Kulturkritik ohne Zentrum: Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation [1. Aufl.] 9783839409756

Die Bedeutung des palästinensisch-amerikanischen Kritikers Edward W. Said (1935-2003) für die Zusammenführung vormals di

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German Pages 434 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung: Kultur und Kritik – Diskursräume und Handlungsorte
1. Autofiktionale Erzählungen und Memoiren: Conrad und Said
1.1 Existentielles Chaos und literarische Selbstaffirmation
1.2 Out of Place – Ortlos
1.3 (Be-)Deutungen zwischen Biographie und Theorie
2. Ein neuer Anfang: Beginnings
2.1 Die poststrukturalistische Wende der amerikanischen Literaturkritik
2.2 Literaturtheorie als Theorie der Polyphonie und als politische Allegorie
2.3 Ein Anfang, der noch nicht stattgefunden hat?
3. Die Kritik der Orient-Re-Präsentation
3.1 Orientalismus-Kritiken vor Orientalism
3.2 Said und die US-amerikanischen Middle Eastern Studies
3.3 Eine postkoloniale Archäologie okzidentalen Fremdwissens
3.4 Nach Orientalism
3.5 Orientalismus-Kritik, Okzidentalismus und Post-Orientalismus
4. Exil, säkulare Kulturkritik und postkolonialer Humanismus
4.1 Die kulturelle Integrität des Imperialismus in kontrapunktischer Lektüre
4.2 Arabisch Lesen
4.3 Die theoretische Domäne der Befreiung: Fanon und Said
5. Eine andere Leserschaft – das Andere als Leserschaft
5.1 Kritische Solidarität versus bedingungsloser Loyalität: Said in Nahost
5.2 Kritisches Engagement zwischen lokaler Repression und metropolischer Hegemonie: In Memoriam Ahmed Abdalla (1950-2006)
6. Resümee: Dezentrierung der Kulturkritik?
Quellennachweise und Zitierungen
Bibliographie
Abkürzungen
Abbildungsnachweise
Personenregister
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Kulturkritik ohne Zentrum: Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation [1. Aufl.]
 9783839409756

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Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum

POSTCOLONIAL STUDIES | Band 1

2008-08-12 11-54-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2186436974136|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 975.p 186436974144

Markus Schmitz ist Postdoctoral Research Fellow am Englischen Seminar der WWU Münster und forscht derzeit zu den kulturellen Äußerungsformen arabisch-amerikanischer Transmigrationen.

2008-08-12 11-54-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2186436974136|(S.

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) T00_02 seite 2 - 975.p 186436974152

Markus Schmitz

Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation

2008-08-12 11-54-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2186436974136|(S.

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) T00_03 titel - 975.p 186436974160

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Zugl. Münster, Westfälische Wilhelms-Universität, Diss., 2007, Kennziffer D6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Justin C. McIntosh, 2004 Das im Frühjahr 2004 in Ramallah, Palästina entstandene Foto zeigt ein verwittertes Trauerposter mit dem Bild Edward W. Saids. Darauf ist in arabischer Schrift zu lesen: »Wir werden Deinem Weg folgen ... und Dein Denken wird für immer bleiben.« Daneben das Werbeposter eines auf Pilgerfahrten spezialisierten Reiseunternehmens. Lektorat: Marie Anderson, Waltrop Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-975-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-08-12 11-54-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2186436974136|(S.

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) T00_04 impressum - 975.p 186436974168

Inhalt

Danksagung.................................................................................................7 Einleitung: Kultur und Kritik – Diskursräume und Handlungsorte ..11 1.

Autofiktionale Erzählungen und Memoiren: Conrad und Said ..............................................................................31 1.1 Existentielles Chaos und literarische Selbstaffirmation ...................35 1.2 Out of Place – Ortlos .........................................................................42 1.3 (Be-)Deutungen zwischen Biographie und Theorie ..........................68 2. Ein neuer Anfang: Beginnings .......................................................91 2.1 Die poststrukturalistische Wende der amerikanischen Literaturkritik.....................................................................................93 2.2 Literaturtheorie als Theorie der Polyphonie und als politische Allegorie ...............................................................98 2.3 Ein Anfang, der noch nicht stattgefunden hat? ...............................108 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Die Kritik der Orient-Re-Präsentation .......................................119 Orientalismus-Kritiken vor Orientalism..........................................136 Said und die US-amerikanischen Middle Eastern Studies .............155 Eine postkoloniale Archäologie okzidentalen Fremdwissens .........160 Nach Orientalism.............................................................................195 Orientalismus-Kritik, Okzidentalismus und Post-Orientalismus ....213

4.

Exil, säkulare Kulturkritik und postkolonialer Humanismus .................................................261 4.1 Die kulturelle Integrität des Imperialismus in kontrapunktischer Lektüre ...........................................................276 4.2 Arabisch Lesen ................................................................................289 4.3 Die theoretische Domäne der Befreiung: Fanon und Said ..............299 5. Eine andere Leserschaft – das Andere als Leserschaft ..............305 5.1 Kritische Solidarität versus bedingungsloser Loyalität: Said in Nahost..................................................................................309 5.2 Kritisches Engagement zwischen lokaler Repression und metropolischer Hegemonie: In Memoriam Ahmed Abdalla (1950-2006) ...................................335 6.

Resümee: Dezentrierung der Kulturkritik? ...............................361

Quellennachweise und Zitierungen ......................................................385 Bibliographie ............................................................................................386 Abkürzungen ............................................................................................425 Abbildungsnachweise...............................................................................426 Personenregister .....................................................................................427

Danksagung

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitet Fassung meiner im Spätsommer 2007 an der Westfälischen Wilhelms-Universität verteidigten Dissertationsschrift. Es ist das Ergebnis eines wechselvollen, von zahlreichen inhaltlichen und kontextuellen Zäsuren geprägten Arbeitsprozesses. Die Spezifität des gewählten Gegenstandes, der immer wieder und auf vielfältige Weise den Topos des Exils durchquert, trug fraglos dazu bei, dass ich nicht nur mein erstes Studienfach verließ, sondern mich zudem von meinem engsten sozialen Umfeld exilierte. Nichtsdestoweniger hätte diese Arbeit nicht ohne die Unterstützung zahlreicher Einzelpersonen und Institutionen in der vorliegenden Form realisiert werden können: Ich danke Mark Stein (Westfälische Wilhelms-Universität, zuvor Universität Potsdam) nicht nur für die engagierte Betreuung meines Dissertationsprojektes, sondern auch, weil er mir in einer schwierigen Situation akademisches Asyl gewährt und damit neue Perspektiven eröffnet hat. Mein Dank gilt ebenfalls der Zweitgutachterin Maria I. Diedrich (Westfälische Wilhelms-Universität) sowie Stefan Reichmuth (Ruhr-Universität Bochum), der die erste Phase des Projektes betreute. Ferner danke ich der Heinrich Böll Stiftung für eine dreijährige Promotionsförderung sowie für die Finanzierung meiner Forschungsaufenthalte in Kairo, Beirut und Damaskus. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften bin ich für den gewährten Druckkostenzuschuss zu Dank verpflichtet, dem transcript Verlag danke ich für die gute Zusammenarbeit. Das Manuskript in allen Phasen gelesen und mit kritischen, aber auch bestärkenden Anmerkungen versehen hat Marie Anderson. Ihre ebenso professionelle wie menschliche Hilfe war von unschätzbarem Wert. Die Durchführung der cross-kulturellen Rezeptionsanalyse wäre niemals ohne jene kollegiale Gastfreundlichkeit möglich gewesen, die ich

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während meiner Recherchen in Ägypten, im Libanon, in Syrien sowie in Palästina/Israel erfahren durfte. Für den fachlichen Austausch, zahlreiche Hinweise, für die Bereitstellung von Literatur und unveröffentlichten Materialien und nicht zuletzt für die Unterstützung in praktischen Fragen des Alltäglichen habe ich in diesem Zusammenhang zu Vielen zu danken, als dass an dieser Stelle alle genannt werden könnten. Zahlreiche Personen und Einrichtungen dürfen dennoch nicht unerwähnt bleiben: Amr Fathy (Kairo Universität), der viel zu früh verstorbene Ahmed Abdalla (Markaz al-Gil, Kairo), Radwa Ashour (Ain Shams Universität, Kairo), Ferial J. Ghazoul (American University in Cairo), Mohammad Hashim (Merit, Kairo), Anwar Moghith (Helwan Universität, Kairo), Hany M. Helmy Hanafy (Tanta Universität), Hassan Tilib (Helwan Universität, Kairo), Elias Khoury (Beirut und New York University), Fawwaz Traboulsi (Lebanese American University, Beirut), Samir Khalaf (American University of Beirut), Asma Fathallah (Archives & Special Collections, American University of Beirut), Leslie Tramontini (Orientinstitut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Beirut; jetzt Center for Near and Middle Eastern Studies, Universität Marburg), Samah Idris (Dar al-Adab, Beirut), Pascale Feghali (Ayloul, Beirut), Christine Thomé (Ashkal Alwan, Beirut), Institute for Palestine Studies (Beirut), Ghassan Salih al-Aruri (Ramallah), Sadik Jalal al-Azm (Prof. emer. Damaskus Universität), Abdul-Nabi Isstaif (Damaskus Universität) und Tayyib Tizini (Damaskus Universität). Mein besonderer Dank gilt Manar Omar (Helwan Universität, Kairo) sowie Sofian Merabet (American University of Beirut, jetzt New York University), die mir während meiner Forschungsaufenthalte in Kairo und Beirut nicht nur ihre Zeit geschenkt, sondern mich auch von ihrem intellektuellen Netzwerk haben profitieren lassen. Sofian danke ich zudem für all die anderen Räume, die er mir gezeigt hat. In Deutschland haben weitere Personen Anteil an der Entstehung dieser Arbeit: In Kien Nghi Ha fand ich gleichzeitig einen Freund und einen Kritiker unserer postkolonialen Gegenwart, dessen Lesart postkolonialer Diskurse mein Bewusstsein für die materiellen Kontingenzen kultureller Repräsentationen geschärft hat. Ich danke außerdem Ela Kehrer, Nicola Lauré al-Samarai, Atef Botros, Omar Kamil, Kays Mutlu, Mohammad Findee sowie Erika, Franz Jos., Uta und Jakki Göckede. Mein Freund Omar Abulzahab hat ›Schuld‹ an meiner frühen Begegnung mit Ägypten und ist somit indirekt verantwortlich für meine erste Studienfachwahl. Dafür danke ich ihm sehr. Ich danke außerdem L.J. Bonny Duala M’bedy, den ich meinen Lehrer nenne, obwohl er die vorliegende Studie wohl kaum ungebrochen als die eines Schülers betrachten wird. Seine Vorlesungen an der Bochumer Fakultät für Sozialwissenschaft, aber vor allem seine Xenologie führten mich früh an das erkenntnistheoretische Problem der Alterität heran und erlaubten die kritische Revision meiner Fremd- und Selbstbilder. Er hat damit

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nicht nur die Genese dieses Projektes ausgelöst, sondern – um seine Sprache zu adaptieren – entscheidend zu meiner Existenzvergewisserung beigetragen. Meinen Eltern Ursula und Rolf Schmitz danke ich nicht nur für ihre kontinuierliche Unterstützung und ihr Vertrauen, sondern auch für die beiden Pole meines an ihnen erlernten Selbst. Gini danke ich dafür, dass sie diese sowie alle anderen biographischen Stränge und Brüche schon so lange mit mir teilt. Dieses Buch ist dem Andenken meiner am 18. Januar 2008 verstorbenen Mutter Ursula Schmitz gewidmet.

Markus Schmitz Berlin, im März 2008

Einleitung: Kultur und Kritik – Diskursräume und Handlungsorte

»Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun? Diese Menschen wa-

ren immerhin eine Lösung.«1 Konstantinos Kavafis’ Warten auf die Barbaren aus dem Jahre 1904 ist vielleicht eine der kürzesten und zugleich am stärksten analytischen Allegorien für die Krise des abendländischen Alteritätsdiskurses um 1900. Entstanden zur Zeit des quantitativen Höhepunktes der kolonialen Expansion Europas und verfasst von einem Alexandriner in der neugriechischen Sprache seiner aus dem osmanischen Konstantinopel stammenden Eltern, kann das Gedicht zugleich als ein besonders frühes Dokument kritischen Kosmopolitismus’ gelesen werden.2 Indem Kavafis den Verlust der Barbaren als selbstkonstituierende Konzeptualisierung des Fremden in das antike Rom platziert, erhält seine poetisch-xenologische3 Kritik zugleich einen überzeitlichen Aussagegehalt. Die Nachricht, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren, sorgt für erhebliche »Unruhe und Verwirrung«. Bis dahin dulde-

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Konstantinos Kavafis, »Warten auf die Barbaren,« (1904) Konstaninos Kavafis, Das Gesamtwerk: Griechisch und Deutsch, Übers. Robert Elsie (Zürich: Amman, 1997) 73. Vgl. Walter D. Mignolo, »The Many Faces of Cosmopolis: Border Thinking and Critical Cosmopolitanism,« Public Culture 12.3 (2000): 721-748. Gabriela Nouzeilles, Walter D. Mignolo, »An Other Gobalization: Toward a Critical Cosmopolitanism,« Nepantla: Views from South 4.1 (2003): 1-4. Timothy Brennan, At Home in the World: Cosmopolitanism Now (Cambridge/ MA: Harvard UP, 1997). Ich beziehe mich hier auf Munasu Duala-M’bedys antiethnologischen Entwurf der Xenologie. Munasu Duala-M’bedy, Xenologie: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie (Freiburg, München: Karl Alber, 1977).

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te man die »Untätigkeit im Senat« und konnten sich der Kaiser sowie seine »Konsuln und die Prätoren« ihrer ungebrochenen Autorität gewiss sein. Selbst »die besten Redner« kamen nicht, »um ihre Reden zu halten und Meinungen zu verkünden.« Nun aber werden die Gesichter der Untertanen »ernst« und »nachdenklich«…4

Dekolonisation, postkoloniale Kritik und Edward Said Noch immer löst die Infragestellung des für unumstößlich geglaubten Wissens vom Fremden sowie die Kritik an seiner politischen Manifestation in Form von Machthierarchien und Herrschaftsverhältnissen bei vielen Kritisierten eine geradezu fetischistisch-paranoide Verweigerungshaltung aus. Dass sich aber heute die epistemologische Assimilation, gewaltsame Unterwerfung, soziale Degradierung und ökonomische Ausbeutung von trikontinentalen Gesellschaften, minorisierten migrantischen Gruppen oder rassistisch stigmatisierten Einzelpersonen selbst in den Zentren der kolonial-rassistischen Ethik nicht länger unwidersprochen behaupten können, ist zuvorderst das Verdienst antikolonialer Befreiungs-, politischer Widerstands- und sozialer Selbstermächtigungsbewegungen. Diese emanzipatorischen Kämpfe reagieren genauso auf die koloniale Situation wie auf deren kolonialanaloge Kontinuitäten. Dabei setzt das Ringen um Selbstbestimmung und Handlungsmacht zunächst das Zurückerlangen von Selbstdeutungsmacht voraus. Es impliziert aber stets auch die erkenntniskritische Revision des auf den dominanten Fremdgewissheiten fußenden metropolitischen Eigensinns. Dieser andauernde Prozess ist aufs Engste mit den Beiträgen zahlreicher AktivistInnen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und TheoretikerInnen verbunden. Die von ihnen hervorgebrachten Fragestellungen, Methoden, (Gegen-)Erzählungen und Darstellungsformen stoßen im Zuge der (ver)spät(et)en Rezeption der angloamerikanischen Postcolonial Studies und Cultural Studies seit Ende der 1990er Jahre auch im deutschsprachigen Raum auf ein stetig wachsendes Interesse. Die Werke Homi Bhabhas, Aimé Césaires, Terry Eagletons, Frantz Fanons, Paul Gilroys, Ranajit Guhas, Stuart Halls, C.L.R. James’ oder Gayatri C. Spivaks finden nun schrittweise Eingang in die Diskurse des hiesigen kulturellen und akademischen Mainstreams. Wenn in diesem Zusammenhang der Macht/Wissens-Komplex westlicher Fremdrepräsentationen auf die historische Wechselwirkung von kolonialer Dominanz, kultureller Assimilation und epistemischer Gewalt zurückgeführt wird, dann geschieht das regelmäßig im Rekurs auf jenen palästinensisch-amerikanischen Kritiker, der nachhaltiger als viele andere vor ihm das in Orient und Okzident geteilte Weltbild sowie die davon ab4

Kavafis, »Warten auf die Barbaren,« 70-73.

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geleiteten manichäischen Differenzkonstruktionen kollabieren lässt. Viele verbinden mit dem Namen Edward W. Said (1935-2003) zuvorderst seine Orientalismus-Studie von 1978.5 Orientalism gilt als formativer Schlüsseltext der so genannten kolonialen Diskursanalyse und bildet sowohl für die ApologetInnen zweckfreier positivistischer Wissenslust als auch für die VerteidigerInnen und die selbstkritischen AvantgardistInnen auf dem interdisziplinären Feld der Postcolonial Studies eine regelmäßige Referenz. Lange vor seinem Tod ist der Columbia-Professor als internationaler Literatur- und Kulturkritiker anerkannt. Dabei begrenzt sich sein Einfluss auf mittlerweile zwei Generationen von WissenschaftlerInnen, Kulturschaffenden und AktivistInnen keineswegs nur auf die koloniale Diskursanalyse oder die postkoloniale Theorie. Indem Said regelmäßig die Grenzen seines eigenen akademischen Faches und nationaler Formationen überschreitet, erzielt seine Arbeit Wirkung von ebenso interdisziplinärem wie globalem Ausmaß. Wie groß die inhaltliche Streuung seiner Kritik und wie heterogen die Wirkungsräume seines erkenntnispolitischen Engagements sind, wurde zuletzt besonders in den vielfältigen Reaktionen auf die Nachricht von seinem Tod deutlich.

Die Eloquenz des Barbaren Zwölf Jahre nach ihrer erstmaligen Diagnose erliegt Said am 24.9.2003 den Folgen einer chronischen Leukämie-Erkrankung. Obwohl sein Leichnam in einem libanesischen Bergdorf nahe Beirut beigesetzt wird, findet die offizielle Trauerzeremonie in der New Yorker Riverside Church statt. Zu diesem Anlass trägt Najla Said jenes eingangs zitierte Lieblingsgedicht ihres verstorbenen Vaters vor, das die barbarisierte fremde Existenz als den identitätstiftenden Gegenpol des eigenen (Bewusst-)Seins erklärt und gleichsam die notwendige Krise einer eurozentristischen Menschheitsidee illustriert, deren subalternes Supplement nicht länger gewillt ist, die ihm zugewiesene derogative Sonderstellung einer Rand- oder Nebenmenschheit hinzunehmen.6 Kavafis’ lyrisches Fragment repräsentiert damit nicht nur eines der zentralen Themen der Kulturkritik Edward Saids, sondern kann zudem als Hinweis auf dessen ambivalente Stellung innerhalb des Diskurses kritischer Dekolonisation gelesen werden. Denn während der altgriechische Begriff Barbaros den zur Sprache unfähigen oder stammelnden Fremden beschreibt,7 bezieht Saids Sprechakt seinen spezifischen Charakter nicht zuletzt daraus, dass hier ein diasporischer Intellektueller 5 6

7

Edward W. Said, Orientalism (New York: Pantheon Books, 1978; London: Routledge & Kegan Paul, 1978). Ich beziehe mich hier auf Eric Voegelins politische Theorie des Bewusstseins, besonders auf dessen Begriff des Nebenmenschen: Eric Voegelin, Anamnesis: Zur Theorie der Geschichte und Politik (München: Piper, 1966) 37ff. Siehe hierzu außerdem Duala-M’bedy, Xenologie 23ff. Ebd. 40.

