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German Pages [441] Year 2014
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Matthias Flatscher Logos und Lethe
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Den Ausgangspunkt der Überlegungen zum Sprachverständnis im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein bildet die gemeinsame Stoßrichtung gegen die Insuffizienz der tradierten Philosophie, Sprache lediglich von einem anthropozentrischen und instrumentellen Gesichtspunkt aus zu betrachten. In einer umfassenden Weite genommen, gestaltet sich die Frage nach Sprache nicht als eine unter vielen, sondern in ihr zeigt sich das gesamte Welt- und Selbstverständnis des Menschseins überhaupt – ein Menschsein, das sich nicht mehr als über die Sprache souverän verfügend versteht, sondern sich als ein solches erfährt, das immer schon antwortend in das Geflecht der Sprache eingelassen ist, die es mit anderen teilt. Das vermeintlich Eigenste des Menschen besitzt er nun gerade nicht; vielmehr ist die Sprache ihm so gegeben, indem sie sich entzieht und ihm so seine Seinsweise gewährt. Dieser konstituierende Entzug im Eigenen beinhaltet Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis: Sprache erweist sich als Gabe, die nie restlos in den menschlichen Verfügungsbereich überzuführen ist. Vielmehr zeigt sich in ihr ein uneinholbarer Abgrund in der Proprietät des Menschseins, das immer schon durch die sprachliche Unverfügbarkeit eines (vor)ursprünglichen Außer-sich-seins geprägt ist und auf dieses immer schon responsiv bezogen ist. Wie sich aus der Besinnung auf Sprache ablesen lässt, besagt Menschsein gerade ein vorgängiges Hinausgehaltensein und beinhaltet einen verhältnishaften Bezug zu einer die eigene Identität konstituierenden Alterität.
Der Autor: Seit 2000 unterrichtet Matthias Flatscher am Institut für Philosophie der Universität Wien. Derzeit arbeitet er als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Freiburger Husserl-Archiv.
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Matthias Flatscher
Logos und Lethe Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 45
Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48463-0 (Print)
ISBN 978-3-495-86021-2 (E-Book)
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Jedem das Wort. Jedem das Wort, das ihm sang P. Celan
Im Andenken an Friedl Wilk
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I. Teil Heideggers Zugänge zur Sprache – ein werkgeschichtlicher Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
Heideggers Abgrenzung von der traditionellen Sprachauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
a)
Die Frage nach der Sprache als Auseinandersetzung mit der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das metaphysische Bild der Sprache – Heideggers Rückgang auf Aristoteles . . . . . . . . . . .
52
Wittgensteins Zugänge zur Sprache – ein werkgeschichtlicher Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
b)
40
Wittgensteins Abgrenzung von der traditionellen Sprachbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) b) c) d) e)
89 Das metaphysische Bild der Sprache – Wittgensteins Rückgang auf Augustinus . . . . . . . . . . 89 Die Destruktion der intentionalistischen Bedeutungstheorie 93 Das Ungenügen der ostensiven Definition . . . . . . . . . 100 Unzulänglichkeiten der Analyse in der Suche nach einer Essenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die Sackgasse der Privatsprache . . . . . . . . . . . . . . 108
Erste Synopsis
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Inhalt
II. Teil Wittgensteins Annäherung an Sprache – 140 oder sich im Offenen bewegen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) b) c)
Die irreduzible Vielfalt der Sprachspiele als Eigensinn des Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gespieltwerden von Sprachhandlungen in Lebensformen und Weltbildern . . . . . . . . . . . . . . Regelfolgen als Übereinstimmung in einer Sprachgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141 161 175
Exkurs Derrida: Gebrauch als Wiederholung oder das Erbe im Kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Das Wort als Antwort. Gespräch und Geviert als responsives Geschehen bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . 215 a) b) c) d) e) f) g)
Sprache als Gespräch? Oder Heideggers Verständnis von Responsivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Weg zur Sprache – das Gespräch . . . . . . . . . . . »Wir sind – ein Sprachgeschehnis« . . . . . . . . . . . . Der Gabecharakter des Wortes . . . . . . . . . . . . . . Antwortendes Hörens als Ent-sprechen . . . . . . . . . Das Schweigen als Antwort auf die Stille und das Lauten der Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ding und Welt im Geviert . . . . . . . . . . . . . . . .
Zweite Synopsis
. . . . .
217 233 248 259 281
. .
290 296
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
III. Teil Wie (nicht) sagen? Heideggers Sagen des Ungesagten: Bemerkungen zum Feldweg-Gespräch Anchibasie . . . . . . 336 a) b) c) d)
8
Exposition: Der Stil der Verhaltenheit . . . . . . . . Durchführung: Anchibasie . . . . . . . . . . . . . . Reprise: Die Wende der Nacht . . . . . . . . . . . . Coda: Das Gelingen des Feldweg-Gesprächs als dessen Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Wie (nicht) schreiben? Das Offene in Wittgensteins Texten . 389 a) b) c)
Die Textsorte der »Bemerkungen« und Wittgensteins Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zum Schreiben im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . »Stilistische« Eigenheiten der Philosophischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . Primärliteratur Heidegger . Primärliteratur Wittgenstein Sekundärliteratur . . . . .
Literaturverzeichnis a) b) c)
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Vorwort
Der Titel Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein zeigt programmatisch das Vorhaben der vorliegenden Arbeit an: Mit Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein werden zwei Denker, die den sprachphilosophischen Diskurs seit Jahrzehnten mitbestimmen, in dieser Untersuchung ausführlich zu Wort kommen. Obwohl ihre Namen lange Zeit für eine »philosophische Kommunikationsverweigerung« (Tietz 2003, 345) und für unterschiedliche Schulen standen, lassen sich in ihren Denkansätzen eine Reihe von Berührungspunkten ausmachen. 1 Darüber hinaus wird hier die These vertreten, dass in diesen Denkansätzen Sprache in einer anderen Weise als in der Tradition bedacht wird und deren Tragweite sich erst in Abgrenzung von dem vorherrschenden Diskurs der Sprachphilosophie nach dem so genannten linguistic turn eruieren lässt. Dieser Suche nach möglichen Schnittstellen und Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiedlichen Akzentuierungen und gravierenden Divergenzen in ihren späten Texten ab etwa 1930 – nach der so genannten Kehre Heideggers und Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge – soll in der vorliegenden Untersuchung in phänomenologischer Hinsicht nachgegangen werden. Gerade mit dieser Fokussierung auf das Spätwerk beider Denker beabsichtigt diese Arbeit, neue Lektüremöglichkeiten auszuloten. Ein Großteil der bisher zu dieser Thematik Eigenartigerweise haben beide Denker, obwohl sie Zeitgenossen waren – beide sind 1889 geboren –, kaum voneinander Notiz genommen. So findet sich außer einer Gesprächsbemerkung Wittgensteins gegenüber Vertretern des Wiener Kreises (vgl. WWK 68), die von einem Wohlwollen gegenüber der Erörterung des Phänomens »Angst« in Sein und Zeit geprägt ist, in den mittlerweile vollständig zugänglichen Schriften kein weiterer Hinweis auf eine eingehendere Beschäftigung mit Heidegger. Ebenso sind die Bezugnamen vonseiten Heideggers auf Wittgenstein äußerst spärlich (vgl. GA 15, 33 und 236) und zeugen nicht von einer intensiveren Auseinandersetzung.
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Vorwort
publizierten komparatistischen Studien konzentriert sich vornehmlich auf das Frühwerk beider Denker oder zieht Vergleiche zwischen dem Frühwerk Heideggers und dem Spätwerk Wittgensteins. 2 Die oftmals als sperrig angesehenen Texte des späten Heidegger werden in diesem Zusammenhang fast gänzlich vernachlässigt. Im Zuge des Voranschreitens der Heidegger-Gesamtausgabe lassen sich nun wichtige Zwischenschritte – insbesondere anhand der Schriften aus den 1930er und 1940er Jahren – zu seinem Spätwerk leichter rekonstruieren. Sie werden in dieser Arbeit daher gezielt in die Diskussion miteingebunden. Darüber hinaus ist seit einiger Zeit auch der Nachlass Wittgensteins aufgearbeitet und nun in umfassender Weise zugänglich. Durch die veränderte Publikationslage ist eine Neubearbeitung des gewählten Themenkreises und ein genaueres Aufzeigen der strukturellen Affinitäten der beiden Denker möglich. Ziel der Arbeit ist es, die beiden – teilweise noch heute – als inkompatibel angesehenen Diskurse füreinander zu öffnen, d. h. sowohl Parallelen aufzuzeigen als auch die spezifischen Herangehensweisen aus der jeweils anderen Perspektive einer fruchtbaren Kritik zu unterziehen. Bekanntlich widmet sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts vornehmlich der Sprache. Nachdem Fragen zu dieser Thematik in den vorangegangenen Epochen des abendländischen Denkens nie als Grundthema in den Mittelpunkt philosophischer Reflexionen gerückt worden sind, bildet dieser Phänomenkomplex seit dem so genannten linguistic turn das zentrale Anliegen beinahe sämtlicher Strömungen und Schulen. Eine intensive Auseinandersetzung mit Sprache lässt sich bei der ideal- oder normalsprachlich ausgerichteten Analytischen Philosophie und ihren Weiterentwicklungen genauso verorten wie in der Dialogphilosophie, der Semiotik, dem Strukturalismus, den diversen Ausprägungen des so genannten Poststrukturalismus oder der Dekonstruktion sowie in der Hermeneutik und der Phänomenologie. Dem allgemeinen Tenor zufolge löst das Paradigma der Sprache damit bewusstseins- und erkenntnistheoretische Überlegungen ab, die das metaphysische Denken der Neuzeit maßgeblich bestimmt haben. Genauso ausgemacht scheint es in der gängigen Geschichtsschreibung jedoch zu sein, dass in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in der PhilosoRentsch listet für den Zeitraum von 1963–2001 immerhin über neunzig Titel auf und gibt einen konzisen Forschungsüberblick über die wichtigsten Publikationen zwischen 1982 und 2002 (Rentsch 2003, 17–74).
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Vorwort
phie, aber auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften wieder andere Leitthemen in den Vordergrund drängen, die zugleich die Sprachphilosophie als prima philosophia verabschieden. Eine Reihe von weiteren Wenden wurden eingeläutet, um der Sprache ihren privilegierten Platz streitig zu machen; so spricht man mitunter von einem cognitive turn (Fuller et al.), einem practice turn (v. Savigny), einem cultural turn (Jameson), einem pragmatic turn (Sandbothe) oder einem iconic turn (Boehm) respektive einem pictorial turn (Mitchell). Dass diese schwindelerregende Inblicknahme weiterer Drehungen und möglicher Wendungen einer gewissen Kurzsichtigkeit unterliegt, hängt wohl in erster Linie damit zusammen, dass der linguistic turn für sich selbst den Anspruch einer »Ersten Philosophie« reklamiert, mit der sämtliche philosophische Probleme der Tradition einer Lösung überführt werden sollten. 3 Das Selbstverständnis dieser Sprachphilosophie besteht darin, Sprache nicht mehr als einen Gegenstand der Philosophie ins Visier zu nehmen, sondern sich als Reflexion auf die in der Sprache bereitgestellten Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu verstehen. Sie ist davon überzeugt, dass ausgehend von sprachtheoretischen Überlegungen zum Sinn von Sätzen erst Fragen nach der Reichweite und Begründbarkeit von Erkenntnis gestellt werden können. Sprache rückt in dieser Betrachtungsweise jedoch abermals vornehmlich als ein epistemologisches Problem in den Mittelpunkt der Diskussion, sodass von einem Paradigmenwechsel im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden kann. 4 Die Aufgabe der Philosophie liegt dem frühen Wittgenstein zufolge in der »Sprachkritik« (TLP 4.0031) und der »logische[n] Klärung der Gedanken« (TLP 4.112). Im Vorwort des Tractatus beansprucht er zugleich, alle Probleme der Philosophie beseitigt zu haben: »Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.« (TLP Vw) Zurecht weist daher Waldenfels auf diese Überbeanspruchung der Sprachphilosophie hin: »Für Sprachphänomenologen gab und gibt es jedenfalls gute Gründe, dem linguistic turn mit Vorsicht zu begegnen. Man tut der Sprache Gewalt an, wenn man alles von ihr erwartet, ähnlich wie man einst alles von den Leistungen des Bewußtseins erwartete.« (Waldenfels 2010, 158) 4 Prägnant bringt Apel diese sprachphilosophischen Überlegungen vor dem Hintergrund einer geschichtlich verankerten Kontinuität des erkenntnistheoretischen Paradigmas auf den Punkt: »Die Pointe dieser Wendung von der Erkenntniskritik qua Bewußtseinsanalyse zur Erkenntniskritik qua Sprachanalyse scheint darin zu liegen, daß das Problem der Wahrheitsgeltung selbst nicht mehr als solches der Evidenz oder Gewißheit (certidudo) für ein einsames Bewußtsein im Sinne Descartes’, auch nicht mehr als das der objektiven (und insofern intersubjektiven) Geltung für ein ›Bewußtsein überhaupt‹ 3
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Obwohl man der Sprache mit Beginn des 20. Jahrhunderts höchste Aufmerksamkeit zu schenken begann und ihr zutraute, sämtliche philosophische Probleme der Tradition zu lösen, war diese dezidiert erkenntnistheoretische Akzentuierung nicht neu. Denn schon seit der Antike setzen sich Erörterungen aus diesem Blickwinkel mit Sprache auseinander, auch wenn sie niemals emphatisch als Ermöglichungsbedingung der Erkenntnis berücksichtigt, sondern eher als erkenntnisstörendes Faktum in die philosophische Diskussion miteinbezogen wurde, wobei ihre philosophische Dignität immer wieder radikalen Zweifeln ausgesetzt war. 5 Zugleich lässt sich eine andere Tendenz, ja eine gesamte Traditionslinie ausmachen, die – weit weniger den philosophischen Diskurs prägend, jedoch ebenfalls in der Antike angelegt – der »Kraft« und »Wirksamkeit« der Sprache nachgeht. 6 Hierin drängen Themen wie die »Wesensbestimmung« des Menschen ebenso in den Vordergrund wie Fragen nach dem gemeinschafts- und institutionenstiftenden Potential sowie nach dem welteröffnenden und seinsvergebenden Charakter der Sprache. Die gravierende Differenz zu einer epistemologischen Sichtweise besteht nun darin, dass mit und in der Sprache Verhältnisse erörtert werden, die ohne sie überhaupt nicht in den Fokus philosophischer Aufmerksamkeit geraten könnten. In dieser Sprachbetrachtung bricht nicht nur der Zusammenhang von subjektkonstitutiven, gemeinschaftsbildenden und weltgewährenden Überlegungen auf, sondern es müssen auch ethische und politische Implikationen thematisiert werden. Eine solche Inblicknahme von Sprache im Sinne Kants, sondern primär als das einer intersubjektiven Konsensbildung aufgrund sprachlicher (argumentativer) Verständigung angesehen wird.« (Apel 1976d, 312) 5 Der platonische Dialog Kratylos, der die erste Abhandlung über Sprache darstellt, kommt zu einem problematischen und wirkungsgeschichtlich folgenreichen Urteil: »Es ist also doch möglich, wie es scheint, Kratylos, die Dinge kennen zu lernen ohne Hülfe der Worte […], daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie [die Dinge] selbst man sie [die Dinge] erforschen und kennen lernen muß, als durch die Worte.« (Krat. 439a–439b) Im Zuge einer Auslegung dieses Dialogs kommt Gadamer zum Urteil, dass dieser für die »Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens« (Gadamer 1990, 422) verantwortlich sei. 6 Neben Passagen im Œuvre von Aristoteles, der beispielsweise zu Beginn der Politik die Frage nach dem Menschen als zoon politikon (dem gemeinschaftsfähigen Lebewesen) in engste Verbindung mit der Frage nach dem Menschen als zoon logon echon (als die Sprache habendes Lebewesen) bringt, beschäftigt sich die Rhetoriktradition intensiv mit der Wirkkraft der Sprache (vgl. Hetzel 2010).
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Vorwort
treibt sie über eine rein erkenntnistheoretische Auseinandersetzung im Sinne der vorherrschenden Sprachphilosophie hinaus, ohne aber damit Sprache als Sprache einfach hinter sich zu lassen. 7 Diese zweite Traditionslinie aufgreifend, bedenken Heidegger und Wittgenstein in ihrem (Spät-)Werk den Phänomenkomplex in einem umfassenden Sinn: Fragen nach der Seinsweise des Menschen, der Erschlossenheit von Welt sowie dem Handeln in sozialen Verbänden können ohne Berücksichtung der Sprache nicht gestellt werden. In ihren Texten bahnt sich nach dem linguistic turn gleichsam eine erneute Hinwendung zur Sprache an, deren Grundzüge eines anderen Selbst- und Mit- und Umweltverständnisses nun vor dem Hintergrund einer Phänomenologie der Responsivität herausgearbeitet werden sollen. 8 Bevor nun skizziert wird, was unter einer responsiven Ausrichtung der Phänomenologie verstanden werden kann, soll angedeutet werden, inwiefern die späten Texte von Heidegger und Wittgenstein selbst noch phänomenologischen Charakter besitzen, obwohl beide Denker nicht als Phänomenologen im klassischen Sinne gelten können. Der Gestus der Phänomenologie ist nicht auf eine philosophiegeschichtliche Strömung oder auf eine bestimmte Methodik beschränkt, sondern beansprucht vielmehr, der »Sache des Denkens« zu entsprechen. 9 Heidegger erläutert in einem seiner späten Texte prägIn diesem Sinne schreibt Heidegger nicht ohne ironische Zwischentöne in einem Brief vom 3. Jänner 1932 an den Altphilologen Julius Stenzel: »Bleiben Sie ja mit aller Kraft bei der ›Sprachphilosophie‹. Vielleicht wird eines Tages dieses Wortgebilde ganz nichtssagend und das Überbleibsel eines Dokuments für ein großes Mißverständnis. Dann nämlich, wenn wir wieder begriffen haben, wie Philosophieren und Dasein und Sprache in sich verwurzelt sind und die Bodenlosigkeit des einen die anderen mit ins Verhängnis zieht.« (BW Heidegger / Stenzel 25) 8 Dieser hier nur grosso modo skizzierten These von zwei unterschiedlichen Traditionssträngen in der abendländischen Philosophie sind Gerald Posselt und ich in einer mehrmals gehaltenen Vorlesung am Institut für Philosophie der Universität Wien in historischer sowie systematischer Hinsicht nachgegangen. Ihm möchte ich hier für die produktive Zusammenarbeit danken. Wir schließen hier an Überlegungen von Georg W. Bertram an, auch wenn wir andere Akzentuierungen vornehmen: »Es handelt sich also bei dem Übergang, um den es hier geht, nicht einfach um eine Gegenbewegung zum linguistic turn, nicht um eine einfache Abkehr von der Sprache. Die Sprachphilosophie, so könnte man vielmehr sagen, wird von ihrer eigenen Logik her dazu gezwungen, mehr zu sein als nur Sprachphilosophie. Gleichzeitig wird die Sprachphilosophie damit aber auch gezwungen, weniger zu sein als die neue ›Erste Philosophie‹, die sie in langen Abschnitten des 20. Jahrhunderts sein wollte.« (Bertram et al. 2008, 22) 9 Diese Einschätzung teile ich mit Levinas: »Die Phänomenologen beziehen sich nicht 7
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Vorwort
nant, was er unter Phänomenologie versteht: »Die Zeit der phänomenologischen Philosophie scheint vorbei zu sein. Sie gilt schon als etwas Vergangenes, das nur noch historisch neben anderen Richtungen der Philosophie verzeichnet wird. Allein die Phänomenologie ist in ihrem Eigensten keine Richtung. Sie ist die zu Zeiten sich wandelnde und dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen. Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit ein Geheimnis bleibt.« (GA 14, 101) Für Heidegger darf die Phänomenologie also weder als (rein) historische Bewegung noch einfachhin als eine bestimmte Verfahrensweise angesehen werden. Vielmehr lässt sie sich die Herangehensweise vom Phänomen selbst her vorgeben, um dem darin aufbrechenden Anspruch nachzukommen. Ebenso wenig darf die Sprache in ein vorgefertigtes Schema gepresst werden, sondern eine Erörterung dieses Phänomens muss sich von der Sprache selbst mögliche Wege aufzeigen lassen. Den von der Sprache eröffneten Erfahrungsraum hat auch Wittgenstein behutsam und eindringlich ausgelotet; aus diesen Gründen wird in dieser Arbeit die phänomenologische Zugangsart auch für ihn beansprucht. 10 Die Phänomenologie zielt nicht auf einen naiven Deskriptivismus, sondern befragt traditionelle Zugänge auf ihre eigenen Voraussetzungen. So setzt sich Wittgenstein kritisch mit seinem Frühwerk, das von auf Thesen, die Husserl ausdrücklich formuliert hätte, sie widmen sich nicht ausschließlich der Interpretation oder der Geschichte seiner Schriften. Eine Weise des Tuns nähert sie einander. Die Übereinstimmung besteht eher in der Art, die Probleme anzugehen, als in der Bejahung einer Anzahl fester Aussagen.« (Levinas 1983, 81) Vetter liefert einen prägnanten Überblick über das phänomenologische Denken und dessen diverse historische Ausformungen (vgl. Vetter 2004, 410–425). 10 Das hier dargelegte Verständnis von Phänomenologie hat nichts mit Wittgensteins Konzept einer »phänomenologischen Sprache« als primärer zu tun, das er nach seiner Rückkehr nach Cambridge bis Anfang der 1930er Jahre verfolgte (vgl. VO 102), bald aber wieder fallen ließ: »Die phänomenologische Sprache oder ›primäre‹ Sprache wie ich sie nannte schwebt mir jetzt nicht als Ziel vor; ich halte sie jetzt nicht mehr für möglich. Alles was möglich und nötig ist, ist das Wesentliche unserer Sprache von ihrem Unwesentlichen zu sondern.« (Ms 106, 205) Zur Verortung Wittgensteins in der Phänomenologie siehe die erhellenden Ausführungen von Bermes (1996, bes. 12–18) und Guest (1991). In diesem Sinne versteht auch Fay Wittgensteins spätere Texte: »But the fact that he [Wittgenstein, M. F.] stopped using the term ›phenomenology‹ does not necessarily mean that he stopped using phenomenological concepts and at least some sort of phenomenological method.« (Fay 1992, 20)
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der Suche einer idealen Sprache geprägt war, auseinander: »Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung).« (PU 107) Ein wesentlicher Schritt ist der stufenweise Abbau und die Befreiung von fälschlichen Vorannahmen. Die Phänomenologie forciert daher nicht die bloße Beschreibung von präsentisch Vorliegendem, sondern fragt nach dem, was sich zeigt und die Art und Weise, wie dieses erscheint, um die Grenzen sowie Möglichkeitsbedingungen, in denen sich etwas zeigt, zu diskutieren. Bedacht wird folglich in erster Linie nicht das Was des Gegebenen, sondern das Wie der Gegebenheit respektive das Dass der (Vor-)Gabe selbst. So weist Heidegger bereits in Sein und Zeit auf die Notwendigkeit einer Phänomenologie des NichtPhänomenalen hin: »Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne ›Phänomen‹ genannt werden muß? […] Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.« (GA 2, 47) Sprache soll nun nicht in einer einfachhin »positiven« Weise als anschauliches Phänomen, sondern als »(Ab-)Grund« in seiner konstitutiven Dimension des Entzugs bedacht werden. Die Besinnung auf ein in gewisser Weise »a-phänomenales« Phänomen soll auf den intrinsischen Zusammenhang der titelgebenden Alliteration von logos (Sprache als Anspruch) und lethe (Verbergung als Entzug) hinweisen. Sprache zeigt sich paradoxerweise nur, indem sie sich einer restlosen Vergegenständlichung entzieht. 11 Das Thema phänomenologischer Untersuchungen bildet dabei sowohl das, was als Selbstverständliches durchwegs übergangen wird, als auch jenes, das überhaupt nicht als »etwas« in die Unverborgenheit gelangt. Sprache – so das Leitmotiv 11 Bernet weist zu Recht auf diese Grundtendenz der Phänomenologie hin, sich nicht bloß im Bereich des Sichtbaren zu bewegen, sondern sich vorwiegend dem »Sichzeigen« des Unsichtbaren zu widmen: »Die Erweiterung der Phänomenologie über die Deskription des sinnlich Wahrnehmbaren hinaus gehörte schon immer zum phänomenologischen Programm […]. [D]ie Phänomenologie [hat sich] geradezu vorwiegend mit dem Unsichtbaren beschäftigt, das dem augenscheinlichen Sehen verborgen ist. […] Nicht dem Unsichtbaren als solchen gilt nämlich [das] Interesse, sondern dessen Weisen der Offenbarung, die zu einer Revision unserer Vorurteile über das Wesen der Sichtbarkeit drängen.« (Bernet 2009, 7)
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dieser Arbeit – ist dieses »Phänomen« par excellence; sie entzieht sich nicht nur einer vollständigen Verobjektivierung, sondern geht in einer Dehiszenz von Möglichkeiten auf, die von keinem Regulierungsversuch einzudämmen oder vorausberechenbar ist. Das Phänomen Sprache entwindet sich nicht nur negativ dem beherrschenden Zugriff, sondern erlaubt positiv, dem Verhältnis von Subjektivität, Sozialität und Welt in umfassender Weise nachzugehen. Diese Inblicknahme einer sprachlichen Relationalität von Anspruch und Antworten eröffnet den Bereich für das, was hier in Rückgriff auf eine »Phänomenologie der Responsivität« eingehender erörtert werden soll. Eine Phänomenologie der Responsivität, wie sie von Waldenfels in den letzten Jahrzehnten systematisch mit unterschiedlichen Akzentuierungen entfaltet wird, geht weder vom wahrheitsfähigen Aussagesatz (logos apophantikos) noch vom Vorrang der Frage (ti esti) aus, sondern bedenkt das – die Subjektivität allererst auszeichnende – Antworten auf einen je schon ergangenen Zuspruch. Antworten wird somit nicht mehr im Sinne einer Beantwortung – etwa einer bestimmten Fragestellung, die eine Wissenslücke zu schließen gedenkt – aufgefasst, sondern muss als Vernehmen des Anspruchs verstanden werden. Das Ich beginnt nie ab ovo bei und mit sich, sondern erfährt sich in seiner Endlichkeit in mannigfache Bedingtheiten eingelassen und Herausforderungen ausgesetzt, deren Erbe es in je singulärer Weise zu übernehmen hat. Es ist vonseiten des Subjekts nie eine bewusste Entscheidung, in Sprache einzutreten und auf den Anspruch zu antworten. Das Ego beginnt somit nie mit dem Eigenen, sondern fängt stets anderswo an und erfährt sich je schon von alteritären Ansprüchen durchfurcht. In der Nachträglichkeit des Antwortens bricht dabei ein unüberbrückbarer Hiatus zwischen Anspruch und Entsprechen auf, der jede Rückführung auf ein reziprok-symmetrisches Verhältnis verunmöglicht. Dieses Vernehmen des Anspruches ist nun nicht mit einem unabänderlichen Ausgeliefertsein zu verwechseln, sondern bildet den Möglichkeitsraum, in dem das Subjekt im Antworten sich selbst zu (er-)finden hat und seine Art des Entsprechens, die keine automatische Reaktion darstellt, auch verantworten muss. In der Verantwortung – die nunmehr die Responsivität als ethisch ausgerichtete Responsabilität lesbar macht – wird der Zuspruch im Wie des Antwortens auf je eigene Weise bewahrt. Daher hält Waldenfels fest: »Die Grundfrage kann deshalb auch nicht lauten: Soll ich antworten oder nicht? Oder: Worauf soll ich antworten? Auf diese Weise würde man das Antworten selbst als 18
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ein Tun behandeln, dessen Initiative bei uns liegt. Das Antworten wäre kein Antworten mehr, denn dies kommt mit unaufholbarer Verspätung aus dem Hören des fremden Anspruchs. Die Frage, die aus der In-Frage-Stellung erwächst, kann höchstens lauten: Was und wie soll ich antworten? Wäre jede Antwort gleich gut, so wäre sie keine Antwort mehr, die an Gesagtes anknüpft und auf fremde Angebote eingeht; gäbe es nur eine richtige Antwort, so wäre die Antwort keine Antwort mehr, die erwidert. Wir erreichen hier den Punkt, wo eine Antwort als Antwort erfunden wird und sich zur kreativen Antwort steigert.« (Waldenfels 1994, 576). Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung wird – nach einer werkgeschichtlichen Verortung der Thematik – die Auseinandersetzung mit tradierten Sprachvorstellungen erörtert. Sowohl Heidegger als auch Wittgenstein widmen sich dabei antiken Ansätzen, nicht um in erster Linie eine historische Bearbeitung dieser Themenstellung anzustreben, sondern um in ihren Ausführungen auf die Grundprobleme der rezenten Sprachphilosophie hinzuweisen, deren Aktualität selbst ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Philosophischen Untersuchungen (1953) und von Unterwegs zur Sprache (1959) nichts von ihrem Problembewusstsein verloren hat. Heidegger und Wittgenstein beanspruchen in ihrer Sprachauffassung einen entscheidenden Bruch mit den tradierten Denkschemata der Metaphysik, insbesondere mit dem »monolithischen Projekt« der Moderne seit Descartes, das eine stete Rückführung des Denkens auf sich selbst impliziert. Hand in Hand gehen dabei die Zurückweisung des bedeutungstheoretischen Repräsentationsmodells der Sprache und ihrer »grammatisch-logischen« Ausrichtung an einer Ontologie der Vorhandenheit. Im zweiten Teil wird versucht, eine »positive« Kennzeichnung der Sprache zu unternehmen. Dabei wird einerseits besonders auf Wittgensteins Philosophieren in Beispielen anhand der Pluralität von Sprachspielen und des Komplexes des offenen Regelfolgens in einer sozialen Praxis von differenten Lebensformen eingegangen. Andererseits soll Heideggers Sprachverständnis im Rahmen des Gesprächs als Entsprechungsgeschehnis und ihre Rückbindung in das Geviert vernehmbar gemacht werden. Ein Anliegen dabei ist es, in Heideggers und Wittgensteins spätem Denken jene phänomenale Einsicht zu würdigen, die das Wort als Ant-Wort auf einen uneinholbaren Anspruch versteht. Im dritten Abschnitt wird besonders der Skepsis an tradierten A
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Artikulationsmöglichkeiten Rechnung getragen und den unterschiedlichen Weisen des Sagens nachgegangen. So zeichnen sich Wittgensteins Untersuchungen durch eine polyphone Albumform aus, die auf dogmatisch-thetische Setzungen verzichtet. Ebenso lässt sich in Heideggers Texten der Versuch ausmachen, sich dem propositionalen Gehalt von Aussagesätzen auf mannigfache Art zu entziehen. Paradigmatisch wird dies am Feldweg-Gespräch Anchibasie nachgezeichnet, wo Heidegger selbst sich gezwungen sieht, auf die Dialogform zurückzugreifen. *
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Falls sich Sprache stets als Antwort auf Vorausgehendes erweist, zeigt sich im Geschriebenen nicht nur der Widerklang all der Texte, die diese Arbeit auf ihren Weg gebracht und ein Weiterschreiben gewährt haben, sondern auch eine Entgegnung auf all die Worte, deren Zuspruch in unterschiedlichster Weise hier zu entsprechen versucht wurde und denen mein aufrichtiger Dank gebührt: Für die Betreuung dieser Arbeit möchte ich Herrn Prof. Pöltner und Herrn Prof. Vetter danken, von denen ich im Laufe meines Studiums nicht nur die maßgeblichen Einführungen in das philosophische Fragen erhalten habe, sondern die mir stets auch den notwendigen Freiraum für eigene Wege und Umwege gewährt haben. Dank schulde ich Herrn Prof. Kampits für die umsichtige Unterstützung in beruflicher Hinsicht sowie Herrn Prof. Gander für die gewährte Gastfreundschaft am Freiburger Husserl-Archiv, wo der vorliegende Text nochmals für die Publikation überarbeitet werden konnte. Finanziell unterstützt wurde mein Tun von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Alexander von Humboldt-Stiftung; ohne diese Förderungen wäre es unmöglich gewesen, kontinuierlich zu arbeiten. Großen Dank schulde ich auch Lukas Trabert, den Text in das Verlagsprogramm von Alber aufzunehmen. Klaus Ebner und Adriàn Navigante danke ich für das stets freundlich gesinnte sowie immer offenes Ohr für große und kleine Anliegen; ebenso schulde ich Barbara Haider, die eine erste Fassung dieses Textes maßgeblich begleitet hat, für die vielfältige Unterstützung größten Dank. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Georg W. Bertram, Alfred Dunshirn, Sophie Loidolt, Gertrud Wachter und Anja Weiberg, die mir durch ihre vielfältige Zusammenarbeit das Unterrichten wesentlich erleichtert haben, sowie bei Catalin Cioaba, Natalie Moser, 20
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Gerhard Thonhauser, Peter Trawny, Thomas Stadlbauer und vor allem bei Peter Zeillinger sowie Gerald Posselt für die kritische Lektüre diverser Abschnitte und für die zahlreichen Gelegenheiten, Überlegungen mit ihnen gemeinsam zu diskutieren. Durch ihre Einwände, Rückfragen und Hinweise erhielt diese Arbeit unzählige Anstöße. Mein Ankommen in Freiburg wurde wesentlich durch die entgegenkommende Gastfreundschaft von Regula Giuliani, Sylvaine Gourdain, Virginie Palette, Lucia Castro Varela und insbesondere von David Espinet bereichert. Ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet ebenso Christian Sternad für die umsichtige redaktionelle Tätigkeit an der vorliegenden Fassung des Textes und den fruchtbaren philosophischen Diskussionen rund um die Thematik. Nicht zuletzt, da selbst Wittgenstein sein Sprachspiel-Verständnis anhand eines Fußballmatchs aufgegangen sein soll und Heidegger nicht nur in Hinblick auf Beckenbauers Unüberwindbarkeit im Zweikampf des runden Leders gedachte, möchte ich mich bei allen Freunden des SGS bedanken, mit denen ich in den letzten Jahren kicken durfte und die es immer wieder verstanden haben, mich aus der drohenden Einsprachigkeit der Philosophie in polyphone Kontextualitäten zu entführen. Dabei schulde ich meinen Brüdern Philipp und Lukas, wobei mich vor allem letzterer stets aufs Neue in die freie Allbeweglichkeit des Balles einzuführen und mir so die Augen für dieses wunderbare Spiel zu öffnen wusste, herzlichen Dank. Bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern, die mir durch ihre finanzielle Hilfe überhaupt das Studium ermöglichten, für alle Sorgen und Bedenken stets Zeit für ein Gespräch hatten und mich nach allen Richtungen hin unterstützten. Vor allem möchte ich mich bei Iris Laner bedanken; ohne die zahlreichen Gespräche sowie ihren unablässigen Mutzuspruch und ihren sanften, jedoch bestimmten Hinweis, den Text endlich zur Publikationsreife zu bringen, hätte ich mich nach Jahren des Liegenlassen nicht nochmals an das Konvolut gewagt. Innig möchte ich mich bei Anni und Friedl Wilk für die großzügige Unterstützung und den Weitblick bei gewichtigen Entscheidungen bedanken; sie haben mir durch ihr Entgegenkommen gerade meine Zeit in Wien erheblich erleichtert und wurden mir ein steter Bezugspunkt meines Aufenthalts in dieser Stadt. Ich weiß nicht, ob ich es mir ohne Friedl zugetraut hätte, das Studium der Philosophie aufzunehmen. Seinem Andenken sei dieser Text gewidmet.
