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German Pages 288 Year 2001
ALFRED W. E. HÜBNER
Existenz und Sprache
Philosophische Schriften Band43
Existenz und Sprache Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von Martin Heidegger und Hans Lipps
Von
Alfred W. E. Hübner
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Hübner, Alfred W. E.:
Existenz und Sprache : Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von Martin Heidegger und Hans Lipps I Alfred W. E. Hübner.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Philosophische Schriften ; Bd. 43) Zug!.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10286-X
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-10286-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort Die vorliegende Abhandlung wurde im April 1999 bei der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation eingereicht. Der Tag der Promotion war der 15.12.1999. Die Arbeit wurde betreut durch meinen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Herbert Schnädelbach, der auch der Erstgutachter gewesen ist. Ihm gilt mein besonderer Dank für die verständnisvolle Förderung meiner Studien. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Rolf Peter Horstmann, der die Dissertation als Zweitgutachter beurteilt hat, sowie bei dem Dekan der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin, Herrn Prof. Dr. W. Kaschuba. Außerdem möchte ich der Stadt Berlin für die Gewährung eines Stipendiums nach dem Nachwuchsförderungsgesetz danken. Danksagen möchte ich an dieser Stelle auch meinen Eltern, deren finanzielle Unterstützung die Fertigstellung der Arbeit ermöglicht hat. Köln, Oktober 2000
Alfred W. E. Hübner
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1
Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache in "Sein und Zeit" A. Das In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Strukturmoment des In-Seins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Sein des Daseins als Zu-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erschlossenheil des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (l) Die Befindlichkeit. ... ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Strukturmoment der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Alltäglichkeit..... .. ..................... . ............... . b) Umgang, Zeug und Zuhandenheil.............................. . c) Bewandtnis und Bewendenlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedeutsamkeil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 22 22 25 26 27 31 31 32 36 43
B. Das hermeneutische Als in seinem Verhältnis zur Prädikation . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Als-Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die vorprädikative Konstitution des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Be-deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Vorrang des hermeneutischen Als.......................... . d) Das Vorhandene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aussage als Aufzeigung.... .. ................. . ....... . ... . b) Aussagetypen.................. . ....................... . ..... . (l) Die theoretisch-thematische Aussage (Prädikation) . . . . . . . . . . . . . (2) Die unthematische Aussage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 46 52 55 60 66 69 72 73 75 77 79
C. Die Rede als das existenziale Fundament der Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis der Rede zu den Weisen der Erschlossenheil . . . . . . . . . . . 2. Rede und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Artikulationsfunktion der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff der Artikulation. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 85 87 88 89
8
Inhaltsverzeichnis b) Die Strukturmomente der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rede als die Artikulation des In-der-Welt-seins.................. . 5. Die sprachliche Bedeutung: Das Gerede ...... ... . . .... . ............. 6. Hören und Schweigen .... ... ...... . ........... .. ..... . ............ 7. Das Verhältnis von Rede und Wahrheit. ...... . . .. ... .. ............. .
93 97 102 108 110
Kapitel 2
Die Sprachauffassung in der hermeneutischen Logik von Hans Lipps A. Der Zusammenhang von Existenz und Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Lipps' Interpretation des Logos semantikos ... . ... . ... . ...... ... .... . 2. Die Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lipps' Auffassung der Existenz .............. . .. . ............ . .. . . . 4. Die Verhältnismäßigkeit der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Semantikos und Apophantikos (Richtigkeit und Wahrheit). . . . . . . . . . . . .
11 8 118 120 125 130 134
B. Das Wort .......... . ...... . . .. . ...... .. . .... .... . . .. . . ... ... . . . .. . . . l. Der theoretische Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die sprachliche Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Potenz der Sprache .... . .......... . ... . ............. . .. . . . . b) Die sprachliche Konstitution ..... . .. . .. .. ....... . .............. . c) Wort und Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Wort als Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Praktische Fähigkeiten und sprachliche Griffe . .. . ... . . . . . . ... ... . b) Die Funktion des Beispiels .. . ....... . . . .... . .... . ...... . .. .. .. . c) Sachliche und sichtende Konzeptionen .... .. ..................... d) Der Eindruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Eindruck und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Modalitäten der sprachlichen Bedeutung . ..... .. ..... . .. . . .. .........
137 138 144 145 147 150 152 153 156 159 167 172 174
C. Der Vollzug der Sprache .. . . .... ...... . . . ...... .. ........ . . .. ......... l. Der Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung des Worts in der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verbindlichkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfallsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 180 187 193 200
Kapitell
Seinkönnen und sprachliche Konstitution A. Der Zusammenhang von unmittelbarer und sprachlicher Bezugnahme . . . . . . l. Referenz und Identifizierung bei Wahmehmungsaussagen . . . . . . . . . . . . . 2. Der W ahmehmungsvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschwellige und ausdrückliche Wahrnehmung . . ... . .. ........ b) Die Wahrnehmung von Zeug .. .. . . . .. ... .. .. ..... .. . . . ...... ...
203 205 208 208 211
Inhaltsverzeichnis B. Verstehen und Seinkönnen .... . .................... . ............. ..... I. Fähigkeitsmuster. ............................ .. ........... ... .. .. . 2. Der Lernprozeß als Ausbildung von Fähigkeitsmustern. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbindungen zwischen Fähigkeitsmustern ...... . . . .. . .... . .. .... ... . 4. Die Verknüpfung zwischen Gegenstandsmuster und Kenntnis der Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 215 215 219 222 224
C. Die Potentialität der sprachlichen Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 I. Einen Eindruck gewinnen . .............. . .. .. ... . .............. .... 229
2. Die Funktionsweise von Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
D. Seinkönnen und Regelbefolgen . . ... . ............. . . . .. .. ....... ....... 1. Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regelbeschreibungen ...................................... .. . . .. . . 3. Regelbefolgen ....... . ...... . ................ .. ........... ..... . ..
239 240 241 246
E. Die Bezugsstruktur des sprachlichen Verhaltens ...... ............ ... . .. . 247 1. Der Doppelcharakter des sprachlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Die Struktur des Sprechakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 F. Die Zeit als Horizont des sprachlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Literatur- und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 I. Verzeichnis der Werke von Martin Heidegger und Hans Lipps . . . . . . . . . . . . 263 2. Verzeichnis der sonstigen Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Einleitung Der Mensch spricht. Sprechen ist eine Tätigkeit, eine Weise sich zu verhalten, das bedeutet, es ist eine Weise, in der Menschen ihre Existenz vollziehen können. Zwar ist Sprechen lediglich eine von zahllosen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen. Dennoch handelt es sich um eine besondere und herausgehobene Verhaltensweise, die sich in wesentlichen Punkten von anderen unterscheidet. Viele Formen des Verhaltens involvieren bspw. ein praktisches und unmittelbares Zutunhaben mit irgendwelchen Gegenständen. So steht man etwa bei der Tätigkeit des Fahrradfahrens im Kontakt mit dem Fahrrad, dem Verkehr und dem Fahrtwind. Der sprachliche Vollzug hingegen ist als praktisches Verhalten lediglich eine Hervorbringung von Lauten mittels der Stimme. Viele Tätigkeiten sind zudem sehr speziell, so ist etwa Fahrradfahren eine besondere Art der Fortbewegung. Sprechen aber scheint das genaue Gegenteil eines solchen Verhaltens zu sein. Zwar ist auch die Äußerung von Lauten ein eher spezieller Vollzug. Doch das, was damit getan werden kann, ist äußerst vielfältig. Wer sprechen kann, wer also eine Sprache beherrscht, der vermag über vielerlei Dinge zu reden. Mit den von ihm hervorgebrachten Worten kann ein Sprecher auf alle möglichen Dinge und Sachverhalte Bezug nehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob die besprochenen Gegenstände gerade anwesend sind oder nicht. Der Sprecher ist mit seiner Äußerung imstande, sich sogar zu abstrakten, allgemeinen oder fiktiven Gegenständen zu verhalten. Er kann aber nicht nur über beliebige Gegenstände und Sachverhalte reden, er kann auch zu jemandem reden. Er kann sich mit seiner Äußerung zu einem anderen Menschen verhalten und sich diesem verständlich machen, sofern der Hörer die Sprache des Sprechers beherrscht. Der Sprecher kann dem Hörer bspw. etwas mitteilen, etwas versprechen oder etwas befehlen. Der Mensch verhält sich also, indem er spricht, zu einer Sache und auch zu einem anderen Menschen. Weil jede sprachliche Äußerung sich auf etwas bezieht, von etwas handelt, läßt sich Sprechen als ein intentionales Verhalten begreifen. Die Sprache ist das Medium, das dem Menschen ein solches Verhalten ermöglicht. Es stellt sich nun die Frage, wie so etwas mit diesem Medium zu schaffen ist. Wie ist es möglich, daß sich Menschen mit Worten, also mit stimmlich erzeugten Lauten, zu etwas verhalten können? Auf die Worte als solche scheint es hierbei allerdings gar nicht so sehr anzukommen, denn mit Worten kann man nur deshalb etwas tun, weil Worte etwas bedeuten. Die Bedeutung entscheidet darüber, was mit dem
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jeweiligen Wort getan werden kann, und das Wort fungiert lediglich als der Träger einer Bedeutung. Wenn also gefragt wird, weshalb man sich mit Hilfe des Mediums der Sprache zu etwas verhalten kann, dann ist zunächst zu klären, welche Rolle die Bedeutung innerhalb des sprachlichen Verhaltens spielt. Anders formuliert: Wenn das Sprechen eine Weise ist, wie sich Menschen verhalten können, und Sprache das Medium ist, das dieses Verhalten ermöglicht, dann ist zu fragen, in welchem Zusammenhang die sprachliche Bedeutung mit dem Verhalten des Menschen steht. In einer der beachtenswertesten sprachphilosophischen Debatten der vergangenen Jahre spielt diese Frage eine wesentliche Rolle. Auch wenn hier nicht näher auf die in der Auseinandersetzung vorgetragenen Argumente einzugehen ist, so kann diese Diskussion doch einen ersten Zugang in die Problematik des Zusammenhangs von Sprache und Verhalten eröffnen. Die Debatte betrifft die Frage, ob sich sprachliche Bedeutung im Rekurs auf intentionales Handeln erklären läßt. 1 Während das Intentionale im Zuge des "linguistic turn" der Philosophie lange in der Gefahr stand, ein Opfer der Hegemonie analytischer Ansätze - insbesondere behavioristischer Interpretationen - zu werden, kann inzwischen durchaus von einer Renaissance des Intentionalismus gesprochen werden? Im Zuge dieser Neubewertung des Intentionalen ist auch die Konzeption einer handlungstheoretisch oder intentionalistisch begründeten Bedeutungstheorie wieder aktuell geworden. 3 Allerdings weist die intentionale Semantik ihrerseits reduktionistische Züge auf, da sie ein sprachliches Phänomen im Rückgang auf ein geistiges Geschehen erklären will. Aus diesem Grund konnte die intentionalistische Interpretation des Bedeutungsphänomens nicht unkritisiert bleiben. 4 Im Mittelpunkt der resultierenden Kontroverse steht folgende Frage: Liegt der sprachlichen Bedeutung Intentionalität zugrunde, so daß semantische Grundbegriffe wie "Bedeutung" oder "Meinen" durch psychologische Begriffe wie "Überzeugung" oder "Absicht" analysiert werden können, 5 oder ist ein nicht mehr zu hintergehender Vorrang der Sprache anzuneh1 Wie sich im folgenden zeigen wird, ist der in der vorliegenden Arbeit verwendete Begriff des Verhaltens keineswegs mit dem identisch, was gerneinhin und auch in der genannten Debatte unter "intentionalem Handeln" verstanden wird. 2 Hierzu hat insbesondere der Versuch John R. Searles beigetragen, die Sprechakttheorie, die zuvor gerneinhin als ein Beitrag zur analytischen Philosophie rezipiert worden war, in einer allgerneinen Theorie der Intentionalität zu fundieren; vgl. Searle (1991), 9. Zur Zitierweise vgl. das Literatur- und Siglenverzeichnis arn Ende der Arbeit. 3 Anschließend an die Arbeiten von H. Paul Grice bemüht sich in Deutschland insbesondere Georg Meggle um die Ausarbeitung einer intentionalistischen Semantik; vgl. Grice (1957) u. Grice ( 1969) sowie Meggle (1990) u. Meggle (1990a). 4 Vgl. bes. Apel (1990) sowie Rohs (1990). 5 Vgl. Searle (1991), 204.
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men, möglicherweise gar im Sinne eines "Sprachaprioris"? Stark vereinfacht läßt sich das zugrunde liegende Problem auch in Gestalt der folgenden Alternative beschreiben: Weiß ein Sprecher zunächst, was er sagen will, und bedient sich daraufhin des Mediums der Sprache, um das, was er meint, zum Ausdruck zu bringen und mitzuteilen, oder weiß er erst dadurch, daß er sich dieses Mediums bedient, was er meint? Oder allgemeiner formuliert: Hat die Philosophie den Geist und die mentalen Zustände zum Gegenstand oder aber die Sprache und die sprachlichen Äußerungen? Ein Vorzug der intentionalistischen Auffassung scheint darin zu bestehen, daß in ihr die sprachliche Thematik in einen umfassenderen Kontext eingeordnet wird. Dadurch kann sprachliches und praktisches Verhalten gemeinsam und innerhalb einer einheitlichen Theorie im Rahmen der Philosophie des Geistes abgehandelt werden. Der Intentionalismus bringt so eine originär sprachliche Problematik mentalistisch bzw. handlungstheoretisch zum Verschwinden. Es fragt sich allerdings, ob damit nicht etwas hinwegerklärt wird, das im Hinblick auf eine philosophische Theorie der Bedeutung eine Notwendigkeit darstellt. Denn auch der Intentionalismus (zumindest in der von Searle vertretenen Variante) kann auf die Annahme einer den geistigen Phänomenen zugrunde liegenden logischen Struktur nicht völlig verzichten.6 Das aber heißt, es verbleibt hier ein Rest, der sich nicht mit Hilfe von psychologischen Begriffen erläutern läßt. Demgegenüber sieht sich der "Intersubjektivismus"7 mit einer anderen Schwierigkeit konfrontiert: Wenn Intentionalität und das Haben intentionaler Zustände das Beherrschen einer Sprache voraussetzen, dann ergibt sich das Problem, wie Sprachen überhaupt entstehen bzw. wie Menschen eigentIich eine Sprache erlernen können. Denn das Bilden oder Erlernen einer Sprache erfordert oder impliziert doch bereits in irgendeiner Weise intentionales Handeln. Wenn Sprache darüber hinaus eine notwendige Voraussetzung für intentionale Zustände sein soll, dann muß denjenigen Lebewesen, die nicht oder noch nicht über Sprache verfügen (z. B. Tiere und Kleinkinder), das Habenkönnen solcher Zustände grundsätzlich abgesprochen werden. In Anbetracht dieser, hier nur ganz grob skizzierten, Unstimmigkeiten entsteht der Verdacht, daß keiner der beiden Ansätze das Problem der sprachlichen Bedeutung in überzeugender Form zu lösen vermag. Auch wäre zu untersuchen, ob nicht vielleicht beide Konzeptionen Defizite beinhalten, die eventuell gerade durch Einbeziehung der jeweils anderen Posi6 Vgl. Searle (1991), 203. Vgl. zu dieser Kritik an Searle Schnädelbach (1997), 232ff. 7 Vgl. Köhler (1990), 7.
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tion beseitigt werden könnten. Unter der Voraussetzung, daß eine befriedigende Klärung der Kontroverse nicht durch die schlichte Widerlegung einer der Positionen zu erreichen ist, könnte ein Lösungsweg darin bestehen, den zwischen ihnen vorliegenden Gegensatz aufzuheben oder zumindest abzuschwächen - indem man versucht, die Konzeptionen miteinander zu vermitteln. Ein solcher Versuch ist nicht völlig abwegig, zumal die Fronten in beiden Lagern weniger eindeutig verlaufen, als die Kontrahenten bisweilen glauben machen wollen. So zeigen sich in der neueren sprachanalytischen Philosophie Tendenzen, die eine gewisse Ernüchterung gegenüber den ursprünglich mit dem "linguistic turn" verknüpften Erwartungen und Idealen erkennen lassen. 8 Auch die Ergänzung des "linguistic turn" durch einen "pragmatic turn" scheint hier neue Perspektiven eröffnen zu können. Der Intentionalismus seinerseits ist ebenfalls nicht durch einen unüberwindlichen Abgrund vom Intersubjektivismus getrennt, denn schließlich können die Intentionalisten ihre Theorien nur mit Hilfe von Verhaltensbeschreibungen erläutern. Auch sie bewegen sich also immer schon im Medium der Sprache. Wie auch immer eine zukünftige Annäherung der Standpunkte aussehen mag, so ist doch schon jetzt eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Positionen zu konstatieren, die möglicherweise in engem Zusammenhang mit den genannten Schwierigkeiten steht: In beiden Ansätzen wird eine klare Unterscheidung zwischen der Sprache und der Intentionalität des Sprechers getroffen. Auf der einen Seite soll es der Geist sein, der nichtintentionalen Entitäten Intentionalität verleiht und dadurch sprachliche Bedeutung ermöglicht.9 Auf der anderen Seite werden intersubjektiv verbindliche Bedeutungskonventionen angenommen, die für das Haben intentionaler Zustände die Voraussetzung darstellen. Für den intentionalistischen Ansatz ist die Sprache das Medium, in dem eine Bedeutungsintention zum Ausdruck kommen und kommuniziert werden kann. Für den Intersubjektivismus hingegen ist sie das Medium, das die Bedeutungsintention ermöglicht. Sprachliche Bedeutung wird also einerseits als etwas aufgefaßt, das der Intentionalität logisch nachgeordnet ist, und andererseits als etwas, das ihr voraus liegt. Wie verhielte es sich aber, wenn Intentionalität und Sprache gleichermaßen fundamental wären? Unter dieser Voraussetzung dürfte das sprachliche Geschehen dem intentionalen Geschehen weder nach- noch vorgeordnet sein, sondern müßte mit ihm in irgendeiner Form zusammenfallen. Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht Intentionalismus und Intersubjektivismus in gleicher Weise einen elementaren Zusammenhang zwischen Intentionalität bzw. intentionalem Verhalten und Sprache verkennen. Ist die Frontstellung der beiden Positionen lediglich Folge eines unzureichenden Verständnisses 8
9
Vgl. Bubner (1987). Vgl. a. Riesenhuber (1979). Vgl. Searle (1991), 211 f.