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arabischer Herkunft aus dem Inneren der US-amerikanischen Akademie spricht. Für viele metropolische HörerInnen liegt anscheinend die eigentliche Provokation und Faszination in der unerhörten Eloquenz des mutmaßlichen Barbaren. Gerade in Kenntnis seiner Orientalismus-Analyse erhalten die Said im Verlauf seiner Karriere zugewiesenen, häufig widersprüchlichen Rollen eine beinahe tragische Symbolkraft. Es ist dem öffentlichen Intellektuellen keineswegs möglich, sein Image selbst zu gestalten, geschweige denn zu kontrollieren. Die besonders von seinen euroamerikanischen RezipientInnen häufig überbetonte Aura des eleganten Gelehrten und elaborierten Rhetorikers von umfassender humanistischer Bildung oder das Bild des feinfühligen Pianisten können nur deshalb so große Bewunderung und noch größere Verwunderung auslösen, weil sie mit der gleichzeitigen Behauptung eines diesen Merkmalen diametral entgegengesetzten arabischen Wesens, mit dem irrationalen Zorn des palästinensischen Extremisten kontrastiert werden. Auch wenn sich Said fraglos den gleichzeitigen Präsenzen von exotistischer Begierde, hedonistischem Primitivismus und xenophober Projektion bewusst ist und er es versteht, die Widersprüche dieser Fremdwahrnehmungsmuster gezielt in die eigenen performativen Strategien einzubeziehen, ist er nicht im Stande, die Rezeption seiner Schriften vor den Kategorisierungen kultureller EssentialistInnen zu bewahren. Das trifft, wie ich im Verlauf dieser Studie darstellen werde, im gleichen Maße für westliche wie für arabische LeserInnen zu.

Nachrufe und Bedeutungsherstellungen Obwohl es im Anschluss an Roland Barthes sinnvoll erscheint, zwischen schreibendem Subjekt und Schrift zu unterscheiden8 – und ich bemühe mich über weite Strecken meiner Darstellung um diese Differenzierung, ohne dabei der literaturtheoretischen Vorgabe bedingungslos zu folgen – markiert das physische Ableben des Autorensubjektes Said offensichtlich einen entscheidenden Einschnitt für die Wirkungsgeschichte seiner Kritik. Ein Blick auf die internationale Flut von Nachrufen und Sonderausgaben verdeutlicht, dass dieses biographische Ende mit dem Beginn einer neuen Rezeptionsphase einhergeht. Freilich entziehen sich auch davor die von Said ausgelösten Debatten der Herrschaft ihres Urhebers. Aber der wenig konfliktscheue Intellektuelle verfolgt ausgesprochen aufmerksam die an seinen Texten vollzogenen Lesarten und sucht wie kaum ein anderer die direkte öffentliche Auseinandersetzung mit seinen KritikerInnen. Da ihm dies nun nicht mehr möglich ist, fällt es den verschiedenen Einzelpersonen und Interessensgruppen entschieden leichter, die Symbolfigur für ihre theoretischen Argumentationen und politischen Ziele in Dienst zu nehmen. Das trifft auch für den Verfasser der vorliegenden Untersuchung zu. Kul8

Roland Barthes, »La morte de l’auteur,« Oeuvres completes: Tome II 19661973 (Paris: Éd. du Seuil, 1994) 191-195.

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turkritik ohne Zentrum ist folglich selbst ein Beitrag zu diesem noch jungen Prozess posthumer Bedeutungsherstellung. Weil ich aber nicht nur die Texte Saids, sondern gleichsam deren materiellen Präzedenzien, ihre diskursive Genese und divergierenden Effekte zum Gegenstand einer vergleichenden Untersuchung mache, begreife ich das Projekt – ohne damit theoretische Unschuld oder politische Neutralität zu behaupten – als Rezeption zweiter Ordnung. Das enorme Spektrum derer, die sich nach Saids Tod zu Wort melden, umfasst so verschiedene Personen wie den UN-Generalsekretär Kofi Annan, den Dirigenten Daniel Barenboim, den Sprachwissenschaftler und Ideologiekritiker Noam Chomsky, den Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz, den palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat oder den israelischen Historiker Ilan Pappé. In den Nachrufen der großen US-amerikanischen Zeitungen tritt der New Yorker Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker nahezu völlig hinter dem palästinensischen Aktivisten Said zurück. In den deutschen Nachreden wird zuvorderst an die »[v]ornehme Heimatlosigkeit« und vermeintliche »Europasehnsucht«9 des christlichen Arabers erinnert, der »mit fanatischer Entschlossenheit die Sache der Palästinenser verfocht.«10 Für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeichnet Hans Ulrich Gumbrecht das Bild einer akademischen Karriere, die »dem Märchen vom Prinzen aus dem Morgenlande« nahe kommt. »Von den Wüsten zu den Städten«11 migriert, habe der Autor von Orientalism das Glück gehabt, zum richtigen Zeitpunkt das richtige Buch zu schreiben. Umfangreicher und entschieden politischer äußern sich arabische SchriftstellerInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen. Die Mehrzahl ihrer Nachrufe zielt auf die Fest- bzw. Herstellung einer intellektuellen Ikone arabisch-palästinensischen Widerstands. Vor dem Hintergrund des dritten Jahrestages der zweiten Intifada und angesichts der anhaltenden Besatzung des Iraks wird zuvorderst Saids politisch-kämpferisches Vermächtnis betont. Das prominente Mitglied des palästinensischen Legislativrates, Hanan Ashrawi, bezeichnet ihn als das »Bewusstsein Palästinas«.12 Der Nationaldichter Mahmoud Darwish erkennt in Said den geistigen Vater eines zukünftigen freien Palästinas.13 Ein Kolumnist der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram glaubt, der Diasporaintellektuelle habe seine universelle Identität bewusst der palästinensischen Identität untergeord9 10 11 12 13

Ina Hartwig, »Vornehme Heimatlosigkeit,« Frankfurter Rundschau 27.9. 2003: 13. Wolf Lepenies, »Der Araber Said in Amerika,« Süddeutsche Zeitung 27.9. 2003: 13. Hans Ulrich Gumbrecht, »Von den Wüsten zu den Städten,« Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.9.2003: 33. Hanan Ashrawi, »A Ring to his Laugh,« Sonderausgabe Al Ahram Weekly 2.-8.10.2003, 3.10.2003 . Siehe Mahmoud Darwish, »Our Envoy to Human Conscience,« ebd.

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net, um damit eine ganze Generation von AraberInnen zu erreichen.14 Während palästinensische Oppositionelle Said als zivilgesellschaftliche Stimme der lokalen Bürgerrechtsbewegung sowie als PLO-Kritiker würdigen,15 scheut sich selbst Arafat nicht, den zuvor verfemten Dissidenten nach dessen Tode vor seinen machtpolitischen Karren zu spannen und an Saids tragende Rolle innerhalb der nationalen Bewegung zu erinnern.16 Dagegen wird die Legitimität Arafats in der überregionalen Tageszeitung Al-Hayat gerade unter Berufung auf den verstorbenen Kritiker in Frage gestellt. Letzterer sei die wahre, nämlich unabhängige Autorität Palästinas, heißt es in dem Kommentar Die Intifada Edward Saids.17 Zwar teilt die Mehrzahl der arabischen KommentatorInnen das Bemühen, Said als palästinensisch-arabischen Patrioten festzuschreiben; dennoch wird die Frage, welcher kulturellen Formation er letztendlich zuzurechnen sei, äußerst kontrovers diskutiert. Während es z.B. der ehemalige politische Weggefährte Shafiq al-Hout nur für folgerichtig hält, den Kritiker von Orientalismus, Kolonialismus und Zionismus als Angehörigen des palästinensischen Volkes zu begreifen,18 erinnert Shakir an-Nabulsi an das Unverständnis und die Widerstände, auf die Saids Ideen in der arabischen Welt trafen. Die »gewinnbringende Lektion«19 seines Todes bestünde daher in der selbstkritischen Einsicht, dass dieses herausragende Werk das ausschließliche Produkt westlicher Konfigurationen, besonders der freiheitlichen Arbeitsbedingungen an amerikanischen Universitäten sei, nicht aber das Verdienst der arabischen Kultur und ihres Wissenschaftsbetriebes. Wiederum andere Stimmen heben hervor, dass sich Saids Kritik unmöglich auf nur eine kulturelle Herkunft oder Identität reduzieren lässt. Sie verweisen aber gleichzeitig auf die praktischen Probleme einer Ethik fließender Identitäten, in der die emanzipatorische Konstruktion und politische Formierung kollektiver Entitäten abgelehnt wird.20 Manche, die Said persönlich nahe standen, provozieren die manchmal in reduktionistischem Pathos verharrende publizistische Trauergemeinde 14 Muhammed Sid-Ahmed, »A Universal Palestinian,« ebd. 15 Siehe z.B. Mustafa Barghouthi, »Tribute to Edward Said,« The Palestine Monitor 26.9.2003, 27.9.2003 . 16 »ar-raÿÍs þarafÁt wa-l-laýna at-tanfͪÍya wa-s-sulÔa al-waÔanÍya yanþaun almufakkir al-kabÍr idwÁrd saþÍd« [Präsident Arafat, das Exekutivkomitee und die nationale Autorität stehen dem großen Denker Edward Said bei], AlQuds 12.249 (26.9.2003): 1. 17 þAbd al-WahÁb Badra¿Án, »al-intifÁ±a idwÁrd saþÍd« [Die Intifada Edward Saids], Al-¼ayÁt 14.796 (27.9.2003): 9. 18 ÉafÍq al-¼Út, »fÍ qalb al-þÁlam« [Im Herzen der Welt], Al-Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ 5.10.2003: 6. 19 ÉÁkir an-NÁbulsÍ, »ad-dars al-mufÍd min ra½Íl idwÁrd saþÍd« [Die gewinnbringende Lektion des Todes Edward Saids], IlÁf 27.9.2003, 28.9.2003 . 20 YasÍn al-Haýý SÁli½, »al-filasÔÍnÍ allaªÍ faýýara al-huwÍyÁt« [Der Palästinenser, der die Identitäten verwässerte], Al-Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ 5.10. 2003: 8.

EINLEITUNG: KULTUR UND KRITIK | 17

mit der Frage, ob die arabischen Intellektuellen wirklich das Werk des palästinensisch-amerikanischen Kulturkritikers gelesen haben. Sie fordern, dass die lokale Rezeption nicht bei der Analyse westlicher Kulturpraktiken und ihrer lokalen Implikationen verharrt, und insistieren darauf, dass Said nicht nur Orientalismus-Kritiker war, sondern genauso gegen arabische Stereotypisierungen des westlichen Anderen anschrieb. Er habe sich für Palästina und andere marginalisierte Gruppen in der arabischen Welt engagiert, nicht weil er diese als seine Nation oder sein Volk betrachtete, sondern weil er sich mit den Opfern von Imperialismus und Rassismus solidarisierte und den Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde als globales Anliegen begriff. Nun gehe es darum, die von ihm aufgeworfenen Fragen ebenfalls auf die verheerende Situation der gesamtarabischen Kulturproduktion, auf eigene intellektuelle Versäumnisse, auf den Zustand der lokalen Ökonomien sowie auf die repressive innenpolitische Ordnung arabischer Gesellschaften anzuwenden.21 Die retrospektiven Versuche, den kulturellen, theoretischen und politischen Ort des Verstorbenen zu bestimmen, zeigen trotz sehr verschiedener Schwerpunktsetzungen große Einigkeit in der Diagnose eines schwer wiegenden Verlustes. Von abschließenden Authentizitätsgewissheiten weit entfernt, platzieren manche AutorInnen Said neben so herausragenden Figuren der modernen arabischen Kulturgeschichte wie dem berühmten ägyptischen Romancier, Literaturwissenschaftler und Kulturpolitiker Taha Hussein.22

Postkoloniale Hegemonie, die Welt und Said Es wäre verfrüht, bereits in der Einleitung das Bemühen arabischer Intellektueller um die Integration Edward Saids in die Tradition der modernen arabischen Kulturkritik bewerten zu wollen. Eine differenzierte Einschätzung der arabischen Said-Rezeption, ihrer konkreten Möglichkeitsbedingungen, diskursiven Effekte und cross-kulturellen Interferenzen kann freilich erst im Rahmen eines abschließenden Resümees erfolgen. Ich greife aber nicht allzu weit vorweg, wenn ich schon jetzt behaupte, dass die intellektuellen Debatten des Nahen Ostens seit spätestens Mitte der 1990er Jahre zu den wichtigsten Wirkungsräumen Edward Saids außerhalb der USA

21 Siehe z.B. IlyÁs ¾ÚrÍ, »wulidat filasÔÍn fÍ-l-þÁlam ta½ta qalamihi. idwÁrd saþÍd – awwal al-þÁÿidÍn« [Palästina wurde in der Welt durch sein Schreiben geboren. Edward Said – der erste Rückkehrer], Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ 28.9.2003: 1. Ebenso die redaktionelle Einführung zur Sonderausgabe 5.10.2003: 1. 22 Siehe z.B. IlyÁs ¾ÚrÍ, »al-wilÁdatÁn« [Die zwei Geburten], Al-Mul½aq aÝÕaqÁfÍ 5.10.2003: 14. Siehe auch das redaktionelle Vorwort der ägyptischen Kultur- und Literaturzeitschrift A¿bÁr al-Adab: þUzt al-Qam½ÁwÍ, »al-¿asÁra al-afda½ munªu maut ÔÁhÁ ½usain« [Der schmerzvollste Verlust seit dem Tode Taha Husseins], A¿bÁr al-Adab 5.10.2003, 6.10.2003 .

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zählen und sich seine dortige Rezeption etwa im Vergleich zur deutschen Situation als weitaus umfangreicher, heterogener und qualitativ hochwertiger erweist – auch wenn ein Großteil derer, die an metropolischen Universitäten über die globale Relevanz des postkolonialen kritischen Engagements sinnieren, nicht davon wissen. Mit dem bruchstückhaften Ausblick auf die divergierenden arabischen Reaktionen und Interpretationsstrategien möchte ich zunächst auf ein Grundproblem postkolonialer Theorieproduktion hinweisen, das zwar seit langem von führenden VertreterInnen des akademischen Feldes benannt wird, aber bislang kaum zu einer nachhaltigen methodologischen Revision des eigenen Arbeitsmodus führte. Bereits Mitte der 1980er Jahre stellt Gayatri Chakravorty Spivak die ungebrochene emanzipatorische Wirkung eines vorwiegend an westlichen Eliteuniversitäten institutionalisierten Prozesses in Frage, der es versäumt, die eigene privilegierte Position vor dem Hintergrund der ungleichen internationalen Verteilung von politischökonomischer Macht sowie der darin bedingten diskursiven Ausschlussmechanismen zu reflektieren. Ihre provokante Dekonstruktion der Idee subalterner Selbstrepräsentation – »the subaltern has no history and cannot speak«23 – weist mit der akademischen Konstruktion subalterner Kollektivität gleichsam den Anspruch derer zurück, die vorgeben, stellvertretend für die von den dominanten Foren Ausgeschlossenen zu sprechen. Hierbei handelt es sich um mehr als hegemonie- oder sprechakttheoretische Haarspaltereien. Ihr Einwand betrifft die Frage nach der ethischen Verantwortung postkolonialer KritikerInnen und hat weitreichende Folgen für das wissenschaftspolitische und institutionelle Selbstverständnis der Disziplin. Spivak kehrt auch in jüngeren Publikationen zu der Frage nach den Bedingungen subalternen Schreibens aus der euroamerikanischen Metropole zurück und fordert die interdisziplinäre Begegnung zwischen Vergleichenden Literaturwissenschaften und reformierten Area Studies. Ihr Entwurf einer inklusiven transnationalen Kulturkritik zielt nicht zuletzt auf die linguistische Öffnung der westlichen Räume akademischer Wissensproduktion.24 Diese ungebrochen virulente Debatte bildet den größeren wissenschaftsideologischen und theoretischen Hintergrund meiner Studie. Letztere begreift sich selbst als interdisziplinärer Beitrag zu dem von Spivak entworfenen Projekt. 23 Gayatri Chakravorty Spivak, »Can the Subaltern Speak?« The Post-Colonial Studies Reader, Hg. Bill Ashcroft, Gareth Griffith, Helen Tiffin (London, New York: Routledge, 1995) 28. Der Essay erscheint zuerst in Wedge 7-8 (1985): 120-130 und argumentiert mit Blick auf die Rolle der Subaltern Studies Group in ihrem Verhältnis zu den marginalisierten Stimmen Indiens, hat aber weitreichende Implikationen für das Selbstverständnis postkolonialen kritischen Engagements an metropolischen Universitäten. 24 Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline (New York: Columbia UP, 2003) hier bes. 4ff. Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present (Cambrige/MA, London: Harvard UP, 1999).

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Als einen zweiten und für meinen konkreten Untersuchungsgegenstand noch unmittelbarer relevanten Ausgangspunkt nutze ich Aijaz Ahmads Kritik aus dem Jahre 1992.25 Ahmad attackiert Said als prominenten und wirkungsmächtigen Repräsentanten eines elitären Theoriebetriebs, dessen postmoderne Textkultur den Kontakt zu den politisch-ökonomischen Kämpfen in der trikontinentalen Peripherie verloren habe. Besonders die aufs Engste mit Saids Namen verknüpfte Figur des migrantischen oder exilierten Intellektuellen wird von dem marxistischen Kritiker als rhetorische Strategie gedeutet, die tatsächlichen ideologischen Bündnisse zwischen den akkulturierten Bildungseliten in den imperialistischen Zentren und den dominanten Klassen ihrer Herkunftsländer zu verbergen.26 Wie sehr die metropolische Domestizierung des postkolonialen Gegendiskurses die historisch generierten Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie konsolidiere und gleichsam den Sprechort eines authentischen Anderen monopolisiere, belege Saids einseitiger Bezug auf den westlichen Kanon bei weitgehender Missachtung der Beiträge von Intellektuellen aus kolonialisierten und ehemals kolonialisierten Ländern.27 Diese Tendenz macht Ahmad ebenfall in Saids Doppelrolle als Fürsprecher nationaler palästinensischer Rechte und Kritiker ethno-nationalistischer Identitätspolitiken aus.28 Während der palästinensische Aktivist seine uneingeschränkte solidarische Anerkennung findet,29 avanciert der New Yorker Akademiker zum paradigmatischen Nachweis für die ambivalente Stellung postkolonialer Diaspora-Intellektueller in ihrem Machtverhältnis zu den marginalisierten Äußerungsräumen der globalen Kulturindustrie. Ich nehme Ahmads ebenso polemische wie wichtige Kritik sehr ernst, bin aber nicht bereit, die Auslassungen seiner Argumentation zu adaptieren. Eine dezidierte Überprüfung seiner Thesen erscheint nicht zuletzt deswegen notwendig, weil das von ihm praktizierte selektive Lesen oder Nichtlesen inzwischen zu den privilegierten Strategien kritischer SaidInterpretInnen zählt.30 Obwohl zahlreiche AutorInnen wiederholt Saids Bedeutung für die Zusammenführung vormals disparater Debatten hervorheben und ein wichtiger Teil seiner Kulturkritik und politischen Schriften nicht nur die koloniale Repräsentation des Nahen Ostens zum Gegenstand hat, sondern auch die materielle und diskursive Gegenwart der Region erwidert; obwohl sich der palästinensisch-amerikanische Kritiker selbst als orientali-

25 Aijaz Ahmad, In Theory: Classes, Nations, Literatures (London, New York: Verso, 1992) hier bes. 159ff. 26 Ebd. 1ff. 27 Ebd. 172f. 28 Ebd. 200ff. 29 Ebd. 159ff. 30 Vgl. zur Rezeption von Orientalism: Graham Huggan, »(Not) Reading Orientalism,« Research in African Literatures 36.3 (2005): 124-136.