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Das Bleibende im Denken ist der Weg. (GA 12, 94)
In den nachfolgenden Ausführungen soll skizziert werden, wie komplex sich Heideggers Besinnung auf das Phänomen Sprache darstellt. Diese Vielschichtigkeit wird deutlich, wenn man sich nur einige Stationen seines Denkweges in Erinnerung ruft. Sprache stellt dabei nicht eine Thematik im Sinne eines Gegenstandgebiets dar, sondern wird erst allmählich in der Auseinandersetzung mit der Tradition und Erörterung eines gewandelten Selbstverständnisses des Menschen aus seiner Verhältnishaftigkeit zum Seyn in den Vordergrund gerückt. Aus den Einsichten dieses Verhältnisses lassen sich jedoch die Grundzüge des heideggerschen Sprachdenkens nachzeichnen. In einem kurzen, aber durchaus aufschlussreichen Rückblick auf seinen eigenen Denkweg, den Heidegger in Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden (GA 12, 79–146) in den Jahren 1953/54 unternimmt, ist er nicht nur darauf bedacht, Zusammenhänge seines Denkens zu erläutern, sondern auch auf die fortlaufende Kontinuität einer Besinnung auf die Sprache und auf deren Verhältnis zum Sein hinzuweisen. Bemerkenswert ist dieser Text aufgrund einer Reihe von Umständen. Aus heutiger Sicht ist es dank der weit fortgeschrittenen Veröffentlichung der Gesamtausgabe möglich, diesen knappen Bemerkungen in einer umfassenden Weise nachzugehen und die von Heidegger selbst ins Treffen geführten Überlegungen auch anhand der Textgenese nachzuvollziehen. Bevor nun Heideggers eigenen Hinweisen zu seinen verschiedenen Erörterungen der Sprache nachgegangen wird, soll in einer Vorbemerkung auf zwei weitere Umstände, die in diesem Textstück angelegt sind, aufmerksam gemacht werden, um die Vielstimmigkeit des heideggerschen Schreibens anzudeuten: Zum einen greift Heidegger – wenn auch nicht zum ersten und einzigen Mal – auf die in der Philosophiegeschichte seit Platon bestens bekannte Form des (Selbst-)Gesprächs zurück, die in der Folgezeit suk24
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zessive durch die monologischen Abhandlungen aristotelischer Prägung verdrängt wurde. Zwar gibt es eine Vielzahl von Belegen, dass in der Tradition diverse Denker immer wieder Dialoge verfasst haben; so sind neben Platon wohl auch Augustinus, Al-Farabi, Cusanus, Hume, Schelling – um nur einige beispielhaft anzuführen – und in neuerer Zeit in einer eigenwilligeren Weise Wittgenstein 1 oder Derrida 2 zu nennen. Doch als die primäre Textsorte philosophischer Ausdrucksmöglichkeiten etablierte sich die mehrstimmige Unterredung nicht. An einer späteren Stelle dieser Arbeit soll genauer auf die etwaigen Konsequenzen zurückgekommen werden, die sich aus einem mehrschichtigen und vielstimmigen Schreiben für das Denken ergeben können. Dabei wird sich zeigen, inwiefern Heidegger das gesicherte Terrain des platonischen Dialogs verlässt und sich fernab jeder Mäeutik auf das offene Wagnis des Gesprächs einlässt. Das Gespräch wird dabei weniger von einem zwischenmenschlichen Austausch im Sinne der mündlichen Unterredung her zu verstehen sein, sondern muss vor dem Hintergrund einer Phänomenologie des Responsivität erörtert werden. Zum anderen durchbricht Heidegger in seinem Gespräch mit dem Japaner 3 auch den angestammten Bereich der abendländischen PhiAuf das Spezifische der Dialoge Wittgenstein’scher Prägung wird in einem eigenen Abschnitt einzugehen versucht. 2 In erster Linie ist hier das im deutschen Sprachraum kaum beachtete Buch Feuer und Asche (1988a) anzuführen. Eine Ausnahme dieser Rezeptionslücke einer höchst bemerkenswerten Textsorte und deren Konsequenzen bilden die Untersuchungen von Zeillinger: »Der von 1980 an für die Zeitschrift Anima erarbeitete […] und 1982 dort zunächst erschienene Text, wurde 1987 in einer Buchfassung in den Editions des Femmes erneut veröffentlicht und dabei durch eine Toncassette des gelesenen Textes ergänzt. Während schon der ursprüngliche Text zahlreiche grammatikalische und semantische Mehrdeutigkeiten aufweist und zudem als Polylog vielfältiger nicht immer eindeutig abgrenzbarer und als männlich oder weiblich identifizierbarer Stimmen gestaltet ist, steht die als gleichwertiges Original zu verstehende (Re-)Lektüre auf der Toncassette, auf der scheinbar nur eine weibliche und eine männliche Stimme sprechen, dazu in bewusst gesetzter Spannung: Die hörbare (Re-)Lektüre des Textes musste – notgedrungen – den zahlreichen Mehrdeutigkeiten, die die schriftliche Gestalt auszeichnen, nicht nur eine bestimmte Entscheidung im Akt des Lesens aufdrängen und gegenüberstellen (z. B. schon in der Wahl des Geschlechts des/der SprecherIn), sondern konnte bestimmte, allein lesbare, aber nicht hörbare Unterscheidungen […] gar nicht eindeutig zum Ausdruck bringen.« (Zeillinger 2002, 192) 3 Die Figur des »Fragenden« kann hier weitgehend mit dem Autor Heidegger gleichgesetzt werden, da dies der Text vielfach nahe legt. Eine eindeutige Identifikation von 1
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losophie, worin sich eine Erfahrung von Fremdheit kundtut, bei der offen gelassen werden muss, ob sie je angemessen verstanden werden kann oder sich in ihrer Alterität jedem Eingliederungsversuch in tradierte Auslegungsbahnen verwehrt. So schreibt Heidegger: »Darum sehe ich noch nicht, ob, was ich als Wesen der Sprache zu denken versuche, auch dem Wesen der ostasiatischen Sprache genügt […].« (GA 12, 89) 4 Es geht hierin folglich nicht nur um das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden als Verhältnis zwischen den zeitgenössischen Ausprägungen des Philosophierens und ihren Anfängen im antiken Griechenland (vgl. GA 16, 679), sondern um das Verhältnis zwischen Morgen- und Abendland, in dem – wie Trawny (2004) aufgezeigt hat – Heideggers Beschäftigung mit Hölderlin gipfelt und für Heidegger zu einem seynsgeschichtlichen Verständnis von »Europa« führen soll (vgl. GA 71, 95 ff.). 5 So verweist er einerseits darauf, dass jede Besinnung auf unser geschichtliches Dasein sich »den griechischen Denkern und deren Sprache« (GA 7, 41) widmen muss, aber diese Beschäftigung, so die überraschende Wende in Heideggers Ausführungen, »bleibt selbst wieder für uns die Vorbedingung für das unausweichliche Gespräch mit der ostasiatischen Welt« (GA 7, 41). 6 Darüber hinaus ist es höchst auffällig – und hierin scheint Heidegger bis dato beinahe eine singuläre Erscheinung in der PhilosophieFigur und Autor ist jedoch nicht bei allen von Heidegger verfassten Gesprächen angebracht (vgl. GA 77). Gerade dort, wo eine einfache Zuordnung nicht mehr möglich erscheint, erhalten diese Dialoge ihre eigentümliche Spannung. 4 Im Zusammenhang mit solchen Sätzen, in denen sich Heideggers vorsichtig-behutsamer Umgang mit dem Fremden widerspiegelt, fällt es schwer, die Argumentationsstrukturen mancher Interpreten nachzuvollziehen. So schreibt etwa Heidbrink: »Zum anderen läßt sich durch diesen Zugang [der Übersetzungspraxis, M. F.] der ethische und politische Hintergrund des Heideggerschen Sprachdenkens verdeutlichen, das sich weniger auf die Annäherung an die Fremdheit anderer Kulturen und Traditionen richtet als auf deren Vereinnahmung im Horizont der eigenen Interessen.« (Heidbrink 1997, 349) 5 In seiner eindrucksvollen Studie über Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin hält Trawny fest: »Das ›Eigene‹ tritt als solches aber nur dort hervor, wo es sich mit dem ›Fremden‹ berührt. Die ›Verantwortung‹ für das ›Eigene‹ ist darum zugleich eine für das ›Fremde‹. So ließe sich in systematischer Perspektive sagen, daß Heideggers HölderlinDeutung in nuce eine Theorie der ›Interkulturalität‹ darstellt.« (Trawny 2004, 11) Inwiefern Heidegger mit der mancherorts angedeuteten Besinnung auf das ostasiatische Denken auch die Auslegungsbahnen seiner eigenen Hölderlindeutung sprengt, muss hier offen gelassen werden. 6 Auf Heideggers Beziehungen zum ostasiatischen Denken gehen die instruktiven Ausführungen von Elberfeld (2003) näher ein.
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geschichte zu sein 7 –, dass er sich genötigt sieht, rückblickend seinen eigenen Denkweg, dessen Kontinuität, aber auch die darin enthaltenen Übergänge und Sprünge nachzuzeichnen, um sich und seiner Leserschaft die werkgeschichtliche Genese seines Unterwegs zur Sprache näher zu bringen. 8 Ähnlich einem Selbstportrait eines bildenden Künstlers unternimmt auch Heidegger – wiederum nicht zum ersten und einzigen Mal – eine nachträgliche Standortbestimmung seines Denkens, wohin ihn der Gang seiner Besinnung gebracht hat und welche Wegmarken sich im Nachhinein ausmachen lassen. Er tätigt folglich nicht programmatische Entwürfe für seinen weiteren Denkweg, in denen im Voraus Ziele oder Vorgehensweisen festgelegt werden. Stets führt ihn der Weg in neue Bahnen und unbekannte Gefilde, ohne dass diese vorab auszumachen sind. So schreibt Heidegger in seiner ersten 1937/38 entstanden Retrospektive Mein bisheriger Weg: »Nie war dieser Weg vorausgewußt, sondern er blieb schwankend und umstellt von Rückschlägen und Irrgängen.« (GA 66, 411) 9 Es lassen sich drei solcher Rechenschaftsberichte für die offenen Erkundungsbewegungen seines Denkens ausmachen, die sich grundlegend vom gängigen Genre autobiographischer Notizen unterscheiden: Zum einen erlaubt es die wohl nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmte Darstellung Ein Rückblick auf den Weg (GA 66, 409–428) Heidegger, eindringlich auf die Kohärenz der Stationen des Ereignisdenkens hinzuweisen und auf die Konsequenzen der so genannten Kehre zurückzublicken; zum anderen liest sich der stärker biographisch orientierte Bericht Mein Weg in die Phänomenologie (GA 14, 91–102; entstanden 1963) als ein Bekenntnis für die ihm einzig mögliche Weise des Philosophierens als Phänomenologie. Ebenso kann das Vorwort zur ersten Ausgabe der ›Frühen Schriften‹ (1972) (GA 1, 55–57) zu dieser Textsorte gezählt werden. Auch hierin unternimmt Heidegger den Versuch, Begebenheiten aus dem In einer ähnlichen Weise hat sich meines Wissens nur Derrida (vgl. Derrida 1997) diese Textsorte angeeignet. 8 Daher ist es wohl im Zusammenhang mit Heideggers Rückblick zu simplifizierend von »einer deutlich von Selbsthistorisierung geprägten Rückschau auf den eigenen ›Denkweg‹« (Grotz 2000, 86) zu sprechen, da man sich bei dieser Einteilung allzu schnell um die Vielschichtigkeit dieses Textes bringt. 9 Noch stärker legt Derrida im zuvor angeführten Rückblick auf seinen Denkweg den Akzent auf die Notwendigkeit dieser unbestimmbaren Offenheit: »Wenn ich klar und im voraus sehen würde, wohin ich ginge, dann würde ich, da bin ich ganz sicher, keinen Schritt mehr tun, um mich dorthin zu begeben.« (Derrida 1997a, 22) 7
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Leben – vornehmlich Lektüreerfahrungen – als Anstöße für sein Denken zu interpretieren, ohne in den herkömmlichen Biographismus zu verfallen; denn er verfolgt nicht die Nachzeichnung eines Lebens-, sondern seines Denkweges. In diesen Texten, so verschieden sie auch sein mögen, da sie unterschiedliche Datierungen und Adressierungen aufweisen, vollzieht sich bei Heidegger ein Innehalten, um im Nachhinein auf den gegangenen Weg zurückzublicken, nicht aber um den Gang seines Denkens zu beenden und selbstgenügsam die Hände in den Schoß zu legen, um daraus Weisungen für zukünftige Schritte zu erhalten. Darüber reflektierend hält Heidegger fest: »Bei jedem Aufenthalt erscheint der gewiesene Weg für den Rückblick und aus dem Vorblick in einem anderen Licht, mit anderem Ton und weckt andere Deutungen.« (zit. n. GA 1, 55) 10 So sind alle hier angeführten Retrospektiven von einer eigenartigen Offenheit für Künftiges getragen, aus denen ein Appell zum Weitergehen, ja Voranschreitenmüssen deutlich vernehmbar ist. In Aus einem Gespräch von der Sprache blickt Heidegger in seiner eigenen Nachzeichnung nicht nur auf seine lang anhaltende Besinnung auf das Phänomen Sprache zurück, die bereits mit den ersten eigenständigen Gehversuchen seines Denkens in der Habilitationsschrift von 1915 über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (GA 1, 189–411) 11 und den frühen Freiburger Vorlesungen 12 beginnt, in denen es um eine vor-theoretische Inblicknahme des immer schon verstehenden und je geschichtlich konkreten Daseins geht. Mit dieser dezidierten Berücksichtigung einer Hermeneutik der Faktizität wird eine Reduktion der Sprache auf den Aussagesatz unterwandert. Zudem Heidegger zitiert sich in diesem Vorwort selbst. Der ursprüngliche Text findet sich in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Jahresheft 1957/58, 20 f.). 11 Schaeffler macht darauf aufmerksam, dass sich in diesen denkerischen Anfängen, in denen sich Heidegger der »spekulativen Grammatik« der mittelalterlichen Tradition zuwendet, durchaus sein Programm für Zukünftiges ablesen lässt: »Und es scheint, dieses erkenntnisleitende Interesse kann in folgender Weise beschrieben werden: Gegen die Anonymität einer Logik, deren Gesetze rein abstrakt, ohne jede Beziehung auf ein konkretes Subjekt in dessen Lebenssituation formuliert werden, wandte man sich hier [in der grammatica speculativa; M. F.] den Strukturgesetzen der Sprache zu, die stets zugleich die konkrete Ortsbestimmung eines Sprechers im Geflecht intersubjektiver Beziehungen widerspiegelt.« (Schaeffler 1988, 295 f.) 12 Exemplarisch führt Heidegger die Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks von 1920 (GA 59) an (vgl. GA 12, 86 und 88). 10
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versucht er seinem japanischen Gesprächspartner deutlich zu machen, dass Sprache nie nur ein Thema (unter anderen) war, sondern – trotz oder gerade wegen einer lang anhaltenden Inkubationszeit – sein Denken von Anfang an geleitet hat: »Ich weiß nur dies eine: Weil die Besinnung auf Sprache und Sein meinen Denkweg von früh an bestimmt, deshalb bleibt die Erörterung möglichst im Hintergrund. Vielleicht ist es der Grundmangel des Buches ›Sein und Zeit‹, daß ich mich zu früh zu weit vorgewagt habe.« (GA 12, 88) 13 Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Heidegger – zumindest rückblickend – den Anspruch der Sprache als so überbordend empfindet, dass ihm eine frühe und zureichende Erörterung versagt bleiben muss; er sieht sich sogar gezwungen, seine Ausführungen in seinem ersten Hauptwerk Sein und Zeit (1927) dahingehend zu kritisieren, dass er dort »zu früh zu weit« vorgeprescht sei. Diese Selbstinterpretation Heideggers verwundert, denn das in Paragraph 34 Explizierte wurde nicht nur vom japanischen Gesprächspartner im zitierten Dialog als in seinen Ausführungen zu »sparsam« (GA 12, 130) empfunden; ein Vorwurf, den der Fragende nur im Verweis auf die mannigfachen Bezüge im gerade stattfindenden Gespräch zu entkräften sucht, ohne weiter auf den frühen Text einzugehen. Merkwürdigerweise erwähnt Heidegger in diesem Zusammenhang auch keine der großen Marburger Vorlesungen (1923–27), die nicht bloß als Vorstufen von Sein und Zeit angesehen werden können, sondern durchaus auch Themenfelder umfassender und eigenständig bearbeiten. So lassen sich aus den diversen Vorlesungen aus dieser Zeit durchaus wichtige Einsichten zur Sprache gerade in der Auseinandersetzung mit der klassischen griechischen Philosophie und deren logos-Verständnis gewinnen. Äußerst prägnant umreißt Heidegger in seiner Relektüre von Platon (und Aristoteles) das Vorhaben einer phänomenologischen Destruktion, die eine Erblast der tradierten Herangehensweise aufbrechen muss und so erst den Weg frei für neue Erörterungen machen kann: »Alle unsere grammatischen Kategorien, auch die aller heutigen wissenschaftlichen Grammatik – indogermanische Sprachforschung usw. – sind wesentlich bestimmt durch diese 13 Auf den tiefen Zusammenhang von Sein und Sprache weist Heidegger auch im Vorwort zur ersten Ausgabe der ›Frühen Schriften‹ (1972) mit Nachdruck hin: »Gleichwohl zeigen sie [die frühen Schriften – gemeint ist die Habilitationsschrift; M. F.] einen mir damals noch verschlossenen Wegbeginn: in der Gestalt des Kategorienproblems die Seinsfrage, die Frage nach der Sprache in der Form der Bedeutungslehre. Die Zusammengehörigkeit beider Fragen blieb im Dunkel.« (GA 1, 55)
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theoretische Logik, so sehr, daß es fast hoffnungslos erscheint, daß [sic!] Phänomen der Sprache frei von dieser traditionellen Logik zu verstehen. Es besteht aber die Aufgabe, die Logik einmal viel radikaler zu fassen, als es den Griechen gelang, und auf demselben Wege zugleich ein radikaleres Verständnis der Sprache selbst und damit auch der Sprachwissenschaften auszuarbeiten.« (GA 19, 253) 14 In Sein und Zeit wird die Rede 15 als existenzial-ontologisches Fundament der Sprache und somit als menschliches Existenzial gefasst, indem ihr der »ontologische ›Ort‹ […] innerhalb der Seinsverfassung des Daseins« (GA 2, 221) zugewiesen wird. So wendet sich Heidegger schon dort mit aller Vehemenz gegen eine bedeutungstheoretische Verengung von Sprache und die Reduktion des Wortes als bloßes Medium intellegibler Inhalte: »Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.« (GA 2, 214) Doch trotz der Betonung der Gleichursprünglichkeit der Rede mit Befindlichkeit und Verstehen wurde dieses Existenzial in der Rezeption kaum gewürdigt. 16 Anders als die aus dem Verstehen hergeleitete Auslegung ist die Rede als ontologisch-existenziales Wesen der sprachlichen Verlautbarung mit der gestimmten Befindlichkeit und dem entwerfenden Verstehen gleichursprünglich, d. h. ontologisch gleichrangig und nicht weiter aufeinander rückführbar. In der Rede wird »die bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Weltseins« (GA 2, 216) gewährt. Gemäß dem wichtigen Hinweis von v. Herrmann darf jedoch das Wesen der Sprache nicht als isoliertes Moment neben Befindlichkeit und Verstehen aufgefasst werden, »sondern es ist mit diesen so gleichursprünglich, daß es in ihnen, im befindlichen Verstehen, als redende Gliederung geschieht« (Herrmann 1985, 112). Obwohl selbst bei einer oberflächlichen Lektüre der Leserschaft klar werden muss, dass Sprache nicht dem Verstehen nachgeordnet Vgl. GA 18, 45 ff., GA 19, 179 ff. und 308 ff., GA 21, 162 ff. Dastur gibt in ihrem erhellenden Aufsatz zu Heideggers unterschiedlicher Sprachauffassung im Früh- und Spätwerk folgenden etymologischen Hinweis: »The German Rede, as well as the Latin armus and ars, the Greek arthmos, arthron, armonia, and the Vedic rta (order) all derive from Indo-European root *ar- which means fitting togehter.« (Dastur 1993, 366) 16 Eine große Ausnahme stellt der umfassende Kommentar zu § 34 von v. Herrmann (1985, 92 ff.) dar, welcher der Rede den ihr gebührenden Ort in Sein und Zeit überzeugend zuweist. 14 15
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und somit bloß als beiläufiger Ausdruck des Denkens ausgelegt werden kann, bleibt sie im Gegensatz zur Befindlichkeit und dem Verstehen doch merklich unbestimmt; eine Unbestimmtheit in der Vieles – gerade was das Hören oder Schweigen betrifft – angedeutet ist und sich vom späten Heidegger herkommend mit anderen Augen lesen lässt, in deren Unschärfe es aber auch zu Missverständnissen kommen kann. 17 Die Frage nach der spezifischen Seinsweise der Sprache wird von Heidegger in diesem fundamentalontologischen Zusammenhang gestellt, jedoch bewusst nicht beantwortet, indem er diese Aufgabe wegweisend als eine zukünftige umreißt: »Am Ende muß sich die philosophische Forschung einmal entschließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat sie die Seinsart des Daseins oder keines von beiden? Welcher Art ist das Sein der Sprache, daß sie ›tot‹ sein kann? Was besagt ontologisch, eine Sprache wächst und zerfällt? Wir besitzen eine Sprachwissenschaft, und das Sein des Seienden, das sie zum Thema hat, ist dunkel; sogar der Horizont ist verhüllt für die untersuchende Frage darnach.« (GA 2, 221) Dieser Bringschuld wird er in seinem Spätwerk nachzukommen versuchen. In der höchst eigentümlichen Wendung, dass er sich in Sein und Zeit »zu früh zu weit vorgewagt habe« (GA 12, 89) spiegelt sich auch Heideggers durchaus ambivalentes Verhältnis zu seinem ersten großen Buch wider. Er suggeriert förmlich den Eindruck, dass hier unvermittelt Unreifes durchgebrochen sei, das erst in einer dezidierten Besinnung auf das Phänomen Sprache aufgearbeitet werden konnte, die Heidegger selbst mit der Vorlesung Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (GA 38) aus dem Wintersemester 1934 ansetzt: »Im Sommersemester des Jahres 1934 hielt ich eine Vorlesung unter dem Titel ›Logik‹. Es war jedoch eine Besinnung auf den logos, worin ich das Wesen der Sprache suchte.« (GA 12, 89) 18 Tatsächlich widmet sich eine Reihe von Vorlesungen seit Anfang/Mitte der 1930er Jahren diesem 17 Exemplarisch für die lange vorherrschende Interpretation der vermeintlichen Zurückweisung des Existenzials der Rede in Sein und Zeit können Pöggeler (1963, 209 f.) und Wohlfahrt (1982, 136–142) gelten. Dieser Fehldeutung hat in klärender Weise v. Herrmann (1985, 198–224) Abhilfe schaffen können. 18 In Ein Rückblick auf den Weg von 1937/38 legt Heidegger den Akzent weit weniger stark auf das Phänomen Sprache, sieht es jedoch im Zusammenhang mit der Stimmung und in engster Verschränkung mit dem Ereignisdenken selbst. Daher hält er fest: »Die
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immer stärker in den Vordergrund drängenden Thema. 19 Bereits in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1933 unterstreicht Heidegger mit aller Deutlichkeit einen Bruch mit den Ausführungen in Sein und Zeit: »Notabene: Mit diesem Satz gehe ich wesentlich hinaus über das in ›Sein und Zeit‹ § 34, S. 164 ff. Gesagte. Dort wurde zwar Sprache in wesentlichen Zusammenhang mit dem Schweigen gebracht, auch der Ansatz für eine hinreichend ursprünglichere Fassung des Wesens der Sprache gegenüber der bislang herrschenden ›Sprachphilosophie‹ festgelegt, aber doch nicht das Eigentliche gesehen, was im notwendigen Gefolge dieses Ansatzes liegen muß: Schweigen letztlich als Möglichkeit des Redens; aber nicht: Rede und Sprache als entspringend aus dem Schweigen. In den letzten Jahren bin ich diesen Zusammenhängen nachgegangen und habe sie ausgearbeitet.« (GA 36/37, 110) 20 Hier deutet Heidegger schon an, dass die Sprache nicht mehr vom Zu-Wortkommen, sondern von »jener geschlossenen Aufgeschlossenheit« (GA 36/37, 111) des Verschweigens her verstanden werden müsse, die er später als »Geläut der Stille« (GA 12, 27) zu umschreiben sucht.21 Sprache – als zugehörig zur Stimmung und begriffen aus dem Bezug zur Wahrheit des Seyns. Überwindung der bisherigen Grammatik und Logik.« (GA 66, 425) 19 Vgl. GA 36/37, bes. 100–117; GA 38, bes. 2–28 und 167–170; GA 39, bes. 59–77; GA 40, bes. 56–79. Außerdem hält Heidegger 1939 ein Oberseminar zu Herders Abhandlung Über den Ursprung der Sprache (GA 85), in dem er sich neben Herder auch mit Hamann, Humboldt und Jacob Grimm auseinandersetzt. 20 Heideggers Kritik an seinem eigenen Frühwerk muss aber insbesondere hinsichtlich des Denkens der Sprache differenzierter als lediglich unter negativen Vorzeichen betrachtet werden. Exemplarisch kann folgende Stelle aus den 1940er Jahren angeführt werden (die Datierung stützt sich auf den Hinweis auf die 1944 gehaltene Vorlesung zu Heraklit (vgl. GA 74, 69)): »Die 6 Seiten des § 34 in ›Sein und Zeit‹ über Da-sein und Rede, die Sprache, sind mit das Wesentlichste – und haben, trotzdem sie überall verschwiegen werden, ›gewirkt‹, ohne doch ursprünglicher nachgedacht zu werden. Alles noch unbeholfen und verstrickt in das Gewirr der Entwirrung und Lösung aus der Metaphysik und dennoch – wenn wir auf das Einfache achten.« (GA 74, 108) Auf die ambivalente Relektüre Heideggers von Sein und Zeit, die nicht nur das Sprachphänomen betrifft, macht Thurnher (2007) in pointierter und instruktiver Weise aufmerksam. 21 Heideggers Schüler Gadamer hat diese Wende nicht mitvollzogen. Daher deutet er das Schweigen als »eine Weise des Redens« (Gadamer 1999, 315). Das Schweigen ist in dieser Sichtweise etwas, das noch nicht zur Sprache gebracht werden konnte – prinzipiell aber auf die Entäußerung hingeordnet ist. So versucht Gadamer das Schweigen stets im Horizont einer potentiellen Artikulation zu verstehen: »Indessen, wenn es einem die Sprache verschlägt, so heißt das, daß man so viel sagen möchte, daß man nicht weiß, wo beginnen. Das Versagen der Sprache bezeugt ihr Vermögen, für alles Ausdruck zu suchen – und so ist es ja selbst geradezu eine Redensart, daß es einem die Sprache
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Sprache wird somit nicht auf eine repräsentative Abbildungsfunktion reduzierbar sein, von Heidegger aber auch nicht mehr als bewandtnismäßiges Gliedern des Daseins verstanden, sondern in ihrer welt-eröffnenden Dimension auszuloten versucht: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet die Welt – ist Seiendes.« (GA 38, 168) Die Offenheit von Selbst-, Mit- und Umwelt, nun nicht mehr rückführbar auf den Entwurf des Daseins, wird nur noch sprachlich zu erörtern sein. Zugleich streift Heidegger, vernehmbar für eine aufmerksame Hörerschaft, in den zu dieser Zeit öffentlich gehaltenen Vorträgen das Phänomen Sprache im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der Kunst und der Dichtung Hölderlins, ohne sich ihr in einer längeren Abhandlung aber eigens zu widmen. 22 Neben diesen Texten, die für das akademische Auditorium bestimmt waren, beschäftigt sich Heidegger seit Anfang der Dreißiger Jahre (vgl. GA 66, 424) – fernab von unmittelbaren Publikationsabsichten – in den Beiträgen (GA 65) und den nachfolgenden Konvoluten (GA 66–74) verstärkt, wenn auch nicht ausschließlich, mit dem Phänomen der Sprache. Dort geht er nunmehr von einem seinsgeschichtlichen Blickwinkel aus vornehmlich dem Schweigen oder – wie er es dort nennt – der »Sigetik« (vgl. GA 65, 78 f.) nach. 23 Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Sprache gewinnt fortan – wie die bis dato erschienenen Bände der dritten Abteilung der Heidegger-Gesamtausgabe nachdrücklich belegen – zusehends an Gewicht. Seit den Beiträgen und der so genannten Kehre erörtert er sukzessive eindringlicher Sprache aus dem Verhältnis von Zuspruch des Seyns und Entsprechen des Menschen, um das »Wesen des Seins selbst als das in sich gegenschwingende Ereignis« (GA 65, 261) anzuzeigen, ohne jedoch Sprache dezidiert in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu rücken. Doch das hierbei erblickte Sprachverständnis geht freilich weit über eine vom Menschen handhabbare Eigenschaft hinaus und lässt sich auch nicht mehr auf die akustische Verlautbarung oder auf ein probates Kommunikationsmittel reduzieren. Vielmehr gewährt das Geschehnis verschlägt – und eine solche, mit der man seine Rede nicht beendet, sondern beginnt.« (Gadamer 1993, 185) Unter der Hand passiert ihm hier nach Barbaric´, und dieser Interpretation ist zuzustimmen, eine »bloß privative Deutung des Sprachversagens« (Barbaric´ 2000, 79), womit er wohl ungewollt in die traditionelle Sprachauffassung zurückfällt. 22 Vgl. GA 4, 33–48; GA 5, 1–74. 23 Vgl. GA 65, Abs. 13, 37, 38, 276 und 281. A
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von Zu- als Entsprechen erst das Menschsein und den Aufgang von Welt mit all ihren Seienden. Seyn ereignet sich somit sprachlich. Daher hält Heidegger in dem Konvolut Besinnung fest, dass »im Wort und als Wort das Seyn west« (GA 66, 23). Erst Anfang/Mitte der 1940er Jahre gelangt Heidegger – seinem eigenen Dafürhalten nach (vgl. GA 12, 89) – zu einem freieren Verhältnis zur Sprache. In dieser Zeit setzt er sich neben seiner intensiven Beschäftigung mit den Vorsokratikern, 24 in der er vornehmlich durch seine Deutung des heraklitischen Logos-Verständnisses 25 zu einem neuen Sprachverständnis gelangt, in Vorlesungen mit Nietzsche 26 und Hölderlin 27 auseinander, um in einer Verwindung der metaphysischen Tradition dem Verhältnis von Dichten und Denken in einer anderen Weise nachzugehen. Die responsive Dimension – das Wort als Gegenbzw. Antwort zu verstehen und damit das Selbstverständnis des Menschen einer radikalen Revision zu unterziehen – rückt in der Schrift Das Ereignis (1941/42) mit aller Deutlichkeit in den Vordergrund der Ausführungen: »Die Antwort ist das Wort der Sprache, das menschentümlich dem Wort des Seyns entgegnet. Die Antwort ist wesenhaft Entsprechung. […] Die Antwort ist das menschentümliche Gegenwort der Sprache zur Stimme des Seyns.« (GA 71, 155 f.) Im Konvolut Zum Wesen der Sprache (GA 74), das u. a. Texte aus Anfang/Mitte der 1940er Jahre versammelt, werden diese Grundeinsichten eindrücklich verdeutlicht und in einer Vielschichtigkeit expliziert. Dezidiert werden dabei Einsichten zur Responsivität und Responsabilität, die gleichermaßen das Wort aus der Verschränkung von jeweiliger Ver- und geschichtlicher Über-Antwortung zu denken versuchen, in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt: »Die Sprache ist die Antwort auf das Wort. […] Sprache nicht ›Ausdruck‹, sondern Geschichte selbst – die Verantwortung. […] Verantwortung und Überantwortung.« (GA 74, 71) In diesem Zeitraum – unmittelbar vor Kriegsende – beginnt Heidegger nicht nur verstärkt über das Sprachgeschehnis im Gespräch nachzudenken, wie er es bereits in seiner ersten Vorlesung über HölAnzuführen ist dabei in erster Linie die Auseinandersetzung mit drei Denkern: Anaximander (vgl. GA 5, 321–373; GA 78), Parmenides (vgl. GA 54) und Heraklit (vgl. GA 55). 25 Besonders in der zweiten Vorlesung geht Heidegger dem Verhältnis vom Anspruch des Logos und dem Entsprechen des (menschlichen) logos nach (vgl. GA 55, 183 ff.). 26 Vgl. GA 43, GA 44, GA 46, GA 47, GA 48 und GA 50. 27 Vgl. GA 52 und GA 53. 24
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derlin getan hat (GA 39, 59–77), sondern auch selbst Gespräche zu verfassen (GA 77). Heidegger schreibt in den so genannten Feldweg-Gesprächen somit nicht über die welt-eröffnende Dimension des Wortes, sondern lässt sie im Vollzug des Textes zu Tage treten, um das Eingelassensein in ein Sprachgeschehnis und ihren Gabecharakter zu unterstreichen. Im Gespräch soll laut Heidegger nicht nur etwas, sondern das Wort selbst zur Sprache kommen. Die Sache dieser Art des Gesprächs ist somit das Wort, es kommt in ihm zur Sprache, sodass »das eigentliche Gespräch erst das Wort zur Sprache bringt« (GA 77, 57). Gespräch wird somit von Heidegger als die Weise des Sprachgeschehnis verstanden, worin der gewährende Zuspruch des Wortes eigens erfahren wird. Auch im so genannten Humanismusbrief (1947) setzt sich Heidegger mit dem Phänomen Sprache auseinander. Dort findet sich die bekannte und oft zitierte, aber kaum in ihrer gesamten Tragweite fassbare Formulierung von der »Sprache als [dem] Haus des Seins« (GA 9, 313). 28 Doch auch bei diesen Ausführungen, in denen immer mehr das innige Verhältnis von Sprache und Sein an- und durchklingt, konnte Heidegger seiner Selbsteinschätzung nach nicht stehen bleiben. So bekennt er 1953/54: »Indes dauerte es noch einmal beinahe ein Jahrzehnt [nach der Vorlesung über »Logik« (GA 38) aus dem Jahre 1934; M. F.], bis ich zu sagen vermochte, was ich dachte – das gemäße Wort fehlt auch heute noch. Der Ausblick für das Denken, das dem Wesen der Sprache zu entsprechen sich abmüht, bleibt in seiner Weite noch verhüllt.« (GA 12, 89) Heidegger weist also darauf hin, dass – obwohl sein Sprachdenken mit der Kehre zum Durchbruch gelangte und er dem Anspruch der Sprache seit bis Anfang/Mitte der 1940er Jahre in gewisser Weise nachkommen konnte – selbst 1953/54 das angemessene Wort für den Zuspruch der Sprache noch ausbleibt. Dieses Fehlen ist zwar nicht ein gänzliches, sondern es bleibt in einer umfassenden Dimension entzogen. Inwiefern dieses Nicht-Haben gerade dem Phänomen Sprache selbst entspricht, das sich, wie noch zu zeigen sein wird, 28 Zu dieser Zeit (1944) widmet sich Heidegger in dem Abschnitt Das Wort. Die Bedeutung der Wörter aus der bis dato unveröffentlichten Abhandlung Die Stege des Anfangs (geplant als GA 72) auf wenigen Seiten dezidiert dem Verhältnis von Dichten und Denken und der Besinnung auf das Wort »als die Sage des Seyns« (W 16). Heideggers »dichterischem« Werk Aus der Erfahrung des Denkens (GA 13, 75–86), mit dem er 1947 an die Öffentlichkeit tritt und in dem die Sprache in einer auffälligen literarischen Form thematisiert wird, müsste sich eine eigene Untersuchung widmen; dies kann hier nicht geleistet werden.