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sowohl der Intentionalität wie der Sprache? Wenn es sich so verhielte, dann müßte das Verhältnis von Intentionalität und Sprache in einer Weise in den Blick gebracht werden, die hinter den Antagonismus der beiden Positionen zurück reicht. Daraus ergibt sich die Aufgabe einer Interpretation des Bedeutungsphänomens, die zunächst den ursprünglichen Zusammenhang von Intentionalität und Sprache aufdeckt, um sodann die sprachliche Bedeutung als ein im Kontext des sprachlich-intentionalen Verhaltens auftretendes Phänomen verständlich zu machen. Die vorliegende Untersuchung begreift sich dieser Forderung gemäß als erster Entwurf einer Theorie, die hinsichtlich des Bedeutungsproblems von einer fundamentalen und nicht zu hintergehenden Verbindung von Intentionalität und Sprache ausgeht. Wesentliche Grundgedanken für eine derartige Theorie der Bedeutung hat Martin Heidegger bereits 1927 in "Sein und Zeit" (SuZ) entwickelt. Die Intentionalitätsproblematik nimmt im Denken des frühen Heidegger 10 bekanntlich einen zentralen Platz ein. Dabei geht es ihm vorrangig um eine Umdeutung des Husserlschen Intentionalitätsbegriffs sowie der damit verbundenen Auffassung der Phänomenologie. Schon ab 1919 hat er Husserls bewußtseinstheoretische Auffassung der Intentionalität kritisiert und ihr im Rahmen der Daseinshermeneutik von SuZ schließlich die Konzeption des sorgend existierenden Daseins entgegengestellt. 11 Dieser neuartige Ansatz zielt darauf ab, die Differenz zwischen dem Bewußtsein und den intentional gegebenen Gegenständen in einem einheitlichen Seinsvollzug - der "Sorge" (SuZ, 182) um das eigene Sein - aufzuheben. Als das "In-der-Welt-sein" (SuZ, 53) existiert das Dasein als eine der Aufspaltung in Subjekt und Objekt voraus liegende Ganzheit. Ähnlich wie in der intentionalistischen Semantik wird von Heidegger das Problem der Bedeutung in den größeren Zusammenhang intentionaler Vollzüge gestellt. Bedeutung ist dabei allgemein das Ergebnis eines intentionalen Verhaltens, d. h. eines Verstehens des Seienden in seinem Sein. Obwohl Heidegger somit Bedeutung als ein vorsprachliches Phänomen begreift, ist 10 Die Bezeichnung der Phasen von Heideggers Denken folgt der Einteilung Theodore Kisiels: I. der junge Heidegger (bis 1919), 2. der frühe Heidegger (19191929), 3. der spätere Heidegger (40er/50er Jahre) und 4. der alte Heidegger (ab den späten 50er Jahren); vgl. Kisiel (1993), xiii. 11 Vgl. KNS, 13ff. u. ll5ff. Vgl. hierzu a. FS, 34lff., AKJ, AhS sowie BdZ. Zur Zitierweise der Werke von Heidegger und Lipps vgl. das Literatur- und Siglenverzeichnis am Ende der Arbeit. Zu Heideggers Kritik an Husserl vgl. GA17, 270ff. sowie GA20, 148ff. Vgl. a. Riede/ (1989), Dahlstrom (1994), 89ff. u. Dahlstrom (1994a). Der Kritik Heideggers an Husserl entspricht auf der methodischen Ebene die Überzeugung, daß die Philosophie, begriffen als ein theoretisches Unternehmen, kein ursprüngliches Verständnis ihrer Gegenstände erbringen kann. Vgl. hierzu Kisiel (1992), Kovacs (1994) u. Sallis (1994).
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seine Theorie der Bedeutung dennoch keineswegs sprachunabhängig. Denn mit dem Verstehen ist zugleich eine den Existenzvollzug artikulierende logische Struktur gegeben. Diese logische Struktur, die "Rede" (SuZ, 133), ist für das intentionale Sein des Daseins bestimmend, ohne mit ihm identisch zu sein. Weil die Rede das apriorische Fundament der Sprache bildet, ist auch der Existenzvollzug immer schon durch Sprache determiniert. Heidegger entwickelt damit einen Intentionalitätsbegriff, der das sprachliche "Apriori" nicht aufhebt, sondern auf einer fundamentalen Ebene integriert.12 Diese Auslegung der Intentionalität bedingt eine bestimmte und irreduzibele Auffassung der sprachlichen Bedeutung. Dennoch wird die sprachliche Bezugnahme von Heidegger der unmittelbaren Erfassung des Seienden in einem praktischen und vorsprachliehen "Verstehen" (SuZ, 133) untergeordnet. Eine Philosophie der Sprache, die auf den Erkenntnissen von SuZ aufbaut, ohne jedoch das sprachliche Verhalten zu diskreditieren, hat der heute weitgehend vergessene Phänomenologe Hans Lipps in seiner "hermeneutischen Logik" vorgelegt. Lipps, 13 der zunächst in Göttingen und später in Frankfurt wirkte, macht sich zwar die Perspektive von Heideggers Analytik des Daseins zu eigen, deutet diesen Ansatz aber in seinen Untersuchungen zur Sprachphilosophie (und ebenso in Beiträgen zur Anthropologie) in eigenständiger Weise. Er geht dabei vom Gebrauch der Sprache in konkreten Äußerungen aus und analysiert, was mit solchen Äußerungen jeweils getan wird. Indem er auch sprachliche Phänomene wie Versprechen und Fluch behandelt, weisen seine Untersuchungen sowohl auf den späten Ludwig Wittgenstein wie auf die Sprechakttheorie voraus. 14 Allerdings interpretiert Lipps den Sprachgebrauch als eine Weise des individuellen 12 Allerdings besitzt Heideggers Beschäftigung mit der Sprache zu keiner Zeit den Charakter einer systematischen Untersuchung: In SuZ wird die Sprache primär aus der Perspektive des unmittelbar praktischen Umgangs mit dem Zeug, an dem die Konzeption des In-der-Welt-seins orientiert ist, thematisiert. Später macht Heidegger die Dichtung und die sich in ihr ereignende Seinserfahrung zur Grundlage seiner Sprachauffassung. 13 Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß sowohl Martin Heidegger wie auch Hans Lipps in einem gewissen Verhältnis zu dem Regime der Nationalsozialisten standen. Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus ist inzwischen hinlänglich bekannt und Gegenstand zahlreicher historischer Untersuchungen; vgl. hierzu bspw. Ott (1992). Sehr viel schwieriger ist es, Lipps' Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus genauer zu bestimmen. Lipps war Mitglied einer Unterorganisation der SS, der sog. "Reiter-SS". Gleichwohl erscheint es unangemessen, allein von dieser Tatsache auf eine nationalsozialistische Gesinnung zu schließen. Zeugnisse und Berichte, u. a. von Otto F. Bollnow, lassen vielmehr vermuten, daß Lipps ein Gegner des Regimes war, der sich durch die - allerdings recht befremdliche - Maßnahme des Eintritts in die Reiter-SS vor einer Bedrohung seiner Person zu schützen versuchte. Zur Biographie von Lipps vgl. Ave-Lallemant (1989), Busse (1989), Herbstrith (1989), Bollnow (1983b) u. Bollnow (1983c).
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Existenzvollzugs. 15 Was die Sprache ist und was sie zu leisten vermag, ist für ihn nicht aus dem Kontext der konkreten Existenz des Menschen zu lösen. Lipps ist deshalb keinesfalls bloß als ein Vorläufer Wittgensteins und der Sprechakttheoretiker anzusehen, sondern zugleich als deren entschiedener Widersacher. 16 Sprache im Sinne des Vollzugs sprachlicher Äußerungen ist ein Mittel zur Bewältigung des Lebens und damit ein bestimmender Faktor für die Existenz. Diese Bewältigung vollzieht sich in einem grundsätzlich intersubjektiven Kontext. Lipps begreift das Phänomen der sprachlichen Bedeutung deshalb ausgehend von dem dialogischen Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer. Das gesprochene Wort 17 der Sprache ist für ihn unhintergehbar. Die Bedeutung eines Worts bzw. einer Äußerung ist jeweils in den situativen Zusammenhang der Äußerung eingebettet und von diesem nicht zu trennen. Das Wort kann also nicht auf eine extensional beschreibbare Bedeutung festgelegt werden. Im Vollzug der Sprache ist ein Wirklichkeitsverhältnis realisiert, das schon vor jeder Analyse der Bedeutung besteht und ihr zugrunde liegt. Weil ein bestimmter typischer Wortgebrauch immer nur im nachhinein festgestellt werden kann, nimmt die Sprachphilosophie bei Lipps einen hermeneutischen Charakter an. 18 Heidegger und ebenso Lipps begreifen Sprache als ein konkretes Verhalten, das nicht auf einen systematischen und von diesem Verhalten abgetrennten Sprachbegriff zurückgeführt werden kann. Mit dieser Auffassung reihen sie sich ein in jene Tradition der Sprachphilosophie, die auf Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und vor allem auf Wilhelm von Humboldt zurückgeht. 19 Humboldt betont in seinem Ansatz die Bedeutung 14 Lipps ist hierbei vermutlich von Adolf Reinach beeinflußt worden, der seinerseits durch die Beschäft!~ung mit rechtsphilosophischen Problemen auf das Phänomen der performativen Außerungen aufmerksam geworden war. Vgl. hierzu Strube (1995). 15 Wie für viele seiner Zeitgenossen, so stellte auch für Lipps das Erscheinen von SuZ einen Wendepunkt in der Phänomenologie dar. Lipps erkannte sofort die Bedeutung von Heideggers Werk für seinen eigenen Ansatz; vgl. PhEII, 5. Dabei hat er die Einsichten von SuZ keineswegs unkritisch übernommen. So ist vor allem seine Auffassung der Existenz zwar stark von Heidegger geprägt, den Versuch, durch eine Analyse der Existenz die Frage nach dem Sinn von Sein an sich aufzuklären, lehnt er jedoch ab. 16 Vgl. Gadamer (1976), X. 17 Lipps verwendet den Ausdruck "Wort" nicht nur für einzelne Worte, sondern allgemein im Sinne von sprachlichen Äußerungen. 18 Auch hier ist wiederum der Einfluß eines Göttinger Kollegen auf Lipps nicht zu übersehen. Der Begriff der hermeneutischen Logik wurde von Georg Misch geprägt. Während Misch jedoch an die Philosophie Wilhelm Diltheys anknüpft, begreift Lipps die hermeneutische Logik als eine Weiterführung der Phänomenologie; vgl. hierzu Bollnow (1964), Schelffeie (1973), 158ff. u. Rodi (1990).
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der Sprache für das Weltverhältnis des Menschen, darüber hinaus bestreitet er, daß Sprache als ein abstraktes System zu erfassen ist. Die Sprache ist für Humboldt wesenhaft durch - in heutiger Terminologie - Performanz bestimmt, also durch ihren konkreten Gebrauch von seiten individueller Sprecher. Das Wesen der Sprache, ihre Energeia, ist von ihrem Vollzug im Sprechen nicht zu trennen. 20 Heidegger und auch Lipps verknüpfen diesen Sprachbegriff Humboldts mit einem eigenen Ansatz, wobei beide Philosophen in ihrem Denken gleichermaßen von Edmund Husserl wie von Wilhelm Dilthey beeinflußt sind. 21 Die Phänomenologie Husserls bildet jeweils den Ausgangspunkt. Gerade die begeisterte und unvoreingenommene Aufnahme des phänomenologischen Schlachtrufs "Zu den Sachen selbst!" führt aber schließlich auch bei Lipps zu einer Abwendung von Husserl. 22 Im Rückgang auf Diltheys Hermeneutik des Lebens gelingt Heidegger und Lipps dann unabhängig voneinander die Überwindung von Husserls bewußtseinstheoretischer Konzeption und damit die Umdeutung der Phänomenologie in eine Hermeneutik. 23 Die Sprachauffassung von SuZ ist immer wieder ein Thema in der Beschäftigung mit Heideggers Werk gewesen. Obwohl sie sich nicht in gleichem Maße auf das philosophische Denken auszuwirken vermochte wie bspw. die Zeuganalyse, hat Heideggers Interpretation der Sprache gleichwohl ein breites Interesse auf sich gezogen. 24 Da die Rolle von Rede und 19 Zu dieser Tradition vgl. Taylor (1985). Daß Heidegger und Lipps das sprachliche Verhalten als ein Vollziehen der Existenz interpretieren, zeigt darüber hinaus den Einfluß Sören Kierkegaards. 20 Vgl. Humholdt, Werke III, 418. Vgl. hierzu a. Borsehe (1981), 67f. 21 Zum Verhältnis von Heidegger und Dilthey vgl. bes. Barash ( 1989), Boeder (1984), Pöggeler (1986/87) u. Rodi (1986/87). Lipps lernte die Philosophie Diltheys in seiner Göttinger Zeit durch Misch kennen; vgl. Bollnow ( 1980), Bollnow (1985) sowie Rodi (1985). In seiner Sprachauffassung ist Lipps außerdem deutlich geprägt von Kar! Bühler, Julius Stenze! sowie von Josef Königs frühen Untersuchungen zur Sprachphilosophie und zur Ontologie. 22 Vgl. PhEI, 5. Die Ablösung von Husserl wird bereits im ersten Teil von Lipps' ,.Phänomenologie der Erkenntnis" (PhEI) vollzogen. Da diese Schrift im seihen Jahr veröffentlicht wurde wie SuZ (1927), muß Lipps' Kritik an Husserl unabhängig von Heideggers bahnbrechendem Werk betrachtet werden. 23 In den frühen 20er Jahren bezeichnet Heidegger seine Philosophie als eine ,.Hermeneutik der Faktizität" (vgl. GA63), entsprechend könnte man Lipps' hermeneutische Logik auch als eine ,.Hermeneutik des faktischen Sprachgebrauchs" beschreiben. 24 Zwar wird in erster Linie der spätere bzw. der alte Heidegger als Sprachphilosoph rezipiert, dennoch hat selbst die Literatur zu der im Rahmen der vorliegenden Abhandlung in den Blick genommenen Sprachauffassung des frühen Heidegger inzwischen einen solchen Umfang erreicht, daß sie hier nicht mehr vollständig referiert werden kann. Der folgende Überblick konzentriert sich daher auf die für die Untersuchung wesentlichen Arbeiten aus der jüngeren Zeit.
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Sprache innerhalb der Analytik des Daseins letztlich unklar bleibt, bildet die Klärung ihrer Funktion einen Schwerpunkt der Forschung?5 Weil zudem die Sprachauffassung mit der ontologischen Zielsetzung von SuZ systematisch verflochten ist, stellt sich zugleich die Frage nach der Interpretation von Heideggers ontologischem Ansatz?6 In der neueren Auseinandersetzung mit Heideggers "Fundamentalontologie" (SuZ, 13) sind Tendenzen erkennbar, die auch für eine angemessene Deutung der Sprachauffassung relevant sind. Dabei rückt der "pragmatische" Aspekt von Heideggers Denken, insbesondere seine auf dem Verslehensbegriff beruhende Konzeption des Handelns, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit?7 In der Interpretation von Günter Figal wird die auf Anstoteies aufbauende Konzeption der Gegenstandskonstitution in ihrem Verhältnis zur prädikativen Aussage herausgearbeitet. 28 In dieselbe Richtung führt auch Daniel 0. Dahlstroms Versuch einer Rechtfertigung von Heideggers vorprädikativer Wahrheitstheorie gegenüber der schon fast klassisch zu nennenden Kritik von Ernst Tugendhat. 29 Dahlstrom konstatiert, daß die Aussage sich erst dann funktional und schlüssig in den Zusammenhang von Heideggers Verslehensbegriff fügen kann, wenn sie von ihrer Aufgabe als Wahrheitsträger entlastet wird. Diese Deutung erläutert Heideggers Auffassung der Eingebundenheit des sprachlichen Verhaltens in den Kontext des praktischen Verhaltens. Während die Literatur zu Heideggers Hauptwerk ebenso umfangreich wie breit gefachert ist, blieb die Rezeption der Schriften von Lipps bis heute begrenzt. 30 Zwar haben Otto F. Bollnow und Hans-Georg Gadamer wiederholt auf diesen Philosophen hingewiesen, 31 dennoch konnte Lipps' hermeneutische Logik bisher keinen nennenswerten Einfluß auf die sprachphilosophische Diskussion ausüben. 32 Auch hat weder die Geistesverwandtschaft mit Wittgenstein, die schon in den 60er Jahren von Gottfried Bräuer und 25 Vgl. hierzu Tietz (1990) u. Tietz (1995), Aler (1972), Stassen (1973), v. Herrmann (1985), Stahlhut (1986), Therien (1992) sowie Lafont (1993). 26 Vgl. zu der Entwicklung des frühen Heidegger die hervorragende Darstellung von Theodore Kisiel in "The Genesis of Heidegger's Being and Time", Kisiel (1993), sowie Thomä (1990). 27 Vgl. hierzu Gethmann (1987), Gethmann (1988), Held (1988), Thaimann ( 1988), Prauss (1977), Prauss (1988) sowie Figal ( 1991 ). 28 Vgl. Figal (1991), bes. 54ff. 29 Vgl. Dahlstrom (1994) sowie Tugendhat (1967) u. Tugendhat (1969). 30 Daran vermochte das seiner Person und Philosophie gewidmete Dilthey-Jahrbuch von 1989 ebensowenig zu ändern wie die ausführliche Darstellung seiner hermeneutischen Logik im Kontext der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts durch Jochern Hennigfeld; vgl. Hennigfeld (1982), 44ff. Vgl. a. Hennigfeld (1985). Vgl. außerdem Schelffeie (1973), v. d. Weppen (1984) sowie Owens (1987). 31 Vgl. bes. Bollnow (1970), Bollnow (1983), Bollnow (l983a), Bollnow (1983b) sowie Gadamer (1976), Gadamer (1977) u. Gadamer (1993). 2*
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Günther Buck hervorgehoben wurde, 33 noch die Nähe seiner Sprachauffassung zu derjenigen der Sprechakttheoretiker zu einer intensiveren Beschäftigung mit Lipps' Werk geführt. Der Vollzug der Existenz ist das gemeinsame Fundament der Sprachauffassungen von Heidegger34 und Lipps. Heideggers Auseinandersetzung mit der Sprache in SuZ ist allerdings einseitig sprachkritisch orientiert. Bei Lipps bildet die Sprache hingegen das zentrale Thema. Weil seine Interpretation einerseits auf Heideggers Analytik des Daseins aufbaut, andererseits aber hinsichtlich der Sprache zu weiterführenden Schlüssen gelangt, können sich die beiden Ansätze wechselseitig erhellen. Damit stellt sich im Rahmen dieser Untersuchung die Aufgabe, die Sprachauffassungen von Heidegger und Lipps im Hinblick auf den Zusammenhang von Existenz und sprachlicher Bedeutung herauszuarbeiten und miteinander zu vermitteln. In der vorliegenden Abhandlung werden dementsprechend zunächst die Ansätze von Heidegger und Lipps dargestellt (Kap. I und 2), um sodann das Verhältnis von Existenz und Sprache näher zu bestimmen (Kap. 3). Das erste Kapitel befaßt sich mit Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache in ,.Sein und Zeit". Um die Umdeutung des Intentionalitätsbegriffs einsichtig zu machen, werden zunächst die Strukturmomente des In-der-Welt-seins dargestellt (Abschn. A). Heideggers Theorie der vorsprachliehen Bedeutung in ihrem Verhältnis zur prädikativen Aussage wird in einem zweiten Schritt behandelt (Abschn. B), anschließend erfolgt eine Erläuterung der die Sprache fundierenden existenzialen Redestruktur (Abschn. C). Das folgende Kapitel thematisiert die Sprachauffassung in der hermeneutischen Logik von Hans Lipps. Da für Lipps der Vollzug der Existenz die unhintergehbare Voraussetzung des Sprachgebrauchs bildet, werden einleitend wesentliche Aspekte dieses Verhältnisses dargelegt (Abschn. A). Anschließend wird die Funktionsweise sprachlicher Ausdrücke als Mittel zur Bewältigung der Existenz analysiert (Abschn. B). Unter Berücksichtigung des spezifischen Mittelcharakters sprachlicher Ausdrücke läßt sich sodann das dialogische Verhältnis von Sprecher und Hörer sowie der 32 Der Sache nach finden sich viele der Ideen von Lipps u. a. in Fridolin Wiplingers Versuch einer Sprachdeutung aus der ursprünglichen Spracherfahrung. Allerdings wird Lipps von Wiplinger nicht erwähnt; vgl. Wiplinger (1968). 33 Vgl. Bräuer (1963) u. Buck (1967), 122ff. 34 Dieses frühe Verständnis der Sprache unterscheidet sich wesentlich von Heideggers späterer Auffassung. Nach der "Kehre" ist die Sprache nicht mehr ein Medium des Existenzvollzugs, sondern umgekehrt ein Medium, das den Menschen in Gebrauch nimmt. Die Sprache wird dann als das "Haus des Seins" (Hum, 311) begriffen, d.h. als der Ort, an dem sich Sein lichtet. Vgl. hierzu Anz (1969), 309.
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Zusammenhang von individuellem Sprechen und vorgegebener Sprache einsichtig machen (Abschn. C). Im Kapitel Seinkönnen und sprachliche Konstitution wird zunächst das Verhältnis von sprachlicher und unmittelbarer Bezugnahme in der Wahrnehmung untersucht (Abschn. A). Indem dieser Zusammenhang auf eine Verknüpfung zwischen sprachlichen und praktischen Fähigkeiten zurückgeführt werden kann (Abschn. B), läßt sich nicht nur die Funktionsweise sprachlicher Ausdrücke erläutern (Abschn. C), sondern auch der Sprachgebrauch mit Hilfe des Regelbegriffs interpretieren (Abschn. D). Anschließend an eine Analyse der Struktur des sprachlichen Verhaltens (Abschn. E) kann die Zeit als der Horizont des sprachlichen Verhaltens aufgewiesen werden (Abschn. F).
