch einige, auf beiden Seiten des Zuges unauf hörlich hin- und herlaufende Individuen, welche das ganze in einer Art gegenseitiger Verständigung hielten, aufrechterhalten. Wenigstens sah man oft, wie diese ›Offiziere‹ den im Zuge Marschierenden durch Berührung mit ihren Fühlern eine Mittheilung machten. Wenn B. den Zug störte oder ein Individuum herausnahm, so gelangte die Nachricht dieses Ereignisses mit großer Schnelligkeit bis an das Ende des Zuges, welcher in Folge dessen einen Rückzug begann.23
Die Effizienz dieser Koordination führt dazu, den Schwarm als eine »Formation« zu begreifen, deren Ähnlichkeit mit menschlichen Heeren evident zu sein scheint. Ihr erfolgreiches Manövrieren in der Fläche und koordiniertes Parieren von Angriffen macht den Eindruck, durch die Kommunikation privilegierter Akteure gesteuert zu sein. Noch deutlicher wird dies in einer popularisierenden Darstellung Ernst Haeckels, der in Bezug auf jene »Offiziere« explizit teleologische Formulierungen einsetzt: Auf dem Marsche sind die Officiere zu beiden Seiten der langen Heersäule 22 | Erich Wasmann: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, Stuttgart: Schweizerbart 1899, arbeitet die »Fühlersprache« der Ameisen zu einem regelrechten Katalog aus und spricht ihr eine wesentliche Rolle bei der Organisation der Kolonie zu. Hölldobler/Wilson dagegen warnen angesichts der vermeintlichen Komplexität der Sprache davor, diese überzuinterpretieren. Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Ants, Berlin, Heidelberg u.a.: Springer Verlag 1990, S. 258. 23 | Büchner: Aus dem Geistesleben der Thiere, S. 219f.
214 | E VA J OHACH vertheilt, und klettern oft auf erhöhte Standpunkte, um von da aus den Zug der Truppen zu überwachen und zu leiten. Die Befehle und Anordnungen, sowie überhaupt alle geistigen Mittheilungen, geschehen bei diesen, wie bei den andern Ameisen, so viel wir wissen, nicht durch Tonsprache, sondern durch Gebärden- und Tastsprache. Insbesondere dienen die Fühlhörner theils durch winkende Bewegungen als Telegraphen zum Zeichengeben in die Ferne, theils durch unmittelbare Berührung zur Mittheilung von Wünschen, Empfindungen und Gedanken an die Umstehenden.24
Sofern der Schwarm in Analogie zu einer militärischen Formation gebracht wird, folgt auch die ›telegraphische‹ Kommunikation via Fühlersprache einer Befehlsstruktur. Die Winke und Berührungen scheinen nicht nur ein komplexes Zeichensystem zu beinhalten, sondern auch in der Lage zu sein, »in einem Nu den Marsch einer ganzen Colonne, das Thun eines ganzen Volkes zu ändern«.25 Da die Analogie zwischen organoiden und technoiden Assoziationen schwankt, lässt sich mit ihrer Hilfe eine Bandbreite sozialer Organisation modellieren, die den Insektenstaat ebenso gut als Nervenkörper wie als ein mit avancierter Kommunikationstechnik arbeitendes Heer erscheinen lassen kann.26 Innerhalb dieses militärischen Deutungsrahmens sind Einzelne (sog. »Offiziere«) auf eine bestimmte Form der Kommunikation spezialisiert, die den ›Zweck‹ hat, die übrigen Individuen zu einem koordinierten Handeln zu bewegen. Diese bilden zwar kein Befehls-›Zentrum‹, aber gewissermaßen Knotenpunkte, von denen aus die Koordination des Ganzen bewerkstelligt wird.27 Im Gegensatz zu einer solchen implizit teleologischen Betrachtungsweise steht die Deutung, das Kollektiv werde durch die bloße Mitteilung einer unspezifischen Erregung in Aktion versetzt, die von jedem belie24 | Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen, Vortrag gehalten am 22. März 1878 in der »Concordia« zu Wien, 2. Aufl., Leipzig: Kröner 1923, S. 9. 25 | Michelet: Das Insekt, S. 247. 26 | Es gehört zur Faszinationsgeschichte von Insektengesellschaften, dass die erstaunliche Fortschrittlichkeit, ja ›Modernität‹ ihrer Lebensformen hervorgestrichen wird. Hierzu sei noch einmal auf Haeckel verwiesen, der u.a. schreibt: »das strategische Talent, mit welchem kämpfende Ameisenheere heutzutage (!) einander zu umgehen und einzuschließen suchen, zeigt deutlich, daß auch sie Kinder des eisernen neunzehnten Jahrhunderts sind«. Haekkel: Zellseelen und Seelenzellen, S. 29. 27 | Sobald von »Offizieren« die Rede ist, nimmt der Schwarm gewissermaßen die Organisationsstruktur eines Netzwerks an. Zu den Voraussetzungen beider Modelle vgl. den Beitrag von Sebastian Gießmann in diesem Band, S. 166f.
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bigen Tier auf die übrigen übertragen werden kann. Ein solches Modell entwickelt bereits Espinas. Am Beispiel von Wespen und Hornissen wird ein wesentliches Kriterium für den Übergang von der solitären zur sozialen Lebensform benannt: das Auftreten von Individuen, deren Aufgabe in der Alarmierung der Artgenossen besteht.28 Wenn diese »Wachen« den Koloniemitgliedern »Mittheilungen« über bestehende Gefahren machen, sei dies nicht als eine Sprache, sondern als eine Form der Erregung zu betrachten, die sich nach dem Muster von Nachahmung und Ansteckung vom alarmierten Tier auf andere Individuen überträgt. Dieses Modell findet sich ganz ähnlich in den Theorien der Massenpsychologie Ende des 19. Jahrhunderts und macht so die diskursiven Übertragungen zwischen Schwarm- und Massenpsychologie erkennbar, die Michael Gamper in seinem Beitrag untersucht.29 Ob das Modell bloßer Erregungsübertragung zur Erklärung des hohen Grades an Kohärenz und Koordination ausreichend sei, hat auch Espinas beschäftigt. In Bezug auf die Frage, ob der Schwarm hier die Autonomie eines eigenen Organisationsmodells erlangt, lassen sich seine Überlegungen nach zwei Richtungen deuten: Einerseits geht er vom »Princip der individuellen Initiative und der ihr folgenden Nachahmung« aus.30 Das bedeutet, jedes Individuum kann zum Auslöser einer Erregung werden, die sich dann wellenartig über das Kollektiv ausbreitet.31 Andererseits betrachtet Espinas diese (von ihm selbst so bezeichnete) »Massenpsychologie« der Insektengesellschaften jedoch nur als unterste Ebene in einem Stufenmodell sozialer Organisation. Höher entwickelte Gesellschaften wie die der Honigbienen seien als »Collectivorganismen« zu begreifen, und diese zeichnen sich dadurch aus, dass die Erregungswellen gewissermaßen an einem Knotenpunkt zusammenlaufen: der Königin. Dass bei den Bienen der gesamte Stock in Aufruhr gerät, sobald die Königin daraus entfernt wurde, erklärt Espinas damit, […] dass die Mutter gewöhnlich vermittels ihrer Antennen mit einer grossen Zahl von Arbeiterinnen beständig verkehrt und dass diese wieder durch Berührung ihre entfernteren Gefährten beruhigen. Die ganze Gesellschaft fühlt 28 | Espinas: Die Thierischen Gesellschaften, S. 343. 29 | Vgl. Gamper: Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, in diesem Band. 30 | Espinas: Die Thierischen Gesellschaften, S. 371. 31 | »Um den Auszug eines Heeres aus dem Bau zu erklären, brauchen wir uns nur zu denken, dass einige unruhig werden, ihre Gefährten mit den Antennen berühren und fortgehen. […] Dann breitet die Bewegung sich immer weiter aus und wird für das Signal zum Auf bruch gehalten«. Ebd., S. 370f.
216 | E VA J OHACH sich also gleichsam jeden Augenblick in ihrer Einheit; wird diese Berührung unterbrochen, fehlt die Quelle ihres Verkehrs, so ist es nutzlos, dass ein befruchtetes Weibchen in ihrer Mitte ist: kann es sich nicht durch seine Antennen verständlich machen, so wird die ganze Masse der Arbeiterinnen sehr bald in Unordnung geraten.32
Nach Espinas sind Insektengesellschaften »Collectivorganismen«, Nervenkörper, deren Einheit auf der Übertragung nervöser Erregung zwischen den Individuen beruht, die durch »Antennen« vermittelt und durch die Königin synchronisiert werden. Auch wenn die Erregung gewissermaßen an jedem Punkt beginnen und sich von dort aus fortpflanzen kann, gibt es einen Knotenpunkt, von dessen Reizübermittlungen das Weiterbestehen des Organismus per se abhängig ist. Somit kann Espinas sagen: »Die Mutter personificirt die durch das Zusammenwirken dieser Tausende von Individuen gebildete Collectiv individualität.«33 Für Espinas realisiert sich die soziale Integration also wesentlich als »fühlende Einheit«; es dominiert klar die Analogie zwischen den »Antennen« der Insekten und den »Nerven« im tierischen Organismus. Diese organismische Analogie, bzw. explizit: die Konzeption der Insektengesellschaft als »Superorganismus«, ist im 20. Jahrhundert ebenso umstritten wie langlebig und erfährt überraschenderweise gerade in den 1980er Jahren ein Revival.34 Für die Frage nach der Genealogie heutiger SchwarmModelle entscheidender ist jedoch das von Espinas ins Spiel gebrachte Modell sich wechselseitig verstärkender Reize: Bildet es einerseits das grundlegende Prinzip organismischer Integration, stellt es andererseits gerade 32 | Ebd., S. 352f. 33 | Ebd., S. 349. 34 | Terminologisch eingeführt wird der Begriff »Superorganismus« von William Morton Wheeler: The Ant Colony as an Organism, in: Journal of Morphology 22 (1911), S. 307-325. Weiterentwickelt wird das Konzept von A. E. Emerson: Communication among termites, in: Transactions of the Fourth International Congress of Entomology, Ithaca: o.V. 1929, S. 722-726, und in weiteren Aufsätzen. Für das Wiederaufgreifen der Konzeption (nach einer langen Phase der Skepsis gegenüber holistischen Theoremen) plädieren in den 1980er Jahren David Sloan Wilson und Elliott Sober: Reviving the Superorganism, in: Journal of Theoretical Biology 136 (1989), S. 337-356, sowie Thomas Seeley: The Honey Bee Colony as Superorganism, in: The American Scientist 77 (1989), S. 546-553. Vgl. auch den programmatischen Text von Edward O. Wilson: The Superorganism Concept and Beyond, in: L’effet de groupe chez les animaux. Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique No. 173, Paris: Editions du Centre National de la Recherche Scientifique 1968, S. 27-39.
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die Weichen für eine Ablösung aus der Logik des Organismus. In den engen konzeptuellen Transferprozessen zwischen Biologie und Kybernetik seit den 1950er Jahren erweist sich, dass ein universales Konzept der Information den biologischen Begriff des Reizes weitgehend ersetzen kann. Während (wie bei Espinas) das Modell der Reizübertragung an das biologische Vorbild des Organismus und damit an eine teleologische Logik angebunden bleibt, ändert sich dies, sobald Schwarmbewegungen innerhalb eines kybernetisch-informationstheoretischen Rahmens konzeptualisiert werden. Ihre Gesetzmäßigkeiten lassen sich dann auch völlig unabhängig von ihrem biologischen Zweck erforschen – und genau dies bildet die konzeptuelle Basis für eine Modellbildung, die den Schwarm in einer Unschärfezone zwischen biologischen und technischen Systemen ansiedelt. Die Grundlagen solcher technisch-biologischen Modellbildungen lassen sich anhand der Nahrungssuche der Insekten verdeutlichen.35 Als Exempel von »Selbstorganisation« setzen sich die dabei stattfindenden Schwarmbewegungen im Wesentlichen aus vier Komponenten zusammen: Ausgangspunkt ist eine Erweiterung unspezifischer Suchbewegungen (amplification of fluctuations), die zum zufälligen Auffi nden einer Nahrungsquelle führen können. Erst unter dem Einfluss chemischer Spurbildung bilden sich nach und nach viel-frequentierte Pfade heraus, die einen direkten Weg zur Futterquelle weisen und so deren »effi ziente« Ausbeutung gewährleisten (positive feedback). Ist die Futterquelle erschöpft oder kommt eine ergiebigere hinzu, tritt negative feedback ein.36 Entscheidend dafür, dass das Bewegungsmuster aufrechterhalten wird, ist eine kritische Zahl von Individuen, die erst für positive oder negative Verstärkung der Signale sorgen kann (multiple interaction). Dabei werden jedoch nicht (wie im Reizmodell) direkte, sondern besonders indirekte Kommunikationsformen für entscheidend erachtet. In diesem Fall reagieren die Individuen nicht aufeinander, sondern auf geänderte Umweltbedingungen, also etwa die chemische Information, die sich jedem Einzeltier durch die Pheromonkonzentration auf der Spur mitteilt.37 35 | Vgl. hierzu beispielsweise Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 9ff. 36 | Diese Formulierung von Bonabeau et al. ist insofern ungenau, als die ganze Argumentation darauf auf baut, dass für die Änderung der Schwarmbewegungen lediglich ein Ausbleiben positiven feedbacks ausreichend ist. Möglicherweise kann ihr Auftauchen als Restbestand älterer, steuerungstechnischer Vorstellungen gedeutet werden. Vgl. hierzu den Beitrag von Eva Horn in diesem Band sowie die Einleitung. 37 | Dieses Prinzip wird auch als »stigmergy« bezeichnet.
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»Swarm raiding ants« wie eciton burchelli gelten gegenwärtig längst nicht mehr nur Biologen, sondern zahlreichen Experten aus anderen Forschungsfeldern von der Robotik bis zur Verkehrsplanung als Musterbeispiel »kollektiver Intelligenz«, die sich aus der kommunikativen Verschaltung einfacher Handlungen ergibt. Die Schwarmbildung kommt, wie etwa Nigel Franks schreibt, ohne eine »global coordination« aus, und basiert lediglich auf »beautifully simple, self-organizing interactions among the raiding ants«.38 Ein »supervisor« scheint ebenso zu fehlen wie Instanzen zentralisierter Steuerung. Wichtig für die Orientierung im Schwarm sind nicht optische Sinnesleistungen, sondern die – im Wesentlichen taktil und chemisch induzierte – Interaktion auf der Basis einfacher »Algorithmen«. Was hier nahe liegt, ist eine theoriegeschichtlich einflussreiche Analogie: der Schwarm als »parallel processing computer of intriguing simplicity yet awesome sophistication«.39 Wenn Schwarmbewegungen in der Terminologie der Datenverarbeitung beschrieben werden, so verlaufen diese Übertragungen auch in die Gegenrichtung: sog. »ANT Algorithms« dienen der Modellierung »intelligenter« Systeme, die ohne zentrale Steuerung auskommen. Erleichtert wird der Modelltransfer zwischen biologischen und künstlichen Systemen durch den Informationsbegriff, der nicht zuletzt eine weitgehende Entkopplung dieses Kommunikationsmodells von der biologischen Logik möglich macht. Charakteristisch für das Nachdenken über Schwarm-Logiken ist also, dass es sowohl biologische als auch technische Formen dezentraler Interaktion umfasst. Die Koordination auf der Basis von »Konnektionismus« macht den Schwarm nicht notwendig als biologisches Gebilde, sondern vor allem als ein »decentralized problemsolving system« interessant. 40
Schwarm-Logik und teleologischer Blick Angesichts der festen Verankerung des Schwarms in einem Paradigma der »Selbstorganisation« ist auffallend, wie häufig in den Beschreibungen dieser Bewegungsmechanik der Verweis auf jenes abwesende Zentrum zu 38 | Nigel R. Franks: Army Ants: A Collective Intelligence, in: American Scientist 77/2 (1989), S. 138-145, hier: S. 140. 39 | Ein solcher Algorithmus sei beispielsweise die Orientierung aller Schwarmindividuen an einer »standard retrieval speed«, die zugleich auch die Koordination beim Abtransport der Beutetiere regle: »if there is a prey item in the trail moving below the standard retrieval speed, and you are not carrying an item, then help out; otherwise continue.« Ebd., S. 142. 40 | Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 6 und 20.
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finden ist. Wie eine Spannung, die sich stets aufs Neue auf bauen muss, kehren Bemerkungen über die erstaunliche Planmäßigkeit dieser koordinatorischen Leistungen wieder, die der rhetorischen Verstärkung des zu lösenden Problems dienen. So stellt E. O. Wilson Anfang der 1970er Jahre die beiden Hauptbestandteile des Rätsels noch einmal gegenüber: The individual member of a large colony cannot possibly perceive the actions of more than a minute fraction of its nestmates; nor can it monitor the physiological condition of the colony as a whole. Yet somehow everything balances out … 41
Das symptomatische »somehow« markiert eine Erklärungslücke, die zwischen beiden Ebenen der Beobachtung klaff t. Eine auf die Individuen gerichtete Perspektive baut die kollektive Bewegung des Schwarms aus ebenso simplen wie ziellosen mechanischen Einzelbewegungen auf, die gerade nicht auf ein Ziel hin programmiert, sondern zum Teil sogar unsinnig und gegeneinander gerichtet sind. Betrachtet man den Schwarm hingegen als Ganzes, greifen alle Teilhandlungen derart reibungslos ineinander, dass sie funktional auf eine Gesamtbewegung bezogen scheinen. Theoretisch zu bewältigen ist also gerade die Spannung zwischen ungerichteten Einzelhandlungen und dem Eindruck einer zweckhaften Gesamtbewegung. Greif bar wird diese Spannung beispielsweise in den Verweisen darauf, dass sich koordinierte Kollektivhandlungen ergeben, ohne dass irgendeine Ameise den Überblick habe. Haeckel ließ seine »Offiziere« auf »erhöhte Standpunkte« klettern – offenbar mit dem Hintergedanken, dass sie auf diese Weise einen solchen Überblick bekämen. Bei E. O. Wilson kommt das Sprachbild zwar vor allem zur Markierung einer Leerstelle zum Einsatz. Der Denkraum, der durch jenes »somehow« eröff net wird, kann jedoch durchaus noch zu holistischen Visionen Anlass geben, wie sein Kollege Nigel Franks beweist. Die Tatsache, dass die Kohärenz und Komplexität der Schwarmbewegungen gerade auf der Basis eines reduzierten optischen Sinns realisiert wird, ruft in ihm die Vorstellung hervor, der ganze Schwarm agiere wie ein riesiges Facettenauge, das sich aus den reduzierten Augen der Einzelnen zusammensetzt. 42 Am wiederholten Auftauchen der Überblicks-Metapher wird deutlich, dass ein teleologisierender Blick nicht nur durch die biologisch-zyklische Logik dieser Gebil41 | E. O. Wilson: The Social Insects, Cambridge/Mass: Harvard University Press 1971, S. 226. 42 | »In my wildest dreams, I imagine that the whole swarm behaves like a huge compound eye, with each of the ants in the raid front contributing two lenses to a 10- or 20-m-wide ›eye‹ with hundreds of thousands of facets.« Franks: Army Ants, S. 144.