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sowohl der Einordnung in ein umgrenzbares Gegenstandsgebiet als auch einem definitiven Besitz verwehrt, wird sich im Bedenken des Unterwegsseins des Denkens in und zur Sprache noch weisen müssen. Es wird folglich zu fragen sein, ob es ein »gemäßes Wort« für das Wesen der Sprache überhaupt geben kann, oder ob nicht die herkömmliche Weise des Sprechens immer an die Sprache der Metaphysik rückgebunden bleibt, die eine »direkte« Thematisierung verunmöglicht. Wohl aber gibt es mittelbare Weisen des Sagens, die vielleicht im Gesagten Ungesagtes zum Mit-Sagen bringen könnten. Heidegger selbst sieht aber die Dringlichkeit – gerade in den Vorbereitungen zur Veröffentlichung der Vorträge und Aufsätze 29 –, sich eingehend und gesammelt der Sprache zu widmen. Am 8. Mai 1954 schreibt er an seine Frau Elfride: »Am meisten beschäftigt mich die Frage nach der Sprache […]. Es ist vielleicht doch am besten, wenn ich diese Thematik nur anklingen lasse, ohne sie eigens schon zu erörtern. Sie muß in ihrer ganzen Bedeutung durch eine eigene Veröffentlichung zum Vorschein kommen.« (MlS 298) Diese angestrebte Publikation, die Heidegger folglich spätestens seit 1954 in Erwägung zog, wurde im 1959 veröffentlichten Sammelband Unterwegs zur Sprache (GA 12) auch tatsächlich verwirklicht; darin sind ausschließlich Aufsätze und Vorträge aus den 1950er Jahren zum Themenfeld Sprache abgedruckt. Trawny bezeichnet diese sechs – höchst unterschiedlichen – Streifzüge in ein neues Sprachverständnis, in denen sich Heidegger in die Dichtung Georg Trakls und Stefan Georges einschreibt, sich mit tradierten Sprachauffassungen von Aristoteles und Humboldt auseinandersetzt und ein fernöstlichen Verständnis von Sprache zu berücksichtigen versucht, wohl nicht zu Unrecht als »vielleicht sein schönstes, vom Duktus und Ton des Denkens her gesehen reifstes Buch« (Trawny 2003, 123). 30 So schreibt Heidegger am 4. Mai 1954 an seine Frau: »Die Arbeit am ›Einblick‹ [Vorträge und Aufsätze; M. F.] geht jeden Vormittag gut voran; ich bin jetzt nur auf eine Schwierigkeit gestoßen, daß nämlich durch das Weglassen des schwierigen Sprachvortrags [»Die Sprache«, GA 12, 7–30; M. F.] eine Lücke entsteht und die Vorträge über den logos [»Logos (Heraklit, Fragment 50)«, GA 7, 211–234; M. F.] u. das ›Dichterische‹ [»›… dichterisch wohnet der Mensch …‹«, GA 7, 189–208; M. F.] ohne das nötige Fundament bleiben. Darum überlege ich mir, ob ich etwas über die Sprache einfügen soll. Ich möchte allerdings das in Freiburg schon skizzierte Gespräch über die Sprache [»Aus einem Gespräch von der Sprache«, GA 12, 79–146; M. F.], das jetzt etwas weiter gediehen ist, für eine gesonderte Veröffentlichung aufsparen.« (MlS 298) 30 In das unmittelbare Umfeld von Unterwegs zur Sprache gehört auch der Freiburger 29
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Es muss jedoch offen bleiben, ob dieser Band einen Abschluss mit dem Thema Sprache bildet. So müsste noch weiter gefragt werden, inwieweit in den diversen Annäherungen an Johann Peter Hebel 31 aus den späten 1950er und Anfang der 1960er Jahre, in dem Vortrag Überlieferte Sprache und technische Sprache (1962) sowie in seinen eigenen – vornehmlich späten – dichterischen Versuchen sich sein Denken noch einmal verändert und somit unablässig unterwegs ist. Andeutungen auf das von Heidegger empfundene Ungenügen des in Unterwegs zur Sprache Ausgeführten finden sich neben den bereits oben angeführten Äußerungen (vgl. GA 12, 89) auch in diversen Briefen. So schreibt er beispielsweise im Juli 1964 in Hinblick auf seine beiden Trakl-Deutungen an Ludwig von Ficker (GA 12, 7–78; entstanden 1950–52): »Um etwas auch nur entfernt Würdiges sagen zu können, bedürfe es einer ganz neuen Besinnung […]. Denn das früher […] Versuchte und Gewagte war nur ein Tasten. Heute seh ich die Einzigkeit der Dichtung Trakls viel deutlicher, erkenne aber auch die gedankliche und sprachliche Rat- und Mittellosigkeit, ihr zu entsprechen. So möchte ich weder Früheres wiederholen noch ganz Unzureichendes sagen.« (BW Heidegger / Ficker 91 f.) Ob diese Absage aus strategischen Gründen vorgenommen wurde – Heidegger wurde eingeladen, zum 50. Todestag des Dichters in Innsbruck eine Gedenkrede zu halten –, ob sie sich nur auf seine Annäherungen an Trakl beschränkt oder ob sie sich doch auf die gesamte Besinnung in Unterwegs zur Sprache bezieht, kann hier nicht beantwortet werden. Ein weiteres Indiz ist jedoch gegeben, dass Heidegger seiner eigenen Einschätzung nach in seinem Unterwegssein zur Sprache nie zu einem Endpunkt gelangt ist, wenn seine handschriftlichen Randbemerkungen in Unterwegs zur Sprache, die in Form von Fußnoten in die Gesamtausgabe eingeflossen sind, berücksichtigt werden. Sie lassen auf ein wiederholtes Zurückkommen auf den Text und auf die darin entfaltete Thematik schließen; aus ihnen geht auch hervor, dass Heidegger manche Stellen als klärungsbedürftig Vortragszyklus Grundsätze des Denkens (GA 79, 79–176). Vor allem der fünfte und letzte Vortrag (GA 79, 153–176) dieser Reihe geht in einer eindringlichen Besinnung auf das Walten der Sprache ein und enthält eine Vielzahl von thematischen und wörtlichen Überschneidungen mit den Aufsätzen aus Unterwegs zur Sprache, insbesondere mit Der Weg zur Sprache (GA 12, 227–257). 31 Vgl. GA 13, 117 f., 123–125, 133–150, 155–180. Diese kleinen Aufsätze wurden zwischen 1954 und 1960 geschrieben und entstammen somit vornehmlich der Besinnung auf die Sprache im Umkreis von Unterwegs zur Sprache. A
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und teilweise auch als verbesserungsfähig ansieht. Besonders eindringlich nimmt sich Heidegger in diesem Zusammenhang seines letzten Aufsatzes in der Sammlung Der Weg zur Sprache an. Selbst 1972, vier Jahre vor seinem Tod, kommt Heidegger im kurzen »Gedicht« Die Sprache (GA 13, 229) auf dieses Grundthema noch einmal zu sprechen. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass Heidegger retrospektiv mehrere Wegstationen anführt, in denen sich sein Verständnis von Sprache immer wieder wandelt, jedoch stets von dem innigen Verhältnis von Sein und Sprache getragen bleibt: Ausgehend von seiner Habilitationsschrift über Duns Scotus (1915) sind in diesem Zusammenhang die Ausarbeitung einer Hermeneutik der Faktizität in den frühen Freiburger Vorlesungen anzuführen (um 1920). Einen ersten Höhepunkt, wenn auch aus fundamentalontologischer Sicht, erfuhr die Beschäftigung mit Sprache in Sein und Zeit (1927), mit dessen Niederschrift er um 1923 begonnen hatte. Erst ein Jahrzehnt später – etwa Mitte der 1930er Jahre – widmet er sich parallel zu den Beiträgen (1936–38) in mehreren Vorlesungen (GA 36/37, GA 38, GA 39, GA 40) verstärkt dieser Thematik. Doch ein angemesseneres Sagen des Wesens der Sprache ist Heidegger nach eigenen Angaben 32 erst ab Mitte der 1940er Jahre rund um die Feldweg-Gespräche (GA 77) und um seine Aufzeichnungen Vom Wesen der Sprache (GA 74) beschieden. Den Höhe-, aber nicht abschließenden Endpunkt dieser Besinnung auf die Sprache bildet die Sammlung Unterwegs zur Sprache (1959). Eine eingehende Beschäftigung mit Heideggers Sprachverständnis müsste all diesen Stationen nachgehen und die Berechtigung der von Heidegger selbst vorgenommenen Unterteilungen und Markierungen hinterfragen. Dies kann hier nicht geleistet werden. Auch möchte ich mich nicht streng an die chronologische Reihenfolge der Genese der Schriften halten. Vielmehr soll ausgehend von den Vorlesungen und Schriften der 1930er Jahre, in denen Heidegger die so genannte Kehre von dem fundamentalontologischen zu einem seinsgeschichtlichen Denken vollzieht, 33 das darin entwickelte Sprachverständnis systemaAn dieser Stelle könnte noch eindringlicher über den Status der verschiedenen Ausprägungen der Selbstinterpretation diskutiert werden. Heidegger Abgrenzung von Sein und Zeit ist in den 1930er und 1940er wesentlich markanter (vgl. GA 36/37 oder GA 9, 313–364) als es das stärker harmonisierende Gespräch von der Sprache vermuten lässt. 33 Zur Interpretation der »Kehre« vgl. Thomä (2003a, 134–141), Greisch (2003) und Grondin (1987). 32
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tisch in zwei großen Bewegungen nachgezeichnet werden: erstens die darin vollzogene Abkehr von der logisch-grammatischen Sprachauffassung der Metaphysik – hierzu werden in erster Linie die Vorlesungen aus den 1930er Jahren herangezogen – und zweitens die Zukehr zu seiner eigenen Besinnung auf das Phänomen Sprache aus dem Ereignisdenken. So soll zum einen eine Schneise in das Spätwerk von Heidegger geschlagen werden, das einer umfassenden Erschließung – trotz gewichtiger Einzeluntersuchungen – immer noch entgegenharrt. Zum anderen soll ein Stand gewonnen werden, von dem aus eine sachliche Auseinandersetzung mit Wittgenstein fruchtbar gemacht werden kann.
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Heideggers Abgrenzung von der traditionellen Sprachauffassung Die Sprache – ja wissen wir denn, was Sprache ist? Nein. (GA 38, 167)
a)
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Es soll im Folgenden der Boden für die Überlegung bereitet werden, inwiefern für Heidegger die Besinnung auf Sprache als Sprache keine beliebige Fragestellung unter anderen darstellt, sondern weitreichende Konsequenzen nach sich zieht. Erst von hier aus wird einsichtig, warum er sich auf seinem Denkweg unablässig mit dem Phänomen der Sprache auseinandersetzen muss und welche Sprengkraft in dieser Besinnung liegt. Dieses Unterfangen eröffnet die Sicht auf ein Denken, das nicht mehr nahtlos in die Auslegungsbahnen der Tradition integrierbar ist, da Sprache sich als ein merkwürdiges »Phänomen« erweist, das nicht restlos wie vorliegend Seiendes zur Erscheinung gelangen bzw. für ein Subjekt vergegenständlicht werden kann. Jeder Versuch einer Verobjektivierung im Sinne einer vollständigen Reduktion auf den anwesenden Zeichenbestand oder feststellbaren Aussagegehalt wird sich als unmöglich erweisen; damit einhergehend – und auf diese nach sich ziehenden Implikationen wird im Folgenden dezidiert eingegangen werden – wird das herkömmliche Selbstverständnis des Menschen als Subjekt, das als maßgebende Bezugsmitte alles Erscheinens fungiert, einer grundlegenden Kritik unterzogen werden müssen. Heidegger beabsichtigt folglich nicht, eine bloß korrigierende Modifikation an der überlieferten Sprachbetrachtung anzubringen, sondern wird eine Revision des gesamten Seins- und Selbstverständnisses nach sich ziehen. Heideggers Abgrenzung von der herkömmlichen Sprachauffassung geschieht weder mit der Absicht, die Sprachwissenschaft philosophisch zu begründen, noch einen Beitrag zur Sprachphilosophie zu leisten oder gar »die ›Philosophie der Sprache‹ zur Grunddisziplin der Philosophie« (GA 85, 5; vgl. GA 74, 128) zu erheben. Nichts derglei40
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chen lässt sich mit Heidegger legitimieren, denn mit solchen Überlegungen befindet man sich unhinterfragt bereits in den vorgezeichneten Denkbahnen, auch wenn sie mitunter Korrekturen unterzogen werden würden. Vielmehr muss mit Heidegger gefragt werden, ob Sprache nicht »etwas anderes ist, wovon wir bis heute noch keinen Begriff haben« (GA 38, 15), da die metaphysischen Auslegungstendenzen den Zugang zum Phänomen Sprache grundlegend versperren. Heideggers Auseinandersetzung mit tradierten Zugängen reklamiert folglich einen weit radikaleren Gestus für sich, indem er die philosophische »Logik als solche von ihrem Anfang an aus ihrem Grund [zu] erschüttern« (GA 38, 8) trachtet. Unter dem Titel »Logik« versteht Heidegger dabei nicht bloß eine Teildisziplin der Philosophie, 1 sondern das etablierte Verständnis von Seiendem überhaupt und somit das onto-logische Fundament aller Denkgesetze der Metaphysik. 2 Heideggers Einsichten in die Sprache lassen sich folglich nicht als veränderte Spielart schon etablierter Zugänge verstehen; vielmehr erfordern sie einen fundamentalen Wandel der gesamten Betrachtungsweise und verstehen sich als dezidierter Bruch mit überkommenen Fragestellungen und Denkschemata in toto. Seine Erörterung vollzieht sich daher nicht im geschichtslosen Raum, sondern schreibt sich dezidiert in tradierte Überlieferungsstränge ein, um von dort aus ein grundlegend anderes Verständnis zu gewinnen. Dieses spezifische Verständnis von Geschichtlichkeit, das nicht mit einer distanzierten historischen Inblicknahme von Vergangenem zu verwechseln ist, eröffnet in der dezidierten Übernahme des überMit dieser klassischen Einteilung beginnt Kant seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: »Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik, und die Logik.« (Kant 1998a, 11 (= BA III); vgl. GA 55, 229 und Trawny 2004, 40 ff.). Heidegger zeigt auf, dass diese Kategorisierung laut Sextus Empiricus auf Xenokrates zurückgeht (vgl. GA 55, 225 f.) 2 Was laut Heidegger unter dem Titel »Metaphysik« zu verstehen ist, kann hier nicht in extenso erörtert werden. Eine erste Orientierungshilfe bietet jedoch folgendes Zitat Heideggers, in dem er darauf aufmerksam macht, dass die Metaphysik sich zwar dem Seienden hinsichtlich seines Seiendseins zuwendet, nicht aber dem, was das Sichzeigen von diesem allererst gewährt: »Was ist im Grunde überhaupt Metaphysik? Sie denkt das Seiende als das Seiende. Überall, wo gefragt wird, was das Seiende sei, steht Seiendes als solches in der Sicht. Das metaphysische Vorstellen verdankt diese Sicht dem Licht des Seins. Das Licht, d. h. dasjenige, was solches Denken als Licht erfährt, kommt selbst nicht mehr in die Sicht dieses Denkens; denn es stellt das Seiende stets und nur in der Hinsicht auf das Seiende vor.« (GA 9, 365) 1
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kommenen Erbes einen Möglichkeitsraum, den es nun genauerhin auszuleuchten gilt. Das vom Phänomen Sprache ausgehende Hinterfragen der tradierten Vorstellungen von Philosophie und Sein, Seiendem und in weiterer Folge von Menschsein entspringt aber weder einem spontanen Einfall, noch ist sie auf eine Absicht zurückzuführen, die Neues propagieren möchte, sondern sie geschieht, wie Heidegger betont, »aus einer Notwendigkeit« (GA 38, 8; vgl. GA 85, 215), die sich vom Phänomen Sprache her aufdrängt. Aus diesen wenigen Andeutungen wird bereits ersichtlich, dass die sich abzeichnende Erschütterung der traditionellen Sprachauffassung sich nicht in einem isolierten Bereich abspielt, sondern umfassende Implikationen in sich trägt, in denen die Grundannahmen und methodischen Zugänge der bisherigen Denkweise in ihrer Selbstverständlichkeit konterkariert werden. Es wird dabei das durch die Metaphysik überkommene Seinsverständnis in toto fragwürdig. Daher nimmt es nicht Wunder, wenn Heidegger darauf insistiert: »Die Besinnung auf die Sprache gilt hier als ein entscheidender Weg zum Einsprung in das ganz andere, nämlich seynsgeschichtliche Denken.« (GA 85, 5) Gerade der Versuch, dem Phänomen Sprache angemessen nachzudenken, eröffnet den Weg, auf dem sich laut Heidegger ein Sprung in ein anderes Denken vollziehen kann. Es stellt sich jedoch die Frage, in welcher Weise diesem Denken – trotz der schroffen Abgrenzung von der Metaphysik – noch ein Bezug zur Geschichte innewohnt. Was kann hier noch Geschichte heißen und in welchem Verhältnis steht dieses andere Denken mit der Tradition? Schließen sich nicht ein Bruch mit der Überlieferung und eine Zukehr zur Tradition aus, wie man gemeinhin annehmen müsste, oder muss sich dieses seinsgeschichtliche Denken gerade – um die zunächst widersprüchlich erscheinende Ausgangslage besonders zu betonen – in seiner Absetzung aus einer (noch näher zu bestimmenden) Relation mit dem Erbe des Überlieferten verstehen? Heidegger verweist selbst darauf, dass die Zukünftigkeit des anderen Denkens – trotz der Erschütterung der tradierten Auslegungsbahnen – »nicht von dem [entbindet], was von der Überlieferung gegeben ist« (GA 38, 11). Dieses Denken verleugnet demzufolge nicht die Geschichtlichkeit, im Gegenteil, es versucht sich dezidiert in die Auseinandersetzung mit ihr einzuschreiben. Heideggers Zuwendung zur Geschichte der Philosophie unterscheidet sich radikal von antimetaphysischen Strömungen, welche die Beschäftigung mit der Tradition 42
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im Vorhinein als längst Vergangenes ablehnen und einen absoluten Neuanfang propagieren. Es wäre laut Heidegger naiv, die Vergangenheit einfachhin hinter sich lassen zu wollen und zu glauben, dass Gewesenes uns nichts mehr zu sagen hat oder uns in keiner Weise mehr bestimmt: »Damit, daß man den Dingen des Geistes aus dem Weg geht, sind sie noch nicht überwunden; sie kommen mit verstärkter Macht und ohne daß wir es wollen wieder. Alle, die meinen, in dieser Hinsicht frei zu sein, bewegen sich doch in den gewohnten Denkweisen und Denkverfahren dieser zweitausendjährigen Vergangenheit.« (GA 38, 8; vgl. GA 65, 172 f.) 3 Es kann nicht darum gehen, die Geschichte des Denkens zu negieren und die Philosophie neu erfinden zu wollen. Heideggers Hinweise auf den anderen Anfang verfolgen somit nicht das Projekt einer ahistorischen Neugründung der Philosophie; vielmehr ist sein Denken von der Einsicht getragen, dass es in der Geschichte steht und von dieser bedingt ist. So betont er mit Nachdruck, dass sich jede kategorische Negierung von der Überlieferung durchwegs in den Bahnen bewegt, gegen die sie sich abzustoßen gedenkt. Im Gegenzug hebt er hervor: »Die Rede vom Ende der Metaphysik darf nicht zur Meinung verleiten, die Philosophie sei mit der ›Metaphysik‹ fertig, im Gegenfall: diese muß ihr jetzt erst in ihrer Wesensunmöglichkeit zugespielt und die Philosophie selbst so in ihren anderen Anfang hereingespielt werden.« (GA 65, 173) 4 Erst im Rückgang in die Tradition kann auf unterlassene Fragestellungen, die in der Grundausrichtung der Metaphysik angelegt sind, hingewiesen und dem dort notwendig Ungedachten nachgespürt werden. Die geschichtliche Verortung des Denkens ist jedoch nicht als ein fatalistisches EingeschlosVorschnell darf Heideggers – mitunter großzügiger – Umgang mit der Tradition nicht als »Großgeschichtsschreibung« missinterpretiert werden. Haeffner weist in diesem Zusammenhang treffend auf die Grundintention Heideggers hin: »Ihm [Heidegger] kommt es nicht darauf an, die gesamte Geschichte der Metaphysik darzustellen, sondern die Geschichte der Metaphysik als Gesamtheit vors geistige Auge zu zwingen.« (Haeffner 1974, 84) 4 Ebenso versteht v. Herrmann Heideggers »Überwindung« der Metaphysik nicht als pauschale Ablehnung der Tradition oder deren Missachtung, sondern als eine radikale Neubefragung des geschichtlich Überkommenen: »Das Eigene seines [Heideggers] Denkens bestünde dann nicht in einer überwindenden Abkehr von der Metaphysik, vielmehr in einer gesteigerten Zukehr zu ihr und ihrem innersten Wesen. Das innerste Wesen der Metaphysik könnte den Blick in eine, dem bisherigen metaphysischen Denken selbst verschlossen gebliebene Möglichkeit des Denkens freigeben, die sich sogar als der Quellgrund der Metaphysik erweist.« (Herrmann 2004, 86) 3
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sensein in Überliefungsstränge gemeint. Es wird sich nämlich zeigen, dass sich die Besinnung des (anderen) Denkens gerade in einer geschichtlichen Auseinandersetzung und einem expliziten Verhältnis zur Tradition vollzieht (vgl. GA 65, 58), die sich weder als bemängelnde Kritik noch als antithetischer Gegenentwurf zur philosophischen Überlieferung versteht. 5 Angestrebt wird demnach nicht eine Überwindung der Metaphysik, die eine dem Denken inhärente Geschichtlichkeit einfach abzustreifen gedenkt und sich jenseits der Überlieferung zu situieren trachtet, sondern eine Verwindung der Metaphysik, die in die Tradition einkehrt, um von dort aus in einem gewandelten Bezug zum Erbe zu treten: »Darum muß das Denken, um der Verwindung der Metaphysik zu entsprechen, zuvor das Wesen der Metaphysik verdeutlichen. Einem solchen Versuch erscheint die Verwindung der Metaphysik zunächst wie eine Überwindung, die das ausschließlich metaphysische Vorstellen nur hinter sich bringt, um das Denken ins Freie des verwundenen Wesens der Metaphysik zu geleiten. Aber in der Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück.« (GA 9, 416) 6 Heidegger verabschiedet sich somit nicht von der Geschichte der Metaphysik, sondern beabsichtigt im Rückgang auf den philosophischen Anfang bei den Griechen, einem zukünftigen Denken den angemessenen Boden zu bereiten. Dass diese Zuwendung zum ersten Anfang sich an philosophische Einsichten der Griechen hält In seinen Lektüren klassischer Texte macht Heidegger immer wieder auf seine spezifische Zugangsart aufmerksam: »Weil es immer noch nicht verstanden, ist wieder zu sagen: Auseinandersetzung ist nicht Bemängelung, Anstreichen von Fehlern.« (GA 43, 277) Dabei grenzt er sich von jeder rein ablehnenden Kritik mit aller Deutlichkeit ab: »Als bloße Gegenbewegung bleibt sie [die antimetaphysische Tendenz, M. F.] jedoch notwendig wie alles Anti- im Wesen dessen verhaftet, wogegen sie angeht.« (GA 5, 217) 6 Figal hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Heidegger in diesem Durchgang durch die Tradition sich nicht schlechthin außerhalb der Metaphysik im Sinne eines nachmetaphysischen Denkens bewegt: »Trotz all dem will das Heideggersche Denken kein metaphysisches Endspiel sein, kein bloßes Nachzeichnen verfehlter Entwicklungen. Heidegger geht es um eine Umwendung zum Ursprung der Metaphysik – und zwar so, daß der Ursprung wirklich erfahren, das ›Anwesen‹ erstmals als solches bedacht werden kann. Gerade weil im Ende der Metaphysik eine Antwort auf das Sein in seiner Fraglichkeit ausbleiben muß, kann diese Fraglichkeit, wie Heidegger denkt, ausdrücklich werden; die Unbestimmtheit des Seins tritt als Wesenszug hervor, und so wird deutlich, daß das Sein in keiner der metaphysischen Antworten aufgeht.« (Figal 1997, 463) 5
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und sich nicht etwa auf ältere Völker und deren Denker, wie beispielsweise die Ägypter oder Babylonier, bezieht, ist weder als eine philosophiehistorische Annahme, dass sich nur dort das große Denken ablesen ließe, zu verstehen, noch eine Würdigung der kulturgeschichtlichen Errungenschaften der griechischen Antike; vielmehr ist dafür die Tragweite der Überlieferungsgeschichte der philosophischen Begrifflichkeit und der darin bereitete Boden für unser heutiges Denken verantwortlich. Laut Heidegger bewegen wir uns in dem von den Griechen eröffneten Möglichkeitsraum des Denkens, zu dem wir uns im Philosophieren unentwegt verhalten müssen. Diese notwendige Wiederholung bewegt sich jedoch nicht in den Bahnen des Immergleichen, denn die Relektüre wird sich als eine differente erweisen, die es erlaubt, die Gegenwart in einem anderen Licht zu sehen und so für Künftiges zu eröffnen. In der Zukehr zur Überlieferung verschafft sich das Denken den Freiraum von der Gegenwart und den gegenwärtigen Auslegungstendenzen, da sie in ihrer Selbstverständlichkeit fragwürdig werden, indem ersichtlich wird, dass wir es nicht mit zeitenthobenen und somit nicht weiter hinterfragbaren Grundsätzen, sondern mit geschichtlich Gewordenem zu tun haben. Erst in einer gesteigerten Einkehr in die Tradition kann dort Ungedachtes und Ungesehenes zu Tage treten. Heidegger geht es bei dieser Auseinandersetzung mit der Tradition folglich nicht um eine Rekonstruktion klassischer Texte oder um eine gelehrige Kritik an überkommenen Auffassungen. Eine so geartete Auflistung und Analyse von Fakten ohne Auswirkungen für das gegenwärtige Denken nennt er einen rein historischen Zugang; in ihm wird das Zurückliegende als längst Vergangenes und Abgeschlossenes betrachtet. Davon unterscheidet Heidegger grundlegend eine geschichtliche Besinnung, die auf den »Sinn des Geschehenden« (GA 45, 36) eingeht. Erst in einer ausdrücklichen Be-sinn-ung auf die Geschichtlichkeit kann nicht nur ihre Uneinholbarkeit einsichtig gemacht werden, sondern hierin wird auch ihr »Sinn« vernehmbar, was uns die Überlieferung zu sagen hat und es erlaubt, in ein anderes Verhältnis zur Gegenwart und damit zur Zukunft zu treten. Daher insistiert Heidegger mit Nachdruck auf dieser spezifischen Hinwendung zur Geschichtlichkeit: »Das Perfekt ist das eigentliche Präsens und dieses das Futurum.« (GA 55, 221) Eine geschichtliche und von Heidegger wörtlich verstandene »Aus-einander-setzung« (vgl. GA 66, 68) mit der Tradition erschöpft sich somit nicht in einem bloßen Selbstzweck, sondern vermag in ersA
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ter Linie das gegenwärtige Philosophieren und damit einhergehend allzu Selbstverständliches in Frage zu stellen, da sie auf die geschichtliche Herkunft gegenwärtiger Vorstellungen hinweist und so allererst die Augen für das Gegenwärtige respektive Zukünftige öffnet. Im Rückgang auf klassische Positionen ist es Heidegger nicht darum zu tun, die denkerischen Einsichten der Tradition als historischen Ballast zu verwerfen, sondern er möchte im Gegenzug auf unausgesprochene Vorannahmen hinweisen, um von dort aus auf Einschränkungen und Unterlassungen der tradierten Fragestellungen und ihren Fortentwicklungen bis in das 20. Jahrhundert aufmerksam zu machen. Damit lässt Heidegger die Geschichte der Philosophie in ihren Grundtexten und maßgeblichen Auslegungstendenzen allererst in Erscheinung treten. Geschichte ist dabei nie bloß längst Vergangenes, sondern bestimmt als Gewesenes gerade Gegenwärtiges und Zukünftiges. Die Auseinandersetzungen werden zwar – zumindest prima vista – auf historischem Boden geführt, dies geschieht aber stets im Hinblick auf Engführungen gegenwärtiger Denkgewohnheiten. Diese intensive Beschäftigung mit überkommenen philosophischen Einsichten, die maßgeblich, wenn auch oft implizit, unser Denken bestimmen, erfordert laut Heidegger den Mut, »die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen« (GA 5, 75). Doch was sind diese »eigenen Voraussetzungen«, die nun nicht mehr in ihrer Selbstverständlichkeit genommen werden sollen? Das unerschütterliche Fundament des modernen Selbstverständnisses ist die Inanspruchnahme eines souveränen Subjekts, wie es sich für Heidegger erstmals bei Descartes finden lässt. Auf diesen nicht mehr weiter hinterfragten Grundeinsichten fußt das methodische Verständnis der Wissenschaften und der gängige Zugang zur Sprache in der Gegenwart. Dieses Denken gelangt zwar erst in der Neuzeit zum Durchbruch, den Boden dafür hat aber bereits die griechische Seinsauffassung bereitet, die sich als »Ontologie des Vorhandenen« (GA 2, 220) 7 am vorliegenden Seienden hält. Die cartesianische Herangehensweise ist nach Der terminus technicus »Ontologie des Vorhandenen« kommt in Sein und Zeit öfters vor, wird aber bezeichnenderweise eindringlich und ausführlich in der Bestimmung des Existenzials der Rede behandelt: »Weil jedoch für die philosophische Besinnung der logos vorwiegend als Aussage in den Blick kam, vollzog sich die Ausarbeitung der Grundstrukturen der Formen und Bestandstücke der Rede am Leitfaden dieses Logos. Die Grammatik suchte ihr Fundament in der ›Logik‹ dieses Logos. Diese aber gründet in der Ontologie des Vorhandenen.« (GA 2, 220)
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Heidegger durch den systematischen Zusammenstand von Subjekt und Objekt gekennzeichnet. Die Gegenüberstellung dieser beiden Relata ist aber kein nachträglicher oder neutraler Vorgang, indem etwa das Ego Gegenstände erkundet und erforscht, sondern dem Subjekt wohnt ein zu problematisierender possessiver Zug inne, der alles Objekthafte in seinen eigenen Verfügungsbereich zu bringen beabsichtigt. Die Konstitution des neuzeitlichen Subjekts wird von Heidegger dabei in der Weise gedeutet, »daß der Mensch von sich aus jederzeit sich dessen versichern konnte, was allem menschlichen Vorhaben und Vorstellen das Vorgehen sichert« (GA 6.2, 130). Diese Hingerichtetheit alles Seienden auf eine subjektive Disponibilität darf nicht als ein äußerlicher Schritt verstanden werden, indem etwa in einer bloß additiven Weise zum Subjekt ein Objekt hinzukommt, sondern in der Sicherstellung der Gegenstände vollzieht sich die Selbstsicherung des Subjekts. Mit anderen Worten: Das Subjekt ist seiner selbst nur dann gewiss, indem es sich seiner Objekte bemächtigt. Einzig in der Bestandssicherung alles Gegenständlichen konstituiert sich das Subjekt. Der tragende Grund des Vorstellens eines Objekts für ein Subjekt ist dadurch charakterisiert, dass jedes Vorgestellte immer schon auf das Ego hingestellt und dieses in einer fundamentalen Weise immer mitvorgestellt ist; es bildet als zentrale Instanz die Grundvoraussetzung des Vorstellens, auf die hin alles im Voraus ausgerichtet ist. So umreißt Heidegger die Subjektivität des Subjekts mit folgenden Worten: »Das vorstellende Ich ist vielmehr in jedem ›ich stelle vor‹ weit wesentlicher und notwendiger mitvorgestellt, nämlich als dasjenige, auf das zu und auf das zurück und vor das jedes Vor-gestellte hingestellt wird.« (GA 6.2, 136) Das menschliche Ego wird in dieser Hinsicht zum sub-iectum im wörtlichen Sinne: es ist das Voraus- und Zugrundeliegende, der tragende Unterbau, auf den alles Vorgestellte hingeordnet sein muss. Es wird zum Maßstab, Mittelpunkt und Träger für jegliches Seiende. 8 Auf Heidegger bezugnehmend unternimmt Guzzoni den Versuch, die Anschaulichkeit der Rede vom Vor- und Sicherstellen in unserem gängigen Sprachgebrauch zu unterstreichen: »Diese Rede vom Stellen, vom Vorstellen, Zustellen und Sicherstellen, die zunächst abstrakt und künstlich erscheinen könnte, erweist sich, wenn wir sie wörtlich nehmen, als bemerkenswert plastisch und sprechend. Im Erstellen von Plänen und Entwürfen, im Suchen nach der Sicherheit (z. B. der sogenannten äußeren und der sogenannten inneren Sicherheit des Staates) und nach den unterschiedlichsten, einzelnen Sicherungen und Versicherungen, im Herstellen von Gegenständen und Beziehungen, im Bestellen von Regierungen und Repräsentanten, indem wir Ziele und Zwecke, Zu-
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In der cartesianischen Definition des Ego als subiectum wird nicht nur die Seinsweise des Menschen neu bestimmt, sondern auch das Sein des nicht-menschlich Seienden erfährt eine durchgreifende Neuinterpretation, da es auf fundamentale Weise vom Subjekt als Grund allen Seins abhängig ist. Das Seiende wird nur mehr in seiner sichergestellten Beständigkeit genommen und nur das solcher Art »im Vorstellen zum Stand gebrachte Begegnende ist der Gegenstand« (GA 10, 35 f.). Alles außerhalb des (prinzipiellen) Verfügungsbereichs des Subjekts, was nicht von ihm auf es hin in einer kontrollierbaren Weise zugestellt ist, ist schlichtweg inexistent. Der Mensch als Subjekt gibt nunmehr vor, wie das Objekt zu sein hat und was überhaupt als Seiendes erscheinen kann: »Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend.« (GA 5, 87) Die in der Vergegenständlichung anvisierte eindimensionale Zugangsart, die sich vornehmlich an die berechenbaren Methode der Mathematik hält, wird im Fortlaufen der in der Neuzeit propagierten Verwissenschaftlichung nicht mehr hinterfragt. Heidegger problematisiert diesen »über die Dinge gleichsam hinwegspringenden Entwurf ihrer Dingheit« (GA 41, 92) dahingehend, dass Seiendes fortan nur mehr in dem von der Methode des Mathematischen im Sinne einer Mathesis Universalis 9 vorgegebenen Raster erscheinen kann. Im mathematischen Aufriss wird die Gegenständlichkeit so umrissen, dass die Gegenstände selbst sich nur mehr in einer ganz bestimmten Weise zeigen können, nämlich hinsichtlich ihrer Voraus- und Nachberechenbarkeit, die nachdrücklich auf die Verfüg- und Verwertbarkeit für das Subjekt verweist. Die mathematische Methode ist folglich dadurch charakterisiert, dass das Ineinandergehen des Vorentwurfs von mathematischen Idealitäten und ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit zu einer durchgehenden und exakten Quantifizierbarkeit aller Qualitäten führen soll. Die Mathematik erlaubt es dem Subjekt nunmehr objektive, d. h. allgemeingültige und jederzeit nachprüfbare Aussagen zu tätigen. Das mathematische Ideal der Exaktheit der Berechenbarkeit wird nun zum Paradigma für jede wissenschaftliche
kunftsvisionen und Träumen nachstellen, – immer handelt es sich darum, daß wir von uns aus die Welt, ihre Gegenstände und Tatbestände vor uns hinstellen, sie uns vorstellen, um sicher über sie verfügen und damit uns selbst in Sicherheit wissen und erhalten zu können.« (Guzzoni 1990, 214 f.) 9 Vgl. hierzu die philologisch genauen Ausführungen zu diesem cartesianischen Schlüsselbegriff bei van de Pitte (1979) und Gerten (2001).