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sches Subjekt31 beschreibt und er seit Anfang der 1990er Jahre in zunehmendem Maße auch als öffentlicher Akteur lokaler arabischer Debatten in Erscheinung tritt, werden sein Einfluss auf den innerarabischen Diskurswandel und die Rückwirkung dieser fortschreitenden direkten Involvierung kaum zum Gegenstand eigenständiger Untersuchungen erhoben. Das gilt nicht nur für das Feld der Postcolonial Studies und Cultural Studies sowie für jene FachwissenschaftlerInnen, die per Definition mit der Kultur- und Ereignisgeschichte der Region befasst sind, sondern trifft in gleichem Maße für andere Disziplinen der euroamerikanischen Wissenschaftslandschaft zu.32 Behaupten wir aber, das, was wir gewohnt sind, die arabische Welt oder die Welt des Islams zu nennen, nicht als stumme selbstkonstitutive Forschungsfolie zu benutzen, sondern als Ort ebenso selbst- wie fremdreflexiver theoretischer Wissensproduktion zu respektieren, dann verlangt eine rezeptionskritische Diskussion des verzweigten Werks Edward Said danach, auch und besonders seine innerarabische Wirkung einzubeziehen. Nur auf diese Weise ist es möglich, die von Ahmad und anderen vorgebrachten Einwände hinsichtlich der Bedeutung Saids für den globalen Prozess kultureller Repräsentation auf ihren Gehalt hin zu überprüfen. Und nur so kann umgekehrt die ebenso häufig anzutreffende, einseitig affirmative Hervorhebung des emanzipatorischen Kosmopoliten Said angemessen kritisiert werden. Letztlich geht es mir nicht nur darum, zwischen verschiedenen kollektiven Konstruktionen postkolonialer Subalternität – etwa metropolisch versus global – zu unterscheiden, sondern auch die divergierenden Positionalitäten individueller Standpunkte zu respektieren. Das erweiterte Spektrum der einbezogenen Reaktionen auf die Interventionen Saids betont die raum-zeitliche Bedingtheit seiner Rezeptionen, anstatt zu evozieren, die Genese und Wirkung des postkolonialen Diskurses vollziehe sich in einem indeterminierten Raum ohne Ort. Beide Prozesse reagieren auf jeweils konkrete soziale Impulse innerhalb von häufig konfliktgeladenen, aber nichtsdestoweniger produktiven lokalen Konfigurationen. Die daraus resultierenden Widersprüche können nicht einfach aufgehoben werden; sie dürfen aber auch nicht vorschnell als Beleg für das notwendige Scheitern des postkolonialen kritischen Engagements gedeutet werden. 31 Edward W. Said, Orientalism, 4. Aufl. (London, New York: Penguin, 1995) 25. 32 Zu den bedingten Ausnahmen, die ich im Verlauf dieser Studie diskutieren werde, zählen: Emmanuel Sivan, »Edward Said and His Arab Reviewers,« Ders. Interpretations of Islam (Princeton: Darwin P, 1985) 133-154. Isolde Kurz, Vom Umgang mit dem Anderen: Die Orientalismusdebatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation (Würzburg: Ergon, 2000) 39-57. As’ad AbuKhalil, »Orientalism in the Arab Context,« Revising Culture, Reinventing Peace: The Influence of Edward W. Said, Hg. Naseer Aruri und Muhammad A. Shuraydi (New York: Olive Branch P, 2001) 100117. Sabry Hafez, »Edward Said’s Intellectual Legacy in the Arab Word,« Journal of Palestine Studies 33.3 (2004): 76-90.

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Will postkoloniale Kritik mehr als nur ein diskursives Ventil oder ein metropolischer Katalysator sein, der angesichts der unübersehbaren lokalen und globalen Kontinuitäten von Rassismus und Imperialismus die moralische Krisis linksliberaler Bildungsbürger kompensiert, dann sollte sie nicht das weltweite Monopol auf den Ort subalternen Sprechens beanspruchen, sondern einen diskursiven Raum etablieren, in dem die globalen Subalternen ihren subalternen Status verlieren.

Die Räume Saids Edward Said bildet in eben diesem Zusammenhang ein besonders interessantes Beispiel. Seine historische Herkunft, sein politisches Engagement und seine kritische Praxis erlauben, die Figur des postkolonialen oder diasporischen Intellektuellen gleichzeitig als Subjekt und Objekt der zeitgenössischen kritischen Debatten im Nahen Osten und in den euroamerikanischen Metropolen zu analysieren. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, ob Saids Arbeiten gerade im arabischen Kontext als Korrektiv zu solchen Ideen fungieren können, die auf kulturellen, nationalen oder religiösen Essentialisierungen fußen; diese Frage müsste mit ebenso großer Dringlichkeit für die jüngere und jüngste euroamerikanische Ideengeschichte gestellt werden. Diese Studie ist kein Produkt für die expandierende Dialogindustrie. Mein grundsätzliches Interesse richtet sich vielmehr auf das Verhältnis einer in der angloamerikanischen Akademie institutionalisierten Kritik zu intellektuellen Diskursen in Kairo, Beirut oder Ramallah. Wie reagiert man dort auf kritische Interventionen, die vorgeben, über keinen festgelegten kulturellen Standpunkt zu verfügen? Ist es Said sowohl mit Blick auf die metropolische Umgebung als auch in seiner Beziehung zu den lokalen nationalen Konfigurationen möglich, eine exilierte Haltung aufrecht zu halten? Und wenn es zutrifft, dass sich – wie Said annimmt – der Kampf um kulturelle Dekolonisation von den Peripherien ins Zentrum verlagert hat, welche Bedeutung erhält dann der theoretische Raum eines postkolonialen Dazwischen, welche Relevanz erhält dieser diskursive Raum für jenen materiellen Raum, der im Begriff der »Dritten Welt« vermittelt wird und in dem das Erbe von Kolonialismus und Imperialismus sowie die Bemühungen, dieses abzuschütteln, auf ganz andere Weise wirksam sind? Wie ist umgekehrt die Rückwirkung arabischer Wirklichkeiten und Diskurse auf die Genese und fortschreitende Transformation der Kulturkritik Saids zu spezifizieren? Welchen Anteil hat er an der nicht von der Hand zu weisenden Migration arabischer Künste, Literaturen und theoretischer Standpunkte in den metropolischen Äußerungsraum? Und inwieweit partizipiert der prominente Columbia-Professor vielleicht selbst an der spätkapitalistischen Akkumulation dieser Migrationen? Ist es legitim, Said vor-

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zuwerfen, sich an der neokolonialen Aneignung des kulturellen Kapitals von weniger privilegierten lokalen Intellektuellen zu beteiligen? Mit dieser zugegeben bipolaren Fragestellung riskiere ich eventuell meinerseits, des Orientalismus verdächtigt zu werden. Ich adaptiere hier aber keineswegs die dichotome Konstruktion zweier abgeschlossener und klar voneinander getrennter Diskursräume. Es ist allzu offensichtlich, dass eine rigorose kulturgeographische Trennung von Orient und Okzident nicht nur mit Blick auf die Genese und Rezeption des Werkes Saids längst als unbrauchbar gelten muss. Tatsächlich stehen beide Situationen in einem Wechselverhältnis und kommt es auch auf der Akteursebene zu zahlreichen Überlappungen. Ich verdränge also nicht die grundsätzliche Unsicherheit, wie das Gebiet zu bestimmen oder einzugrenzen wäre, zu dem eine bestimmte Theorie oder Idee gehört. Im Gegenteil begreife ich die sich jeder vorschnellen Platzierung widersetzende Instabilität als besonders produktive Eigenschaft meines Untersuchungsgegenstandes. Eine Beschreibung der Genese, der Zirkulation, des Austausches und der Wirkung von Saids Schriften darf aber seine ambivalente Stellung inner- und außerhalb der unterschiedlichen Diskursräume nicht vorab synthetisieren, indem sie den Kritiker in einen entpolitisierten Raum theoretischer Transkulturalität oder Postkolonialität entlässt. Meine Entscheidung gegen die unilineare Betrachtung der divergierenden Produktions- und Rezeptionsdynamiken und für eine kontrapunktische Untersuchung ist zunächst eine methodische: Das gewählte Verfahren betont nicht die Einheit des Autors oder des Werkes, sondern richtet sich auf dessen Entstehungs- und Akzeptanzbedingungen sowie auf die damit unmittelbar verknüpften Widerstände und Umformungen. Soll die Transformation diskursiver Formationen beschrieben werden, müssen divergierende Darstellungs- und Institutionalisierungsprozesse genauso benannt werden wie deren soziohistorischen Kontexte. Nur, indem der perspektivische Gehalt der untersuchten Reaktionen ernst genommen wird, können spezifische Rekonfigurationen bzw. Überhöhungen kritisiert werden. Obwohl ich mit dieser Verfahrenswahl scheinbar gegen Saids kulturkritisches Paradigma argumentiere, finden sich in seinen Arbeiten durchaus auch solche Entwürfe kritischer Praxis, die geeignet sind, meine methodische Entscheidung zu stützen. So heißt es in dem Essay Traveling Theory von 1983: »[…] daß die Theorie aus dem Ort und der Zeit verstanden werden muss, in denen sie, selbst ein Teil dieser Zeit und dieses Ortes, entstanden ist, in denen und für die sie gewirkt, auf die sie reagiert hat; demzufolge kann dann der Entstehungsort mit den nachfolgenden Stellen, an denen die Theorie wieder auftaucht und angewandt wird, verglichen werden. Das kritische Bewußtsein ist ein Wissen um die Unterschiede zwischen den Situationen, auch ein Wissen um die Tatsache, daß kein System und keine Theorie die Situation erschöpfen, aus der sie stammen oder in die sie übertragen werden. Und vor allem ist kritisches Bewußtsein ein Wissen um die Widerstände und Reaktionen, die sich aus den kon-

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kreten Erfahrungen oder Interpretationen ergeben, die zur Theorie im Widerspruch stehen.«33

Ich lese also gewissermaßen Said gegen Said, um anhand seines Beispiels die konkreten Räume und Inhalte postkolonialer Praxis weiter zu differenzieren.

Kritische Kulturen Der Titel Kulturkritik ohne Zentrum ist gleichzeitig Topos und Programm. Er postuliert die besonderen Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes, bezieht sich aber auch auf das Verfahren zur Überprüfung eben dieser Hypothese. Wenn dabei divergierende Konzeptualisierungen des Saidschen Textes befragt werden, dann geschieht das nicht nur, um die diesen zu Grunde liegenden Semantiken der Begriffe Kultur und Kritik miteinander zu konfrontieren, sondern um gleichsam meinen eigenen methodologischen Vorentwurf zu modifizieren. Die theoretische Zusammenführung dieses selbstkritischen Prozesses fortschreitenden Verifizierens und Falsifizierens gibt dann jenseits des primären Arbeitsanlasses Aufschluss über die Möglichkeits- bzw. Unmöglichkeitsbedingungen einer dezentrierten oder dezentrierenden Kulturkritik. Im Folgenden unterscheide ich nicht zwischen Kultur als ontologischem Gegenstand und Kritik als analytischer Referenz, sondern begreife beide als gleichermaßen sprachlich-ästhetische wie politisch-materielle Praktiken symbolischer Bedeutungsherstellung im Spannungsfeld von Macht und Geltung. Nach diesem Verständnis umfasst das Feld der Kultur nicht nur die Lebensformen der Alltagswelt sowie die Prozesse akademischer Wissensproduktion und künstlerischen Schaffens, sondern auch die utopische Kritik derselben. Terry Eagleton weist in seiner Edward Said gewidmeten Studie The Idea of Culture34 darauf hin, dass die vorherrschenden modernen Vorstellungen von Kultur aufs Engste mit den historischen Krisenpunkten von Nationalismus und Kolonialismus, also mit den Diskursen über politische Emanzipation und imperialistische Unterdrückung verknüpft sind.35 Obwohl er sich dabei ausschließlich auf die europäische Ideengeschichte bezieht, halte ich es für legitim, davon auszugehen, dass unter umgekehrten Vorzeichen auch den jüngeren arabischen Versionen von Kultur und Kritik die historische Erfahrung des Kolonia33 Edward W. Said, »Theorien auf Wanderschaft,« Die Welt, der Text und der Kritiker, Übers. Brigitte Flickinger (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1997) 284f. Im Original: »Traveling Theory,« The World, the Text, and the Critic (Cambridge/MA: Harvard UP, 1983) 226-247. 34 Terry Eagelton, The Idea of Culture (Oxford: Blackwell, 2000). Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutsche Übertragung Was ist Kultur? Eine Einführung, Übers. Holger Fliessbach (München: Beck, 2001). 35 Ebd. 39ff.

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lismus sowie die kollektiven Bestrebungen nationaler Befreiung kontingent sind. Eagleton liest den dominanten Kulturbegriff als differenzmarkierende Identitätskultur: »Kultur, das sind die anderen«,36 schreibt er in Anlehnung an Raymond Williams berühmte Formel zur Funktion des Massebegriffs für die Genese des individuellen bürgerlichen Bewusstseins37 und hebt damit die zentrale Stellung hervor, die Strategien kultureller Signifizierung in modernen Alteritätsdiskursen einnehmen. Dagegen lässt sich die fremde Existenz nicht allein durch erkenntnistheoretische Fragestellungen oder durch die selbstkritische Interpretation kultureller Zeichensysteme aktualisieren. Sie wird vielmehr, wie Munasu Duala M’bedy bereits 1977 in seiner antianthropologischen Kritik europäischer Fremdsymbolisationen nachweist, zuvorderst durch die »Pragmatie der Politika«38 determiniert. Die erkenntniskritische Einsicht in die historische Wechselwirkung von politischer Existenz und Fremdrepräsentation hat unmittelbare Konsequenzen für jene Aktivitäten, die den Namen Kritik tragen; besonders dann, wenn diese Kritik ein so großes und so nachhaltig von den materiellen Konflikten der sich globalisierenden Moderne geprägtes Feld von Interaktionsbeziehungen betritt wie die Saids. Eine Kritik der Kritik Saids wird also nicht nur divergierende Selbsterkenntnisse und Fremdwissen über ihre eigenen Grenzen befragen, sondern auch eine politische Haltung zu den konkreten Machteffekten der untersuchten Wahrheitsdiskurse beziehen müssen. Sie existiert nicht nur im Verhältnis zu sich selbst; sie ist nicht nur Mittel zu anderen Wahrheiten, sondern auch ideologiekritisches Instrument zu alternativen Zukünften. Insofern verwende ich den Begriff der Kritik in Anlehnung an Michel Foucault als »Kunst […] der reflektierten Unfügsamkeit« – als »Funktion der Entunterwerfung«.39

Kulturelle Universalität und soziopolitische Spezifität Es ist fraglos möglich, Saids Kulturkritik einer bewusst depolitisierten Exegese zu unterziehen, um auf diese Weise ihren ästhetischen Mehrwert zu isolieren. Eine auf das Projekt kritischer Dekolonisation gerichtete ver-

36 Ebd. 41. 37 Bei Raymond Williams heißt es: »Die Masse, das sind die anderen.« Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte: Studien zur historischen Semantik ›Kultur‹, Übers. Heinz Blumensath (München: Rogner & Bernhard, 1972) 359. 38 Duala M’bedy, Xenologie 60. 39 Michel Foucault, Was ist Kritik? Übers. Walter Seitter (Berlin: Merve, 1992) 15. Der Titel der Originalausgabe des am 27.5.1978 vor der Sociéte française de Philosphie gehaltenen Vortrages lautet Qu’est-ce que la critique? Vgl. Michel Foucault, »Qu’est-ce que la critique,« (1978) Bulletin de la Société française de philosophie 84 (1990): 35-63.

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gleichende Rezeptionsanalyse kann aber unmöglich die soziopolitischen Dimensionen von Kultur und Kritik ausblenden. Nicht zuletzt aus diesem Grund ziehe ich es vor, von Saids crosskultureller Wirkung anstatt von seiner transkulturellen Geltung zu sprechen. Mein Unbehagen an dem deutschen Kompositum transkulturell rührt weniger von der diesem eigenen Emphase des Übergangs her als von der mit seiner Verwendung häufig einhergehenden Nivellierung des Schwellenschmerzes.40 Der kubanische Kulturanthropologe Fernando Ortiz entwickelt 1940 das Konzept der transculturación, um damit die politische und ökonomische Transformation einer von traditionellem Tabakanbau und kolonialer Zuckerwirtschaft geprägten Gesellschaft zu beschreiben.41 Ortiz untersucht, wie sich Kulturen kontrapunktisch konstituieren und demonstriert, dass kulturelle Identitäten genauso wie andere geohistorische Grenzziehungen das Ergebnis ungleicher Machtrelationen und konkreter Herrschaftspraktiken sind. Seine antiimperialistische Epistemologie zielt zwar auf die Überwindung eurozentristischer Dichotomien, sie präsentiert sich aber zuvorderst als lokales Projekt subalterner Machtkritik.42 Dagegen erscheint der maßgeblich von Wolfgang Welschs philosophischer Indienstnahme geprägte Begriff der Transkulturalität völlig von seinem soziologischen Hintergrund sowie von seinen konfliktären Aspekten befreit.43 Dass es in Welschs schönen neuen transkulturellen Welt »nichts schlechthin Fremdes«44 mehr gibt, mag manche(r) im Sinne eines utopischen Entwurfs begrüßen. Dass aber sein hierzulande viel zitiertes Kulturkonzept mit der »Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz«45 gleichsam die historisch generierten und sehr realen globalen wie lokalen Machtasymmetrien und Ausbeutungsverhältnisse unsichtbar macht, gibt zumindest An-

40 Vgl. Peter Handke, Phantasien der Wiederholung (Frankfurt a.M: Suhrkamp, 1983) 13. 41 Fernando Ortiz, Tabak und Zucker: Ein kubanischer Disput, Übers. Maralde Meyer-Minnemann (Frankfurt a.M.: Insel, 1987). Titel der Originalausgabe: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar: advertencia de sus contrastes agrarios, económicos, históricos y sociales, su etnografía y su tranculturación (Havanna: ohne Ang. des Verlags, 1940). 42 Siehe für eine kritische zeitgenössische Adaption der Ideen Ortiz’: Walter D. Mignolo, Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledge, and Border Thinking (Princeton: Princeton UP, 2000) 206ff. 43 Wolfgang Welsch, »Transkulturalität: Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen,« Dialog der Kulturen: Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Hg. Kurt Luger und Rudi Renger (Wien: Österreichischer Kunstund Kulturverlag, 1994) 147-169. Wolfgang Welsch, »Rolle und Veränderung der Religion im gegenwärtigen Übergang zur transkulturellen Gesellschaft,« Religionen in der Pluralität: ihre Rolle in postmodernen transkulturellen Gesellschaften; Wolfgang Welschs Ansatz in christlicher und islamischer Perspektive, Hg. Dirk Christian Siedler (Berlin: Alektor, 2003) 13-47. 44 Wolfgang Welsch, »Rolle und Veränderungen der Religion im gegenwärtigen Übergang zur transkulturellen Gesellschaft,« 21. 45 Ebd.

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lass zur Skepsis. Der Skandal von Rassismus, Kolonialismus und Sexismus liegt zuvorderst nicht im Denken eines schlechthin Fremden, das nicht mehr existiert. Das eigentliche Grauen bilden die fortwirkenden diskriminierenden Effekte dieses Denkens, obwohl der oder die Fremde von Natur niemals existiert hat. Da es mir nicht möglich erscheint, das von Ortiz gegen die eurozentristische Akkulturationsforderung entwickelte Modell durch die von Welsch und anderen geschaffenen Vorstellungswelten beliebig konsumierbarer Transdifferenzen46 hindurch zu führen oder hinüber zu retten, ziehe ich es vor, das englische Präfix cross- zu verwenden. Ohne dessen ethnonationalistische Emphase zu adaptieren, orientiere ich mich dabei an Anouar Abdel-Maleks hegemoniekritischem Entwurf einer crosszivilisatorischen Komparatistik.47 Der ägyptische Soziologe analysiert Kulturformationen westlicher genauso wie die trikontinentaler Gesellschaften unter Berücksichtigung ihrer spezifischen sozioökonomischen und geopolitischen Determinanten, anstatt Letztere auf ihre Differenz gegenüber der sich universalisierenden Exzeptionalität des Westens zu reduzieren. Erst auf Grundlage dieser konzeptionellen Entscheidung, die unweigerlich an die epistemologische Aufwertung trikontinentaler Perspektiven geknüpft ist, wird es möglich, das Partikulare in seiner Relation zu globalen Transformationsprozessen darzustellen. Diese Studie ist also eine cross-kulturelle Studie, weil ihr komparatistischer Ansatz die theoretischen Diskurse kultureller Globalisierung in die soziopolitische Dialektik von Spezifität und Universalität platziert, anstatt dieselbe zu leugnen. Obwohl ich die Existenz eines ontologischen Orients genauso verneine wie die Behauptung eines uniformen westlichen Terrains, halte ich es gerade bei der Analyse der keineswegs gleichgerichteten und manchmal antagonistischen Wirkung Saids für unerlässlich, die fortwährenden Effekte von ideologischen Begriffen wie der Westen oder die Araber wahrzunehmen. Sie haben als diskursive Konstrukte und politische Kategorien, als Ordnungsmuster kultureller Differenzsetzung oder geostrategische Planungsfelder nach wie vor enormen Anteil an der Konsolidierung und Transformation konkreter materieller Verhältnisse. Trotz ihrer 46 Zur Kritik des Hybriditätshypes in der deutschsprachigen Diskussion: Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität: Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus (Bielefeld: transcript, 2005) hier bes. 85ff. Vgl. zur Adaption des Transkulturalismusmodells in den englischsprachigen Postcolonial Studies Marie Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation (London, New York: Routledge, 1992). Zu dem jüngst eingeführten Begriff der Transdifferenz siehe Lars Allolio Näcke, Britta Kallscheuer und Arne Manzeschke, Hg., Differenz anders denken: Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz (Frankfurt a.M.: Campus, 2004). 47 Siehe Anouar Abdel-Malek, »Meaningfull Social Theory: The cross-civilisational Perspective,« Civilisations and Social Theory, von Anouar Abdel-Malek (London: Macmillan P, 1981) 43-53. Anouar Abdel-Malek, »The Concept of Specifity,« ebd. 160-174.