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de, sondern auch durch die zweckhafte Anmutung der Schwarm-Logiken selbst induziert werden kann. Die notorische Betonung des abwesenden Zentrums (mitsamt der daraus generierten Spannung) lässt sich jedoch nicht nur aus der impliziten Teleologie eines biologischen Denkens heraus erklären, sondern verweist auf eine zweite Genealogie: Die Verschiebung von älteren kybernetischen Konzepten in ein Paradigma der »Selbstorganisation«. Als Modell von künstlicher Intelligenz tritt es die Nachfolge eines älteren steuerungstechnischen Paradigmas an, das von der Logik zentralisierter Kontrolle ausging; nachdrückliche Verweise auf ein fehlendes Zentrum sind insofern als Teil dieser programmatischen Verabschiedung zu verstehen. Angesichts des wechselseitigen »knowledge transfer« zwischen technischer und biologischer Modellbildung lässt sich vermuten, dass die wiederholten verwunderten Hinweise auf die Abwesenheit zentralisierter Kontrolle bzw. eines Gesamtplans sich gerade aus solchen Überlagerungen ergeben. Abschließend soll deshalb die (doppelte) Genealogie des Schwarms noch einmal auf ihr verborgenes Zentrum hin befragt werden. Im Hinblick auf die vorgestellten Etappen in der Genealogie des Schwarms scheint es sinnvoll, zwei Typen von Schwarm-Logiken zu unterscheiden. In der ersten Form folgt der Schwarm einer grundsätzlich zyklischen Logik. Er ist integriert in ein übergeordnetes Sozialgebilde, das auf den Zweck der Reproduktion ausgerichtet ist und somit einem Organismus ähnelt. In der zweiten Grundform beschreibt er ein Modell der spontanen Organisation, die nicht von der Kontrolle durch ein Zentrum abhängig ist, sondern aus der bloßen Interaktion emergiert. Eine funktional-teleologische Perspektive, wie sie sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausprägt, muss die Interaktionen zwischen den Koloniemitgliedern und ihrem »Oberhaupt« nicht mehr im Sinne souveräner Herrschaft modellieren. Vielmehr wird das Zusammenwirken vom biologischen Zweck her bestimmt: der Reproduktion, die hier nur im Kollektiv erreicht werden kann. Schwarm-Logiken im eigentlich biologischen Sinne stehen unabdingbar mit der Reproduktion in Beziehung und bleiben deshalb auf ein reproduktives Zentrum verwiesen: die Königin – die bereits seit dem 18. Jahrhundert von einer Instanz souveräner Herrschaft zur Garantin einer biologischen »Funktion« wurde. Daraus folgt zunächst, dass eine streng auf die ziellose Interaktion der Individuen gegründete Theorie erst dann möglich wird, wenn nicht nur das Zentrum des Schwarms, sondern auch die teleologische Betrachtungsweise aufgegeben wird. Auch wenn sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Augenmerk zunehmend auf die Eigengesetzlichkeit von Schwarmbewegungen richtet, bleibt eine funktional-teleologische Perspektive in biologischer Hinsicht immer dann naheliegend, wenn der Aspekt der Reproduktion in den
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Abbildung 5: William H. Gotwald, Jr.: Army Ants. The Biology of Social Predation, Ithaca/NY, London: Comstock 1995, S. 96. Blick rückt. So zeigten Experimente, die der amerikanische Entomologe Theodor Christian Schneirla in den 1940er Jahren anstellte, dass die Schwarmaktivitäten der »Armeeameisen« eciton burchelli durch den Reproduktionszyklus der Kolonie bestimmt werden. 43 Jede »migratory phase« alterniert mit einer »statary phase«, während der die Aufzucht der Larven stattfindet. Abbildung 5 zeigt zwei Varianten der Visualisierung dieser Phasen. Die geographische Karte (Abbildung 6) verzeichnet den während der Migrationsphase zurückgelegten Weg zwischen zwei »Biwaks« (doppelt gestrichelte Linie) sowie die Umstellung des Schwarmverhaltens auf radiale Bewegungen während der stationären Phase. Das Diagramm in Abbildung 7 zeigt schematisch den Wechsel zwischen beiden Phasen in Abhängigkeit vom Reproduktionszyklus: Die Ikonen der Königin an der Spitze jeder Säule machen deutlich, dass es nichts anderes als ihr Reproduktionszyklus ist, dem die Schwarmbewegungen folgen. Da sie die Fortpflanzungsaktivität der gesamten Kolonie in sich konzentriert, gibt sie als »pacemaker« (Schneirla) den Takt vor, ja sie ist das personalisierte Signal zum Aufbruch. 44 In welcher Phase sich die Kolonie als Gesamtheit gerade 43 | T.C. Schneirla: Army Ants: A Study in Social Organization, San Francisco: Freeman and Co. 1971. 44 | Ihr »Erscheinen« vor dem »Biwak« wird als ein Ereignis geschildert, das von großer Aufregung begleitet ist und den Marsch zum bereits ausge-
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Abbildung 6: Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Ants, Berlin, Heidelberg u.a.: Springer Verlag 1990, S. 580. Bildunterschrift: »The path used by a colony of the swarm raider Eciton Burchelli on Barro Colorado Island, Panama, during two reproductive cycles (egg to adult). A and B are the persistent bivouac sites used by the ants throughout each of the two statary phases. Radiating from each are the routes taken on successive days by raiding swarms, which returned to the same bivouac sites at the end of each raid. The thick double line traces the route taken by colony during its migratory phase, when it raided and relocated at the new bivouac site each day.« befindet, lässt sich sowohl an der Gestalt der Schwärme, als auch an der physischen Gestalt der Königin ablesen, deren Abdomen zwischen »physogastric« und »deflated« alterniert (Abbildungen 5 und 7). Die derart deutliche Ausprägung des physogastrischen Zustands unterscheidet das eciton burchelli-Weibchen von den Königinnen anderer Ameisenarten und ähnelt sie bereits dem Erscheinungsbild der Termitenkönigin an, deren enorme Unterleibshypertrophie sich proportional zu ihrer reproduktiven Aktivität kundschafteten neuen Biwak initiiert. »Eventually, usually after most of the larvae have been transported to the site, the queen makes the journey. […] As she runs along she is crowded in by the ›retinue‹ [Gefolge], a shifting mob consisting of an unusual number of soldiers and darkly colored, unladen smaller workers. The members of the retinue jostle her, press in underfoot, climb on her back, and at times literally envelop her body in a solid mass. Even with this encumbrance, the queen moves easily to the new bivouac site.« Hölldobler/ Wilson: The Ants, S. 577.
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verhält (Abbildung 8). In biologischer Hinsicht bleibt das Schwarmverhalten also in ein zyklisches Geschehen eingebunden; da es letztlich mit der Reproduktion korreliert ist, lässt sich eine teleologische Perspektive nur über Ausblendung biologischer Logiken vermeiden.
Abbildung 7: Hölldobler/Wilson: The Ants, S. 577.
Abbildung 8: Gotwald: Army Ants, S. 64. Unter der Maßgabe, dass die direkte und indirekte Kommunikation innerhalb des Schwarms auf den Grundprinzipien der »Selbstorganisation« basieren, tritt diese Korrelation mit einem biologischen Zweck in den Hin-
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tergrund. Auffallend erschien jedoch, dass auch die nicht-teleologischen Konzeptionen des Schwarms, die innerhalb dieses Paradigmas formuliert werden, gewissermaßen konstitutive Verwunderungen über die planvolle Koordination enthalten und so das Zentrum als Leerstelle konservieren. Auch für stärker an der ›artifiziellen‹ Dimension interessierte Modellbildungen lässt sich also konstatieren, dass diese ihre Faszinationskraft zumindest zum Teil daraus beziehen, dass in ihnen das Zentrum als imaginäre Leerstelle enthalten bleibt. Je mechanischer und ungerichteter die Interaktionen beschrieben werden, desto mehr wächst das Mysterium der scheinbaren Zielgerichtetheit, die daraus emergiert. Um echte, d.h. auf Dauer autonome Schwarm-Logiken zu konzipieren, muss das Modell sich also nicht nur im biologischen Sinne von jeglicher Einbindung in eine Reproduktionslogik lösen; darüber hinaus müsste auch die Faszination durch das »leere Zentrum« aus der Konzeption eliminiert werden. Für beides sind soziale Insekten schlicht nicht die geeigneten Tiere.
Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunder ts Lucas Marco Gisi
Prolog: Die Entdeckung der Biber-›Schwärme‹ »Je mehr Biber zusammenbauen, desto fester wird das Haus«, lautet ein bis heute bekanntes Sprichwort.1 Doch trotz seiner Wiederansiedlung begegnet man dem Biber in Mitteleuropa nur vergleichsweise selten und wenn, dann sichtet man meist nur einzelne Exemplare dieser friedlichen Spezies. Neuerdings berichten die Medien allerdings von einer »fast biblische[n] Heimsuchung«2 der Wälder Feuerlands durch Zehntausende von Kanadischen Bibern. Das Fehlen natürlicher Feinde führte offenbar zu einer explosionsartigen Vermehrung der von Siedlern importierten Biber, die nun die einzigartigen Wälder der Insel zu zerstören drohen. Die vollständige Ausrottung scheint das einzig taugliche Mittel gegen diese »beispiellose Biberplage« zu sein.3 Begegnet einem der Biber nun als harmloser Einzelgänger oder als bedrohlicher ›Schwarm‹? Die Geschichte des europäischen Bibers (Castor fiber) ist die Geschich1 | Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 5 Bde., Leipzig: Brockhaus 1867-1880, Bd. 1, Sp. 370. 2 | Philip Bethge: Invasion der Breitschwänze, in: Der Spiegel 32/2008, S. 121. 3 | Ebd., S. 121.
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te seiner Ausrottung. In der Neuzeit werden die Biberbestände in Mitteleuropa stark dezimiert, einerseits durch die Kultivierung der Landschaft, andererseits durch die Jagd, da das so genannte Bibergeil (Castoreum), ein Drüsensekret des Tiers, bis ins 19. Jahrhundert als Heilmittel verwendet wurde. 4 Im Rahmen seiner Politik der großflächigen Trockenlegung von Moorgebieten veranlasste Friedrich II. 1765 die Aufhebung jeglicher Biberschonung. Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Biber in Europa weitgehend ausgerottet. Im Gefolge der Besiedlung Nordamerikas und Kanadas im 17. Jahrhundert jedoch wird der kanadische Biber (Castor canadensis) ›entdeckt‹,5 und groß ist das Erstaunen der Europäer über dessen ungeheure Anzahl und seine mächtigen Bauten. In der Folge wird nicht bloß ein großer Teil Nordamerikas im 17. und 18. Jahrhundert vor allem wegen des Biberpelz-Handels erschlossen, sondern der Biber erlangt sehr schnell einen prominenten Platz in den gelehrten Diskursen der Zeit. Durch die überseeischen Berichte über die Merkwürdigkeiten der Bibergesellschaften wird der Biber zu einem politischen Tier des 18. Jahrhunderts. Im Fall des Bibers fallen dabei zwei Perspektiven auf Tierkollektive zusammen: die Spiegelung menschlichen Verhaltens und die Anthropomorphisierung von Tieren. Die Biber Nordamerikas bilden keine Schwärme im heutigen Sinn einer an Formationen sozialer Insekten modellierten informationstheoretischen Wissensfigur.6 Ebenso wenig verfügt das 18. Jahrhundert über entsprechende Konzepte. Gleichwohl äußern sich in den Versuchen zu erklären, warum sich einfache Handlungen ausführende Individuen im Kollektiv als intelligente Baumeister erweisen können, Ansätze eines ›Schwarmdenkens‹ avant la lettre, eines Bewusstseins für Emergenzphänomene. Denn »Emergenz braucht eine Population von Entitäten, eine Vielheit, ein Kollektiv, eine Masse – mehr«.7 Zudem gründen die Bewunderung für die Biberkollektive und die modernen Schwarm-Theorien auf derselben epistemischen Problemstellung, nämlich der Frage, »how to connect individual behavior with collective performance« bzw. wie aus Formen der Selbstor-
4 | Vgl. Gustav Hinze: Der Biber. Körperbau und Lebensweise. Verbreitung und Geschichte, Berlin: Akademie-Verlag, 1950, S. 7-36 und S. 178-190. 5 | Horace T. Martin: Castorologia or the History and Traditions of the Canadian Beaver, London, Montreal: Stanford, Drysdale & Co. 1892, S. 3. 6 | Vgl. den Beitrag von Sebastian Vehlken in diesem Band. 7 | Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim: Bollmann 1997, S. 36f.; zum Emergenzbegriff vgl. die Beiträge von Eva Horn und Urs Stäheli in diesem Band.
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ganisation eine Swarm-Intelligence emergiert.8 Bei den als Kollektive ohne Zentrum organisierten Ameisen ließ sich ein Prinzip einer Intelligenz feststellen, »that emerges from the bottom up«, ein Prinzip der Emergenz von Intelligenz, das sich gleichermaßen in den unterschiedlichsten komplexen selbstorganisierten Systemen wie Tierkollektiven, Gehirnen, Städten und lernfähigen Computern findet.9 Anhand der Biberkollektive lässt sich ein Nachdenken des 18. Jahrhunderts darüber rekonstruieren, wie aus individuellem Verhalten kollektive Performanz emergiert. Das Staunen über Emergenzphänomene, hier der kollektive Bau von Dämmen und Siedlungen, mündet in eine Reflexion über die zugrunde liegenden Prinzipien sozialer Kontrolle und Steuerung. Dabei werden Modelle hierarchischer, zentraler Steuerung zunehmend durch Modelle dezentrierter, nach Prinzipien der Selbstorganisation funktionierender Kollektive ersetzt. Eine Analyse der Repräsentationsformen des Bibers vermag somit einen Beitrag zur historischen Epistemologie des in den Sozialwissenschaften so bedeutsam gewordenen Emergenz-Paradigmas zu liefern.10 Aber bevor die Biber als Kollektiv die Kultur- und Wissensgeschichte bevölkern, erscheint der Biber als Exemplum bedingungsloser Selbstverteidigung in den antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tiergeschichten.
Ein listiger Selbst ver teidiger: Der Castor der Fabel In Griechenland und Italien früh ausgerottet, war der Biber den antiken Autoren wohl vor allem vom Hörensagen – etwa als »pontischer Hund« am Schwarzen Meer – bekannt.11 Herodot scheint der Erste zu sein, der davon spricht, dass es in einem See in den tiefen Wäldern und Sümpfen Skythiens (bzw. im heutigen Polen/Galizien) Biber gebe und dass deren 8 | Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford: Oxford University Press 1999, S. 6. 9 | Steven Johnson: Emergence. The connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software, London: Penguin Books 2001, S. 31f. 10 | Vgl. etwa R. Keith Sawyer: Social Emergence. Societies as Complex Systems, Cambridge: Cambridge University Press 2005. 11 | Vgl. den Art. Biber, in: Der Neue Pauly, URL: www.brillonline.nl; die Erwähnungen des Bibers in der Literatur von der Antike bis zur Renaissance sind zusammengestellt von Erminio Caprotti: Il castoro nella cultura occidentale dall’Antichità al Rinascimento, in: Investigations on Beavers 5 (1986), S. 75152.
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Hoden als Medizin zur Heilung von Unterleibskrankheiten von Frauen verwendet würden.12 Die Verwechslung des Castorbeutels, eines Paars von Drüsensäcken am Unterleib, dessen Sekret, das Bibergeil oder Castoreum, in der Medizin Anwendung fand, mit den Hoden bildet denn auch den Ausgangspunkt der Fabelbildung um den Biber. Äsop berichtet, der Biber wisse, dass er wegen seiner Geschlechtsteile, die eine heilende Wirkung haben sollen, verfolgt werde. Daher reiße er sich die Hoden ab, werfe sie dem Verfolger vor die Füße und rette so sein Leben. Daraus könne man lernen, dass es vernünftig sei, auf seinen Besitz zu verzichten, um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden.13 Auch in den Thiergeschichten des Claudius Aelianus werden die Selbstverteidigungsstrategien des Bibers beschrieben. Dieser beiße sich seine Hoden ab, denn er sei ein »kluger Mann«, der »seiner Rettung wegen« alles hinwerfe, was er mit sich führe.14 Er sei aber nicht nur zu drastischen Maßnahmen der Verteidigung seines Lebens bereit, sondern der Biber erweise sich hierin durchaus auch als listig. Falls er nach der Selbstkastration wieder gejagt werde, stelle er sich aufrecht hin und zeige damit dem Jäger, dass das Gesuchte nicht mehr zu finden sei. Zuweilen versuchten die Biber sogar, ihre Verfolger »mit großer Klugheit und List« auszutricksen, indem sie nur vorgeben, keine Hoden mehr zu haben.15 Die Fabel von der Selbstkastration des Bibers findet bei Apuleius, Cicero und Juvenal16 Erwähnung und wird über den Physiologus ins christliche Mittelalter überliefert,17 durch Servius und Isidor zusätzlich durch die Etymologie (castor a castrando) gestützt.18 Im Physiologus erscheint die Selbstkastration des Bibers als Mahnung an den Christen. Dieser solle sich alle
12 | Herodot: Geschichten und Geschichte, übers. v. Walter Marg, 2 Bde., Zürich, München: Artemis, 1973-1983, Bd. 1, Buch IV, 109, S. 358f. 13 | Äsop: Fabeln, übers. u. hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf, Zürich: Artemis und Winkler 2004, Nr. 118, S. 71. 14 | Claudius Aelianus: Werke, 3 Bde., Stuttgart: Metzler 1839-1841, Bd. 2, 6. Buch, 34, S. 639f. 15 | Ebd. 16 | Juvenal: Satiren. Lateinisch-deutsch, übers. u. hg. v. Joachim Adamietz, München, Zürich: Artemis und Winkler 1993, XII, 34-36, S. 248f. 17 | Caprotti: Il castoro, S. 85; Meinolf Schumacher: Der Biber – ein Asket? Zu einem metaphorischen Motiv aus Fabel und Physiologus, in: Euphorion 86 (1992), S. 347-353. 18 | Art. Biber, in: Der Neue Pauly; Schumacher: Der Biber – ein Asket?, S. 348.
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Laster ausreißen und sie dem Jäger, der für den Teufel stehe, hinwerfen, um seine Seele zu retten.19 In Burchard Waldis’ Esopus lautet die Lehre, die sich aus der Fabel des verfolgten Bibers, der sich selbst kastriert, ziehen lasse, folgendermaßen: »Auff das du retten mögst das leben,/Soltest ein Königreich auffgeben«.20 Auch in der frühneuzeitlichen Emblematik steht der Biber für die bedingungslose Opferbereitschaft zur Verteidigung des eigenen Lebens. Die pictura zeigt den von Hunden gejagten Biber, der sich selbst seiner Hoden entledigt; an ihm könne man sich, so die subscriptio, ein »Beyspiel« nehmen, »Das du zu erretten dein lebn/Vor deinem Feind kein Gut noch Gelt/ Erkargen noch ersparen sölt«.21 In den verschiedenen Fassungen des Reineke Fuchs zeichnet sich der Biber vor allem durch seine Klugheit aus; bei Goethe hat er wegen seiner guten Fremdsprachenkenntnisse das Amt des »Notarius« und »Schreiber[s]« des Königs inne.22 So erscheint der Biber in den verschiedenen Ausprägungsformen der Fabel seiner Selbstkastration als Individuum, das sein Leben (oder in christlicher Umdeutung: seine Seele) mal mit vernünftiger Vorbehaltlosigkeit, mal mit kluger List verteidigt. Allerdings lässt Lessing in seiner Abhandlung Von dem Wesen der Fabel gerade die Geschichte des sich selbst kastrierenden Bibers nicht als Fabel gelten, da diese Form der Selbstverteidigung nicht die List eines Individuums, sondern das Verhalten der ganzen Gattung darstelle.23 Etwas weniger Zuspruch finden diese Fabeln in naturkundlichen Werken. Die Selbstkastration des Bibers wird bereits von Plinius d. Ä. bestritten, da sich das Tier durch diese selbst töten würde;24 ähnlich skeptisch argumentieren Albertus Magnus (De animalibus) und Olaus Magnus (Historia de gentibus septentrionalibus) in ihren Beschreibungen des Bibers.25 In19 | Physiologus. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 2001, S. 39f. 20 | Burkhard Waldis: Esopus, hg. v. Heinrich Kurz, 2 Bde., Leipzig: J.J. Weber 1862, Bd. 1, 3. Buch, 34. Fabel, S. 322. 21 | Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1967, Bd. 1, Sp. 460f. 22 | Johann Wolfgang von Goethe: Reineke Fuchs, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, München: Beck 1981, Bd. 2, S. 285-436, 6. Gesang, S. 353. 23 | Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997, Bd. 4: Werke 1758-1759, S. 370f. 24 | Gaius Plinius Secundus: Naturkunde, übers. u. hg. v. Roderich König, München: Artemis und Winkler 1995, Buch 32, 26, S. 28-31. 25 | Vgl. Albertus Magnus zit. in: Caprotti: Il castoro, S. 95f.; Olaus Magnus: Historïen, der mittnächtigen Länder […], Basel: Henricpetri 1567, S. 478; vgl.
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des berichtet noch Konrad Gessner in seinem Thierbuch von der Selbstkastration als Verteidigungsmaßnahme in verschiedenen Versionen. Zugleich erscheint der Biber bei ihm als ein »arglistig vnd witzig thier«, das auch Fremde oder Alte zu Sklavenarbeit zwinge26 – eine Annahme, die noch die Beschreibungen des kanadischen Bibers des 17. und 18. Jahrhunderts durchziehen wird. Fabel und Naturkunde stimmen aber insofern überein, als der Biber immer als Individuum beschrieben wird – ein Modus, der auch die bildlichen Darstellungen des Bibers bestimmt (Abbildung 1).