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Forschung und darüber hinaus für jede Inblicknahme von Seiendem überhaupt. Die Methodik der mathematischen Physik gibt den Entwurfbereich und in der Zugangsart das allgemeingültige Wie des Erscheinenkönnens von Seiendem vor: »Das Mathematisch-Logische betrifft nicht so sehr das Seiende in seinem Was als in seinem Wie […].«(GA 36/37, 69) Alles außerhalb des vom Mathematischen eröffneten Bezirks, das sich nicht seinen Gesetzmäßigkeiten und Regelhaftigkeiten unterordnet, fällt aus dem Bereich der Forschung heraus. Was nicht in das mathematische Raster passt, darf von nun an keine Wissenschaftlichkeit mehr beanspruchen. 10 Die Universalität der Wissenschaftlichkeit wird insofern eingeschränkt, dass nur mehr jene Objekte erforscht werden dürfen, von denen man überhaupt zweifelsfreie Gewissheit erhalten kann und die ohne Einschränkung von einem Subjekt beherrscht werden können. In dieser methodischen Reglementierung vonseiten des universalmathesischen Prinzipienwissens für alle Arten der wissenschaftlichen Erkenntnis von Objekten, wird folglich ein Gegenstandsgebiet dahingehend abgewandelt, dass es gemäß der wissenschaftlichen Forschung in den vorgegebenen Rahmen passt. Sollte dies nicht zutreffen, fällt es als möglicher Gegenstand aus dem wissenschaftlichen Diskurs heraus. In diesem Sinn schreibt Descartes in seiner Recherche: »[S]o wünsche ich, daß Ihr auf den Unterschied achtet, der zwischen den Wissenschaften auf der einen Seite und all jenen bloßen Kenntnissen besteht, die ohne jede vernünftige Schlußfolgerung gewonnen werden können. Von letzterer Art sind die Sprachen, die Geschichte, die Geographie und überhaupt alles, was nur von der Erfahrung abhängt.« (Descartes 1989, AT X, 502) Der proklamierte Verfahrensuniversalismus führt folglich implizit zu einem Ausschlussverfahren, da aufgrund dieser Methodenreduktion die Phänomene nicht in ihren mannigfachen Erscheinungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Die Verallgemeinerung der mathematischen Erkenntnis wird laut Heidegger seit Descartes dahingehend radikalisiert, dass sich jedes Phänomen gemäß der mathematischen Methodologie einordnen lassen muss und nur mehr ausschließ10 Descartes vermerkt hierzu in den Regulae: »Nur mit solchen Gegenständen darf man umgehen, zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis unsere Erkenntniskraft offenbar ausreicht.« (Descartes 1973, AT X, 362)
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lich innerhalb dieser methodischen Inblicknahme erscheinen kann: Nicht die Phänomene erfordern je nach ihrem (diversen) Erscheinen verschiedene methodische Zugänge, sondern die Methode bestimmt umgekehrt das Wie des Erscheinens der Gegenstände. So sind, wie das Zitat von Descartes belegt, beispielsweise die Geschichtswissenschaften oder die Sprachbetrachtung zusehends aus dem wissenschaftlichen Diskurs der Neuzeit verdrängt worden, da sie die methodischen Anforderungen von ihrem Gegenstandsgebiet her nicht mehr erfüllen konnten. 11 Weder die Geschichte noch die Sprache lassen sich als Phänomen in das Korsett mathematischer Quantifizierung drängen, ohne dass ihre gegenstandsspezifischen Eigenheiten verloren gehen. Heidegger weist immer wieder darauf hin, dass in dieser Art der Verobjektivierung jegliches Seienden dieses nicht immer vollständig und adäquat erfasst werden kann. Wird die Wissenschaftlichkeit lediglich in Hinsicht auf ihre Messbarkeit im mathematischen Sinne definiert, werden im Vorhinein nicht nur andere Zugänge, sondern damit einhergehend ganze Gegenstandsbereiche und Seinsweisen ausgeschlossen. Die scheinbar vorurteilslose Vernunft des Rationalismus, die sich vom Ballast der Tradition und der Empirie befreien will, evoziert aufgrund ihres strikten Vorentwurfs ein Ausschlussverfahren. Diese Zugangsart wird für Heidegger gerade in der Sprachbetrachtung subversiv unterlaufen, da sich Sprache nicht in das Raster des Mathematischen im Sinne einer Ontologie der Vorhandenheit einordnen lässt. Sprache wird sich als das »Phänomen« erweisen, das gerade nie restlos vergegenständlicht und somit als ein Objekt sichergestellt werden kann. So schreibt Heidegger in Unterwegs zur Sprache: »Wir sprechen und sprechen von der Sprache. Das, wovon wir sprechen, die Sprache, ist uns stets schon voraus.« (GA 12, 168) In der Sprache leben und denken wir immer schon; sie ist in gewisser Weise Voraussetzung für unser Tun und Handeln – und nicht umgekehrt. Daher gelingt es nicht, Sprache im Sinne eines verobjektivierten Gegenstands zu betrachten. Die Widerspenstigkeit des Phänomens beschwört eine Neubesinnung der gesamten Zugangsart herauf, welche die gängige Auslegungstendenz in sich zusammenbrechen lässt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass laut Heidegger der Frage nachgegangen werden muss, ob eine anthropozentrische und inAuf dieses Ausschlussverfahren der Wissenschaften haben die Ausführungen von Otto (1985) und Vetter (2000) besonders aufmerksam gemacht.
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strumentalistische Deutung der Sprache gerecht werden kann. Die sich in der Tradition immer stärker herauskristallisierende Tendenz einer Vergegenständlichung der Sprache ist aufs Engste mit dem metaphysischen Seinsverständnis und der daraus resultierenden mathematischen Methode verknüpft. Alles Seiende – und somit auch die Sprache – wird in dingontologischen Auslegungsbahnen im Voraus als ein dem menschlichen Subjekt entgegenstehendes Objekt verstanden. Im so genannten vor-stellenden Denken diktiert das Subjekt allem Gegenständlichen die Art des Erscheinens. In dieser Bestandssicherung versichert sich, wie Heidegger in seiner Lektüre Descartes’ zeigt, das Subjekt seiner selbst. Doch die Seinsweise der Sprache, die dem menschlichen Tun auf eine merkwürdige Art vorausgeht, lässt sich nicht als Gegenstand umgrenzen. Sie entzieht sich immer wieder der menschlichen Verfügungsgewalt. Dieser Entzug zwingt Heidegger dazu, das tradierte Seinsverständnis und die darin enthaltenen Auslegungstendenzen des Menschen und des Seienden neu zu überdenken. Am Leitfaden des Phänomens Sprache eröffnet sich so ein Weg, der auf ein anderes Denken verweist. Diesem Verweis kann laut Heidegger aber nur dann in einer adäquaten Weise nachgespürt werden, wenn damit eine geschichtliche Auseinandersetzung mit den überlieferten Vorstellungen von Sprache einhergeht. Darunter ist weder eine pauschale Ablehnung noch eine rein destruktive Kritik gemeint; vielmehr gilt es laut Heidegger dem Anfang der Geschichte gerade deswegen nachzugehen, um die Ausprägung der ontologischen Grundbegriffe deutlich zu machen und sich von dort her Alternativen für ein zukünftiges Denken aufgeben zu lassen. So betont Heidegger immer wieder die Notwendigkeit eines behutsamen Umgangs mit der Tradition: »Die Loslösung duldet jedoch keinen Gewaltstreich, weil die Überlieferung reich an Wahrheit bleibt.« (GA 12, 191) In der Hinwendung zur Überlieferung verschafft sich das Denken den Freiraum von tradierten Auslegungstendenzen, der sie in ihrer Selbstverständlichkeit fragwürdig werden lässt. Dadurch wird ersichtlich, dass wir es nicht mit zeitenthobenen Grundsätzen, sondern mit geschichtlich Gewordenem zu tun haben. Erst im Zurückgehen in die Geschichtlichkeit eröffnet sich somit Zukünftiges. Dieser Rückgang soll nun anhand der wirkmächtigen Sprachbestimmung von Aristoteles nachgezeichnet werden.
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b) Das metaphysische Bild der Sprache – Heideggers Rückgang auf Aristoteles Worin besteht das herkömmliche Bild der Sprache, das Heidegger in Frage stellt, und wie zeigt sich darin ihre spezifische Geschichtlichkeit? Gemeinhin wird angenommen, dass Sprache intersubjektive Kommunikation mittels sinnlich wahrnehmbarer Zeichen, wie z. B. die stimmliche Verlautbarung oder die Schrift, ermöglicht. Die Zeichensätze sind jedoch keine beliebigen, denn nicht jeder Laut und nicht jeder Strich kann als Sprache interpretiert werden, sondern sprachliche Zeichen müssen bedeutungshaft sein, um Sinn vermitteln zu können. Die Bedeutungshaftigkeit der Zeichen ist entweder von Natur gegeben oder – was weit öfter propagiert wurde – durch Konvention garantiert. 12 Durch die korrekte, logisch-grammatische Anwendung eines Zeichencodes lassen sich Gedanken, Gefühle oder sonstige psychische Vorgänge mehr oder weniger angemessen und für andere Individuen, denen die Sprache gelehrt wurde, dechiffrierbar ausdrücken. Die Sprache ist somit ein bewährtes Werkzeug für den Informationsaustausch, das diversen Bedürfnissen angepasst werden kann und in Form von unterschiedlichen Zeichensystemen flexibel handhabbar ist. 13 Neben den diversen Laut- und Schriftsprachen (deutsch, englisch, italienisch Den locus classicus dieser beiden Positionen stellt Platons Dialog Kratylos dar. Sokrates und seine beiden Gesprächspartner Kratylos und Hermogenes gehen dort der Frage nach, worin die Richtigkeit der Namen (orthotes ton onomaton) – nicht nur der Eigennamen, sondern der Wörter überhaupt – gründet und worauf die Angemessenheit der Benennungen im Verhältnis zwischen Wort und Sache fußt. Entweder beruht die Sprache auf konventionellen Setzungen – so die These Hermogenes’ (vgl. Krat. 384 d–e) – oder sie stützt sich auf eine natürliche Affinität zu den Dingen – wie Kratylos (vgl. Krat. 383 a–b) behauptet –, bei der die Sprache den Dingen mehr oder weniger ähnlich ist. Ob es nicht eine Alternative zwischen physis und thesis gibt, muss hier noch offen gelassen werden. 13 Die »Sprache« der Tiere wird traditionell nur bedingt mit der menschlichen Sprache verglichen. Darauf wird hier und im Folgenden nicht näher eingegangen, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Für eine phänomenologische Kritik an einer uneingeschränkten Ausweitung des Sprachbegriffs vgl. Esterbauer (2005). Bemerkt sei, dass eine strikte Trennung zwischen Tier und Mensch laut Günther gerade in der griechischen Antike nicht in Anspruch genommen werden kann: »Der antike Mensch definiert sich von vornherein nicht als Herr der Schöpfung, als vom Tier wesenhaft verschiedenens göttliches Ebenbild, er definiert sich überhaupt nicht so sehr in Abgrenzung zum Tier, sondern gerade in Abgrenzung zu Gott, als von Gottes Ewigkeit und Macht wesenhaft unterschiedener machtloser, vergänglicher Sterblicher, d. h. als ein 12
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Das metaphysische Bild der Sprache – Heideggers Rückgang zu Aristoteles
etc.) gibt es noch andere, stellvertretende Zeichensysteme, wie z. B. das Morsealphabet, die Flaggenzeichen oder die Trommelsprache. Gemäß der aristotelischen Bestimmung verfügt einzig der Mensch als zoon logon echon (vgl. Pol. 1253 a; De gen. an. 786 b) – im Unterschied zu allen anderen Lebewesen – über Sprache. Für Heidegger berücksichtigt diese gängige Deutung das Phänomen jedoch nicht in einer adäquaten Weise, da in ihr die Reduktion der Sprache auf ein bloßes Instrumentarium der Informationsvermittlung, über das der Mensch nach Belieben verfügt, angelegt ist. Die Auffassung, dass die Sprache als Kommunikationsmedium fungiert, ist nicht bloß eine Interpretation, die sich in der momentan gängigen Sprachauffassung findet, sondern sie besitzt eine bestimmte Wirkungsgeschichte, die es zu berücksichtigen gilt: »Jede Sprache ist geschichtlich, auch dort, wo der Mensch die Historie im neuzeitlich-europäischen Sinne nicht kennt. Auch die Sprache als Information ist nicht die Sprache an sich, sondern geschichtlich nach dem Sinn und den Grenzen des jetzigen Zeitalters, das nichts Neues beginnt, sondern nur das Alte, schon Vorgezeichnete der Neuzeit in sein Äußerstes vollendet.« (GA 12, 253) Heidegger hebt in diesem Zitat nachdrücklich hervor, dass die anthropozentrisch-instrumentalistische Deutung der Sprache nicht geschichtslos ist, sondern einen bestimmten Ausgangspunkt besitzt, dessen sie sich nicht mehr bewusst zu sein scheint. Sprache wird dabei von »den Grenzen des jetzigen Zeitalters«, d. h. von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, dessen Herkunft und Genese es offenzulegen gilt. Darüber hinaus reizt diese gängige Auffassung die geschichtlich angelegten Wesensmöglichkeiten aus, indem sie das in der metaphysischen Tradition Angelegte auf einen (nicht chronologisch zu verstehenden) Endpunkt bringt. Das Zitat besagt indirekt aber auch, dass wir es bei dieser Sprachbetrachtung nicht mit überzeitlichen und unveränderbaren Gesetzmäßigkeiten zu tun haben. Diese – zu selbstverständlich gewordene – Position der Auslegung kann durch eine geschichtliche Besinnung hinterfragt werden. In diesem Sinne hält Heidegger fest: »Wir kommen schon gar nicht mehr auf den Gedanken, daß all das, was wir alle längst und genug kennen, anders sein könnte, daß jene grammatischen Formen nicht seit Ewigkeiten wie ein Absolutes die Sprache als solche zergliedern und regeln, daß sie vielmehr aus einer bestimmten Ausuntergeordneter, einbegriffener Teil des Weltganzen, nicht als aus dem Weltganzen Herausgehobener und ihm Gegenübertretender.« (Günther 2001, 271 f.) A
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legung der griechischen und lateinischen Sprache erwachsen sind.« (GA 40, 57) Die Einsicht in die Geschichtlichkeit legt die Vermutung nahe, dass es in der Geschichte oder in der Zukunft auch andere Auslegungen des Phänomens gegeben hat oder geben kann. Diese anderen Zugänge können sich aber nur dann eröffnen, wenn das tradierte Sprachverständnis durchdacht wird. Den Ausgangspunkt von Heideggers Überlegungen bildet daher ein Rückgang zu den Quellen, aus denen dieses Sprachbild entspringt. Um eine erste, wenn auch noch nicht vollends zureichende Einsicht von dem zu erhalten, was und wie Sprache ist, ist es notwendig, den für die Wirkungsgeschichte entscheidenden Ausgangsorten und Weichenstellungen nachzuspüren. Den Ausgangspunkt von Heideggers Überlegungen bildet die aristotelische Sprachbestimmung, welche die »griechische Kennzeichnung des Sprachwesens […] in die maßgebende Umgrenzung bringt« (GA 12, 192) und »durch die Jahrhunderte im abendländisch-europäischen Denken die tragende und leitende geblieben« (GA 12, 234) ist. Die vielfältige und oft implizite Auseinandersetzung mit diesem klassischen Denken der Antike soll nun nachgezeichnet werden, um ausgehend von diesem Subtext die Stoßrichtung der Heidegger’schen Kritik eingehender verorten zu können. 14 Aristoteles hat – so weit sein Œuvre überliefert worden ist – keine eigene Abhandlung über die Sprache verfasst. Bemerkungen zur Sprache finden sich verstreut in mehreren seiner Werke; so steht dabei neben der Poetik, Rhetorik, Historia Animalium oder den beiden Analytiken immer wieder die Schrift Peri Hermeneias (De interpretatione) im Brennpunkt des »sprachphilosophischen« Interesses. 15 Dort wird In dieser Auseinandersetzung geht es Heidegger nicht so sehr um Aristoteles selbst, sondern um den Aufweis der wirkungsgeschichtlichen Konsequenzen dieser Sprachauffasung (vgl. GA 12, 234). Für eine andere Sichtweise auf Aristoteles – durchaus auch mit den Augen Heideggers – plädieren Wieland (1960) und Fédier (1985). Eine genaue Rekonstruktion der Heidegger’schen Kritik am traditionellen Sprachverständnis liefert von Herrmann (1999, 211–228). 15 Aus philologischer Sicht konstatiert Ax in seiner sonst kenntnisreichen Erörterung über die aristotelische Sprachauffassung eine unsystematische, ja geradezu unreflektierte Inblicknahme des Sprachphänomens, das lediglich im Zusammenhang mit anderen Themenfeldern abgehandelt wird: »Bei einer Sammlung thematisch gleicher Stellen aus dem Werk des Aristoteles stößt man immer wieder auf fließende Übergänge, unklare Terminologie und sogar gravierende Widersprüchlichkeiten. […] Außerdem geht es Aristoteles […] nicht um die Entwicklung einer vollständigen, expliziten und wider14
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Das metaphysische Bild der Sprache – Heideggers Rückgang zu Aristoteles
aber nicht in erster Linie die Sprache im Allgemeinen untersucht, sondern es werden – wie Aristoteles gleich zu Beginn der Abhandlung festhält – die Regeln zur Bildung eines Satzes sowie die Verbindung von Satzteilen zu Urteilen beleuchtet. Die Grundlegung der vorherrschenden Sprachauffassung in der abendländischen Tradition vollzieht sich nach Heidegger in dem knappen, aber umso wirkmächtigeren zweiten Absatz der genannten Abhandlung. Die dort vorgenommene Bestimmung der Sprache, die in einer verkürzten Auslegung für einen Großteil der abendländischen Sprachphilosophie prägend wirkte, gibt aufgrund ihrer Dichte immer wieder Anlass zu neuen, sehr divergierenden interpretatorischen Anläufen. 16 Anhand der einschlägigen Übersetzung dieses Passus von Eugen Rolfes ist es möglich, exemplarisch die schulmetaphysischen Auslegungstendenzen nachzuzeichnen: »Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen [symbola] der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen [te psyche pathemathon], und die Schrift ist wieder ein Zeichen [symbola] der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen [Menschen, M. F.] dieselben. Was aber durch beide [Verlautbarungen und Schrift, M. F.] an erster Stelle angezeigt wird [wörtl.: wofür sie Zeichen [semeia] sind, M. F.], die einfachen seelischen Vorstellungen [pathemata tes psyches], sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder [homoiomata] die Vorstellungen sind.« (De int. 16 a 3–8; Übers. Rolfes) 17 spruchsfreien Sprachtheorie, sondern um biologische, physikalische oder politische Probleme, bei deren Behandlung sprachtheoretische Notizen mit abfallen.« (Ax 1978, 266) Für Xiropaidis hingegen steht hinter dem Faktum, dass Aristoteles der Sprache keine durchgehende Abhandlung widmete, die tiefreichende philosophische Überlegung, dass Sprache aufgrund ihrer universalen ontologischen Rolle nicht ontifiziert und in einen gesonderten Bereich abgeschoben werden dürfe: »[D]ie spärlichen Bemerkungen des Aristoteles über die Sprache [implizieren] nicht unbedingt eine naive Haltung gegenüber dem so entscheidenden Phänomen der Sprache […], sondern eher ein Wissen davon, daß die Sprache nicht so ins Thema gehoben werden kann wie ein Seiendes oder ein Gebiet des Seienden, daß also die Frage nach der Sprache in das Fragen nach dem Sein hineingehört.« (Xiropaidis 1991, 114) 16 Stellvertretend für viele vermerkt etwa Ackrill im Nachwort der Oxford-Ausgabe zu Peri Hermeneias den interpretatorischen Notstand: »This account of the relation of the things in the world, affections in the soul, and spoken and written language is all too brief and far from satisfactory.« (Ackrill 1985, 113) Einen guten Überblick über die diversen Auslegungstendenzen der aristotelischen Sprachauffassung gibt Hennigfeld (1994, 71–103). 17 Die Rolfes’sche Übersetzung wurde nicht nur deshalb gewählt, weil sie auf eine marA
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Bei einer der metaphysischen Tradition verpflichteten Interpretation dieser Textstelle lässt sich zunächst einmal festhalten, dass Aristoteles in seiner Sprachbetrachtung zwischen drei voneinander getrennten Bereichen unterscheidet, nämlich zwischen einer an sich seienden Wirklichkeit, den innerseelischen Vorgängen des Menschen und dem Zeichensystem der Sprache. Die reale Welt und der mentale Bereich sind dabei nicht sprachlich verfasst. Die Sprache als gesonderter Gegenstandsbereich steht für etwas, das sie gerade selbst nicht ist; ihre Bedeutung erhält sie nachträglich in Bezug auf das, was sie in (materieller) Form von stimmlicher Verlautbarung oder geschriebenen Buchstaben repräsentiert. Wie sind diese für sich getrennten Bereiche miteinander verbunden? Gemäß Aristoteles (oder genauer gemäß der wirkungsgeschichtlichen Interpretation Aristoteles’) lässt sich die Sprache offensichtlich über ein mehrfaches Abbild-Verhältnis erklären: Die Schrift fungiert als Zeichen für die Verlautbarung, die Laute sind Zeichen für die (subjektiven) Vorstellungen der Seele und diese sind wiederum Zeichen für die real existierenden Dinge. Die Sprache als Stimme oder als Schrift wird somit als Endprodukt eines mehrfachen Repräsentationsverhältnisses von den realen Dingen der Außenwelt und den davon affizierten Denkinhalten des menschlichen Bewusstseins innerhalb einer Abbildungskette angesehen. Namhafte Interpreten haben auf das semiotische Dreieck zwischen Welt – Seele – Sprache hingewiesen. 18 kante Weise Aristoteles vor einem metaphysischen Hintergrund interpretiert, sondern weil sie auch die im deutsprachigen Raum am weitesten verbreitete ist, da sie in der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlags abgedruckt wurde. Noch deutlicher tritt das metaphysische Grundverständnis in der ebenfalls im Meiner-Verlag zugänglichen Übersetzung von Zekl zu Tage: »Es ist nun also das zur Sprache Gekommene Ausdruck von Vorgängen im innern Bewußtsein, so wie das Geschriebene (Ausdruck) des Gesprochenen. Und so, wie nicht alle die gleichen Buchstaben haben, ebenso auch nicht die gleichen Lautäußerungen; wovon allerdings, als seelische Ersterfahrungen, dies die Ausdrücke sind, die sind allen gleich, und die Tatsachen, deren Abbilder diese sind, die sind es auch.« (De int. 16 a 3–8; Übers. Zekl) Heidegger selbst hat diese Stelle mehrmals übersetzt; gleich zweimal und auf höchst unterschiedliche Art und Weise in Unterwegs zur Sprache (vgl. GA 12, 192 und 233). Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Inwiefern Aristoteles auch eine andere Sprachauslegung zugeschrieben werden kann, habe ich andernorts zu zeigen versucht (vgl. Flatscher 2005b). 18 In der für den deutschen Sprachraum maßgeblichen Ausgabe Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung im Akademie-Verlag, in der Hermann Weidemann neben der diffizilen Übertragung von Peri Hermeneias einen erhellenden Kommentar liefert, wird
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Die Textstelle evoziert geradezu ein Modell eines kausalen Nacheinanders der Bereiche Welt, Seele und Sprache. Eine Trennung zwischen den sprachlichen Zeichen in Form von Verlautbarung oder Schrift auf der einen und den intelligiblen Bedeutungen bzw. der existierenden Außenwelt auf der anderen Seite wird bei Aristoteles anscheinend nachhaltig unterstrichen. In diesem Modell wird auch die Sprachvielfalt eingängig erklärt: Zwar beziehen sich alle Menschen auf dieselbe Realität und besitzen davon auch adäquate Vorstellungen, doch dies kann sich je nach Sprachgemeinschaft in Wort und Schrift unterschiedlich manifestieren. Sprache bildet somit nicht von Natur aus (vgl. De int. 16 a 27) die Welt ab, sondern erst aufgrund einer intersubjektiven Übereinstimmung (kata syntheken; De int. 16 a 19). Gerade der Umstand, dass die Schrift als letztes Glied dieser Abbildungskette angeführt wird, suggeriert eine Art von Abmachung über die jeweiligen sprachlichen Zeichen, da es nahe liegend scheint, dass man sich über dieses oder jene Zeichen für eine bestimmte Bedeutung einigen kann. Die einzelnen alphabetischen Zeichen fungieren lediglich als formale Platzhalter, deren semantische Bedeutung erst nachträglich bestimmt werden muss. Ob nun in der Buchstabenschrift ein lateinisches »g« oder ein griechisches gamma verwendet wird oder die Bedeutung des Baumes als »tree« oder »albero« bezeichnet wird, beruht nur auf einer bestimmten Konvention und ist dem eigentlichen Inhalt gegenüber äußerlich. Dass aber jede Absprache immer schon Sprache voraussetzt und somit die Frage nach der Sprache unbeantwortet lässt, wird in dieser Betrachtungsweise nicht weiter bedacht. In dieser verkürzten Annäherung an die Sprache wurde Aristoteles immer wieder eine (radikal-)konventionalistische Sprachauffassung zugeschrieben. 19 Die Übersetzung von Eugen Rolfes dient an dieser Stelle dazu, sichtbar zu Tage treten zu lassen, wie Aristoteles wirkungsgeschichtlich (miss-)verstanden wurde und wird. Auffallend ist hierbei die un-
dieser interpretatorische Ansatz des semiotischen Dreiecks beispielsweise übernommen (vgl. De int., Übers. Weidemann 149). 19 Für Zekl scheint dies ausgemacht zu sein: »[E]r [Aristoteles] ergreift eindeutig Partei für die Konventionstheorie, das ist so klar wie trivial.« (Zekl 1998, XLII) Weit vorsichtiger äußert sich dazu Hennigfeld: »Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Sprachauffassung des Aristoteles nicht einfach mit einer konventionalistisch-instrumentellen Zeichentheorie gleichzusetzen ist – wie es überhaupt verfehlt ist, von einer ›Sprachtheorie‹ des Aristoteles zu reden.« (Hennigfeld 1994, 100) A
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differenzierte Wiedergabe von den griechischen Termini symbola, semeia und homoiomata als Zeichen bzw. Abbilder, ohne diese Synonymsetzung bzw. den Zeichen-, Symbol- oder Abbildcharakter der Sprache weiter zu klären. Vorschnell werden die Begriffe wie Symbol oder Zeichen mit herkömmlichen Bedeutungen überfrachtet, da diese Auslegungstendenz gut in unser herkömmliches Schema von Sprache passt. Die angeführte Stelle legt die Auslegung eines repräsentationalistischen Abbildverhältnisses nahe, in dem die für sich seiende Realität mentale Eindrücke beim Menschen hinterlässt, die anschließend in Form von Ausdrücken artikuliert werden können, dies aber nicht müssen. 20 Auch die Aristoteles immer wieder zugeschriebene Konventionalitätsthese müsste bei einer genauen Auslegung der aristotelischen Sprachbetrachtung hinterfragt werden. 21 Obwohl Heidegger mehrere Hinweise gibt, wie Aristoteles gerade in Bezug auf die Sprachauffassung auch grundlegend anders ausgelegt werden könnte, soll im Folgenden die Rezeption einer metaphysischen Sichtweise im Vordergrund stehen, um deutlicher in den Blick zu rücken, gegen welche in der Tradition vorwiegend wirksame Interpretation der Sprache sich Heidegger abzusetzen gedenkt. Heidegger konstatiert bei Aristoteles wirkungsgeschichtlich höchst folgenreiche AusSo verbaut sich Zekl mit der Vorstellung eines physischen Abdrucks – er zieht das platonische Beispiel (vgl. Theait. 191 c ff.) mit der Wachstafel zur Illustration heran – meiner Ansicht nach den Zugang zu einem adäquaten Verständnis von Aristoteles (vgl. Zekl 1998, 272). 21 Coseriu distanziert sich in seiner Aristoteles-Deutung beispielsweise aus zwei Gründen von einer konventionalistischen Interpretation des kata syntheken: zum einen verwendet Aristoteles »keinen der traditionellen Ausdrücke, die ihm sicherlich wohlbekannt waren, weder ethei noch nomo, noch homologia oder xyntheke. Daß er einen neuen Ausdruck wählt, nämlich kata syntheken, deutet darauf hin, daß er auch etwas bisher nicht Gesagtes sagen wollte«; zum andern gebraucht Aristoteles keinen »Dativ (syntheke), was eine kausale Lesart nahe legen würde«, sondern in Verbindung mit dem kata einen Akkusativ. »Eine kausale Interpretation wie ›aufgrund von‹ ist also auszuschließen.« (Coseriu 2003, 75 f.) Nicht zugestimmt werden kann aber Coserius positiver Interpretation, das kata syntheken als geschichtlich-innerzeitliches Datum im Sinne »aufgrund historischer Überlieferung« (Coseriu 2003, 78) zu deuten; vielmehr muss es in einem vollkommen anderen Sinn als immer schon Übereingekommensein verstanden werden. Heidegger schreibt die Konventionsthese nicht Aristoteles selbst, sondern der verengenden Interpretation in der Folgezeit zu: »Der niemals rein aus ihm selbst und seiner Herkunft entfaltete Bezug des Zeigens zu seinem Gezeigten wandelt sich in der Folgezeit zu der durch Abrede ausgemachten Beziehung zwischen einem Zeichen und dessen Bezeichnetem.« (GA 12, 233 f.) 20
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legungstendenzen für die metaphysische Sprachauffassung. Für ihn war das griechische Seinsverständnis für die verengte Sicht auf das Sprachphänomen dafür verantwortlich, dass es lediglich unter dem bestimmten Blickwinkel des folgerichtigen Denkens (episteme logike) und eingegrenzt auf ein bestimmtes Gegenstandsgebiet des vorliegenden Zeichenbestands (grammatike techne) gesehen wurde. Dieser methodische Vorgriff bestimmt laut Heidegger fortan in der gesamten abendländischen Tradition die Inblicknahme der Sprache, die gerade nicht mehr als Sprache zur Geltung gelangt, sondern unter das »Joch« der Logik und Grammatik gestellt wird. Wodurch ist diese in der abendländischen Tradition leitend gewordene logisch-grammatische Auffassung der Sprache (vgl. GA 36/37, 102–107) im Anschluss an das griechische Seinsverständnis für Heidegger näher bestimmt? Die Trennung in die Bereiche Welt/Sache (pragma) – Bewusstsein/Bedeutung (noema) – Sprache/Wortlaut (phone), bei der die beiden ersten Bezirke sprachunabhängig sind, evoziert ein Abhängigkeitsverhältnis der Sprache von der menschlichen Vernunft, in welchem sie lediglich als Ausdrucksform für das Denken fungiert und intelligible Inhalte von innerseelischen Vorgängen auch nach außen hin repräsentierbar macht. Die Sprache besitzt in diesem Modell jedoch keine Eigenständigkeit mehr, sondern geht vollends in der instrumentellen Funktion des Bezeichnens auf und wird stets von einem Dritten her – nämlich vom menschlichen Bewusstsein respektive von der gegebenen Außenwelt – verstanden. Diese vermeintliche Abkünftigkeit der Sprache wird von Aristoteles auch noch an anderer Stelle (vgl. De sensu 437 a 4–17) unterstrichen, in der die Benennung dem Verstand als nachgeordnet und unwesentlich aufgefasst wird. Die Sprache hat dabei keine notwendige Vermittlungsfunktion für das Noetische inne, sondern fungiert nur mehr in einer akzidentiellen Art und Weise (kata symbebekos). Darüber hinaus interpretiert Aristoteles die Artikulation (phone) als das Materialhafte (hyle) des logos (vgl. De gen. an. 786 b 19 ff.), das implizit ein ideelles eidos voraussetzt. Die Verlautbarung als Bezeichnendes wird somit in Hinblick auf einen dahinterstehenden Sinn – das Bezeichnete – auslegt. Die Sprache als materieller Bedeutungsträger steht bloß für die intelligiblen Einsichten oder für die real existierenden Dinge. Nur der leichteren Handhabe wegen operieren wir mit Zeichen und Wörtern. Auch diese instrumentelle Auslegungstendenz lässt sich bei Aristoteles finden: »Man kann bei den Unterredungen nicht die Dinge selbst hernehmen, sondern gebraucht statt A
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ihrer, als ihre Zeichen, die Worte.« (Soph. elench. 165 a 6 f.) 22 Die Wörter und damit die Sprache insgesamt gehen offensichtlich rein in ihrem Verweisungscharakter auf, indem sie selbst nichts bedeuten, sondern lediglich für etwas stehen. Heidegger umreißt diese Auffassung von Sprache, die für ihn in der abendländischen Philosophiegeschichte leitend geblieben ist, folgendermaßen: »Denn die Sprache ist ja offensichtlich nur ein Weg zur Verständigung, ein Weg des Verkehrs, ein Werkzeug des Austausches, ein Werkzeug der Darstellung; sie ist immer ein Mittel zu etwas anderem, immer nur das Nachträgliche, das Zweitrangige, Hülse und Schale der Dinge, aber nicht deren Wesen selbst.« (GA 38, 16) Nicht nur dieser Satz liest sich wie eine Kommentarstelle zu Aristoteles, sondern es finden sich darüber hinaus zahlreiche weitere Belege in diversen Vorlesungen Heideggers gerade aus den 1930er Jahren, die sich als unmittelbare Zeugnisse einer tiefen Auseinandersetzung mit der griechischen Sprachauffassung verstehen lassen. Die Sprache erhält im Laufe der sich traditionell immer stärker etablierenden instrumentellen Deutung, als sekundäres Produkt des menschlichen Intellekts, eine stark erkenntnisrelativierende, ja erkenntnisstörende Schlagseite. Die eigentliche Einsicht in das Wesen der Dinge ist zwangsläufig an ein sprachnacktes Denken rückgebunden. 23 Sie vollzieht sich nach Aristoteles bei allen Menschen auf dieselbe Weise. Ganz unterschiedlich können jedoch diese Einsichten dann sprachlich vermittelt werden. Hieraus erklärt sich für Aristoteles auch die Mannigfaltigkeit der Sprachen. Die Sprache wird somit in der TraHeidegger wendet sich an anderer Stelle dezidiert gegen die wirkmächtige Interpretation des Zeichens bei Aristoteles als bloßer Bedeutungsträger, der ausschließlich für etwas steht und so auf etwas verweist. Das Zeichen muss Heideggers Auffassung nach bei den Griechen (und so auch bei Aristoteles) vom Zeigen her verstanden werden, das nicht nachträglich etwas indiziert, sondern allererst etwas offenbar macht (vgl. GA 12, 233). Der Bruch mit diesem Verständnis des Zeichens vollzieht sich nach Heidegger erst in der Stoa. 23 Im Kratylos plädiert Platon – um der Wahrheit willen – für einen Ausschluss der Sprache aus dem noetischen Bereich, da in ihr das Denken immer wieder fehlerhaft repräsentiert wird: »Sondern offenbar muß etwas anderes aufgesucht werden als Worte, was uns ohne Worte offenbaren kann, welche von diesen beiden [Erklärungsversuchen, M. F.] die richtigsten sind, indem es uns nämlich das Wesen der Dinge zeigt. […] Es ist also doch möglich […], die Dinge kennenzulernen ohne Hilfe der Worte […], daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie selbst man sie erforschen und kennenlernen muß als durch die Worte.« (Krat. 438d – 439b). 22
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dition gerade nicht als Sprache in den Blick genommen, sondern als eine – wenn auch wichtige und ihn auszeichnende – Tätigkeit des menschlichen Intellekts interpretiert. Sie gerät in die Dependenz des Noetischen oder, wie Heidegger nachdrücklich an mehreren Stellen unterstreicht, unter die »Herrschaft der Logik« (vgl. GA 38, 13–22). Dieser logische Blickwinkel ist in der Folgezeit für alle Sprachphilosophie prägend, denn ein Satz ist nur dann angemessen, wenn er einen konstatierten Sachverhalt korrekt darstellt. Aristoteles weist zwar darauf hin, dass es verschiedene Weisen des Sprechens gibt, wie beispielsweise das Bitten (vgl. De int. 17 a 4), aber auch das Fragen, Wünschen oder das Befehlen. Auch diese Formen des Sprechens geben etwas zu verstehen und sind bedeutungshaft (esti de logos hapas men semantikos; De int. 17 a 1), doch nur die Aussage, der logos apophantikos, ist ausdrücklich entdeckend. Der Aussagesatz, der in sich die Tendenz des Aufzeigens hat, gibt an, »wie sich eine Sache verhält« (GA 38, 1). Allein dieser Logos, der den Aufweis von Wirklichkeit oder Sachverhalten erbringt, ist laut Aristoteles wahrheits- oder falschheitsfähig (to aletheuein e pseudesthai; De int. 17 a 2 f.). In diesem explizit aufzeigenden logos werden Sachverhalte festgestellt, indem einem Subjekt Prädikate zu- oder abgesprochen werden. Nur diesen beschreibend-darstellenden Sätzen, die den logischen Gesetzen gemäß zu bilden sind, wird die Funktion zugestanden, den Sachverhalt in einer eindeutig verifizierbaren Weise zu repräsentieren. 24 Die Frage nach der Wahrheit bezieht sich bei Aristoteles folglich nicht mehr auf das Wort oder auf die Sprache im »Allgemeinen« in ihren verschiedenen For24 So deponiert Aristoteles im Zusammenhang mit der Erörterung des Widerspruchsatzes als sicherstes Denkprinzip (vgl. Met. 1005 b 17 ff.) die Forderung nach einer logisch eindeutigen Sprache: »Könnte dies [für den Begriff (logos) einen Namen (onoma) zu setzen, M. F.] aber nicht geschehen, sondern behauptete vielmehr jemand, das Wort bezeichne unendlich vieles, so wäre offenbar keine Rede möglich, denn nicht ein Bestimmtes bezeichnen ist dasselbe wie nichts bezeichnen; bezeichnen aber die Worte nichts, so ist die Möglichkeit der Unterredung mit anderen aufgehoben, in Wahrheit auch die Unterredung mit sich selbst. Denn man kann gar nichts denken, wenn man nicht Eins denkt; ist dies aber der Fall, so würde man auch für diese Sache einen Namen setzen können. So mag es denn bei dem zu Anfang ausgesprochenen Satze verbleiben, daß das Wort etwas bezeichne, und zwar Eines bezeichne.« (Met. 1006 b 5 ff.) Ausgehend von dieser Überzeugung scheint es nicht verwunderlich zu sein, wenn in der Folgezeit die Forderung nach einer eindeutig-exakten Sprache im Sinne einer künstlichen Universalsprache erhoben wurde. Dieser wird Heidegger die Vieldeutigkeit im Sinne der Unerschöpflichkeit des Wortes entgegenhalten (vgl. GA 52, 14 f.).