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imaginären Herkunft wirken sie direkt und keineswegs gleich auf die konkreten Lebenswirklichkeiten von Menschen an sehr verschiedenen Orten. Sie kodeterminieren somit ebenfalls die spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Theorie und Kritik sowie die Formation divergierender interpretativer Gemeinschaften.48

Zur Gliederung Die Bewegungsrichtung der vorliegenden Arbeit folgt einer weitgehend chronologischen Ordnung. Jedes ihrer fünf Kapitel wählt eine oder mehrere Schlüsselstudien aus dem von Said hinterlassenen Textkorpus zum Ausgangspunkt, um dann diachron, d.h. in Rück- und Ausblicken deren Genese und Rezeption zu beschreiben. Die Rezeptionszeugnisse stammen aus so verschiedenen Feldern wie der akademischen Literaturkritik und Historiographie, der politischen Theorie, des journalistischen und kreativen Schreibens sowie der audio-visuellen Künste. Kapitel Eins, Autofiktionale Erzählungen und Memoiren: Conrad und Said, nutzt Saids wenig beachtete Dissertationsschrift von 196349 sowie seine kontrovers diskutierten Memoiren,50 um die übergeordnete Fragestellung nach der Wechselwirkung von Biographie, Autofiktion und epistemologischer Praxis zu eröffnen. Da die zu diesem Zweck einbezogenen Texte und kontextuellen Referenzen einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten umspannen, kann das Kapitel zugleich als eine erweiterte Einführung gelesen werden. Kapitel Zwei, Ein neuer Anfang: Beginnings, rekonstruiert daraufhin mit Blick auf die 1975 erschienene Studie Beginnings: Intention and Method eine frühe und besonders nachhaltige Wende in der Kulturkritik Saids, die nicht nur von den zeitgenössischen poststrukturalistischen Theoriedebatten beeinflusst ist, sondern in vielerlei Hinsicht die fortschreitende Politisierung des Literaturkritikers antizipiert. 51 Kapitel Drei, Die Kritik der Orient-Re-Präsentation, greift dann jene Debatten auf, die selbst 30 Jahre nach der Erstpublikation der Orientalismus-Studie ungebrochen aktuell sind. Der große Umfang dieser Sektion ist nicht zuletzt in dem Bemühen begründet, die häufig reduktionistischen Kanonisierungs- und Instrumentalisierungsversuche des wohl bekanntesten Textes Saids unter Einbeziehung seiner spezifischen historischen Präzedenzien und divergierenden diskursiven Effekte einer kritischen Revision zu unterziehen. 48 Siehe Stanley Fish, Is there a Text in this Class? The Authority of Interpretive Communities (Cambridge/MA: Harvard UP, 1980). 49 Edward Said, Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography (Cambridge/MA: Harvard UP, 1966). 50 Edward W. Said, Out of Place: A Memoir (New York: Knopf, 1999). 51 Edward W. Said, Beginnings: Intention and Method (New York: Columbia UP, Basic Books, 1975).

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Kapitel Vier, Exil, säkulare Kulturkritik und postkolonialer Humanismus, analysiert ausgehend von Saids exiltheoretisch generiertem Modell intellektueller Verantwortung dessen Überführung in eine komparatistische Methode für das Lesen der geteilten Erfahrung von Kolonialismus und Imperialismus. Dieses 1993 in Culture and Imperialism52 ausformulierte kontrapunktische Verfahren begreife ich zugleich als methodologische Herausforderung für mein eigenes cross-kulturelles Projekt. Werden in den Kapiteln Eins bis Vier Genese und Wirkung der akademischen Schriften, der journalistischen Beiträge sowie des politischen Engagements zunächst mit Blick auf die metropolischen Diskursbedingungen dargestellt und erst in einem zweiten Schritt nach ihrem Einfluss auf die innerarabische Situation befragt, vollzieht Kapitel Fünf, Eine andere Leserschaft – das Andere als Leserschaft, einen grundsätzlichen Perspektivwechsel. Hier erscheint Said primär als politischer Akteur und öffentlicher Intellektueller des Nahen Ostens. Dabei wird nicht nur rekonstruiert, auf welche Weise seine unmittelbare Präsenz in den lokalen Debatten der 1990er Jahre zu einem stetig wachsenden Interesse arabischer LeserInnen an seinem akademischen Gesamtwerk führt. Die Analyse dieser partikularen Rezeptionsdynamiken erlaubt zudem, unter gänzlich veränderten Vorzeichen die Ambivalenz der cross-kulturellen Wirkung Edward Saids zu illustrieren. Vieles von dem, was in den vorangegangenen Kapiteln nur in Randbemerkungen oder Exkursen behandelt wird – besonders die Frage nach der Rückwirkung der arabischen Konfigurationen auf die Transformation des metropolischen Werkes – findet hier einen deutlich erweiterten Referenzkorpus. Das Resümee: Dezentrierung der Kulturkritik? kehrt zu den Ausgangsfragen und Arbeitsthesen der Studie zurück und spezifiziert in vergleichender Perspektive die wechselnden epistemologischen, politischen und kulturellen Positionen Edward Saids. Für das konkrete Einzelbeispiel werden die emanzipatorischen Potentiale, diskursiven Hindernisse und weltlichen Kollisionen theoretischer Dezentrierung zusammengefasst. Gesonderte Aufmerksamkeit erhält in diesem Zusammenhang Saids widerspenstiger Humanismus als Strategie kritischer Dekolonisation. Hierzu wird der posthum veröffentlichte Text Humanism and Democratic Criticism einbezogen.53 Das Resümee schließt mit einem alternativen Entwurf crosskultureller Kritik als kollegiale Komparatistik, die nicht nur internationale Solidarität und Anerkennung von Differenz einfordert, sondern diese Ansprüche auch institutionell und methodisch einlöst.

52 Edward W. Said, Culture and Imperialism (New York: Knopf; London: Chatto & Windus, 1993). Im Folgenden verwende ich die 1994 bei Vintage, New York erschienene Ausgabe. 53 Edward W. Said, Humanism and Democratic Criticism (New York: Columbia UP; Houndmills et al.: Palgrave Macmillan, 2004).

EINLEITUNG: KULTUR UND KRITIK | 29

Leseangebote Der Gesamttext versteht sich als Essay, als eine freihändige Neusetzung von Bekanntem und weniger Bekanntem. Ohne sich je als definitiv zu behaupten, behandeln die einzelnen Kapitel ausgewählte Aspekte ausführlich, während andere eher fragmentarisch oder nicht repräsentiert sind. Der Verzicht auf systematische Geschlossenheit soll vor allem Anknüpfungspunkte für weiterführende Diskussionen schaffen. Die offene Form erlaubt den LeserInnen, der Studie gemäß ihrer jeweiligen Erkenntnisinteressen zu begegnen. Es ist möglich, sie als einführende Werkmonographie, als intellektuelle Biographie oder als diskurstheoretische Netzwerkanalyse zu lesen. Kulturkritik ohne Zentrum lässt jede dieser Lektüren zu. Vor allem empfehle ich die Studie aber als Vehikel zur Erschließung eines großen Spektrums sich häufig einander ausschließender Diskurse. Dabei handelt es sich genauso um dominante Repräsentationen habitueller Wissensordnung wie um gegenläufige, gezielt marginalisierte oder aus strukturellen Gründen nur schwer zugängliche Positionen. Die cross-kulturelle Rezeptionsanalyse schärft zudem das Bewusstsein für weniger gleichgerichtete Aussagefelder und nicht diskursive Ereignisse; für Unterbrechungen, Widersprüche und Spaltungen jenseits der tradierten kulturgeographischen und ideologischen Sollbruchstellen. Es sind zuvorderst diese Störungen, in denen ich das dezentrierende Potenzial der Kulturkritik Edward Saids vermute.

1. Autofiktionale Erzählungen und Memoiren: Conrad und Said

»Once again I recognized that Conrad had been there before me […]«1

Mit Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography2 erscheint 1966 die erste Buchpublikation Edward W. Saids. Die überarbeitete und erweiterte Dissertationsschrift des jungen Literaturwissenschaftlers zählt sicherlich zu seinen am wenigsten bekannten Texten.3 Obwohl inzwischen unzählige Reader und Einführungen den unterschiedlichsten Facetten und entlegensten Wirkungsfeldern seiner heterogenen Arbeiten nachgehen, wird die Conrad-Studie regelmäßig von dem übrigen Werk-Korpus abgetrennt und weitgehend von einer ernsthaften Rezeption ausgeschlossen.4 Auf diese Weise entsteht das verzerrte Bild einer intellektuellen Biographie, die frühestens Mitte der 1970er Jahre, meist aber erst mit dem Erscheinen von Orientalism5 ihren Anfang nimmt. Die Gründe für diese Geringschätzung und weitgehende Exklusion von Saids vergleichendem Lesen der Briefe und Kurzgeschichten Joseph Conrads sind allzu offensichtlich: Zu ungebrochen erscheint rückblickend der strukturalistische Wissenschaftspathos einer exklusiv am europäischen Literatur- und Theoriekanon ausgerichteten Untersuchung; zu überzeugt präsentiert sich ihr Verfasser von der Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes und der Einheit des Autoren1 2 3 4

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Edward Said, »Between Worlds,« London Review of Books 20.9 (1998): 7. Edward Said, Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography (Cambridge/ MA: Harvard UP, 1966). Die Dissertationsschrift wird 1963 eingereicht. Eine seltene Ausnahme stellt in dieser Hinsicht Abdirahman A. Husseins intellektuelle Biographie dar: Edward Said: Criticism and Society (London, New York: Verso, 2002) 19ff. Edward Said: Orientalism (London, New York: Routledge & Paul, 1978; New York: Pantheon Books, 1978).

32 | KULTURKRITIK OHNE ZENTRUM

subjektes, als dass sich diese Qualifikationsarbeit des Harvard-Absolventen problemlos in das vorherrschende Bild eines hochpolitisierten Kulturkritikers und oppositionellen Inaugurators von Gegenkanon und kolonialer Diskursanalyse einfügen ließe. Dennoch erscheint es mir sowohl mit Blick auf Saids fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Person und der Literatur Joseph Conrads als auch wegen deren inzwischen geradezu kanonischen Stellung innerhalb des Referenzsystems postkolonialer (Literatur-)Kritik6 – vielleicht aber auch für ein besseres Verständnis des nicht selten konservativ-humanistisch anmutenden und nie abgelegten vor-poststrukturalistischen und anti-postmodernen Idealismus des späteren Kulturkritikers – besonders wichtig, diese Vorgeschichte, also das Vorleben des postkolonialen Kritikers Edward Said genauer zu betrachten. Ein solcher Rückblick auf die frühe akademische Ausbildung in den US-amerikanischen Literaturwissenschaften der 1950er und 1960er Jahre evoziert natürlich seinerseits die Frage nach dem Davor, nach Herkunft, Elternhaus, Kindheit, Heranwachsen, schulischer Ausbildung etc. Ich werde jedoch, anstatt die üblichen biographischen Spekulationen über die Verbindung von Leben und Werk anzustellen, also anstatt den nahe liegenden Schritt zurück, einen Sprung nach vorn tun. Saids Texte zeichnen sich sowohl hinsichtlich ihres sozialen und biographischen Hintergrundes als auch in ihren Quellen und ihrer Methodenwahl durch einen hohen Grad expliziter Selbstreflexivität aus und sind daher selbst im Stande, Auskunft über die Bedeutung von individuellen, kollektiven und Lektüre-Erfahrungen zu geben. Außerdem bietet sich gerade das letzte, noch zu Lebzeiten publizierte Buch Out of Place7 für ein vergleichendes Lesen an. So kann der Kreis zwischen Autofiktionalem und Autobiographischem geschlossen und gleichzeitig die Frage der Theorie, also die Frage nach der Wechselwirkung von Leben und Welterklärung, von individueller Erfahrung und epistemologischer Verfahrensweise, eröffnet werden. Da zwischen Saids Dissertation und seinen Memoiren eine Zeitspanne von 35 Jahren und nahezu 20 Buchpublikationen liegen, kann diese Frage selbstverständlich in nicht mehr als einem Ausblick bzw. im Verweis auf die folgenden Kapitel beantwortet werden.

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7

Vgl. zu dieser Entwicklung, für die Said maßgeblich verantwortlich ist: Daniel R. Schwarz, Rereading Conrad (Columbia/MO et al.: U of Missouri P, 2001). Gail Fincham, Hg., Under Postcolonial Eyes: Joseph Conrad after Empire (Cape Town: U of Cape Town P, 1996) sowie Benita Parry, Conrad and Imperialism: Ideological Boundaries and Visionary Frontiers (London: Macmillan, 1983). Edward W. Said, Out of Place: A Memoir (New York: Knopf, 1999).

1. AUTOFIKTIONALE ERZÄHLUNGEN UND MEMOIREN: CONRAD UND SAID | 33

Die alte Neue Kritik und andere frühe literaturwissenschaftliche Prägungen Bevor Said als Doktorand der Vergleichenden Literaturwissenschaften nach Harvard geht, studiert er seit 1957 in Princeton Englische Literatur und Geschichte. Die dort vermittelte literaturwissenschaftliche Praxis ist von jenen auf den Text konzentrierten strukturalistischen Verfahren angeleitet, mit denen seit etwa Anfang der 1930er Jahre die so genannten New Critics auf sich aufmerksam machen. Mit der vergleichsweise späten Herausbildung einer akademischen Literaturkritik in den USA und ihrer fortschreitenden Institutionalisierung an den Englischabteilungen der Universitäten kann sich eine neue Generation von Literaten und Wissenschaftlern etablieren, die sich gezielt dem Vorrang traditionell-philologischer und antiquarischer Literaturstudien widersetzt. Der enorme Einfluss des New Criticism resultiert weniger aus seiner theoretischen und programmatischen Kohärenz als aus der pädagogischen Hervorhebung einer charakteristischen Lesetechnik, die den literarischen Text als ein sich selbst genügendes sprachliches Produkt begreift. Praktische Literaturkritik, so der Titel der einflussreichen Studie I.A. Richards aus dem Jahre 1929,8 verlangt ein close reading, das den individuellen Text und nicht seine Korrelationen zu dem Leben des Verfassers oder allgemeine historische, ideologische, politische und philosophische Faktoren zur wichtigsten Quelle einer vernünftigen Interpretation erhebt. Inspiriert von den Arbeiten T.S. Eliots und Matthew Arnolds sowie im Dialog mit der französischen nouvelle critique finden die jungen amerikanischen KritikerInnen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den zahlreichen neu geschaffenen Fachperiodika ein Forum für ihre auf die Frage nach den formalen Merkmalen spezifischer Texte fokussierten Essays. Was als kritische Rückbesinnung auf die innere Ordnung sprachlicher Kunstwerke beginnt, mündet sehr bald in eine besondere US-amerikanische Variante des Strukturalismus. Dessen hermetischer Formalismus ruft zusehends auch inneren Widerspruch hervor. Die Auseinandersetzungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre offenbaren nicht nur den eng gefasst fortgeschriebenen Kanon der westlichen Literaturtradition samt ihrer statischen Unterscheidung zwischen (wertvoller) Hoch- und (wertloser) Populärkultur und lenken die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis des Textes zur extratextualen Welt historischer Ereignisse, sondern bereiten mit der wiederholten Forderung, nun endlich auch ästhetische Theorie und Sprachphilosophie in die literaturkritische

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Ivor Armstrong Richards, Practical Criticism: A Study of Literary Judgment (London: Paul, 1929).

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Praxis einzubeziehen gleichsam den Weg für eine generelle Beschäftigung mit den konkurrierenden Konzeptionen von Literaturtheorie.9 Zu dieser Zeit lehrt in Princeton mit Richard Palmer Blackmur einer der renommiertesten und zugleich unabhängigsten Vertreter des New Criticism. Der Student Edward Said besucht hier die Vorlesungen eines akademischen Lehrers, dessen Literaturkritik sich rigoros jeder eindeutigen Zuordnung entzieht. Zwar teilt der Autodidakt mit den New Critics die Ablehnung einer älteren Generation von konservativ-nationalistischen Amerikanisten, dennoch impliziert seine Konzentration auf formale Textanalysen keineswegs die Anerkennung neu etablierter Regeln und ideologischer Barrieren literaturwissenschaftlicher Spezialisierung: »Wherever Blackmur finds a reification, a hard definition, a system, a strident tone, an overly busy label, a conception forced into overwork, a scheme running on by itself, there he methodically introduces the ›uncontrollable mystery on the bestial floor‹.«10 So betont Said rückblickend die Sonderstellung seines Lehrers innerhalb der amerikanischen Literaturkritik. In der Tat scheint es wenig angemessen, Essaysammlungen wie The Lion and the Honeycomb11 oder Language as Gesture12 mit dem Label des New Criticism zu versehen. Blackmur liest Werke der Literatur als säkulare Inkarnationen unmittelbarer Lebenserfahrungen.13 Für ihn besteht die Aufgabe des Kritikers darin, zwischen soziopolitischer Wirklichkeit und ihrer textuellen Aktualisierung zu vermitteln. Ein solches Oszillieren zwischen Text und Welt will weniger erklären als darstellen; es beabsichtigt einen diskursiven Raum zwischen Geschichte, Gesellschaft und Autor zu eröffnen, der es erlaubt, den literarischen Text nicht nur als formal-ästhetisches, sondern auch als soziales Phänomen zu behandeln.14 Obwohl Blackmurs ausgesprochene Ignoranz gegenüber nicht-westlichen Literaturen keine ernsthafte Reflexion kolonialer Erfahrungen und postkolonialer Fragestellungen erlaubt, antizipiert seine kritische Praxis in vielerlei Hinsicht jene theoretischen Veränderungen, die in den Jahrzehnten nach seinem Tod die amerikanische Literaturkritik prägen werden: die fortschreitende Formierung einer interdisziplinären Kulturkritik sowie die schrittweise Etablierung variierender komparativer Ansätze für die ideologiekritische Analyse von Literatur unter Berücksichtigung ihrer soziopolitischen und historischen Bedingungen, aber auch mit Blick auf ihre aktuelle Deutungsmacht. 9 10 11 12 13 14

Siehe Grant Webster, The Republic of Letters: A History of Postwar Literary Opinion (Baltimore/MD: Johns Hopkins UP, 1979). Edward W. Said, »The Horizon of R. P. Blackmur,« Ders., Reflections on Exile and Other Essays (Cambridge/MA: Harvard UP, 2000) 252. Richard P. Blackmur, The Lion and the Honeycomb: Essays in Solitude and Critique (New York: Horcourt, Brace and Company, 1955). Richard P. Blackmur, Language as Gesture: Essays in Poetry (London: Allen and Unwin, 1954). Blackmur, The Lion and the Honeycomb 196ff. Vgl. James T. Jones, Wayward Sceptic: The Theories of R. P. Blackmur (Urbana/IL: U of Illinois P, 1986).