Abbildung 1: Konrad Gessner: Thierbuch. Das ist ein kurtze bschreybung aller vierfüssigen Thieren, so auff der erden vnd in wassern wonend […], übers. v. Konrad Forrer, Zürich: Froschauer, 1563, S. XXIIr. Als eine ganz andere, nunmehr nämlich politische Gestalt tritt der Biber in den Neuen Fabeln von Houdar de La Motte auf. So steht am Anfang der Fabel Der Bieber und der Ochs: »Die Bieber Republik, die in der neuen Welt,/ Und zwar in Canada die meiste Hofstatt hält,/Will ihre Freyheit nicht vergeben,/Und ohne Zwang und Herrschaft leben«.27 Der Ochse beschuldigt den Biber der Grobheit, da er den Umgang mit dem Menschen scheue und sich von diesem nicht belehren lasse. Zwar seien die Bauten des Bibers durchaus bemerkenswert, aber – fragt der Ochse – wozu dienten diese Hervorbringungen, wenn sich der Biber nicht zivilisieren (civiliser) lasse. François-Marc Gagnon: Images du castor canadien. XVIe-XVIIIe siècles, Sillery/ Québec: Septentrion, S. 35-64. 26 | Konrad Gessner: Thierbuch. Das ist ein kurtze bschreybung aller vierfüssigen Thieren, so auff der erden vnd in wassern wonend […], übers. v. Konrad Forrer, Zürich: Froschauer 1563, S. XXIIv–XXIIIr. 27 | Antoine Houdar de La Motte: Neue Fabeln, übers. v. Christian Gottlieb Glafey, Frankfurt, Leipzig: Gottlieb Siegert 1736, S. 159-161. Im franz. Original heißt es lediglich: »Nos Seigneurs les Castors tenant le Canada,/Se piquent d’être un Peuple libre«. (Antoine Houdar de La Motte: Fables Nouvelles, dediées au Roy, 2 Bde., 4. Aufl., Amsterdam: Wetstein & Smith 1727, Bd. 1, S. 172-174, hier: S. 172.)
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Darauf antwortet dieser: »Apprends que c’est sagesse,/Dit le Républicain. Comment sans cette adresse,/Pourrions-nous vivre indépendans?«28 Denn andernfalls wäre man längst zum Sklaven gemacht worden, der für die Menschen bauen muss. Zwei Dinge finden sich bei Houdar de La Motte, die dem älteren Fabelwesen fehlen: Der Biber ist nicht mehr ein Einzelkämpfer, sondern ein geselliges Wesen, und er verteidigt nicht mehr bloß sein nacktes Leben, sondern bemüht sich, seine republikanische Freiheit zu erhalten. Was ist passiert?
Monarchien oder Republiken: Die Bibergesellschaf ten in den Berichten der Amerikareisenden Am 28. September 1786 erblickte Goethe, wie er in der Italienischen Reise berichtet, erstmals die Stadt Venedig und sollte »bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen«.29 Zwar steht Venedig in der Zeit für den Inbegriff einer Stadtrepublik und als Stadt auf Pfählen auf dem Programm jedes Italienreisenden. Aber dass der Biber das tertium comparationis für Staatsform und Bauweise bildet, mag aus heutiger Sicht erstaunen. Indes spiegelt dieser Blick auf den Biber noch das Erstaunen der europäischen Kolonisatoren Nordamerikas und Kanadas, als diese im 17. Jahrhundert den Biber ›wiederentdeckten‹, und zwar gleich in ›Kolonien‹ von mehreren hundert Exemplaren. Die Bewunderung über die Biberrepubliken durchzieht die Reiseberichte über Nordamerika und Kanada des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts.30 In einzelnen Berichten scheint auch die zentrale Stellung des Bibers als Totemtier in der Mythologie der amerikanischen Eingeborenen durch. Nach Gordon Sayre repräsentieren die ›edlen Biber‹ der Reiseberichte als Gegenfigur zum ›edlen Wilden‹ aber vor allem das Modell einer Idealkolonie von ordentlichen und arbeitsamen Kolonisten.31 Insofern kam dem Biber in Kanada bei der Ausbildung einer nationalen Identität eine wichtige ideologische Funktion zu.32 28 | La Motte: Fables Nouvelles, S. 174. 29 | Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, in: ders., Werke, Bd. 11, S. 7-349, hier: S. 64. 30 | Gagnon: Images du castor, S. 65-114. 31 | Vgl. Gordon Sayre: The Beaver as Native and as Colonist, in: Canadian Review of Comparative Literature/Revue Canadienne de Littérature Comparée 22 (1995), S. 659-682. 32 | Vgl. Margot Francis: The Strange Career of the Canadian Beaver: An-
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Tritt der Biber in der Fabel und der frühneuzeitlichen Naturgeschichte als Individuum auf, so erscheint er seit dem späten 17. Jahrhundert als Kollektiv.33 Der ausführliche Eintrag zum Biber in Zedlers Universal-Lexicon markiert – durch den unkommentierten Auszug aus zwei unterschiedlichen Quellen – genau diesen Übergang von der Betrachtung des Bibers als Individuum zu der Betrachtung als Kollektiv; denn im gleichen Artikel steht einerseits, dass der Biber »selten Hauffen-weise« anzutreffen sei, andererseits, dass die Biber in Kanada »gleichsam eine Republic« bilden.34 Parallel zum Perspektivenwechsel vom europäischen zum kanadischen Biber, vom Individuum zum Kollektiv, verschiebt sich das ökonomische und venatorische Interesse vom Castoreum auf den Biberpelz.35 In den Reiseberichten über Kanada des 17. Jahrhunderts fi nden sich verschiedentlich Beschreibungen des Bibers, wobei die Bewunderung vor allem dem ›kunstreichen‹ Bau von enormen Dämmen und Behausungen gilt. Offenbar der Erste, der nach der ökonomischen und politischen Organisation dieser Bibergesellschaften fragt, war der als Soldat und Siedler in Neu-Frankreich tätige Nicolas Denys in seiner 1672 erschienenen Description géographique et historique des costes de l’Amérique septentrionale. Nicht das Fleisch oder der Pelz sind nach Denys das Bemerkenswerteste am Biber, sondern seine »laborious and orderly nature« und seine »industry and obedience in work«.36 Erstaunlich ist aber nicht so sehr der Fleiß des einzelnen Bibers – wiewohl dieser innerhalb des Tierreichs unvergleichlich sei –, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Bauten der Biber Gemeinschaftsarbeiten sind. So würden sich laut Denys meist im Sommer oder Herbst »as many as two, three, or four hundred Beavers, and more« versammeln (363), um nach einem festen Zeitplan und bei strikter Arbeitsteilung ihre Dämme zu bauen. Die Maurer bereiten die Fundamente vor, die Zimmerleute schneiden Bäume und Äste zu, die Bergleute fördern Erde, die ›Belader‹ beschweren die Träger mit Holz und Erde: »Each does his thropomorphic Discourses and Imperial History, in: Journal of Historical Sociology 17 (2004), S. 209-239. 33 | Vgl. Gagnon: Images du castor, S. 67-76. Einen ähnlichen Wechsel vom Singular zum Plural konstatiert Niels Werber auch im Fall der Ameise; vgl. den Beitrag in diesem Band. 34 | Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […], 64 u. 4 Suppl.-Bde., Halle, Leipzig: Zedler 1732-1754, Bd. 3, Sp. 1717-1730, hier: Sp. 1728 und Sp. 1726. 35 | Vgl. Gagnon: Images du castor, S. 15-33. 36 | Nicolas Denys: The Description and Natural History of the Coasts of North America (Acadia), übers. u. hg. v. William F. Ganong, Toronto: Champlain Society 1908, S. 363. Seitenangaben im Folgenden im Text.
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duty without meddling with anything else.« (364) Die Organisation dieses arbeitsteiligen Prozesses erfolgt durch einen Kommandanten der jeweiligen Berufsgruppe (»[e]ach set of workmen at a task has a commandant«), der die Arbeiter anleitet, überwacht und wenn nötig auch bestraft (364f.). Diese Kommandanten sind aber nur die Zwischenbefehlshaber innerhalb dieser hierarchisch strukturierten Arbeitskolonne. An deren Spitze steht der Architekt, denn: To place all these workmen at their business, and to make them do their work well, there is need of an architect and commanders. Those are the old ones which have worked at it formerly. According to number there are eight to ten commanders, who nevertheless are all under one, who gives the orders. It is this architect who goes often to the atelier of one, often to that of the other, and is always in action. (364)
Es ist also eine Art Monarchie, die Denys hier entwirft. Die Metapher des Staatsgebäudes impliziert einen seit der Antike bekannten und v.a. seit dem 17. Jahrhundert verbreiteten Vergleich zwischen Baumeister und Herrscher (wobei dieser von Gott, dem höchsten Baumeister, eingesetzt wird). Die Arbeitsteilung auf der Baustelle wird in der politischen Metapher zur Notwendigkeit einer funktionalen Differenzierung innerhalb des Staates, die selbst wiederum eine hierarchische Ordnung begründet.37 Nach der Errichtung der Gemeinschaftsbauten – und hierin stimmen alle nachfolgenden Berichte überein – bauen kleinere Gruppen von Bibern ihre Einzelhäuser, in denen jede Familie ihre Wohnungen und Vorratskammern für den Winter einrichtet.38 Im Herbst wenden sich die monogamen Biber dem Familienleben zu, um sich dann im Frühjahr und Sommer wieder zu einem Arbeitskollektiv zu vereinigen. Es handelt sich offensichtlich um eine aus natürlicher Notwendigkeit und nicht durch Zwang erfolgende Vereinigung und Auflösung des Gesellschaftsverbandes. Denys’ Beschreibung einer streng hierarchisch organisierten Arbeitsgemeinschaft wird in der Folge von anderen Reiseschriftstellern mit einer politischen Metaphorik aufgeladen. Die Bibergesellschaft wird zum Abbild bzw. Vorbild unterschiedlichster gesellschaftlicher und staatlicher Organisationsformen. Der Historiker Robert Beverly zeigt sich in seiner History and Present State of Virginia (1705) insbesondere von der Diszipliniertheit (discipline) der Bibergesellschaften fasziniert. Diese lebten in einer »espece 37 | Vgl. Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1983, S. 676-695. 38 | Denys: The Description and Natural History, S. 366-368.
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de Monarchie« und mit einem »Sur-Intendant«, der die einzelnen Arbeiten anordne und überwache.39 Letzteren würden die Indianer »Pericu« nennen, was darauf hindeutet, dass Beverly seine Informationen von den Indigenen bezogen hat. Die Biber entwichen den Jägern durch ihre beeindruckende Weisheit und Gewandtheit, so dass sie trotz ihrer großen Zahl kaum gefangen werden könnten. 40 Hierin weicht Beverly stark von allen anderen Berichten über den kanadischen Biber ab, in denen die Biberjagd immer viel Platz einnimmt und in denen immer wieder betont wird, wie einfach sich der Biber fangen lasse. Für Bacqueville de la Potherie hingegen bilden die Bibergesellschaften eher eine ideale patriarchale Ordnung, denn anhand der Baukunst der Biber erkenne man »l’autorité d’un maître absolu, le veritable caractere d’un Pere de famille, & le genie d’un habile Architecte«. 41 Der Biberpatriarch ist somit nicht nur der ideale Herrscher, sondern er wird gleichsam zum Sinnbild für das Verhältnis Gottes zu den Menschen. Die Meinung, dass die Biber wie die Bienen »einen König oder ein Oberhaupt, welches ihnen befiehlt«, haben, findet sich in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts immer wieder. 42 Doch schon sehr bald wird aus der streng hierarchischen Bibermonarchie eine ideale Biberrepublik. In seinen Mémoires de l’Amérique septentrionale (1703) äußert auch der französische Abenteurer Baron de Lahontan seine Bewunderung für die Kunstfertigkeit der Biber beim Bau ihrer Bauten, die sich nicht auf einen Instinkt zurückführen lasse. 43 Er ist überzeugt, dass die Biber eine Gesellschaft bilden und untereinander kommunizieren: »Je commencerai par vous assurer que ces Animaux font ensemble une société de cent, qu’ils semblent se parler, & raisonner les uns avec les autres par de certains tons plaintifs non articulez.« (699) Die ›Wilden‹ hätten sogar behauptet, die Biber sprächen einen »jargon intelligible« und hielten Versammlungen (assemblées) ab, um sich über die zur Erhaltung der Republik notwendigen Arbeiten zu konsultieren. Lahontan gesteht zwar, dass er nie eine solche Versammlung gesehen habe, betont aber die Glaubwürdigkeit seiner 39 | [Robert Beverly:] Histoire de la Virginie […]. Par un Auteur natif & habitant du Païs. Traduite de l’Anglois, Amsterdam: Thomas Lombrail 1707, S. 419. 40 | Ebd., S. 420. 41 | Claude-Charles Bacqueville de la Potherie: Histoire de l’Amérique septentrionale, 4 Bde., Paris: Nion, Didot 1722, Bd. 1, S. 132f. 42 | Johann Joachim Schwabe (Hg.): Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande; oder Sammlung aller Reisebeschreibungen […], 21 Bde., Leipzig: Arkstee und Merkus 1747-1774, Bd. 17, S. 227. 43 | Vgl. Louis-Armand de Lom d’Arce de Lahontan: Œuvres complètes. Édition critique, hg. v. Réal Quellet, 2 Bde., Montréal: Les Presses de l’Université de Montréal 1990, Bd. 1, S. 697-701. Seitenangaben im Folgenden im Text.
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Informanten (699). Aus der Monarchie ist eine »petite République« (701) geworden, die gewisse demokratische Instrumente kennt. In dem 1738 erschienenen Bericht seiner abenteuerlichen Reise beschreibt der von seinem Vater nach Nordamerika verbannte Claude Le Beau ein Biberkollektiv beim Bau eines Damms. Mehr als hundert Biber arbeiteten zusammen und zwar bei strenger Arbeitsaufteilung, die von »Aufseher[n]« und »Antreiber[n]« überwacht werde. 44 Außerdem habe Le Beau »selbst gesehen«, wie »Schildwachen« die Arbeitenden vor herannahenden Tieren oder Menschen warnten. (167). Beim Bau ihrer »Häuschen […] in Gestalt eines Ofens oder großen Bienenkorbs« zeigten die Biber eine unglaubliche Geschicklichkeit, deren Ursache ein die Vorstellungskraft übersteigender »Trieb« sein müsse (168). Le Beau vergleicht nicht nur die Arbeitsweise und die Bauwerke der Biber mit denen der Menschen, sondern gibt einen weiteren Nutzen für den Menschen zu bedenken. In Holland könnten Biber den Bau der so notwendigen Deiche übernehmen, was Mühe und Kosten sparen würde. Schließlich hätten die Biber wie die Holländer ihre »Dyk-Meysters«, die die Dämme kontrollierten (169). Entscheidungen würden in Biberrepubliken demokratisch und zugunsten des Gemeinwohls getroffen, so wollen es zwei Huronen Le Beau erklärt haben: Meine Wilden haben mir versichert, daß sie [sc. die Biber] sich zu dem Ende [sc. die Ausbesserung der Deiche, L.M.G.] versammelten, auch über die Mittel, wie alle Dinge, welche zum gemeinen Besten ihrer kleinen Republik nötig wären, zusammenbringen und sorgfältig verwahren könnten, Unterredungen anstelleten und durch ein gewisses verständliches Geschrei ihre Meinungen und Gedanken einander zu verstehen gäben. (169)
Zwar gibt Le Beau wie schon der Baron de Lahontan zu, selbst keine »dergleichen Versammlungen« gesehen zu haben, aber während seiner Beobachtung scheint es ihm, als würden die Biber miteinander reden (169f.). Seine Bibergesellschaft ist somit gekennzeichnet durch drei wesentliche Merkmale von Schwärmen: Kollektivität, Konnektivität und Kommunikation. 45 Der Jesuiten-Missionar Pierre François Xavier de Charlevoix zeichnet in seinem 1744 publizierten Tagebuch seines Aufenthalts in Nordamerika Anfang der 1720er Jahre ein etwas anderes Bild der Bibergesellschaft. Der 44 | Claude Le Beau: Seltsame und neue Reise zu den Wilden von Nordamerika, hg. v. Lothar Dräger, übers. v. Johann Bernhard Nack, Leipzig, Weimar: Kiepenheuer 1986, S. 166f. Seitenangaben im Folgenden im Text. 45 | Vgl. Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 47-57.
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Biber eigne sich wegen seiner Voraussicht, seines Fleißes, seiner Kooperation und Subordination als Vorbild für den Menschen: sogar noch besser als die in der Bibel den Faulen entgegengehaltene Ameise und unter den Vierfüßlern mindestens so gut wie die Biene unter den Insekten. 46 Charlevoix berichtet, wie sich die Biber zu Gesellschaften von drei- bis vierhundert Exemplaren versammelten und einen Ort (Bourgade) erbauten, den man »une petite Venise« nennen könne (100). Interessanterweise erscheinen die Angaben über Arbeitsteilung und Staatsbildung, sprachliche Kommunikation und Kontrolle, von denen die anderen Reiseschriftsteller berichten, hier als ältere Annahmen der Eingeborenen: Les Sauvages étoient autrefois persuadés, si on en croit quelques Relations, que les Castors étoient une espece d’Animal raisonnable, qui avoit ses Loix, son Gouvernement, & son Langage particulier: que ce Peuple Amphibie se choisissoit des Commandans, qui dans les travaux communs distribuoient à chacun sa tâche, posoient des Sentinelles, pour crier à l’approche de l’Ennemi, punissoient, ou exiloient les Paresseux. (103)
Charlevoix hält diese (wohl über Lahontan vermittelten) Angaben für keiner Widerlegung wert, da sie auf der – seinem Glauben widersprechenden – Annahme vernünftiger Tiere basieren. Aber ebenso deutlich und ohne weitere Begründung legt er seine eigene Sichtweise der Organisation der Bibergesellschaften dar: Je n’ai pas oui dire à Gens instruits qu’ils [sc. les Castors] ayent un Roi, ou une Reine, & il n’est pas vrai que, quand ils travaillent en Troupe, il y ait un Chef, qui commande; & punit les Paresseux: mais par la vertu de cet instinct, que donne aux Animaux celui, dont la Providence les gouverne, chacun sçait ce qu’il doit faire, & tout se fait sans confusion, sans embarras, avec un ordre, qu’on ne se lasse point d’admirer. (100)
Im Unterschied zu den zeitgenössischen Theorien über die Bienen handelt es sich also bei den Bibern um Kollektive, die keine hierarchischen Strukturen kennen. Charlevoix enthält sich im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren des 18. Jahrhunderts einer politischen Metaphorik und fragt lediglich, ob man im Fall der Biber überhaupt von »Tribus« oder »Sociétés« sprechen könne (100). Die bewundernswürdigen Bauten, welche die Biber errichteten, 46 | Vgl. Pierre François Xavier de Charlevoix: Histoire et description generale de la Nouvelle France, avec le journal historique d’un Voyage fait par ordre du Roi dans l’Amérique Septentrionnale, 3 Bde., Paris: Rollin Fils 1744, Bd. 3, S. 94f. und S. 100. Seitenangaben im Folgenden im Text.
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seien nicht ein Beleg für die Intelligenz dieser Tiere, sondern vielmehr für die Weisheit und Macht Gottes, der den Tieren genau die Instinkte gab, derer sie bedurften. Der Biber wird damit zum Exempel dafür, dass Gott die Tiere gewissermaßen als (cartesianische) Automaten für das Überleben innerhalb eines harmonisch geordneten Systems ›eingerichtet‹ hat. Die Verschiebung vom Individuum zum Kollektiv lässt sich auch in der Ikonographie des Bibers nachvollziehen. So stellt Nicolas Guérard in einer Vignette in Nicolas de Fers Amerika-Karte von 1698 den arbeitsteiligen Bau eines Damms, wie ihn etwa Denys beschrieben hatte, mit den Niagarafällen als Hintergrund dar. 47 Der »Commandant ou Architecte« allerdings steht weder im Zentrum des Stiches noch trägt er spezielle Attribute und lässt sich somit lediglich über die Legende identifizieren, die die Aufgaben und Arbeiten der einzelnen Biber vermerkt. 48 Guérards Darstellung wurde in der Folge verschiedentlich nachgestochen, etwa für die Amerika-Karte von Hermann Moll (Abbildung 2), wo allerdings die Erklärung des arbeitsteiligen Prozesses mittels Indizierung und Legende weggefallen ist. Während in den frühen Beschreibungen der Bibergesellschaften deutlich ein Herrschaftszentrum bezeichnet wird, erscheint dieses in Guérards Ikonographie des Biberkollektivs bereits als variabel besetzbare Leerstelle. Dieses Verschwinden des Zentrums der Biberrepubliken lässt sich anhand der
Abbildung 2: Herman Moll: A New and Exact Map of the Dominions of the King of Great Britain on the Continent of North America, 1715 [Ausschnitt], Zentralbibliothek Zürich, Kartensammlung. 47 | Abgebildet in Gagnon: Images du castor, S. 80f. 48 | Ebd., S. 79-89, hier: S. 84.