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men, sondern ausschließlich auf den Aussagesatz, dessen logischer Gehalt im Brennpunkt des Interesses steht. 25 Diese einseitige Betonung des Aussagesatzes ist für Heidegger dafür mitverantwortlich, dass Sprache nunmehr aus der verengten Perspektive der Logik und innerhalb des Horizonts des folgerichtigen Denkens und der korrekten sprachlichen Abbildung betrachtet wurde. 26 Damit einhergehend vollzieht sich auch ein Wandel der Wahrheitsauffassung. Wahr-sein besagt dieser Auffassung zufolge nicht mehr aus einem lichtend-verbergenden Geschehen in die Unverborgenheit hereinstehen (a-letheia), sondern es bedeutet die richtige oder falsche Darstellung der Sachverhalte im Aussagesatz. Der Ort der Wahrheit wird bei Aristoteles somit in das Urteil verlagert. Daher kann Heidegger sagen: »Aber erst Aristoteles gibt [im Verhältnis zu Platon 27 ] die deutlichere metaphysische Auslegung des logos im Sinne des Aussagesatzes.« (GA 40, 62) Die Gesetze Bereits bei Platon wurde diese, für uns selbstverständlich gewordene Verlagerung der Wahrheitsfrage vom Namen/Wort auf den Satz vorgenommen. Im Kratylos wird zumindest noch die Frage gestellt, worin die Richtigkeit der Namen (orthotes ton onomaton) – nicht nur der Eigennamen, sondern der Wörter überhaupt – gründet und worauf die Angemessenheit der Bennennungen im Verhältnis zwischen Wort und Sache fußt. Im Sophistes (bzw. im Theaitetos) richtet sich das Interesse Platons auf den aus verschiedenen Wortarten zusammengesetzten Satz und dessen repräsentierendes Verhältnis zur Wirklichkeit. 26 Ebenso kritisch konstatiert Hennigfeld die Einschränkung der Sprache überhaupt auf den Horizont der Logik: »Problematisch (und überhaupt nicht selbstverständlich) wird es jedoch, wenn man die Sprache als Ganze nur noch unter dem verengten Blickwinkel der Logik sieht und bestimmt. Das wird, initiiert von Aristoteles, in der nacharistotelischen Geschichte der Sprachphilosophie weitgehend geschehen. Die aussagende Rede erscheint als die wesentliche und maßgebende Form unseres Sprechens überhaupt.« (Hennigfeld 1994, 101) 27 Die Grundtendenz, die Wahrheit als aletheia nicht von der Un-Verborgenheit her, sondern als Richtigkeit der Aussage zu verstehen und damit der logischen Sprachauffassung Tür und Tor zu öffnen, verortet Heidegger bereits bei Platon. »Wahrheit als Richtigkeit der Aussage ist gar nicht möglich ohne Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden. Denn das, wonach die Aussage sich richten muß, um richtig werden zu können, muß zuvor schon unverborgen sein.« (GA 34, 34) Durch Platons Inanspruchnahme der Ideen als Ermöglichungsgrund alles Seienden vollzieht sich auch eine Akzentverschiebung auf das in der »Scheinsamkeit der Idee Zugängliche« (GA 9, 226). Der Zugang zu den Ideen wird nun in Relation zum (menschlichen) Sehen hergestellt; mit der damit einhergehenden »Richtigkeit des Blickes« (orthotes) wird das Unverborgensein des Phänomens und die Unverborgenheit als solche nicht mehr entsprechend mitbedacht. »Als Unverborgenheit ist sie [die Wahrheit, M. F.] noch ein Grundzug des Seienden selbst. Als Richtigkeit des ›Blickes‹ aber wird sie zur Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zum Seienden.« (GA 9, 231) 25
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der Logik bestimmen die Form der Aussage. Die Logik zerlegt nicht nur die Sätze in ihre (grammatikalischen) Grundbestandteile, sondern gibt auch die Regeln vor, wie die einzelnen Wortarten gemäß ihrer zugestandenen Funktionen korrekt zu einer Aussage zusammengesetzt werden müssen. Die einzelnen Aussagen bilden im Zusammenstand mit anderen – in der rechten Weise kombiniert – eine Schlussfolge. Die Regelsetzung von Urteilen und Schlüssen beruht dabei gemäß Heideggers Aristoteles-Auslegung auf dem Satz der Identität, dem Satz des Widerspruchs und dem Satz des Grundes (vgl. GA 38, 3 f.). Es muss laut Heidegger jedoch auch gesehen werden, dass nicht Aristoteles oder ein anderer Denker die Reduktion der Sprache auf den logos apophantikos einfachhin erfindet, sondern dass die Sprache in sich die Möglichkeit birgt, die vielfältigen Weisen des Sagens zu verschleiern. Ihre Mannigfaltigkeit, wie z. B. ein Anruf, eine Frage, ein Befehl, eine Bitte, eine Geschichte, ein Gedicht oder ein zwischenmenschliches Gespräch usw., kann immer auch auf Aussagen oder auf einen Bericht reduziert werden. Diese Beschreibung, und darauf macht Heidegger mit aller Deutlichkeit aufmerksam, ist dann aber nicht das Bitten, Fragen etc. selbst, sondern bloß dem Anschein nach, da es sich lediglich um Deskriptionen des Bittens, Fragens etc. handelt. Für Heidegger bringt sich die Sprache selbst, durch diese Möglichkeit alles beschreiben zu können, um den Aufweis ihrer eigenen Pluralität. »Die unbeschränkte Möglichkeit der berichtmäßigen Abwandlung alles ursprünglichen Sagens bringt es mit sich, daß die Sprache selbst ihr eigenes Wesen gefährdet, und so in sich selbst gefährlich bleibt, und zwar um so unbedingter, je wesentlicher gerade das Sagen ist.« (GA 39, 65) Sprache wird in dieser Abbildfunktion vornehmlich als Benennung von Sachverhalten und als Ausdruck des Menschen in Form von Verlautlichung (phone) und Schrift (gramma) verstanden. Insbesondere in der Tendenz, Sprache von der Verschriftlichung her zu interpretieren, wird für Heidegger ersichtlich, was er die grammatische Betrachtungsweise der Sprache nennt. Sie wird hierbei lediglich in ihrem äußeren Erscheinungsbild genommen und somit »als ein Seiendes unter anderem« (GA 40, 63) vorgestellt. Die dezidierte Hinwendung zur Sprache als grammata – im Sinne des vorliegenden Bestands – fördert auch das Verständnis einer kontextlosen und formalen Auffassung der Wörter sowie die Inblicknahme der grammatikalischen Wortformen. Diese Reduktion auf einen sinnlich vernehmbaren Bestand ereignet sich nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern bildet laut Heidegger A
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das Charakteristikum des gesamten griechischen Seinsverständnisses. 28 Hierin verortet er auch ein »eigentümliches Wechselverhältnis« (GA 38, 5), in dem Grammatik als die Reduktion alles Seienden (und somit auch der Sprache) auf einen vernehmbaren Bestand und Logik als die formalen Denkgesetze der korrekten Zusammensetzung aller Grundelemente zusammengehen. Wodurch ist das griechische Seinsverständnis laut Heidegger charakterisiert? Das Sein des Seienden (ousia) wird bei den Griechen als »verfügbare, geprägte, beständige Anwesenheit von etwas« (GA 36/37, 102) ausgelegt. Gemäß einer Ontologie der Vorhandenheit gilt nur das als seiend, was tatsächlich als etwas beständig Anwesendes vorliegt. Diese bei den Griechen angelegte Tendenz der Vergegenständlichung alles Seienden auf ein klar umgrenzbar Vorliegendes, das dem Menschen gegenübersteht und ihm dadurch disponibel wird, lässt sich nach Heidegger – wie in Abschnitt (a) dieses Kapitels nachgezeichnet wird – in der gesamten abendländischen Tradition feststellen. In der klassischen Antike jedoch wird das Fundament für diese reduktionistische Auffassung gelegt. Die Erste Philosophie, später Metaphysik genannt, zeichnet sich für Aristoteles vor allen anderen Weisen des Wissens dadurch aus, dass sie sich der Frage nach dem Seienden als Seiendem widmet: »Es gibt eine Wissenschaft [episteme], welche das Seiende als solches [to on he on] untersucht und das demselben an sich zukommende.« (Met. 1003 a 20 ff.) Sie unterscheidet sich zunächst von den Einzelwissenschaften, die immer nur bestimmte Bereiche des Seienden behandeln und über das Seiendsein keine Rechenschaft geben, dadurch, dass sie nach »dem Seienden schlechthin [on haplos] und insofern es Seiendes ist« (Met. 1025 b 7 ff.) fragt. Darüber hinaus geht es der Metaphysik darum, was jedem Seienden an ihm selbst – und zwar nur in Beziehung auf es als Seiendes – notwendig zukommt (und nicht etwa bloß diesem zufällig oder nur jenem unumgänglich zugesprochen werden kann). In der Erörterung dessen, was das Seiende überhaupt zu einem Seienden macht, wendet sich die Fragerichtung der Metaphysik als episteme Einhergehend mit der Verschriftlichung bildet sich nach Totzke bei den Griechen nicht nur das formale Verständnis der Sprache heraus, sondern auch die Strukturierung des gesamten wissenschaftlichen Diskurses: »Eine formale und relativ rigide Einteilung des Wissens in einzelne Disziplinen, innerhalb derer dann das Wissen axiomatisch-deduktiv bzw. klassifikatorisch-deskriptiv geordnet wurde, ist spezifisches Kennzeichen gerade der alphabetschriftlich-literalen Wissenskultur.« (Totzke 2004, 167)
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theoretike der ersten Ursachen und der obersten Gründe zu (ton proton archon kai aition) (Met. 982 b). Folglich nimmt die Metaphysik die Seiendheit des Seienden in zweifacher Weise in den Blick. Zum einen untersucht sie das Seiende als solches im Ganzen hinsichtlich der allgemeinen Züge – beschäftigt sich also mit dem Seiendsein überhaupt bzw. damit, worin Seiendes in seinem Sein mit allen anderen Seienden übereinkommt, und entwirft so nicht bloß regionale Ontologien, sondern fungiert als Prinzipienwissenschaft, die auch oberste Denkgesetze herauszupräparieren trachtet. Zum anderen hat sie in der Frage nach den ersten Ursachen und Gründen das göttliche Seiende (he theia) zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Sie richtet sich immer schon auf alles Seiende, indem sie sich dem ersten (obersten) Seienden widmet (katholou houtos hoti prote) (vgl. Met. 1026 a 17 ff.). Diese in der abendländischen Metaphysik gestellte Leitfrage nach dem Seienden als solchem bedenkt laut Heidegger aber nicht mehr eigens die Unverborgenheit selbst – das Lichtungs- (und Verbergungs-) Geschehen überhaupt –, sondern setzt sie in ihrer Frageweise stillschweigend voraus: »Indem sie [die Metaphysik] das Seiende als solches denkt, streift sie denkenderweise das Sein, um es auch schon zugunsten des Seienden zu übergehen, zu dem sie zurück- und bei dem sie einkehrt. Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ›als solches‹ selbst bedenkt sie nicht. Im ›als solches‹ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen.« (GA 6.2, 317; vgl. GA 55, 276) Heidegger merkt an, dass die Leitfrage der Metaphysik zwar das Sein – die Unverborgenheit – touchiert, es aber immer schon zugunsten des Seienden übergeht, ja aufgrund der Fragestellung übergehen muss. Indem sie vom Seienden ausgeht, verweilt sie im ontischen Bezugsrahmen beim Seienden und verschließt sich davor, das sich ereignende Lichtungsgeschehen eigens zu bedenken. Der Fragehorizont des on he on 29 wird hinsichtlich des Seinsgeschehnisses nicht weiter bedacht, sondern lediglich in Hinblick auf die letzten Ursachen und obersten Gründe untersucht, sodass für Heidegger die ontologische Differenz im vorhinein zugunsten einer Ontifizierung der archai und aitia vernachlässigt wurde. Gesucht wird in der Metaphysik folglich nach dem, was jedem einzelnen Seienden gewährt, überhaupt erscheinen zu können. Gefragt 29 Schon im Partizip on wird die Tendenz der Vergegenständlichung sichtbar, indem nicht der verbale, sondern der substantivierende Aspekt hervorgehoben wird (vgl. GA 55, 76 f.).
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wird aber nicht – und auf diese wesentliche Vorentscheidung macht Heidegger unentwegt aufmerksam – nach dem Heraustreten von Seiendem in die Unverborgenheit respektive nach der darin waltenden Offenheit überhaupt (vgl. GA 45, 19), sondern nach einem hinter den Dingen stehenden Ermöglichungsgrund im Sinne einer obersten Ursache. Von Anfang an wird die Metaphysik von einem Selbstmissverständnis geleitet, das sie nach Heidegger nicht mehr einzuholen imstande ist. Die ontologische Fragestellung nach dem Sein des Seienden wird somit unter der Hand immer schon als eine ontische verhandelt. Diese Erstursache wird nämlich als (höchstes und göttliches) Seiendes vorgestellt, das als sich selbst ergründender Grund alles andere Seiende ermöglicht. 30 Darüber hinaus wird für Heidegger mit dem Satz vom Widerspruch, den Aristoteles »das sicherste unter allen Prinzipien« (Met., 1006 a 5) nennt, der »Satz vom Sein« (GA 6.1, 544) formuliert, der nunmehr für eine Ontologie der Vorhandenheit grundlegend ist: »Denn der Satz sagt nach Aristoteles Wesentliches über das Seiende als solches: daß jedes Abwesen dem Anwesen fremd bleibe, weil es das Anwesen in sein Unwesen wegreißt und damit die Unbeständigkeit setzt und so das Wesen des Seins zerstört. Das Sein aber hat sein Wesen im Anwesen und in der Beständigkeit.« (GA 6.1, 543; herv. M. F.) Die Logik artikuliert sich folglich nicht als voraussetzungslose und neutrale Grundform des Denkens; vielmehr greift sie nach Heidegger auf bestimmte – und nicht weiter bedachte 31 – ontologische GrundLaut Wiplinger hat bereits Aristoteles bei der Frage nach der Herkunft von Seiendem die ontologische Differenz berücksichtigt: »Wenn nach Gründen von Seiendem als solchem überhaupt und d. h. im Ganzen gefragt ist, können diese nicht selber wieder etwas Seiendes […] sein – weil es ja dann doch noch solches neben dem Seienden im Ganzen (allem Seienden) geben müßte, was eben zu dieser Ganzheit und damit […] der ontologischen Grundfrage in Widerspruch stünde (zu der nach dem Seienden als solchem und im Ganzen).« (Wiplinger 1976, 144) Trotz des gewichtigen Einwands kann mit Heidegger jedoch festgehalten werden, dass auch in der klassischen Antike die ontologische Differenz nicht eigens bedacht wurde (vgl. GA 15, 261) und zudem in der Schulphilosophie die Seinsfrage in einer einseitigen Weise als ontische Wirkursache abgehandelt wurde. In diesem Sinne schreibt Held: »Die Philosophie hat deshalb von Anfang an das Sein vom Seienden unterschieden. Aber sie hat es dabei doch wiederum als ein Seiendes betrachtet, nämlich als das höchste, das seiendste, das wahrhaft Seiende, kurz: als Gott.« (Held 1980, 537) 31 Sehrwohl bedacht hat Nietzsche die scheinbare Objektivität des Widerspruchssatzes als Fundament der Logik, indem er auf die darin enthaltenen Voraussetzungen aufmerksam macht: »Dann wäre die Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren, 30
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lagen als »die Voraus-ansetzung des Wesens des Seienden« (GA 6.1, 545) zurück, die fortan auch alle weiteren Bereiche regulieren. 32 Das in der Logik postulierte Anwesendsein – d. h. das, was widerspruchsfrei, im Sinne von sicher und beständig, für den Menschen vorliegt – wird als die leitende Bestimmung genommen, die den Maßstab für das Sein und die Auslegung von Seiendem vorgibt: »Der Name ›Metaphysik‹ wird hier unbedenklich zur Kennzeichnung der ganzen bisherigen Geschichte der Philosophie gebraucht. […] Der Name soll sagen, daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des AnwesendVorhandenen zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein, der zugleich und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende wird.« (GA 65, 423) Gemäß einer im Heidegger’schen Sinne verstandenen Geschichtlichkeit ist das in der Antike grundgelegte Seinsverständnis nicht vergangen, sondern wirkt bis in die Gegenwart fort. Die von den Griechen eröffneten Auslegungsbahnen von Seiendem, insbesondere aber von Sprache, beherrschen immer noch unser Seinsverständnis und damit die Zugangsart zu Seiendem. Auf diesen Umstand bemüht sich Heidegger mit Nachdruck aufmerksam zu machen: »Da wir […] ständig auf die Seinsauffassung der Griechen zurückkommen, weil diese, wenn auch ganz verflacht und als solche unerkannt die auch heute noch herrschende abendländische ist und das nicht etwa nur in den Lehren der Philosophie, sondern im täglichsten Alltag, wollen wir die griechische Auffassung des Seins in den ersten Grundzügen im Verfolg der griechischen Betrachtung der Sprache kennzeichnen. Dieser Weg ist mit Absicht gewählt. Er soll an einem Beispiel der Grammatik zeigen, daß und wie die für das Abendland maßgebende Erfahrung, Auffassung und Auslegung der Sprache aus einem ganz bestimmten Verstehen des Seins erwachsen ist.« (GA 40, 64) In dieser Weise muss nun im Rahmen eines präsenzmetaphysischen Interpretationsrahmens auch die Sprache als etwas Vorliegendes verstanden werden. Nicht mehr das Sprachgeschehen selbst steht im sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll.« (KSA 12, 389; vgl. GA 6.1, 541) Heidegger führt aber »gegen« Nietzsche ins Feld, dass dieser »den geschichtlichen Grund seiner eigenen Auslegung des Seienden verkennt und so seinen eigenen Standort nicht auszumachen vermag« (GA 6.1, 544). 32 Der Frage, inwiefern die Seinsvergessenheit den Boden für den in der Metaphysik angelegten Nihilismus bereitet, sind in erhellender Weise Pöltner (2001) und Schüßler (1997) nachgegangen. A
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Mittelpunkt der Sprachbetrachtung, sondern die mögliche Fixierung auf einen konkret vorliegenden Bestand. Als verfügbar Anwesendes wird nun ausschließlich das sinnlich Vernehmbare der Sprache als ihr Eigentliches verstanden, nämlich der phonetische Ausdruck (phone) und vor allem die Buchstaben (gramma). »[D]ie Griechen fassen auch die Sprache als etwas Seiendes und somit im Sinne ihres Verständnisses des Seins. Seiend ist das Ständige und als solches sich Darstellende, das Erscheinende. Dieses zeigt sich vorwiegend dem Sehen. Die Griechen betrachteten die Sprache in gewissem weiten Sinne optisch, nämlich vom Geschriebenen her. Darin kommt Gesprochenes zum Stehen. Die Sprache ist, d. h. sie steht im Schriftbild des Wortes, in den Schriftzeichen, in den Buchstaben, grammata. Darum stellt die Grammatik die seiende Sprache vor.« (GA 40, 68 f.) Eingegrenzt auf ein überschaubares Gegenstandsgebiet ist es nun einfacher, die Sprache zu untersuchen, sie in Einzelbestandteile aufzugliedern und ihre grammatischen Regeln zu analysieren: »Denn was ist greifbarer und handlicher als eben diese Zerlegung und Ordnung des sonst überhaupt nicht faßlichen Gebildes einer lebendigen Sprache in Laute, Buchstaben, Silben, Wörter, Wortgefüge, Satzgebilde.« (GA 36/37, 102) 33 Diese grammatische Vorstellung der Sprache ermöglicht es auch, Worte auf ihren hyletischen Zeichencharakter 34 einzugrenzen und sie in grammatikalischen Strukturen – analog zur Logik – zu analysieren. Auf diesen inneren Zusammenhang zwischen Grammatik und Logik bzw. auf die Orientierung der grammatikalischen Sprachbetrachtung an logischen Grundprinzipien, die wiederum aus der griechischen Ontologie entspringen, weist Heidegger mit aller Schärfe hin: »Alle grammatischen Grundbegriffe der Sprachgebilde und Wortformen entspringen der Logik, d. h. der Lehre vom Denken, welches Denken als Heidegger spielt hier wohl auf die aristotelische Poetik (1456 b 22 – 1457 a 23) an, in der Buchstabe (stoicheion), Silbe (syllabe), Konjunktion (syndesmos), Partikel (arthron), Nennwort (onoma), Sagewort (rhema) und Satz (logos) als Elemente der Sprache abgehandelt werden. 34 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Heidegger ein »alethisches Wesen des Zeichens« (GA 74, 96) bedenken möchte, das nicht einem aliquid stat pro aliquo anheim fällt, sondern als ein Sichzeigen verstanden werden kann. Ein lichtend-verbergendes Sichzeigen freilich, das das Wort in seinem sichentziehenden Gabecharakter thematisiert: »Das Zeichen ist Zeichen für … und bezeichnet. Das Wesen des Zeigens bleibt unbestimmt, oder aber es wird nur gefaßt als Vor-stellen, Vor-zeigen, Bei-bringen für das Vorstellen und Auffassen. Der verbergende Zug bleibt unbeachtet und deshalb erfährt auch der entbergende keine zureichende Bestimmung.« (GA 74, 79) 33
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Erfassung des Seienden (Vorhandenen) begriffen wird. […] Kurz: die Grammatik kommt unter die Herrschaft der Logik, und zwar einer ganz bestimmten griechischen Logik, der eine ganz bestimmte Auffassung des Seienden überhaupt zugrundeliegt. Diese Grammatik aber beherrscht die Art und Weise des Vorstellens der Sprache. Und damit erwächst die mehr oder minder ausdrückliche Vorstellung von der Sprache, als sei sie in erster Linie und eigentlich die Verlautbarung des Denkens im Sinne des theoretischen Betrachtens und Beredens der Dinge.« (GA 36/37, 103 f.) So widmet sich die Sprachphilosophie in der Folgezeit – vornehmlich in der Stoa – Fragen der Grammatik (vgl. GA 12, 234). 35 Die Sprache wird somit aus einer ganz spezifischen Perspektive in den Blick genommen und als handhabbares Gebiet betrachtet. Die ontologische Weite des Sprachgeschehens wird dabei völlig außer Acht gelassen. Sprache ist dieser Auffassung nach genauso zu vergegenständlichen und auf Distanz zu bringen wie jedes andere Seiende. Kritisch vermerkt Heidegger dazu: »Wenn wir also die Sprache einer Sprachphilosophie zuweisen, so sind wir sofort schon in einer ganz bestimmten Auffassung festgehalten. Das Fragen nach der Sprache ist im Grunde schon unterbunden. Denn vielleicht ist es ein Vorurteil, die Sprache sei neben Kunst, Religion, Staat, Geschichte usw. auch irgendein Gebiet, das man in einer Sonderdisziplin untersuchen könnte.« (GA 38, 14) Gemäß der metaphysischen Auslegungstendenz, stets nach der Wirkursache zu fragen, nimmt die traditionelle Sprachbetrachtung verstärkt auch die physiologischen Voraussetzungen für das Sprechen in den Blick. Heidegger umreißt diesen wieder bei Aristoteles bereits konstatierbaren Sachverhalt mit den Worten: »Sprache zeigt sich im Sprechen als Betätigung der Sprechwerkzeuge« (GA 12, 232) und dürfte dabei an diverse Ausführungen denken, in denen die organischen Ermöglichungsbedingungen für das Sprechen erläutert werden. 36 Um überhaupt einen stimmlichen Laut – im Gegensatz zu anderen Geräuschen wie das Zirpen der Grille oder das Summen der Bienen – erzeugen zu können, bedarf es nach Aristoteles der Lunge, des Kehlkopfes, 35 Die bei Aristoteles angelegte Sprachauffassung verfestigt sich in der Stoa als Trias von Wirklichkeit, dem ideellen Reich der lekta und dem abkünftigen sprachlichen Ausdruck ebenso wie die Annäherung an die Sprache durch Fragen der Grammatik (vgl. Hennigfeld 1994, 104–124 und Pohlenz 1978, 31–63). 36 Vgl. Hist. an. 535 a 26 ff. und De an. 420 b 4 ff.
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der Zunge und der Lippen. Die Gliederung der Stimme (phone) wird besonders durch die beiden letzteren Organe gewährleistet und ermöglicht dadurch allererst Sprache (dialektos). In diesem Kontext werden auch andere Voraussetzungen des Sprechens – wie zum Beispiel die Vermittlung der Schallwellen im geeigneten Medium der Luft (im Gegensatz zum Wasser) – angeführt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für Heidegger in der von Aristoteles maßgeblich begründeten Sprachphilosophie Sprache nie als Sprache, sondern stets als eine im Vorhinein getätigte methodische Umgrenzung in Hinblick auf etwas Drittes verstanden wird. Für Heidegger kommt in der Tradition gerade nicht die Sprache als Sprache zur Sprache: »So kommt es, daß die grammatisch-logische, die sprachphilosophische und die sprachwissenschaftliche Vorstellung von der Sprache seit zweieinhalb Jahrtausenden dieselbe geblieben ist, obwohl die Erkenntnisse über die Sprache sich fortgesetzt mehrten und wandelten. […] So geleiten sie denn trotz ihres Alters und trotz ihrer Verständlichkeit niemals zur Sprache als Sprache.« (GA 12, 13, herv. M. F.) In den Eingangspassagen von Peri Hermeneias (De interpretatione) 37 wird Sprache von der akustischen Verlautbarung (phone) und der Schrift (gramma) her verstanden, mit denen vorgegebene Sachverhalte respektive intelligible Inhalte mittels Zeichen wieder- und weitergegeben werden können. Sprache wird hierbei auf den vorliegenden Bestand des lautlichen oder schriftlichen Ausdrucks reduziert und geht vollends in der Abbildungsfunktion auf. Die zu repräsentierenden Bereiche der äußeren Welt oder des inneren Bewusstseins sind gemäß dieser Auffassung nicht selbst sprachlich verfasst, sondern werden erst in einem zweiten Schritt zwecks intersubjektiver Verständigung in eine sprachliche Zeichenhaftigkeit übergeführt. Die Benennungen beruhen auf konventionellem Beschluss und sind je nach Sprachgemeinschaft verschieden. Dieses mehrfache Abbildungsverhältnis wird von Heidegger wie folgt charakterisiert: »Die Buchstaben sind Zeichen der Laute, die Laute sind Zeichen der Erleidnisse in der Seele, diese sind Zeichen der Dinge. Die Verstrebungen des Baugerüstes werden durch die Zeichenbeziehung gebildet.« (GA 12, 192) In dieser instrumentalistischen Reduktion auf einen vorliegenden Bestand kann Sprache aufHeidegger bezieht sich immer wieder auf diesen Passus (De int. 16a 3–8). Explizit übersetzt er ihn – in einer auffallend unterschiedlichen Weise – in Unterwegs zur Sprache (vgl. GA 12, 192 und 233).
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grund ihres bloß sinnlich-materialhaften Charakters keine Eigenständigkeit mehr beanspruchen. Sprache geht – als bloßes Verweisungszeichen genommen – in der Abbildung von Welt und Bewusstsein auf. Der Mensch verfügt in dieser anthropozentrischen Deutungsperspektive über Sprache und schränkt ihre Funktion vornehmlich auf den wahrheitsfähigen und wirklichkeitsabbildenden Aussagesatz (logos apophantikos) ein. Die Sprache gerät hierbei vollends unter die Herrschaft der Logik bzw. Grammatik, da sie in erster Linie als sekundärer Ausdruck des folgerichtigen Denkens (episteme logike) und als vorliegender Zeichenbestand (grammatike techne) gefasst wird. Sprache wird somit nicht als Sprache, sondern lediglich von der Dependenz des Logisch-Grammatischen her gedacht. Alleiniger Zweck der Sprache ist eine dem individuellen Denken nachgeordnete zwischenmenschliche Verständigung – eine etwaige sprachliche Verfasstheit des Denkens selbst wird nicht weiter thematisiert – und die genaue Abbildung der Wirklichkeit mittels sprachlicher Zeichen. Unterstützt wird die Reduktion auf eine instrumentalistische Auffassung von Sprache durch die immer wieder Aristoteles zugeschriebene Konventionsthese, die dieser selbst nicht postuliert hatte, aber welche die Interpreten nicht zuletzt an der Analogie von Sprechen und Schrift hinsichtlich einer zu tätigenden Absprache festzumachen glauben. Wie eine Übereinkunft jedoch zustande kommen kann, die sich selbst noch gänzlich außerhalb der Sprache befindet, wird in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtert. Die Sprache selbst wird dabei als materielles Zeichen in Form von akustischer Verlautbarung oder Schrift, ja von bestimmten physiologischen Voraussetzungen her verstanden. Schweigen oder Hören werden in dieser Sprachkonzeption überhaupt nicht berücksichtigt und somit in der Folgezeit aufgrund ihrer »Passivität« als defizitäre Modi charakterisiert. Die Vielfalt der sprachlichen Vollzüge wird zugunsten der wahrheitsfähigen Aussage als vernachlässigbar erachtet. Die darin implizierten Konsequenzen einer Ontologie der Vorhandenheit, die alles Seiende unter die Verfügungsgewalt des allem vorausliegenden Subjekts stellt, fasst Heidegger bündig zusammen: »Der Logos wird zur Aussage, zum Ort der Wahrheit als Richtigkeit, zum Ursprung der Kategorien, zum Grundsatz über die Möglichkeit des Seins.« (GA 40, 197) Die Engführungen einer Ontologie der Vorhandenheit erlauben es darüber hinaus, Sprache als ein beliebiges Seiendes unter all den anderen zu fassen und damit zum Gegenstand diverser Disziplinen zu machen, ohne jedoch A
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ihren welt-eröffnenden Charakter zu vernehmen. Polemisch wendet sich Heidegger gegen diese reduktionistischen Sichtweise verschiedener Einzelwissenschaften oder philosophischer Teilgebiete: »Diese metaphysische Einkesselung der vom Nächst-Vorhandenen her aufgegriffenen Sprache überliefert sie der Grammatik, Logik, Aesthetik und Sprachphilosophie und Psychologie.« (GA 74, 137) Von diesen Einsichten geleitet, zieht Heidegger folgenden – in seiner uniformen Kritik sehr provokanten – Schluss, der seiner Auffassung nach für die gesamte abendländische Sprachphilosophie gilt: »Man sieht leicht, daß das eine ungeheure Vergewaltigung der Leistung der Sprache ist; man vergleiche ein Gedicht oder ein lebendiges Gespräch von Mensch zu Mensch; Stimmart, Tonführung, Satzmelodie, Rhythmik und so fort. Zwar hat man später und in der Gegenwart versucht, zu ergänzen und den Vorrang der logisch-grammatischen Fassung der Sprache zurückzudämmen – doch ist die alte grammatischlogische Vorstellung geblieben –; und sie wird bleiben, solange 1. die Art des Denkens und Vorstellens bleibt, wie sie mit der Logik der Griechen in das abendländische Denken eingegangen ist, 2. solange nicht endlich die Frage nach dem Wesen der Sprache von Grund auf entwickelt wird. Diese Aufgabe aber läßt sich nur durchführen unter gleichzeitigem Abbau der grammatisch-logischen Vorstellungsart, d. h. unter Zurückführung derselben auf ihren bestimmten, begrenzten Ausgang, d. h. unter Erschütterung der grammatischen Vorstellung von der Sprache.« (GA 36/37, 104) Es wird folglich nicht nur darum gehen, auf das wechselseitige Sichbedingen von der logisch-grammatischen Auffassung von Sprache und dem metaphysischen Denken in eben diesen Strukturen hinzuweisen, sondern auch Wege zu finden, dieses Ordnungsgefüge ins Wanken zu bringen. 38 Um die Herrschaft der logisch-grammatischen Sprachbetrachtung zu unterlaufen, ja eine vollkommen andere Denk- und Zugangsweise zu etablieren, führt Heidegger zwei Bereiche ins Treffen, um die Weite der Sprache besser vernehmbar zu machen: einerseits soll Eindringlich weist Grotz auf dieses Ineinandergehen von metaphysischer Sprachvorstellung und Artikulationsmöglichkeiten des metaphysischen Begreifens hin: »Sprache als zeichenhaft vermittelter Ausdruck von sprachtranszendenten Konzepten (›Bedeutungen‹) und ›Metaphysik‹ als die sprachlich vermittelte und vermittelbare Reflexion auf diese sprachtranszendenten Konzepte setzen sich gegenseitig voraus; die ›metaphysische‹ Struktur der Sprache(n) und die Sprache(n) der ›Metaphysik‹ stehen in einem in sich rückläufigen Verhältnis zueinander.« (Grotz 2000, 105)
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in einer Betrachtung des lebendigen Gesprächs die Seinsweise der Sprache adäquater zu Tage treten, andererseits möchte sich Heidegger von der Dichtung eine neue Zugangsart zum Phänomen Sprache aufgeben lassen. Dort soll einer neuen Besinnung auf das Walten der Sprache ein angemessener Boden bereitet werden.