Kapitell:
Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache in "Sein und Zeit" A. Das In-der-Welt-sein Im Anschluß an die einführenden Paragraphen von SuZ (§§ 1-8) und die Abgrenzung einer phänomenologischen Analytik des Daseins von wissenschaftlichen Herangehensweisen (§§ 10 u. 11) entwickelt Heidegger am Schluß des Paragraphen 11 das Problem der ,,Ausarbeitung der Idee eines ,natürlichen Weltbegriffes'" (SuZ, 52) als einer unausweichlichen Aufgabe für die Philosophie. 1 Weil die Welt ein Strukturmoment innerhalb der Seinsverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein darstellt (vgl. SuZ, § 12), bildet diese Aufgabe einen unverzichtbaren Bestandteil der Daseinsanalytik. Innerhalb der einheitlichen Struktur des In-der-Welt-seins kann formal zwischen den beiden existenzialen Strukturmomenten des "In-Seins" und der "Welt" unterschieden werden. 1. Das Strukturmoment des In-Seins a) Das Sein des Daseins als Zu-sein
Das ln-Sein des Daseins ist nicht in einem räumlichen Sinne zu verstehen, vielmehr kann das Dasein nur deshalb in einem Raum sein, weil das "In" schon zu seiner Seinsverfassung gehört. Dem Dasein eignet eine Immanenz, die keine "Innensphäre" darstellt, wie sie z. B. der res cogitans von der auf Descartes zurückgehenden Tradition zugeordnet wurde. Das InSein bedeutet demgegenüber so etwas wie "wohnen bei ... , vertraut sein mit . .." (SuZ, 54)_2 Folglich bezeichnet es auch nicht die Seinsverfassung eines Subjekts, das bei Bedarf in Relation zu einem innerweltlichen Objekt 1 Diese Aufgabe stellt sich einerseits in erkenntnistheoretischer Hinsicht, da sich ausgehend von der Verfassung des Daseins als In-der-Welt-sein das Erkennen wie auch das diesem entsprechende traditionelle Erkenntnismodell mit seiner Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt als ein ,JUndierte[r] Modus" (SuZ, 59) erweisen. Andererseits ist der Weltlx;~riff auch im Hinblick auf die Ontologie relevant, da er die Voraussetzung für die Oberwindung einer an der Idee der permanenten Anwesenheit orientierten Ontologie im Sinne einer "Vorhandenheitsideologie" bildet.
A. Das In-der-Welt-sein
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tritt; das Dasein ist, wenn es ist, von vomherein und immer schon in einer Welt. Eine Unterscheidung zwischen einer "Außenwelt" und einer "Innenwelt" ist hier nicht mehr möglich. Daher bezieht sich die Struktur des InSeins gleichermaßen auf das "Weltverhältnis" wie auf das "Selbstverhältnis" des Daseins. Wegen dieser Seinsverfassung kann das Dasein nicht mehr als ein theoretisch verfaßtes Bewußtsein begriffen werden, das sich seines Seins vergewissert, indem es auf sein Cogito in einem intentionalen Akt der Reflexion zurückkehrt. 3 Der primäre Bezug zum Dasein ist nicht die Reflexion, sondern der konkrete Vollzug des eigenen Seins (vgl. BdZ, 14). In dieser spezifischen Seinsverfassung ist das Dasein dadurch bestimmt, "daß es je sein Sein als seiniges zu sein hat" (SuZ, 12). Die individuelle4 "Jemeinigkeit"5 (SuZ, 42) des Daseins vollzieht sich in der Weise, "daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht" (SuZ, 12)6 . Heidegger stellt fest: "Das ,Wesen' dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein." (SuZ, 42.) Der Terminus "Zu-seih" soll zum Ausdruck bringen, daß die Seinsart des Daseins eine Aufgabe beinhaltet, die das Dasein, indem und weil es dieses Seiende ist, immer schon übernommen hat. 7 Das Dasein steht unter dem Zwang, sein Sein zu vollziehen, sich seines Daseins als einer zu bewältigenden Aufgabe immer wieder aufs neue zu stellen. Diese Seinsverfassung beinhaltet aber zugleich, daß dem Dasein jeweils verschiedene Alternativen offenstehen - Möglichkeiten, dieses Dasein zu sein. 8 Im Ergreifen einer Möglichkeit bewältigt es jeweils die Aufgabe seines Seins. Insofern das 2 Diese doppelte Charakterisierung weist bereits voraus auf die beiden Erschlossenheilsweisen des In-Seins: Befindlichkeit (Wohnen-bei) und Verstehen (Vertrautsein-mit); vgl. Therien (1992), 12. 3 Vgl. Tugendhat (1967), 299. 4 Zum Verhältnis von Dasein und Individuum vgl. lgnatow (1979), 227. 5 ,,Jemeinigkeit" besagt: "Das Sein dieses Seienden ist je meines." (SuZ, 41.) Das Dasein ist je selbst sein "Da". Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heideggers früheren Terminus der ,,Jeweiligkeit"; GA63, 48, BdZ, li ff. sowie GA20, 206f. u. 325. 6 Vgl. a. SuZ, 42 u. 192 sowie GA20, 404 u. GA21, 219. 7 Zu der in der Literatur oftmals eher beiläufig zur Kenntnis genommenen Bestimmung des In-seins als ein Zu-sein vgl. bes. Tugendhat (1967), 299ff. Hier wird bereits deutlich, daß im Sein des Daseins als Zu-sein ein Bezug auf die (jeweils bevorstehende) Zukunft liegt. In der Betonung, daß dieses Sein gleichsam "vorwärts" vollzogen werden muß, zeigt sich eine Differenz zu Diltheys Auffassung des Verslehens des Lebens. Karl-Otto Apel hat darauf hingewiesen, daß der Nachdruck, den Heidegger auf die Zeitlichkeit des Daseins legt, auf den Einfluß Kierkegaards zurückgehen könnte; vgl. Apel (1973), 291. 8 Die existentiellste aller Alternativen besteht dann darin, das Dasein zu sein oder nicht mehr zu sein. Auch die Alternative, das Dasein aufzugeben, muß vom Dasein als eine Möglichkeit zu sein ergriffen werden.
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Kap. I: Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache
Dasein stets Aufgabe ist, ist es auch stets Möglichkeit. Das Dasein muß sich, weil dieser Möglichkeitscharakter zu seiner Seinsverfassung gehört, jederzeit für eine der bestehenden Alternativen entscheiden. 9 Und weil das Dasein sein Sein ist, indem es eine seiner Möglichkeiten ergreift, verhält es sich in jedem Vollzug zu sich selbst. Die Seinsart des Zu-seins meint ein interessiertes Selbstverhältnis. 10 Deutlich zu unterscheiden ist aber zwischen dieser Charakterisierung der Seinsverfassung des Daseins und dem, was gemeinhin unter dem "Verhalten" oder "Handeln" eines Subjekts begriffen wird, also dasjenige, wodurch ein Subjekt die Beziehung zu einem Objekt herstellt. Das Zu-sein darf nicht so verstanden werden, als solle mit dem Rückgang auf die Seinsverfassung des Daseins lediglich (im Sinne eines erweiterten Handlungsbegriffs) der Vorrang des praktischen Verhaltens gegenüber einer theoretischen Intentionalität behauptet werden. 11 Allein im Rückgang auf das Verhalten ließe sich die Frontstellung von Subjekt und Objekt nicht überwinden und ein natürlicher Weltbegriff nicht konstituieren. Heidegger geht es darum, das intentionale Verhalten in einer ursprünglicheren Seinsdimension zu gründen: der Zeit. 12 Das Sein des Daseins erweist sich dabei als seine eigene "ekstatische" Zeitlichkeit (vgl. SuZ, 323 ff.). In SuZ ist der Begriff ,,Zu-sein" terminologisch weitgehend durch den Begriff der "Existenz" ersetzt. 13 Das Existieren wird als ein Sorgen um das eigene Sein aufgefaßt. Die "Sorge" (SuZ, 57) ist somit das als Zu-sein bestimmte Sein des Daseins. 14 Es geht dem Dasein in seinem sorgenden Existieren um diese seine Existenz, und alle Bestimmungen dieses Seienden 9 Sämtliche Vollzüge des Daseins besitzen somit den Charakter der Entscheidung. Das besagt jedoch nicht, daß jede dieser "existentiellen" Entscheidungen eine "bewußte" Entscheidung ist: Auch wenn das Dasein nicht unter ausdrücklicher Abwägung des Für und Wider seine Entscheidung trifft oder wenn es gar keine Wahl hat, ist es durch seine Seinsweise bestimmt. Der Begriff der Entscheidung ist hier im Sinne eines Existenzials zu verstehen. 10 Vgl. hierzu GA20, 205 f. Vgl. a. Barteis (1977), 136 f. 11 Diese einseitige Auffassung des Zu-seins als Vollzug findet sich insbesondere in solchen Interpretationen, die das Dasein in erster Linie von seinem "pragmatischen" Zutunhaben mit den "Dingen" her deuten; vgl. bspw. Gethmann (1987). 12 Durch diese Rückführung des Verhaltens auf die existenziale Zeitlichkeit des Daseins unterscheidet sich Heideggers Ansatz grundlegend von der Philosophie des Pragmatismus; vgl. Dahlstrom (1994), 144. Die Ausdrücke "Verhalten" und "Vollzug" sind im folgenden immer im Sinne der zeitlich-ekstatischen Seinsverfassung des Daseins aufzufassen. 13 Die Einführung dieses Begriffs hat der Fehlinterpretation der Fundamentalontologie als einer Existenzphilosophie maßgeblichen Vorschub geleistet. Möglicherweise wollte Heidegger durch die Bestimmung des Seins des Daseins als Existenz die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, also primär das "Hinausstehen" in die Zukunft, stärker akzentuieren.
A. Das In-der-Welt-sein
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sind wiederum aus dieser Verfassung seiner selbst zu verstehen: "Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene ,Eigenschaften' eines so und so ,aussehenden' vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das." (SuZ, 42.) Oder, wie es erläuternd in der Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1925 heißt: "Die Bestimmung, das Sein ,zu sein', gibt die Anweisung, alle Phänomene des Daseins primär als Weisen seines ,Zu-seins' zu verstehen." (GA20, 206f.) b) Die ErschlossenheU des Daseins
Die Seinsverfassung des In-Seins fundiert gleichermaßen das Zutunhaben mit dem innerweltlich begegnenden Seienden wie die Mitenthülltheil des Daseins selbst. Wenn aber das In-Sein jeder ausdrücklichen intentionalen Beziehung zu dem innerweltlich Seienden und zu dem Dasein selbst schon vorausliegt, dann muß das Dasein so beschaffen sein, daß es für sich selbst in dieser Seinsverfassung freigegeben ist: Es ist in seinem "Da" für es selbst "gelichtet" (SuZ, 133) als eine "Offenbarkeitsdimension'" 5 . Die Seinsverfassung des In-Seins kann daher nun näher bestimmt werden als "Erschlossenheit" (SuZ, 132). Indem das Dasein stets selbst sein "Da" ist und alles Sein dieses Seienden Weisen sind, das "Da" zu sein, heißt "Dasein" soviel wie "Erschlossensein". Das Dasein besitzt nicht zusätzlich zu seinem Sein die Eigenschaft der Erschlossenheit, sondern "es ist seine Erschlossenheit" (SuZ, 133). Dieser Terminus soll nicht einfach den traditionellen Begriff des Bewußtseins ersetzen, 16 er meint vielmehr die wesenhafte Offenheit des Daseins für das Seiende. 17 Die Erschlossenheit bildet damit auch die Grundlage für jedwede Auseinandersetzung mit dem innerweltlich Seienden. 18 Das Dasein ist als In-der-Welt-sein gelichtet, so daß innerweltlich Seiendes in seinem Sein für das Dasein in dem Licht, als das es selbst existiert, zugänglich werden kann. In der "Lichtung" (ebd.) gründet das "Seinsverständnis" (SuZ, 5). Die Termini "Lichtung" und "Erschlossenheit" bringen somit zum Ausdruck, daß es in der Seinsverfassung des Daseins liegt, daß ihm das Sein sowie der Sinn von Sein immer schon irgendwie bekannt sind. Die Lichtung des Daseins ereignet sich auf 14 Vgl. SuZ, § 41, GA20, 347 u. § 31 sowie GA21, § 17. Die Strukturbestimmung "Sorge" ist bekanntlich eine Umdeutung von Husserls Begriff der Intentionalität. "Intentionalität" meint für Heidegger keine Bewußtseinsbestimmung, denn das zugrunde liegende Phänomen läßt sich nicht auf die theoretische Sphäre des Geistes beschränken. IS Held ( 1988), 123. 16 Vgl. Tugendhat (1979), 171 f. 17 Vgl. hierzu a. GA27, 132ff. 18 Vgl. hierzu a. GA20, 349.
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Kap. l: Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache
zwei existenzialen Ebenen: den Erschlossenheitsweisen der Befindlichkeit (vgl. SuZ, 134ff.) 19 und des Verslehens (vgl. SuZ, 142ff.)20 . (1) Die Befindlichkeit Die Befindlichkeit meint die stimmungsmäßige Erschlossenheit des Daseins. Sie lichtet das Dasein in seinem "daß es ist". Das bedeutet, sie bringt es vor es selbst in seinem "Da" (vgl. SuZ, 134)21 . In dem Begriff "Befindlichkeit" kommt einerseits zum Ausdruck, daß man sich immer irgendwie fühlt. 22 Zum anderen deutet das Wort aber auch an, daß sich das Dasein stets irgendwo (in der Welt) befindet und sich dort (selbst) findet. Es ist daher nicht primär an eine Ortsbestimmung zu denken, sondern an das In-der-Welt-sein als solches, in dem das Selbst, der Raum und die Zeit lediglich als einzelne - nicht-existenziale - Faktoren isoliert werden können.23 In seinen Stimmungen ist das Dasein gleichzeitig in seinem Selbst erschlossen und in seinem Zutunhaben mit dem innerweltlich Seienden, d. h. in seiner Eingebundenheit in das "All des Seienden" (SuZ, 64). Mit anderen Worten: Die Befindlichkeit ist die unbestimmte, aber ganzheitliche Lichtung des Daseins in dem "Da" seines In-der-Welt-seins. Es ist kein reflexiver Akt, in dem sich das Dasein seines Jetzt-hier-seins versichert, vielmehr ist das Dasein in der Gestimmtheit in seinem In-der-Weltsein unmittelbar und wie "auf einen Schlag" für sich selbst aufgeschlossen.24 Gelichtet ist aber nicht nur das Dasein selbst, sondern - weil die Vgl. a. GA20, 348ff. Vgl. a. GA20, 355ff. 21 Vgl. a. SuZ, 339ff. 22 Heidegger hat hierbei mehr die "Grundstimmung", also die Tatsache im Auge, daß es immer irgendwie ist, man selbst zu sein, als irgendwelche bestimmten Affekte und "Gefühlsausbrüche", die besondere Modi der Befindlichkeit darstellen; vgl. in Hinsicht auf die stimmungsmäßige Erschlossenheit des Selbst a. Nagel (1974) sowie die "antireflexive" Selbstbewußtseinstheorie von Dieter Henrich; Henrich (1970) u. Henrich (1989). 23 Diese Einheit von Selbst, Ort und Zeit kommt auch im Begriff "Dasein" zum Ausdruck; vgl. Kisiel (1981), 97f. 24 Vgl. GA24, 226: "Das Selbst ist dem Dasein ihm selbst da, ohne Reflexion und ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion. Die Reflexion im Sinne der Rückwendung ist nur ein Modus der Selbsteifassung, aber nicht die Weise der primären Selbst-Erschließung." Konsequenterweise bestimmt Heidegger hier die Reflexion lediglich als den "Widerschein aus den besorgten Dingen als faktisch-alltägliches Selbstverständnis" (GA24, 224). Denn man erfaßt das eigene Selbst nicht primär in einer Rückwendung des Subjekts auf sich selbst, sondern man versteht sich von dem her, "was man betreibt" (GA63, 99). Aus diesem Grund wird bspw. die Frage "Was bist du?" gemeinhin im Sinne von "Was ist dein Beruf?" aufgefaßt. Heideggers Rückgang auf die optische Bedeutung von "Reflexion" erweist sich damit als berechtigt, denn das Verständnis muß sich an etwas "brechen". Die Refle19
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A. Das In-der-Welt-sein
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Befindlichkeit das In-der-Welt-sein erschließt - zugleich auch das innerweltlich Seiende als solches: "Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins." (SuZ, 137.)25 Das Dasein ist stets in einen Zusammenhang mit dem innerweltlich Seienden hineingestellt. Die in den Stimmungen erschlossene Tatsache, daß sich das Dasein in jedem Moment seines Lebens immer schon irgendwie und irgendwo befindet, nennt Heidegger die "Geworfenheit" (SuZ, 135).26 Als Geworfenes besitzt das Dasein eine unhintergehbare "Faktizität" (ebd.)?7 Das Dasein existiert faktisch, d. h. es ist an sich selbst - an sein Zu-sein "überantwortet" (vgl. ebd.). Mit der Betonung der Emotionalität des Menschen wie auch mit der "praktischen" Wendung, die er dem Verstehensbegriff gibt, führt Heidegger seine Analyse über die rein intellektuelle Beziehung eines Subjekts zu sich selbst und der Welt hinaus. Die Stimmung steht nicht zur Disposition, sie "überfällt" (SuZ, 136). Das Dasein ist ein Schauplatz von Geschehnissen, die es nicht selbst beeinflussen kann und denen es weitgehend ausgeliefert ist. Mit der in den Stimmungen erschlossenen Geworfenheit bindet Heidegger ein sämtliche Vollzüge tragendes und prägendes Moment der Unverfügbarkeit in den Begriff des Daseins ein. (2) Das Verstehen Die zweite der beiden Erschlossenheitsweisen, das Verstehen, erläutert Heidegger ausgehend vom Wortgebrauch. Neben der Verwendung von "Verstehen" im Sinne eines intellektuellen Erfassens, wird das Wort auch im Hinblick auf das praktische Vermögen benutzt. So spricht man bspw. von "Verstehen" im Sinne von ,"einer Sache vorstehen können', ,ihr gewachsen sein', ,etwas können'" (SuZ, 143i8 . Insbesondere diese zweite Weise der Wortverwendung zeigt an, wie das Existenzial des Verstehens aufzufassen ist. Das im Verstehen erschlossene Sein des Daseins ist ein "Sein-können" (ebd.). Das jeweils Gekonnte ist kein sachhaltiges "Was", sondern das Exixion ist keine Spiegelung eines "Innen", in dem sich gleichsam das Subjekt bei der Arbeit zeigt, sondern des "Wirkens" des Daseins in seiner Welt. 25 Vgl. a. SuZ, 184ff., GA20, 354f. u. WiM, 110. 26 Die wesentliche Rolle der in der Befindlichkeit erschlossenen Geworfenheit ist nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Heidegger mitunter zu wenig beachtet worden, auch Heidegger selbst legt in SuZ unübersehbar größeres Gewicht auf die aktive Komponente der ErschlossenheiL 27 Vgl. a. SuZ, 56. Zum Begriff der "Faktizität" vgl. GA63. Vgl. a. Kisiel (1986/ 87), Krell (1994), Landgrebe (1982) sowie Tiefjen (1986). 28 Vgl. a. GA20, 357.