1. AUTOFIKTIONALE ERZÄHLUNGEN UND MEMOIREN: CONRAD UND SAID | 35

Said ist seit 1961 Tutor an den Fachbereichen Geschichte und Literatur der Harvard University. Dort wird er 1964 mit seiner Studie zu den autofiktionalen Erzählungen Joseph Conrads promoviert. Die Dissertationsschrift wird von Monroe Engel, einem Dickens-Forscher und Autor zahlreicher Novellen, sowie von dem Joyce-Fachmann Harry Levin betreut. Levin hat bereits 1940 mit seiner kritischen Einführung in das Werk James Joyce15 eine Literatur zum Untersuchungsgegenstand gemacht, deren Verfasser nicht in seinem Herkunftsland Irland, sondern in Paris, Zürich und Triest zu schreiben begann. Wie zentral für den jüdischen Literaturprofessor das Thema des literarischen Exils ist, wird in einem seiner späteren Essays, Literature and Exile,16 deutlich, in dem er versucht, eine allgemeine historische Typologie dieser spezifischen Literaturgattung zu entwickeln. Levin und Engel repräsentieren in Harvard das noch um Anerkennung ringende Fach der Vergleichenden Literaturwissenschaften. Letzterer steht als Herausgeber in engem Kontakt zu Lionel Trilling, jenem an der Columbia-Universität lehrenden Verfasser der einflussreichen Essaysammlung The Liberal Imagination.17 Trilling ist wie kaum ein anderer der so genannten New York Critics im Stande, die Lektüre literarischer Texte mit zeitgenössischen Debatten über Politik, Erziehung oder Geschlechterverhältnisse zu verbinden. Er wird Said 1964 an seinen Lehrstuhl holen. In Zeitschriften wie Partisan Review veröffentlicht Trilling eine Literaturkritik, die sich zwar als Korrektiv zur politischen Rhetorik versteht, aber innerhalb des Diskurses linksliberaler Intellektueller die Rolle einer selbstkritischen, bisweilen konservativen Gegenstimme erhält.18

1.1 Existentielles Chaos und literarische Selbstaffirmation Verglichen mit dem methodischen Eklektizismus Blackmurs und Trillings Hervorhebung der Wirkung gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf den Akt literarischen Schaffens wirkt die Qualifikationsarbeit des Doktoranden Said geradezu systematisch geschlossen und beinahe quietistisch hinsichtlich ihrer Nichtinvolvierung in aktuelle gesellschaftspolitische Fragen. Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography steht noch deutlich in der Tradition des New Criticism vor dessen innerer Krise. Die Untersuchung 15 Harry Levin, James Joyce: A Critical Introduction (Norfolk: New Directions Books, 1941). 16 Siehe Harry Levin, »Literature and Exile,« Ders., Refractions: Essays in Comparative Literature (New York: Oxford UP, 1966) 62-81. 17 Lionel Trilling, The Liberal Imagination: Essays on Literature and Society (New York: Viking Press, 1950). 18 William M. Chace, Lionel Trilling: Criticism and Politics (Standford: Standford UP, 1980) und Meera Panigrahi, Humanism and Culture: Lionel Trilling and the Critical Tradition (New Dehli: Concept, 2001).

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generiert ihre zentralen Arbeitsthesen und Ergebnisse aus einem eng an den Texten vollzogenen Lesen individueller literarischer Arbeiten. Said missachtet die formale Vorgabe einer konsequent textimmanenten Interpretation lediglich, um die Briefe des Literaten einer ebenso strengen synchronen Lektüre zu unterziehen. Dabei soll die Korrespondenz vorrangig keine Auskunft über die allgemeinen historischen Präzedenzien des literarischen Schreibprozesses Conrads geben; sie soll keinen außerhalb des schreibenden Selbst liegenden Diskurs oder Kontext offenlegen. Vielmehr nutzt Said beide Textsorten, um den Selbstfindungsprozess ihres Verfassers zu illustrieren. Das zentrale Erkenntnisinteresse der Conrad-Studie richtet sich also auf einen recht traditionellen Gegenstand humanistischer Literaturforschung: auf das Bewusstsein des Autors, auf Literatur als unmittelbarer Ausdruck einer individuellen Identitätsgenese, auf das Schreiben als »maîtrise de conscience«.19 Conrads Kurzgeschichten werden als Versuche der Selbstdefinition und als Form persönlicher Geschichtsschreibung erklärt. In ihnen spiegelt sich die nie vollends gewichene Ungewissheit über sich selbst und das anhaltende Ringen um die Beherrschung des Bewusstseins unter den Bedingungen des Exils. Der frankophone Pole Joseph Conrad verlässt seine Heimat bereits als Jugendlicher, um für die französische und britische Handelsmarine zu arbeiten. Nachdem Polen seiner nationalen Unabhängigkeit beraubt wird, entscheidet er sich, in England sesshaft zu werden. Erst dort beginnt seine Karriere als Schriftsteller. Wie das seiner literarischen Figuren ist auch Conrads Schicksal nachhaltig durch die Erfahrung von Diskontinuität und Dislokation gekennzeichnet. Insofern – so glaubt Said – kann die kurze Form der überwiegend in rückblickendem Erzählmodus verfassten Geschichten auf besonders authentische Weise Conrads intellektuelle Anstrengungen illustrieren, den vielfach gebrochenen Erfahrungen seines Selbst einen Sinn zu geben. Said liest die Erzählungen und Kurzgeschichten des Exilanten als Idiom eben dieses Bewusstseinsprozesses.20 Wenn er die untersuchten Kurzgeschichten als formal ungeordnet und richtungslos charakterisiert und ihren Verzicht auf eine einheitliche oder geschlossene Erzählperspektive hervorhebt,21 dann erklärt er diese Qualitäten mit Conrads exilierter Wahrnehmung der Mechanismen menschlicher Existenz. Die besondere Schreibsitutation erlaube keine endgültige Identitätsfixierung. Conrads Literatur sei die eines »homo duplex«22: »He believed that his life was a series of short episodes (rather than a long, continuous, and orderly narrative) because he was himself so many different people, each one living a

19 20 21 22

Said, Joseph Conrad 27. Ebd. 4ff. Ebd. 27ff. Ebd. 38.

1. AUTOFIKTIONALE ERZÄHLUNGEN UND MEMOIREN: CONRAD UND SAID | 37

life unconnected with the others: he was a Pole and an Englishman, a sailor and a writer.«23 Das vorrangige Ziel der Studie besteht in der bereichernden Erklärung des Werkes als Effekt eines individuellen Lebens. Die Beziehung von historischer Erfahrung und Literatur wird auf die persönliche Geschichte des Autors reduziert. Für diese Lesart kann weder der von Georg Lukács in die marxistische Literaturtheorie eingeführte Begriff des Klassenbewusstseins,24 noch jene psychoanalytische Kategorie des Unbewussten, mit der Freud die Präsenz verdrängter traumatischer Erfahrungen und Ich-Spiegelungen zu fassen sucht,25 einen geeigneten Bezugspunkt bieten. Saids Interpretation führt den literarischen Text auf die konstituierende Leistung des Bewusstseins zurück. Sie fahndet nach einem Sinn als vom Autorenindividuum intendierten Sinn, will den LeserInnen jedoch keine darüber hinausreichende allgemeine Bedeutung anbieten. Said bezieht sich explizit auf Sartres Unterscheidung zwischen Kausalität und Verstehen,26 um sich angesichts der Unvereinbarkeit beider Konzepte zugunsten des letzteren zu entscheiden: »The literary critic is, I think, most interested in comprehension, because the critical act is first of all an act of comprehension: a particular comprehension of the written work, and not of its origins in a general theory of the unconscious.«27 Demnach verlangt ein idealtypisches Verstehen literarischer Texte die Annäherung an das Bewusstsein des Autorensubjekts. Ein historisch-materialistisches Verstehen, das die Kurzgeschichten Conrads von der Welt her zu begreifen versucht, wird nicht in Betracht gezogen. Nicht ohne Grund verweist Said zur theoretischen Fundierung seines Verfahrens auf Heideggers Deutung echten Verstehens als Existential des Daseins.28 Wenn der Literaturkritiker die von ihm untersuchten Texte als identisch mit den Bewusstseinsleistungen Conrads begreift, dann bedient er sich einer phänomenologischen Methode. Das Autorensubjekt wird zwar auf die materielle Welt bezogen, doch völlig abgetrennt behandelt.29 Saids transzendentale Reduktion in literaturkritischer Absicht betont die Autonomisierung des sprachlichen Kunstwerkes als Ausdruck eines identitätsstiftenden Austauschs zwischen Welt und Autor. Sein Bemühen, einen einheitsstiftenden Gegenstand zu erfassen, verlangt danach, die Summe der Conradschen Erzählungen als lebendige Reflexion der sich 23 Ebd. VIII. 24 Georg Lukács. Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik (1923; Darmstadt Neuwied: Luchterhand, 1976). 25 Siehe Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916; Berlin: Kiepenheuer, 1955) 301ff. 26 Said, Joseph Conrad 6f. 27 Ebd. 7. 28 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Halle a. d. S.: Niemeyer, 1927) 143ff. 29 Abdirahman Hussein glaubt, dass diese in der Conrad-Studie entwickelte existentialistisch-phänomenologische Methode von Said nie ganz aufgegeben wird. Er vermutet darin einen Hauptgrund für die Widersprüche seines Gesamtwerkes. Siehe Hussein, Edward Said 33ff.

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entwickelnden Persönlichkeit zu deuten. Auf diese Weise wird trotz der Hervorhebung zahlreicher biographischer Brüche und wechselnder Kontexte an der Teleologie und Geschlossenheit des Gesamtwerkes festgehalten. Saids Studie ist das Produkt eines auf Totalität gerichteten Interpretationsprozesses. Sie bietet eine an dem traditionellen Paradigma der Einheit orientierte vernünftige Interpretation, erfüllt also vor allem die herkömmliche Brückenfunktion der Literaturkritik. Angeleitet von diesem Motiv demonstriert Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography zu vorderst, was praktische Kritik im Sinne des New Critiscism meint. So vermissen die heutigen LeserInnen der Dissertationsschrift zu Recht viele jener Qualitäten, die Saids spätere Arbeiten auszeichnen: etwa die diskurstheoretische Analyse der politisch-ökonomischen Möglichkeitsbedingungen und Auswirkungen textueller Traditionen, die komparatistische Einbeziehung der Erfahrung von Kolonialisierten oder die Befragung des eigenen Faches nach seinem Verhältnis zur Macht; vor allem aber das Offenlegen der eigenen Schreibposition sowie deren theoretische und ideologiekritische Implikationen. Das historische Autorensubjekt Edward Said tritt hier noch gänzlich hinter seinem Gegenstand zurück: ein polnisch-englischer Literat ohne klare Identität, ein humanistischer Pessimist, der einer chaotischen Welt ausgesetzt ist und dieser mit Schopenhauerscher Skepsis begegnet; eine Literatur, die das gebrochene Verhältnis der eigenen Vergangenheit zum Gegenwärtigen dramatisiert und damit dem individuellen Dilemma der Selbstaffirmation Ausdruck verleiht.30 Conrads literarisches Schaffen wird als fortgesetzte Suche nach dem erlösenden Mittelweg zwischen einem egozentrierten Willen zur Wahrheit, der Brutalität der eigenen essentialistischen Weltvorstellungen und der selbstlosen Aufgabe an die hoffnungslose Unordnung menschlicher Existenz interpretiert. Heart of Darkness, Conrads wohl bekannteste und meistbesprochene Erzählung aus dem Jahre 1899, avanciert in dieser Lesart zu der zugespitzten literarischen Figuration eines eher philosophischen denn historisch-politischen Themas: »[…] either one loses one’s sense of identity and thereby seems to vanish into the chaotic, undifferentiated, and anonymous flux of passing time, or one asserts oneself so strongly as to become a hard and monstrous egoist.«31 Während der von England aus berichtende Ich-Erzähler Marlow die erste Option repräsentiert, nimmt das zweite Identitätsmodell in dem Anti-Helden Kurtz Gestalt an. Conrad schickt seinen englischen Protagonisten in den zentral-afrikanischen Urwald, um ihn dort auf den Leiter einer kolonialen Handelsniederlassung treffen zu lassen. Die Suche nach dem Zentrum unzivilisierter Barbarei nimmt eine erschütternde Wende. Kurtz ist die personifizierte Lüge des moralischen Terrors kolonialer Gewalt. Als Marlow die Geschichte beendet, ist die orthodoxe Sicht des Empire, der patriotisch verklärte Glaube an 30 Said, Joseph Conrad 88ff. 31 Ebd. 13.

1. AUTOFIKTIONALE ERZÄHLUNGEN UND MEMOIREN: CONRAD UND SAID | 39

die zivilisatorischen Errungenschaften Europas und damit die Gewissheit seines Selbst aufs Äußerste destabilisiert. Zurückgekehrt nach London und zutiefst verunsichert, riskiert der Erzähler, sich im eigentlichen Herzen kolonial-britischer Finsternis zu verlieren. Heart of Darkness bringe zwar das Unbehagen an einem Ideen-Imperalismus zum Ausdruck, der allzu leicht in einen Imperialismus der Nationen mündet, glaubt Said. Die Erzählung erwidere aber vorrangig das ambivalente Verhältnis des exilierten Literaten zu seinem eigenen Europäertum. Die arche-europäische Figur Kurtz dient hierbei als Repräsentant des sich selbst quälenden europäischen Geistes.32 Dagegen bleiben die materiellen Hintergründe der in ihr kulminierenden kolonialen Täterschaft im diffusen Bereich des intellektuell Unergründlichen verborgen. Sie werden lediglich in jenem verständnislosen Schaudern von Erzähler und Zuhörern angedeutet, die »das Grauen«33 der kolonialen Wirklichkeit erahnen. Said behandelt den in Conrads Literatur anzutreffenden Widerspruch zwischen Ideen und Wahrheiten kolonialer Praktiken nicht mit Blick auf die Frage globaler Gerechtigkeit oder als Ausgangspunkt einer widerständigen Kritik, sondern als ein Problem künstlerischen Ausdrucks. Seine Diskussion der Moralität literarischen Schaffens geschieht aus einer exklusiv eurozentristischen Perspektive. Der Literaturkritiker interessiert sich nur für solche historischen Ereignisse, die unmittelbar die Weltsicht des von ihm diskutierten Autors veränderten.34 Verstanden als komplexe Kombination fiktionaler Repräsentationen und philosophischer Reflexionen kann die Literatur Joseph Conrads nur im Rekurs auf dessen persönliche Bewusstseinsgenese einer vernünftigen Interpretation zugeführt werden. Said will nicht die existentielle Involvierung des Autors in konkrete historische Prozesse zum Vorschein bringen. Stattdessen richtet er sein Hauptinteresse auf deren individuelle Überführung in das Medium der Literatur. Erst diese identitätsstiftende Transferleistung zeichnet Conrads Kurzgeschichten als autofiktionale Erzählungen aus: »Conrad’s achievement is that he ordered the chaos of his existence into a highly patterned art that accurately reflected and controlled the realities with which it dealt.«35 Das gesellschaftskritische Potenzial des durch Conrads Außenseiterposition bedingten Zweifels an sich totalisierenden Geschichts- und Identitätsmustern wird nur vage angedeutet: »Because he, like so many of his characters, lived life at the extreme, he was acutely conscious of community even if, most of the time, his was a negative or critical view.«36

32 Ebd. 113. 33 Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Übers. Daniel Göske (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1997) 137. 34 So werden z.B. die Ereignisse des Ersten Weltkrieges als eine exklusiv europäische Erfahrung beschrieben. Siehe Said, Joseph Conrad 64-76. 35 Ebd. 196. 36 Ebd.

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Ein kontinuierlicher Begleiter, eine stetige Quelle Weder reflektiert Said in der Conrad-Studie seine eigene Schreibsituation noch bezieht er die Rolle der LeserInnen in die Interpretation mit ein. Spekulationen solcher Art gelten Mitte der 1960er Jahre offensichtlich noch als affektiver Fehlschluss. Das hindert zeitgenössische RezensentInnen aber keineswegs daran, nach den persönlichen Motiven des Literaturkritikers Said zu fragen. Indem dieser Conrads Kunst als lebenslanges Bemühen um Erlösung von dem Dilemma schmerzhafter Unordnung präsentiere, vermutet David Lodge 1968 in The Critical Quarterly, spiegele die Studie auch Saids Suche nach der Geschichte seiner eigenen Psyche.37 Die irakische Literaturwissenschaftlerin Ferial Ghazoul glaubt rückblickend in der frühen Arbeit eine, wenn auch subtile, so doch erste Resonanz Saids auf seine arabisch-islamische Herkunft sowie auf die im Exil verlorenen Aspekte seiner Identität erkennen zu können. Sie liest die Conrad-Studie auch als den zaghaften Hinweis auf diesen unterdrückten Teil seines Selbst, der nach einer Möglichkeit suche, hervorzutreten.38 Es wäre wohl unangemessen, Saids frühe Conrad-Studie auf den Versuch reduzieren zu wollen, sich mit einem berühmt gewordenen exilierten Schriftsteller zu identifizieren, um trotz der gänzlich unterschiedlichen historischen Bedingungen die eigene Existenz als amerikanischer Literaturkritiker palästinensischer Herkunft an der westlichen Tradition des poetischen Exils aufzurichten. Das von Conrad Geleistete wird hier zunächst um seiner selbst Willen erklärt. Dass die Texte des polnisch-englischen Autors aber durchaus einen modellhaften Fundus darstellen, den Said nutzt, um nicht nur die persönliche Erfahrung kultureller Dislozierung in ein neues Paradigma kritischer Praxis zu überführen, zeigt die Regelmäßigkeit, mit der Said auch in seinen späteren Arbeiten immer wieder zu Conrad zurückkehrt; die Figur und das Werk Joseph Conrads sind deutlich mehr als nur der beliebig austauschbare Gegenstand einer Dissertationsschrift. Dessen Leben und Literatur stellt nicht nur eine konstante Basis und kontinuierliche Referenz für seine Auseinandersetzung mit den Topoi Kolonialismus und Exil dar. Conrad bildet zugleich das erste Glied in einer nicht abreißenden Kette von Exil-Autoren wie Hugo von St. Viktor, Dante, Erich Auerbach, Theodor W. Adorno, Frantz Fanon, Tayeb Salih oder Eqbal Ahmad, deren Schriften eine zentrale Stellung in Saids Kritik einnehmen. Die historische Figur und das Werk Joseph Conrads durchziehen seine Studien wie ein roter Faden: Das Beispiel des Literaten veran-

37 David Lodge, »Waiting for the End: Current Novel Criticism,« The Critical Quarterly 10.1-2 (1968): 187-188. 38 Ferial J. Ghazoul, »The Resonance of the Arab-Islamic Heritage in the Work of Edward Said,« Edward Said: A Critical Reader, Hg. Michael Sprinker (Oxford, Cambridge/MA: Blackwell, 1992) 157.

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schaulicht, dass, obschon sich jedes Werk in einem Verfahren konstituiert, das seinen psycho-sozialen Bedingungsrahmen mitbegreift, weder eine individuelle literarische Karriere noch deren Texte als unmittelbare Indikatoren für die tatsächliche Psychologie des Autors gelesen werden können. Seine fragile Identität illustriert, dass die Anfangsintention modernen Erzählens nicht in einem authentischen Ursprung, sondern in einer affiliativen Dynamik zu suchen ist.39 Conrads literarische Destabilisierungen kolonialer Gewissheiten helfen, die Behauptung politisch-moralischer Neutralität bei der wissenschaftlichen Entzauberung der außereuropäischen Welt in Zweifel zu ziehen.40 Seine dynamische Erzählstruktur wird als Indikator eines allgemeinen Vertrauensverlustes in die mimetische Kompetenz von Sprache und als Ausdruck des wachsenden Bewusstseins für die Kluft zwischen einander widerstreitenden und verneinenden Kontingenzen gedeutet.41 An anderer Stelle interpretiert Said Conrads wohl kompromissloseste literarische Repräsentation der Heimatlosigkeit, die Erzählung Amy Foster (1901), als Hinweis auf die Möglichkeit, aus der neurotischen Angst der Exilerfahrung ein ästhetisches Prinzip zu schaffen.42 Nahezu eine Schlüsselstellung erhält Heart of Darkness bei dem Entwurf einer vergleichenden Literaturwissenschaft des Imperialismus. Said unterscheidet zwei grundsätzlich verschiedene Lesarten der Novelle: Eine erste affirmative, die den ausschließenden Gestus kolonial-rassistischer Ontologien bestärkt, und eine zweite kritische, die den metropolischen Zweifel imperialistischer Repräsentationen zum Ausgangspunkt wählt,43 um auf die Existenz divergierender Erfahrungen und die Notwendigkeit widerständiger Erzählungen hinzuweisen. Indem er die Texte postkolonialer Autoren wie Ngugi wa Thiong’o und Tayeb Salih als mimetische Erwiderungen auf Conrads literarische Figurationen einführt, zeigt er, dass die Erfahrungen von Kolonialisten und ehemals Kolonialisierten kontrapunktisch interagieren.44 Selbst in seinen vorwiegend an eine arabische Leserschaft adressierten politisch-journalistischen Essays nutzt Said Conrads Autorität; so hilft nach den Ereignissen vom 11. September 2001 etwa der in The Secret Agent (1907) entworfene Archetyp des Terroristen jede Form des Terrors unabhängig von seiner politischen oder religiösen Stoßrichtung zu

39 Edward W. Said, Beginnings: Intention and Method (New York: Basic Books, 1975) 10, 123f, 191-275. 40 Edward W. Said, Orientalism, 4. Aufl. (1978; London, New York: Penguin 1995) 199, 216. 41 Vgl. Edward W. Said, »Conrad: Die Repräsentation des Erzählens,« Die Welt, der Text und der Kritiker, Übers. Brigitte Flickinger (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1997) 103-131. 42 Edward W. Said, »Reflections on Exile,« Granta: After the Revolution 13 (1984), 157-172. 43 Edward W. Said, Culture and Imperialism (1993; New York: Vintage, 1994) 19-31. 44 Ebd. und 210ff.