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Wittgensteins Zugänge zur Sprache – ein werkgeschichtlicher Abriss Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre. (PU II, p. 565)
Zwei Werke haben auf je unterschiedliche Weise Ludwig Wittgensteins Ruf als einen der herausragendsten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig geprägt: Zum einen handelt es sich um die während des Ersten Weltkriegs verfasste Logisch-philosophische Abhandlung, die er 1922 mit knapp 33 Jahren unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus (TLP) veröffentlichte, zum anderen um die rund anderthalb Jahrzehnte später begonnenen Philosophischen Untersuchungen (PU), die erst 1953, zwei Jahre nach seinem Tod, publiziert wurden. 1 Zwar arbeitet Wittgenstein, insbesondere nach seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929, unermüdlich an diversen Manuskripten und hinterlässt einen Nachlass von rund 20.000 Seiten (vgl. Schulte 1989, 43 und Pichler 2004, 41), doch er macht in dieser Zeit keine seiner philosophischen Schriften einer breiteren Leserschaft zugänglich. 2 So be1 Wittgenstein arbeitet vornehmlich von 1936–1946 an den Philosophischen Untersuchungen (vgl. Schulte 2005, 86 und v. a. PUK 12–47), jedoch gehen Vorarbeiten (bis hin zu wörtlichen Übernahmen einzelner Bemerkungen) bis auf das Jahr 1929 zurück; der nicht autorisierte, so genannte Teil II (Ms 144), den die Herausgeber hinzufügten, wird 1949 zusammengestellt und am Vorwort feilt er bis 1950 (vgl. Pichler 2004, 236 ff.). Einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Tractatus und der Untersuchungen liefert v. Wright (1986, 77–143). 2 Neben einer kleinen Rezension aus dem Jahr 1913 bilden das Wörterbuch für Volksschüler von 1926, die 1929 publizierten »Some Remarks on Logical Form« (VE 20–28) und ein Leserbrief von 1933 hierbei Ausnahmen (vgl. Pichler 2004, 40); eine Zwischenstellung nehmen die für eine ausgewählte Hörerschaft diktierten Schriften während seiner Lehrtätigkeit in den 1930er Jahren ein, wie etwa das Gelbe, Blaue oder Braune Buch, die – z. T. auch gegen Wittgensteins Willen, da er Missverständnisse und Plagiate befürchtete – unter Studierenden und Freunden kursierten. So schreibt er am 30. 10. 1931 an Schlick: »Es ist mir ein unangenehmer Gedanke, daß, wenn ich heute sterben sollte, es doch sehr schwer wäre, die Antworten auf verschiedene Fragen, die in meinen Manuskripten enthalten sind, aus diesen zu nehmen. Und mich bewegen dabei ganz gemeine Eitelkeits- & Prioritätsschweinereien.« (zit. n. Pichler 2004, 81) Wittgensteins Bedenken wegen zu befürchtender Plagiate, die auch im Vorwort der Philosophi-
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stimmen vor allem diese beiden Bücher, die nicht nur auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten – hier eine streng durchnummerierte logische Schrift mit thetisch-präzisen Sätzen und mathematischen Formeln, die den Anspruch erhebt, »die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben« (TLP Vw), dort eine facettenreiche Ansammlung von alltagssprachlichen Bemerkungen mit faszinierenden Beispielen und unerhörten Bildern, die auf »schwere Irrtümer […] in jenem ersten Buche« (PU Vw) hinweist –, die Rezeptionsgeschichte und die darin implizierte Trennung in zwei diametral entgegengesetzte Phasen des Wittgenstein’schen Denkwegs entscheidend. 3 Diese Einteilung in ein Frühwerk und eine grundlegende Korrektur des ersten Anlaufs in seinem Spätwerk erhält durch eine Reihe von expliziten Kritikpunkten in den Philosophischen Untersuchungen eine scheinbar evidente Berechtigung. So bezieht sich Wittgenstein neben dem Vorwort seines späten Hauptwerks auch in mehreren anderen Bemerkungen äußerst kritisch auf den »Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung« (PU 23; vgl. PU 46, 97, 114). 4 Diese mitunter naheliegende Einteilung in eine strikte Opposition von zwei Schaffensperioden, die auch biographisch durch eine scharfe Zäsur getrennt zu sein scheinen, 5 dient vielen Interpretationen implizit oder explizit imschen Untersuchungen zur Sprache kommen, beziehen sich laut Pichler vornehmlich auf Carnap und Waismann (vgl. Pichler 2004, 80–84). 3 Die wirkmächtige Einteilung in Wittgenstein I und Wittgenstein II prägte im angelsächsischen Raum v. a. Pitcher (1964) und im deutschsprachigen Bereich Stegmüller, der dazu bemerkt: »Die tödliche Rücksichtslosigkeit, mit der er [Wittgenstein; M. F.] seine ganze Philosophie zerstörte, ist ein philosophiegeschichtlich einmaliges Ereignis.« (Stegmüller 7 1989, 562) Eine beeindruckend genaue Nachzeichnung der verschiedenen Rezeptionsphasen und Periodisierungsversuche der Wittgensteinforschung liefert Sedmak (1994, 25–34). 4 Zu diesen harten Selbsturteilen bemerkt Schulte nicht zu Unrecht: »Es ist aber nicht ratsam, die am Frühwerk geübte Kritik allzu genau zu nehmen, denn obwohl viele Bemerkungen mit Sicherheit von der Abhandlung inspiriert sind, geht es Wittgenstein in den Untersuchungen meistens um sehr viel allgemeinere und häufig primitivere Gedanken als jene, die man bei fairer Interpretation dem Verfasser der Abhandlung unterstellen darf.« (Schulte 2005, 90) Vielleicht möchte Wittgenstein gerade aus diesem Grund »jene alten Gedanken und die neuen zusammen« (PU Vw) in einem Band veröffentlicht haben wissen, da dann der Ball bei der Leserschaft liegt, sich ein angemessenes Bild zu machen. 5 Wittgenstein unterrichtet von 1920 bis 1926 als Volksschullehrer in diversen niederösterreichischen Ortschaften und beteiligt sich von 1926 bis 1928 intensiv am Bau des Hauses für seine Schwester Margarete Stonborough in der Wiener Kundmanngasse. Ob er sich während dieser Zeit tatsächlich gegenüber philosophischen Fragestellungen A
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zu einer Deskription der Alltagssprache festmachen lässt – unabhängig vom Sprachspielbegriff schon um 1931 ankündigt: »Was er [Wittgenstein, M. F.] entwickelte, war nicht ein Beitrag zur Philosophie, sondern eine Änderung der gesamten Ausrichtung. Dieses Selbstbewußtsein hat Wittgenstein also bereits 1931 und nicht erst allmählich in den folgenden Jahren, in denen er seine mühsamen Versuche unternimmt, seiner Entdeckung eine angemessene Darstellung in Gestalt eines Buches zu geben.« (Kienzler 1997, 29) 7 Im Gegensatz dazu sehen Hintikka und Hintikka in Wittgensteins Abkehr von der Konzeption einer »phänomenologischen« Sprache, 8 die ihrer Deutung nach nur bis 1929 leitend bleibt, und der Inanspruchnahme einer alltagssprachlichen Fokussierung den entscheidenden Umbruch in Wittgensteins Denkweg. Sie vertreten die These, »daß der entscheidende Wendepunkt in Wittgensteins philosophischer Entwicklung im Jahre 1929 darin besteht, daß eine physikalistische Umgangssprache anstelle dieser phänomenologischen Sprache zur maßgeblichen, ja zur einzig tragfähigen Philosophie erklärt wird« (Hintikka / Hintikka 1990, 184). 9 Die hier exemplarisch skizzierten Interpretationen unterscheiden sich in der Datierung – Sedmak möchte den Umschlag 1933, Kienzler 1931, Hintikka / Hintikka 1929 festmachen –, indem sie divergierende, aber stets nachvollziehbare Begründungen angeben – Sedmak beruft sich auf die Ausarbeitung des Sprachspielmodells, Kienzler auf die Abkehr von jeglichem Dogmatismus, Hintikka / Hintikka auf die Hinwendung zur physikalistischen Deutung der Alltagssprache –, und stützen sich in ihren Argumentationen vornehmlich auf inhaltliche Kienzlers Deutung wird u. a. auch von Backer / Hacker unterstützt, die in der weit vor der eigentlichen Abfassung fertig ausgearbeiteten Philosophie-Konzeption der Philosophischen Untersuchungen (vgl. PU 89–133) die entscheidende Ausrichtung des Spätwerks erblicken: »It is noteworthy that the general conception of philosophy that dominates Wittgenstein’s later work emerged so early, namely in 1930–1.« (Backer / Hacker 1980, 451) 8 Die Verwendung des Terminus »Phänomenologie« ist in diesem Kontext nicht der philosophischen Strömung im engeren Sinn geschuldet, sondern möchte im Gegensatz zu einem Physikalismus, der gesetzmäßige Erklärungen liefert und der dem Verifikationsprinzip unterliegt, deskriptiv verfahren, um die Möglichkeit von Sinn auszuloten (vgl. WWK 63 ff.). 9 Neben dieser Charakterisierung der mittleren Periode, in die Wittgensteins Beschäftigung mit dem Phänomenalismus fällt, hebt Schulte Wittgensteins Festhalten am Sinn des verifizierbaren Satzes als Charakteristikum dieser Zeitspanne hervor (vgl. Schulte 1989, 174 ff.). 7
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Bezugspunkte, ohne jedoch formale Veränderungen zu berücksichtigen. Unterschiede zwischen der mittleren und späteren Ausrichtung von Wittgensteins Texten gibt es jedoch nicht nur hinsichtlich der Fragestellungen auf einer thematischen Bedeutungsebene, sondern in der stilistischen Ausarbeitung des späten »Hauptwerks«. 10 So liegen nach Pichler diese Unterschiede in erster Linie gerade nicht ausschließlich aufseiten des Aussagegehalts: Sowohl in den Manuskriptbänden, die in den Jahren vor 1936 enstehen, als auch in den engeren Ausarbeitungen der Philosophischen Untersuchungen finden sich zwar eine Reihe von übereinstimmenden Themengebieten wie etwa Wittgensteins Plädoyer für die Alltagssprache und für die Pluralität von Sprachspielen, die Kritik an der ostensiven Definition oder am Mentalismus etc. Im Gegensatz zu diesen gängigen, an Inhalten orientierten Deutungsmustern lässt sich darüber hinaus aber ein grundlegender Wechsel in Wittgensteins Schreibstil konstatieren, der sich erst in der genuinen Formgebung der Untersuchungen von 1936 manifestiert und ihnen daher eine ausgezeichnete Rolle innerhalb des Wittgenstein’schen Œuvres zugestanden werden muss: »Die Vertreter der ›1933 schon alle Inhalte da‹-These übersehen allzu oft später eintretende, entscheidende Veränderungen, die zuallererst die Form betreffen, dann aber auch für den Inhalt relevant sind.« (Pichler 2004, 94) Pichlers Argumente beziehen sich folglich in erster Linie nicht auf inhaltliche Aspekte – ein Teil der »Bemerkungen« der Untersuchungen sind ja vor 1936 entstanden –, sondern auf einen tiefgreifenden Wandel in der formalen Gestaltung des Textes, der freilich erhebliche Rückwirkungen auf den Inhalt hat. 11 Entgegen eigener inhaltlicher Vorgaben verfasst WittgenKienzler verweist interessanterweise auf den Abbruch von Ms 115 (vgl. BB 237) und begründet ihn folgendermaßen: »Wittgensteins Einsicht war offenbar, daß sein eigener Stil dem Freges nicht gewachsen war, […] [da er] glaubte, das Problem des ›Schillerns‹ von Wortbedeutungen nicht klar genug herausgearbeitet zu haben.« (Kienzler 1997, 185) Jedoch wendet er sich dagegen, im Zusammenhang mit diesen Überlegungen des Stils den entscheidenden Wendepunkt hin zu Wittgensteins Spätphilosophie zu erblicken (vgl. Kienzler 1997, 300) und betont vielmehr die Identität vom Braunen Buch und den Philosphischen Untersuchungen hinsichtlich »Inhalt und Aufbau« (Kienzler 1997, 184). 11 Mit Pichler sieht auch Sluga einen entscheidenden formalen Wechsel in dieser Zeit: »Of the greatest significance are two texts from this period which Wittgenstein dictated to his students between 1933 and 1935. They are respectively known as the Blue Book and the Brown Book. […] [I]t is misleading to characterize these texts simply as ›preli10
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stein laut Pichler seine Thesen in den Manuskriptbänden vor 1936 weitgehend in einem didaktischen und linearen Stil, sodass trotz der Dialogstruktur der Bemerkungen stets klar hervorgeht, welche Position »der auktoriale Erzähler« Wittgenstein bezieht und welche seine mitunter karikierten Kontrahenten einnehmen. Er fungiert in diesen Texten nicht als gleichrangiger Gesprächspartner, sondern vielmehr als Lehrer, der in einem belehrenden Tonfall falsche Ansichten seines Gesprächspartners korrigiert. Bis zum Braunen Buch perfektioniert er zudem das »Sprachspielverfahren«, indem er einem kontinuierlichen Aufbau folgend das gesamte Feld der Alltagssprache nach einer linearen Vorgangsweise abzustecken strebt. Schritt für Schritt beabsichtigt Wittgenstein, in seinem Text die Leser von einfachen zu komplexeren Sprachspielen zu führen, um als Endprodukt ein gewohnt kohärentes und systematisches (Lehr-) Buch zu erhalten. 12 Doch nicht nur die Schreibnatur des Verfassers, sondern in erster Linie das Gegenstandsgebiet sperrt sich gegen diese Art einer durchgehenden Linearisierung. Hinweise dafür verortet Pichler neben dem Abbruch des Ms 115 beispielsweise in der allmählichen Zurückweisung einer durchgängigen Nummerierung im selben Manuskript, der zunehmenden Fragmentie-
minary studies for the ›Philosophical Investigations‹‹ […]. The views Wittgenstein expresses at this point are clearly related to those of the Philosophical Investigations, but they are not the same. While he assumes now that language consists of a number of different substructures, individual language-games, he still thinks of these structures as circumscribed by strict rules. He has, in other words, not yet reached the conclusion that some language-games are governed by precise rules while others are much looser structures. For this he will first have to develop a critical view of the function of rules, a topic that is not yet evident in the Blue and Brown Books but is of central significance in the Philosophical Investigations.« (Sluga 1996, 19) 12 Gegen die These – die auch Schulte vertritt (vgl. PUK 16 f.) –, dass Wittgenstein fortan auf den Übergang von primitiven zu komplexen Sprachspielen verzichtet, wendet sich Kroß: »Schaut man nun aber in die ›Urfassung‹ [Ms 142; M. F.] und auch in die SF [Spätfassung = Ts 227; M. F.] der PhU, entdeckt man, dass Wittgenstein dort genau das tut, was ihn laut Schulte gestört haben soll: Wittgenstein beginnt seine Darstellung explizit mit der Analyse eines primitiven Sprachspiels.« (Kroß 2005, 54) Dennoch würde ich mit Pichler an der Auflösung der im Brown Book angewandten sukzessiven Genese von primitiven zu komplexen Sprachspielen im Ms 142 festhalten: »Denn gerade das ›Sprachspielverfahren‹ wurde auf dem Weg zur ersten Fassung der Untersuchungen ganz klar reduziert und fragmentarisiert.« (Pichler 2004, 63) Offen muss jedoch bleiben, ob sich diese Wende nicht vornehmlich auf den Bruch zwischen Ms 115 und Ms 142 bezieht und somit nicht generell als Neubeginn bezeichnet werden kann. So weisen ja Texte vor 1936 (z. B. das Big Typescript) auch nicht diese strenge Strukturierung auf. A
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rung des Textes oder in den Reflexionen über den eigenen Stil im Vorwort der Untersuchungen. 13 Die Frage, ob diese scharfe Ruptur nicht nur für den Übergang zwischen dem Ms 115 – das den eigenen Übersetzungsversuch des Brown Book (Ts 310) ins Deutsche darstellt und das Wittgenstein Anfang November 1936 mit der Bemerkung »Dieser ganze ›Versuch einer Umarbeitung‹ […] ist nichts wert« (Ms 115, 292) 14 aufgibt – und der von Schulte (vgl. PUK) so genannten »Urfassung« der Philosophischen Untersuchungen (Ms 142) gilt, parallel dazu verfasste Bemerkungen jedoch nicht berücksichtigt (z. B. Ms 116), 15 wirft Kroß nicht unberechtigterweise auf: »Man wird also aus dem Abbruch des Übersetzungsprojekts nicht – wie Schulte – grosso modo auf das Ende der Phase, die zum Big Typescript und zum Blue und Brown Book geführt hatte, schließen und einen ›Neuanfang‹ mit der ›Urfassung‹ postulieren wollen, sondern zu dem eher viel bescheideneren, aber plausibleren Ergebnis kommen müssen, dass Wittgenstein sich immer wieder an eine Neuordnung des Materials setzte, und er es deshalb für klug und auch alternativlos erachtete, sich erneut den Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Fertigstellung des Big Typescript zuzuwenden, nachdem sich seine zwischenzeitliche Arbeit aus unterschiedlichen Gründen (einerseits die recht lineare und wenig dynamische Ordnung im Big Typescript, andererseits die sprachlichen
Eine verstärkte Berücksichtigung der Darstellungsform legt auch Schulte nahe: »Einen Einschnitt bedeutet das Jahr 1936. […] [Wittgenstein] schrieb Teile dessen, was wir heute als Philosophische Untersuchungen und Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik kennen. Die Konzentration auf die Probleme der Darstellung seines Denkens führte zu einer radikalen Umgestaltung der in den frühen Schriften der dreißiger Jahre nur allmählich veränderten Ideen.« (Schulte 1989, 21 f.) 14 Von diesem Abbruch und Neubeginn berichtet Wittgenstein am 20. 11. 1936 in einem Brief an Moore: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon geschrieben habe, daß ich nach meiner Ankunft hier damit begonnen habe, das Zeug, das ich Skinner und Miss Ambrose diktiert hatte, ins Deutsche zu übersetzen und umzuschreiben. Als ich vor etwa vierzehn Tagen das bisher Geleistete durchlas, fand ich alles – oder doch fast alles – langweilig und gekünstelt. Denn durch die Arbeit nach der englischen Vorlage wurde mein Denken verkrampft. Deshalb habe ich mich entschlossen, wieder ganz von neuem zu beginnen und meine Gedanken nichts anderes als sich selbst lenken zu lassen. – Während der ersten ein oder zwei Tagen fand ich es schwierig, doch dann wurde es leicht. Und so bin ich jetzt dabei, eine neue Fassung zu schreiben, und hoffentlich irre ich mich nicht, indem ich sage, diese Fassung sei etwas besser als die letzte.« (B 236) 15 Von Wright geht auf diesen wichtigen Manuskriptband 116 und dessen Schwierigkeit einer genauen Datierung eingehend ein (vgl. von Wright 1986, 127–130). 13
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Zwänge eines Diktates für die Unterweisung englischer Studenten) als eine Art Holzweg erwiesen hatte.« (Kroß 2005, 54 f.) 16 Wie diese differenzierten und detailbezogenen Diskussionen in der Forschungsliteratur anzeigen, ist es äußerst problematisch, nur einen einzigen Grund für den Übergang anzugeben und sich dabei auf eine klar festsetzbare Datierung zu versteifen. Vielmehr wird es darum gehen, auf eine Vielzahl von Aspekten, die möglichst umfassend inhaltliche, aber auch formale Eigenheiten berücksichtigen, aufmerksam zu machen. Daher scheint es mir unmöglich, von nur einem einzigen und darüber hinaus noch zeitlich fixierbaren Wendepunkt in Wittgensteins Umbruchjahren zu sprechen. Zu sehr war das Denken des »Varianten- und Parallelschreibers« Wittgenstein im Fluss, um auf nur eine einengbare Sichtweise oder ein starres Deutungsmuster zurückgeführt werden zu können. So kann sein Denkweg nur äußerst behelfsmäßig in Perioden eingeteilt werden, wobei deren zeitliche Angaben mit größter Vorsicht zu nehmen sind. Schulte spricht – nach Berücksichtigung einer durchaus eigenständigen mittleren Phase – von frühen (1913–1918/21), mittleren (1929–1936) und späten (1936–1951) Texten Wittgensteins. Doch aus dieser Einteilung ergeben sich weitere Schwierigkeiten: Offen muss bei dieser Periodisierung nämlich bleiben, ob nicht die Eigenheiten der Texte, die parallel oder nach den Untersuchungen entstanden sind, allzu sehr aus den Augen verloren werden. Dort werden nicht nur zusätzliche Themengebiete behandelt, sondern auch deren Explikation fällt mitunter akzentuierter oder – je nach Lesart – in einer schwer vergleichbaren anderen Weise aus, als es in den Philosophischen Untersuchungen der Fall ist. So erörtern die zwischen 1937 und 1944 geschriebenen und 1956 herausgegebenen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, die wahrscheinlich als Supplement der Untersuchungen gedacht waren (vgl. Kroß 2005, 55), unter anderem die Unterschiede zwischen den scheinbar ehernen Sätzen der Logik und den bloß empirischen Gege16 Pichler (1997, 86 ff.) hat Wittgensteins Rückgriff auf das Big Typescript im Entstehungskontext von Ms 142, der so genannten »Urfassung« der Untersuchungen, genau ausgeleuchtet, bewertet aber im Gegensatz zu Kroß diese Bezugnahme in einer anderen Weise: »Wenn der Neubeginn hinter Ms 115ii zurückging und ältere Quellen heranzog, so ist dies umso mehr als ein Zeichen dafür zu werten, wie sehr er vom ›Versuch‹ geprägt ist: zwar nicht text- und gedankengenetisch positiv, sondern in einer negativen Absetzung davon.« (Pichler 2004, 139)
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benheiten. Gerade hinsichtlich der Fragen nach dem, was Wittgenstein rund um den Komplex des Regelfolgens »Übereinstimmung« nennt – Themenbereiche, die für die nachfolgende Arbeit eine entscheidende Rolle spielen – gerät diese vermeintlich strikte Trennung selbst beim fundamentum inconcussum der Wissenschaften in Bewegung. In seinen letzten Vorlesungen widmete sich Wittgenstein vornehmlich Problemen der Philosophie der Psychologie; diese Einsichten schrieb er zwischen 1947 und 1949 nieder. 17 Neben dem Themenfeld des Aspektsehens, das die Herausgeber eigenmächtig als Teil II (Ms 144) 18 in die Philosophischen Untersuchungen eingliederten und das so der Leserschaft vertraut war, gehen diese Erörterungen auch der für das vorliegende Projekt wichtigen Kontextualisierung alles Bedeutungshaften in einem gemeinsamen Weltbild nach. Die Grundlosigkeit von Weltbildern, die niemals auf einem beweisbaren festen Fundament stehen, uns aber dennoch nicht handlungsunfähig machen, sondern im Gegenteil alles Handeln erst ermöglichen, beschäftigt Wittgenstein bis zu seinen letzten Notizen, an denen er bis zwei Tage vor seinem Tod arbeitet und die unter dem 1969 veröffentlichten Titel Über Gewißheit bekannt werden. 19 Allein die in der vorliegenden Arbeit berücksichtigten Schriften – das gesamte Spektrum an Themengebieten kann hier nicht zureichend gewürdigt werden – zeigen die nicht zu systematisierende Vielfältigkeit und Parallelität der Wittgenstein’schen Denkbewegungen an, die sich nicht in ein starres Korsett allzu strikter periodischer Einteilungen zwängen lassen. Doch neben der Hervorhebung der Differenzen und Brüche, den Verwerfungen von bisher Gedachtem und Neuanläufen in Wittgensteins Texten scheint die Betonung einer beständigen Arbeit an Themenfeldern, die seinen gesamten Denkweg durchziehen, nicht weniger angebracht zu sein. So haben insbesondere Arbeiten zu Wittgensteins Bemerkungen zu Ethik, Religion oder Leben auf die Kontinuitäten in den verschiedenen Ausprägungen dieser Grundmotive Unter den Titeln Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie und Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie werden diese Manuskripte 1980 und 1982 veröffentlicht. 18 Dieser Part ist zwischen Mai 1946 und Mai 1949 entstanden. Zur Entstehungsgeschichte von Teil II vgl. von Wright (1995). 19 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein Großteil dieser Titelgebungen nicht von Wittgenstein selbst, sondern von den (der analytischen Philosophie verpflichteten) Herausgebern stammt. 17
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seiner frühen, mittleren und späten Schriften hingewiesen. So hält etwa Kroß fest: »Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß zwischen der sogenannten ›Philosophie I‹ und der ›Philosophie II‹ Unterschiede bestehen. Doch erscheinen diese sinnvoll diskutierbar allein unter der Voraussetzung, daß in beiden Ansätzen dasselbe Modell von Philosophie vertreten wird.« (Kroß 1993, 12) 20 In diesem Sinne müssen bei einer werkgenetischen Untersuchung sowohl die Stetigkeit der Problemfelder seines Denkwegs als auch die Verschiedenheit in den Ausprägungen möglichst ausgewogen berücksichtigt werden. In dieser facettenreichen und vielschichtigen Weise stellt sich auch der Themenkomplex »Sprache« bei Wittgenstein dar, insofern er sich kaum in eine fest umrissene Schablone zwängen lässt. 21 So weist er schon im Tractatus darauf hin, dass sich alle Philosophie mit Sprache auseinanderzusetzen hat, ja mehr noch, nur als Analyse der Sprache denkbar ist: »Alle Philosophie ist ›Sprachkritik‹.« (TLP 4.0031) Der Entwurf der ontologischen Konzeption in seinem Hauptwerk ist ohne die Rückgebundenheit an sprachliche Strukturen gar nicht denkbar. Bereits im Vorwort, in dem er die Grundproblematik seines Buches zu erläutern sucht, finden sich explizite Äußerungen zu dieser Themenstellung: »Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube –, daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Miß20 In ihrer Studie über Religion und Ethik bei Wittgenstein formuliert Weiberg diese Auslegungstendenz noch pointierter: »Darüber hinaus löst sich jene, von einigen Philosophen noch vertretene Trennung in Früh- und Spätwerk endgültig in eine kontinuierliche Entwicklung auf.« (Weiberg 2002, 9) Diese Interpretationsrichtung muss meiner Einschätzung nach modifiziert werden, um bei aller Identität des Wittgenstein’schen Denkwegs nicht vollends die Differenzen aus den Augen zu verlieren. So schreibt etwa Kenny: »Doch mit wachsendem Abstand von der Zeit der Abfassung der Philosophischen Untersuchungen erkennen wir, daß die Übereinstimmungen mit dem Tractatus ebenso gewichtig sind wie die Unterschiede.« (Kenny 1974, 270) 21 Gerade in Hinblick auf die Sprache verortet Hacker den gravierendsten Unterschied zwischen Früh- und Spätwerk: »Die Auffassung von Philosophie blieb relativ konstant; die Auffassung von Sprache änderte sich tiefgreifend.« (Hacker 1978, 123) Dieser Wechsel in der Zugangsweise zum gleich bleibenden Themenfeld Sprache zeichnet nach Haller, der hier weit vorsichtiger mit der Inanspruchnahme von schroffen Gegensätzen umgeht, gerade Wittgensteins Denken aus: »In der Tat ist der Sprachspiel-Begriff die letzte Stufe im Prozeß der Bemühung, eine Gesamtsicht auf die Sprache zu geben. […] Und darin ist eine Fortentwicklung der früheren Philosophie zu sehen und nicht eine völlige Wende.« (Haller 1991, 129 und 132) Doch auch die Annahme einer kontinuierlichen Genese scheint bei den offensichtlichen Modifikationen, Kehren und Neuanläufen in vielerlei Hinsicht problematisch zu sein.
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verständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten der Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.« (TLP Vw) Wittgenstein verfolgt im Tractatus demnach eine Metaphysikkritik mittels einer logischen Analyse der Sprache. Der Sprache gebührt im philosophischen Diskurs folglich allerhöchste Aufmerksamkeit, da alle Grundprobleme in ihr bzw. in einem inadäquaten Verhältnis zu ihr bestehen. Insbesondere die Alltagssprache verschleiert durch ihre Ungenauigkeiten die geforderte Präzision des Ausdrucks: »In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, daß dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet […], oder, daß zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden.« (TLP 3.323) Dem möchte die Abhandlung in der Weise entgegenwirken, indem die Ränder der Sprache ausgelotet werden, die nicht einer sprachnackten Konzeption der Rationalität nachgeordnet sind. Darüber hinaus – jenseits eines sprachlich artikulierbaren Sinns – ist dem Denken nichts erschlossen, »dort« waltet nur Unsinn. Gerade die traditionelle Philosophie macht sich immer wieder dieses Vergehens schuldig, indem sie Scheinsätze produziert, die nicht mehr verioder falsifziert werden können, oder Wörter verwendet, die keine referenzielle Bedeutung haben. »Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen.« (TLP 4.003) Die neue Aufgabe der Philosophie besteht folglich darin, mittels der Logik auf die korrekte Form zu achten und sinnvolle von unsinnigen Äußerungen streng zu scheiden: »Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. […] Das Resultat der Philosophie sind nicht ›philosophische Sätze‹, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die 84
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Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.« (TLP 4.112) Dabei zieht die Philosophie die Grenze zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren der verifizierbaren Wissenschaften: »Sie [die Philosophie, M. F.] wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.« (TLP 4.115) 22 Das im Tractatus vertretene Repräsentationsmodell einer Sprache erfährt in seinen Ausführungen eine nicht unwesentliche Modifikation. So scheint es mehr als fraglich, ob Wittgenstein unter einem logischen »Bild« ausschließlich eine wiedergebende Abbildung versteht oder ob sich darin nicht auch ein eminent produktiver Aspekt verbirgt. Zwar finden sich in Wittgensteins Frühwerk genügend Belege für eine repräsentative Bildauffassung, in der die Sprache vollends in der Stellvertreterfunktion aufgeht: »Der Name vertritt im Satz den Gegenstand. Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie.« (TLP 3.22 f.) Oder noch prägnanter in seinen Tagebüchern: »Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.)« (TB 29. 9. 1914) Doch darüber hinaus wird Sprache nicht immer im Sinne einer nachträglichen Darstellung einer vermeintlich außersprachlichen Wirklichkeit interpretiert, sondern erhält einen konstitutiven Aspekt: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.« (TLP 4.01) 23 Wirklichkeit ist somit nur sprachlich erschlossen. Das Entsprechungsverhältnis von Welt und Sprache ist hierbei an die logische Form rück22 Auf die hierin aufbrechende Differenz zwischen Sagen und Zeigen kann nicht weiter eingegangen werden; vgl. dazu den repräsentativen Sammelband von Bezzel (2005). Frank weist aber auf einen höchst bemerkenswerten Umstand hin, der sich in diese Dichotomie einschreibt, die im Laufe dieser Arbeit weiter verfolgt werden soll: »Soll man aber dem Gesagten nicht nur die geradehin ausgesprochene Botschaft entnehmen, sondern diese Botschaft zugleich und fernerhin als An-deutung des Unaussprechlichen lesen können, so muß die Sprache, in der das Sagbare dargebracht ist, irgendwie über sich hinausweisen als etwas vom Leser Gefordertes verständlich sein. Wie wäre so etwas möglich? Gibt es denn in der Sprache diesseits der unaussprechlichen ›logischen Form‹ bzw. dem, was Wittgenstein später die Grammatik der Sprachspiele […] nennt, einerseits und der Botschaft der Sätze andererseits noch ein Drittes? Allerdings gibt es ein Phänomen genau auf der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, und dies Dritte ist der Stil.« (Frank 1989, 28) 23 Neben Janik / Toulmin (1987, 198 ff.) weist auch Mersch (1991, 18) auf diesen konstruktiven Sinn des Bildverständnisses im Tractatus hin.
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gebunden, die nicht mit einem mechanistischen Abbildverhältnis gleichzusetzen ist: »Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zueinander, die zwischen Sprache und Welt besteht. Ihnen allen ist der logische Bau gemeinsam.« (TLP 4.014) Auf diesen Grundgedanken hinweisend hält Mersch fest: »Sprache ist keine Funktion im Sinne der Analysis, sondern ein ›Isomorphismus‹. Später wird Wittgenstein durch schrittweise Erweiterung von der ›logischen Form‹ zum ›Kalkül‹ – in der mittleren Phase – bis schließlich zur ›Spieltheorie‹ der Spätphilosophie übergehen. Überall wird es noch um die gleiche Sache gehen; doch wird gleichzeitig die durch die Logik enggeführte Terminologie zunehmend einer pragmatischeren weichen.« (Mersch 1991, 19) Die hier von Mersch kurz skizzierte Entfaltung des Themenfelds »Sprache« bei Wittgenstein muss bei aller Berechtigung mit größter Vorsicht behandelt werden; es ist nämlich nicht möglich, bei Wittgenstein von so etwas wie einer linearen Entwicklung auszugehen, vielmehr muss von einer »unaufhörlichen Rekonzeption« (Majetschak 2000, 18) der philosophischen Überlegungen in den diversen Schriften gesprochen werden. Gerade für seine Annäherungen an die Sprache gilt es, sowohl die Einheit der Fragestellung als auch die divergierenden Ausführungen samt ihrer Brüche zu berücksichtigen. Auffällig ist dabei, dass sich keine Korrektur im Sinne eines Neuansatzes im Übergang von der Tractatus-Philosophie hin zu seinen späteren Schriften festmachen lässt, sondern vornehmlich eine andere Haltung. Wittgenstein sieht dabei die logische Form der Sprache nicht mehr in ihrer Funktion als Richtschnur, um über sinnvolle oder unsinnige Sätze universal entscheiden zu können, sondern sein Denken versteht sich vielmehr als ein Aufweis der reichhaltigen Überfülle an Sprachformen und zieht sich so von jeder regulativen Funktion zurück. Bereits Ende 1931 erwähnt er gegenüber Waismann: »An einer dogmatischen Darstellung kann man erstens aussetzen, daß sie gewissermaßen arrogant ist. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Viel gefährlicher ist ein anderer Irrtum, der auch mein ganzes Buch durchzieht, das ist die Auffassung, als gäbe es Fragen, auf die man später einmal eine Antwort finden werde. Man hat das Resultat zwar nicht, denkt aber, daß man den Weg habe, auf dem man es finden werde. […] Das ist ein Irrtum. In Wahrheit haben wir schon alles, und zwar gegenwärtig, wir brauchen auf nichts zu warten. Wir bewegen uns im Bereich der Grammatik in 86
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unserer gewöhnlichen Sprache, und diese Grammatik ist schon da.« (WWK 182 f.) Neben der Zurückweisung der dogmatischen Auffassung als Maßstab für korrekte Sprachverwendungen und der Hinwendung zur Mannigfaltigkeit des alltäglichen Sprachgebrauchs verabschiedet sich Wittgenstein auch von der Idee einer repräsentativen Funktion und einer atomistischen Analyse der Sprache samt der Suche nach einer ein-eindeutigen logischen Form. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Wittgensteins Sprachauffassung müsste all diesen Haupt- und Seitensträngen, den durchgängigen Fragestellungen, den werkgenetischen Brüchen und Korrekturen in den diversen Anläufen nachgehen und die Ausführungen Wittgensteins zu diesem Themenfeld behutsam beleuchten und kritisch hinterfragen. Im Mittelpunkt meiner Auslegung stehen seine Überlegungen zur Sprache in den Philosophischen Untersuchungen rund um sein Verständnis von »Sprachspiel« und dem »Regelfolgen«. Die früheren Schriften aus den 1930er Jahren werden dabei vornehmlich zur Erläuterung herangezogen, etwaige Differenzen meist zugunsten der Skizzierung des Gedankengangs hintangestellt. Des besseren Verständnisses wegen werden Wittgensteins Absetzbewegungen von seiner Frühschrift – etwa dem bedeutungstheoretischen Repräsentationsmodell der Sprache oder der Konzeption einer »Privatsprache« – mitunter stärker akzentuiert als es eine ausgewogene Interpretation zulassen dürfte. Die späteren Schriften – wie etwa die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, die Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie oder Über Gewißheit – dienen in erster Linie zur stärkeren Entfaltung dessen, was Wittgenstein unter Handlungspraktiken in einem gemeinsamen »Weltbild« in einer Pluralität von »Lebensformen« verstanden haben könnte. All diese Akzentuierungen scheinen mir notwendig, um einer komparatistischen Studie einen Boden zu bereiten, die auf die bahnbrechenden Denkbewegungen in Wittgensteins Spätwerk hinzuweisen versucht. In diesem Punkt stimme ich der Einschätzung v. Wrights zu: »Der spätere Wittgenstein hat nach meiner Anschauung keine Vorläufer in der Geschichte des Denkens, sondern sein Werk signalisiert eine radikale Abkehr von bereits vorhandenen Wegen der Philosophie. […] Der Tractatus gehört einer bestimmten Tradition der europäischen Philosophie an, die über Frege und Russell hinaus zurückreicht zumindest bis hin zu Leibniz. Mit Wittgensteins sogenannter ›Spätphilosophie‹ verhält es sich nach meiner Auffassung ganz anders. Ihr Geist ist verschieden von allem, was A
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mir aus dem abendländischen Denken bekannt ist […].« (Wright 1986, 36 f.) Im Folgenden soll nun einerseits Wittgensteins Abwendung von herkömmlichen sprachphilosophischen Überlegungen nachgezeichnet und andererseits seine Ausarbeitung eines adäquaten Zugangs zum Themenkomplex Sprache dargestellt werden, um sowohl das »Alte«, gegen das er sich absetzt, als auch das »Neue«, dem er entgegensteuert, zu umreißen.