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Verarbeitung der Reiseberichte in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts nachvollziehen.
Individueller Instink t oder kollek tive Intelligenz: Der Biber in der Naturgeschichte Die Berichte über den kanadischen Biber entfalteten in den naturgeschichtlichen und philosophischen Diskursen der Aufklärung große Wirkung: Zum einen wird verhandelt, ob die erstaunlichen ›gemeinschaftlichen Werke‹ der Biber auf Instinkt oder Intelligenz zurückzuführen seien (Bonnet, Buffon); zum anderen wird nach Erklärungen für die Vergesellschaftung und das kollektive Handeln der Biber durch den Vergleich mit dem Menschen gesucht (Raynal, Monboddo, Smellie). Auch der Schweizer Naturforscher Charles Bonnet bewundert die Gesellschaft der Biber, die sich – beseelt von »einerley Triebe« – zu »einem gemeinschaftlichen Endzwecke, zur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft«, vereinigten. 49 Die Bauten der Biber ließen auf eine »Nation sehr geschickter Wilden« schließen, und unter den »gesellschaftlichen Thieren« komme keines der »menschlichen Einsicht« so nahe wie der Biber, so dass man »die Geschichte der Biber für die Geschichte einer Art von Menschen halten« könne (315). Weil die Biber ihre Tätigkeiten umsichtig planen und genau ausführen, könnte man in ihnen gleichsam eine »Schule von Ingenieurs« vermuten (315). Aber obwohl die Bauweise der Biber derjenigen der Menschen ähnlich sei, bestehe ein prinzipieller Unterschied: »der Biberwitz verbindet und verbessert niemals«, der Biber kennt weder kulturelle Entwicklung und Perfektibilität noch muss er seine Fähigkeiten erlernen (320, 322). Letztlich gesteht aber Bonnet ein, dass der Biber für die »Philosophen« immer ein »unauflösliches Räthsel« darstellen werde, denn sie haben »eine Art von Einsicht, welche sie zwischen den Menschen und die anderen Thiere zu setzen scheint« (321). Die einzige Lösung, mutmaßt er, liege in einer Modifizierung der cartesianischen Annahme von »angeborenen Begriffen«, nämlich dass »angeborene Fibern« im Gehirn bei spezifischer sinnlicher Reizung automatisierte (und nicht erlernte) Handlungsabläufe aktivierten (322). Damit lasse sich auch erklären, warum der vereinzelte Biber seinen ›Kunstsinn‹ verliert: die »organische Einrichtung« des Bibers sei dergestalt, dass dieser ›Kunstsinn‹ nur im vergesellschafteten Zustand 49 | Charles Bonnet: Betrachtung über die Natur, hg. v. Johann Daniel Titius, 4. Aufl., Leipzig: Junius 1783 [zuerst 1764], S. 315. Seitenangaben im Folgenden im Text.
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wirksam wird (324f.). Bonnet bestreitet also die Intelligenz der Biber und versucht, deren scheinbar intelligente Bauweise auf einen in der physiologischen Organisation des Tieres gründenden Instinkt zurückzuführen. In Buffons Naturgeschichte findet sich die vielleicht wirkmächtigste Beschreibung des Bibers. Den Ausgangspunkt bildet eine Entgegensetzung von Mensch und Tier, in der der Biber eine seltsame Mittelposition einnimmt. Während sich der Mensch über den Naturzustand erhoben habe, seien die Tiere durch den Menschen unter diesen Zustand erniedrigt und ›entartet‹ worden, indem ihre natürlichen Eigenschaften und ihre gesellschaftliche Verbindung gewaltsam unterdrückt worden seien.50 Beispiele von Tieren, die in Freiheit ihr »natürliches Talent« äußern und eine »daurende Gesellschaft« bilden können, finde man indessen nur noch in »entfernten und wüsten Gegenden«, und vielleicht sei der Biber in der Neuen Welt »das einzige Beyspiel« dafür, gleichsam ein »altes Denkmaal von diesem Einverständnisse unter den Thieren« (162). Buffons Beschreibung ist durch die Entgegensetzung von vereinzeltem europäischem Biber (dem Castor terrier) und vergesellschaftetem kanadischem Biber bestimmt (164, 169f., 171). Als Individuum sei der Biber durch seine besondere äußere Gestalt eher benachteiligt und auch seine »inneren Fähigkeiten« seien im Vergleich zu anderen Tieren eher mangelhaft ausgebildet. Er sei nicht einmal in der Lage, sich selbst zu verteidigen, sondern ergreife bestenfalls die Flucht: »Wenn er allein ist, hat er wenig Klugheit und Fähigkeit, noch weniger List, ja nicht einmal Mistrauen genug, um deutlichen Nachstellungen zu entgehen.« (165) Als Individuum ein Mängelwesen, sei seine scheinbar ›intelligente‹ Bau- und Arbeitsweise das Resultat der gesellschaftlichen Vereinigung. Die Biber bildeten eine »Art Republik«, deren »Einigkeit« auf der Arbeit im Kollektiv beruhe: Wenn man also aufs wenigste rechnet, so kann man doch sagen, daß ihre Gesellschaft aus hundert und funfzig, oder zweyhundert Arbeitern besteht, welche insgesammt zu Anfange vereint gearbeitet haben, um das große gemeine Werk auszuführen, und nachher in kleineren Gesellschaften, um die besonderen Wohnungen auszubauen. So zahlreich auch die Gesellschaft ist, so erhält sich doch der Friede ungestört bey ihnen. (168)
Das Besondere am Biber ist also nicht nur seine Vergesellschaftung, sondern, dass er eine veränderliche soziale Organisation kennt, die sich ganz 50 | Vgl. Georges Louis Leclerc de Buffon: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt […], Hamburg, Leipzig: Grund, Holle 1750–, 4. Teil, 2. Bd., S. 162-191, hier: S. 161. Seitenangaben im Folgenden im Text.
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nach den Erfordernissen ökonomischer Effizienz richtet. Was die Ordnung der Bibergesellschaften angeht, so zeigt sich Buffon einerseits skeptisch gegenüber gewissen »Fabeln« und unwahrscheinlichen Berichten, etwa, dass die Biber »allgemeine Begriffe von einer gewissen Policey und Regierung« hätten, sich als »Republikaner« in »Rathsversammlungen« in ungerader Zahl versammelten, um eindeutige Entscheidungen zu fällen, die Gesellschaft einen »Präsidenten« und jeder »Stamm« einen »Intendanten« habe, dass sie fremde und alte Biber versklavten und »öffentliche Schildwachten« einsetzten (170). Andererseits seien die wunderbaren Arbeiten der Biber durch mehrere Berichte von Reisenden und Missionaren beglaubigt und zudem anhand der noch existierenden Biberbauten überprüf bar (171). Allerdings werde die fortschreitende Zerstörung der Freiräume des Bibers durch den Menschen dazu führen, dass man in einigen Jahrhunderten die Berichte über die gegenwärtigen nordamerikanischen Bibergesellschaften für »Erdichtungen« halten werde.51 Die »Art von Republik«, die der Biber errichtet, nimmt Buffon zum Anlass, allgemeine Überlegungen zur Vergesellschaftung anzubringen, indem er sie mit derjenigen der Menschen und der Bienen vergleicht. Obwohl die Gesellschaften der Biber denen der Menschen »unendlich weit« nachstehen, setzen sie gemeinsame, d.h. aufs Kollektiv bezogene Absichten und irgendeine Form von Kommunikation voraus, und seien insofern den letzteren ähnlich.52 Buffon unterscheidet drei »Arten« von Gesellschaften, die »freye Gesellschaft« der Menschen, die »eingeschränkte Gesellschaft« einzelner Tiere und die »gezwungene Gesellschaft« kleiner Tiere bzw. der Insekten (163). Als allgemeines Prinzip gilt für alle Arten, dass erst Gesellschaften ›Kunstprodukte‹ hervorbringen können, da das auf die Sinneswahrnehmung beschränkte Individuum dazu nicht in der Lage ist. Die Unterschiede zwischen den drei Gesellschaftsformen ergeben sich aus der Modalität des Zusammenschlusses. Die dritte Art, etwa die Gesellschaft der Bienen, beruht lediglich auf durch die Gesetze der Anziehung und Abstoßung entstandene uniforme Bewegungen, »die ein Werk zur Folge haben, welches das Ansehen hat, als wäre es mit Absicht und Verstande entworfen, fort- und ausgeführt« (163). Eine solche durch den »Zwang der Natur«, d.h. rein mechanisch vereinte Menge, regiert eine »blinde Gewalt«, im Gegensatz zu der auf einer »gewisse[n] Wahl« beruhenden Gesellschaft der zweiten Art. Zu der letzteren zählt die Gesellschaft der Biber, die auf einem Minimum an Konsens und Kooperation basiert.53 Die Vergesellschaftung des Menschen schließlich ist für Buffon ein 51 | Ebd., 3. Teil, 2. Bd., S. 37. 52 | Ebd., 4. Teil, 2. Bd., S. 162f. 53 | Buffons Annahme, dass sich die Biber nicht aus Notwendigkeit, son-
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Akt des Verstandes. Auch wenn also die Vergesellschaftung der Biber und der Menschen prinzipiell verschiedene Ursachen haben, lasse sich doch eine Ähnlichkeit ihrer ›Kulturprodukte‹ feststellen: die Arbeits- und Bauweise der Biber gleiche »den Unternehmungen einer zuerst entstehenden Gesellschaft unter den wilden Menschen« (163f.).54 Seinen Vergleich zwischen dem »Menschen in Gesellschaft« und dem »Thiere in der Heerde« vertieft Buffon in seiner Abhandlung von der Natur der Thiere. Gemäß der genannten Dreiteilung setzt die menschliche Gesellschaft ein Vernunftvermögen, die Gesellschaft geselliger Tiere ein Empfindungsvermögen und die Gesellschaft von Insekten kein besonderes Erkenntnisvermögen voraus.55 Insofern sind Bienenschwärme nicht das Resultat von Intelligenz, sondern lediglich einer zur Anzahl der Individuen im Verhältnis stehenden Bewegung. Denn diese beständige »Unordnung« erscheine wie eine harmonische Ordnung und verleite zum Kurzschluss auf eine verursachende Intelligenz (43). Auch in der zweiten Art ist die Vereinigung nur scheinbar die Folge eines freien Willens, denn letzterer kommt nur dem Menschen zu. Buffon gibt nun für die ohne Vernunftvermögen erfolgende Gesellschaftsbildung von Tieren eine äußerst aufschlussreiche Erklärung, die sich von den rein mechanischen Bewegungen (der ersten Art von Gesellschaft) bis auf die durch Empfindung gelenkten Bewegungen (der zweiten Art von Gesellschaft) erstreckt. Im Rückgriff auf die cartesianische Auffassung der Tiere als Automaten formuliert Buffons Modell damit wesentliche Elemente einer Schwarm-Logik avant la lettre: Man versammle an einen Ort zehn tausend mit einer lebendigen Kraft beseelte Automata, die alle durch eine völlige Aehnlichkeit in ihrer innern und äußern Gestalt, und durch die Gleichförmigkeit ihrer Bewegungen, an diesem gemeinschaftlichen Orte einerley zu thun bestimmt werden, so entsteht daraus unfehlbar ein reguläres Werk, in welchem sich die Verhältnisse der Gleichheit, dern aus freier Wahl zusammenschließen, bezeichnet Reimarus in seiner Trieblehre als lächerlich; vielmehr handle es sich beim »Trieb zur Geselligkeit« um einen »Kunsttrieb«, der den natürlichen Bedürfnissen der »Lebensart« der Biber entspreche (vgl. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe […], 2. Ausgabe, Hamburg: Johann Carl Bohn 1762, S. 137f. und S. 145). 54 | Auch Isaak Iselin vergleicht den Naturzustand des Menschen mit den »schaaren- oder schwarmweise« lebenden Bibern und Bienen, vgl. Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, 2 Bde., neue und verbesserte Aufl., Basel: Johann Schweighauser 1786 [zuerst 1764], Bd. 1, S. 124. 55 | Buffon: Allgemeine Historie, 2. Teil, 2. Bd., S. 45.
242 | L UCAS M ARCO G ISI der Aehnlichkeit, der Lage befinden, weil solche von den Verhältnissen der Bewegung, die wir einander gleich und gleichförmig zu seyn voraussetzen, herrühren. Die Verhältnisse des Aneinandertreffens (iuxta-position) der Größe, der Gestalt, werden ebenfalls darinnen zu finden seyn, weil wir den Raum als gegeben und umgränzet voraus setzen. Und wenn wir in diesen Automaten nur den niedrigsten Grad einer Empfindung, nämlich nur denjenigen voraus setzen, welcher nöthig ist, sein Daseyn zu fühlen, nach seiner Erhaltung zu streben, schädliche Sachen zu meiden, und zuträgliche zu suchen etc. so wird das Werk nicht nur regelmäßig, proportionirt, ähnlich und gleich seyn, sondern es wird auch ein Ansehen der Symmetrie, der Festigkeit, der Bequemlichkeit, etc, in einem sehr hohen Grade haben, weil jegliches dieser zehn tausend Thiere, da sie es gemeinschaftlich hervorbrachten, den Trieb fühlte, sich auf die ihm bequemste Art einzurichten, und weil es zu gleicher Zeit auch genöthiget ward, auf die für die andern mindest unbequeme Art zu wirken und sich zu stellen. (45)
Damit meint Buffon in erster Linie die Bienen, jedoch wären die Biberbauten dann lediglich die etwas ›kunstvolleren‹ Produkte eines solchen Schwarm-Verhaltens. Die beeindruckenden Bauwerke der Bienen- und Bibergesellschaften emergieren somit aus ganz einfachen Bewegungen der Individuen. In dieser Perspektive braucht es keines Zentrums zur Organisation und Kontrolle dieses kollektiven Handelns. Entsprechend skeptisch äußert sich Buffon denn auch gegenüber den verbreiteten Vorstellungen eines idealen Bienenstaates, sei er eine Republik oder eine Monarchie (41f.). Die Suche nach Erklärungen für die Vergesellschaftung der Biber erfolgt in philosophischen und naturgeschichtlichen Werken meist über den Vergleich mit dem Menschen. In der erstmals 1770 erschienenen, von Diderot wesentlich mitverfassten Histoire philosophique et politique des Aufklärers Guillaume-Thomas Raynal ist der Biber nicht mehr ein dem Menschen ähnliches Tier, sondern wird diesem vielmehr als Ideal entgegengesetzt: als Tier, das die Vorzüge des Lebens in Gesellschaft genieße, ohne – wie der Mensch – dessen Fehler und Unglück zu kennen.56 Die Natur habe dem Biber das Bedürfnis (besoin) bzw. den Instinkt (instinct) des geselligen Lebens eingepflanzt zur Erhaltung seiner Art (pour la propagation & la conservation de son espece) (65f.). Zwar ist der einzelne Biber hinsichtlich der körperlichen Werkzeuge mangelhaft ausgestattet, aber in Gesellschaft gereichen gerade letztere ihm zum Vorteil: 56 | Vgl. [Guillaume Thomas François Raynal:] Histoire philosophique et politique, des Etablissemens et du Commerce des Européens dans les deux Indes, 6 Bde., Amsterdam: o.V. 1772-1774, Bd. 6, S. 65.
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Tous ces instrumens qui ne sont presque d’aucun usage, quand l’animal vit seul, ou qui ne le distinguent point alors des autres animaux, lui donnent une industrie supérieure à tous les instincts, quand il vit en société. Sans passions, sans violence & sans ruse, dans l’état isolé, à peine ose-t-il se défendre. […] Mais au défaut d’armes & de malice, il a dans l’état social, tous les moyens de se conserver sans guerre, & de vivre sans faire ni souff rir d’injure. (66)
Dieselben Hilfsmittel, die also dem Individuum nicht einmal seine Selbstverteidigung ermöglichen, sind die Ursachen der erfolgreichen Selbsterhaltung der Gesellschaft, und zwar gehen nach Raynal die Hervorbringungen des gesellschaftlichen Lebens (»l’industrie«, i.e. der Damm- und Häuserbau etc.) über das hinaus, was die Einzelnen mit ihrem ›Instinkt‹ vermöchten. Die Selbsterhaltung der Biber bezeichnet somit ein Emergenzphänomen ihrer Vergesellschaftung. Doch gerade diese vorbildlichen, da friedlichen und unschuldigen Gesellschaften von Bibern – »[c]e peuple républicain, architecte, industrieux, intelligent, prévoyant & systématique dans ses plans de police & de société« – werden zum Ziel menschlicher Jagdwut, wodurch ihnen die Vergesellschaftung und die Perfektibilität gerade verwehrt werde (72, 66, 74). Raynals Darstellung strukturiert die Entgegensetzung von menschlichem Machtstreben, das mit der Unterwerfung und Degradierung (dégradation, 74) aller Tiere auf Zerstörung zielt, und Vergesellschaftung der Biber im Dienst des bonum commune, die nicht der Errichtung einer Herrschaftsstruktur, sondern ausschließlich der kollektiven Hervorbringung von ›Kunst-Werken‹ dient, die über die Möglichkeiten der Einzelindividuen hinausgehen. Bleibt die Frage, ob Vergesellschaftung zwangsläufig auf Sprache angewiesen sei – oder ob es nicht eine Konnektivität gibt, die gleichsam ›unterhalb‹ der zeichenhaften Verständigung stattfi ndet. Der schottische Gelehrte James Burnett, Lord Monboddo, greift in seinem Werk Of the origin and progress of language auf das Beispiel des Bibers zurück, um die von Rousseau behauptete wechselseitige Abhängigkeit von sprachlicher Kommunikation und Vergesellschaftung zu widerlegen.57 Monboddo versucht zu zeigen, dass sich Tiere auch ohne sprachliche Kom57 | Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit = Discours sur l’inégalité, hg. v. Heinrich Meier, Paderborn u.a.: Schöningh 52001 [zuerst 1755], S. 116-131. In seinem posthumen Essai sur l’origine des langues (1781), Kap. 1, unterscheidet Rousseau von der auf Konventionen basierenden Sprache, die allein der Mensch entwickelt habe, eine natürliche (d.h. angeborene und nicht erlernte) Gebärden-Sprache, über die auch in Gesellschaft lebende und arbeitende Tiere wie die Biber, die Ameisen und die Bienen verfügten.