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verurteilen.45 In einem BBC-Interview von Dezember 2002 betont Said, wie nachhaltig die frühe Begegnung mit der Literatur Conrads sein Denken beeinflusst hat: »Then Conrad was a fantastic discovery, which I made at the age of about eighteen. I read Heart of Darkness. I think quite by chance, it must have been a part of another book. I was riveted by the kind of haunting, clearly non-English style and of a very polished English, at the same time. The more I discovered about Conrad the more I realised that he was the great companion of my own life, and I just pressed on with Conrad and found in him an unending series of levels, which took one in many different directions, all returning back to the question of exile and displacement.«46

1.2 Out of Place – Ortlos Ich habe Saids Dissertationsschrift von 1964 als Form der Literaturkritik beschrieben, die das Werk Joseph Conrads als literarisches Produkt eines im Exil zum Schriftsteller avancierten Menschen deutet, der versucht, seinem gebrochenen Leben einen Sinn zu geben. 34 Jahre später schreibt der Autor von Joseph Conrad and the Fiction of Autobiography, inzwischen als international anerkannter Columbia Professor, in The London Review of Books: »It wasn’t until the early fall of 1991, when an ugly medical diagnosis suddenly revealed to me the mortality I should have known about before that I found myself trying to make sense of my own life as its end seemed alarmingly nearer.«47 Said berichtet hier erstmals über die Hintergründe jenes autobiographischen Projektes, dessen Ergebnis bald darauf unter dem Titel Out of Place erscheinen wird. Eine chronische Form der Leukämie, so erklärt er seinen LeserInnen, habe ihn veranlasst, nachdem er vier Jahrzehnte die Schriften anderer Menschen zu Erzählungen von Exil, kultureller Deplatzierung, Kolonialismus, Nationalität und Identität befragt habe, nun auch seinem eigenen vorakademischen Leben eine Narration aufzubürden. Aus dem spontanen Wunsch der verstorbenen Mutter, in einem Brief die verborgene Gefühlswelt des heranwachsenden Sohnes zu erklären, entsteht ein Buch von nahezu 300 Seiten Umfang. Das Verfassen seiner Memoiren führt 45 Edward W. Said, »Collective Passion,« Ders., From Oslo to Iraq and the Road Map (New York: Pantheon Books; London: Bloomsbury, 2004) 110. Der Artikel erschien in der Al-Ahram Weekly 20.9.2001 und in der Al-¼ayÁt 23.9.2001. 46 Edward Said, Nightwaves Interview BBC Radio 3, 4.12.2002, zit.n. einer autorisierten Edition Edward Said, »Where I’m coming from«, openDemocracy 26.9.2003, 24.3.2004, . 47 Said, »Between Worlds« 3.

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Said erneut zu dem Gegenstand seiner ersten Buchpublikation zurück. Conrads literarische Repräsentationen existentieller Desorientierung dienen nun genauso als Vorbild wie die Ironie, mit der dieser dem Versuch begegnet, die Verlorenheit des Exils durch eine neue Ordnung zu ersetzen.48 Out of Place ist jenseits aller Ambivalenzen des literarischen Gattungsbegriffs zunächst ein autobiographischer Text; er repräsentiert den Prozess und das Ergebnis einer mühseligen Erinnerungsarbeit.49 Die wichtigsten geographischen Parameter dieser Vergangenheit bildet eine durch die Städte Kairo, Jerusalem und dem in den libanesischen Bergen gelegenen Dhour al-Shweir definierte Achse. An diesen Orten vollzieht sich Saids levantinische Kindheit und Jugend, bevor er im Alter von 15 Jahren in die USA geht. Dort besucht er zunächst ein Internat in Massachusetts, um bald darauf in Princeton sowie schließlich in Harvard seine Ausbildung fortzusetzen. Die Handlung des Buches bricht Mitte der 1960er Jahre, noch vor Saids Promotion, ab. Die Rahmenhandlung scheint derweil kaum durch den Sich-Erinnernden kontrollierbar. Sie ist längst von anderen determiniert; von Eltern, Schulen, Universitäten und wechselnden sozio-politischen Bedingungen. Die Rekonstruktion seines psychologischen und emotionalen Selbstwerdens geschieht daher gleichzeitig in und gegen diesen bereits geschriebenen Text. Said wird am 1.11.1935 als Sohn des wohlhabenden christlichen Geschäftsmannes Wadie Ibrahim Said in Jerusalem geboren. Seine Mutter Hilda Musa stammt aus einer Nazarener Baptistenfamilie. Wadie Said verlässt Palästina 1911, um im Ersten Weltkrieg auf Seiten der Amerikaner zu kämpfen und kehrt 1919 mit amerikanischem Pass zurück. Bereits 1929 verlegt er den Hauptsitz seines expandierenden Schreib- und Büromaschinenhandels nach Kairo, wo die Familie seit 1932 ihren Lebensmittelpunkt hat. Zwar ist Jerusalem Edward Saids Geburtsort und leben dort die meisten Verwandten, doch wächst er überwiegend in dem kolonial-europäischen Viertel Zamalek der ägyptischen Hauptstadt auf. Die Sommermonate verbringt Said mit den Eltern und den vier jüngeren Schwestern in einem Bergdorf unweit von Beirut. Bis zur Staatsgründung Israels lebt die Familie außerdem immer wieder für größere Zeiträume in dem galiläischen Bergdorf Sefad sowie in dem West-Jerusalemer Stadtteil Talbieh. Aufgrund der anhaltenden Bewegung zwischen den verschiedenen Orten wird Said bis zu seiner Ankunft in den USA neun verschiedene koloniale Schulen besucht haben. Diese Erfahrungen bilden gemeinsam mit jenen aus dem familiären Mikrokosmos stammenden Erinnerungen die zentralen Gegenstände des Textes. Der Begriff Heimat findet dabei kaum Anwendung; zu Palästina heißt es in Kenntnis des späteren Verlustes: »It was a place I took for granted, the country I was from, where family and friends existed (it seems so retrospectively) with unreflecting ease. […] I 48 Ebd. 49 Said, Out of Place 216.

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recall thinking that being in Jerusalem was pleasant but tantalizingly open, temporary, even transitory, as indeed it later was.«50 Zu Hause fühlt sich Said rückblickend nur ein einziges Mal, als er im Schuljahr 1947 die Jerusalemer St. George’s Schule besucht. Anders als in Kairo empfindet sich der palästinensische Schüler mit englischem Vornamen und amerikanischer Staatszugehörigkeit auf der kolonial-britischen Missionarsschule nicht als Fremder. Das von Verwandten und Freunden der Familie geprägte soziale Umfeld erlaubt ihm offensichtlich für eine begrenzte Zeit, die widerstreitenden Pole seines Selbst zu versöhnen. Im Dezember desselben Jahres verlässt der Zwölfjährige Jerusalem in Richtung Kairo, um erst 45 Jahre später zurückzukehren. Die Nakba, die Katastrophe, wie die PalästinenserInnen die Ausrufung des Staates Israels, den damit einhergehenden Krieg, aber vor allem die Vertreibung großer Teile der palästinensischen Bevölkerung nennen, erlebt Said aus einer Position ausgesprochener materieller Sicherheit und Unwissenheit: »I was a scarcely conscious, essentially unknowing witness in 1948.«51 Sein Alltag ist nicht vom Leben in Flüchtlingslagern, von der Suche nach Arbeit, Unterkunft, Kleidung und Lebensmitteln bestimmt, sondern vollzieht sich in Schul-, Kirchen- und Clubbesuchen, in Klavierunterricht sowie in der vermeintlichen Geborgenheit der Familie. In technischer bzw. völkerrechtlicher Hinsicht ist Said also kein Flüchtling; obwohl zahlreiche Verwandte und selbst Saids Mutter das Schicksal des exilierten und staatenlosen palästinensischen Volkes teilen, verfügt er selbst formal über alle Rechte eines US-amerikanischen Staatsbürgers. Nun lässt sich der Zustand der Heimatlosigkeit keineswegs auf einen von der Idee des Nationalstaates abgeleiteten juristischen Status zurückführen; Out of Place erzählt die Kindheit des isolierten einzigen Sohnes eines gefühlskalten dominanten Vaters und einer zutiefst manipulativen Mutter. Saids frühe Geschichte ist die eines palästinensischamerikanischen Christen im überwiegend arabisch-muslimischen Ägypten, aber auch die eines arabischen Kindes in britischen Kolonialschulen; die eines anglophonen Heranwachsenden in einer von der vorherrschenden sozialen Wirklichkeit Kairos völlig abgetrennt lebenden, überwiegend frankophonen Oberschicht. Das existentielle Leid der palästinensischen Flüchtlinge, die politische Dimension dieses anderen Massenexils sowie seine tragischen Implikationen für die Vergangenheitsmuster und Zukunftsoptionen des seiner Heimat beraubten Volkes, also jene Themen, die viel später das politische Engagement Edward Saids beherrschen sollten, gelangen zuerst durch die karitative Tätigkeit einer aus Jerusalem geflohenen Verwandten in das Bewusstsein des Kairiner Jugendlichen: »It was through Aunt Nabiha that I first experienced Palestine as history and cause

50 Ebd. 29ff. 51 Ebd. 114.

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in the anger and consternation I felt over the suffering of the refugees, those Others, whom she brought into my life.«52

Die politische Gegenwart einer persönlichen Erinnerung Obschon die biographischen Eckdaten Saids den LeserInnen seiner Bücher, Artikel und Interviews längst hätten bekannt seien müssen und der Autor selbst wiederholt darauf hinweist, dass seine persönlichen Lebensumstände unmöglich mit denen der noch immer staatenlosen, in Flüchtlingslagern und/oder unter Militärbesatzung lebenden PalästinenserInnen zu vergleichen sind,53 entzündet sich noch vor dem Erscheinen der mit Spannung erwarteten Memoiren eine überwiegend von europäischen und amerikanischen Feuilletonisten skandalierte Debatte, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der in Out of Place erzählten Geschichte steht und die sich besonders nachhaltig auf die Rezeption des Buches auswirkt. Der Fall Edward Said, wie The New York Review of Books auf dem Titel-Cover ihrer Novemberausgabe die ebenso polemisch geführten wie symbolisch aufgeladenen Auseinandersetzungen um ausgewählte Details der Kindheit des New Yorker Kritikers aufgreift,54 wird durch einen in dem vom American Jewish Committee herausgegebenen Monatsmagazin Commentary veröffentlichten Artikel ausgelöst. Sein Verfasser Justus Reid Weiner gibt vor, drei Jahre lang recherchiert zu haben.55 Die Ergebnisse dieser aufwändigen Suche nach biographischen Fakten betreffen nahezu ausnahmslos die Jahre 1947-48. Wie bereits der Titel ›My Beautiful Old House‹ and other Fabrications by Edward Said ankündigt, gilt Weiners besondere Aufmerksamkeit jenem Jerusalemer Familienhaus, das Said Anfang 1998 für den Dokumentarfilm In Search of Palestine besucht hat.56 Die Mitarbeit an der BBC-Produktion ist nur eine von zahlreichen, im weitesten Sinne journalistischen Aktivitäten, mit denen der Literaturwissenschaftler in den 1990er Jahren seinen Kampf um die öffentliche Meinung in den USA, Europa und Israel intensiviert, um diese – jenseits der vorherrschenden Rhetorik über die Unumkehrbarkeit des von dem Oslo-Abkommen und seinen Folgeverträgen vorgegebenen Friedensprozesses – für das eher verstärkte, denn gelinderte Leiden in den besetzten Gebieten zu sensibilisieren. Für den britischen Fernsehsender dokumentiert er nicht

52 Ebd. 119. 53 Siehe z.B. Edward W. Said, Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina, Übers. Michael Schiffmann (Heidelberg: Palmyra, 1997) 24. 54 »The Case of Edward Said« New York Review of Books 18.11.1999. Darin findet sich auch der Beitrag von Amos Elon, »Exile’s Return« 12-15. 55 Justus Reid Weiner, »›My Beautiful Old House‹ and other Fabrications by Edward Said,« Commentary 108.2 (1999): 23-31. . 56 In Search of Palestine, Regie Charles Bruce, BBC, 1998. Video.

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nur den von Armut und Gewalt geprägten Alltag der palästinensischen Zivilbevölkerung und interviewt befreundete israelische Zionismus- und OslokritikerInnen wie den Menschenrechtsaktivisten Israel Shahak, den postzionistischen Historiker Ilan Pappé oder den Dirigenten Daniel Barenboim, sondern besucht außerdem die Orte seiner Jerusalemer Kindheit. Vier Monate nach der Erstausstrahlung der Dokumentation attackiert nun der für das Jerusalemer Center for Public Affairs tätige israelische Jurist Weiner den Fürsprecher der palästinensischen Sache, indem er ihm unterstellt, bewusst entscheidende Teile seiner persönlichen Geschichte manipuliert zu haben, um auf diese Weise seinem politischen Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen. Zwar sei Said tatsächlich während eines Besuches in Jerusalem geboren, darüber hinaus bestehe aber praktisch keine Beziehung zwischen ihm und der heutigen Hauptstadt des Staates Israel. Weder finde sich ein Dokument, welches das Talbieh-Haus als Eigentum seines Vaters Wadie ausweist, noch ließe sich Saids Besuch der St. George’s Schule in den Archiven der anglikanischen Bildungseinrichtung verifizieren. Geburts- und Eigentumsurkunden, Handelsregister, Telefonbucheintragungen und die Aussagen unzähliger InterviewpartnerInnen beweisen eindeutig, dass er in Kairo aufgewachsen sei, niemals aus Palästina fliehen musste und folglich kein palästinensischer Flüchtling sei. Weiners detailversessenes Offenlegen vermeintlicher Ungereimtheiten vermag derweil kaum, sein ideologisches Anliegen und den diesem zugrunde liegenden zeitgeschichtlichen Kontext zu verbergen. Seine Veröffentlichung will nicht die individuelle Geschichte der Privatperson Edward Said oder dessen wissenschaftliche Reputation dekonstruieren, sondern zielt auf die moralische Autorität und öffentliche Wirkungsmacht der politischen Symbolfigur: »[…] a living embodiment of the Palestinian cause […] as a powerfully compelling metaphor for the larger Palestinian condition.«57 Vor dem Hintergrund der wiederholt verschobenen Verhandlungen über den endgültigen Status eines zukünftigen palästinensischen Staates wird hier nicht irgendeinem beliebigen Oslo-Kritiker seine palästinensische Identität und der Status des Exilanten abgesprochen. Weiners Angriff gilt einem öffentlichen Intellektuellen, für den die Metapher des Exils die wichtigste autobiographische Konstante sowie ein durchgängiges theoretisches Paradigma seiner kulturkritischen Praxis bildet. Auch Saids kompromissloses Eintreten für das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung, für das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und Reparationen, aber nicht zuletzt sein seit Ende der 1990er Jahre auch in Israel selbst viel beachtetes Plädoyer gegen eine Politik der Segregation und für eine binationale Lösung, also für die gleichberechtigte Koexistenz von Arabern und Juden in einem demokratischen und säkularen Staat, erhalten ihre entscheidenden Impulse nicht zuletzt aus einer exilierten Haltung, die bean57 Weiner, »›My Beautiful Old House‹ and other Fabrications by Edward Said,« 24.

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sprucht, nicht nur Denkgrenzen, sondern genauso nationale, kulturelle und religiöse Barrieren zu transzendieren. Weiner ist bemüht, Saids Image des archetypischen Exilanten als instrumentelle Lüge zu entlarven, die einem einzigen Ziel diene: »[…] to strengthen his wider ideological agenda – and in particular to promote the claims of Palestinian refugees against Israel.«58 Nachdem die Zeitschrift Commentary Said bereits in den 1980er Jahren als »Professor of Terror«59 diffamiert hat, bietet sie nun das Forum für eine Argumentation, deren umgekehrter Analogieschluss mit der persönlichen Geschichte gleichsam die kollektive Narration sowie die darin fundierten politischen Forderungen des palästinensischen Volkes diskreditiert. Saids Geringschätzung historischer Tatsachen – so evoziert Weiner – sei typisch für die Konstruktionen der palästinensischen Opfergeschichte insgesamt: »[T]here can be no denying that the parable itself is a lie. An artfull lie; a skillful lie; above all, a very useful and by now widely accepted lie – but a lie.«60 Noch vor dem Erscheinen der gedruckten Version reagieren ehemalige Mitschüler und Lehrer sowie befreundete Kritiker Saids. Entschieden weisen sie die Behauptungen Weiners als unseriös recherchiert und in den Details verfälscht zurück.61 Seine ideologische Motivation sei allzu offensichtlich, schreibt Christopher Hitchens in The Nation. Er diskreditiere sich selbst als militanten Chauvinisten und offenbare erneut, dass sich die »Commentary School of Falsification«62 längst von jeglichen journalistischen Standards verabschiedet habe. Mit der gleichen Stoßrichtung solidarisieren sich die Herausgeber der vom Washingtoner Institute for the Advancement of Journalistic Clarity initiierten Internet-Plattform mit Said. Indem Counter-Punch auch solchen Personen ein Forum bietet, die berichten, von Weiner interviewt worden zu sein, aber sich in seinem Artikel nicht oder falsch wiedergegeben bzw. gravierend fehlgedeutet vorfinden, gerät der Ankläger selbst in den Verdacht der vorsätzlichen Verfälschung des ihm zur Verfügung stehenden Quellenmaterials.63 Hussein Ibish kommentiert die Auseinandersetzung für das Arab-American Anti-Discrimination Committee vor allem mit Blick auf die amerikanische Nahost-Politik und erklärt Weiners Artikel als Versuch, die ehedem marginalisierten Forderungen der palästinensischen Flüchtlinge nun endgültig von der Debatte

58 59 60 61

Ebd. Edward Alexander, »Professor of Terror« Commentary, 88.2 (1989): 49-50. Weiner, »My Beautiful Old House,« 31. Siehe Julian Borger, »Friends Rally to Repulse Attack on Edward Said,« The Guardian 23.8.1999. 62 Christopher Hitchens, »The Commentary School of Falsification,« The Nation 2.9.1999. 63 »Commentary ›Scholar‹ Deliberately Falsified Record in Attack on Said« lautet der Titel der Counter-Punch Dokumentation, 1.9.1999, 23.4.2005, .

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über den Friedensprozess auszuschließen.64 Scheinbar völlig unbeeindruckt von der massiven öffentlichen Kritik an seiner Person wiederholt Weiner die Vorwürfe an anderer Stelle in noch polemischerer Form. Der im Wall Street Journal als »The False Prophet of Palestine«65 bezeichnete Said muss beobachten, wie das, was als vermeintlich leicht durchschaubare Intrige eines in der internationalen Medienlandschaft ohnehin wenig beachteten Lobbyorgans beginnt, in kürzester Zeit auch das Interesse großer, renommierter und keineswegs nur US-amerikanischer Zeitschriften erweckt. So erklärt der Londoner Daily Telegraph die Dekonstruktion Saids66 als zweifelsfrei nachgewiesen. Die Vergangenheit habe den nicht aus Palästina geflohenen, sondern vor der Wahrheit fliehenden endlich eingeholt, schreibt Alan Philips.67 Die meisten Feuilletons der internationalen Presse bemühen sich zwar um Ausgewogenheit, dennoch hinterlassen auch ihre Kommentare bei den LeserInnen Zweifel an der Integrität Saids. Das auf diesem Wege auch im deutschsprachigen Raum verbreitete Bild des »doppelte[n] Edward«68 stellt nicht nur die Darstellung seiner »[k]onfusen Kindheit«69 sowie die von Said repräsentierten »Flüchtlingsgeschichten«70 in Frage, sondern unterminiert gleichsam die Glaubwürdigkeit seines nur schwer von Biographie und politischem Engagement abzutrennenden akademischen Werkes. Obwohl es zunächst so erscheint, als sei die gesamte Debatte mit dem Offenlegen von Weiners ideologischer Agenda und seiner zweifelhaften Verfahren obsolet geworden und obwohl Intellektuelle wie der israelische Menschenrechtler und Holocaust-Überlebende Israel Shahak, im Verweis auf die historische Erfahrung der vor Kriegsbeginn aus Deutschland geflohenen Juden, Saids Status als palästinensischer Flüchtling unabhängig von den Details seiner Familiengeschichte bekräftigen,71 sieht sich dieser aufgrund der wenig differenzierten internationalen Pressereaktionen veranlasst, auch persönlich Stellung zu beziehen. Erneut insistiert er darauf, dass jenes Jerusalemer Wohnhaus, dem Weiners besondere Aufmerksamkeit gilt, genauso wie die gesamte Palestine Education Company zu gleichen Anteilen den Cousins und Geschäftspartnern Boulus und Wadie Said ge64 Hussein Ibish, »They can’t will the Palestinians out of Existence,« Boston Globe 1.9.1999. 65 Justus Reid Weiner, »The False Prophet of Palestine,« The Wall Street Journal 26.8.1999. 66 Daniel Johnson, »The Deconstruction of Said,« The Daily Telegraph 21.8. 1999. 67 Alan Philips, »Past catches up with Refugee from Truth,« The Daily Telegraph 21.8.1999. 68 Nils Minkmar, »Der doppelte Edward,« Die Zeit 9.9.1999. 69 Verena Lucken, »Martin Buber wohnt hier nicht mehr,« Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.9.1999. 70 Rolf Paasch, »Flüchtlingsgeschichten,« Frankfurter Rundschau 1.9.1999. 71 Siehe Julian Borger, »Friends Rally to Repulse Attack on Edward Said,« The Guardian 23.8.1999.