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Wittgensteins Abgrenzung von der traditionellen Sprachbetrachtung Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert. (PU 38)
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Das metaphysische Bild der Sprache – Wittgensteins Rückgang auf Augustinus
Den Auftakt der Philosophischen Untersuchungen bildet ein längerer Textabschnitt aus Augustinus’ Confessiones, in dem dieser – von einer autobiographischen Warte aus – das Erlernen der Muttersprache schildert. Wittgenstein übersetzt die Passage, nachdem er zuvor den lateinischen Originaltext anführt, folgendermaßen ins Deutsche: »Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält, oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.« (Confessiones I, 8; zit. n. PU 1) 1 Es stellt sich die Frage, warum Wittgenstein, dem es ansonsten höchst selten um eine Debatte mit tradierten Positionen geht, sich an so prägnanter Stelle auf Augustinus bezieht. Ähnlich wie bei Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles geht es Wittgenstein im Rückgriff auf Augustinus weniger darum, mit dem spätantiken Denker in ein Gespräch zu kommen, sondern er möchte aufzeigen, wie sehr sich die Sprachüberlegungen der Folgezeit – freilich ohne explizite Be1
Vgl. Augustinus 1988, 40 f. A
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zugnahmen – im Bannkreis des »augustinischen Bilds« (vgl. PU 1) der Sprache bewegen. Wittgensteins Anliegen ist somit nicht in erster Linie eine historische Erörterung der Sprachauffassung eines spätantiken Denkers, sondern eine Diskussion über das zeitgenössische Verständnis von Sprache, das seiner Ansicht nach immer noch der Suggestivkraft dieser Vorstellungen erliegt. Ihm ist es folglich nicht um eine umfassende Darstellung und Kritik des augustinischen Sprachverständnisses zu tun, sondern er möchte anhand eines eingängigen Beispiels aufzeigen, wie sich eine bestimmte Sprachauffassung etabliert hat, die an ihren markanten Punkten höchst fragwürdig ist. 2 Die Gesprächspartner sind neben Augustinus (und Platon) 3 folglich auch vor allem Frege, Russell und er selbst als Verfasser des Tractatus. 4 In diesem Zitat bündelt sich eine ganze Vielfalt von Themenfeldern – aus diesem Grund eignet es sich ausgezeichnet als Ouvertüre für Wittgensteins spätes Hauptwerk –, denen er sich im Laufe der PhilosoEine umsichtige und ausgewogene Darstellung des augustinischen Sprachverständnisses liefert Hennigfeld (1994, 125–167), der sich nicht primär auf die von Wittgenstein angeführte Passage aus den autobiographischen Confessiones bezieht, sondern sich auf die breite Palette der sprachphilosophischen Schriften De dialectica, De magistro, De doctrina christiana und De trinitate stützt. Dezidiert gegen die Wittgenstein’sche Deutung der augustinischen Sprachauffassung wendet sich Borsche in seiner Interpretation des Dialogs De magistro: »Augustin [sieht] ein, daß wir die Bedeutung eines Wortes oder das Wissen, was etwas sei, weder durch Zeigen noch durch Vorführen der im Wort bezeichneten und im Wissen erkannten Sache selbst lehren oder lernen können. Wenigstens nicht durch das Zeigen oder Vorführen der Sache allein.« (Borsche 1986, 145) 3 Wittgenstein bezieht sich im unmittelbaren Umfeld zu den ersten Anführungen Augustins auch auf Platon: »Und Platon sagt, daß der Satz aus Hauptwörtern & Zeitwörtern besteht.« (Ms 111, 16; vgl. BT 25) Diese für Wittgenstein fragwürdige Einsicht aus den platonischen Dialogen Theaitetos (vgl. 201 e ff.) und Sophistes (vgl. 261 d ff.), dass die Frage nach der Wahr- oder Falschheit der Sprache erst im Zusammenhang mit der Synthesis aus Nenn- und Sagewort erörtert werden kann, findet sich in gewisser Weise implizit auch in den Philosophischen Untersuchungen wieder: »Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen.« (PU 1) Die expliziten Bezugnahmen auf Platon sind insgesamt in den Philosophischen Untersuchungen, im Gegensatz zu den zahlreichen indirekten Anspielungen auf platonistische Tendenzen, sehr spärlich (z. B. PU 46, 48, 518). 4 Einen konzisen Überblick über die Bezugnahmen und Auseinandersetzung des späten Wittgenstein mit den drei letztgenannten Gesprächspartnern liefern Baker und Hacker (Baker / Hacker 1980, 45–59). Der Frage, inwiefern Wittgenstein mit seiner Skizze des augustinischen Sprachverständnisses nun Frege oder Russell trifft, kann in dieser Arbeit nur andeutungsweise nachgegangen werden. 2
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Das metaphysische Bild der Sprache – Wittgensteins Rückgang auf Augustinus
phischen Untersuchungen widmen wird. So geht Augustinus zum einen auf den Erstspracherwerb ein und erklärt zum anderen aus der Perspektive des eigenen Ich, dass mittels hinweisender Gesten, der Mimik und Gebärden, die jeder Wortsprache vorgelagert sind und für ihn so etwas wie ein universales Verständigungsmittel bilden, die korrekte Verbindung zwischen den betreffenden Gegenständen und den jeweiligen Wörtern hergestellt werden kann. Die Sprache fungiert darüber hinaus als Ausdrucksmittel für innere Empfindungen und ermöglicht in einem weiteren Schritt eine Kommunikation zwischen Menschen. Dieser Vorstellung ist die Annahme inhärent, dass das Kind bereits vorsprachlich über die (kognitiven) Fähigkeiten verfügt, die Absichten der Erwachsenen in korrekter Weise zu interpretieren. Wittgenstein wird sich in den Philosophischen Untersuchungen an den problematischen Voraussetzungen dieser Sprachauffassung abarbeiten, die von der selbstverständlichen Trennung von Wortzeichen und Dingen, aber auch von dem entkoppelbaren Verhältnis von Verstehen und Sprache ausgeht. Die enorme Bedeutung, die Wittgenstein der Eingangspassage zu seinem zweiten Hauptwerk beimisst, lässt sich darüber hinaus auch daran ablesen, dass er in mehr als zwanzig Anläufen darum ringt, sie in eine ihm genehme Form zu bringen. Die Beschäftigung mit Augustinus, die zunächst nicht mehr als eine kurze Bemerkung in einem Manuskript ist, reicht bis zum Beginn der 1930er Jahre zurück (vgl. Ms 111, 15 f., 1931) und erfährt in der Folgezeit mehrere und – für den Varianten- und Parallelschreiber Wittgenstein geradezu typisch – nicht unerhebliche Bedeutungsverschiebungen, die sich bis in die Mitte der 1940er Jahre erstrecken (vgl. Ts 227 a und b, 4 f., 1944). Zusammen mit kleinen handschriftlichen Überarbeitungen bis etwa 1950 hat dieser Passus schließlich Eingang in die publizierte Version der Philosophischen Untersuchungen gefunden. 5 Neben der markanten Positionierung des Augustinus-Zitats als Auftakt zu seinem zweiten Buch lässt sich somit auch an dem wiederholten Zurückkommen auf diesen Themenkomplex die enorme Wichtigkeit, die Wittgenstein dieser Passage zugesteht, ablesen. Das augustinische Bild der Sprache hat Wittgen5 Der Textgenese der ersten vier Paragraphen der Philosophischen Untersuchungen ist Alois Pichler (1997) mit eindrucksvoller Genauigkeit nachgegangen. Eine übersichtliche Auflistung und ein Abdruck der Varianten findet sich ebenfalls bei Pichler (2004, 236 ff.). Meine werkgeschichtliche Kenntnis stützt sich weitgehend auf seine Ergebnisse.
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stein offensichtlich besonders beunruhigt, sodass er es nicht mit in einer einfachen Kritik abtun konnte. Zu sehr scheinen sich seine philosophischen Gesprächspartner an dieser Sprachauffassung samt fragwürdiger Vorannahmen zu orientieren. Bemerkenswert ist sicherlich noch, dass Wittgenstein zuerst das lateinische Original anführt und dann seine Übersetzung anbringt. 6 Zum einen belegt er anhand der eigenen Übertragung sein genuines Verständnis (und die darin implizierte Interpretation) des Zitats, zum anderen zwingt er den Leser geradewegs dazu, sich auch nochmals den lateinischen Ausgangstext anzusehen. Bereits Pichler (1997, 111) weist darauf hin, dass sich an der Übertragung ganz spezifische Auslegungstendenzen ablesen lassen: So wird res im Deutschen sicherlich bewusst mit »Gegenstand« wiedergegeben, ebenso muten die Übersetzungen von vocare als »bezeichnen« und ostendere als »hinweisen« als ganz bestimmte Deutungen des lateinischen Textes an, die den anschließenden Überlegungen Wittgensteins sicherlich entgegenkommen. Darüber hinaus setzt Wittgenstein in der deutschen Version das »ihn« (für eam rem) im Zusammenhang mit dem »hinweisen« wohl absichtlich kursiv, um den Gegenstandsbezug der ostensiven Definition (und ihre tragende Rolle in den diversen Bedeutungstheorien) mit aller Deutlichkeit zu betonen. In der ersten Bezugnahme auf Augustinus aus dem Jahr 1931, bei der dieser noch nicht wörtlich zitiert wird, hebt Wittgenstein interessanterweise hervor, dass es bei dieser Sprachbetrachtung um »die Auffassung eines natürlich-klar denkenden Mannes geht«, der darüber hinaus »von uns ziemlich weit entfernt[,] gewiß nicht zu unserem besonderen Gedankenkreis gehört« (Ms 111, 15 f.). In der Rezeption des spätantiken Denkers in den folgenden Jahren gelangt Wittgenstein jedoch immer mehr zur Einsicht, dass Augustins’ Annäherung an die Sprache einer genauen Erörterung unterzogen werden muss, da sie unterschwellig auch in ausgefeilteren und weit aktuelleren Sprachtheorien eine Rolle spielt, ja ihnen in gewisser Art und Weise zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang weist Wittgenstein dezidiert darauf hin, dass in dieser Auffassung das Benennen das »Fundament & UmEin erstes Bruchstück des lateinischen Zitats taucht erst in Ms 115, 118 (August 1936) auf, vollständig wird es in Ms 140, 40 (November 1936) zitiert, und eine mehrfach überarbeitete und hinzugefügte Übersetzung findet sich dann in Ts 227 a, 4 f. (1944; handschriftliche Überarbeitungen erfolgten bis etwa 1950).
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und-Auf der Sprache« (Ms 111, 15; vgl. BT 25) bildet. Hieran entzündet sich seine Kritik am herkömmlichen Verständnis einer intentionalistischen Bedeutungstheorie, der ostensiven Definition und dem Bestreben, ein Wesen der Sprache mittels einer exakten Analyse angeben zu können, sowie an der Konzeption einer privaten Sprache. Im Folgenden sollen von Wittgensteins Warte aus gravierende Einwände gegen die Fundamente dieser Sprachtheorien formuliert werden.
b) Die Destruktion der intentionalistischen Bedeutungstheorie Im von Wittgenstein skizzierten augustinischen Bild der Sprache wird davon ausgegangen, dass ein sprachliches Zeichen für einen außersprachlichen Gegenstand stehen muss, wenn es etwas bedeutet – und nicht als nichtssagendes Gebrabbel oder als eine Aneinanderreihung von bloßen Lauten ohne semantische Relevanz angesehen werden soll. Das einzelne Wort erhält nur dann eine spezifische Bedeutung, wenn es das, wofür es steht, korrekt repräsentiert. Sprachliche Zeichen vertreten somit etwas, das von ihnen unabhängig und vorgängig existiert. So bildet Sprache offensichtlich nachträglich etwas ab, das in der Realität oder im Bewusstsein unmittelbar schon gegeben ist. Bündig bringt Wittgenstein diese Auffassung im Anschluss an das Augustinus-Zitat auf den Punkt: »Jedes Wort hat seine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.« (PU 1) Mit jedem bedeutungshaften Wort korrespondiert in dieser Vorstellung eine einzige ihm beigelegte Bedeutung. Wittgenstein wendet sich hierbei gegen eine intentionalistisch fundierte Namenstheorie der Bedeutung, wie sie historisch John Locke zugeschrieben wird, 7 sich aber auch bei Frege oder in Wittgensteins eigenem Frühwerk finden lassen. So ist für Frege, an dessen Einsichten sich Wittgenstein im Zusammenhang mit der Bedeutungstheorie in erster Linie reibt, die Bedeutung der Gegenstand. Selbst beim Austausch unterschiedlicher Ausdrücke bleibt dieser Bezug bestehen. So haben zwar »Morgenstern« und »Abendstern« einen unterschiedlichen Sinn, aber dieselbe Bedeutung, da sich beide Terme auf denselben außersprachEine differenziertere Lektüre der Locke’schen Sprachauffassung findet sich bei Posselt (2005, 160 ff.)
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lichen Gegenstand beziehen (vgl. Frege 1994, 41). Nach Frege ist die »Bedeutung […] der Gegenstand selbst« (Frege 1994, 44). Im Unterschied zur kontextabhängigen Gegebenheitsweise des Gegenstandes als Sinn stellt die Bedeutung einen »objektiven Inhalt« (Frege 1994, 46) dar. Im Tractatus hatte Wittgenstein selbst noch diese Auffassung vertreten: »Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung.« (TLP 3.203) Diese Zuordnung von Wort und Gegenstand ist, einmal korrekt getätigt, invariant und garantiert die exakte sprachliche Abbildung von Außersprachlichem. Im Hintergrund des repräsentationstheoretischen Verständnisses von Sprache steckt die stillschweigende Annahme von einem uniformen Zusammenstand von Realität, Bedeutung und Sprache. Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit und daher nur eine einzige Bedeutung. Dem Instrument Sprache kommt nun die Aufgabe zu, die diversen Sachverhalte getreu wiederzugeben. Wittgenstein fasst diese eindimensionale gegenstandstheoretische Bedeutungskonzeption folgendermaßen zusammen: »Das Denken, die Sprache, erscheint uns nun als das einzigartige Korrelat, Bild, der Welt. Die Begriffe: Satz, Sprache, Denken, Welt stehen in einer Reihe hintereinander, jeder dem andern äquivalent.« (PU 96) Welches konkrete sprachliche Zeichen zur Abbildung einer bestimmten Bedeutung verwendet wird, spielt dabei keine entscheidende Rolle. Es ist beliebig, ob ich dem Gegenstand mit der Bedeutung Baum nun die Buchstabenfolge »Baum«, »tree« oder »albero« etc. zuordne; sie muss nur konstant verwendet werden: »Man sagt, es kommt nicht aufs Wort an, sondern auf seine Bedeutung; und denkt dabei an die Bedeutung, wie an eine Sache von der Art des Wortes, wenn auch vom Wort verschieden. Hier ist das Wort, hier die Bedeutung. Das Geld und die Kuh, die man dafür kaufen kann.« (PU 120) Bei Augustinus findet sich eine – zumindest prima vista – plausible Erklärung, wie die Menschen überhaupt zu dieser zweistelligen repräsentionalen Verbindung zwischen Gegenstand und sprachlichem Zeichen kommen. Durch hinweisende Gebärden verstand er als Kind, was die Erwachsenen meinten und welche Namen sie den Dingen beilegen wollten. »›Bedeutung‹«, so Wittgenstein in einer knappen Formulierung im Big Typescript, »kommt von ›deuten‹« (BT 27). Um die Bedeutung eines Wortes zu erklären bzw. ihm überhaupt eine Bedeutung beizulegen, zeigt man einfach auf den gewünschten Gegenstand und legt ihm den betreffenden Namen bei. Diese von Wittgenstein in 94
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der Weise skizzierten bedeutungstheoretischen Überlegungen fußen folglich auf der Annahme, dass Wörter von einem sich selbst transparenten und souveränen Bewusstsein mit Bedeutung beladen werden, indem es eine intentional fundierte Verbindung zwischen dem Gegenstand und dem sprachlichen Zeichen herstellt. Diesen Konnex aus einer vorgegebenen Wirklichkeit und der nachträglichen Abbildung in Form von Sprache durch bedeutungsstiftende Intentionen bezeichnet Wittgenstein als einen »merkwürdige[n] seelische[n] Akt« (PU 38), in dem die Namengebung analog zu einer Taufhandlung vorgestellt wird: »Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namenstäfelchen anheften.« (PU 15) Was stört Wittgenstein nun an diesem scheinbar recht brauchbaren und stabilen Repräsentationsmodell zwischen Welt, Bedeutung und Sprache, das auf der ostensiven Definition beruht? Ist es nicht so, dass sprachliche Ausdrücke ganz selbstverständlich dafür benutzt werden, um objektive Sachverhalte oder subjektive Ideen, die unabhängig von ihrer sprachlichen Vermittlung existieren, diversen Mitmenschen kundzutun? Die Funktion von Wörtern besteht doch darin, von uns gehegte Absichten oder Gedanken, an sich seiende Gegenstände oder Tatbestände zu bezeichnen. Die sprachlichen Zeichen sind das Instrumentarium, mittels dessen wir uns benennend, behauptend, beschreibend etc. auf physische oder psychische Objekte beziehen. Geht die spezifische Bedeutung dieser realen oder mentalen Gegenstände den an sich bedeutungslosen Sprachzeichen nicht immer voraus? 8 Erhalten diese ihre jeweilige Bedeutsamkeit nicht vermittelt durch intentionale Akte? So skizziert Wittgenstein im Blauen Buch auch diese AuffasMit Wellmer können diese Tendenzen des herkömmlichen Sprachverständnisses als semantischer und hermeneutischer Objektivismus bezeichnet werden: »Mit ›semantischem Objektivismus‹ meine ich eine Auffassung des sprachlichen Bedeutens, wonach das sprachliche Bedeuten als eine einfache Beziehungsrelation zwischen einem Zeichen und einem Objekt verstanden wird, wobei dies Objekt ein Ding, eine allgemeine Vorstellung […], ein Gedanke, ein Wunsch usw. sein kann. […] Hermeneutischer Objektivismus ist die Auffassung –, wonach der Sinn, der verstanden werden soll, etwas in der Welt, vorzüglich in der geistigen Welt von Sprechern, objektiv Vorhandenes ist, und zwar unabhängig von seiner sprachlichen Artikulation und vom Prozeß der Kommunikation und Interpretation.« (Wellmer 2004, 21 f.) Diese »anti-objektivistische Wende« (Wellmer 2004, 22), wie Wellmer leicht missverständlich formuliert, darf jedoch nicht in dem Sinne aufgefasst werden, dass es sich fortan um ein subjektivistisches Projekt handeln würde. Es wird sich zeigen, dass beide Zugangsweisen – Objektivismus und Subjektivismus – das Phänomen der Sprachlichkeit verfehlen.
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sung von Sprache: »Die Zeichen unserer Sprache erscheinen tot ohne diese geistigen Vorgänge; und es könnte der Eindruck entstehen, daß es die einzige Funktion der Zeichen ist, solche Vorgänge hervorzurufen, und daß diese Vorgänge eigentlich das sind, wofür wir uns interessieren sollten.« (BB 18) Für Wittgenstein bewegt sich diese Sprachauffassung auf unzutreffenden Auslegungsbahnen, und er interessiert sich gerade nicht für geistige Vorstellungen, die diese Art der intentionalistischen Bedeutungstheorie stützen, sondern er ringt unentwegt darum, dieses Verständnis der Sprache in vielen Punkten zu unterwandern und zu hinterfragen. Vorab sei darauf hingewiesen, dass die Ablehnung einer bedeutungstheoretischen Sprachauffassung und ihrer Merkmale, im Nachhinein die Verbindung zwischen Wörtern und Gegenständen in einem (konventionalistischen) Akt der Benennung herzustellen, nicht dahingehend missverstanden darf, dass Wittgenstein für eine – wie auch immer geartete – a priori gegebene Übereinstimmung von Realität und sprachlichen Zeichen eintritt. Die bereits im vorigen Kapitel angedeutete Gegenüberstellung der beiden Denkrichtungen in der platonischen Sprachbetrachtung, zwischen physei und thesei, stellt für ihn keine adäquate Wahlmöglichkeit dar. Seine Herangehensweise ist somit weder eine konventionalistische noch eine naturalistische. Wittgenstein bemerkt zu Beginn seiner Erörterung, dass die augustinische Sprachvorstellung nicht grundlegend falsch sei, sondern er hebt hervor, dass sie zu simplifizierend sei: »Jener philosophische Begriff der Bedeutung ist in einer primitiveren Vorstellung von der Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, zu Hause.« (PU 2) Wittgenstein räumt zwar ein, dass es für ihn durchaus vorstellbare Möglichkeiten gibt, wie er es auch anhand des Bauarbeiterbeispiels belegt (vgl. PU 2), in denen diese Auffassung von Sprache zum Tragen kommen kann. Es gibt aber auch Sprachsituationen, die den Anspruch einer umfassenden Deutung der Sprache mithilfe des z. B. von Augustinus beschriebenen Bedeutungsmodells unterlaufen, da dieses Verständnis von Sprache in mehrfacher Hinsicht zu kurz greift: »Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System.« (PU 2) Der erste Kritikpunkt besteht darin, dass dieses Modell der Sprache vornehmlich auf Substantiva (Nomina) mit einem unmittelbar einsichtigen Gegenstandsbezug beruht. Die facettenreiche Bandbreite der verschiedenen Wortarten wird dabei nicht berücksichtigt. In der 96
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Sprache wird jedoch nicht nur, wie es Augustinus suggeriert, über Dinghaftes gesprochen. Worauf wird denn gezeigt, wenn beispielsweise Verben wie »überlegen« oder »bezeugen«, Adjektive wie »stimmig« oder »abgründig«, Partikel wie »vielleicht« oder »falls« oder auch so genannte Abstrakta wie »Schönheit« oder »Unabhängigkeit« gemeint sind? Offensichtlich ergibt sich hier eine Vielzahl von Problemen, die im Rahmen einer gegenstandsbezogenen Bedeutungstheorie nicht einfach zu meistern sind (vgl. PU 27). In diesem Modell wird aufgrund derselben grammatikalischen Form 9 auf eine dingontologische Grundstruktur geschlossen. So weist Wittgenstein im Blauen Buch auf diese Art der Fehlschlüsse eindringlich hin: »Wenn Wörter in unserer Umgangssprache prima facie analoge Grammatiken haben, sind wir geneigt zu versuchen, sie analog zu deuten.« (BB 23) Die grammatische Struktur unserer Sprache, die den menschlichen Verstand in dieser Beziehung in gewisser Weise verhext (vgl. PU 109), legt die Vermutung nahe, dass – ähnlich wie bei Gegenständen – hinter jedem Wort ein Referent steht. Sollte sich dieser nicht unmittelbar in materieller Form ausweisen lassen, wird kurzerhand in einem dinganalogen Rahmen auf etwas »geistig« Feststehendes – gleichsam als dahinterstehende platonistische (nicht platonische) Idee – geschlossen: »Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.« (PU 36) Auf diesen grammatikalischen Kurzschluss macht Wittgenstein besonders im Zusammenhang mit essentialistischen Fragestellungen aufmerksam: »›Was ist der Sinn?‹ Und wir machen aus ›ihm‹ ein Schattenwesen, eines der vielen, die wir erschaffen, wenn wir Substantiven, denen kein körperlicher Gegenstand entspricht, Bedeutung geben wollen.« (BB 63) Große Verwirrung stiften beispielsweise auch Demonstrativpronomen, da hier keine stabile Verbindung zwischen Namen und Gegenstand herzustellen ist, weil sie stets vom Kontext abhängig ist und beliebig oft wechseln kann. »Dieses« oder »jenes« kann einmal ein Buch, ein anderes Mal ein Fußballtrikot sein; deiktische Bezeichnungen funktionieren gerade nicht analog zu einem Namen mit einem festen Gegenstandsbezug. So stellt Wittgenstein die provokative Frage: »Aber charakteristisch für den Namen ist gerade, daß er durch das hinweisenDer Terminus »Grammatik« wird hier noch nicht in dem genuin wittgensteinschen Sinne verwendet, sondern in der Weise, die er als »Oberflächengrammatik« (im Gegensatz zur »Tiefengrammatik«) bezeichnet (vgl. PU 664).
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de ›Das ist N‹ (oder ›Das heißt ›‚N‘‹) erklärt wird. Erklären wir aber auch: ›Das heißt ‚dieses‘‹, oder ›Dieses heißt ‚dieses‘‹«? (PU 38) 10 Ebenso weist Wittgenstein die Vorstellung als unhaltbar zurück, dass bei jedem Nomen die Bedeutung mit dem Gegenstand gleichzusetzen sei. Gerade bei Eigennamen scheint dieser Zusammenfall höchst seltsame Blüten zu tragen, wenn man davon ausgehen müsste, dass mit dem Tod eines Namenträgers auch dessen Bedeutung verschwinden müsste, da sie keinen Referenten mehr besäße. Dieser Auffassung zur Folge hätte es laut Wittgenstein »keinen Sinn, zu sagen ›Herr N.N. ist gestorben‹« (PU 40). Da eine solche Aussage aber sehr wohl unter mehreren denkbaren Hinsichten einen Sinn besitzt, muss auch die zu kurz gefasste Anschauung, dass Bedeutung und Gegenstand bzw. dass das, wofür ein Wort steht, sowie die Bedeutung eines Wortes ausnahmslos zusammenfallen, zurückgewiesen werden. Auch Sätze über Fabelwesen oder rein imaginäre Objekte, wie das sagenumwobene Schwert »Nothung«, hätten in dieser strikten Auffassung keinen Platz, da sie keinen ausweisbaren Referenten besitzen: »Dann aber stünde in dem Satz ›Nothung hat eine scharfe Scheide‹ ein Wort, das keine Bedeutung hat, und daher wäre der Satz Unsinn. Nun hat er aber Sinn […]« (PU 39) – beispielsweise im Kontext von Wagners Ring der Nibelungen. Wittgenstein stellt sich darüber hinaus noch die Frage, ob überhaupt davon auszugehen ist, dass Eigennamen eine feste Bedeutung besitzen. So kann die Bestreitung der Existenz einer (historischen) Figur – Wittgenstein führt als Beispiel Moses an – höchst Unterschiedliches heißen: »Wenn man sagt ›Moses hat nicht existiert‹, so kann das Verschiedenerlei bedeuten: Es kann heißen: die Israeliten haben nicht einen Führer gehabt, als sie aus Ägypten auszogen – oder: ihr Führer hat nicht Moses geheißen – oder: es hat keinen Menschen gegeben, der alles das vollbracht hat, was die Bibel über Moses berichtet – oder etc. Wittgenstein scheint sich hier in erster Linie an Russell abzuarbeiten. Obwohl Baker / Hacker in ihrem Kommentar betonen, »[a]lthough Russell is mentioned as an arch sinner, criticism is not so much targed on him as directed at a very general position that is exemplified conspicuously in his writings« (Baker / Hacker 1980, 223), führen sie wenig später folgende Belegstelle aus seinem Essay The Philosophy of Logical Atomism aus dem Jahr 1918 an: »That makes it very difficult to get any instance of a name at all in the proper strict logical sense of the word. The only words one does use as names in the logical sense are words like ›this‹ or ›that‹.« (Russell 1956, 201; zit. nach Baker / Hacker 1980, 224)
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etc.« (PU 79) Die mit Moses in Verbindung gebrachten Assoziationen könnten auf die eine oder andere Weise noch weiter fortgesetzt werden. Wichtig scheint hier für Wittgenstein zu sein, dass es nicht eine unmissverständlich anführbare und alle Kontexte umfassende Definition eines Namens geben kann. Bei einer Leugnung der Person Moses wird es dann Rückfragen geben, was genau man damit meint, wenn man behauptet, sie habe nicht existiert. Bezieht sich die Infragestellung auf die biblischen Wunderberichte, auf das Findelkind oder auf die ägyptische Unterdrückung des Volkes Israel usw. Es gibt folglich nicht eine einzige Bedeutung eines Namens, sondern ein ganzes Geflecht von Bedeutungen, das sich gemäß der Fragestellung und der Situation anders konstituieren wird. Wittgenstein kommt daher zum Schluss: »Ich gebrauche den Namen ›N‹ ohne feste Bedeutung.« (PU 79) Diese Unbestimmtheit ist nun für Wittgenstein kein zu behebender Mangel, da wir, trotz der Unmöglichkeit »N« auf eine einzige Bedeutung zurückzuführen, in unserem alltäglichen Gebrauch damit umgehen können. Die Namenstheorie der Bedeutung, die sich in einer zweistelligen Bezeichnungsrelation auf eine invariante und feste Beziehung zwischen signatum und signum beruft, erweist sich für Wittgenstein somit als höchst problematisch. Es lässt sich einerseits nicht die Bedeutung aller Wortarten in einem dinganalogen Referenzrahmen herleiten und andererseits ergeben sich gerade in Hinblick auf die Namensgebung seltsame Verstrickungen zwischen dem Träger eines Namens und der jeweiligen Bedeutung, sodass die Gleichsetzung zwischen Bedeutung und Gegenstand in mehreren Fällen zurückgewiesen werden muss. Es wird sich zeigen, dass sich das Phänomen Sprache weit komplexer erweist: weder eine intentionalistische Bedeutungstheorie noch die einseitige Orientierung an Nomina noch die atomistische Konzeption der Sprache werden sich als rundum überzeugend erweisen. Immer stärker wird sich die gesamte Herangehensweise dieser Sprachkonzeption, nach dem Wie der Zusammenführung von einem (außerund vorsprachlichen) Gegenstand mit dem sprachlichen Zeichen als Träger der Bedeutung zu fragen, als zu kurz gegriffen erweisen. Hierbei evoziert Wittgenstein eine Verschiebung der Inblicknahme der Sprache aus einem Blickwinkel einer Namenstheorie der Bedeutung hin zu einer Erkundung des verstehenden Gebrauchs, der sich immer schon in sprachlichen Kontexten artikuliert.
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Das Ungenügen der ostensiven Definition
Die hinweisende Erklärung, die sich auf unmittelbar gegebene Objekte bezieht, vermag es laut Wittgenstein nicht, in einem noch sprachfreien Umfeld Wörtern eine Bedeutung eindeutig und unmissverständlich zuzuordnen: Bei der ostensiven Definition einer bestimmten Zahl wird vermutlich auf die entsprechende Anzahl von Dingen – Wittgenstein verwendet in diesem Zusammenhang das Beispiel von zwei Nüssen (vgl. PU 28) – gezeigt. Doch Wittgenstein fragt sich, ob der noch vollkommen Sprachlose, der diesen Hinweis bekommt, ihn überhaupt verstehen kann. Muss er zwingend annehmen, so seine kritische Überlegung, dass nur diese bestimmte Anzahl – und nicht etwa die Größe, Form oder Farbe – gemeint ist? Eindrucksvoll führt Wittgenstein die Unbestimmtheit der hinweisenden Definition im Blauen Buch vor Augen, indem er als Beispiel den Erklärungsversuch mit dem gänzlich unbekannten Wort »TOFF« anführt: »Nun kann die hinweisende Definition ›Das ist TOFF‹ auf alle möglichen Weisen gedeutet werden […]: Das ist ein Bleistift. / Das ist rund. / Das ist Holz. / Das ist eines. / Das ist hart etc. etc.« (BB 16 f.) Es ergeben sich hier eine ganze Reihe von Uneindeutigkeiten, die einer exakten und unumstößlichen Beziehung zwischen gemeintem Gegenstand und beigelegtem Namen zuwiderlaufen, und er kommt zum Schluss: »[D]ie hinweisende Definition kann in jedem Fall so oder anders gedeutet werden.« (PU 28) Damit die ostensive Erklärung überhaupt glücken kann, muss die jeweilige Funktion, die das betreffende Wort einnehmen soll, bereits bekannt und zumindest beschreibbar sein. Man muss gemäß Wittgenstein schon in den Kontext eingeführt, im betreffenden Sprachspiel abgerichtet sein. Das kann allerdings nicht in einem vorsprachlichen Rahmen geschehen, sondern das Augenmerk muss darauf gerichtet sein, »was vor und nach dem Zeigen geschieht« (PU 35), indem beispielsweise im vorhinein auf einen intendierten Erklärungsbereich hingewiesen (»Diese Farbe wird purpurrot genannt.«) oder im nachhinein eine nicht in der Weise beabsichtigte Annahme korrigiert wird, wie etwa der Satz: »Nein, ich habe nicht die Größe oder Farbe gemeint, sondern die Anzahl.« Diese Korrekturen finden jedoch nicht in einem kontextlosen oder sprachfreien Raum statt, sondern manifestieren sich laut Wittgenstein immer in Gesten und Handlungen innerhalb eines sprachlich erschlossenen Zusammenhanges. Erst wenn von einem noch Unwissenden (aber nicht Sprachlosen) gefragt werden kann, worauf 100
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man sich denn beziehe, kann ihm durch konkrete Beispiele die richtige Antwort geliefert werden. In einer kontextuellen Verankerung eines sprachlichen Hintergrunds können somit Fehldeutungen durch ostensive Hinweise beseitigt werden. Doch die Möglichkeit einer neuerlich unzutreffenden Interpretation, eines abermaligen Scheiterns oder wiederholten Misslingens der hinweisenden Erklärung bleibt selbst im sprachlichen Bezugsraum immer bestehen (vgl. Schulte 1989, 196). Im sprachlichen Rahmen hat der hinweisende Gestus seine volle Berechtigung, nicht aber bei einer gänzlich außersprachlichen Definition der Sprache: »Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch – die Bedeutung – des Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort überhaupt spielen soll. […] Man muß schon etwas wissen (oder können), um nach der Benennung fragen zu können. Aber was muß man wissen?« (PU 30) Die ostensive Definition schafft es laut Wittgenstein gerade nicht, den Transfer von einem gänzlich vorsprachlichen Bereich in die sprachliche Sphäre plausibel zu erklären. Wittgenstein erweist sich hierin als beharrlicher Opponent der (radikalen) Konventionsthese. Vermeintlich außersprachliche Konventionen können nicht dazu beitragen, einen ersten Sprachgebrauch zu fundieren. Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass ein merkwürdiges »Vor-Wissen« oder ein »Vor-Können« in Anspruch genommen wird, um innerhalb eines sprachlich erschlossenen Zusammenhangs nach diesem oder jenem fragen zu können. Gleichzeitig lässt er vorerst offen, was dieses Wissen ist bzw. wie dieses Wissen verstanden werden muss. Einsichtig wird jedoch, dass jede Konvention respektive jeder hinweisende Gestus notwendigerweise immer schon auf Sprache bzw. sprachliches Verstehen rekurriert, indem etwas als etwas innerhalb einer bestimmten Hinsicht vernommen wird: »Das heißt aber, daß jede Art des Verständlichmachens einer Sprache schon eine Sprache voraussetzt. Und die Benützung der Sprache in einem gewissen Sinne nicht zu lehren ist. D. h. nicht durch die Sprache zu lehren, wie man etwa Klavierspielen durch die Sprache lernen kann. – / D. h. ja nichts anderes als: Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus.« (PB 54, herv. v. M. F.) 11
11 Ausführlich geht Davidson dieser Fragestellung in seinem Aufsatz Kommunikation und Konvention nach. Er gelangt dabei zur Auffassung, dass »Konvention […] keine Bedingung der Sprache ist. […] In Wahrheit dagegen ist die Sprache eine Bedingung für das Vorhandensein von Konventionen.« (Davidson 1999, 393)
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Ja, selbst der hinweisende Gestus als solcher muss erst als solcher verstanden werden, denn Gebärde selbst muss nicht zwingend als ostensiver Hinweis ausgelegt werden. Es ist vorstellbar, dass ein Kind, das zum ersten Mal mit dem Zeigefinger auf etwas aufmerksam zu machen versucht wird, nach der Hand greift oder den vehement gestikulierenden Erwachsenen anblickt und gerade nicht in die intendierte Zeigerichtung. Es wird wohl darauf ankommen, ob das Kind mit der Geste schon vertraut ist – oder nicht. 12 Wittgensteins Ausführungen sind von einer tiefen Skepsis all jenen Theorien gegenüber getragen, die einem erstanfänglichen bedeutungsstiftenden Akt nachspüren wollen. Gegenüber dieser bedeutungstheoretischen Inblicknahme, die stets einzelnen Zusammenschlüssen von Gegenstand und Zeichen nachjagt, plädiert er für die Berücksichtigung von sprachlich eröffneten Zusammenhängen, in die der Mensch immer schon eingelassen ist und innerhalb derer der hinweisende Gestus verstanden werden kann.