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Kap. I: Martin Heideggers Auffassung der Bedeutung und der Sprache
stieren selbst (vgl. ebd.). Die Seinsverfassung des Zu-seins bedeutet, daß dem Dasein sein Sein stets als eine zu bewältigende Aufgabe bevorsteht. Das Dasein kann sich in dieser oder jener Weise zu seinem Sein verhalten, es ist dabei nicht im vorhinein festgelegt, ob es nun dieses oder jenes wirklich tut. Das künftige Sein, die Existenz, ist jeweils unbestimmt.Z9 Trotz dieser Unbestimmtheit kann das bevorstehende Sein dem Dasein nicht völlig verborgen sein, da es sich ja zu ihm verhält, indem es seine Existenz vollzieht. Im Verstehen muß das bevorstehende Sein des Daseins daher als unbestimmt zukünftiges schon irgendwie erschlossen, d. h. gegenwärtig, sein. Gegenwärtig ist es aber, wie bereits gesagt wurde, als die Möglichkeiten, die dem Dasein jeweils als mögliches Sein offenstehen?0 Seine im Verhalten zu realisierenden Möglichkeiten sind demnach als die ihm eigenen Möglichkeiten zu sein bestimmend für die Existenz: "Dasein ist je seine Möglichkeit." (SuZ, 142.)31 Deshalb ist das Sein des Daseins "wesenhaft Seinkönnen [... ] und Freisein für seine eigensten Möglichkeiten" (SuZ, 312)32 • Das Verhalten gründet auf einem Seinkönnen, und indem das Verhalten als das Ergreifen von im Seinkönnen bereits erschlossenen (und insofern offenstehenden) Möglichkeiten aufgefaßt wird, eröffnet es immer wieder neue Möglichkeiten. Im Begriff des Verstehens denkt Heidegger diese beiden Aspekte zusammen: Das Seinkönnen ist sein eigenes "Möglichsein" (SuZ, 143). Solange es überhaupt ist, bewegt sich das Dasein in einem Spielraum von Möglichkeiten, in dem es als sein Seinkönnen existiert und aus dem heraus es sich selbst versteht. Den im Verstehen erschlossenen Möglichkeitscharakter des Daseins bezeichnet Heidegger als "Entwurf' (SuZ, 145)33 • Dieses Existenzial bezieht sich nicht allein auf das planvolle und überlegte Ergreifen bestimmter Möglichkeiten, sondern soll herausstellen, daß das Dasein auf Grund seiner Seinsverfassung jeweils in eine seiner Möglichkeiten strebt, die vor jedem konkreten Erfassen für es freigegeben sind (vgl. ebd.). Indem sich das Dasein auf Möglichkeiten hin entwirft, ist es auf das ihm bevorstehende Sein - seine eigene Zukunft - bezogen. In seinem Entwerfen ist es immer schon über sich selbst hinaus, sich selbst 29 Man könnte hier einwenden, daß das Gekonnte sehr wohl ein "Was" im Sinne von etwas Bestimmten ist; vgl. Figal (1991), 166. Jedoch wird ein solches eindeutiges "Was" auch im konkreten Hantieren getragen von der Seinsweise des Daseins. Jede Bestimmtheit ist folglich abhängig von der Unbestimmtheit der Existenz. 30 Die Möglichkeiten sind daher noch nicht ausdrücklich erfaßt, sondern unbestimmt erschlossen, wobei es nicht darauf ankommt, ob das Dasein sie sich überhaupt alle ausdrücklich "bewußt" macht oder in einer bestimmten Absicht realisiert. 31 Vgl. SuZ, 143: "Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist." Vgl. a. GA20, 412 f. 32 Vgl. a. GA24, 391. 33 Vgl. a. GA24, 392.
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vorweg (vgl. SuZ, 192). Der sich in diesem projektiven Charakter zeigende Zukunftsbezug des Daseins ist Teil seiner zeitlich-ekstatischen Seinsverfassung. Aus dem zu der Verfassung des Entwurfs gehörenden Seinkönnen als Möglichsein erhellt sich auch, daß das Sein des Daseins nicht ausschließlich als Vollzug, als ein Verhalten zu diesem Sein interpretiert werden kann. Das Sein des Daseins muß vorrangig als die existenziale Offenheit für die je eigenen Möglichkeiten begriffen werden, denn allein diese ermöglicht das Verhalten. Der Möglichkeitscharakter bleibt im Entwerfen stets erhalten, und auch diejenigen Möglichkeiten, die nicht in einem Verhalten realisiert werden, machen das Dasein mit aus. Das Verhalten ist so lediglich ein Moment des Seinkönnens bzw. Möglichseins und weil das Verhalten immer ein Verhalten zu etwas ist, stellt auch schon dieses "zu" bereits ein Moment des Entwurfs dar. In seinem Zu-sein ist das Dasein somit gleichzeitig sich selbst überantwortet (an sich selbst entlassen) und muß sich zu seiner Existenz verhalten (vgl. SuZ, 41 f.) 34• Seinkönnen ist daher nie so etwas wie "Willkür", denn seine Möglichkeiten sind dem Dasein durch seine Geworfenheil vorgegeben, und hinsichtlich der Notwendigkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, indem eine der jeweils offenstehenden Möglichkeiten ergriffen wird, gibt es keine Alternative (SuZ, 144). Das Dasein steht so in einem Möglichkeitsspielraum, dessen Grenzen durch die Faktizität seiner Existenz gezogen werden. Von diesem in der Befindlichkeit erschlossenen "Schon-sein" (vgl. SuZ, 192) muß der Entwurf immer aufs neue seinen Absprung nehmen. Als ein Ensemble gleichursprünglicher35 Strukturen stellen die Geworfenheit und der Entwurf des Verstehens ein einheitliches Ganzes dar: Als Geworfenes ist das Dasein in Möglichkeiten zu sein geworfen, wobei die Entwurfsmöglichkeiten selbst wiederum geworfene sind. Dasein existiert so, "daß es sich auf Möglichkeiten entwirft, in die es geworfen ist" (SuZ, 284) 36. Der doppelte (gleichermaßen "aktive" wie "passive") "Wurf'37 macht den einheitlichen Charakter des Daseins aus; es existiert Vgl. a. SuZ, 284 f. Die Idee der "Gleichursprünglichkeit" gründet - im Gegensatz zu einer "methodisch ungezügelten Tendenz zur Herkunftsnachweisung von allem und jedem aus einem einfachen ,Urgrund"' (SuZ, 131)- in der Überzeugung, daß ein Zusammenwirken und die Verschränkung der für das Dasein konstitutiven Seinscharaktere möglich ist, auch ohne daß unter ihnen Ableitungsverhältnisse bestehen. In Heideggers Ansatz werden die verschiedenen konstitutiven Momente des Daseins als nur in der Analyse zu trennende Aspekte einer einheitlichen Seinsverfassung nebeneinandergestellt. Gleichursprünglichkeit bezeichnet daher auch immer die systematische Zusammengehörigkeit der angezeigten Strukturen. 36 Vgl. a. SuZ, 276. 37 Vgl. Tugendhat (1967), 301. 34 35
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als ein "geworfener Entwurf' (SuZ, 148), "als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen" (SuZ, 145). Diese existenziale Verklammerung bewirkt, daß die Befindlichkeit so ursprünglich ein Verständnis besitzt, wie das Verstehen stets gestimmtes ist (vgl. SuZ, 142). Bezüglich der Faktizität kann hierbei sowohl von einer Erschlossenheit der Geworfenheit wie von einer Geworfenheit in die Erschlossenheit gesprochen werden. 38 Trotz der Gleichursprünglichkeit der beiden Erschlossenheitsweisen geht die Geworfenheit dem aktiven Wurf voraus. Denn das Dasein kann sich nur dann Entwerfen, wenn ihm schon im vorhinein Möglichkeiten aufgeschlossen sind. Dieses in der zeitlichen Verfassung des Daseins fundierte Vorangehen der Geworfenheit bedeutet jedoch, daß mit der Faktizität nicht nur eine gewisse Unverfügbarkeit verbunden sein kann. Vielmehr sind im Vollzug der Existenz immer schon Vorentscheidungen getroffen, die nicht selbst wieder das Ergebnis eines Daseinsentwurfs sein können. Die Seinsverfassung des Daseins beinhaltet daher ein Moment der Unergründlichkeit. 39 Heideggers existenziale Analytik begreift das Dasein als ein Seiendes, das in einer "in sich gespannten Verfassung zwischen Können und Schonsein"40 existiert. Indem die "subjektiven Funktionen" in der Erschlossenheit aufgehoben werden, gelingt es, sie über die Sphäre der reinen Theorie (namentlich eines theoretisch konstruierten Bewußtseins) hinaus auf den Bereich der Praxis auszuweiten.41 Insofern das Dasein wesenhaft In-derWelt-sein ist, betrifft das Erschließen des Verstehens auch diese Grundverfassung: "Als Seinkönnen ist das In-Sein je Seinkönnen-in-der-Welt." (SuZ, 144.) Die Einheitlichkeit der Erschlossenheit läßt dabei den zwischen Theorie und Praxis bestehenden Gegensatz zu einer sekundären Unterscheidung werden.42 Vgl. Obermeier (1987), 297. Der Ietztlichen Unergründlichkeit der Existenz wird in den Analysen von SuZ allerdings nicht ernsthaft Rechnung getragen. Heideggers Hauptwerk ist durch eine die Unverfügbarkeit und Unergründlichkeit, die der Existenz von der Faktizität "beigemischt" werden, weitgehend ignorierende Dominanz des Verstehens geprägt. Vgl. hierzu a. Kap. 2, Abschn. A.3 dieser Untersuchung. 40 Thomä (1990), 239. 41 Vgl. Ebeling (1991), 14 u. Franzen (1975), 20. 42 Heideggers Analyse der Seinsverfassung des Daseins kann dann auch als ein methodischer Schritt mit dem Ziel einer grundsätzlichen Neufassung der Subjektivität interpretiert werden. Auch wenn das Dasein hier immer mehr zu einem schlichten Träger für das Sein wird (und in der Beschränktheit auf diese Funktion also dem theoretischen Subjekt durchaus vergleichbar ist), so ist doch das Sein auf Grund der Abhängigkeit vom Seinsverständnis des Daseins eindeutig an dieses Seiende gebunden. Ein Sein-überhaupt kann in dieser Ansatzweise somit nicht thematisch werden, weil dieses letztlich vom "Seinsverständnis" des Daseins, also eines Seienden, abhängig bleibt. Winfried Franzen schließt daraus, "daß Seinsverständnis 38
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2. Das Strukturmoment der Welt43 a) Die Alltäglichkeit
Die durchschnittliche Alltäglichkeit als die Vollzugsform, in der sich das In-der-Welt-sein "zunächst und zumeist" (SuZ, 16) hält, ist für Heidegger diejenige Seinsweise, in der das Phänomen der Welt - als die "Umwelt" (SuZ, 66) 44 - ursprünglich zugänglich wird. Auch im alltäglichen "Besorgen" (SuZ, 57) besitzt das Dasein ein Wissen über das Seiende, das "Zeug" (SuZ, 68), mit dem es im alltäglichen Umgang zu tun hat. Nur handelt es sich hier nicht um ein explizit sachhaltiges oder propositionales Wissen, wie es bspw. in einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Seienden gewonnen wird, sondern um ein unausdrückliches Wissen, das dem alltäglichen Besorgen als eine Vertrautheit45 mit den Dingen zugrunde liegt.46 Eine Analytik des Daseins, die hinter die theoretische Erkenntnisrelation auf ein ursprünglicheres Seinsverständnis zurückgehen will, muß sich an einem Verständnis des im Besorgen begegnenden Seienden orientieren, das nicht die Form eines ausdrücklichen Wissens besitzt. Das ontische Zunächst und Zumeist der alltäglichen Seinsweise birgt so einen ontologisch relevanten Vorrang. Der Rückgang auf die Alltäglichkeit ist demnach primär als ein methodisch motivierter Schritt im Hinblick auf die Gewinnung eines Ausgangspunkts für die Daseinsanalytik zu interpretieren. Die Selbstverständlichkeit und Seinsentwurf in SuZ im Sinne von Seinskonstitution" durch das Dasein aufzufassen sind; Franzen (1975), 23. Das bedeutet, daß der "Transzendentalismus" von SuZ ein solcher des Seinsverständnisses und nicht des Seins selbst ist; vgl. Franzen (1975), 25. Vgl. hierzu a. Thumher (1983/84), 104. Heidegger bezweckt mit dem Rückgang auf das "transzendentale" Seinsverständnis offenbar in erster Linie eine Destruktion der "Vorhandenheitsideologie" als konstitutives Moment der traditionellen Subjektphilosophie. Das Seiende wird nicht mehr in einem theoretischen Erkennen bestimmt, sondern die Bedingungen des Begegnenkönnens von Seiendem werden analysiert; vgl. hierzu auch Heinz (1982), 11 ff. Das Dasein erweist sich dabei als der "Horizont" dieses Begegnenkönnens (und nur sofern ihm diese Aufgabe zufallt, kann es noch als ein Subjekt angesprochen werden). 43 Heidegger differenziert bekanntlich zwischen vier Bedeutungen des Weltbegriffs: Er unterscheidet zunächst die beiden ontischen Bedeutungen: 1. Welt als das "All des Seienden" (SuZ, 64) (Heidegger kennzeichnet diese Bedeutung durch die Verwendung von Anführungszeichen; diese Kennzeichnung wird im folgenden übernommen), 2. Welt als das Worin des Daseins (vgl. SuZ, 65). Hiervon sind die diesen beiden Weltbegriffen zugrunde liegenden ontologischen Auffassungen zu unterscheiden: 3. Welt im Sinne der Natur und 4. Welt im Sinne der "Weltlichkeit" des Daseins (vgl. ebd.). 44 Vgl. a. KNS, ?Off. u. GA20, 229ff. 45 Zum Begriff der Vertrautheit vgl. GA63 99 f. sowie GA20, 253 u. 272. 46 Vgl. Figal (1991), 79.
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und "Indifferenz" (SuZ, 43) der Alltäglichkeit ist als ein "positiver phänomenaler Charakter" (ebd.) anzusehen. Die indifferente Seinsweise der Alltäglichkeit ist indes mitnichten eine per se uninterpretierte oder gar unmittelbar zugängliche Existenzform, sondern wesentlich ist, daß das Dasein in der Alltäglichkeit sein Sein ohne ein (selbst-)erklärendes Interesse vollzieht. Dem Dasein kommt es hier allein auf den störungsfreien Ablauf seiner Verrichtungen an. Es existiert alltäglich in einer ursprünglichen, distanzlosen Nähe 47 zu sich selbst und den Dingen, mit denen es zu tun hat, und ist in sich gleichsam abgeschlossen (vgl. SuZ, 43f. u. 104ff.). In der Alltäglichkeit eignet dem Dasein daher ein Verständnis des Seienden (Seinsverständnis), das nicht aus einem theoretischen Erklärungsbedürfnis erwächst, sondern durch den selbstgenügsamen Vollzug des Lebens bedingt wird (vgl. GA58, 30ff.). Dieses unthematische Verständnis liegt jedem ausdrücklichen Erkennen schon zugrunde, daher führt es auch zu dem Überspringen des Phänomens der Welt, das die theoretische Erkenntnisrelation kennzeichnet; gerade weil die Welt ontisch das Nächste ist, kann sie ontologisch zum Fernsten werden (vgl. SuZ, 43).48 b) Umgang, Zeug und Zuhandenheil
Das alltägliche In-der-Welt-sein kann als der "Umgang in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden" (SuZ, 66f.) beschrieben werden. Dieser Umgang wiederum "hat sich schon zerstreut in eine Mannigfaltigkeit von Weisen des Besorgens" (SuZ, 67). Weil dieses Besorgen die Alltäglichkeit ausmacht, zeigt sich die Umwelt primär als eine "Gebrauchswelt"49 . Wenn nun nach dem Sein des alltäglich begegnenden Seienden gefragt wird, so wird offenbar gefragt, was das Zeug zum Zeug werden läßt. Heidegger antwortet: "Zeug ist wesenhaft ,etwas um zu ... '. In der Struktur ,Um-zu' liegt eine Verweisung von etwas auf etwas." (SuZ, 68). Das jeweilige Umzu macht also etwas zu einem Zeug, wobei stets ein "Zeugganzes" (ebd.) (bspw. einer Werkstatt) im vorhinein entdeckt50 ist (vgl. SuZ, 69). Diese 47 Zur Bedeutung des Begriffs "Nähe" für Heideggers Philosophie vgl. Ketering (1988). 48 Aus diesem Grund besitzt das alltägliche und durchschnittliche Seinsverständnis auch im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn von Sein einen Vorrang. Weil die Frage nach dem Sinn von Sein als die "Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen wesenhaften Seinstendenz" (SuZ, 15) zu begreifen ist, kommt es in der die Seinsfrage vorbereitenden Analytik des Daseins darauf an, diese Tendenz da aufzunehmen, wo sie sich vorderhand zeigt: in der Alltäglichkeit. 49 Ebeling (1990), 20. Vgl. a. GA21, 143f. 50 "Entdecktheit" ist, im Gegensatz zu der bereits dargestellten Seinsweise der "Erschlossenheit", Heideggers Terminus für die Weise, in der das nichtdaseinsmäßige Seiende für das Dasein zugänglich ist; vgl. SuZ, 85.