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hörten. Der gemeinsame Familienbesitz sei nach 1948 von Israel nationalisiert worden, so dass spätere Reparationsforderungen erfolglos blieben. Schließlich habe Weiner Saids Namen nicht in den Schulregistern des Jahres 1947 finden können, da diese von der britischen Mandatsregierung nur bis 1946 geführt wurden. Die vermeintlichen Ungereimtheiten spiegelten also nicht die verworrenen historischen Ereignisse oder deren Darstellung durch Said, sondern seien das Ergebnis der einseitigen Recherchemethoden Justus Weiners. Schon dessen Hauptvorwurf entbehre jeder Grundlage, entlarve aber gerade deswegen das wirkliche Ziel seines Angriffs: »I have never claimed to have been made a refugee […]. I have been moved to defend the refugees’ plight precisely because I did not suffer and therefore feel obligated to relieve the sufferings of my people, less fortunate than myself. Weiner is a propagandist who, like many others before him, has tried to depict the dispossession of Palestinians as ideological fiction […].«72

Gerade die gegenseitige Anerkennung der historischen Leidenserfahrungen von Palästinensern und Juden bilde die unverzichtbare Voraussetzung für einen wirklichen Frieden zwischen Gleichen, wiederholt Said eine seiner politischen Schlüsselforderungen. Indem Weiner beabsichtigt, mit einer prominenten, individuellen Vergangenheit gleichsam die kollektiven Erfahrungen der PalästinenserInnen zu leugnen, verhindere er gezielt jenes Verständnis für die Wahrheit des Anderen, das jeder Versöhnung und einer gerechten Beilegung des Konfliktes vorausgehen müsse. Als Out of Place nur wenige Wochen später in den Buchhandel gelangt und damit endlich Saids ausführliche Auto-Narration vorliegt, werden die LeserInnen kaum mit neuen biographischen Daten konfrontiert. Dennoch wirkt die von Weiner entfachte Frage nach dem Verhältnis von historischen Fakten und strategischen Inventionen in den Selbstdarstellungen Edward Saids besonders nachhaltig auf die RezensentInnen: »Saids memoir, of course, comes with baggage: Reading ›Out of Place‹ means reading it against allegations of dishonesty recently leveled against him.«73 Die Debatte setzt nicht nur den unmittelbaren Bezugsrahmen für die Rezeption des Buches, sondern bewirkt, indem sie dieses zuvorderst als rekonstruierte Ereignisgeschichte befragt, dass die narrativen Qualitäten und theoretischen Interferenzen des Textes nur geringe Aufmerksamkeit erhalten. Eine so präfigurierte Lesart richtet sich nicht primär auf Form oder Inhalt der Memoiren, sondern spekuliert über ihre verborgene politischideologische Funktion. Wenn Said die Exklusivität seiner persönlichen Lebensgeschichte betone, um sein öffentliches Image als exilierter palästinensischer Intellektueller zu bestärken, dann weigere er sich gerade ange72 Edward Said, »Defamation, Zionist-style,« Al-Ahram Weekly On-line 26.81.9.1999, 26.7.2005 . 73 Chris Colin, »Said who?« Salon 4.10.1999, 24.9.2002 .

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sichts der Migrationshintergründe der meisten AmerikanerInnen bewusst, kulturelle und psychologische Dislozierungen als universelle Erfahrungen anzuerkennen: »Who, as a child, doesn’t feel out of place?«74 fragt Chris Colin rhetorisch. Bei Out of Place handele es sich weniger um eine saubere Bilanzierung tatsächlicher historischer Ereignisse – betont ein Rezensent der Publishers Weekly und rekurriert damit auf die von Weiner erhobenen Vorwürfe – als vielmehr um selbst-affirmative Erkundungen des Gewesenen.75 Zwar seien Memoiren per Definition subjektive Darstellungen, stellt Ian Buruma für The New York Times Book Review fest. Said aber präsentiere sein persönlich empfundenes Leid sowie die psychologische Entfremdung und emotionale Einsamkeit seiner Kindheit als Reflex einer umfassenderen politischen Narration, mit der ihn in kultureller und sozialer Hinsicht nahezu nichts verbinde. Buruma kritisiert Out of Place als den ebenso eitlen wie selbstmitleidigen Versuch eines privilegierten amerikanischen Intellektuellen das eigene heroische Image des exilierten Kritikers mit der Marginalität der PalästinenserInnen zu versehen: »One finishes his book with the strong impression that Said presses the suffering of the Palestinian people into the service of his own credentials as an intellectual hero. […] On me, however, it has the opposite effect. Of all the attitudes that shape a memoir, self-pity is the least attractive.«76 Während hier ein pompös-schwülstiger, bisweilen wichtigtuerischer Ton bemängelt wird, loben andere Kritiker die rücksichtlose Offenheit, mit der Said über sein soziales Umfeld und sich selbst schreibt. Die überwiegende Zahl der RezensentInnen charakterisiert seinen Schreibduktus als geradlinig und kritisch, aber nichtsdestoweniger voller emotionaler Energie. In diesem Zusammenhang wird durchaus anerkannt, dass es dem Autor gelingt, Orte, Handlungen und Figuren auf eine Art lebendig werden zu lassen, wie es sonst nur Werke der fiktionalen Literatur zu leisten vermögen. Das Hauptinteresse gilt aber der präzisen Rekonstruktion oder gegebenenfalls Dekonstruktion des Lebenslaufes als Schlüssel zum Verständnis für Saids intellektuelle Genese. Auf diese Weise wird das, was den eigentlichen Vordergrund der Memoiren bildet – die Umstände eines weitgehend vorpolitisch und vorakademischem Heranwachsens – als Hintergrund der Karriere eines öffentlichen Intellektuellen gedeutet. Freilich legt Saids kritische Praxis, in der die Trennung von weltlichen Bedingungen, Text und Textproduzent durchgängig zurückgewiesen wird, selbst eine solche Lektüre nahe. Doch verführt die Suche nach dem biographisch-theoretischen Konnexus, die Annahme von inneren Kausalbeziehungen zwischen Leben und Werk manchmal zu einer Genie-Ästhetik, bei der die vielfältigen biogra-

74 Ebd. 75 Publishers Weekly, 246.44 (1999): 51. 76 Ian Buruma, »Misplaced Person: For a long time, everywhere Edward Said went, he felt he didn’t really belong,« Rezension, Out of Place, Edward Said, The New York Times Book Review 3.10.1999.

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phischen Brüche und identitären Widersprüche nur genannt werden, damit die Kontinuitäten des Lebenswerkes erscheinen können. Saids Ausformulierung einer oppositionellen Kulturkritik, die ursprüngliche Zugehörigkeitsverhältnisse zugunsten einer affiliativen Dynamik wechselnder Identitätskonstruktionen zurückweist, seine Analyse des kolonialen Diskurses als Machtkonglomerat aus materieller Praxis und kultureller Repräsentation und nicht zuletzt sein öffentliches Eintreten für die Opfer fortgesetzter imperialer Dominanz in Palästina, dem Nahen Osten und an anderen Orten des postkolonialen Trikonts können so als notwendige Ergebnisse eines organischen Prozesses kausalen Anstrichs erklärt werden. Das enorme thematische Spektrum in den Schriften des Musiktheoretikers, politischen Kommentators und vergleichenden Literaturwissenschaftlers ist anscheinend bereits in den Konfigurationen seines Heranwachsens angelegt; in endlosen Klavierstunden, heimlichen Filmvorlieben, in dem ambivalenten, zwischen Verehrung und Rebellion changierenden Verhältnis gegenüber elterlichen, schulischen und kolonialen Autoritäten, in den konkurrierenden Zugehörigkeitsverhältnissen zu Palästina, Ägypten, dem Libanon, dem britischen Empire und den USA. Out of Place erhält in diesen Rezensionen die Funktion eines Ursprungsmythos, der die formativen Koordinaten für die erfolgreiche Selbstrealisierung des kosmopolitischen Kritikers Edward Said nachliefert.77 Kommentar und Kritik beziehen sich daher nur selten auf die literarischen Qualitäten bzw. Schwächen des autobiographischen Textes. Gerade vor dem Hintergrund der Weiner-Debatte erhalten die meisten westlichen Reaktionen einen beinahe symbolischen Bekenntnischarakter. Sie präsentieren sich entweder als Ausdruck des Respekts und der Solidarität für die von Said über Jahrzehnte vertretenen Positionen oder weisen mit diesen zugleich die Memoiren zurück. Es wäre sicherlich vereinfacht, allein im Verweis auf die polarisierten und hochgradig ideologisierten Rezeptionsbedingungen auch die Entscheidung der The New YorkerLeserInnen erklären zu wollen, die Out of Place zum besten Buch des Jahres in der Kategorie nicht-fiktionaler Texte wählen. Dass hier jedoch nicht nur über den individuellen Text, sondern gleichsam über die Glaubwürdigkeit der palästinensischen Narration, über die öffentliche Rolle arabisch-amerikanischer Intellektueller, ja über die Relevanz postkolonialer Kritik überhaupt entschieden wurde, erscheint sehr nahe liegend.

77 Vgl. Elon, »Exile’s Return« sowie Malise Ruthven, Rezension Out of Place, von Edward Said, Times Literary Supplement 8.10.1999: 29. Army L. Dalton, Rezension Out of Place, Current History 99.633 (Januar 2000): 39-41.

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Rezeptionen und Re-Rezeptionen – Kultureller Konsum und Identitätspolitik Obwohl Saids Memoiren in den USA und Europa überwiegend positiv aufgenommen werden, schafft die von der Zeitschrift Commentary ausgelöste Debatte für zahlreiche arabische RezensentInnen den unmittelbaren Ausgangspunkt und Kontext ihrer Lektüren. Die lokalen Reaktionen auf Out of Place illustrieren dasselbe Grundmuster interdependenter Rezeptionssituationen, das auch die Wirkung von Saids früheren Arbeiten seit dem Erscheinen von Orientalism kennzeichnet. Bereits die OrientalismusStudie löst Ende der 1970er Jahre eine ebenso simultane wie internationale Debatte aus, die im Stande war, die rigorose Trennung kulturgeographisch determinierter Akteure und Diskursräume zu überschreiten. Hier zeigt sich noch vor den weltweiten Kontroversen um Salman Rushdies The Satanic Verses78, Francis Fukuyamas The End of History79 oder Samuel P. Huntingtons The Clash of Civilizations80, dass der ökonomisch-politische Prozess der Globalisierung auch auf den intellektuellen Feldern der Literatur und Kritik neue Mechanismen des kulturellen Konsums etabliert. Die literarisch-künstlerischen, akademisch-kritischen oder politisch-ideologischen Diskurse des Nahen Ostens waren und sind von dieser Globalisierung der Kulturindustrie, die Frederic Jameson als »The Cultural Logic of Late Capitalism«81 beschreibt, selbstverständlich nicht ausgenommen. Trotz der Überlappungen und Wechselwirkungen diskursiver Formationen sind die Aufnahmebedingungen für einen spezifischen Text aber keineswegs deckungsgleich. Lange vor dem Erscheinen seines autobiographischen Buches in den USA und England präsentiert Said einer interessierten arabischen Öffentlichkeit erste Auszüge. Bereits im Sommer 1997 liest er anlässlich einer seinem Lebenswerk gewidmeten Konferenz in Beirut aus dem noch nicht abgeschlossenen Manuskript.82 Bald darauf stimmt er der Übersetzung jenes Teil-Kapitels zu, das seine Erinnerungen an die Jahre 1947/48 behandelt. Die palästinensische Kulturzeitschrift Al-Karmil veröffentlicht es 78 Salman Rushdie, The Satanic Verses (London: Viking, 1988). 79 Francis Fukuyama, »The End of History,« The National Interest (Sommer 1989): 163-300; Francis Fukuyama, The End of History and the last Man (New York: The Free P, 1992). 80 Samuel P. Huntington, »The Clash of Civilizations?« Foreign Affairs (Sommer 1993): 22-49. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order (New York: Simon & Schuster, 1996). 81 Frederic Jameson, Postmodernism and the Cultural Logic of Late Capitalism (London, New York: Verso, 1991). 82 Eine für Saids arabische Rezeption besonders wichtige Konferenz: »For a Critical Culture – A tribute to Edward Said,« Beirut, Center for Behavioral Research at the American University of Beirut and Théâtre de Beyrouth, 29.6-2.7.1997.

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unter der Überschrift Palästina 1948: Herausgerissene Bruchstücke.83 Ebenso publizieren die Kairiner Literatur- und Kulturzeitschriften Sutur und Wijhat Nazar frühzeitig Teilübersetzungen und Ankündigungen der Memoiren.84 Wenngleich dabei die identitätsstiftende Kraft der Selbstexilierung hervorgehoben wird und Said auf die Vorbilder Joseph Conrad und Theodor W. Adorno verweisend Heimat im Akt des Schreibens verortet – »[w]er keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen«85 – korrespondiert die Abfassung von Out of Place unübersehbar mit dem intensivierten Bemühen ihres Autors, sich als Akteur der arabischen Kulturkritik zu etablieren. Die Frage nach Saids kultureller Zugehörigkeit sowie nach seinem Recht, als arabischer Intellektueller zu sprechen, wird im Verlauf der 1980er und frühen 1990er Jahre äußerst kontrovers diskutiert. Nicht wenigen lokalen KritikerInnen gilt er lange, wenn nicht als westlicher, so doch als privilegierter verwestlichter Denker, der den Bezug zu seiner Herkunft und zu der sozio-ökonomischen Wirklichkeit der Region verloren hat. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre gelingt es ihm aber vor allem, als politischer Kolumnist ein größeres Publikum anzusprechen. Nun vervielfältigt sich nicht nur das Interesse an seinem akademischen Gesamtwerk, sondern wandelt sich auch sein öffentliches Image von dem des entfremdeten Außenseiters und politischen Dissidenten zu dem eines authentischen Repräsentanten arabischer Emanzipationsbemühungen. Der autobiographische Versuch, sich als ehemals kolonisiertes Subjekt in die ägyptische, palästinensische und libanesische Geschichte zu platzieren sowie die internationale Debatte um die Glaubwürdigkeit dieser persönlichen Geschichtsschreibung treffen also 1999 auf eine arabische SaidRezeption, in deren Verlauf das New Yorker Sprachrohr der PalästinenserInnen und AraberInnen im Westen erstmals auch im lokalen Kontext als organischer Intellektueller, als nationale Ikone palästinensisch-arabischen Widerstandes gegen einen israelisch-westlichen Imperialismus und als unabhängiger oppositioneller Kritiker der repressiven arabischen Regimes Anerkennung findet. Unter umgekehrten Vorzeichen wird die Lektüre von Out of Place auch von den arabischen RezensentInnen früh in eine identitätspolitische Debatte überführt. Diese Reaktionen sind durchaus in den Memoiren selbst wie in der Eigendynamik der lokalen Said-Rezeption angelegt. Dennoch haben der politische Hintergrund und die ideologischen 83 Edward Said, »filasÔÍn 1948: ÊaªarÁt iqtilÁþ maþallan« [Palästina 1948: Herausgerissene Bruchstücke, Übers. Æub½Í ¼adÍdÍ], Al-Karmil 55-56 (1998): 201-215. 84 Edward Said: »al-™urba þan an-nafs« [Die Entfremdung vom Selbst, Auszug aus Out of Place, Übers. FÁÔima NaÈr], SuÔÚr 51 (1999): 8-13. Edward Said, »al-kitÁba hÍya waÔanÍ« [Das Schreiben ist meine Heimat, Übersetzung von Between Worlds, Übers. A½mad Ma½mÚd], WiºhÁt Naãr 1 (1999): 26-29. 85 In al-kitÁba hÍya waÔanÍ (ebd.) zitiert Said diesen Aphorismus aus Adornos Minima Moralia, vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 23. Aufl. (1951; Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997) 108.

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Kontingenzen der von Weiner ausgelösten Affäre erheblichen Anteil daran, dass Saids literarische Rekapitulation seiner persönlichen Identitätsgenese zu einem der am meisten besprochenen Texte seines Gesamtwerkes avancieren. Erst die Vorgaben aus dem metropolischen Diskursraum versehen das Buch mit jenem kollektiv-symbolischen Gehalt, der auch solche arabische KritikerInnen veranlasst sich mit Said zu solidarisieren, die ihn bis dahin kaum wahrgenommen oder explizit abgelehnt haben. Die so motivierten, häufig apologetischen Lesarten mögen bisweilen arg reduktionistisch wirken. Sie illustrieren aber in ihrem reaktiven Charakter besonders anschaulich jene materiellen Machtrelationen und Dependenzverhältnisse zwischen der kulturellen Produktion in den westlichen Metropolen und den intellektuellen Debatten in den postkolonialen Peripherien, die Saids cross-kulturelle Wirkung insgesamt determinieren.

Das Recht zu erzählen Für die meisten arabischen BeobachterInnen, vor allem für die palästinensischen Intellektuellen unter ihnen, beweist die von der Zeitschrift Commentary lancierte Kampagne zuvorderst die ungebrochene Notwendigkeit, gegen die Behauptung ihrer Nichtexistenz anzukämpfen. Wenn etwa der palästinensisch-jordanische Kritiker Fakhry Salih in der überregionalen Zeitung Al-Hayat »[d]ie Diffamierung des Exilierten« als Versuch deutet, »die Erzählung auszulöschen«,86 dann bezieht er sich nicht nur auf das individuelle Exil und die persönliche Geschichte Saids. Wie bei den meisten arabischen RezensentInnen erscheint hier die individuelle Autonarration als Teil eines umfassenden politischen Kampfes um die Artikulation palästinensischer Erinnerungen, um die Anerkennung der kollektiven palästinensischen Narration sowie der daraus abgeleiteten Ansprüche auf den von Israel besetzten geographischen Raum. Said selbst hat einen nicht geringen Anteil an einer dermaßen nationalen Kontextualisierung seines Textes. Bereits in The Question of Palestine von 1979 beschreibt er das Dilemma des palästinensischen Bewusstseins, in einem »nonplace«87 zu leben. Die geschichtstheoretische Untersuchung in identitätspolitischer Absicht arbeitet zunächst an einem negativen Element. Sie behandelt die Erfahrung des Verlustes und des Exils zuvorderst als die der Exklusion und Unterdrückung palästinensischer Geschichte, um von hieraus die politische Strategie einer nationalen Gegen-Narration zu formulieren. Während Orientalism die Praxis kultureller Fremdrepräsentation vor ihrem Entstehungshintergrund von kolonialer Macht und Geltung analysiert, um die affirmative

86 Fa¿rÍ ÆÁli½, »idwÁrd saþÍd: taÊwÍh al-manfÍ wa mu½Áwala Ôams ar-riwÁya« [Edward Said: Die Diffamierung des Exilierten und der Versuch, die Erzählung auszulöschen], Al-¼ayÁt 8.9.1999: 17. 87 Edward W. Said, The Question of Palestine [New York: Random, 1979] 124.