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munikation vergesellschaften und gemeinsame Arbeiten verrichten können, nämlich indem sie andere Formen der Kommunikation verwenden (»andere Mittel der Mittheilung, außer dem von artikulirten Tönen«).58 Letzteres sei notwendig, um »im Einverständnis« zu handeln und ein »gemeinschaftliches Geschäft« zu betreiben und damit der aristotelischen Definition eines »politischen Thieres« zu genügen (262). Das beste Beispiel dafür geben nicht die lediglich instinktmäßig handelnden Bienen und Ameisen, sondern die Biber ab, die dem Menschen insofern gleichen, als sie von einer »zweydeutigen Natur« zwischen Vereinzelung und Vergesellschaftung seien: Bey einem solchen Thier muß nothwendig Wahl und Ueberlegung, nicht bloßer Instinct seyn; und deshalb glaube ich, wird sein Beyspiel am besten auf unsere Gattung passen. Dies Thier ist wahrhaft politisch, in dem gewöhnlichen Verstande des Worts, wenigstens, wenn sie in ihrem geselligen Zustande sind. (263)
Die Biber leben in Dörfern zusammen, bilden einen »Staat«, errichten gemeinschaftlich öffentliche Bauten und sind, abgesehen von ihrem mangelnden Gebrauch von Werkzeugen und der Sprache, »eben so sehr ein politisches Thier, als der Mensch, nur weit besser policirt, als jede Gesellschaft von Menschen, die wir gegenwärtig kennen« (263f.). Im Biberstaat herrschten Frieden, Harmonie, Personen- und Eigentumsrechte, was, so Monboddo, zwei Schlussfolgerungen zulässt: Erstens müssen die Biber notwendigerweise Formen nonverbaler Kommunikation kennen; zweitens müsse die Urheberin einer derart vorbildlichen »Policey« eine »Regierung« sein, »ohne welche ich es für unmöglich halte, daß die Angelegenheiten ihrer Gesellschaft so regelmäßig geführt werden können« (264f.). Die Bibergesellschaften repräsentieren für Monboddo den Zustand des Menschen »ehe eine Sprache erfunden wurde«: Zum »politischen Leben« bedarf es der Sprache folglich nicht (265, 271). Der Naturforscher und Herausgeber der Encyclopaedia Britannica William Smellie behandelt den Biber in seiner Philosophie der Naturgeschichte im Kapitel über die »Gesellschaft der Thiere«.59 Dabei geht er von einem »Trieb zur Geselligkeit« aus, einem natürlichen »Instinkt«, der sich nicht nur beim Menschen, sondern auch bei einzelnen Tieren finde (170-172). 58 | James Burnett Monboddo: Von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache, Riga: Hartknoch 1784/85, Bd. 1, S. 261-271, hier: S. 261. 59 | William Smellie: Philosophie der Naturgeschichte, übers. v. E. A. W. Zimmermann, 2 Bde., Berlin: Vossische Buchhandlung 1791, Bd. 2, S. 170-192, vgl. auch S. 53-59.
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Smellie unterscheidet bei den Tieren »eigentliche Gesellschaften«, die Kooperation zur Beförderung der »Wohlfahrt und Glückseligkeit der Gemeinschaft« zeigen, und »uneigentliche Gesellschaften«, in denen Tiere lediglich in Herden zusammenleben, ohne gemeinschaftliche Arbeiten zu verrichten (174). Zu ersteren zählt er die Bibergesellschaften. Die »Vernunft der Biber« komme der der Menschen am nächsten und die Berichte über die Biber erschienen wie die »Geschichte des Menschen in der frühesten Periode der Societät« (175). Aber nur in Gesellschaft – »durch die vereinigte Stärke und durch die Zusammenwirkung Vieler« – könne der Biber seine bewundernswürdigen Bauten errichten; das Handeln des vereinzelten europäischen Bibers hingegen beschränke sich auf die Wahrung der »individuelle[n] Sicherheit« (175). Letzteres ist nach Smellie vergleichbar mit den Folgen des Despotismus beim Menschen, wie sie Montesquieu beschreibt. Die Freiheit, die der Biber in Nordamerika genießt, ist denn auch die Voraussetzung für eine auf Frieden und Nächstenliebe beruhende gesellschaftliche Organisation: Das Pincipium ihrer [sc. der Biber Nordamerikas, L.M.G.] Vereinigung ist weder monarchisch noch despotisch; denn die Bewohner sowohl der verschiednen Hütten als des ganzen Dorfes scheinen kein Oberhaupt oder Anführer anzuerkennen. Ihre Gesellschaft bietet unsrer Beobachtung ein Muster von einem, auf gegenseitige und unverkennbare Zuneigung gegründeten, unverderbten und vollkommnen Freistaat dar. Sie haben kein Gesetz, als das Gesetz der Liebe und der elterlichen Zärtlichkeit. (176)
Die Biber bilden also nach Smellie ein Kollektiv ohne hierarchisches Zentrum, ihre gesellschaftliche Verbindung beruht ausschließlich auf einem absoluten Prinzip gleichberechtigter Kooperation. Hatten frühere Reiseschriftsteller und Naturforscher gerade in einer zentral organisierten und hierarchisch kontrollierten Ökonomie die Logik der Bibergesellschaften zu erkennen geglaubt, so muss es nach Smellie ein anderes Prinzip sein, das dieses Kollektiv zusammenhält, nämlich: In eigentlichen Gesellschaften sieht jedes Individuum nicht allein auf seine eigne Erhaltung und Wohlfahrt, sondern alle Glieder übernehmen zusammen gewisse Arbeiten, woraus viele gemeinschaftliche Vortheile entstehen, die auf eine andre Weise nicht würden bewirkt werden. (177)
An die Stelle der Selbstverteidigung ist somit die Selbstorganisation gemäß den Prinzipien der Wohlfahrt und der Vorsorge getreten. Ebenso wie die Bibermonarchien und -republiken für die anderen Autoren vorbildhaft erschienen, bildet auch Smellies Biberfreistaat ein Ideal für die mensch-
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liche Gesellschaft, das aber der Mensch aufgrund seines vom Biber verschiedenen Charakters nicht zu erreichen imstande sei (176). Es fällt auf, dass die politische Ordnung, die ökonomische Arbeitsteilung und die policeyliche Überwachung als Emergenzphänomene der Vergesellschaftung der Biber im 18. Jahrhundert durchaus positiv beurteilt werden.60 Die Biber-Gesellschaft – sei diese nun eine absolute Monarchie, eine ideale Republik oder ein führerloser Freistaat – erscheint gleichsam als Utopie. Demgegenüber merkte Lichtenberg sarkastisch an, dass sich diese Hoff nungen wohl vor allem auf die Disziplinierung der Unterschichten innerhalb einer bestehenden hierarchischen Ordnung bezogen: Es wäre vortreffl ich, wenn sich ein Katechismus, oder eigentlich ein Studienplan erfinden ließe, wodurch die Menschen vom dritten Stande in eine Art von Biber verwandelt werden könnten. Ich kenne kein besseres Tier auf Gottes Erdboden: es beißt nur, wenn es gefangen wird, ist arbeitsam, äußerst matrimonial, kunstreich und hat ein vortreffliches Fell.61
Fazit: Castorologie als politische Ökonomie Seit seiner ›Wiederentdeckung‹ erscheint der Biber nicht mehr als listiger Selbstverteidiger, sondern als geschickter Baumeister und geselliges Tier. Er wird mithin zum ›politischen Tier‹. Dabei sind die Beschreibungen der Biberrepubliken als Projektionen zeitgenössischer politischer Ordnungsvorstellungen zu lesen. Nach Gagnon sind deren wesentliche Merkmale despotische Herrschaft, Vergesellschaftung ohne sprachliche Kommunikation und Formen sozialer Exklusion (im Fall des Castor terrier).62 Aber die behandelten Beispiele zeigen vor allem deutliche Verschiebungen innerhalb dieser Ordnungsvorstellungen, die auf die eigentliche epistemische Grundlage der ›Biber-Begeisterung‹ verweisen: die Bestimmung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik. In seiner Historia animalium nennt Aristoteles ein ›gemeinschaftliches Werk‹ (ergon) als Kennzeichen politischer Tiere. Dabei unterscheidet er zwei Klassifi kationskriterien, die Lebensweise und die Arbeitsweise. Die Tiere können in Herden oder vereinzelt leben (oder sie wechseln vom 60 | Dies im Gegensatz zum bedrohlichen Schreckbild der Masse im 19. und des Schwarms im 20. Jahrhundert, vgl. die Beiträge von Urs Stäheli und Eva Horn in diesem Band. 61 | Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, 4. Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967-1992, Bd. 2, K 291, S. 450. 62 | Gagnon: Images du castor, S. 117f.
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einen in den anderen Zustand) und sie können ihre Arbeit gemeinschaftlich oder einzeln verrichten. Aus der Kombination der beiden Kriterien ergeben sich drei Sozialformen: vereinzelt lebende Tiere, in Herden (agelaia) lebende Tiere und in Staaten (politika) lebende Tiere. Das heißt das Leben in Gemeinschaft impliziert noch nicht notwendigerweise kollektives Handeln, oder anders ausgedrückt: nicht alle Tiere, die zusammen leben, bilden einen Staat und sind politische Tiere. Vielmehr bedarf es dazu der kollektiven Arbeit an einem Gemeinschaftswerk.63 Für Aristoteles ist also nicht das Zusammenleben selbst, sondern die aus kollektiver Arbeit hervorgehende politische Organisation entscheidend – Ökonomie und Politik stehen in direkter Korrelation zueinander. Die politischen Tiere wie der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise oder der Kranich haben entweder einen Anführer (Kraniche, Bienen) oder sie haben kein Oberhaupt (Ameisen u.a.).64 Gegen diese aristotelische Annahme politischer Tiere wie Ameisen, Bienen und andere, deren Handlungen zwar auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet seien, aber deren Verbindung folglich bloß auf der Übereinstimmung des Willens der Individuen und nicht auf einem Willen beruhe, wendet sich bekanntlich Thomas Hobbes.65 Zwar fänden sich durchaus auch bei den Tieren Formen der Soziabilität, aber hierbei handle es sich um das Ergebnis natürlicher Übereinkunft (agreement), im Gegensatz zur künstlichen, d.h. konventionellen Übereinkunft beim Menschen.66 Gegen Hobbes’ Annahme, der Mensch sei nicht von Natur aus, sondern lediglich aus äußerer Notwendigkeit auf das Leben in Gesellschaft festgelegt, wenden sich übereinstimmend beide Gesprächspartner in Leibniz’ Nouveaux essais. Gerade das Beispiel der Biber zeige, dass Vergesellschaftung vielmehr erfolge, um große Werke zu errichten, die für jene notwendig sind und die Einzelne oder kleine Gruppen nicht zustande bringen würden.67 63 | Vgl. Aristoteles: Thierkunde. Kritisch-berichtigter Text […], übers. u. hg. v. H. Aubert u. Fr. Wimmer, 2 Bde., Leipzig: Engelmann 1868, Bd. 1, 1. Buch, S. 199. 64 | Zum Bienenstaat vgl. Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl: Politische Zoologie, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007, S. 219-234. 65 | Vgl. Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, eingel. u. hg. v. Günter Gawlick, 2. verb. Aufl., Hamburg: Meiner 1996, S. 126. 66 | Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan. Revised Student Edition, hg. v. Richard Tuck, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 119f. 67 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain, hg. v. Jacques Brunschwig, Paris: Flammarion 1990, Liv. III, Chap. 1, §. 1, S. 213.
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Tatsächlich erweisen sich die Biberrepubliken als Provokation der Staatstheorie: Nicht nur kongruieren ökonomische und staatliche Organisation, vielmehr scheint Vergesellschaftung hier nicht auf Konsens zu beruhen, sondern emergiert natürlich aus dem kollektiven Handeln. Beim Biber lässt sich also eine politische Ökonomie strictu senso beobachten. Im Hinblick auf seine Baukünste wird der Biber ein »fleissige[r] und verschlagene[r] Oekonom« genannt.68 Tatsächlich erscheint er den Zeitgenossen als Beispiel für eine perfekt funktionierende Ökonomie, womit insbesondere die Frage nach der Regelung bzw. Steuerung dieses Arbeitskollektivs ins Zentrum des Interesses rückt. Die Regulation ökonomischer Prozesse in der Bibergesellschaft wird vor allem mit dem Steuerungsinstrument der ›guten Policey‹ identifiziert. Dabei halten sich die Beschreibungen der Bibergesellschaften eng an die traditionellen drei Gegenstandsbereiche der Policey: Raum (Territorium), Population (bzw. Reproduktion) und Arbeit (Produktion). Die Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt wird in der politischen Regierungspraxis im 17. und 18. Jahrhundert zur Hauptaufgabe der Policey, die dadurch zunehmend ein »Instrument zur Herstellung der inneren Ordnung im Staat« wird und »Aufgaben positiver Intervention und Steuerung« übernimmt.69 Die Policey zielt auf Optimierung und Kontinuität des Staates, wobei innerhalb der kameralistischen Policey-Lehren seit Ende des 17. Jahrhunderts die Kategorie der ›Vorsorge‹ (providentia) zum zentralen Begriff politischer Steuerung avanciert.70 In den Bibergesellschaften spiegelt sich also die Ausbildung einer auf die Wohlfahrt der Bürger ausgerichteten politischen Ökonomie. Dass diese Gesellschaften mal als Monarchie, mal als Republik und schließlich als Freistaat gestaltet werden, deutet jedoch auf eine Umwälzung der Korrelation von Politik und Ökonomie hin: Zunächst bezeichnet diese Verschiebung in der politischen Metaphorik eine Priorität der ökonomischen gegenüber der staatlichen Organisation, indem letztere als Folge der ersteren erscheint. Sodann führt die Einsicht, dass diese Kollektive keines zentralen politischen Steuerungsinstruments bedürfen, um ökonomisch erfolgreich zu handeln, zum Schluss, dass sich die ökonomischen Prozesse 68 | Christoph Gottwald: Physikalisch-anatomische Bemerkungen über den Biber aus dem Lateinischen übersetzt, Nürnberg: Gabriel Nicolaus Raspe 1782, S. 8. 69 | Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1966, S. 130 und S. 191-197; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin: Diaphanes 2004, S. 54-57, S. 67 und S. 72f. 70 | Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 74.
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selbst regulieren. An die Stelle der policeylichen Steuerung der Ökonomie ist deren Selbstregulation getreten.71 Die Selbstregulierung ökonomischer Beziehungen durch nicht intendierte Koordination zwischen Einzelakteuren verweist auf das Modell einer »invisible hand«, die auch noch für die Organisation von Schwärmen in Anschlag gebracht wird.72 Adam Smith war davon ausgegangen, dass der Einzelne, indem er sich für seine eigenen Interessen einsetzt, unbewusst das Allgemeinwohl befördert, und dabei wie von einer »unsichtbaren Hand« geleitet wird, »um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat«.73 Die politische Metapher eines Biberkollektivs ohne hierarchisches Zentrum wird so im Kontext von ökonomischen Modellen der Selbstorganisation und der Durchsetzung eines Paradigmas der Epigenese (in der Biologie, Philosophie, Sprachphilosophie und Literatur) gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet.74 Die Annahme kollektiven Handelns ohne zentrale Steuerung wie im Fall der Bautätigkeit der Biber steht dabei durchaus im Einklang mit den naturwissenschaftlichen Grundannahmen der Zeit. Denn eine zentrale Steuerung würde mindestens ein (Biber-)Individuum voraussetzen, das das kollektive Handeln plant, initiiert und kontrolliert, also mit einer höheren Intelligenz ausgestattet ist. Aber genau diese Intelligenz wird den Tieren sowohl aus philosophisch-theologischen Gründen wie aufgrund empirischer Beobachtung (fehlendes Selbstbewusstsein, fehlende Lernfähigkeit bzw. Perfektibilität) abgesprochen. Die daraus resultierende Suche nach alternativen Erklärungen für ›intelligentes‹ Verhalten von Tierkollektiven (Arbeitsteilung und Kooperation, Koordination und Kontrolle) mündet im 71 | Vgl. Marcus Twellmann/Thomas Weitin: Selbstregulierung als Pro-
vokation. Eine kurze Einleitung, in: Modern Language Notes 123/3 (2008), S. 439-443, sowie die Beiträge zum 18. Jahrhundert in diesem Heft; Joseph Vogl: Romantische Ökonomie. Regierung und Regulation um 1800, in: Inge Baxmann/Michael Franz/Wolfgang Schäff ner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 227-240. 72 | Vgl. Michael Franz: Konventionen, Verfahren und invisible hand. Codierungsprobleme und Regulationsmodelle im 18. Jahrhundert, in: Inge Baxmann/Michael Franz/Wolfgang Schäff ner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 191-207, hier: S. 204; Kelly: Das Ende der Kontrolle, S. 25. 73 | Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übers. u. hg. v. Horst Claus Recktenwald, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 71996, S. 371. 74 | Vgl. Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature Around 1800, Stanford/CA: Stanford University Press 1997.
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18. Jahrhundert auf der einen Seite in die Annahme eines den Tieren von Gott zu ihrer Selbsterhaltung eingepflanzten Instinkts, auf der anderen Seite (bei Buffon) in ein Modell der Konvergenz einfacher mechanischer Bewegungen von Individuen. Buffon gibt der cartesianischen Trennung von Mensch und Tier eine sehr moderne Wendung und formuliert damit das Schwarm-Prinzip als emergentes Umschlagen von Quantität in Qualität – jedenfalls in der Art, wie es Albert Parr für Fischschwärme im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts postuliert, wenn er Schwarmbildung als Ergebnis automatisch ablaufender psychomechanischer Reaktionen der Attraktion und Abstoßung beschreibt.75 Auch bei Parr erscheinen Fischschwärme als Automaten, als Tiermaschinen im Sinne Descartes, die lokale Bewegungsinformationen in eine Gesamtmechanik überführen.76 Außerdem zeigt Buffons Ansatz, dass die These einer Schwarm-Intelligenz gerade aus der Negation tierischer Intelligenz geboren wird. In dieser Perspektive lässt sich durchaus eine gewisse Kontinuität von Buffons Formulierungen »intelligenten« Verhaltens von Tierkollektiven hin zu kybernetischen Konzepten der Steuerung und Selbstorganisation in Tieren und Maschinen sowie zu den zwischen Biologie und Informatik vermittelnden Schwarm-Modellen erkennen. In der Geschichte der politischen Zoologie war es weniger die nach dem Prinzip einer zentralen Führung organisierte ›Bienenmonarchie‹ als vielmehr die selbstorganisatorisch strukturierte ›Ameisenrepublik‹, die zum Modell des Schwarms wurde.77 Aber auch die Selbstorganisation der kollektiven Arbeiten der Biber, indem durch einfache Interaktion von Individuen komplexes Handeln eines Kollektivs emergiert, ist Teil einer Epistemologie des Schwarms. Wenngleich die Biber keinen Schwarm im eigentlichen Sinn bilden, so gibt deren Auftreten in großer Anzahl im 18. Jahrhundert Aufschluss über zwei wesentliche Merkmale der SchwarmLogik: Emergenz und Selbstorganisation. Wird die Kontrolle innerhalb der Biberkollektive zunächst mittels der tradierten Vorstellungen von Herrschaft gedacht, also von einem Zentrum aus, so erscheint gegen Ende des Jahrhunderts das Zentrum leer, gleichsam obsolet. Die Politik zentraler Steuerung wird ersetzt durch eine politische Ökonomie der Selbstorganisation.
75 | Vgl. den Beitrag von Sebastian Vehlken in diesem Band. 76 | Sebastian Vehlken: Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, in diesem Band, S. 132f. 77 | Johach: Der Bienenstaat, S. 225; Bonabeau/Dorigo/Theraulaz: Swarm Intelligence, S. 6 und S. 9.
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Epilog: ›Nachhaltiger‹ Rückkehrer Während der Biber in Europa zur Legende wurde, erfolgte seine (Wieder-) Entdeckung in Übersee. Im 18. Jahrhundert geben die Bibergesellschaften die Projektionsfläche ab für die Utopie eines effizienten, zunächst zentral, dann zunehmend selbst gesteuerten Arbeitsprozesses. Die Ironie dieser Geschichte ist, dass die Biber im 19. Jahrhundert selbst zum Opfer einer genau so organisierten Ökonomie werden sollten, indem sie in Europa der ausgedehnten Bodenkultivierung weichen mussten und zu einem Produkt der Handelszirkulation zwischen Neuer und Alter Welt wurden. In den Klagen der Auf klärer über die Verdrängung des Bibers und den Eingriff des Menschen in ein gut funktionierendes System äußert sich implizit eine andere, gewissermaßen umgekehrte Utopie, nämlich die, dass unbegrenzte Ressourcen die Voraussetzung politischer Freiheit und ökonomischer Effizienz und Prosperität sein könnten. So war in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Biber in Mitteleuropa schließlich weitgehend ausgerottet. Seine Wiederansiedlung seit den 1960er Jahren erfolgte nicht aufgrund seiner Bedeutung für die Ökosysteme – dagegen sprach ein Jahrhundert ohne Biber –, auch wenn er durch seine Bauten teilweise die Funktion eines natürlichen Uferschutzes übernehmen kann. Entgegen den Befürchtungen, der Biber habe keine »ökologische Nische« mehr und würde in den kultivierten begradigten Gewässern Europas nicht überleben oder aber Schäden anrichten, wurde sein Comeback zur Erfolgsgeschichte. Entscheidend für die geglückte Wiederansiedlung war offenbar, dass sich der Biber hinsichtlich seiner Abholzungsaktivität nach dem Bedarf und hinsichtlich der Populationsgröße nach dem (Nahrungs-)Angebot zu richten weiß. Als ›nachhaltig‹ wirtschaftende Spezies passt er also auch gut in die Moderne.78
78 | Vgl. Josef H. Reichholf: Comeback der Biber. Ökologische Überraschungen, München: Beck 1993, S. 111-134.
Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem Benjamin Bühler
In seinem Kommentar zur Genesis widmete sich der Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339-397) auch den Wanderungen der Fische. Ambrosius fragte, wie diese von den Gegenden, in die sie wegen ihres Brutgeschäftes ziehen müssen, von Reiseroute, Zugordnung, Ziel und Zeit der Rückkehr wissen könnten. Nach Ambrosius wissen die Fische davon, weil sie dem »göttlichen Gesetz« folgen, gegen das sich die Menschen hingegen auflehnen. Die Fische »sammeln sich« am rechten Ort und zur rechten Zeit, sie warten »in Scharen geeint das Wehen des Nords ab«, und wenn sie losziehen, gleichen sie einer »Golfströmung« – und zwar ohne Beherrscher und Führer. Die Menschen dagegen haben Herrscher, die Befehle, Kommandos und Edikte erlassen, damit sich die Untertanen einfinden, »und doch vermögen so manche zu den festgestellten Terminen nicht zu erscheinen.« Während die unvernünftigen Tiere sich vernünftig verhalten – »was wäre indes vernünftiger als jener Wanderzug der Fische« – erweist sich der »vernünftige Mensch als unvernünftig«.1 Die Wanderung der Fische ist für Ambrosius eine Veranschaulichung der Weisheit Gottes in der Natur. Wenn auch der einzelne Fisch nicht mit dem Menschen vergleichbar ist, so zeigt doch die Gesamtheit der Fische eine Weisheit, die der Mensch, durch den Sündenfall aus dem Paradies vertrieben, allererst wieder erlangen muss. Knapp 1500 Jahre später sind 1 | Ambrosius von Mailand: Exameron, Kempten, München 1914, S. 189-
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nun genau solche kollektive Formen, ob Fisch- oder Vogelschwärme, Ameisen oder Bienen in den Kern avanciertester Theorien gerückt, und zwar gerade weil es sich um Kollektive ohne Führung und Zentrum handelt. Als Verkörperungen der Komplexität sich selbst organisierender Systeme scheint der Bezug auf eine transzendente Instanz damit keine Rolle mehr zu spielen. Im Gegensatz zur Kopplung von Naturkunde und Theologie findet sich nun folgerichtig eine enge Kopplung von Tier- und Technikforschung. Diese Kopplung findet sich etwa in der Definition des Begriffes Swarm Intelligence durch die beiden Robotik-Forscher Beni und Wang: Für sie sind Systeme nicht-intelligenter Roboter, die im Kollektiv intelligentes Verhalten zeigen, »evident in the ability to unpredictably produce specific […] ordered patterns of matter in the external environment«, Systeme, die Schwarm-Intelligenz zeigen.2 Wichtig ist den beiden Forschern der Terminus »unpredictability«, das heißt, der zukünftige Status oder die zukünftigen Bewegungen eines Schwarms lassen sich nicht vorhersagen, da dieser ein selbstorganisierendes System ist, das sich ständig an die jeweiligen Umstände anpasst. Hier kommt es nun weniger auf die mathematischen und technischen Implikationen an, sondern Beni und Wang verorten die Schwarm-Intelligenz selbst im Bereich von Robotern und Lebewesen: Das von ihnen beschriebene intelligente Verhalten finde sich etwa auch bei Ameisenkolonien, weshalb das Projekt des »engineering of Swarm Intelligence« von der bionischen Perspektive profitieren könne.3 Schwärme sind jedoch über die jeweiligen Spezialforschungen hinaus auch in die Selbstbeschreibungs-Narrative gegenwärtiger Gesellschaften eingegangen. In diesem Sinn ist Eugene Thacker der politischen Dimension der Konzepte Netzwerke, Schwärme und Multitudes nachgegangen. Wie er ausführt, seien diese Konzepte Instanzen, über die der Begriff des »political body« ständig neu verhandelt werde. Dabei suggerieren diese, dass es zu einem tiefgreifenden Wandel des Politischen gekommen sei, man denke an Ausdrücke wie »network society«, die dezentrale Topologie des Internets oder die Anti-Globalisierungs-Bewegung. 4 Um zu klären, ob Netzwerke, Schwärme und Multitudes tatsächlich Alternativen zu den Traditionen der modernen Souveränität bilden, leistet Thacker in seinem Text 2 | Gerardo Beni/Jing Wang: Swarm Intelligence in Cellular Robotic Systems, in: Paolo Dario/Giulio Sandini/Patrick Aebischer (Hg.): Robots and Biological Systems: Towards a New Bionics? Proceedings of the NATO Advanced Workshop on Robots and Biological Systems, held at Il Ciocco, Toscana, Italy, June 26-30, 1989, Berlin u.a.: Springer 1991, S. 703-712, hier: S. 708. 3 | Ebd., S. 711. 4 | Eugene Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 27f.
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vor allem Begriffsklärung und -differenzierung. Hinsichtlich der Schwärme betont Thacker deren Herkunft aus der Biologie, insbesondere der Verhaltensbiologie, innerhalb derer wiederum den sozialen Insekten eine herausragende Rolle zukommt, zumal bei Ameisenvölkern oder Bienenstaaten gemäß neueren Studien keine zentrale Kontrollinstanz existiert, sondern diese vielmehr sich selbst organisierende Systeme darstellen, Verkörperungen eines Kollektivs ohne Zentrum sind.5 Im Gegensatz zu Thacker wird es im Folgenden nicht um die weitere Arbeit an den Begriffen und ihr mögliches Anwendungsfeld gehen, sondern um die an den Schwärmen anschaulich werdende Schnittstelle von Tier-Kollektiven und sozialen Modellen.6 Denn Kollektive müssen stets in irgendeine Art von Fiktion gefasst werden, wie denn auch die Tradition der Ableitung sozialer Modelle aus dem Tierreich zeigt, denke man an die Karriere der Ameisen- und Bienenstaaten,7 an die Kraniche, die Aristoteles wie die Menschen zu den gesellschaftsbildenden Tieren zählt8 oder an das pastorale Modell des Hirten und seiner Herde.9 Spätestens seit Charles Darwins Evolutionstheorie spielte in diesem Zusammenhang die Biologie eine vorrangige Rolle, wie auch die gegenwärtigen Schwarm-Theorien zeigen. Dabei werden nicht einfach Daten und Modelle von der Biologie in die Soziologie übertragen, vielmehr etabliert sich an der Schnittstelle zwischen tierischen und menschlichen Kollektiven ein spezifisches Narrativ, das durch folgende Aspekte gekennzeichnet ist: Erstens führen die Übertragungen von tierischen auf menschliche Kollektive vor, dass die abgeleiteten Fiktionen politisch noch keiner Seite zuzuordnen bzw. poli-
5 | Vgl. hierzu die Einleitung in diesem Band. 6 | Vgl. hierzu: Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 496: »Schwärme von Tieren sind Kollektive, die zugleich ›ganz anders‹ als menschliche Kollektive funktionieren – und genau darum das Funktionieren auch menschlicher Kollektive als ›Mannigfaltigkeiten‹ (wie ökonomische Märkte, Medienverbünde, Verkehrsflüsse, sozialen Wandel etc.) reflektieren können.« 7 | Vgl. z.B. Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1983. 8 | Aristoteles: Thierkunde, übers. u. hg. v. H. Aubert u. Fr. Wimmer, 2 Bde., Leipzig: Engelmann 1868, Bd. 1, S. 198-199 (488a). 9 | Vgl. z.B. Thomas Macho: Gute Hirten, schlechte Hirten. Zu einem Leitmotiv politischer Zoologie, in: Anne von der Heiden/Josef Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007, S. 71-88.
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tisch ambivalent sind.10 Zweitens fungieren die hier auftretenden Tiere als Wissensfiguren. Der Bezug auf die Tiere ermöglicht die Verkopplung unterschiedlicher Wissensformationen: Wer im Zusammenhang mit Schwärmen vom Ameisenhaufen spricht, meint damit nicht das, was man gemeinhin im Wald findet, sondern eine Figur, die Philosophen, Naturforscher, Ethnologen, Psychologen, Kybernetiker oder Robotik-Forscher konstruiert haben.11 Drittens werden bei solchen Bezügen auf Tiere als Wissensfiguren menschliche Kollektive zwar von tierischen Kollektiven abgeleitet, zugleich wird jedoch auch stets wieder die Differenz zum Tier eingezogen. Ermöglicht wird diese Einschreibung von Differenz wie auch die Unterscheidung unterschiedlicher Formen von Kollektiven durch die Einführung einer zeitlichen Dimension, in diesem Narrativ in Gestalt der Evolution. Viertens findet sich spätestens mit der Kybernetik die Erweiterung des Narrativs um technische Organisationsformen, die als selbstorganisierende Systeme ihre eigene Evolution in Konkurrenz um Lebensraum und Energie mit tierischen und menschlichen Lebewesen durchmachen. Im Folgenden geht es nicht um eine Vorgeschichte des Schwarms, sondern an vier Beispielen um die Frage, wie über tierische Kollektive Modelle sozialer Form hergeleitet oder problematisiert werden: Während Peter Kropotkin in seiner wissenschaftlichen Abhandlung Mutual Aid. A Factor of Evolution (1902) über die Erweiterung des darwinistischen Ansatzes das politische Organisationsmodell des Anarchismus entwickelt, geht Elias Canetti in seinem literarisch-soziologischen Großessay Masse und Macht (1960) anhand der Tier-Meuten und der Verwandlungen der Menschen in Tiere dem Ursprung des Menschen selbst nach. Und während Karl von Frisch in seiner Beschäftigung mit der Tanzsprache und Orientierung der Bienen (1965) das Bild eines ökonomisch hochproduktiven Sozialverbandes entfaltet, wird in Stanislaw Lems »utopischem Roman« Der Unbesiegbare (1964/67) eine außerirdische Lebensform zum Alptraum des Menschen.
Herden und Anarchismus: Peter Kropotkin Gegenstand von Peter Kropotkins (1842-1921) wissenschaftlichem Anarchismus12 sind sich selbst regulierende soziale Gebilde ohne staatliche Kontrolle. Als Anarchist setzte er keinerlei Hoff nung auf eine Zentralbehörde, 10 | Dies betont Thacker: Netzwerke – Schwärme – Multitudes, in diesem Band, S. 27f, 53, ausdrücklich. 11 | Vgl. zum Tier als Wissensfi gur: Benjamin Bühler/Stefan Rieger: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 12 | Vgl. Peter Kropotkin: Moderne Wissenschaft und Anarchismus, Zürich:
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»sei sie durch Gewalt begründet oder aus einer Wahl hervorgegangen, sei es ›Diktatur des Proletariats‹, von der man in den vierziger Jahren in Frankreich träumte und von der man heute noch in Deutschland spricht, sei es eine gewählte ›provisorische Regierung‹ oder ein ›Konvolut‹«.13 Was Kropotkin vorschwebt, ist eine andere Organisationsform, für die es, so heißt es in Kropotkins Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1901), eines »Kollektivgeistes der Massen« 14 bedürfe. Die Absage an jegliche staatliche Autorität führt denn nicht ins Chaos, sondern in einen durchaus geordneten Zustand, in eine neue soziale, ökonomische und politische Organisationsform. Ausgangspunkt von Kropotkins Konzeption des Anarchismus ist die Auseinandersetzung mit Charles Darwin, und zwar seine Kritik an der Verabsolutierung des Prinzips »Kampf ums Dasein«.15 Kropotkin bestreitet nicht, dass es in der Natur einen »Kampf ums Dasein« gebe, dass bestimmte Anpassungen von Tieren aus dem Kampf gegen extreme Klimate herrühren oder dass Tiere verschiedener Arten miteinander in Konkurrenz um Nahrung oder Lebensräume stehen, jedoch, dass dies der einzige Faktor in der Entwicklungsgeschichte sei. Was Kropotkin bestreitet, ist, dass die Tiere innerhalb einer Art miteinander im Verhältnis des Kampfes stehen. Die zentrale These Kropotkins lautet, dass es »among animals belonging to the same species« keinen »bitter struggle for the means of existence« gebe, vielmehr herrsche das Prinzip der gegenseitigen Hilfe.16 Von vornherein geht es Kropotkin jedoch nicht nur um Darwin, sondern um eine sozialphilosophische Tradition, deren Beginn er bei Hobbes sieht. Denn Hobbes habe die Behauptung in die Welt gebracht, dass der Krieg aller gegen alle das Gesetz des Lebens sei17 und Darwin habe die wissenschaftlichen Grundlagen dieser These geliefert. Was auf dem Spiel steht, ist damit die wissenschaftliche Begründung der Gegenthese, dass Topia 1978, S. 156: »Das Ziel der anarchistischen Theorie ist eine wissenschaftliche Auffassung von der gesamten Natur, den Menschen inbegriffen.« 13 | Ebd., S. 150. 14 | Ebd., S. 151. 15 | Kropotkin kann hierfür an Darwin selbst anschließen, zumal auch dieser selbst auf das kooperative Verhalten von Tieren eingegangen ist. Insofern geht es Kropotkin darum, dass in der Entwicklung beide Faktoren wirksam sind: Kampf ums Dasein und gegenseitige Hilfe. Ein wichtiger Gegner ist daher nicht Darwin, sondern dessen Rezeption, etwa in Gestalt von Thomas Henry Huxleys Essay The Struggle for Existence in Human Society (1888). 16 | Peter Kropotkin: Mutual Aid. A Factor of Evolution, London: Heinemann 1972, S. 17f. 17 | Ebd., S. 23.
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der Mensch nämlich von Natur aus ein soziales Wesen, dass gegenseitige Hilfe ein Naturgesetz und ein Faktor in der Entwicklungsgeschichte sei und schließlich: Wenn am Ursprung der Menschheit das Prinzip gegenseitiger Hilfe steht und nicht der Kampf aller gegen alle, resultiert daraus auch eine andere Konzeption der menschlichen Gesellschaft. Hier liegt das eigentliche Ziel Kropotkins, das er mit wissenschaftlichen Methoden erreichen möchte: Getreu seiner Methode begibt sich der Anarchist an das Studium des Staates mit der gleichen Unvoreingenommenheit, wie wenn ein Naturforscher die Gesellschaften der Ameisen und Bienen oder die Nistgenossenschaften der Vögel an den Ufern der unterarktischen Seen studieren wollte. 18
Dass es hierbei nicht nur um »Unvoreingenommenheit« geht, sondern ein Streit um die Deutungshoheit stattfindet, verdeutlicht ein Blick auf August Forel, der sich ausführlich mit den sozialen Instinkten der Ameisen beschäftigt und daraus eine Sozialethik abgeleitet hat. Gemäß Forel besäßen die Ameisen nämlich die sozialen Instinkte, die beim Menschen degeneriert seien und daher wieder durch rationelle Zuchtwahl analog zur Haustierzüchtung ausgebildet werden müssten.19 Während Forels Argument somit auf die sich in den 1970er Jahren entfaltende Soziobiologie vorausweist,20 haben Kropotkins Arbeiten eine völlig andere Ausrichtung. Er bezieht sich nicht auf die sozialen Insekten, um, wie Forel, soziale Hierarchie zu legitimieren und Eugenik als Sozialtechnik zu etablieren. Zwar geht es Kropotkin ebenfalls darum, dass sich an den Ameisen ein fundamentaler Sozialtrieb zeigt, der auch für den Menschen bestimmend sei, jedoch geht es ihm weder um Hierarchie noch um Zuchtwahl. Nach Kropotkin gäbe es bei den Ameisen keinen »Hobbesian war«, ihr Sozialverband sei eine Folge der gegenseitigen Hilfe, mit der die Entwicklung individueller Initiativen
18 | Kropotkin: Moderne Wissenschaft, S. 127f. 19 | Auguste Forel: Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen, 5. und 6. Aufl., München: Reinhardt 1907, S. 20; vgl. dazu auch: Auguste Forel: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und einiger anderer Insekten; mit einem Anhang über die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes bei jenen Tieren, München: Reinhardt 1901, S. 38. 20 | Der Begründer der Soziobiologie, Edward O. Wilson, »moved from ants to the human condition, and from entomologist to cultural analyst«. John Lyne: Bio-Rhetorics. Moralizing the Life Sciences, in: Herbert W. Simons (Hg.): The rhetorical turn. Invention and persuasion in the conduct of inquiry, Chicago: University of Chicago Press 1990, S. 35-57, hier: S. 39.
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wie auch die Entfaltung hoher Intelligenz einhergehe.21 Im Gegensatz zu Forel spricht Kropotkin denn auch nicht vom Ameisenstaat, sondern vom »nest« (36), nicht vom Bienenstaat, sondern vom »swarm« (38) oder »hive« (39). Für Kropotkin liegt der Ursprung des menschlichen Sozialtriebes nicht in der Familie, nicht in der Elternliebe; diese selbst sind vielmehr spätere Ableger eines tiefer liegenden Sozialtriebes. Daher führt er Vereinigungen an, die gebildet werden für die Jagd (etwa »hunting associations of birds« oder »fishing associations of the pelicans« [43]), zur Sicherheit gegen Feinde (z.B. Kraniche, bei denen einzelne Vögel Wache halten [46]) oder für die großen Wanderungsbewegungen. Gerade letzterem widmet sich Kropotkin ausführlich, den Herden von Rotwild, Antilopen Gazellen, Damwild, Büffeln, wilden Ziegen und Schafen (55) wie auch den »large swarms« von Landkrebsen, die zum Laichen gemeinsam zur See wandern (34) – denn die Darstellung der Tier-Kollektive steht nicht nur im Dienste der Argumentation, sondern auch in dem der Rhetorik, der Überzeugung durch Herstellung von Evidenz.22 In diesen sozialen Organisationsformen liegt nach Kropotkin der Ursprung des Menschen, in »societies, bands, or tribes« (85). Die Entwicklungsgeschichte schreitet nun gerade wegen dieses sozialen Verhaltens stufenweise voran, nicht zuletzt, weil nach Kropotkin mit der gegenseitigen Hilfe auch die Höherentwicklung von Gefühlen und Intelligenz verbunden sind.23 Entsprechend reicht Kropotkins Reihe denn auch von den Affen über die Buschmänner und Hottentotten (die sozusagen im Tier-MenschÜbergangsfeld zu situieren sind), die »village community« der Barbaren24 und der Stadt des Mittelalters bis zum gegenwärtigen Menschen. Worauf 21 | Kropotkin: Mutual Aid, S. 35. Seitenangaben im Folgenden im Text. 22 | Deutlich wird dies nicht nur an der Fülle des Materials, sondern auch an Kropotkins berühmtem Initiationserlebnis: Als er gemeinsam mit dem Zoologen Polyakoff in Sibirien gewesen sei, seien sie unter dem Eindruck von Darwins Werk gestanden, aber: Der Kampf ums Dasein sei nicht zu sehen gewesen, dafür umso mehr Beispiele für gegenseitige Hilfe zwischen Tieren. In: Kropotkin: Mutual Aid, S. 33. 23 | »Sprache, Nachahmung und gehäufte Erfahrung sind lauter Elemente der wachsenden Intelligenz, deren das unsoziale Tier beraubt ist. Daher finden wir an der Spitze jeder Tierklasse die Ameisen, die Papageien und die Affen, die alle die größte Geselligkeit mit der höchsten Verstandesentwicklung vereinigen.« In: Kropotkin: Mutual Aid, S. 52. 24 | Diese sind universal: Es habe keine Menschenrasse gegeben, die nicht ihre Periode der »village communitiy« gehabt hätte, in: Kropotkin: Mutual Aid, S. 118
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es Kropotkin bei diesen sozialen Organisationsformen ankommt, sind bestimmte Strukturmerkmale: Diese Gebilde sind autonom, sie bestehen aus sich selbst; es gibt keine Führungsinstanz und keine hierarchische Struktur; die einzelnen Individuen schließen sich zur Erlangung eines bestimmten Ziels zusammen; es handelt sich um anpassungsfähige, flexible Gebilde. Sämtliche Ausführungen Kropotkins laufen auf dieses Modell hinaus, anders gesagt: Kropotkin findet dieses Modell im Reich der Tiere und der Geschichte des Menschen, weil er es diesen durch seine Darstellung einschreibt.25 Zu Kropotkins ›anarchistischem‹ Narrativ gehört denn auch, dass mit dem Beginn des Staates die hierarchische, zentralistische Organisation menschlicher Sozialität beginnt. Entsprechend blutig ist er nach Kropotkin Ende des 15. Jahrhunderts entstanden: Durch »wholesale massacres« seien den auf dem Kommunismus beruhenden Siedlungen ein Ende gemacht worden: »[…] and it was by the sword, the fire, and the rack that the young States secured their first and decisive victory over the masses of the people.« (195f) Das an den tierischen Kollektiven gewonnene Modell autonomer sozialer Einheiten liefert das Gegenmodell zur »State centralization« (196). Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe wird solchermaßen zu einem politischen Narrativ. Dieses erweist sich erstens als universales Prinzip, da es in der Natur selbst, im Sozialtrieb, seinen Ursprung hat. Zweitens liefert es eine Geschichte der Menschheit, in der der Staat die freie Entfaltung der Natur verhindert und unterdrückt, weshalb eben diese Instanz abzuschaffen ist. Drittens schließlich versteht Kropotkin sein Werk als Gegenentwurf zur Geschichte der gesamten, dem Hobbes’schen Entwurf folgenden Sozialphilosophie.26 Mit Darwin erhält diese Tradition insofern einen neuen Akzent, als es hier nicht mehr um einen fi ktiven, sondern um den realen Naturzustand geht. Virulent wird dies bei Kropotkin, da es ihm weniger 25 | Vgl. hierzu etwa das Problem der Überwachung der Handwerker, in: Kropotkin: Mutual Aid, S. 174f. 26 | Innerhalb der Theorien kooperativen Verhaltens im 20. Jahrhundert hat dieser Bezug auf Hobbes immer wieder große Bedeutung. So habe, wie der Politologe Robert Axelrod ausführt, Hobbes die berühmteste Antwort auf die Frage gegeben, wie sich Kooperation entwickelt in Situationen, in denen jedes Individuum einen Anreiz besitzt, sich eigennützig zu verhalten: Gemäß Hobbes ist kooperatives Verhalten nur unter zentraler Herrschaft möglich. Dagegen setzt Axelrod unter anderem auf die Spieltheorie, die aufzeigt, dass kooperatives Verhalten auch in dieser Situation entstehen kann, man könnte auch sagen: Gegen Hobbes’ Erzählung vom Naturzustand setzte die Spieltheorie die Erzählung vom Gefangenendilemma, vgl. dazu: Robert Axelrod: The evolution of cooperation, New York: Basic Books 1984.