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operative Ganzheit51 ist dem einzelnen Zeug logisch vorgeordnet und bildet einen funktional bestimmten strukturellen Zusammenhang,52 in dem das einzelne Zeug seinen ihm auf Grund seiner spezifischen Dienlichkeit zukommenden Platz hat und aus dem heraus es begegnen kann. Das jeweilige Zeug kann sich nur in dem entsprechenden Umgang mit ihm in seinem Sein zeigen, so wird bspw. ein Hammer als solcher durch das Hämmern mit ihm zugänglich. Das Wozu seiner Verwendbarkeit (Hämmern) ist es, was das Zeug (Hammer) in seinem genuinen Sein bestimmt. Die "Seinsart" des Zeugs kann daher als "Zuhandenheit" (ebd.) festgelegt werden. Einem hinsehenden Betrachten oder Bestimmen (vgl. SuZ, 154f.), das sich des Gebrauchs enthält, bleibt die Zuhandenheit verborgen und das Zeug als solches unverständlich. Seiendes, das nicht durch Weisen des (möglichen) Gebrauchs entdeckt wird, besitzt eine andere Seinsart, nämlich die der "Vorhandenheit" (vgl. SuZ, 71 u. 88). Es ist wesentlich, die in dem Ausgang von der Zuhandenheit liegende Modifikation der Sichtweise konsequent mitzuvollziehen. Das die Beziehung zwischen dem Dasein und dem Gegenstand Herstellende wird nicht mehr an einem Subjekt des Handeins festgemacht, sondern steht als eine Weise des Gebrauchs für sich. Nur weil das Dasein die jeweilige Gebrauchsweise beherrscht, kann es den Gegenstand im Verstehen entdekken. Ebenso gibt es dann kein als solches erfahrbares Objekt, dem seine Dienlichkeit bloß als eine Eigenschaft zukommt. Der Gegenstand ist als das, was er ist, durch die Weise seines Gebrauchs bestimmt. "Subjekt" und "Objekt" stehen sonach in einer operativen Beziehung zueinander, die gegenüber der Unterscheidung zwischen einem gebrauchenden Subjekt und dem Objekt des Gebrauchs primär ist. Die Differenzierung zwischen sachhaltigem Wissen und gebrauchendem Umgang ist nicht identisch mit der Teilung in Theorie und Praxis. Denn indem sich der verstehende Umgang mit dem Zeug den Verweisungen des Um-zu unterstellt, besitzt er eine leitende Sicht: die Umsicht (SuZ, 69)53 . Die Umsicht ist kein zusätzliches intellektuelles Vermögen, sondern derjenige Modus des Verstehens, in dem das Dasein sich die Verweisungen des Um-zu vergegenwärtigt, so daß der Umgang den aufgeschlossenen Möglichkeiten folgen kann. Die Umsicht läßt auf diese Weise das Zeug in seiner Zuhandenheil thematisch werden. Dabei schlägt der Umgang noch nicht in ein theoretisches Betrachten um, denn das Zeug ist gerade in dem Vgl. Gethmann (1987), 229. Es ist daher unerheblich, ob eine derartige Ganzheit tatsächlich quantitativ erfaßt werden kann (z. B. in einer Bestandsaufnahme der in einer Werkstatt vorhandenen Zeuge). 53 Vgl. a. SuZ, 146 sowie GA20, 265 u. 379. SI
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operativen Zusammenhang, in dem es zuhanden ist, umsichtig thematisch. Auf der anderen Seite ist jedoch auch das Betrachten immer eine Weise des Besorgens, entsprechend wird das "theoretische Verhalten" negativ als "unumsichtiges Nur-hinsehen" (ebd.) bestimmt. Heidegger unterläuft so die hergebrachte Unterscheidung von Theorie und Praxis, die er lediglich als den Ausfluß einer unzulänglichen Ontologie begreift. Er stellt den Praxisbegriff auf eine erweiterte Grundlage, indem er mit der Umsicht ein "theoretisches" Moment in den Umgang einzieht und zugleich das theoretische Verhalten als eine Modifikation von "praktischen" Vollzügen begreift. 54 Im Gegensatz zum Erkennen ist die Umsicht dabei nicht am Wahrheitsgehalt, sondern am Erfolg des jeweiligen Besorgens orientiert.55 Ihr kommt auch nicht die der Theorie gemeinhin zugeschriebene unmittelbare Reflexivität auf das Subjekt zu, vielmehr ist sie ganz auf das zu Besorgende gerichtet. Die Umsicht stellt somit diejenige Komponente des Besorgens dar, die den Umgang im Hinblick auf den Erfolg führt und die Mittel-Zweck-Organisation des Zeugzusammenhangs für das Dasein durchsichtig macht. Die Orientierung an den Gebrauchsdingen determiniert überdies eine modifizierte Auffassung des mit Hilfe des Zeugs herzustellenden Werks 56 (vgl. SuZ, 69f.). Während nach der aristotelischen Interpretation das Werk als das Telos 51 im Zentrum des philosophischen Interesses steht, verschiebt Heidegger den Akzent auf den Prozeß der Herstellung.5 8 Ihm geht es insbesondere um die "eigentümliche Selbstverständlichkeit des Herstellungswissens"59. Bei der Produktion ist das Dasein auf das anzufertigende Werk 54 Vgl. hierzu a. SuZ, 358. Es besteht allerdings die Gefahr, daß der Unterschied zwischen einem theoretischen Verhalten zum Seienden (z. B. die der Theoriebildung vorausgehenden Beobachtungen und Untersuchungen) und der Theorie als solcher verwischt wird. 55 Vgl. Gethmann (1989), 115 ff. Vgl. hierzu a. Prauss (1977), 60 ff. u. 91 ff. Gerold Prauss mißdeutet allerdings die Begriffe "Umgang" und "Umsicht", indem er sie mit "Handeln" und ,,Erkennen" identifiziert. Seine Interpretation fallt daher hinter die von Heidegger intendierte Überwindung des Theorie-Praxis-Gegensatzes zurück. Zur Kritik an Prauss vgl. Gethmann (1988), 171, Anm. 12 sowie 172, Anm. 15 u. 17. Die Rolle der Kategorie des Erfolgs kann jedoch nicht einfach mit der Orientierung an einem pragmatischen Wahrheitskriterium gleichgesetzt werden, wie dies bei Carl Friedrich Gethmann der Fall ist; vgl. Gethmann (1989), 155ff. Zur Kritik an Gethmann sowie den pragmatischen Interpretationen des Heideggerschen Wahrheitsbegriffs durch Richard Rorty und Michael Okrent vgl. Dahlstrom (1994), 296ff. 56 Der Begriff des Werks darf nicht in einer zu engen Bedeutung verstanden werden, denn das Besorgen umfaßt auch "defiziente Modi", wie das Unterlassen, Verzichten, Ausruhen etc. (vgl. SuZ, 57). In diesem Sinne ist auch das durch das Sitzen in einem Sessel ermöglichte Ausruhen als ein Werk aufzufassen. 57 Vgl. Aristoteles, Met., l050a2l. ss Vgl. Figal (1991 ), 79 ff. 59 Figal (1991), 80.
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konzentriert, das dabei Verwendung findende Zeug bleibt hingegen weitgehend unbeachtet. Es ist die Eigenart des Zuhandenen sich gleichsam ganz in den Gebrauch zurückzuziehen, je unauffalliger, desto geeigneter ist es für die Verwendung (vgl. SuZ, 69). Die Unauffälligkeit des Zeugs resultiert aus der für das Zuhandene konstitutiven Verweisungsstruktur: Es verweist von sich selbst weg auf etwas anderes, nämlich auf das Werk. Das Besorgen richtet sich demnach nicht auf das Zeug selbst, es ist nur das "Mittel zum Zweck". Das eigentlich Besorgte ist das Werk, seinetwegen besteht das jeweilige Zeugganze: "Das Werk trägt die Verweisungsganzheit, innerhalb derer das Zeug begegnet." (SuZ, 70.) Aber auch das Werk selbst ist letztlich wiederum nur ein Zeug. Auch es ist nur, was es ist, als das Wozu seiner Verwendbarkeit (vgl. SuZ, 70). In ihm liegen darüber hinaus noch weitere Verweisungen: Nicht nur läßt es als etwas Gemachtes, Hergestelltes (z. B. Schuhzeug) dasjenige mitbegegnen, woraus (Leder, Gummi etc.) und womit (Hammer) es gemacht ist, es verweist außerdem auf denjenigen, der es gemacht hat (Schuhmacher), sowie auf seinen Nutzer (Träger der Schuhe). Damit wird deutlich, daß für Heidegger das Werk eine Art Knotenpunkt darstellt, in dem die verschiedenen Verweisungen zusammenlaufen, diejenigen, die zurückverweisen auf Material und Hersteller, ebenso wie der vorausverweisende Bezug auf den (zukünftigen) Träger der Schuhe. Das Werk ist also weder nur der Anlaß für das Besorgen noch das Ziel. Weil es selbst nur im Gebrauch ist, was es ist, ist das Werk niemals ein Endzweck,60 vielmehr verweist es seinerseits auf das Existieren des Daseins. Das aber wiederum bedeutet, daß das Dasein in seinem Besorgen mittels des Zeugs sowie des Werks auf sich selbst verwiesen ist. Darin kommt die in der Seinsverfassung als Zu-sein gründende Reflexivität der Existenz zum Ausdruck: Im Umgang mit dem Zeug als der alltäglichen Seinsweise geht es dem Dasein um sein eigenes Sein. Im konkreten gebrauchenden Umgang ist der ihm zugrunde liegende Verweisungszusammenhang des Seienden immer schon verstanden (vgl. SuZ, 70). Soll nun aber die Welt selbst hierbei zum Vorschein kommen, so ist vorrangig zu klären, wie denn die Welt in dem alltäglichen Verständnis "da" ist. Heidegger erläutert das Sichzeigen der Welt in seiner "Theorie des gestörten Besorgens"61 (vgl. SuZ, 73 f.) 62• Es gibt Weisen des Besorgens, 60 Daher ist die Terminologie von "Mittel" und ,,Zweck" hier genaugenommen unangemessen. Heidegger will gerade zeigen, daß es im Grunde nur Mittel gibt, während der ,,Zweck" letztlich der Prozeß des Existierens selbst ist. Insofern liegt in dem Verweisen des Zeugs auch eine Verweisung auf den Tod als den ,,Zielpunkt" der Existenz. Die Abwertung des Werkbegriffs zeigt somit, daß der Heideggersche "Pragmatismus" nicht von einem einfachen Kausalitätsdenken her zu begreifen ist. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Charles Taylors Unterscheidung zwischen kausalen Beziehungen und beteiligtem ("engaged") Handeln; Taylor (1991), 94ff. 61 Vgl. Prauss (1977), 47. 3*
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die von sich aus der Weltmäßigkeit des Innerweltlichen in besonderer Weise Rechnung tragen. Denn gerade wenn sich die alltägliche Praxis weitgehend reibungslos vollzieht, machen sich Störungen des gewohnten Ablaufs umso bemerkbarer. Ein beschädigtes oder fehlendes Zeug geht seiner Zuhandenheit verlustig und wird dadurch in seiner Unzuhandenheit ausdrücklich. Jedoch wird das unzuhandene Zeug nicht schon als nur noch Vorhandenes entdeckt. Es fällt nicht aus dem Zeugzusammenhang heraus, denn gerade als Unzuhandenes muß dieses Seiende umsichtig besorgt werden, damit das Werk doch noch gelingen kann. Die Umsicht muß sich nun den "Anschlußstellen" des Unzuhandenen widmen, also demjenigen, wozu und wodurch es in dem zugrunde liegenden operativen Kontext zuhanden war. Damit wird die jeweilige Verweisung für die Umsicht explizit (vgl. SuZ, 74). Durch die Störung der Verweisung kommen diese selbst sowie der gesamte Zeugzusammenhang in die Sicht. 63 In einem solchen "Aufleuchten" der Verweisungsganzheit zeigt sich das Phänomen der Welt (vgl. SuZ, 75). Wenn sich aber die Welt innerhalb des umsichtigen Umgangs selbst zeigen kann, dann muß sie überhaupt für das Besorgen schon als das "Worin" des Besorgens im vorhinein erschlossen sein (vgl. SuZ, 76). Vorläufig läßt sich daher das alltägliche In-der-Welt-sein als das "unthematische, umsichtige Aufgehen in den für die Zuhandenheil des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen" (ebd.) beschreiben. c) Bewandtnis und Bewendenlassen
Wenn Zuhandenes innerweltlich begegnet und folglich Welt zusammen mit dem zuhandenen Seienden immer schon "da" ist, dann muß in der Seinsart der Zuhandenheit als solcher ein ontologischer Bezug zur Welt liegen. Die ontologische Struktur der Verweisung läßt sich auch dahingehend interpretieren, daß das Zuhandene den Charakter der Verwiesenheil (vgl. SuZ, 83f.) hat. Das alltäglich begegnende Seiende ist daraufhin entVgl. hierzu a. GA63, 100 u. GA20, 254f. Im weiteren Gedankengang von SuZ wird noch eine - fundamentalere - Weise aufgezeigt, in der die Welt bzw. das In-der-Welt-sein offenbar werden kann: In der Befindlichkeit der Angst fällt das Dasein gewissermaßen selbst aus der Welt heraus. Weil in dieser Stimmung die Vertrautheit der Welt zusammenbricht, erschließt das Dasein "allererst die Welt als Welt" (SuZ, 187); vgl. SuZ, 186ff. 63 Hierbei handelt es sich weiterhin um die Sicht des alltäglichen Besorgens, die ontologischen Strukturen bleiben als solche unthematisch. Allerdings bietet der Fall der durch Störung ausgelösten Unterbrechung des alltäglichen Besorgens sowie die anschließende Problembeseitigung einen Anknüpfungspunkt für die ontologische Interpretation. Methodisch wird die Analytik des Daseins von Heidegger als eine Radikalisierung von bereits im Alltag aktiven Tendenzen aufgefaßt; vgl. SuZ, 15 f. Die Interpretation versucht also, ein ontisches Phänomen im Hinblick auf seine ontologischen Grundlagen auszudeuten. 62
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deckt, daß es auf etwas verwiesen ist - anders ausgedrückt: "Es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden." (SuZ, 84.) Weil die Zuhandenheit durch diesen operativen Charakter konstituiert wird, kann das Sein des Zeugs terminologisch auch als "Bewandtnis" (ebd.) aufgefaßt werden. Ontologisch betrachtet erweist sich das Verweisungsganze des Zeugzusammenhangs als eine "Bewandtnisganzheit" (ebd.). Das Wobei der Bewandtnis entspricht somit dem Wozu der Zuhandenheit. Mit dem jeweiligen Wobei kann es aber wiederum eine eigene Bewandtnis haben. Heidegger erläutert den sich hieraus ergebenden Zusammenhang am Beispiel der Verwendung eines Hammers: Mit dem Hammer "hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter; dieser ,ist' um-willen des Unterkommens des Daseins" (ebd.). 64 Hieraus ist zu entnehmen, daß die zuhandenen Zeuge und die diese entdeckenden Tätigkeiten innerhalb eines Bewandtnisganzen hierarchisch geordnet sind.65 Es wird eine Stufenfolge erkennbar, in der sich der Umgang organisiert. Am Beginn einer solchen Bewandtniskette steht das wohlvertraute Zeug und an ihrem Ende das Dasein selbst. Die Bewandtnis eines Zuhandenen ist aus der jeweiligen Bewandtnisganzheit vorgezeichnet. Diese liegt dem einzelnen Zuhandenen voraus, da sie dem Seienden seine Funktion innerhalb des operativen Zusammenhangs zumißt. 66 Die Bewandtnisganzheit selbst aber geht auf ein Wozu zurück, mit dem es keine Bewandtnis mehr bei einem anderen Zuhandenen hat (vgl. SuZ, 84). Dieses letzte Wozu67 ist ein "Worum-willen" (ebd.): "Das ,Um-willen' betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht." (Ebd.) Das Dasein ist nicht 64 Das Beispiel scheint nicht sehr glücklich gewählt: Da die Bewandtnis der "Seinscharakter des Zuhandenen" (SuZ, 84) sein soll, ist es wenig einleuchtend, wenn der Begriff der Bewandtnis hier auch auf Tätigkeiten angewendet wird. Allerdings sind es gerade diese Tätigkeiten, durch die das Zuhandene entdeckt wird. Die jeweilige Tätigkeit und das in ihr entdeckte Seiende gehören zusammen, deswegen kann - verkürzend - auch von einer Bewandtnis von Tätigkeiten gesprochen werden. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die etwas anders akzentuierten Ausführungen zum Hammer-Beispiel bei Günter Figal; Figal (1991), 92. 65 Vgl. Figal (1991), 92. 66 Dabei macht es im Prinzip keinen Unterschied, ob es sich bei der Bewandtnisganzheit um eine aktuelle Bedürftigkeit des Daseins (Schutz vor Unwetter) handelt oder um einen sozusagen "institutionalisierten" Bewandtniszusammenhang wie dem einer Schuhmacherwerkstatt oder eines Bauernhofs. 67 Indem Heidegger das letzte Wozu zugleich als das primäre bezeichnet (vgl. SuZ, 84), deutet sich ein Perspektivenwechsel an. Damit kommt das eigentliche Ziel der Umweltanalyse zum Vorschein: Die Bestimmung des Zeugs dient in erster Linie dazu, den Zugang zum "Subjekt" (das Dasein als dasjenige, zu dessen Sein die Welt gehört) zu eröffnen; vgl. GA24, 236. Entsprechend wird von Heidegger in den anschließenden Paragraphen von SuZ das Sein des Daseins als In-Sein erläutert.
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selbst ein Seiendes innerhalb der Welt, sondern Welt, die das Begegnenkönnen des Seienden ermöglicht, gehört wesenhaft zu seiner Seinsverfassung. Die sich hier zeigende "Zentriertheit" des Seienden auf das Dasein ergibt sich aus der Seinsverfassung des Daseins, also eben der Tatsache, daß es diesem immer um sein eigenes Sein geht. Die Bewandtnis als das Sein des Zuhandenen steht also mit dem Sein des Daseins in einem unmittelbaren strukturellen Zusammenhang. Warum aber meint Heidegger, die Verweisungsstruktur zusätzlich durch den Begriff der Bewandtnis erläutern zu müssen? Auf den ersten Blick scheint der Terminus keine weiteren Einsichten in den Verweisungszusammenhang zu eröffnen. 68 Hauptsächlich zwei Gründe scheinen für die Einführung dieses Strukturbegriffs ausschlaggebend gewesen zu sein: Einerseits besitzt der Begriff der Bewandtnis im Gegensatz zu dem sehr formalen Begriff der Verweisung jene sprachliche Prägnanz und Plastizität, auf die Heidegger aus methodischen Gründen Wert legt. Zum anderen aber erlaubt es der Ausdruck "Bewandtnis", diesen systematisch mit einem noch fundamentaleren Strukturbegriff zu verschränken. Das Begegnenkönnen eines Seienden in der Seinsart der Bewandtnis, setzt nämlich ein vorgängiges "Bewendenlassen" (SuZ, 84) voraus. Mit dem Übergang von der Struktur der Bewandtnis zum ",apnonsche[n]' Bewendenlassen" (SuZ, 85) des Seienden in seiner Zuhandenheil verläßt Heidegger den Boden des alltäglichen Besorgens und hebt den Argumentationsgang auf eine transzendentale Ebene.69 Denn das ontologische Bewendenlassen bedeutet die vorgängige "Freigabe jedes Zuhandenen 68 Hierbei ist darauf hinzuweisen, daß die "Bewandtnis" und der gleichfalls zu klärende Terminus des "Bewendenlassens" textgeschichtlich die beiden letzten ExistenziaHen sind, die Heidegger im Hinblick auf die Bestimmung der Welt unterschieden hat. Während sich die Struktur des Bewendenlassens in keiner der SuZ vorausliegenden Vorlesungen findet, wird in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1925 der Ausdruck "Bewandtnis" (vgl. GA20, 357) (im Sinne von "Bedeutsamkeit") genannt, aber ohne Hinweis darauf, daß es sich dabei um einen Terminus oder gar eine ontologische Struktur handelt (von der "Grundstruktur der Weltlichkeil als Bewandtnisganzheit" spricht Heidegger lediglich an einer einzigen Stelle, nämlich in der Einleitung zur Umweltanalyse, also nicht an systematisch relevantem Ort; vgl. GA20, 251). In der Logik-Vorlesung des darauffolgenden Semesters verhält es sich ähnlich; vgl. GA21, 145 u. 150. 69 Die Einftihrung dieses Strukturmoments stellt freilich einen nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Schritt dar. Entsprechend wurde dieser Aspekt der Daseinsanalytik in der Literatur oftmals entweder gar nicht berücksichtigt - selbst in solchen Arbeiten, die sich ausdrücklich mit dem Heideggerschen "Pragmatismus" auseinandersetzen, meinten einige Autoren einer Interpretation der Struktur des Bewendenlassens entraten zu können; vgl. bspw. Prauss (1977) u. Gethmann (1988) - oder in einer ontischen Bedeutung aufgefaßt; vgl. bspw. Stahlhut (1986) und Thirien (1992).
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als Zuhandenes [... ,] des Seienden auf seine innerumweltliehe Zuhandenheil" (ebd.). Das apriorische Bewendenlassen betrifft nicht mehr die Struktur des Zuhandenen, sondern die Bedingung der Möglichkeit für das Begegnen von Zuhandenern (vgl. ebd.). Im Anschluß an das Bisherige ist davon auszugehen, daß das Zuhandenheil Ermöglichende nicht als ein Verhalten des Daseins begriffen werden kann, denn dieses setzt Zuhandenheil schon voraus. Das Ermöglichende muß aber in der Seinsverfassung des Daseins gründen, da die Zuhandenheil ja diejenige Seinsart darstellt, die dem Seienden auf Grund der Entdecktheil durch das Dasein zukommt. Deshalb muß das Bewendenlassen - wie die Erschlossenheil - dem jeweiligen Verhalten zu Seiendem vorausgehen. Heidegger zieht hieraus folgenden Schluß: "Das auf Bewandtnis hin freigebende Je-schon-haben-bewenden-lassen ist ein apriorisches Perfekt, das die Seinsart des Daseins selbst charakterisiert." (Ebd.) 70 Die Struktur des apriorischen Bewendenlassens deutet Heidegger zunächst ausgehend von der ontischen Bedeutung von "Bewendenlassen", die das Seinlassen eines Zeugs, in dem Zustand, in dem es sich gerade befindet, meint. Dieses ,,Seinlassen" wird ontologisch als ein vorgängiges Je-schon-haben-Bewenden-lassen begriffen. Inwiefern hierbei von einem "Seinlassen" gesprochen werden kann, ist so allerdings noch nicht erkennbar. Ein klareres Bild ergibt sich, wenn man - einem Vorschlag von Günter Figal folgend71 - das Gesagte in Beziehung setzt zu einigen späteren Bemerkungen Heideggers. Auch in dem Aufsatz "Vom Wesen der Wahrheit" aus dem Jahr 1930 spricht Heidegger von einem ,,Seinlassen", dort heißt es: "Sein-lassen ist das Sicheinlassen auf das Seiende. [...] Seinlassen - das Seiende nämlich als das Seiende, das es ist - bedeutet, sich einlassen auf das Offene und dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht, das jene gleichsam mit sich bringt." (WdW, 185f.)72 Einlassen auf das Seiende kann sich das Dasein aber nur, weil es selbst (als Erschlossenheit) seine Offenheit für das Seiende als Seiendes ist. Darin liegt, daß nicht allein die grundsätzliche Offenheit für das Seiende (also die Seinsverfassung der Erschlossenheit als solche) zu unterscheiden ist von dem Entdekken des jeweiligen Zuhandenen, sondern daß in der Offenheit des Daseins auch schon die Offenheit des Seienden als Seiendes begründet ist. In seiner Vorlesung "Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Ein70 Daß mit der Erschlossenheit schon das "apriorische Perfekt" des Bewendenlassens einhergeht, deutet sich bereits darin an, daß auch das Existenzial der Erschlossenheit, die Seinsweise des In-Seins, im Perfekt gegeben ist. Insofern Befindlichkeit und Verstehen die beiden Weisen der Erschlossenheit darstellen, sind auch sie nicht allein als Vollzugsformen der Existenz zu deuten, sondern das Dasein ist erschließend immer schon in die Offenheit der Erschlossenheit geworfen. 71 Vgl. Figal (1991), 86f. 72 Vgl. a. GA27, 102 ff.