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Funktion des orientalisierten Anderen für die Konstruktion des europäischen Selbst offen zu legen, unternimmt Said hier einen gezielten Perspektivwechsel. Wie auch in seinen späteren Palästina-Arbeiten After the last Sky88 oder Blaming the Victims89 steht nun die Frage der Handlungsmacht jener Menschen im Vordergrund, die nicht nur ihrer Identität, sondern auch ihrer Heimat beraubt wurden. Diese Essays begreifen sich als gegenarchivische Beiträge zur Re-Konstruktion der palästinensischen Identität als Grundlage für die Erlangung nationaler Befreiung. »Facts do not at all speak for themselves«, schreibt Said 1984 in seinem programmatischen Text Permission to Narrate, »but require a socially acceptable narrative to absorb, sustain, and circulate them.«90 Der New Yorker Exilant setzt sich als Mitglied des Palästinensischen Nationalrats frühzeitig für einen Strategiewechsel der PLO weg von der Privilegierung militärischer Aktionen, hin zu einem stärkeren diplomatischen Engagement ein. Auch in diesem Zusammenhang insistiert er auf der Notwendigkeit der narrativen Herstellung palästinensischer Autorität. Said kann, wie Nubar Hovsepian zu Recht anmerkt, durchaus als Vordenker des seit Mitte der 1980er Jahre deutlich intensivierten Bemühens zahlreicher palästinensischer SchriftstellerInnen, WissenschaftlerInnen, FilmemacherInnen und Institutionen um die dokumentarisch-biographische Repräsentation ihrer nationalen Geschichte gelten.91 Er ist damit entscheidend mitverantwortlich für die identitätspolitische Aufwertung und den Aufschwung der palästinensischen Autobiographie.92 Und eben als solche wird Out of Place von den meisten arabischen KritikerInnen gelesen: Als ein prominentes autobiographisches Kapitel des kollektiven Textes der PalästinenserInnen im internen und externen Exil. Die Lebensgeschichte Saids zu verfälschen, bedeutet für sie daher, gleichzeitig eine Vielzahl von Biographien palästinensischer ExilantInnen zu leugnen.93 Über die mit dem Angriff auf Said verbundene politische Intention ist man sich weitge88 Edward W. Said, After the last Sky: Palestinian Lives, Fotografien von Jean Mohr (London: Faber; New York: Pantheon, 1986). 89 Edward W. Said, Blaming the Victims: Spurious Scholarship and the Palestinian Question (London, New York: Verso, 1988). 90 Edward Said, »Permission to Narrate,« The London Review of Books 6.3 (1984): 13-17. Hier zit.n. Edward W. Said, The Politics of Dispossesion: The Struggle for Palestinian Self-Determination 1969-1994 (London: Vintage, 1995) 254. 91 Nubar Hovsepian, »Connections with Palestine,« Edward Said: A Critical Reader, Hg. Michael Sprinker (Oxford, Cambridge/Mass: Blackwell, 1992) 10. 92 Vgl. Susanne Enderwitz, Unsere Situation schuf die Erinnerung: Palästinensische Autobiographien zwischen 1967 und 2000 (Wiesbaden: Reichert, 2002) 54ff. 93 Siehe Æub½Í ¼adÍdÍ, »yuzayyifÚn ½ayÁt idwÁrd saþÍd« [Sie verfälschen das Leben Edward Saids], Al-Mul½aq aÔ-ÕaqÁfÍ/An-NahÁr 28.8.1999: 18; IlyÁs ¾ÚrÍ, »qadr al-asmÁÿ« [Die Vielzahl der Namen], Al-Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ/AnNahÁr 28.8.1999: 19.

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hend einig, genauso wie über die verantwortlichen Akteure: Die zionistische Bewegung versuche über die internationalen Medien ihre einseitige Erfolgsgeschichte durchzusetzen, indem sie die Existenz ihrer Opfer verneint. Mit der symbolischen Stimme Saids, so der einhellige Tenor, wolle Israel das Moment der Klage sowie das Recht der Besiegten aus den Friedensverhandlungen entfernen.94 Regelmäßig wird auf die Widersprüche einer verfassungsmäßig kodifizierten Ideologie hingewiesen, die es jedem Juden unabhängig von seiner Herkunft erlaubt, israelischer Staatsbürger zu werden, während sie einem in Palästina geborenen Araber wie Edward Said bereits das Recht abspricht, sich als Palästinenser zu bezeichnen.95 Die Kampagne gegen den Autor von Out of Place illustriere die ungebrochene Praxis zionistischer Geschichtsfälschung, schreibt Hussein Sha’ban. Diese nivelliere nicht nur die historischen Erfahrungen der PalästinenserInnen, sondern verzerre gleichsam die gesamte arabische Geschichte, um das Ziel eines Groß-Israels zu erreichen.96 So avanciert der Fall Edward Said zu einem gesamtarabischen Anliegen. Längst geht es nicht mehr nur um die Diffamierung eines palästinensich-amerikanischen Intellektuellen durch einzelne prozionistische Zeitschriften in Europa und den USA, sondern um die Verteidigung der arabisch-palästinensischen Sache gegen den »israelischen Krieg«97, gegen den »jüdischen Angriff«, wie der Präsident des Golf Zentrums für Strategische Studien Omar al-Hassan in der ägyptischen Al-Ahram schreibt.98 Nur selten wird in diesem Zusammenhang an die verbalen Attacken arabischer KritikerInnen gegen Said, an das Verbot seiner Bücher durch die palästinensische Autonomiebehörde oder an die repressive Politik arabischer Regierungen gegenüber palästinensischen Flüchtlingen erinnert.99 Noch seltener gelingt es zwischen Text und Kontext zu unterscheiden, so dass die arabische Rezeption der Memoiren zunächst in einer Rezeption ihrer tendenziösen westlichen Rezeption verharrt. Diese überwiegend defensiv geführte Debatte findet Mitte des Jahres 2000 ihren publizistischen Höhe-

94 Siehe z.B. ³asÁn ³aÈan, »al-½amla al-ÈihyÚnÍya þalÁ idwÁrd saþÍd. mu½Áraba al-qa±Íya wa r-ramz wa muþÁdÁh as-salÁm« [Der zionistische Angriff auf Edward Said: Das Bekämpfen der Klage, des Symbols und der Rückkehr des Friedens], As-SafÍr 15.9.1999. 95 Siehe z.B. ¼annÍn ³iddÁr, »al-filasÔÍnÍ allaªÍ laisa filasÔÍnÍ« [Der Palästinenser, der kein Palästinenser ist], As-SafÍr 17.9.1999. 96 ¼usain ÉaþbÁn, »þalÁ hÁmiÊ al-½amla þalÁ idwÁrd saþÍd« [Anmerkungen zur Kampagne gegen Edward Said], As-SafÍr 12.9.1999: 19. 97 ÓalÁl SalmÁn, »bayna l-½arb al-isrÁÿÍlÍya þalÁ idwÁrd saþÍd wa l-½amla allubnÁnÍya þalÁ tawaÔÍn al-filasÔÍnÍyn« [Zwischen dem israelischen Krieg gegen Edward Said und der libanesischen Kampagne gegen die Einbürgerung der Palästinenser], As-SafÍr 30.8.1999: 1. 98 þUmar al-¼assan, »qa±Íya idwÁrd saþÍd« [Der Fall Edward Said], Al-AhrÁm 2.11.1999: 9. 99 Etwa in: ÓalÁl SalmÁn (As-SafÍr 30.8.1999) und ¼usain ÉaþbÁn (As-SafÍr 12.9.1999).

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punkt in dem Buch In Verteidigung Edward Saids.100 Die Textsammlung wird von Fakhry Salih herausgegeben; Salih nutzt die symbolisch aufgeladene Auseinandersetzung und die darin hervorgebrachte Solidarität mit dem Attackierten, um jenseits von Apologetik und Solidaritätsbekundungen auch solche LeserInnen mit den theoretischen und politischen Positionen Saids bekannt zu machen, die ihn bis dato nur aus der politischen Presse oder aus Radio- und Fernsehberichten kennen. Out of Place wird als Versuch des palästinensischen Intellektuellen im Exil erklärt, eine von geographisch-kultureller Entortung und historiographisch-ideologischer Leugnung bedrohte Identität zurückzugewinnen. Während Joseph Conrads Literatur zuvorderst als autofiktionale Reflexion einer individuellen Identitätsgenese zu bewerten sei, ginge es in den Schriften Saids um mehr als nur die Affirmation eines persönlichen Selbstwerdens. In ihnen spiegele sich das immer stärker werdende Bemühen, die persönliche Geschichte in den Dienst der Geschichte seines Volkes zu stellen, also den individuellen Wunsch nach Selbstvergewisserung in den kollektiven palästinensischen Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung zu überführen. Said reihe sich nicht einfach in die westliche Tradition des literarischen Exils ein. Ihm gehe es nicht nur um eine metaphorische Gemeinschaft aller Exilierten, sondern um die konkrete Solidarität mit den Menschen seiner Herkunftsgemeinschaft. Hieraus beziehe seine Exilkritik ihre besondere moralische Kraft.101 Diesen Prozess versucht Salih im zweiten Teil seines Buches anhand von ausgewählten Texten wie The Question of Palestine, After the Last Sky und Representations of the Intellectual zu illustrieren.102 Gesonderte Aufmerksamkeit erhalten Saids politische Essays, in denen er sich genauso dem liberalen Konsens westlich-israelischer Eliten wie den patriotisch verklärten Egoismen der palästinensischen Führung widersetze.103 Die Memoiren dienen in Salihs Buch vor allem als Folie für die Darstellung von Saids intellektueller Entwicklung sowie seiner politischen Forderungen. Es ist der mit Said befreundete libanesische Schriftsteller und Kritiker Elias Khoury, der als erster seine LeserInnen auffordert, zwischen dem öffentlichen Intellektuellen und dem (Anti-)Helden der autobiographischen Erzählung zu unterscheiden. Letzterer sei nur einer von zahlreichen Protagonisten in der Literatur palästinensischer Exilautoren. Der Kulturkritiker und politische Aktivist existiere aber auch weiterhin außerhalb jenes Textes, mit dem er versuche, seine Vergangenheit zurückzugewinnen.104 Wie Khoury rechnet auch die Ägypterin Mona Anis Saids »Suche nach der ver100 Fa¿rÍ ÆÁli½, difÁþan idwÁrd saþÍd [In Verteidigung Edward Saids] (Beirut: Al-Muÿassasa al-þArabÍya li-d-DirÁsÁt wa-n-NaÊr, 2000). 101 Ebd. 85-95. 102 Ebd. 97-114. 103 Ebd. 115-125. 104 IlyÁs ¾ÚrÍ, »qadr al-asmÁÿ« [Die Vielzahl der Namen], Al-Mul½aq aÝÕaqÁfÍ/An-NahÁr 28.8.1999: 19.

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lorenen Zeit«105 dem Genre der arabischen Autobiographie zu. Gerade in der schonungslosen Art, mit der er seine LeserInnen an den intimen Details seiner ägyptischen Kindheit teilhaben lässt, etabliere er neue Maßstäbe für zukünftige autobiographische Projekte.

Die arabische Erinnerung, der englische Text und die Ortlosigkeit der Identifikation Erst nach mehreren Wochen hochpolitisierter Diskussionen emanzipieren sich die arabischen RezensentInnen schrittweise von den diskursiven Vorgaben der westlichen Out of Place-Rezeption. Nun wendet man sich verstärkt der Geschichte jenes jugendlichen Helden Edward Said zu, der seinerseits bemüht ist, sich von kolonialen, schulischen und elterlichen Einschreibungen zu befreien.106 Sehen sich bis dahin zahlreiche politische KommentatorInnen veranlasst, den Wahrheitsgehalt der in den Memoiren repräsentierten kollektiven Ereignisgeschichte gegen die Behauptung ihres fiktionalen Charakters zu verteidigen, liest der ägyptische Schriftsteller Jalal Amin den Text als literarisches Erstlingswerk eines individuellen arabischen Autors, dessen Sprache nichts mit der des palästinensischen Aktivisten, politischen Kommentators und Literaturkritikers gemein habe. Wie jeder anspruchsvolle Schriftsteller übermittele auch dieser keine fotografischen Dokumente, sondern erzähle eher die Geschichte eines arabischen Jugendlichen, so, wie sie niemand außer ihm selbst gesehen habe. Es sei gerade die isolierte Erzählperspektive sowie das unüberwindbare Gefühl der Fremdheit und des Ausgeschlossenseins, die Out of Place mit den Arbeiten zeitgenössischer arabischer SchriftstellerInnen und mit ihrem künstlerischen Bemühen, das Individuelle gegen die erdrückende gesellschaftliche Überdeterminierung zu verteidigen, verbinde.107 Noch bevor das Buch im Spätherbst 2000 in arabischer Übertragung erscheint, veröffentlicht die Kulturbeilage der Beiruter Zeitung An-Nahar das für diesen Zweck verfasste Vorwort Saids.108 Anders als in seinem 105 MÚna AnÍs, »al-ba½Ý þan al-zaman al-±Áÿiþ« [Die Suche nach der verlorenen Zeit], WiºhÁt Naãr 9 (Oktober 1999): 57-59. 106 Eine der ersten Rezensionen, die völlig darauf verzichtet, auf die WeinerDebatte zu verweisen, ist ÆubhÍ ¼adÍdÍ, »hunÁka min dÚn ÿan yanÿa tamÁman þan hunÁ« [›Dort‹ ohne sich gänzlich vom ›Hier‹ zu entfernen], Al-Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ/An-NahÁr 20.11.1999: 15. 107 ¹alÁl AmÍn, »idwÁrd saþÍd ÿau qiÈÈan fatan þarabÍyan ™arÍb al-wiºh wa lyad wa l-lisÁn« [Edward Said oder die Geschichte eines arabischen Jugendlichen mit fremdem Aussehen, ungewöhnlichem Verhalten und schwer verständlicher Sprache], Al-¼ayÁt 29.3.2000: 18. 108 Edward Said, »al-kitÁba fiþl taªakkar wa nisyÁn« [Das Schreiben ist ein Akt der Erinnerung und des Vergessens], Al-Mul½aq aÝ-ÕaqÁfÍ/An-NahÁr 16.9.2000: 10. Die arabische Ausgabe der Memoiren erscheint Anfang Oktober in Beirut, Edward Said, ¿Áriº al-makÁn. muªakkirÁt [Out of Place: A Memoir], Übers. FawwÁz ÓarÁbÚlsÍ (Beirut: DÁr al-ÀdÁb, 2000). Darin: Edward Said, Vorwort, 7-12; im Folgenden zitiere ich hieraus.

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amerikanischen Vorwort betont er hier die nachhaltige Wirkung jenes Werkes, das er bereits mit seiner Dissertationsschrift zum Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Studie wählte und das fortan eine unerschöpfliche Quelle für seine persönliche und professionelle Bewusstseinsentwicklung bildet. Von den zahlreichen Berührungspunkten zwischen Joseph Conrad und ihm selbst hebt er besonders die gemeinsame Erfahrung hervor, in einer Sprache zu schreiben, die nicht identisch mit der Muttersprache ist. Zwar sei das Arabische im Vergleich mit dem Polnischen im Westen mit weitaus negativeren Konnotationen versehen, aber nichtsdestoweniger zeige auch Conrads Literatur eine spezifische Qualität exilierten Schreibens. Sie mache die Differenz zwischen gelebten Erfahrungen und der Sprache, in der diese repräsentiert sind, bewusst. Der polnisch-englische Schriftsteller habe auf diese Weise wie niemand vor ihm über jene äußeren Ränder der europäischen Ordnung, über die Ambivalenzen des westlichen Humanismus in seiner kolonialen Gestalt schreiben können, die er wie Said selbst als »verwirrende Unordnung«109 erlebte. Conrads entfremdete Indienstnahme des Englischen habe ihm stets als Vorbild gedient. Daher erhalte in Out of Place der bewusste Umgang mit der Fremdheit der englischen Sprache besonders große Bedeutung. Hier schreibe er in englischer Sprache über eine Zeit, in der sich sein arabisches Selbst in Opposition zu den durch das Englische repräsentierten Autoritäten und zu seinem von diesen geschaffenen Selbst begibt. Für diesen Prozess ließe sich kein Punkt Null in der persönlichen Geschichte rekonstruieren. Said habe zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, dass eine seiner konkurrierenden Identitäten komplett getrennt von der anderen existiere oder sich vollständig durchsetzen könne, erklärt er seinen arabischen LeserInnen. Nichtsdestoweniger forciere seine frühe Erziehung und akademische Ausbildung eine geradezu »chirurgische Abtrennung« zwischen dem, was lange in einer Person gelebt hat: »[…] als hätte ich zwei verschiedene Körper.«110 Said illustriert das auf diese Weise hervorgerufene Gefühl der Fremdheit mit dem Bild von Zwillingen, denen es unmöglich ist, Verständnis für den jeweils anderen aufzubringen, obwohl sie sich gegenseitig beeinflussen. Nachdem sich diese Dynamik zunächst zu Gunsten seiner westlich-amerikanischen Identität auswirkt, verlangte die erneute Involvierung in die politischen und kulturellen Diskurse der arabischen Welt, sich selbst zum Urheber einer arabischen Identität zu machen. Dieses Bemühen ziele nicht auf ein authentisches Zurückerlangen eines ursprünglichen Selbst, sondern stelle den Versuch einer autonomen Affiliation dar. Gegen alle Versuche, ihn zu überzeugen, seinen palästinensisch-arabischen Zwilling aufzugeben, habe er sich seit etwa Mitte der 1960er Jahre gezwungen gesehen, seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben.111 Dass es sich 109 Said, ¿Áriº al-makÁn 7. 110 Ebd. 8. 111 Ebd. 9.

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dabei um eine nahezu vollständige Kreisbewegung handelt, die ihn bis an jenen Anfangspunkt der verdrängten arabischen Kindheit zurückführt, zeigt keiner seiner Texte so eindrucksvoll wie Out of Place. Das Schreiben der Memoiren bedeutet für Said das Überführen arabischer Erinnerungen in einen englischen Text. Es korrespondiert mit dem »Ersetzen einer alten Sprache durch eine neue.«112 Daher handelt es sich nicht nur um einen Akt der Erinnerung, sondern auch um den des Vergessens. Diese vermeintlich paradoxe Anforderung resultiert unmittelbar aus dem Verhältnis zwischen der arabischen und englischen Sprache. Said wächst in einer Familie auf, deren gesprochene Sprache ein Amalgam aus verschiedenen arabischen und englisch-amerikanischen Dialekten ist. An den englischsprachigen Kolonialschulen erhält das Klassisch-Arabische lediglich den Status einer dem Latein vergleichbaren, toten Literatursprache. Seine Bilingualität bewegt sich also zwischen einer eher privaten arabischen Umgangssprache und einem deutlich elaborierten Bildungsenglisch. Erst im Verlauf der 1970er Jahre nimmt Said erneut Arabischunterricht. Von einer gleichwertigen oder austauschbaren Zweisprachigkeit kann aber auch danach kaum die Rede sein: »[W]hat does it mean to be perfectly, in a completely equal way, bilingual?« – fragt Said in einem posthum veröffentlichten Essay. »Has anyone studied the ways in which each language creates barriers against other languages, just in case one might slip over into new territory?«113 Es sei ihm nie gelungen, den Einfluss seines arabischen Lebens vollständig in der englischen Sprache zu konsolidieren, heißt es in dem arabischen Vorwort zu Out of Place. Noch sei er in der Lage, genau zu identifizieren, wie stark sich das Arabische in seinen englischen Schriften niedergeschlagen habe. Eben dieses anhaltende Gleiten zwischen Sprachen, Zeiten und Orten bilde »die Basis für dieses Buch. Es ist zugleich der Grund, der mich veranlasst zu sagen, dass meine Identitäten von fließenden Bewegungen und Aktionen geprägt sind und nicht von einem statischen nationalen oder ethnischen Ursprung.«114 Da sich sowohl die amerikanische als auch die arabische Identität auflösen, ohne sich zu verbinden, habe Said lange gezögert, eine neue arabische Identität zu gewinnen. Er sei kein Araber, dessen Geschichte den dominanten Vorstellungen organischer Zugehörigkeiten entspricht und ziehe es vor, sich als »Wahl-Araber«115 zu bezeichnen. Das Lesen seines früheren Lebens ermögliche ihm, sich von jenen Zugehörigkeits- und Ausschlussparadigmen wie Familie, Religion, Nation oder Sprache zu befreien, welche erst die Kluft zwischen seinen Identitäten schufen. Es gäbe

112 Ebd. 8. 113 Edward Said, »Living in Arabic« Al-Ahram Weekly Online 677 (2004), 12.-18.2.2004, 22.8.2004 >http://weekly.ahram.org.eg/2004/677/cu15.htm