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um biologische Sachfragen als um die Konzeption der zukünftigen Gesellschaft ging. Denn für ihn war die Konsequenz des Prinzips der gegenseitigen Hilfe »die Verneinung des Staates, des Gesetzes, jeglicher Autorität«.27 Nach der Beseitigung des autoritären Prinzips (auf das der Sozialismus nach Kropotkin vertraut, was dessen großer Fehler sei)28 zielt der Anarchismus auf die »unbeschränkte Entwicklung des Elements der freien Vereinbarung und des auf bestimmte Zeit beschränkten Vertrages, sowie der Unabhängigkeit aller Gruppierungen, die sich zu einem bestimmten Zweck begründen und durch ihre Föderation schließlich die ganze Gesellschaft umfassen«.29 Wie hier deutlich wird, ist Kropotkins wissenschaftlicher Anarchismus die Rückkehr zum Kropotkinschen Naturzustand, ein Zustand, dessen Organisationsform am Modell der Organisationsformen von Tieren gewonnen wurde.
Tiermeute und Ver wandlung: Elias Canetti Wie Kropotkin fand auch Elias Canetti in seinem großen literarisch-kulturanthropologisch-soziologischen Essay Masse und Macht seinen Weg von den tierischen Kollektiven zu den Menschen. Und zwar hinsichtlich der Frage nach der Herkunft der Massenkristalle30 und der Masse.31 Denn diese leiten sich nach Canetti aus einer »älteren Einheit her«, der Meute (109), welche zwei Eigenschaften besitzt, die auch die Masse hat, nämlich Gleichheit und Gerichtetheit. Die zwei anderen Eigenschaften der Masse, Wachstum und Dichte, hat sie fiktiv, das heißt, diese werden »herbeigewünscht« und »gespielt« (110). Als Ursprung der Masse bildet die Meute das Bindeglied zwischen Tier und Mensch, denn die Meute »war schon da, bevor es menschliche 27 | Peter Kropotkin: Eine Rede über den Anarchismus, in: Sozialist, 3. Jg., Nr. 18, 29. April bis Nr. 44, 28. Oktober 1893, zitiert nach Heinz Hug: Kropotkin zur Einführung, Hamburg: Junius 1989, S. 58. 28 | Kropotkin: Moderne Wissenschaft und Anarchismus, S. 145. 29 | Ebd., S. 141f. 30 | Unter Massenkristall versteht Canetti kleine Gruppen von kleinen, fest abgegrenzten und beständigen Gruppen von Menschen, die dazu dienen, Massen auszulösen. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 84-86. Seitenangaben im Folgenden im Text. 31 | Die Masse ist durch vier Eigenschaften gekennzeichnet: Ihr Wachstum ist grenzenlos, innerhalb der Masse besteht völlige Gleichheit, sie kann nie zu dicht zu sein und sie benötigt eine Richtung – die Masse besteht solange sie ein unerreichbares Ziel hat. In: Ebd., S. 30-32, hier: S. 31.
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Massen in unserem modernen Sinne gab« (111). Aus diesem Grunde habe er die Bezeichnung Meute eingeführt, um daran zu erinnern, dass auch die menschliche Masse »ihre Entstehung […] einem tierischen Vorbild verdankt: dem Rudel gemeinsam jagender Tiere« (113). An der Jagdmeute zeigt sich, wie der Mensch zum Menschen, zum Kulturwesen geworden ist: Der Mensch wurde zum Jäger, indem er jagende Wölfe nachahmte, in den rituellen Tänzen sei das »Wolf-Sein« eingeübt worden (113). Das Ritual als Möglichkeit und als Rahmen ist entscheidend für die den Menschen als Kulturwesen konstituierende Verwandlung in Tiere. Deutlich wird dies etwa im Fall des Ahnenkultes in Riten der Australier. Die Ahnen seien Doppelgeschöpfe, teils Tier, teils Mensch, zum Beispiel ist der KänguruhAhne zugleich Mensch und Känguruh, der Emu-Ahne Mensch und Emu, und zwar »in einer Gestalt« (129). Die Wahl des jeweiligen Tieres ergibt sich, wie Canetti weiter ausführt, durch die Verwandlung: »Der Mensch, dem es immer wieder gelang, sich wie ein Känguruh zu fühlen und so auszusehen, wurde zum Känguruh-Totem.« (129) Wenn diese Verwandlung einmal durchgeführt ist, kommt der Prozess der Kulturbildung in Gang, die Verwandlung in ein Känguruh geht in die Mythen ein und wird von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben. Damit konstituiert die Verwandlung eine soziale Gruppe, in den Riten wird dieser soziale Zusammenhang erneuert und gefestigt, und als Mythos verleiht sie dieser Gruppe außerdem ihre Geschichte, ihre Herkunft. Und schließlich leistet sie die Gründung einer Vermehrungsmeute, denn: Die Tiere, in die sich die Menschen verwandelt haben, waren ihnen immer zahlenmäßig überlegen, und ohnehin war er immer von Tieren umgeben, die in ungeheurer Zahl auftraten, ob »es sich um Herden von Springböcken oder Büffeln handelt, um Fische, um Heuschrecken, Bienen oder Ameisen – an ihrer Zahl gemessen ist die des Menschen eine verschwindend geringe« (127). Verwandlung und Vermehrung gehören zusammen, die Verwandlung in Tiere sichert die Vermehrung des Menschen (wie auch der Tiere, in die er sich verwandelt).32 Und schließlich ist es die Fähigkeit zur Verwandlung in Tiere, die den Menschen von den Tieren unterscheidet: Zwar lebten auch die Tiere, die ihm [dem Menschen, B.B.] gefährlich waren, oft einzeln oder in kleinen Gruppen wie er. Er war wie diese ein Raubtier, aber eines, das nie allein sein wollte. Er mochte in Rudeln leben, die so groß waren wie die der Wölfe, aber sie waren es zufrieden und er nicht. Denn in der ungeheuer großen Zeitspanne, während der er in kleinen Gruppen lebte, hat er sich durch Verwandlung alle Tiere, die er kannte, gewissermaßen einverleibt. An 32 | Vgl. dazu ebd., S. 130, sowie den Büffeltanz der nordamerikanischen Mandan, S. 131-133.
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dieser Ausbildung der Verwandlung ist er erst recht zum Menschen geworden, sie war seine eigentümliche Begabung und Lust. (127)
Der Unterschied zwischen Tieren und Menschen ist nicht die Bildung von sozialen Gruppen und die Ausprägung sozialen Verhaltens, sondern der Drang, mehr sein zu wollen. Canetti nimmt diesen Aspekt in den Begriff der »Einverleibung« auf: Die Charakterisierung der Verwandlung als Einverleibung betont weniger die Ausbildung intellektueller Fähigkeiten als die Konstituierung der Machtposition des Menschen in der Natur. Es ist die Verwandlung als Einverleibung, die dem Menschen allererst »so viel Macht über alle übrigen Geschöpfe gegeben« hat.33 Die Besonderheit der Verwandlung liegt in ihrem zeichenhaften Charakter. Die Verwandlung in Tiere meint nämlich keineswegs nur, dass ein Mensch zum Wolf oder zum Känguruh wird oder diese nachahmt. Wie Canetti in dem Abschnitt »Die Figur und die Maske« ausführt, ist der Endzustand der Verwandlung die Figur, welche künstlich, begrenzt und klar ist. Unter anderem mit dem Beispiel des Känguruh-Totems führt Canetti aus, dass in der Vorzeit des Menschen eine »Fluidität« der Welt bestand, man konnte sich in alles Mögliche verwandeln. Die Figur als Endzustand der Verwandlung sei nun nichts anderes als die Fixierung einer bestimmten Verwandlung, als solche ist sie aber »eine Rettung aus der unaufhörlichen Fluidität der Verwandlung« (442). Da diese Verwandlung nun in die Mythen und Riten eingeht, drückt die Figur »den Vorgang einer Verwandlung zugleich mit deren Ergebnis« aus (443). Die Maske veranschaulicht nach Canetti diesen doppelten Aspekt der Figur, setzt sie doch an die Stelle des nie zur Ruhe kommenden Mienenspiels eine vollkommene Starre und Konstanz. Die Maske ist ein Endzustand, das fluide Treiben unklarer Verwandlungen mündet in der Maske, die klar ist und etwas ganz Bestimmtes ausdrückt. Die Fluidität und damit die »Herkunft« der Maske bleibt verborgen, es ist die Vollkommenheit der Maske, dass sie ausschließlich da ist und alles, was hinter ihr ist, unerkennbar bleibt (445). Canettis Figur, die den Vorgang und das Ergebnis der Verwandlung zugleich ausdrückt, verweist auf ein Moment, das bei Forschern wie Darwin oder Kropotkin kaum eine Rolle spielt: nämlich den Aspekt der Herstellung der Figur, wobei die Figur selbst schließlich nichts anderes ist, 33 | Ebd., S. 397. Zur Einverleibung als Vorgang der Macht vgl. Susanne Lüdemann: Heterophobie und Einverleibung. Zur Anthropologie Elias Canettis, in: Ästhetik und Kommunikation 82 (1993), S. 87-92; Gerhard Neumann: ›Yo lo vi‹. Wahrnehmung der Gewalt. Canettis Masse und Macht, in: Michael Krüger (Hg.): Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis ›Masse und Macht‹, München, Wien: Hanser 1995, S. 68-104.
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als Bedingung der Möglichkeit des Mensch-Seins. Die Verwandlungen in Tiere, mit Deleuze/Guattari das »Tier-Werden«, inszeniert diesen Vorgang und unterläuft ihn zugleich. Das Ergebnis der Verwandlung ist nicht anthropomorph, sondern theriomorph, es entsteht kein menschliches Subjekt, sondern ein hybrides Doppelgeschöpf (Mensch und Känguruh) und es bildet sich eine Individualität, die einerseits in den Wiederholungen des Rituals fi xiert werden kann, die andererseits auf die »Vielfalt unzähliger und unaufhörlicher Verwandlungen« verweist. Der Urgrund der Fluidität ließe sich zwar auf die Metaphorik der Lebensphilosophie zurückbeziehen, doch griffe dies angesichts des zeichenhaften Charakters zu kurz. Näher kommt man Canetti mit Hans Blumenbergs rhetorischer Anthropologie: Nach Blumenberg ist sowohl der Wirklichkeits- als auch der Selbstbezug des Menschen nicht unmittelbar, sondern indirekt, vor allem metaphorisch.34 Für Blumenberg ist der Mensch damit ein genuin rhetorisches Wesen. Nichts anderes beschreibt Canetti: Die Aneignung der Wirklichkeit, der Natur wie seiner selbst verläuft über Verwandlungen und deren Fixierung in Figuren. Im Gegensatz zu Kropotkin erkennt Canetti, wenn er den Begriff der Verwandlung mit dem Begriff der Einverleibung um einen machttheoretischen, mit dem der Figur um einen rhetorischen Aspekt erweitert, die Komplexität des Narrativs an der Schnittstelle zwischen tierischen und menschlichen Kollektiven. Und nicht nur um Komplexität geht es, sondern ebenso um den Übergang von einer Evolution des Menschen hin zur Kulturgeschichte des Menschen. Für Canetti ist Kultur eine Folge von Fixierungen unfassbarer und unbestimmter Verwandlungen, erst diese Fixierungen konstituieren den Menschen als ein soziales Wesen, wobei Canetti den Raum der Verwandlungen, den Entstehungsgrund von Kultur, stets offenhält. Vor diesem Hintergrund ist die Verwandlung in Tiermeuten, in das Rudel Wölfe oder die Schwärme von Fischen, zu sehen: das Tier-Werden ist unabdingbare Voraussetzung des Menschwerdens.
Kommunikation und Sozialstruk tur: Karl von Frisch Während bei Kropotkin und Canetti der Blick auf Tier-Kollektive von vornherein auf die Übertragung auf den Menschen ausgerichtet ist, interessierte sich Karl von Frisch tatsächlich für die Bienen. Mit Frischs Arbeiten hat 34 | Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherungen an die Rhetorik [1971], in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 406431, hier: S. 415 und S. 431.
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der Blick auf die Biene allerdings auch auf der metaphorischen Ebene eine neue Wendung erhalten – mit seinen Untersuchungen zur Tanzsprache und Orientierung wird die Biene experimentalwissenschaftlich und evolutionistisch fundiert in den Repräsentationsraum der Informationstheorie eingefügt. Dabei wird anhand der Biene die Problematik des Verhältnisses von Kommunikationsform und Gesellschaftsstruktur verhandelt. Frischs erste Arbeiten waren dem Tanz der Bienen gewidmet, 1919 beobachtete er den Rundtanz und den Schwänzeltanz, doch erst 1944/45 klärte sich deren genaue Funktion. Während beim Rundtanz nur angezeigt wird, dass eine Futterquelle in der Nähe ist, zeichnet sich der Schwänzeltanz durch seinen hohen Informationsgehalt aus: Erstens zeigt er die Existenz einer Futterquelle an, zweitens gibt er Informationen über die Art der Futterquelle (durch den an der Tänzerin haftenden Blütenduft), drittens gibt die Lebhaftigkeit der Tänze die Rentabilität der Quelle an. Zudem erhalten die Bienen Informationen über die Entfernung (Tanztempo) und die Himmelsrichtung (Winkelstellung des Schwänzellaufs) des Ziels. Nachdrücklich und gegen zeitgenössische Biologen beharrte Frisch darauf, dass die Bienen über Sprache verfügen:35 »Mit ihrer prägnanten und differenzierten Zeichensprache erheben sie [die Bienen] sich weit über alles, was im Tierreich von einem Mitteilungsvermögen bekannt ist.«36 Aufgrund dieses Mitteilungsvermögens erzielen die Bienen maximalen Nutzen mit minimalem Arbeitsaufwand, das heißt: Die Effizienz der Sammeltätigkeit ergibt sich erst durch das komplexe Kommunikationssystem. Der Zusammenhang von Kommunikationsform und Komplexität der jeweiligen Organisationsform wird besonders deutlich in Frischs Ausführungen zur Evolution sozialer Insekten. In dem Kapitel »Von primitivem zu erfolgreichem Nachrichtendienst bei den stachellosen Bienen (Meliponinen)« geht Frisch auf den Ursprung und die phylogenetische Entwicklung der »Bienensprache« ein. Die im tropischen Südamerika vorkommenden stachellosen Bienen sind den Honigbienen zwar ähnlich, aber im Nestbau und Lebensweise primitiver organisiert. Die Nachrichtenübermittlung geschieht hierbei nicht durch einen Tanz mit rhythmischen Figuren, es werden auch keine Informationen über Richtung und Entfernung des Ziels weitergegeben. Allein dass es eine Futterquelle gibt und wie es dort riecht, zeigen die Tiere durch ungeregelte Zickzackläufe, Anrempeln der 35 | Vgl. Karl von Frisch: Symbolik im Reich der Tiere, in: Klaus R. Scherer et al. (Hg.): Psychobiologie. Wegweisende Texte der Verhaltensforschung von Darwin bis zur Gegenwart, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 237-259. 36 | Karl von Frisch: Tanzsprache und Orientierung der Bienen, Berlin u.a.: Springer 1965, S. 1.
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Nestgenossinnen und wiederholte Futtergaben an. Höherstehende Arten der stachellosen Bienen können die Kommunikation verbessern, indem »Geleitbienen« die Neulinge durch eine hinter sich herziehende Duftfahne oder durch aufgeregten Flug lotsen und ihre Nestgenossinnen an die Futterquelle heranführen. Im Vergleich des Nachrichtenwesens unterschiedlicher Arten erkannte Frisch eine Stufenleiter von primitiven zu vollkommeneren Verständigungsformen. Denn die Meliponinen zeigten zum einen den Ursprung der Bienensprache, zum anderen erwies sich, dass ökonomische Effektivität auch durch andere Kommunikationsformen geleistet werden können. Doch selbst auf der Stufenleiter der Evolution hochstehende Meliponinen befi nden sich nicht auf gleicher Stufe mit der Honigbiene. Denn diese benötigen keine »Geleitbienen«, da sie Richtung und Entfernung des Ziels in symbolische Bewegungszeichen übersetzen, weshalb sie auch im Erfolg überlegen seien: »Nur die Honigbienen können mit ihrer abgestuften, der Rentabilität der Futterquelle angepaßten Alarmierung, verbunden mit der präzisen Lagebeschreibung der verschiedenen Ziele, die wartenden Horden der Arbeitslosen so einweisen, daß das Aufgebot an Arbeitskräften zum Angebot der einzelnen Arbeitsplätze im richtigen Verhältnis steht.«37 Die Stufenleiter der Evolution lässt sich weiterführen. So vergleicht Frisch die Kommunikationsweisen anderer sozialer Insekten. Hierbei erweisen sich die Hummeln schon mit ihren unordentlichen Waben, die eine »sparsame Verwendung des Baumaterials durch rationelle Gestaltung der Zellen« nicht kennen als ursprünglich; wie zu erwarten, findet sich bei ihnen auch kein »Nachrichtendienst«.38 Auch Wespen verfügen nicht über ein Kommunikationssystem, durch das Informationen über Entfernung und Richtung einer Quelle gegeben werden. Ameisen wiederum können sich über Geruchsfährten verständigen, allerdings erfolgt weder eine »persönliche Führung« zum Ziel noch werden Mitteilungen über die Art und den Ort der Beute gemacht. Dieser Zusammenhang von Kommunikationsform und Komplexitätsgrad der sozialen Organisation war innerhalb der nicht-biologischen Rezeption von Frischs Arbeiten zentral. So ist die Kommunikation der Bienen nach dem Linguisten Emile Benveniste zwar grundsätzlich von der menschlichen Sprache unterschieden, aber der Signal-Code der Bienen ist das Vermögen der Insekten, die in einer Gesellschaft leben – genauso ist die Gesellschaft die Bedingung menschlicher Sprache.39 Ebenso führte der 37 | Ebd., S. 316. 38 | Ebd., S. 317. 39 | Emile Benveniste: Animal Communication and Human Language. The Language of the Bees, in: diogenes 1-4 (1952/53), S. 1-7, hier: S. 7.