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samkeit"73 von 1929/30 kann Heidegger daher konstatieren: "Nur wo überhaupt Seiendes als Seiendes offenbar ist, da besteht die Möglichkeit, dieses und jenes bestimmte Seiende als dieses und jenes bestimmt zu erfahren" (GA29/30, 397). 74 Zu unterscheiden sind demnach: 1. die Offenheit als die Seinsverfassung des Daseins, 2. das in dieser Offenheit freigegebene Seiende als solches und 3. das im Umgang zugängliche Zeug. Auch das Dasein selbst ist letztlich nur ein Seiendes unter Seiendem, wesensmäßig ist es allerdings dadurch ausgezeichnet, daß es für Seiendes immer schon aufgeschlossen ist. Auf Grund dieser Seinsverfassung kann es in dem apriorischen Bewendenlassen das Seiende als Seiendes seinlassen. Die Rede von einem "Seinlassen" bringt dabei gleichermaßen zum Ausdruck, daß die Offenheit des Daseins das Seiende sein läßt, es also nicht irgendwie verändert, und daß es das Seiende sein läßt, d. h. in einem (bestimmten) Sein zugänglich werden läßt. Diesen zweiten Aspekt macht Heidegger mit der Wendung "Seiendes als Seiendes" kenntlich. Das hier erscheinende "Als" darf nicht verwechselt werden mit dem "Als" im Sinne der Als-Struktur der Auslegung (vgl. SuZ, 149ff.).75 Während das "Als" der Als-Struktur darüber Auskunft gibt, als was das jeweilige Seiende im Umgang entdeckt ist, bezieht sich jenes "Als" auf die Zugänglichkeil des Seienden als solchem im Bewendenlassen.76
73 Zu dieser für ein angemessenes Verständnis von Heideggers Philosophie wesentlichen Vorlesung, die in der Forschung noch keine genügende Beachtung gefunden hat, vgl. Beelmann (1994). 74 Dem jeweiligen Umgang, in dem das Seiende als dieses und jenes Zeug Verwendung findet, geht somit die Offenbarkeil des Seienden als solchem voraus. Diese Offenbarkeil steht demnach nicht ihrerseits zur Verfügung. Weder kann das Dasein aus eigener Kraft willkürlich Seiendes entstehen lassen, noch kann es an dem begegnenden Seienden Zuhandenheilen oder Eigenschaften entdecken, die in diesem nicht schon fundiert sind. Sofern das Schema eines apriorischen Bewendenlassens eine Unverfügbarkeit impliziert, wird abermals deutlich, daß das Da-sein nicht als reiner Vollzug gedacht werden darf, sondern dieses letztendlich ein "Sichereignen" ist. Darin bekundet sich wiederum, daß der in der Stimmung erschlossenen Geworfenheil eine bedeutendere Stellung im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn von Sein zukommen muß, als dies im Rahmen der deutlich von einem Vorrang des Verslehens (der Ausrichtung auf die Zukunft) geprägten Konzeption von SuZ möglich ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß ein wesentliches Merkmal der "Kehre" die stärkere Betonung der Geworfenheil ist. Die Grundbegriffe-Vorlesung wurde im Wintersemester 1929/30 gehalten, die "Kehre", die man sich wohl eher als einen Prozeß denn als eine ad-hoc-Wendung vorzustellen hat (vgl. in diesem Zusammenhang a. BR), ist nach Ergebnissen der neueren Forschung bereits in dieser Zeit anzusetzen; vgl. Kisiel (1993), 457f., Rentsch (1989), 175. 75 Man könnte hier von einem "ontologischen Als" in Abgrenzung vom ,,hermeneutischen Als" der Auslegung sprechen.
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Weil die Zugänglichkeit des Seienden abhängt von der Offenheit des Daseins und diese schon den Charakter des Zu-seins besitzt, läßt es das Dasein immer schon zunächst bei der Seinsart der Zuhandenheit bewenden, so daß ihm im alltäglichen Besorgen primär Seiendes als Zuhandenes begegnet (vgl. SuZ, 85). Das ontologisch verstandene Bewendenlassen gibt also das Seiende in der Seinsart der Zuhandenheit frei. 71 Der Ausdruck "Freigabe" darf nicht als eine Art "Urhandlung" des Daseins interpretiert werden. 78 Vielmehr ist das Seiende allein dank der Tatsache, daß dem Dasein die spezifische Seinsverfassung des erschlossenen Zu-seins eignet, in dieser Seinsart freigegeben. Daraus läßt sich wiederum entnehmen, daß das Dasein als Geworfenes in den Kreis des Seienden geworfen ist.79 Die Seinsverfassung des Daseins als Zu-sein bedingt, daß das Seiende als Zuhandenes auf das Dasein verwiesen ist, aber umgekehrt das Dasein als In-der-Welt-sein "apriori" auf das begegnende Seiende (die "Welt") angewiesen ist (vgl. SuZ, 87). 80 Daher besteht zwischen dem Bewendenlassen 76 In der Grundbegriffe-Vorlesung unterscheidet Heidegger daher folgende "Charaktere des Weltphänomens: l. die Offenbarkeit von Seiendem als Seienden, 2. das ,als', 3. die Beziehung zu Seiendem als das Sein- und Nichtseinlassen, das Verhalten zu ... " (GA29/30, 398). Man könnte hier die Frage aufwerfen, ob eine solche apriorische Unterscheidung zwischen dem Seienden als Seiendem und dem bestimmt erfahrenen Seienden nicht als ein Rückfall in das Substanzmodell anzusehen ist. Der Grund für die Notwendigkeit dieser Unterscheidung liegt in der Weise, in der Heidegger das Verhältnis von Seiendem und Sein ansetzt, also der "ontologischen Differenz" (GA24, 321 ff.). Heidegger hebt in SuZ mehrfach hervor, daß Seiendes unabhängig von Erfahrung und Erfassung ist, während Sein dasjenige ist, das Seiendes bestimmt (vgl. z. B. SuZ, 6 u. 183). Nur wenn eine Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein besteht, kann Seiendes erfahren werden. Daß Seiendes als solches für das Dasein freigegeben ist, heißt dann nicht, daß es auch unabhängig von einem Sein zugänglich werden könnte. Vielmehr ist das Seiende so freigegeben, daß es als dieses oder jenes Seiende jeweils in einem Sein zugänglich werden kann. Die Differenz zum Substanzmodell besteht demnach primär in dem Verhältnis von Seiendem und Sein zueinander, das nicht mehr nach dem Schema von Ding und Eigenschaft gedacht wird. 77 Daher ist das innerweltlich Seiende grundsätzlich auf Möglichkeit hin freigegeben: "Das Zuhandene ist entdeckt in seiner Dienlichkeit, Verwendbarkeit, Abträglichkeit. Die Bewandtnisganzheit enthüllt sich als das kategoriale Ganze einer Möglichkeit des Zusammenhangs von Zuhandenem." (SuZ, 144.) 78 Wenn Heidegger in der Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" aus dem Jahr 1929 im Zusammenhang mit dem "Entwerfen von Sein" als der wesenhaften Transzendenz des Daseins doch von einer "Urhandlung" spricht, so ist dieser offensichtlich metaphorisch gemeinte Ausdruck nicht subjektivistisch aufzufassen; vgl. WdG, 158. In diesem - durch die Heideggersche Formulierungskunst nahegelegten -Mißverständnis gründet auch Jürgen Habermas' Kritik, Heidegger habe Transzendenz doch wieder auf eine Leistung des Subjekts gegründet; vgl. Habermas ( 1988), 179. 79 Vgl. hierzu a. WdW, 172.
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und der Bewandtnis ein struktureller Zusammenhang: "Aus dem Wobei des Bewendenlassens ist das Womit der Bewandtnis freigegeben." (SuZ, 85.) Es kann somit festgehalten werden, daß dem Dasein auf Grund seiner Seinsverfassung, der Weise in der es für das Seiende aufgeschlossen ist, nie zunächst ein "vorhandener , Weltstoff'" (ebd.) begegnet, sondern umweltlieh zuhandenes Zeug. Ausgehend von diesen Strukturelementen kann nun das Weltphänomen aufgeklärt werden. Das Entdecken eines Zuhandenen setzt die "Vorentdecktheit" (ebd.) einer Bewandtnisganzheit voraus. Das aber heißt, daß schon das Bewendenlassen das Seiende jeweils auf diese Ganzheit hin freigeben muß. Das Seiende ist also im Bewendenlassen nicht einfach nur freigegeben in der Seinsart der Zuhandenheit, sondern das Seiende ist - auf Grund der Seinsverfassung des Daseins - auf Bewandtnisganzheit hin freigegeben. Darin wiederum liegt, daß im Bewendenlassen das Woraufhin der Freigabe bereits "irgendwie erschlossen" (SuZ, 85) sein muß. Dasjenige, woraufhin das Seiende in der Seinsart der Zuhandenheil freigegeben ist, was also dieses in seiner jeweiligen Bewandtnis zugänglich werden läßt und damit die Voraussetzung für die Möglichkeit des Entdeckens ist, kann nicht selbst wieder als ein Zuhandenes entdeckt werden oder überhaupt ein Seiendes sein (vgl. ebd.). Es ist aber auf der anderen Seite auch kein Vollzug oder Verhalten, weil es zugleich die Voraussetzung für jedwedes Umgehen mit dem Zuhandenen darstellt. Vielmehr ist es als die Vorbedingung für die Entdecktheil des Zuhandenen wie für den Vollzug des Entdeckens die Tatsache des In-der-Welt-seins selbst. Und weil das Dasein in seinem Seinsverständnis das In-der-Welt-sein je schon verstanden hat, hat es auch die Welt als solche stets schon erschlossen (vgl. SuZ, 86). 81 Die Welt ist dann als das Begegnenkönnen des Seienden in der Weise der Bewandtnis aufzufassen und verstanden ist die Welt im verstehenden Sich80 Die Angewiesenheit auf die "Welt" ist folglich ein für das Sein des Daseins konstitutives Existenzial. 81 Man könnte hier fragen, inwiefern die Rede von einem aktiven "Verstehen" und "Erschließen" der Welt berechtigt ist. Heidegger unterscheidet nicht deutlich zwischen dem Verstehen im Sinne des Verhaltens zu Seiendem und dem Verstehen der existenzialen Bedingungen dieses Verhaltens, d. h. dem Verstehen des In-derWelt-seins. Das Verstehen (als Verhalten und als Aufgeschlossenheit der Welt) muß in der Seinsweise des Daseins als ein einheitliches Geschehen gedacht werden: Das Verstehen des Verweisungsgefüges der Welt, das die Seinsweise des Daseins mitkonstituiert, ist nicht zu trennen von dem verstehenden Verhalten zum Seienden. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch von einer für das Dasein konstitutiven "Weltvertrautheit" (SuZ, 86), denn nur weil das Dasein mit der Welt vertraut ist, kann ihm überhaupt ein Zuhandenes begegnen. Damit schließt sich der Kreis von Heideggers Analyse der Umwelt, denn der "Weltlichkeitsfaktor" (GA20, 272) Vertrautheit hat sich ja bereits als das Fundament der Alltäglichkeit erwiesen, deren Analyse auf die für die Welt konstitutiven Strukturen geführt hat.
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halten und -bewegen in den für sie konstitutiven Verweisungsbezügen (vgl. ebd.). 82 Da das Verstehen sowohl die Vorerschlossenheit der Bezugsstruktur wie das Sichverweisen in den Bezügen meint, hält es sich die Verweisungsbezüge vor als dasjenige, worin sich sein Verweisen bewegt. Das vorgängige Verstehen der Bezüge, in denen das Dasein sich verstehend verweist, meint darum nicht mehr, als daß dem Dasein, sofern es ist, apriori die genannten Bezüge aufgeschlossen sind - auch wenn vielleicht weder diese selbst noch die Tatsache ihrer Aufgeschlossenheit jemals für das Dasein ausdrücklich werden. Jedes Entdecken eines Seienden setzt somit die Vorerschlossenheit der Welt voraus. Das Begegnen eines bestimmten Seienden bedeutet dann nicht, daß das Dasein eine Beziehung zu einem Objekt aufnimmt, sondern daß es innerhalb der bereits als Welt bestehenden Bezugsstruktur zu einer Modifikation kommt. Zuerst ist folglich die "Beziehung", d. h. die Welt, und aus ihr heraus wird das Begegnen von einzelnem Seienden möglich. 83 Die von Heidegger explizierte Bezugsstruktur läßt sich wiederum am Beispiel der Verwendung eines Hammers veranschaulichen: Um sich vor dem Unwetter zu schützen, muß das Dasein das Dach befestigen. Dazu bedarf es eines geeigneten Werkzeugs. Das vorgängige Bewendenlassen gibt ein Seiendes (Hammer) frei, mit dem es eine entsprechende Bewandtnis hat, so daß die notwendige Verrichtung (Hämmern) durchgeführt werden kann. Weil das Dasein in seinem Verstehen die Verweisungsstruktur schon vorgängig erschlossen hat, d. h. sie als In-der-Welt-sein von sich aus mitbringt, verweist es sich apriori aus einem Worumwillen an das Womit einer Bewandtnis, was nichts anderes heißt, als daß es sich Seiendes als Zuhandenes begegnen läßt (vgl. SuZ, 86). Daher kommen das Worin des Sichverweisens (Verweisungszusammenhang) und das Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem zur Deckung- als das Phänomen der Welt (vgl. ebd.). 84 d) Bedeutsamkeil
Den Bezugscharakter der Bezüge des Verweisens bezeichnet Heidegger als ein Be-deuten (vgl. SuZ, 87): "In der Vertrautheit mit diesen Bezügen ,bedeutet' das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und 82 In der Grundbegriffe-Vorlesung bestimmt Heidegger daher das Phänomen der Welt kurzerhand als die Zugänglichkeil des Seienden; vgl. GA29/30, 412. 83 Man könnte das Verhältnis von Welt und innerweltlichem Seienden auch folgendermaßen beschreiben: Nur weil immer schon eine Welt besteht, können auch einzelne Gegenstände entdeckt werden. 84 Indem das Verstehen temporal als das ,,Sich-vorweg-sein" (vgl. SuZ, 192f.) gedeutet wird, spricht Heidegger auch von einem "Vorwerfen" der Welt; vgl. GA24, 239.
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Seinkönnen zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins. Das Worumwillen bedeutet ein Um-zu, dieses ein Dazu, dieses ein Wobei des Bewendenlassens, dieses ein Womit der Bewandtnis." (Ebd.)85 Das verstehende In-der-Welt-sein als das Aufgehen im alltäglichen Besorgen entdeckt das innerweltlich Seiende in einem Be-deuten. Das verstandene Seiende begegnet so jeweils in einer Bedeutung (vgl. GA20, 286)86 . An dieser Stelle geht es Heidegger nicht um die Frage, wie das Be-deuten als solches vor sich geht, ihm kommt es primär auf die Tatsache an, daß die einzelnen Bezüge in einem inneren Zusammenhang stehen: "Diese Bezüge sind unter sich selbst als ursprüngliche Ganzheit verklammert, sie sind, was sie sind, als dieses Be-deuten, darin Dasein ihm selbst vorgängig sein In-der-Welt-sein zu verstehen gibt. Das Bezugsganze dieses Bedeutens nennen wir die Bedeutsamkeit. 81 Sie ist das, was die Struktur der Welt, dessen, worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht." (Ebd.) 88 Die Bedeutsamkeit erweist sich damit als die gesuchte ontologische Struktur der Weltlichkeit der Welt. Sie ist die Vermittlungsebene "zwischen"89 dem Dasein und dem ihm begegnenden nichtdaseinsmäßig Seienden. Weil das Dasein die Bedeutsarnkeitsstruktur je schon erschlossen hat, kann ihm Zuhandenes begegnen. Es ist so "in seiner Vertrautheit mit der Bedeutsarnkeit die ontische Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der Seinsart der Bewandtnis (Zuhandenheit) in einer Welt begegnet und sich so in seinem An-sich bekunden kann" (SuZ, 87)90. 91 Der Bezugszusammenhang aus Um-zu, Dazu, Wobei und ss Vgl. a. GA2l, l44ff. Vgl. a. GA2l, 150. In SuZ vermeidet Heidegger den Ausdruck "Bedeutung" weitgehend (wenn er ihn hier verwendet, so meist in Anführungszeichen; vgl. bspw. SuZ, 87 u. 150). Der Grund hierfür ist wohl darin zu sehen, daß für Heidegger Bedeutungszusammenhänge gegenüber einer einzelnen Bedeutung primär sind; vgl. SuZ, 161. 87 Den Begriff der Bedeutsamkeit hat Heidegger vermutlich von Wilhelm Dilthey übernommen; vgl. Dilthey, Ges. Sehr., VII. Bd., bes. 238ff. Allerdings war Heidegger bereits im Sommersemester 1925 nicht mehr zufrieden mit diesem Ausdruck, da er im alltäglichen Sprachgebrauch eine Wertung anzuzeigen scheint; vgl. GA20, 274f. Darüber hinaus dürfte aber auch der Wunsch nach Abgrenzung gegenüber Dilthey eine Rolle gespielt haben. 88 Vgl. a. GA20, 275ff. sowie GA63, 93ff. 89 Wobei Heidegger durch die Ansatzweise des Daseins als In-der-Welt-sein gerade die am Subjekt-Objekt-Modell orientierte Vorstellung eines solchen "zwischen" überwinden will; vgl. SuZ, 132. 90 Im Orig. kursiv. 91 Ebenso ist das Dasein dann die "ontische Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit einer Bewandtnisganzheit" (SuZ, 87). Cristina Lafont meint in dieser Textpassage (in Verbindung mit dem vorangehenden Absatz) eine Unterscheidung zwischen einer "erschlossene[n] Bedeutsamkeit" und der "Bedeutsamkeit selbst" (vgl. SuZ, 87) erkennen zu können. Diese Unter86
B. Das hermeneutische Als in seinem Verhältnis zur Prädikation
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Womit ist aber nicht nur die Voraussetzung dafür, daß Zuhandenes begegnen kann. Weil die Welt, sofern Dasein ist, immer schon "da" ist, kann Seiendes überhaupt nur auf der Grundlage dieses Verweisungsgefüges zugänglich werden. Die Welt stellt somit einen apriorischen und existenzialen Rahmen dar, die "Begegnisstruktur" (GA20, 274), innerhalb der Seiendes für das Dasein zugänglich werden kann.
B. Das hermeneutische Als in seinem Verhältnis zur Prädikation Bevor näher auf den Zusammenhang zwischen Heideggers Weltbegriff und seiner Auffassung der Sprache eingegangen werden kann, müssen zunächst die beiden Paragraphen von SuZ besprochen werden, in denen Heidegger die Auslegung (§ 32) und als einen von ihr "abkünftige[n] Modus" (SuZ, 153) die Aussage (§ 33) behandelt. Die Positionierung dieser Paragraphen zwischen der Darstellung der Erschlossenheitsweisen (§§ 2931) und der existenzialen Struktur der Rede (§ 34), die das "existenzialontologische Fundament der Sprache" (SuZ, 161) bildet, deutet darauf hin, daß die in ihnen behandelte Thematik gleichermaßen mit den beiden Weisen der Erschlossenheit wie mit der die Sprache fundierenden Rede in Zusammenhang steht. Ausgehend von der Analyse des alltäglichen Besorgens konnte das Phänomen der Welt, das sich formal als ein "Relationssystem" (SuZ, 87) begreifen läßt, freigelegt werden. Während es zuvor darum ging, diese Idee eines natürlichen Weltbegriffs nachzuzeichnen, soll nun das sich als Verweisen in den Bezügen vollziehende be-deutende92 Verhalten zum Seienden untersucht werden. Das Seiende begegnet im Umgang, womit sich wiederum andeutet, daß das Seiende jeweils in einer Bedeutung begegnet bzw. scheidung diene dazu, den Widerspruch zu erklären, der sich daraus ergebe, daß sich das Dasein auf Grund seines In-der-Welt-seins je schon auf eine begegnende Welt angewiesen habe (vgl. ebd.), während doch die Bedeutsamkeit als das Welt überhaupt erst Konstituierende selbst in der existenzialen Verfassung des Daseins fundiert sein solle; vgl. Lafont (1994), 6lff. Diese Interpretation basiert jedoch auf einem Lesefehler, denn angewiesen hat sich das Dasein nicht auf die Welt, sondern auf die "Welt" (,Welt' im Sinne der ersten der von Heidegger unterschiedenen Bedeutungen; vgl. SuZ, 64), also auf eine Anzahl von innerweltlichem Seienden, wie es mehr oder weniger zufällig innerhalb der Welt begegnet. Bei den von Lafont unterschiedenen zwei Arten von Bedeutsamkeil handelt es sich lediglich einerseits um die Struktur als solche und andererseits um das Verstehen bzw. das Sich-verweisen in dieser Struktur. Eine Parallele hierzu bildet die "Unterscheidung" zwischen "Bewandtnis selbst" und "entdeckter Bewandtnis"; vgl. SuZ, 85. 92 Der Bindestrich soll hervorheben, daß die Bedeutung des Seienden das Ergebnis eines aktiven Verhaltens ist.
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entdeckt wird. Während im Hinblick auf den Weltbegriff das als Bedeutsamkeil charakterisierte Bezugsganze im Mittelpunkt des Interesses stand, ist nun zu fragen, wie das Be-deuten und in eins damit die von ihm konstituierte Bedeutung zu verstehen sind. 1. Die Auslegung Die bisherige Interpretation hat gezeigt, daß Heidegger den Umgang mit dem innerweltlich Seienden auf die Erschlossenheitsweise des Verstehens zurückführt, d. h. auf das Sichentwerfen auf Möglichkeiten zu sein. Das Verstehen bedarf im Zutunhaben mit Zuhandenern keiner zusätzlichen intellektuellen Tätigkeit. Die "Selbstorganisation" ist vielmehr ein wesentliches Charakteristikum der Heideggerschen Auffassung des Verstehens: Wie bereits beschrieben, besitzt das Verstehen eine den Vollzug leitende Sicht. Diese Sicht kann sich im Hinblick auf das zu besorgende Seiende zur Umsicht oder auch zur Rücksicht auf andere Menschen (die Mitdaseienden; vgl. SuZ, 118 ff.) modifizieren (vgl. SuZ, 146). Mit dieser Sichtigkeit besitzt das Verstehen die Möglichkeit, sich auszubilden. Heidegger bezeichnet die Ausbildung des Verslehens als Auslegung (SuZ, 148). In der Auslegung kann sich das Dasein in einem gesonderten Vollzug das zuvor bereits Verstandene ausdrücklich zu eigen machen und weiter ausarbeiten. Sie ist also ein im Verstehen fundierter Modus und meint lediglich einen auf dieses aufbauenden Schritt der weiteren intentionalen Aneignung des Verstandenen.93 Verstehen und Auslegung machen gemeinsam die Verständlichkeit des In-der-Welt-seins aus. 94 Sonach gründet die Auslegung des innerweltlichen Seienden in der Sichtigkeit des verstehenden In-der-Weltseins: "Die Umsicht entdeckt, das bedeutet, die schon verstandene Welt wird ausgelegt. Das Zuhandene kommt ausdrücklich in die verstehende Sicht." (Ebd.) Der Sinn der Auslegung besteht darin, das bereits Verstandene explizit zugänglich zu machen, es so hervorzuheben, daß es als das, was es ist (als was es im Verstehen entdeckt ist), in den Blick kommen kann. Was es heißt, wenn Zuhandenes "ausdrücklich" bzw. "gehoben" wird, kann ausgehend von der Seinsstruktur des Zuhandenen erläutert werden. Das jeweilige Zuhandene wird durch sein spezifisches Um-zu konstituiert. Es verweist auf ein Werk, zu dessen Herstellung es dienlich ist. Je weniger sich das Dasein 93 Die in den Paragraphen 29-34 dargestellten Erschlossenheits- und Aneignungsweisen stehen in einem Abfolgeverhältnis: Das im Befinden ursprünglich und ganzheitlich aufgeschlossene In-der-Welt-sein wird im Verstehen seiner Möglichkeit nach erschlossen, dann in der Auslegung als der verstehenden Ausarbeitung eigens angeeignet, und in der sprachlichen Artikulation kann es schließlich auch ausgesprochen werden. 94 Vgl. v. Herrmann (1985), IOSff.
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in seinem Hantieren mit dem Zuhandenen bei diesem aufhalten muß, d. h. je unauffälliger oder unausdrücklicher es ist, desto reibungloser läuft der Umgang mit ihm. Erst durch eine Störung oder eine andere Unterbrechung des Ablaufs kommt das Zuhandene als solches in den Blick: Es wird ausgelegt.95 Vollzieht sich der Umgang problemlos, so verweist das Zuhandene auf das herzustellende, also in der Zukunft liegende, Werk und nicht unmittelbar auf das Dasein. In einer durch eine Unterbrechung ausgelösten Auslegung entsteht hingegen plötzlich eine direkte Verweisung des Zuhandenen auf das Dasein. Dadurch wird die zugrunde liegende Verweisung auf das Werk zwar noch nicht aufgehoben, doch bekundet das Zuhandene jetzt dem Dasein seine Gegenwart und wendet sich so auch, weil sich das Dasein nicht mehr allein auf das zu erstellende Werk konzentrieren kann, an die Gegenwart des Daseins (vgl. SuZ, 326)96. Auslegung impliziert, indem es das Dasein aus seinem Zukunftsbezug reißt und in der Gegenwart beansprucht, ein reflexives Moment. In der Auslegung modifiziert sich der eigentümliche Charakter des Zuhandenen: War es vordem durch eine für die Verweisungsstruktur des Zeugs typische Unausdrücklichkeit gekennzeichnet, so wird es nun in seiner Bewandtnis eigens in die verstehende Sicht gehoben. Hierdurch wandelt sich die Weise des Umgangs mit diesem Zuhandenen, denn das Dasein hält sich nun bei diesem Zeug auf, es gegenwärtigt das zuhandene Seiende. Darin besteht die temporale Dimension der Auslegung: Sie bricht die Bezogenheit auf das zukünftige Werk auf und verschiebt die Richtung des Vollzugs auf die Gegenwart. Sie ist der gegenwartsbezogene Modus des Verstehens. Durch das Sich-aufhalten bei dem schon verstandenen Seienden entsteht Ausdrücklichkeit. Das umsichtig entdeckte Zeug wird jedoch dabei nicht aus dem spezifischen Bewandtniszusammenhang herausgelöst, in dem es zunächst entdeckt ist, sondern in seinem konstitutiven Um-zu lediglich "auseinandergelegt" (SuZ, 149). Der operative Kontext wird gleichsam aufgelockert, so daß das einzelne Zuhandene hervortreten kann: "Die Auslegung appräsentiert das Wozu eines Dinges, und damit hebt sie die Verweisung des ,Um-zu' heraus. Sie bringt zur Hebung ,als was' das begegnende Weltding zu nehmen, d. h. zu verstehen ist.'m (GA20, 359 f.) Heideggers Begriff der Auslegung meint also weder eine höherstufige und sozusagen "von außen" hinzukommende theoretische Durchdringung 95 Die Auslegung ist also ein Modus des Besorgens, in dem das Zuhandene im Hinblick auf sein Um-zu ausdrücklich besorgt wird. Weisen eines solchen Besorgens sind bspw. Vorbereiten, Reparieren, Zurechtlegen oder Ergänzen; vgl. SuZ, 148f. 96 Vgl. a. GA21, 192f. 97 "Ding" bzw. "Weltding" steht hierbei natürlich für das Zuhandene und nicht für einen vorhandenen Gegenstand.
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oder Bestimmung des im praktischen Umgang Entdeckten noch eine sich auf vorhandene Gegenstände richtende Wahrnehmung im Sinne eines reinen Erlassens von Sinnesdaten: "Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend." (SuZ, 149)98 Ausgehend von der Sichtigkeit des Verstehens kann nicht mehr eindeutig, wie noch in der Husserlschen Phänomenologie, zwischen schlichten Wahrnehmungsakten und höherstufigen sachverhaltsbildenden Akten unterschieden werden. 99 Vielmehr zieht Heidegger den Wahrnehmungsakt in den Vollzug des Verstehens ein. 100 Die Auslegung ist nicht mit dem einfachen Umgang identisch. 101 Als ein besonderer Modus des Verstehens setzt sie aber das vorgängige Zutunhaben mit dem jeweiligen Zuhandenen voraus. 102 Das Auslegen stellt so einen eigenständigen Faktor innerhalb des Umgangs dar, der seinerseits dem in Arbeit befindlichen Werk zugute kommen, aber auch zum Ausgangspunkt für neue, vielleicht völlig anders gelagerte Entwürfe werden kann. 103 Das Verstehen kann sich auch ganz in die Tätigkeit des Auslegens verlegen, so 98 Insofern das Dasein in der Alltäglichkeit so selbstverständlich mit dem Zuhandenen umgeht, daß dieses nicht eigens und ausdrücklich wahrgenommen wird, kann von einer "bewußten" Wahrnehmung erst in der Auslegung gesprochen werden. Dies wird z. B. daran deutlich, daß es manchmal gerade bei sehr vertrauten Gebrauchsgegenständen schwerfallt, ihr Aussehen zu beschreiben. Ein anderes Beispiel ist, daß vertrautes Zeug, wenn man es einmal genauer ansieht, mitunter überaus fremdartig wirken kann. Diese Beispiele machen deutlich, daß man das Zeug im Umgang zwar wahrnimmt, es dabei aber zugleich auch, weil sich das Besorgen auf das Werk richtet, "übersieht". Erst in einer auslegenden Beschäftigung mit ihm wird es ausdrücklich erfaßt und damit überhaupt erst eigentlich wahrgenommen. 99 Vgl. in diesem Zusammenhang Husserls Lehre von der "kategorialen Anschauung"; Husserl, LU 1112, §§ 40-58. Vgl. hierzu Heideggers Interpretation dieser Lehre in GA20, 63ff. Vgl. a. Dahlstrom (1994), 71 ff., Bemet (1989), 168ff. sowie Seebohm (1990). Man könnte also auch sagen, daß alles "schlichte" Wahrnehmen bereits (in einem im folgenden zu differenzierenden Sinn) "prädizierend" ist. Die Annahme von diskreten Akten, in denen das Bewußtsein intentional auf Gegenstände gerichtet ist, erweist sich damit als in der Möglichkeit der Auslegung fundiert, denn erst die Auslegung hebt ja einzelne "Gegenstände" hervor und macht diese "bewußt". 100 Vgl. a. GA20, 75. Vgl. hierzu Kap. 3, Abschn. A.2.b). 101 Es macht eben einen Unterschied, ob man mit dem Hammer einfach nur hämmert oder ihn z. B. für eine spätere Verwendung zurechtlegt. 102 Friedrich-Wilhelm von Herrmann unterscheidet daher zwischen einem "entwerfenden" und einem "auslegenden" Verstehen; vgl. v. Herrmann (1985), 105ff. 103 So kann z. B. ein als schadhaft in die Umsicht gekommenes Werkzeug repariert werden, um dann mit ihm das Werk zu vollenden. Es ist allerdings ebenso möglich, daß das Dasein von dem in Arbeit befindlichen Werk abläßt und nun etwas ganz anderes mit dem Werkzeug tut, es womöglich gar nicht mehr als ein Zuhandenes nimmt, sondern es als einen vorhandenen Gegenstand auffaßt. Die Auslegung modifiziert sich in diesem Fall zu einer Dingbestimmung.
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daß ein ausdrückliches Verstehen zum Zweck eines solchen Umgangs wird. 104 Als Hervorhebung des Um-zu muß die Auslegung nicht notwendigerweise ausgesprochen werden. 105 Sie ist kein genuin sprachliches Geschehen, doch birgt sie die Möglichkeit in sich, das umsichtig Verstandene jederzeit in Worte zu fassen. Zunächst und vorrangig besteht die Hebung des Um-zu allerdings nicht in einem Aussprechen, sondern in einer praktischen Verhaltensweise. Das Dasein verhält sich bereits auslegend, wenn z. B. das im Umgang befindliche Werkzeug als schadhaft oder ungeeignet in die Umsicht kommt. Eine solche Störung läßt sich oftmals schon durch den Griff zu einem zweckdienlicheren Zeug beheben, ohne ein Wort dabei zu verlieren (vgl. SuZ, 157). Die Auslegung kann aber auch als solche zu Wort kommen. In dem Satz "Der Hammer ist zu schwer" etwa wird die umsichtig explizit gewordene Störung des Umgangs an- bzw. ausgesprochen (vgl. ebd.). Ebenso kann die spezifische Verweisung des Um-zu als solche zum Ausdruck gebracht werden: "Auf die umsichtige Frage, was dieses bestimmte Zuhandene sei, lautet die umsichtig auslegende Antwort: es ist zum ..." (Ebd.) Die sprachliche Form einer solchen funktionsbestimmenden Auslegung lautet: "Dies ist zum ... (Handlungsprädikator)". Demgegenüber besitzen Aussagen über Vorhandenes folgende Form: "Dies ist ein ... (Eigenschaftsprädikator)". 106 Umsichtig ausgesprochene Funktionsbestimmungen unterscheiden sich demnach in strukturell bedeutsamer Weise von den prädikativen Dingbestimmungen. Das Um-zu wird nicht ausgesprochen im Interesse einer Analyse der Verweisungsstruktur, die - als dem Besorgen zugrunde liegend - auch hier gerade nicht in die Umsicht kommt, sondern im Hinblick auf den konkreten 104 In dieser Entwurfsmöglichkeit gründet nicht nur die Möglichkeit der Ausbildung von Wissenschaften (die allerdings eine Modifikation der Auslegung im Sinne der Dingbestimmung voraussetzt, so daß das Seiende in seiner puren Vorhandenheit hervortreten kann), sondern auch diejenige einer Auslegung des Daseins selbst. Auslegung ist daher nicht nur die ausdrückliche Aneignung des innerweltlichen Seienden, sie charakterisiert darüber hinaus den "methodische[n] Sinn der phänomenologischen Deskription" (SuZ, 37): ,,Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet." (Ebd.) Zu Heideggers Auffassung der Hermeneutk als einer in der Existenz des Daseins angelegten Methode der Philosophie vgl. u. a. KNS, AhS, AKJ, EPR, GA58, GA59 sowie PuT. 1os Vgl. hierzu a. GA20, 360. 106 Vgl. Gethmann (1988), 149. Daß eine Auslegung auch sprachlich ausgedrückt werden kann, läßt bereits erkennen, daß sich Heideggers Unterscheidung zwischen der Auslegung und der aus ihr abgeleiteten Aussage (vgl. unten Abschn. 8.3) nicht auf die Aussageform als solche bezieht, sondern darauf, daß in der "apophantischen" Aussage von dem operativen Kontext abgesehen wird, in dem das besprochene Zeug zunächst zugänglich ist. 4 Hübner
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Umgang. Dabei ist es keineswegs gleichgültig, ob die Auslegung ausgesprochen wird oder nicht. Die in Worte gefaßte Auslegung besitzt - da sie ein Verhalten innerhalb des Umgangs darstellt - eine eigene Relevanz innerhalb des Bewandtniszusammenhangs, d. h. sie fließt als ein funktionales Moment in diesen ein. So kann bspw. die umsichtig ausgesprochene Feststellung, daß der Hammer zu schwer sei, auch ohne einen ausdrücklichen Befehl dazu führen, daß ein Mitarbeiter geeigneteres Werkzeug herbeischafft. Es ist auffällig, daß Heidegger erst in seiner Darstellung der Auslegung auf die Möglichkeit eingeht, das Verstandene sprachlich auszudrücken. Wenn die Auslegung, als die Hebung des Um-zu, eine Unterbrechung des Umgangs voraussetzt, dann heißt dies, daß irgendein Grund vorliegen muß, weshalb die Auslegung sich plötzlich .,einschaltet", das Verstehen sich in diesen besonderen Modus verlegt. Solange das Verstehen reibungslos .,abläuft", bleibt das Zuhandene unausdrücklich. 107 Dann aber gibt es auch keinen Anlaß für das Dasein, .,darüber ein Wort zu verlieren". 108 Daß die Auslegung (einschließlich ihrer verschiedenen Vollzugsmodi, zu denen auch die sprachliche Äußerung gehört) irgendwie motiviert sein oder durch irgendetwas ausgelöst werden muß, wird durch die Struktur der Sorge bedingt. Wenn es dem Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, indem es sich auf seine Möglichkeiten entwirft, dann müssen jeweils irgendwelche Beweggründe oder Ursachen vorliegen, die das Dasein zu einer Unterbrechung seines Tuns veranlassen. Eine solche Unterbrechung bewirkt sodann auch eine Verhaltensänderung, die es erlaubt, das Zuhandene ausdrücklich zu fassen. Andernfalls wäre es gar nicht einzusehen, wieso das Dasein, wenn es z. B. damit beschäftigt ist, das Dach zu reparieren, plötzlich beginnt, sich näher mit dem Hammer zu beschäftigen oder 107 Allerdings ist Auslegung in irgendeiner Weise bei jedem Umgang im Spiel, weil Zeug immer gesucht, ergriffen, geöffnet usw. werden muß und daher der Leitung durch die Umsicht bedarf. Doch tritt das Ausgelegte im Normalfall augenblicklich wieder in das "unabgehobene Verständnis" (SuZ, 150) zurück, ohne daß sich das Verstehen weiter bei dem umsichtig entdeckten Zuhandenen aufhält. Das Sichaufhalten-bei stellt (gegenüber dem Sein-bei des verstehenden Umgangs) mithin ein Charakteristikum der Auslegung dar. Während das Dasein im einfachen Umgang mit dem Zuhandenen dieses lediglich benutzt, weil und solange es für das in Arbeit befindliche Werk erforderlich ist, hält es sich in der Auslegung bei diesem Zuhandenen auf, eben weil das Zuhandene (aus irgendeinem Grund) das Dasein aufhält, nämlich abhält von dem, womit es gerade beschäftigt ist. 108 Zwar ist es jederzeit möglich, den problemlos verlaufenden Umgang beschreibend zu kommentieren, z. B. indem man - scheinbar gedankenlos - die Namen der Dinge ausspricht, die man in den Urlaubskoffer legt. Doch handelt es sich hierbei zumeist um Handlungen, die, auch wenn man sich dessen gar nicht bewußt ist, sehr konzentriert vollzogen werden - man ist "ganz bei der Sache". Im obigen Beispiel etwa vergewissert man sich durch das Aussprechen der Namen (das zugleich ein Ansprechen der Dinge ist), daß nichts vergessen wurde.