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Psychologe Karl Bühler anknüpfend an Frisch aus, dass es »kein tierisches Gemeinschaftsleben ohne Steuerungsmittel des sozialen Verhaltens der Gemeinschaftsglieder« gebe, und dass »diese Steuerungsmittel, die wir exact beobachten können, […] das vormenschliche Analogon zur Sprache« seien. 40 Schließlich inspirierten Frischs Arbeiten auch die Semiotik, innerhalb derer sich ein Teilgebiet der Zoosemiotik etablierte. 41 Für die Kybernetik war dieser Zusammenhang zentral, gemäß Norbert Wiener hängt »die Natur sozialer Gemeinschaften in großem Maße von den Mitteln der in ihr innewohnenden Kommunikation« ab. 42 Anhand der kommunikativen Beziehungen zwischen verschiedenen Individuen lassen sich nach Wiener unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung beobachten, dabei vollzieht sich ein Wechsel vom Modell der Tier-Kollektive auf das der Maschinen. So gelte in der amerikanischen Gemeinschaft das Ideal, dass die Schranken der Kommunikation zwischen verschiedenen Individuen und verschiedenen Klassen gering seien, doch sei dieses längst nicht erreicht. Im Gegenteil, die »Anbeter der Leistung«, ob Geschäftsleute oder Leiter eines Laboratoriums, folgten dem Ordnungsideal eines faschistischen Ameisenstaates. Eine Bildung des Staatswesens nach dem Vorbild der Ameisen missverstehe allerdings sowohl die Natur der sozialen Insekten als auch die des Menschen. Denn die sozialen Insekten seien dadurch charakterisiert, dass ihre Entwicklung durch die äußere Hülle ihres Körpers, den Chitinpanzer, beschränkt sei, weshalb sie auch kein komplexes Nervensystem aufweisen könnten. Gerade »die körperliche Zwangsjacke, in der ein Insekt aufwächst, ist direkt verantwortlich für die geistige Zwangsjacke, die sein Verhaltensschema regelt« (62). Im Gegensatz hierzu baut sich die menschliche Gesellschaft auf dem Lernen auf, und nicht wie die Ameisengemeinschaft auf ererbten Verhaltensschemata. Und da Lernen eine Form von Rückkopplung sei, »bei der das Verhaltensschema durch die vorhergegangene Erfahrung abgewandelt wird« (63), sei das soziale Leben des Menschen eine Erscheinungsform, »die von dem scheinbar analogen sozialen Leben der Bienen, Ameisen und anderen sozialen Insekten vollkommen verschieden« sei (86) – nicht die Tiere, sondern Maschinen, die lernen können, sind laut Wiener das geeignete Modell für den lernenden Menschen. Ohne in einen blinden Technikoptimismus zu ver40 | Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: UTB 1982, S. 35. 41 | Exemplarisch sei genannt: Thomas A. Sebeok: Perspectives in Zoosemiotics, The Hague, Paris: Walter De Gruyter Inc 1972, hier insb. das Kapitel: Zoosemiotic Structures and Social Organization. 42 | Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Alfred Metzner 1964, S. 55.
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fallen, postuliert Wiener, dass, da die sozialen Strukturen von den jeweiligen Kommunikationsformen abhängen, nicht das Tier, sondern allein die komplexe Maschine das Modell für das soziale Leben der Menschen sein könne. Spätestens mit der Kybernetik tritt damit die Technik ein in das Feld von tierischen und menschlichen Kollektiven. Die Konsequenzen der Konstellation Tier – Maschine – Mensch finden sich nun nicht nur innerhalb der Theoriegeschichte von Netzwerken und Schwärmen, sondern die Konfrontation des Menschen mit technischen Lebens- bzw. Organisationsformen wird zum Gegenstand der Phantastik.
E xtraterrestrische Intelligenz: Stanislaw Lem Während bei Kropotkin, Canetti wie auch Frisch die tierischen Kollektive das Vorbild des Menschen bilden, welche er überholt, erhält ein Schwarm in Stanislaw Lems Roman Der Unbesiegbare den Status einer Intelligenz, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. In diesem Utopischen Roman landet der Raumkreuzer »Der Unbesiegbare« auf einem noch nicht erforschten Planeten, Regis III, um nach dem verschollenen Raumschiff »Kondor« und dessen Besatzung zu suchen. Kondor sei ein Schiff mit hundert Mann Besatzung, einen gewaltigen, erfahrenen Segler der Leere, fähig, im Bruchteil einer Sekunde Energien von Millionen Kilowatt zu entwickeln, sich in Energiefelder umzuformen, die keine Materie zu durchstoßen vermochte, sie in vernichtende Strahlen mit Sterntemperaturen zusammenzufassen, die ganze Gebirgsketten in Staub und Asche verwandeln und Meere austrocknen konnten. Und doch war der stählerne, auf der Erde gebaute Organismus, die Frucht jahrhundertelangen Blühens der Technik, hier verschollen, war auf unerklärliche Weise verschwunden, ohne Spur, ohne SOS-Rufe, als hätte er sich in dieser roten und grauen Wüstenei aufgelöst. 43
In diesem Abschnitt ist bereits die Gesamtanordnung des Romans enthalten: Das Unvorstellbare, das hier inszeniert wird, ist, dass das Beste, was der Mensch an Technik hervorbringen konnte, auch verkörpert im Namen des anderen Schiffes, »der Unbesiegbare«, einfach verschwunden ist. Wie in anderen Erzählungen Lems geht es auch hier um die Selbstüberschätzung des Menschen, es geht um die menschliche Hybris, die im Kontakt mit einer nicht-menschlichen und nicht-irdischen Intelligenz an ihre Grenzen stößt. 43 | Stanislaw Lem: Der Unbesiegbare. Utopischer Roman, Frankfurt a.M.: Fischer 1973, S. 14.
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Der Roman lässt den Leser mit den Wissenschaftlern den Planeten erkunden und Hypothesen entwickeln. Ein erster Fragekomplex ergibt sich aus der Zusammensetzung der Atmosphäre, die 16 % Sauerstoff und 4 % Methan enthalte, eigentlich ein explosives Gemisch, jedoch handele es sich um eine besondere Form des Methans, das nur mit Hilfe von Katalysatoren reagiere. Da der Sauerstoff auf Lebensformen hinweist, erkunden die Wissenschaftler des »Unbesiegbaren« das Meer, wo sie Algen und Fische finden. Sie schließen, dass auf diesem Planeten die Evolution wohl seit etwa Hundert Millionen Jahren dauere. Schließlich entdecken sie Gebilde, die sie zuerst für eine Stadt halten, die aber keiner irdischen Stadt gleichen. Als sie die »Kondor« voller Leichen und verwüstet finden sowie eine Aufzeichnung, auf der sie wimmelnde schwarze Pünktchen sehen, die sie als »Fliegenschwarm« bezeichnen, wird das »strategische Hirn« des Raumschiffes einberufen, bestehend aus neunzehn Wissenschaftlern, einem Biologen, einem Arzt, einem Planetologen sowie Elektronikern, Nachrichtentechnikern, Kybernetikern und Physikern, die über die seltsamen Funde und den Untergang der Kondor diverse Theorien entwickeln (Vergiftung, Massenwahnsinn, Krankheit, Insekten, magnetischer Schock). Die wissenschaftliche Erkundung des Planeten gleicht dem Vorgehen eines Detektivs: auch die Wissenschaftler finden Zeichen, Indizien, die sie deuten müssen. Dabei erweisen sich zuerst einmal sämtliche Hypothesen der Wissenschaftler als falsch: Und zwar weil sie das, was sie entdecken, immer nur in ihren eigenen, menschlich-irdischen Kategorien beurteilen. Der Roman führt die menschliche Erkenntnistätigkeit, die Fremdes durch Bekanntes zu erklären versucht, ad absurdum. Nach über zwanzig Tagen sichtet die Mannschaft eine aus Metallteilchen bestehende »Wolke«, die einzige Organisationsform des Lebens auf dem Festland des Planeten. Diese »Wolke« verwandelt sich in eine militärische Formation, als ein Pilot das Feuer auf sie eröffnet. Von nun an ist der »Unbesiegbare« nicht mehr nur mit einer unbekannten Lebensform konfrontiert, sondern zugleich mit einem Feind, der sich in keine Kategorie einordnen lässt. Nachdem die Wissenschaftler umsonst nach einem Zentrum, das diese Wolke steuert, gesucht haben, kommt erst eine dem Kommandanten phantastisch anmutenden Überlegung eines Biologen, Lauda, der Sache näher. Lauda versucht nicht mehr, die Wolke in die bekannten Kategorien einzuordnen, liefert weder Messergebnisse noch Beweise oder experimentelle Belege, sondern erzählt eine Geschichte. Lauda nimmt an, dass sich das Raumschiff einer hochentwickelten Zivilisation nach einer Explosion ihres Planeten auf Regis III gerettet habe. Dessen Besatzung sei durch ein Unglück ums Leben gekommen (»sagen wir, eine Reaktorexplosion, eine Kettenreaktion« [82]), übrig aber blieben die Automaten, hochspezialisierte Maschinen, fähig, unter den schwierigsten Umständen zu
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überdauern, die nun aber niemanden mehr hatten, der ihnen Befehle erteilte. Während die vernunftbegabten Roboter versuchten, das Raumschiff zu reparieren, obgleich dies sinnlos war, hätte sich eine Gruppe anderer Automaten abgespalten und die Oberhand gewonnen. Möglicherweise auf Druck angreifender Reptilien wandelten sich diese Maschinen um, passten sich den planetaren Bedingungen an und lernten, selbst andere Automaten zu erzeugen. Es bildeten sich selbstorganisierende Maschinen heraus, die die anderen Lebewesen verdrängten. Aufgrund der Energieknappheit habe dann möglicherweise ein Kampf ums Dasein stattgefunden, den nicht die intelligentesten Mechanismen gewannen, sondern die, die sparsam und produktiv waren. Nach Meinung des Biologen hätten sich die Mechanismen durchgesetzt, die es in der Miniaturisierung am weitesten gebracht hatten, die Sonnenenergie speichern konnten und die beweglich waren. Während diese in der Regel »lockere Schwärme« bilden (85), um dauernd im Sonnenlicht sein zu können, formieren sie sich angesichts einer Bedrohung zu einer tödlichen »Wolke«. Der Biologe beschreibt hier nichts anderes als einen Schwarm, dessen einzelne Elemente von geringer Intelligenz sind, 44 für den es keine externe Steuerungs- und Kontrollinstanz gibt, der aber von höchster Flexibilität ist und vor allem: der nicht zu vernichten ist. Unter den Bedingungen des Kampfs ums Dasein, sowohl gegen Lebensformen des Planeten als auch gegen andere, vernunftbegabte Maschinen, wurde der Schwarm zu einer Lebensform, der der Mensch nichts entgegenzusetzen hat. Um sie zu vernichten, müsste der gesamte Planet vernichtet werden (87). Dabei folgt der Schwarm, wie schon Frischs Bienen, nichts anderem als dem ökonomischen Prinzip: Selbst das Töten lohnt sich nicht, da es zu viel Energie benötigt, reicht doch auch das Löschen der im Gehirn enthaltenen Informationen aus. Übrig bleibt hier nur noch der Rückzug, denn, so der Biologe: »Da wir nun einmal gewiß apsychische Gebilde einer toten Evolution als Gegner haben, können wir das Problem nicht nach Kategorien von Rache und Vergeltung für den ›Kondor‹ und das Schicksal seiner Besatzung lösen. Das wäre so als wollte man den Ozean verprügeln, weil er ein Schiff mit Mann und Maus verschlungen hat.« (88) Der Schwarm, ein »lebloser Selbstorganisationsprozeß« (122) schlägt den »Unbesiegbaren« in die Flucht. Gleichwohl: Auch wenn die Menschen abziehen, zumindest haben die wissenschaftlichen Detektive die Lösung des Problems gefunden, jedoch nicht im Rahmen einer mit Messergebnissen, Daten und Experimenten gestützten Theorie, sondern mit einer Erzählung über die »tote Evolution« der Maschinen. In dieser Erzählung verknüpft Lem die 44 | Lem: Der Unbesiegbare, S. 87, vgl. auch S. 91, der Biologe führt aus, dass die »Wolke« nur so viel Intellekt wie ein Ameisenhaufen habe.
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eingangs angeführten Aspekte des Narrativs im Schnittfeld von tierischen und menschlichen Kollektiven: die Konkurrenz von Tier und Technik im Prozess der Evolution, das kooperative Verhalten innerhalb des Schwarms, die Rolle unterschiedlicher Wissensformationen wie die Komplexitätsunterschiede zwischen den jeweiligen Organisationsformen. Indem Lem dieses Narrativ ausstellt, hierbei die wissenschaftlichen Erklärungen und Theorien ad absurdum führt und dagegen einen Biologen zum Erzähler macht, führt er die Wissenschaften auf ihre eigentliche Grundlage zurück: Auf das Erzählen.
Schluss Die Darstellungen tierischer Organisationsformen, ob in Gestalt von Herden, Massen oder Schwärmen, bewegen sich immer schon im Schnittfeld von Tier, Maschine und Mensch bzw. Biologie, Technikforschung und Soziologie. Dabei bieten sie jedoch nicht nur ein Gegenstandsfeld für die Theoriegeschichte sozialer Komplexität im 20. Jahrhundert, vielmehr liefern sie Narrative für die Selbstbeschreibung von Gesellschaften. In Kropotkins anarchistischem Narrativ werden die über die sibirischen Landschaften ziehenden Tier-Herden, die Buschmänner oder mittelalterlichen Städte zum Ideal autonomer, sich selbst organisierender Sozialformen, die er als Gegenmodell zur zentralistischen Organisation des Staates ausweist. Während Kropotkin damit noch im Rahmen der Evolutionstheorie verbleibt, setzt Canetti dieser ein kulturanthropologisches Konzept entgegen. Für Canetti ist die Verwandlung in Tiere Voraussetzung der Menschwerdung selbst, womit er deren kulturelles Moment hervorhebt. Die wechselseitige Beziehung von tierischen und menschlichen Sozialformen wird damit auf den Punkt gebracht: Durch die Verwandlung in Tiermeuten konstituiert sich der Mensch als soziales Wesen. Während Canetti mit der Denkfigur der Verwandlung den Entstehungsgrund der Kultur offen lässt, liefert er mit dem Übergang der Verwandlung zur Einverleibung eine Machttheorie, deren Fluchtpunkt nicht zuletzt in der Analyse des Faschismus liegt. In Karl von Frischs Arbeiten zur Sprache der Bienen und Stanislaw Lems utopischer Erzählung orientieren sich die Darstellungen von tierischen Kollektiven dagegen an technischen Modellen. In Frischs Verkopplung von Evolutionstheorie und Kybernetik wird der Bienenstaat zum Bienenschwarm und damit zu einem ökonomisch hochgradig effektiven System. Dabei führt gerade Frischs zentrale Denkfigur, der Zusammenhang von Komplexitätsgrad und Kommunikationsform, dazu, dass nicht mehr die Ameisen und Bienen, sondern die lernenden Maschinen zur Bezugsgröße sozialer Gebilde werden. Den Konsequenzen wie auch Grundlagen
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dieser Anordnung geht die Literatur nach: In Lems Erzählung ist die technische Intelligenz in Gestalt eines sich selbst organisierenden Schwarms nicht mehr Vorbild des Menschen, sondern sie hat diesen in ihrer toten Evolution überholt. Doch Lem geht es nicht allein um die Selbstüberschätzung des Menschen und die Verkehrung des Verhältnisses von Mensch und Maschine, vielmehr führt er vor, wie angesichts des außerirdischen Schwarms sämtliche wissenschaftlichen Denkmodelle versagen, bis auf das Erzählen selbst. Indem das Erzählen die wissenschaftlichen Denkstrategien und Methoden ersetzt und zugleich deren Voraussetzung bildet, zeigt sich, dass tierisch-technische Organisationsformen in Fiktionen imaginiert werden müssen, damit sich Gesellschaften selbst beschreiben können.
Autorinnen und Autoren
Benjamin Bühler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt Grenzbedingungen des Sozialen des Sonderforschungsbereichs 485 Norm und Symbol an der Universität Konstanz. Publikationen u.a.: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens (gemeinsam mit Stefan Rieger), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens (gemeinsam mit Stefan Rieger), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Michael Gamper ist SNF-Förderprofessor für Literaturwissenschaft an der ETH Zürich. Publikationen u.a.: »Die Natur ist republikanisch«. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München: Fink 2007. Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870, erscheint Göttingen: Wallstein 2009. Sebastian Gießmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Seminar, Humboldt Universität Berlin. Publikationen u.a.: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1740-1840, Bielefeld: transcript 2006. Graphen können alles. Visuelle Modellierung und Netzwerktheorie vor 1900, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle, München 2008, S. 269-284. Paris – Suez. Die Saint-Simonisten und die Kanäle des Kolonialen, in: Archiv für Mediengeschichte 7 (2007), S. 117-132.
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Lucas Marco Gisi ist wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel und Leiter des Robert Walser-Archivs in Bern. Publikationen u.a.: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin, New York: de Gruyter 2007. Eva Horn ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Publikationen u.a.: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007. Die Ungestalt des Feindes: Nomaden und Schwärme, in: Modern Language Notes 123 (2008), Number 3 (German Issue), S. 656-675. Der Feind als Netzwerk und Schwarm: Eine Epistemologie der Abwehr, in: Claus Pias (Hg): Abwehr. Modelle – Strategien – Medien, Bielefeld: transcript 2009. Eva Johach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt Universität Berlin. Zur Zeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zur Wissensgeschichte von Insektengesellschaften. Publikationen u.a.: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Joseph Vogl/Anne von der Heiden (Hg.): Politische Zoologie. Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 219-234. Termitodoxa. William M. Wheeler und die Aporien eugenischer Sexualpolitik, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4 (2008). Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i.Br.: Rombach 2008. Urs Stäheli ist Professor für Wirtschafts- und Kultursoziologie an der Universität Basel. Publikationen u.a.: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilerswist: Velbrück 2000. Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld: transcript 2000. Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Protokybernetische Figuren in der Massenpsychologie, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 299-325. Eugene Thacker ist Associate Professor an der School of Literature, Communication and Culture am Georgia Institute of Technology, Atlanta. Publikationen u.a.: Biomedia, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004. The Global Genome, Minneapolis: University of Minnesota Press 2005. Biological Sovereignty, in: Pli. The Warwick Journal of Philosophy 17 (2006). The Exploit (zusammen mit Alexander Galloway), Minneapolis: University of Minnesota Press 2007.
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Sebastian Vehlken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Epistemologie und Philosophie Digitaler Medien des Instituts für Philosophie der Universität Wien. Zur Zeit arbeitet er an einem Dissertationsprojekt unter dem Titel Schwärme. Medialitäten und Politiken der Unschärfe. Publikationen u.a.: Stille Wasser sind kalt. Winde, Wellen und suprafluide Gewässer nahe Null, in: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation. Zürich, Berlin: Diaphanes 2007, S. 225-237. Schwärme. Zootechnologien, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin, Zürich: Diaphanes 2007, S. 235-257. Niels Werber ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaften an der Universität Siegen. Publikationen u.a.: Netzwerkgesellschaft. Zur Kommunikationsgeschichte von ›technoiden‹ Selbstbeschreibungsformeln, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), S. 179-191. Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München: Hanser 2007. Kleiner Grenzverkehr. Das Bild der sozialen Insekten in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, in: Angela Fischel (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 6/2 (2008).
Masse und Medium Friedrich Balke, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Big Brother Beobachtungen 2001, 264 Seiten, kart., 20,50 €, ISBN 978-3-933127-63-1
Friedrich Balke, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Paradoxien der Entscheidung Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien 2003, 248 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-148-4
Christina Bartz MassenMedium Fernsehen Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung 2007, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-628-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-07-09 15-45-14 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02b1215047748374|(S.
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2) ANZ1133.p 215047748382
Masse und Medium Alexander Böhnke Paratexte des Films Über die Grenzen des filmischen Universums 2007, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-607-6
Sylvia Sasse, Stefanie Wenner (Hg.) Kollektivkörper Kunst und Politik von Verbindung 2002, 324 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-109-5
Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch 2006, 408 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-481-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2009-07-09 15-45-14 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02b1215047748374|(S.
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2) ANZ1133.p 215047748382
ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)
Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de