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gar etwas über ihn auszusagen. 109 Im Rahmen der Auslegung, d. h. mit der Ausdrücklichkeit des Verstandenen, kann dieses auch als solches zur Sprache gebracht werden, die Ausdrücklichkeit ist sonach die Voraussetzung für die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks. Es besteht hier folglich ein Abfolgeverhältnis: Eine Unterbrechung des Umgangs ermöglicht eine Auslegung des Seienden. Das auf diese Weise unmittelbar zugänglich gewordene Seiende kann daraufhin auch zum Gegenstand von sprachlichen Äußerungen werden. Weil jedoch die Auslegung dem entwerfenden Verstehen von sich aus nichts hinzufügt, muß die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks bereits im Verstehen angelegt sein. Die Abfolge ergibt sich aus dem ontologischen Verhältnis, in dem Verstehen und Auslegung zueinander stehen. Daß die Auslegung lediglich eine Hebung des zuvor bereits in seinem Um-zu Verstandenen darstellt, heißt nichts anderes, als daß das ausdrücklich Verstandene - und damit gleichermaßen das sprachlich Explizierbare - nicht voraussetzungslos ist, sondern in einem vorgängigen Verstehen gründet. Das Verstehen besitzt gegenüber der Auslegung eine Vor-Struktur (SuZ, 151) 110• Heidegger unterscheidet zwischen einem fundamentalen und vorgängigen Verstehen im Sinne des Sichentwerfens auf Möglichkeiten und einer nachfolgenden ausdrücklichen Aneignung des zuvor schon Verstandenen. Die wesentliche Differenz besteht hierbei darin, daß das innerweltlich Seiende im entwerfenden Verstehen zwar "da", gelichtet und somit verstanden ist, jedoch noch nicht so verstanden ist, daß es als das, was es ist, auch schon offenkundig geworden ist. Das schlicht Verstandene ist zwar entdeckt, bleibt aber so lange unausdrücklich, bis es ausgelegt wird. In dem Zusammenspiel von Verstehen und Auslegung, von Unausdrücklichkeit und Ausdrücklichkeit entfaltet Heideggers hermeneutische Analytik des Daseins ihren vollen Sinn. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Verstehen und Auslegung kann differenziert werden zwischen einem verstehenden, in der Seinsverfassung des Daseins fundierten In-der-Welt-sein, das einen zwar erschlossenen, aber unthematischen Hintergrund 111 bildet, und einem spezifischen intentionalen 109 Welche Motive es letztlich sind, die die jeweilige Auslegung auslösen, läßt sich mitunter nicht rekonstruieren. Denn der unausdrückliche Charakter des entwerfenden Verstehens bedingt, daß auch ein Verstehen von Motiven bzw. von Gründen und Ursachen schon die Ausdrücklichkeit einer Auslegung verlangt. Auch wenn man sich nichts vorgenommen hat und spontan und scheinbar grundlos irgendein Seiendes im Zimmer ansieht oder beginnt, über etwas nachzudenken, so ist doch der Grund dafür der, daß einem etwas auf- oder eingefallen ist. Das aber heißt: Etwas hat unsere Aufmerksamkeit geweckt. Auch ein zielloses Umherblicken im Zimmer ist als eine solche motivierte (wenn auch derivative) Form des Umgangs zu interpretieren. 110 Vgl. hierzu a. GA20, 413ff. u. GA17, 110. 111 Zu dieser Verwendung des Begriffs "Hintergrund" vgl. Taylor (1991), 106ff.
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Verhalten zum innerweltlich Seienden, in dem dieses entweder in seiner Zuhandenheit ausgelegt oder als Vorhandenes thematisch wird. 112 Das Zuhandene wird im Verstehen jeweils aus einer Bewandtnisganzheit zugänglich, deshalb liegt diese auch der Auslegung schon zugrunde. Als die "Vorhabe" (SuZ, 150) bildet der jeweilige Bewandtniszusammenhang das zumeist selbst nicht ausdrucklieh verstandene Fundament der alltäglichen umsichtigen Auslegung. In der Auslegung wird das in die Vorhabe genommene Zuhandene im Hinblick auf einen bestimmten Aspekt seiner ausgelegt. Ein solcher Aspekt muß zuvor bereits im entwerfenden Verstehen fixiert sein. Die "Vorsicht" (ebd.) "schneidet" das in der Vorhabe verstandene Seiende im Hinblick auf eine bestimmte Auslegbarkeit an. 113 Auch das Zu-Wort-kommen der Auslegung ist dann im Verstehen vorgezeichnet: Die Begrifflichkeit, in der sich die Auslegung ausspricht, in der das schon in Vorhabe und Vorsicht umsichtig Ausgelegte "begreiflich" (ebd.) wird, ist bereits im Verstehen bereitgelegt. Auslegung im Sinne der sprachlichen Bezugnahme auf das Seiende griindet daher in einem "Vorgriff" (ebd.). 114 2. Die Als-Struktur 115 Was aber geschieht, wenn die Auslegung auseinanderlegt, und welche Struktur hat das Auseinandergelegte? Heidegger antwortet hierauf: "Das 112 Durch diese Unterscheidung erklärt sich auch, warum der sog. "hermeneutische Zirkel" kein circulus vitiosus ist; vgl. SuZ, l52f. u. 314f. 113 So wird bspw. der in seinem Um-zu verstandene Hammer ausgelegt hinsichtlich seines Zu-schwer-seins-um . . . (nicht: im Hinblick auf seine Eigenschaft, ein bestimmtes Gewicht zu haben). Daß Heidegger hier nur von der alltäglichen Auslegung spricht, bedeutet keineswegs, daß die Auslegung auch ohne eine zugrunde liegende Vorhabe einsetzen könnte. Seiendes - auch das Vorhandene - wird grundsätzlich zunächst aus der Vorhabe einer Bewandtnisganzheit heraus entdeckt. Allerdings kommt es bei dem Entdecken des Vorhandenen zu einem "Umschlag in der Vorhabe" (SuZ, 158), so daß das Seiende nicht mehr im Hinblick auf seine Bewandtnis verstanden wird. Auch die Vorsicht "zielt auf ein Vorhandenesam Zuhandenen" (ebd.). 114 Es ist naheliegend, die Vor-Struktur mit den die Erschlossenheil konstituierenden Strukturen Befindlichkeit, Verstehen und Rede und den ihnen entsprechenden Ekstasen der Zeitlichkeit in Beziehung zu setzen. Die Vorhabe läßt sich dann begreifen als das, was vor jeder Auslegung schon in der befindlichen Faktizität des Daseins aufgeschlossen sein muß (Schon-sein), während sich in der Vorsicht das Verstehen abspringend von der Vorhabe auf eine bestimmte Auslegbarkeil des Seienden hin entwirft (Sich-vorweg-sein). Der Vorgriff schließlich bezieht sich auf die in der Rede fundierten Begriffe, in denen das Ausgelegte in einem erfassenden Sein-bei zu Wort kommen kann. m In GA21, 127ff. (vgl. bes. 143-161) und ebenso in GA29/30, 421 ff. entwikkelt Heidegger seine Auffassung der ,,Als-Struktur'' im Rahmen einer AristotelesInterpretation. Da jedoch in der weniger detaillierten Darstellung von SuZ der Be-
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umsichtig auf sein Um-zu Auseinandergelegte als solches, das ausdrücklich Verstandene, hat die Struktur des Etwas als Etwas." (SuZ, 149.) In der Auslegung kommt dasZuhandenein seinem "Als-was" (vgl. GA21, 146) 116 in die Umsicht: Sie hebt hervor, als was das Seiende jeweils im verstehenden Umgang mit ihm verstanden - be-deutet - ist. Indem in der Auslegung die unmittelbare Verweisung des Zuhandenen auf das Werk unterbrochen und sozusagen auf das Dasein "umgelenkt" wird, wandelt sich das "Um-zu" des Umgangs zum "Als-was" der Auslegung. Erst jetzt ist das Zuhandene als das, was es ist, aufzeigbar. Wenn aber das Um-zu in seinem Als-was in der Auslegung lediglich herausgestellt wird, dann muß das Verstandene grundsätzlich in einer Weise zugänglich sein, "daß an ihm sein ,als was' ausdrücklich abgehoben werden kann" (SuZ, 149). Das ausdrücklich Verstandene besitzt die "AlsStruktur" (ebd.). Das bedeutet: Das "Als" konstituiert überhaupt erst die Auslegung, es wird also nicht im Vollzug ihrer ein zuvor als-frei verstandenes Seiendes mit einer Deutung belegt (vgl. GA2l, 145), vielmehr bezeichnet das Etwas-als-Etwas die "apriorische existenziale Verfassung des Verstehens" (ebd.). Das Als braucht dabei nicht eigens ausgesprochen zu werden, doch birgt jedes Verstehen diese Struktur, so daß ein mögliches "als-freies Erfassen" (SuZ, 149) eines Vorhandenen als aus dieser ursprünglichen Als-Struktur abgeleitet zu denken ist. Insofern das in der Auslegung gehobene Als-was des Zuhandenen einen Vorrang vor der Erfassung von Vorhandenem besitzt, wird mit dem Lehrstück vom hermeneutischen Als (vgl. SuZ, 158) auch die Kritik am Subjekt-Objekt-Modell vertieft. Konnte Heidegger zunächst lediglich aufzeigen, daß der besorgende Umgang gegenüber dem Erkennen primär ist, weil nur die Struktur des Umgangs auf den im Erkennen bereits vorausgesetzten Begriff der Welt führt, so ermöglicht die Analyse des ausdrücklichen Verstehens eine Interpretation der Konstitution des innerweltlich Seienden. "Konstitution" ist hierbei nicht primär im Sinne eines "Herstellens" oder "Festsetzens" aufzufassen, denn die Konstitution des Seienden erfolgt im besorgenden Umgang. Was dieser zu leisten vermag, ist ein Entdecken des Seienden innerhalb der Welt, also in den jeweiligen Bewandtniszusammenhängen. Konstituiert wird das innerweltlich Seiende, indem es aus einer Bewandtnisganzheit in seiner spezifischen Zuhandenheit verstanden wird. zugauf Aristoteles keine zentrale Rolle spielt (vgl. SuZ, 159f.) und diese Thematik mittlerweile in mehreren Untersuchungen eingehend behandelt worden ist, werden im folgenden Heideggers Aufnahme und Umdeutung der aristotelischen Position nicht ausführlich diskutiert. Vgl. hierzu insbes. die Darstellung und Interpretation von Greisch (1993), 67ff. Vgl. a. Figal (1991), 54ff., Brogan (1994) sowie Volpi (1989) u. Volpi (1994). 116 Vgl. a. GA20, 359 u. SuZ, 149.
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"Konstitution" ist so als ,,Zugänglichwerden" bzw. "Zugänglichmachen" des Seienden in seinem jeweiligen Als zu interpretieren (vgl. GA20, 97). Müßte aber gerade im Hinblick auf diese "Gegenstands"-Konstitution die Struktur des Als nicht im Sinne der Prädikation verstanden werden? Denn in einem einfachen Aussagesatz, wie: "Diese Tafel ist schwarz" (vgl. GA21, 144), charakterisiert doch das Prädikat die Tafel als schwarze. Die angebliche "hermeneutische Als-Struktur" könnte dann als aus der Struktur des prädikativen Satzes abgeleitet kritisiert werden. Heidegger geht demgegenüber davon aus, daß das hermeneutische Als auch der "Prädikation qua Prädikation" bereits vorausliegt und insofern den prädikativen Satz überhaupt erst ermöglicht (vgl. GA21, 145). Sollte dies jedoch lediglich besagen, daß die semantische bzw. grammatikalische Struktur von Aussagen sich aus der Struktur des Umgangs ableiten läßt, so könnte hier wiederum eingewendet werden, daß auch die Struktur des Umgangs nur im Rückgang auf die Prädikationsstruktur einsichtig zu machen ist. 117 Das Argument, mit dem Heidegger diese Interpretation der Als-Struktur zurückweist, präzisiert den eigentlichen Sinn der Rede von einem hermeneutischen Als: "Die Prädikation 118 hat die Als-Struktur, aber in abgeleiteter Weise, und hat sie nur, weil sie Prädikation in einem Erfahren ist." (Ebd.) Damit soll weder behauptet werden, die Dinge seien im Umgang grundsätzlich auch unabhängig von dem erfahrbar, wofür die jeweiligen Prädikate stehen, noch, man müsse zuerst den Umgang mit Zeug beherrschen, um dann aus ihm irgendwie zu erlernen, wie man Aussagen darüber macht. Heidegger will vielmehr verdeutlichen, daß die prädikative Aussage eine "abgeleitete Vollzugsform der Auslegung" (SuZ, 154) darstellt, also eine spezifiSche und fundierte Möglichkeit des Verhaltens zu dem umsichtig entdeckten Seienden. 119 In Abgrenzung vom hermeneutischen Als spricht Heidegger daher von einem "apophantischen ,Als"' (SuZ, 158) der Aussage. 120 Vgl. Prauss (1977), 27ff. Vgl. a. Figal (1991), 59. Allerdings verwendet Heidegger hier ,,Prädikation", wte 1m folgenden Abschnitt dargestellt wird, in einer eingeschränkten Bedeutung, nämlich im Sinne theoretischer Bestimmung. 119 Heidegger begreift das Phänomen der Aussage nicht vom Aussagesatz her, sondern als die konkret vollzogene sprachliche Äußerung, also als die Tätigkeit des Aussagens. Die Aussage ist daher grundsätzlich als eine Weise des Verhaltens zu Seiendem zu interpretieren. Vgl. GA21, 169: "[Der Logos; A. H.] ist eine Seinsweise des Daseins zur Welt und zu ihm (dem Dasein) selbst. Kurz: ein Sein zu Seiendem." 120 Die Bezeichnung der prädikativen Aussage als eine abgeleitete und fundierte Vollzugsform macht deutlich, daß Heidegger die apophantische Aussage dem Erkennen zuordnet, das ja ebenfalls als ein fundierter Modus des In-Seins aufgefaßt wird; vgl. SuZ, 59. 117
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Aus dem zuvor über die Auslegung Gesagten ist ersichtlich, daß jede Aussage in einen vertrauten und im vorhinein verstandenen Bewandtniskontext eingebunden ist, in dem sie eine bestimmte Funktion erfüllt und aus dem heraus sie überhaupt möglich wird. Daraus folgt: Erst nachdem das Seiende im Umgang entdeckt und in der Auslegung in seinem Als-was ausdrücklich zugänglich geworden ist, können Aussagen darüber gemacht werden. 121 Als ein Verhalten ist zwar auch die Aussage ein Umgang mit dem Seienden, doch setzt dieses Verhalten bereits den primären konstituierenden und "weltbildenden" Vollzug des praktischen Umgangs voraus; von sich aus kann die Aussage diesen primären Bezug zum Seienden nicht herstellen (vgl. GA29/30, 493 ff.). Die Aussage ist ein fundierter Modus der Auslegung und gründet daher im hermeneutischen Als. Die Fundierung in einem vorgängigen Verstehen kann somit auch als Antwort auf das Problem begriffen werden, daß ein Sprecher, wenn er eine Aussage über etwas macht, zuvor schon wissen muß, worüber er reden will. Darüber hinaus deutet sich eine Lösung für das Problem der sprachlichen Bezugnahme an, d. h. für die Frage, wie sich Laute, akkustische Symbole, auf etwas in der Wirklichkeit beziehen können. Man kann mit Worten auf etwas Bezug nehmen, weil dieses etwas im vorhinein durch den umsichtigen Umgang verstanden ist. 122 Das "Als" erweist sich damit als der Grundstein von Heideggers "prälinguistischer" Semantik. a) Die vorprädikative Konstitution des Seienden Wie ist der Vorrang des hermeneutischen Als zu verstehen? In der LogikVorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 erläutert Heidegger das Als ausgehend vom Aussagesatz. Im ausdrücklichen Anschluß an Platon und Aristoteles versteht Heidegger den A.Oyo; als A.Oyo; nvo; (vgl. GA21, 142f.) 123 : Jede Rede hat ihr "Worüber", "ist Rede über und von etwas" (ebd.). 124 Die Rede im Sinne der prädikativen Aussage macht dasjenige, wovon die Aussage handelt, also das Seiende, in dem, was es ist, lediglich "zugänglicher" (vgl. GA21, 143). Eine solche "prädikative Hebung und Bestimmung" (ebd.) setzt jedoch voraus, daß das Worüber der Aussage selbst bereits zugänglich geworden ist (vgl. ebd.). Mit dieser Feststellung bleibt Heidegger hinsichtlich der Bestimmung des Seienden durchaus im Rahmen der aristotelischen Ansatzweise. Jedoch nimmt er - im Gegensatz 121 In der Grundbegriffe-Vorlesung bezeichnet Heidegger diese ursprüngliche Zugänglichkeit von Seiendem als "vorprädikative Offenbarkeit" und als "vorlogische Wahrheit" ; GA29/30, 494. 122 Vgl. hierzu Kap. 3. 123 Vgl. a. SuZ, 159. 124 Vgl. hierzu bes. GA29/30, 441 ff. Vgl. a. SuZ, 161 f.
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zu Anstoteies - nicht an, das Worüber sei vor der prädikativen Hebung in der Aussage lediglich in einer allgemeinen und unbestimmten 125 Weise zugänglich. Das Seiende ist vielmehr bereits vor 126 einer möglichen Prädikation ursprünglich aus dem "Wozu seiner Dienlichkeit" (GA21, 144) entdeckt. Es ist umsichtig als das verstanden, wofür es gebraucht wird, ohne zuvor prädikativ bestimmt worden zu sein. Heidegger kehrt also das Konstitutionsverhältnis um: Das primär "Bestimmende" ist der Gebrauch und nicht mehr die Prädikation. Vor der ausgesprochenen Auslegung oder einer bestimmenden Aussage ist das Seiende, über das etwas (aus-)gesagt werden soll, bereits umsichtig verstanden. 127 Damit wird deutlich, daß die prädikative Aussageform nach Heideggers Auffassung nicht die ursprüngliche ontologische Struktur des Seienden widerspiegeln kann. Die ontologische Struktur ergibt sich vielmehr aus der "Seinsart" des in Frage stehenden Seienden und diese ist abhängig vom jeweiligen Verhalten des Daseins zu ihm. Deshalb kann die ontologische Struktur nicht einfach an der Struktur des Aussagesatzes abgelesen werden, sondern ist - ebenso wie die Struktur der Aussage selbst - ausgehend von der Struktur des Verhaltens zu interpretieren. Die Unterscheidung zwischen dem hermeneutischen Als und dem apophantischen Als der Prädikation verweist auf das verstehende Verhalten. Zwischen dem Verhalten als Gebrauchen und dem Verhalten als Bestimmen bzw. Prädizieren muß grundsätzlich unterschieden werden. Heidegger zieht hiermit die Konsequenz aus seiner Umdeutung von Husserls theoretischem Intentionalitätsbegriff als die Sorge um das eigene Sein bzw. im engeren Sinne als Verstehen. Das Seiende wird in seinem Sein dadurch entdeckt, daß es in einem Verhalten des Daseins zugänglich wird. Was das Seiende ist, ist daher abhängig von dem Verhalten zu ihm, d. h. von dem jeweiligen Vgl. Aristoteles, Met., 1087al7. Dieses "Vor" ist nicht einfach zeitlich aufzufassen, sondern im Sinne der VorStruktur des Verstehens bzw. des Sich-vorweg-seins des Daseins. Ein solches "Vor" findet Heidegger auch schon bei Aristoteles in der Formulierung ,;to 'ti. ~v dvm"; Aristoteles, Met., l025b29. Heidegger übersetzt diese Bestimmung in einer Anmerkung des "Hüttenexemplars" von SuZ folgendermaßen: ",das was schon war sein', ,das jeweils schon voraus Wesende'" (SuZ, 441). Die Auslegung hat dann den Sinn, das Seiende in seinem Sein als das hervorzuheben, was es schon war (als was es bereits verstanden ist). 127 Aristoteles faßt demgegenüber das Wissen, das man vor einer näheren Bestimmung (OQL0!-16;) im Aussagesatz von dem Seienden hat, lediglich als ein "Wissen der Möglichkeit nach" ("buvallEL bn