d) Unzulänglichkeiten der Analyse in der Suche nach einer Essenz Das Repräsentationsmodell der Sprache geht davon aus, dass der alleinige Zweck der Sprache darin besteht, die Wirklichkeit korrekt abzubilden und getreu zu beschreiben. Diese Auffassung der Sprache als ein »Spiegelbild der Welt« (TLP 6.13) hat Wittgenstein im Tractatus noch selbst vertreten: »Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendiges Bild – den Sachverhalt vor. // Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.« (TLP 4.0311 f.) Der Rückgriff auf die Projektionsmethode erlaubt es auch, zwischen wahren und falschen Sätzen zu unterscheiden: Sätze sind dann wahr, wenn sie mit dem abzubildenden Sachverhalt korrespondieren, und dann unwahr, wenn sie damit nicht übereinstimMit einem ironischen Unterton hinterfragt Wittgenstein im Zusammenhang mit der Erörterung des Regelfolgens die naturgegebene Selbstverständlichkeit der hinweisenden Definition: »Dieser Fall hätte die Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung der Fingerspitze.« (PU 185)
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Unzulänglichkeiten der Analyse in der Suche nach einer Essenz
men: »Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, daß es sich so verhält.« (TLP 4.022) Das erklärt auch, warum in der Tradition stets der verifizierbare Aussagesatz im Mittelpunkt der Sprachbetrachtung steht: Allein das Urteil bewegt sich im Rahmen dieser Bedeutungstheorie und korrespondiert logisch in der isomorphen Weise mit einer »außersprachlichen« Wirklichkeit. So wie Heidegger auf die problematische Entwicklung hingewiesen hat, dass stets der wahrheitsfähige logos apophantikos als die privilegierte Weise des Sprechens angesehen wurde, macht Wittgenstein ebenso auf diese nicht zulässige Einschränkung aufmerksam. Es erweist sich als höchst fraglich, dass sich sprachliche Vollzüge stets auf eine ihnen vorgelagerte Realität beziehen und sich die Sprache in einer isomorphen Abbildungsfunktion erschöpft. Darüber hinaus scheint es nicht ohne weiteres ausgemacht zu sein, dass allen Sprachvollzügen die Struktur der Beschreibung als allgemeine Form inhärent sein muss. Auch diese Ansicht hat der frühe Wittgenstein noch vertreten: »Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so.« (TLP 4.5) 13 Ja, es erscheint mehr als ungewiss, ob sich überhaupt alle denkbaren Satzarten auf ein einheitliches Fundament zurückführen oder sich auf eine einzige Funktion reduzieren lassen. So weist Wittgenstein in aller Deutlichkeit das Unternehmen zurück, die elementaren Bausteine der Sprache, auf denen sämtliche Sprachhandlungen beruhen, mittels einer exakten Analyse eruieren zu können. Dabei wendet er sich sowohl gegen die Möglichkeit einer invarianten Reduktion auf elementare Bestandteile der Sprache als auch gegen ein uniformes Exaktheitsideal. Beide Bestrebungen entpuppen sich in Wittgensteins Spätphilosophie als metaphysische Fiktion. So umfasst zum einen Freges »Satzradikal der Behauptung« (vgl. PU 22) längst nicht alle möglichen Sprachvollzüge. Ganz im Gegenteil: diese vereinheitlichende Herangehensweise unterschlägt die offene Vielzahl von sprachlichen Möglichkeiten wie z. B. eine Geschichte erfinden, einen Witz erzählen, bitten, danken, fluchen usw. (vgl. PU 23), 13 In seiner Spätphilosophie bezieht er sich explizit auf diese unzulässige Reduktion aller Sprachvollzüge auf eine einzige Form wie etwa die Konstatierung von Sachverhalten: »Das Grundübel der Russellschen Logik sowie auch der meinen in der L. Ph. Abh. ist, daß, was ein Satz ist, mit ein paar gemeinplätzigen Beispielen illustriert, und dann als allgemein verstanden vorausgesetzt wird.« (BPP I, § 38)
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die sich nicht auf eine Sprachform einschränken lassen. Es muss sogar gefragt werden, welche Rolle dem propositionalen Gehalt in einer völlig abstrakten Form überhaupt zugestanden werden kann. Wittgenstein formuliert seine Bedenken folgendermaßen: »Aber ›Daß das und das der Fall ist‹, ist eben in unsrer Sprache kein Satz – es ist noch kein Zug im Sprachspiel. […] [D]ann sind hier die Worte ›Es wird behauptet‹ eben überflüssig.« (PU 22) Nicht der propositionale Gehalt einer Behauptung steht im Fokus der wittgensteinschen Aufmerksamkeit, sondern das sich im tatsächlichen Gebrauch befindende Wort oder der Satz. So weist er auch – obwohl die grammatikalische Form uns dazu verführt, einen immer gleichbleibenden Satzbau anzunehmen – die Vorstellung einer mentalistisch verstandenen Tiefenstruktur als unhaltbar zurück. Nach den herkömmlichen Einteilungskriterien ist es etwa unklar, ob der Befehl »Platte!«, wie er zwischen Bauarbeitern verwendet werden kann, ein Satz oder ein Wort ist, denn der Ausruf eines vermeintlich einzelnen Wortes erfüllt die Funktion des ganzen Satzes »Bring mir eine Platte!«. Die Order »Platte!« aber als degenerierten oder elliptischen Satz der grammatikalisch vollständigen Anweisung »Bring mir eine Platte!« aufzufassen, stellt Wittgenstein energisch in Frage. Könnte es nicht sein, dass der ausführliche Satz bloß eine Verlängerung der kurzen Aufforderung ist? Orientiert man sich tatsächlich, wie eine Gegenstimme behauptet, bei jeder knappen Instruktion parallel im Inneren an einer umfassenden grammatikalischen Tiefenstruktur? »Aber wie machst du das, dies meinen, während du ›Platte‹ sagst? Sprichst du dir inwendig den unverkürzten Satz vor?« (PU 19) Wittgenstein lässt sich nicht auf die Debatte ein, denn die Einteilungskriterien von »elliptisch« und »vollständig« beruhen lediglich auf einem »bestimmten Vorbild unserer Grammatik« (PU 20). Der tatsächliche Gebrauch, der sehr unterschiedlich sein kann, wird hier jedoch nicht beachtet. So richten wir uns laut Wittgenstein in unserem alltäglichen Gebrauch von Sprache nicht nach einer invarianten Form, sondern nach dem jeweiligen Gebrauch der Sprache (ob der Befehl »Platte!« nun als Satz oder Wort bestimmt wird, hängt jeweils vom Kontext ab). Diese kann nicht auf eine grammatikalische oder mentalistische Begründung zurückgeführt werden. So erweist sich eine hierarchische Einteilung von »kompletten« und »inkompletten« Sätzen als irrelevant: »Schweben einem dabei etwa diese Sätze vor? Und alle? Und während man den einen Satz sagt, oder vor-, oder nachher? – Nein! […] Wir sagen, wir gebrauchen den Befehl im Gegensatz zu andern 104
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Sätzen, weil unsere Sprache die Möglichkeit dieser andren Sätze enthält.« (PU 20) Ähnlich wie Heidegger weist auch Wittgenstein darauf hin, dass wir im Sprechen nicht auf Dinge verwiesen werden, die irgendwie »hinter« der Sprache liegen würden, sondern im Vollzug des Gesprächs bzw. im Ausüben des Sprachspiels sind wir bei der besprochenen Sache: »Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ›Bedeutungen‹ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens.« (PU 329) Jede Trennung in einen vorgängigen Sachverhalt, der im Denken präsent wäre und nachträglich zur Artikulation kommen kann, verkennt die eröffnende Dimension der Sprache. Neben der Destruktion mentalistischer Konzeptionen wendet sich Wittgenstein gegen die essentialistische Vorgehensweise der tradierten Sprachauffassung. Das Bestreben der Analyse, die Sprache auf ihre gesuchte Essenz in Form von »einfachen Bestandteile[n]« (PU 47) zurückzuführen, muss laut Wittgenstein die Untersuchung nicht notwendig weiterbringen. Um dies anschaulich zu verdeutlichen, greift er auf lebensweltliche Beispiele zurück. Kann man davon ausgehen, dass die Zerlegung eines Besens in seine Bestandteile Stiel und Bürste einen Zugang zu einer fundamentaleren Form gewährt? Ist die nicht-analysierte Form – in diesem Fall der Besen – notwendigerweise immer die abkünftige und zusammengesetzte? Gerade das Exempel aus der Alltagswelt widerspricht dieser Annahme, da der Satz »Bring mir bitte den Besen!« in vielerlei Hinsichten einfacher und verständlicher ist als der Ausdruck »Bring mir bitte die Bürste mit dem Stiel!«. Unter anderen Umständen kann sich dieses Verhältnis jedoch wieder anders gestalten. Wittgenstein weist deshalb darauf hin, dass jede strikt hierarchische Einteilung von »zusammengesetzt« und »einfach« in diesen Beispielen in Frage gestellt werden muss. So kann in der einen Herangehensweise etwas sichtbar werden, was in der anderen unentdeckt bleibt – und umgekehrt: »Aber kann ich nicht sagen, daß diesem [der analysierten Form, M. F.] ein Aspekt der Sache verloren geht, so wie jenem [der unanalysierten Form, M. F.]?« (PU 63) Es ist nach Wittgenstein somit unzulässig von der ursprünglichen Form zu sprechen, von der alles ableitbar sein soll; auch die Unterscheidung »analytisch«/ »synthetisch« wird in diesen Zusammenhängen hinfällig, da weder von der einen noch von der anderen Form die weiteren ableitbar sind. Auch der »zusammengesetzte« Besen – um auf das vorige Exempel zurückzukommen – muss nicht immer der Ausgangspunkt sein. Wenn A
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ich beispielsweise eine Bürste benötige, so werde ich auch nicht davon sprechen, dass ich einen »Besen ohne Stil« brauche. Einen absoluten und kontextinvarianten Rahmen, der für die strikte Einteilung von »zusammengesetzt«/»einfach« notwendig wäre, gibt es nicht. Entscheidend sind für Wittgenstein vielmehr der lebensweltliche Gebrauch und das Funktionieren eines tatsächlich verwendeten Ausdrucks im Alltag, der je nach Kontext verschieden ausfallen kann. In diesem Sinne stellt er das logische Exaktheitsideal radikal in Frage: »Aber hier wäre das Wort ›ideal‹ irreführend, denn das klingt, als wären diese Sprachen besser, vollkommener, als unsere Umgangssprache; und als brauchte es den Logiker, damit er den Menschen endlich zeigt, wie ein richtiger Satz ausschaut.« (PU 81) 14 Das Gegensatzpaar »analytisch«/»synthetisch« wird zusätzlich dadurch in Frage gestellt, dass weder immer ausgemacht ist, was nun einfach und was zusammengesetzt tatsächlich heißt, noch wie eine Zusammensetzung erfolgen soll. Wiederum unterläuft Wittgenstein die klassische Einteilung: »Auf die philosophische Frage: ›Ist das Gesichtsbild dieses Baumes zusammengesetzt, und welches sind seine Bestandteile?‹ ist die richtige Antwort: ›Das kommt darauf an, was du unter ‚zusammengesetzt‘ verstehst.‹ (Und das ist natürlich keine Beantwortung, sondern eine Zurückweisung der Frage.)« (PU 47) Es ist nach Wittgenstein unmöglich, eine letzt- und allgemeingültige Antwort zu geben. Vielmehr wird es immer auf den Blickpunkt ankommen, von dem her diese Frage formuliert wird. Damit hat die Forderung nach ehernen Einteilungsschemata keine universelle Berechtigung und muss daher zurückgewiesen werden. Ebenso scheint das propagierte Exaktheitsideal nicht über alle situativen Umstände erhaben zu sein. Was unter »Exaktheit« zu verstehen ist, wird je nach Kontext unterschiedlich bestimmt sein – bzw. überhaupt nicht in quantitativen Größen fixierbar sein. Keineswegs, so Wittgensteins Hinweis, sind wir immer und ausschließlich an eine mathematisch berechenbare Bestimmtheit gebunden: »Wenn ich Diese Bemerkung der Philosophischen Untersuchungen lässt sich als korrigierende Antwort auf zentrale Thesen des Tractatus lesen, in dem Wittgenstein das Problem noch ganz auf eine idealsprachliche Lösung zusteuern lassen wollte: »In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, daß dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet […], oder, daß zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden. […] So entstehen leicht die fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist).« (TLP 3.323 f.)
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einem sage ›Halte dich ungefähr hier auf!‹ – kann diese Erklärung nicht vollkommen funktionieren? Und kann jede andere nicht auch versagen?« (PU 88) Die Beschreibung kann beispielsweise zutreffen, wenn ich auf einem Fußballplatz dem neuen Linksverteidiger seine Position in der Viererabwehrkette zuweise. Mit mathematisch exakten Angaben, wie z. B. wenn sich der Ball 20,5 m in der gegnerischen Hälfte befindet, musst du 14,7 m von der Mittelfeldauflage und 6,8 m vom linken Spielfeldrand entfernt sein, wird wahrscheinlich kein Spieler etwas anfangen können. Wenn ich ihm aber seine Position mit dem von Wittgenstein zuvor angeführten Satz »Halte dich ungefähr hier auf!« zeige, wird er die Anweisungen wohl eher verstehen. Als Hauptursache für die Rückführung auf »exakte« Ergebnisse gilt für Wittgenstein »unsere Voreingenommenheit für die naturwissenschaftliche Methode« (BB 39). Die Reduktion auf einfachste und verallgemeinerbare Gesetzlichkeiten verleitet den Verstand dazu, alle Kontexte durch die Brille einer universalisierbaren Vorgehensweise zu sehen. Diese Ausdehnung der berechenbaren Verfahren und die Rückführung aller Erscheinungen auf einen kleinsten (und damit allgemeingültigen) Nenner hält Wittgenstein für unzulässig. Als die hartnäckigsten Essentialisten und Methodenuniversalisten erweisen sich dabei einmal mehr die Philosophen: »Philosophen haben ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind in der unwiderstehlichen Versuchung, Fragen nach der Art der Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten. Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.« (BB 39) Diese reduktionistischen Herangehensweise, die nach einer exakten Definition Ausschau hält, zeigt sich nach Wittgenstein besonders darin, dass in der philosophischen Tradition stets nach dem invarianten Wesen in Form einer kontextunabhängigen Bedeutung, nie jedoch nach der lebensweltlichen, in seinen Ausprägungen oft unterschiedlichen Verwendung gefragt wird. 15 Diese Suche nach einer dahinterstehenden Essenz verursacht laut Wittgenstein in »uns einen geistigen Krampf« (BB 15). Nach seinem Verständnis muss die Philosophie nicht darum ringen, praxis-reine Bedeutungen zu erheischen, sondern sie muss sich in erster Linie um ein sensibles Verneh15 Auf diese Theorielastigkeit der traditionellen Philosophie weist Wittgenstein immer wieder hin: »Ich will sagen: die Frage ›was ist …‹ bezieht sich nicht auf einen besonderen – praktischen – Fall, sondern wir fragen sie von unserem Schreibtisch aus.« (BT 415 f.)
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men und ein genaues Beschreiben der diversen Fallbeispiele kümmern: »Anstelle von ›Streben nach Allgemeinheit‹ hätte ich auch sagen können ›die verächtliche Haltung gegenüber dem Einzelfall‹.« (BB 39) 16 Aus diesen vielfachen Gründen kommt Wittgenstein zum Schluss, dass Augustinus in seinen autobiographischen Bekenntnissen – entgegen seiner Intention – nicht den primären Spracherwerb schildert, sondern vielmehr das Erlernen einer Zweitsprache: »[S]o als habe es [das Kind] bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen.« (PU 32) Das Kind muss in dieser Vorstellung bereits eine innere, gleichsam rein geistige Sprache haben und damit denken können, um in einem zweiten Schritt die öffentliche Verbalsprache der Erwachsenen zu erlernen. Das Denken – aber auch Fühlen und Empfinden – wäre so verstanden der allgemein-öffentlichen Sprache vorgelagert und unabhängig von ihr. Wittgenstein möchte jedoch gerade keine entwicklungspsychologische Debatte vom Zaun brechen, sehr wohl aber sachlich das Argument einer Privatsprache und den Primat des (inneren) Bewusstseins widerlegen, um eine endgültige »Verabschiedung des essentialistischen und intentionalistischen Bedeutungsmodells« (Kertscher 1999, 314) herbeizuführen.
e)
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Den vehementesten Angriff auf die herkömmliche Sprachauffassung stellt das so genannte Privatsprachen-Argument dar, das Wittgenstein erstmals prominent in die philosophische Diskussion einführt. Damit wird von seiner Seite aus der Nachweis erbracht, dass sich die Figur eines privaten Sprechers auf unausgewiesene Vorannahmen stützt, die sich bei genauerer Betrachtung als unhaltbar erweisen. Mit dem Gedankenexperiment arbeitet sich Wittgenstein jedoch nicht explizit an einer einzelnen Position der Philosophiegeschichte ab, stellt aber cum grano salis ganze Traditionsstränge des neuzeitlich-modernen Denkens in Frage. 17 Das eigentlich Provozierende dieser Ausführungen Wittgensteins »methodologischen« Überlegungen zum Beispiel und Einzelfall bin ich andernorts ausführlich nachgegangen (vgl. Flatscher 2001). 17 Auch wenn mitunter moniert wurde, dass Wittgenstein sich mit dem PrivatsprachenArgument gegen Positionen abzusetzen gedenkt, die nie in der dargestellten Radikalität 16
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besteht aber darin, dass das scheinbar weit abseits gelegene Spezialproblem des Privatsprachen-Arguments eine Reihe von Konsequenzen nach sich zieht, insofern das normalerweise in Anspruch genommene Selbstverständnis des Subjekts und sein Verhältnis zur Sprache subversiv unterwandert und vielfach konterkariert wird. Auf die weitreichenden Folgen, die sich aus dem Privatsprachenargument ergeben, hat Wellmer mit aller Deutlichkeit hingewiesen: »Das Privatsprachenproblem, das auf den ersten Blick wie ein eher uninteressantes und abseitiges Spezialproblem der Sprachphilosophie aussieht, ist in Wirklichkeit ein Problem, dessen Beantwortung Konsequenzen hat bis in die entferntesten Winkel der Philosophie, ja unseres Weltverständnisses.« (Wellmer 2004, 90) Rund um den Themenkomplex der Privatsprache unterzieht Wittgenstein binnen weniger Paragraphen (PU 243–315) 18 eine Fülle von philosophischen Annahmen und Irrtümer seiner grundlegenden Kritik. Diese Passagen gehören aufgrund der Dichte der Darstellung und der Vielfältigkeit der Bezüge zu den schwierigsten und meist diskutiereingenommen wurden, ist zumindest festzuhalten, dass der Dualismus eines andern unzugänglichen Inneren und eines vermittelten Äußeren eine weit verbreitete und geradezu selbstverständliche Annahme ist. Laut Hacker reibt sich Wittgenstein beim AntiPrivatsprachen-Argument in erster Linie an Locke, obwohl er eingestehen muss, dass es in »Wittgensteins Schriften keine Evidenz dafür [gibt], daß er je Locke gelesen hätte« (Hacker 1978, 292), und an Frege; in Paragraph 273 glaubt er ein wörtliches Zitat aus Freges Grundgesetze der Arithmetik (1962) ausmachen zu können (vgl. Hacker 1978, 291). Schulte hingegen vermerkt, dass sich Wittgenstein nicht an einer einzelnen Position abarbeitet, sondern in einer umfassenden Weise ganze Denkrichtungen in die Schranken weist: »[So] stützen sich nicht nur alle Vertreter des kartesianischen Dualismus und zumindest die große Mehrzahl der klassischen Empiristen auf eine mit dieser Idee verwandte Konzeption, sondern auch der von zahlreichen kognitiven Psychologen und anderen Artificial-Intelligence-Fans befürwortete Gedanke einer ›language of thought‹ wirkt nachgerade wie eine naive Parodie der von Wittgenstein angegriffenen Position.« (Schulte 1989, 193 f.). Glock erweitert den von Schulte ins Treffen geführten Kreis der »Privatsprachler« und spricht von einer »Auffassung, die von Vorstellungstheoretikern und Idealisten, Rationalisten, Empiristen und Kantianern geteilt wird« (Glock 2000, 285). In meiner Darstellung soll nun aber nicht ein Feldzug gegen eine bestimmte philosophiegeschichtliche Position geführt werden. Vielmehr steht die sachliche Nachzeichnung der wittgensteinschen Argumentation einer Unmöglichkeit einer Privatsprache im Mittelpunkt. Nicht zuletzt hat Wittgenstein selbst im Tractatus von einer »Sprache, die ich allein verstehe« (TLP 5.62) gesprochen. 18 Ausführlich gehen der Problematik der Privatsprache auch die Aufzeichnungen für Vorlesungen über ›privates Erlebnis‹ und ›Sinnesdaten‹ (VE 47–100) nach, die vermutlich aus den Jahren 1934–36 stammen. A
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ten in der Wittgenstein-Literatur. 19 Der komplexe Textabschnitt lässt auch deshalb eine Bandbreite an Auslegungen zu, da er nicht einen singulären Argumentationsstrang verfolgt, sondern verschiedene Wege beschreitet und die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten sucht. Es ist daher möglich, Wittgensteins Überlegungen von unterschiedlichen Richtungen her zu durchleuchten. Die hier forcierte Auslegung soll vor einem hermeneutisch-phänomenologischen Hintergrund unternommen werden, der sich dezidiert dem responsiven Moment verschreibt, um auf Wittgensteins spezifisches Verständnis von einer sprachlichen Sozialität respektive Öffentlichkeit hinzuweisen. Es wird sich zeigen, dass jeder Gebrauch von Sprache nur von einem das jeweilige Individuum übersteigenden Moment her verstanden werden kann. Ohne dieses ist weder eine zwischenmenschliche Kommunikation noch eine monologische Artikulation von Sinn möglich. Erst nach dem Durchgang durch Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Privatsprachen-Argument wird der öffentliche Charakter der Sprache, an dem jeder Mensch partizipiert, wenn er etwas zu verstehen geben möchte, im vollen Umfange ersichtlich werden: »Ein Spiel, eine Sprache, eine Regel ist eine Institution.« (BGM 334) Was versteht Wittgenstein unter einer Privatsprache? Er geht in seinen Ausführungen der Unmöglichkeit einer prinzipiellen Privatsprache nach. Damit sind weder der monologische Gebrauch der SpraIn meiner gerafften Darstellung stütze ich mich in erster Linie auf die erhellenden Ausführungen von Majetschak (2000, 217–239) und die prägnante Nachzeichnung von Glock (2000, 284–290). Beide beziehen sich wiederum auf die Interpretation Kennys (1974, 208–236), die auf die Auslegung bekannter Wittgenstein-Kommentatoren großen Einfluss ausüben (vgl. Hacker 1978, 10; 289–410). Auch sie werden für die Wiedergabe der für mich entscheidenden Punkte des Privatsprachen-Arguments herangezogen. Scharf kritisiert wird Kenny von Candlish, der ihm vorwirft, das Privatsprachenargument auf eine »kohärente Weise zu deuten« und dabei »unbequeme Textstellen« (Candlish 1998, 144) bewusst zu vernachlässigen. Seine Kritik bezieht sich in erster Linie darauf, dass Kenny – entgegen seiner Absicht – »eine[r] erweiterte[n] Form des konventionellen Erinnerungsskeptizismus« (Candlish 1998, 155) nachhängt. Obwohl es meiner Ansicht nach nicht zulässig ist, Kenny pauschal diesen Irrtum zu unterstellen, wird von meiner Seite der Versuch unternommen, nicht in diese Falle zu tappen. Eine weit ausholende Auseinandersetzung findet sich darüber hinaus bei Schroeder (1998), der jedoch nicht Paragraph 258 und das kriterienkritische Moment der wittgensteinschen Argumentation in den Mittelpunkt rückt. Einen Forschungsbericht über die umfangreiche Literatur, die insbesondere durch Kripkes (1982) Interpretation des Regelfolgens und des Privatsprachenarguments neuen Diskussionsstoff erhalten hat, liefert Blume (2002).
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che in Form von Selbstgesprächen, wie sie Einsiedler in norwegischen Fjorden oder Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel aus faktischen Gründen führen mochten, noch die schriftliche Abfassung innerer Monologe, wie sie aus der Literatur bekannt sind, gemeint. Ebenso wenig spricht Wittgenstein über Geheimsprachen wie Leonardos Spiegelschrift oder über das von ihm selbst in diversen Tagebüchern gebrauchte »rückwärts« geschriebene Alphabet, um verschiedene Aufzeichnungen für eine unerwünschte Leserschaft zu verschlüsseln. All diese Weisen des Sprechens und Schreibens sind prinzipiell mitteilbar und können von anderen verstanden werden. Selbst der »geheimste« Code muss in eine »natürliche« Sprache übersetzbar sein, um zumindest vom Verfasser selbst sinnvoll gebraucht werden zu können. Wittgenstein möchte jedoch die Unmöglichkeit einer vollkommen privatimen Sprache in einer Radikalität erkunden, die per definitionem nicht von mehr als einem einzigen Menschen verwendet und verstanden werden kann. Diese Sprache würde sich in einer mit allen anderen Sprachen inkompatiblen Weise auf intime Erlebnisse eines Individuums beziehen, die nur von ihm gewusst, verstanden und bezeichnet werden können. Diese Annahme erweist sich auf den ersten Blick als nicht gänzlich unplausibel. Insbesondere bei subjektiven Bewusstseinszuständen sind wir wahrscheinlich intuitiv schnell bereit, eine von der Außenwelt unabhängige Privatheit einzugestehen: Niemand weiß, was ich unter meinem wiederkehrenden Schmerzen fühle oder wie ich ein bestimmtes Farberlebnis vernehme. Die Privatsprache ist bei Wittgenstein folglich durch drei Momente gekennzeichnet. Erstens bezieht sie sich ausschließlich auf etwas, wovon nur der jeweilige private Sprecher ein Wissen hat. Neben dieser epistemischen Privatheit rekurriert dieses Wissen zweitens auf unmittelbare Empfindungen im Innern des Sprechers – gleichsam eine Privatheit des Besitzes –, die drittens grundsätzlich nicht mitteilbar respektive in eine andere Sprache übertragbar sind. Der private Sprecher verfügt somit auch über eine private Semantik. Die Privatsprache im hier diskutierten radikalen Sinne beansprucht folglich ein Bedeutungswissen, das nur einem einzigen Subjekt zukommt. Wittgenstein insistiert bei der Erörterung des Privatsprachenarguments folglich auf dem Zusammenhang von bedeutungstheoretischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen, sodass nicht von der strikten Trennbarkeit des epistemologischen und semantischen Bereichs ausgegangen werden kann. A
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Bei der Annahme einer genuin privatimen Sprache schwingt die Vorstellung mit, dass das Innerste des jeweiligen Menschen ein Bereich sei, zu dessen Inhalt – wie Gefühle, Stimmungen oder sonstige Empfindungen – letztlich nur die betreffende Person selbst einen unmittelbaren Zugang hat. Allen anderen ist eine Einsichtnahme in dieses Interieur verwehrt. Weitgehend fraglos wird dabei von strikt intimem Wissen, Besitz und Benennbarkeit der Erlebnisse ausgegangen. Diese Privatheit kann daher auch niemandem in dieser Unmittelbarkeit artikuliert oder über eine öffentliche Sprache mit anderen geteilt werden. Da eine Introspektion der Empfindungen nicht in einer direkten Weise möglich ist, können andere nur vom Verhalten darauf schließen, was tatsächlich im betreffenden Ich vorgeht. Die jeweiligen Impressionen werden dabei analog zu vorliegenden Gegenständen aufgefasst, die jedoch nur im Inneren, gleichsam wie in einem vom Rest der Welt abgeschotteten Behälter, zugänglich sind. Diese radikale Privatheit des Empfindungswissens impliziert daher eine strikt subjektive Bedeutungsdefinition der Sinneseindrücke oder Gefühlszustände. Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet ein isoliertes und autonomes Ego, das unabhängig von der Mitwelt diverse Empfindungen zu benennen vermag. Diese cartesianischen (Rest-)Bestände bestimmen nicht nur philosophische Debatten, sondern ziehen weite Kreise, sodass auch in anderen Diskursen nicht nur solipsistische Grundannahmen implizit getätigt werden und der epistemische Prius im Inneren unmittelbarer subjektiver Bewusstseinszustände verortet wird. Nun vertritt aber Wittgenstein die These, dass eine Privatsprache, die prinzipiell keinem anderen Menschen zugänglich ist und sich jeder Mitteilbarkeit verwehrt, auch dem, der sie vermeintlich verwendet, unverständlich bleiben muss. Nicht einmal der Privatsprecher selbst könne um die Bedeutung seiner Sprache wissen: Neben dem vernichtenden Schlag gegen eine Namenstheorie des Bedeutens, die ja das augustinische Bild der Sprache kennzeichnet, wird hierbei ebenso die Vorstellung eines von allen sprachlichen Gegebenheiten unabhängigen Subjekts sowie die dualistische Unterteilung in ein Inneres des Bewusstseins und ein Äußeres der Welt als unhaltbar zurückgewiesen. 20 Die herkömmliche Vorstellung, die in einer selbstverständlichen Weise davon ausgeht, dass die Sprache bloß ein akzidenteller Ausdruck beDen Fokus auf Wittgensteins tiefgreifende Kritik an mentalistischen Konzeptionen richtet Mulhall in seiner Studie über Heidegger und Wittgenstein (1990, 53–78).
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reits an sich bestehender »sprachnackter« Bedeutungen sei, wird bei genauerer Betrachtung in sich zusammenbrechen. Es wird sich zeigen, dass Sprache nicht als nachträgliche Bezeichnung vorausliegender Inhalte gedacht werden kann, da sich die Sprache als Verflechtung erweist, in die wir immer schon verstrickt sind und aus der sich unser Selbst- als Weltverständnis immer schon artikuliert. Wittgenstein erbringt mit der Zurückweisung einer Privat-Sprache den Nachweis, dass jedwede (identifikatorische) Bezugnahme auf etwas als etwas, selbst auf vermeintlich privatime Empfindungen wie Schmerz- oder Farbvernehmen, nur aus sprachlichen Strukturen heraus verstanden werden kann; eine Sprache freilich, die immer schon mit anderen geteilt ist und deren unhintergehbarer sozialer Charakter dadurch offengelegt wird. Das Subjekt ist somit in seinem Innersten kein isolierbares und absolutes Residuum, sondern es wird in allen verstehenden Weltbezügen bereits Sprache als soziales Gefüge von Regeln in Anspruch genommen haben. Eingelassen in dieses Geflecht sozialer Praktiken beginnt das einzelne Ich nie bei sich, sondern antwortet vielmehr auf Vorgegebenheiten sprachlich erschlossener Kontexte. Der einzelne Mensch versteht sich in seinem Selbstverhältnis bereits aus diesem öffentlich-sozialen Zusammenhang. Das Selbst- als Weltverständnis ist somit durch und in der Sprache erschlossen und manifestiert sich in mit anderen prinzipiell teilbaren Artikulationsmöglichkeiten. Wittgenstein möchte darauf aufmerksam machen, dass wir uns in unserem jeweiligen Verstehen immer schon in einer öffentlichen Sprache bewegen und an einer mit anderen geteilten Welt sowie den inhärenten regelgeleiteten Praktiken partizipieren, sodass sich eine dieser Gemeinschaftlichkeit vorgelagerte private Bedeutung für Empfindungen als unmöglich erweist. Um vorweg jedes Missverständnis zu vermeiden: Mit der Destruktion der Innen-Außen-Dichotomie eines Mentalismus soll nicht dem Behaviourismus das Wort geredet werden; gegen diesen Kurzschluss wendet sich Wittgenstein selbst (vgl. PU 307 f.). Bündig bringt Schulte die Argumente gegen diese Einteilung auf einen Punkt: »Erstens ist seine [Wittgensteins, M. F.] Darstellung der Verwendung der Ausdrücke für Seelisches viel zu komplex für eine behaviouristische Theorie. Zweitens unternimmt er nirgends den Versuch einer Reduktion von Begriffen für Psychisches auf Begriffe für Verhalten. Drittens ist er ständig bemüht, die Dinge so zu schildern, daß eine Gegenüberstellung von Psychischem und Physischem – Seele und Leib – ebenso A
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aus der Betrachtung herausfällt wie die Möglichkeit der Reduktion des einen ontologischen Bereichs auf den anderen.« (Schulte 1989, 202 f.) Gerade der von Schulte zuletzt angeführte Punkt wird im Mittelpunkt dieser Erörterung stehen. Die Destruktion eines Dualismus bestimmter Dichotomien impliziert bei Wittgenstein nicht, dass nur einer der beiden Gegensätze bestehen bleiben kann. So führt auch die Zurückweisung des Mentalismus nicht zwingend zu einem Behaviorismus. Vielmehr sind beide Optionen als Kehrseiten ein und derselben Medaille zu betrachten. Es geht folglich nicht um epistemologische Überlegungen, wie ich von den Schmerzen des anderen »wissen« kann, als ob Erlebnisse Vorkommnisse im Innern eines (anderen) Ich wären. Herkömmliche Annahmen – wie Introspektion, Einfühlung oder Analogieschlüsse aus dem Verhalten Anderer – setzen zu spät an, da sie bereits von einem Mitsein mit Anderen innerhalb regelgeleiteter Praktiken in gemeinsam geteilten Kontexten ausgehen müssen, um diese Möglichkeiten zu erörtern. Dieses Verhältnis, dass sich das Selbstverständnis nur als Mit- und Umweltverständnis (et vice versa) in einer gemeinsamen Sprache artikuliert, soll mit der Destruktion der Möglichkeit einer Privatsprache einsichtig gemacht werden. Wittgenstein bestreitet mit seiner Argumentation gegen eine Privatsprache folglich nicht die Möglichkeit (subjekt-relativer) Erfahrung von Empfindungen unterschiedlicher Art. Selbstverständlich sind meine Schmerzen als meine eigenen und nicht deine, seine oder ihre. Wittgenstein möchte nicht das jeweilige Vernehmenkönnen von Erlebnissen in Frage stellen und es in ein Konglomerat eines diffusen Wir auflösen, sondern vielmehr erörtern, was es heißt, dass ich von meinen spezifischen Empfindungen oder meinen genuinen Erfahrungen sprechen kann. Was gestattet es mir, diese Jemeinigkeit in Anspruch zu nehmen, insofern mir etwas als etwas erschlossen ist? Die Fragestellung des gesamten Arguments wird folglich darauf hinauslaufen, ob die Jemeinigkeit der betreffenden Erlebnisse, Gefühle oder Empfindungen sich stets nur innerhalb einer immer schon geteilten und stets teilbaren Erschlossenheit von Welt artikuliert oder ob für die Individualität ein dem Mit- und Umweltverhältnis unabhängige Privatheit in Anspruch genommen werden kann. Welches Verständnis von Privatheit ist somit für die jeweiligen Erfahrungen leitend und welche Rolle spielt hierin die Sprache? Die Komplexität der Argumentation zeigt sich auch in der Form der Darstellung. Wittgenstein lässt (in seinem dialogischen Selbst114
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gespräch) einen Vertreter der Privatsprache auftreten, der hartnäckig an der Möglichkeit eines privatimen Bedeutungswissens festhält; immer wieder nötigt er seinem philosophischen Gesprächpartner weitere Belege für eine Unmöglichkeit der Privatsprache ab. Diese diversen Anläufe sollen nun anhand von zwei Argumentationssträngen zusammengefasst werden: (1) jeder verstehende Weltbezug auf etwas als etwas impliziert in der Bestimmung eine vielfache Abgrenzung von anderem, sodass sich eine isolierte Bezugnahme als unmöglich erweisen wird; (2) Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass dem Privatsprecher in einer re-identifikatorischen Bezugnahme auf privatime Empfindungen schlicht die Kriterien der Identität fehlen. (1) Wittgenstein weist in einer Reihe von Fragen aus der Perspektive der ersten Person darauf hin, dass die jeweiligen Empfindungen normalerweise in einer auch anderen zugänglichen Sprache bezeichnet werden: »Wie ist es nun mit der Sprache, die meine innern Erlebnisse beschreibt und die nur ich selbst verstehen kann? Wie bezeichne ich meine Empfindungen mit Worten? – So wie wir’s gewöhnlich tun? So sind also meine Empfindungsworte mit meinen natürlichen Empfindungen verknüpft?« (PU 256) Diese Sprache ist somit nicht in dem geforderten radikalen Sinne privat, da sie sich stets in einer allgemein verständlichen Weise artikuliert. Um dem Szenario einer Privatsprache nachzugehen, entwirft Wittgenstein folgendes Gedankenexperiment: Jemand trägt bei jeder Wiederkehr irgendeiner bestimmten Empfindung das Zeichen »E« in sein Tagebuch ein. Egal um welche Empfindung es sich dabei handelt, wichtig ist nur, dass es sich um eine vollkommen subjektive »Empfindung« handelt, die allein dem Privatsprecher zugänglich ist. Der Terminus »Empfindung« müsste im Folgenden konsequenterweise immer unter Anführungszeichen gesetzt werden, da es mehr als fraglich ist, ob man das, was nur introspektiv empfunden wird und sonst nicht weiter beschreibbar ist, in einer allgemein gebräuchlichen Sprache noch als Empfindung bezeichnen kann. Auf dieses Dilemma des Privatsprechers macht Wittgenstein sogleich aufmerksam, wobei er bereits bei der Exposition dieser Überlegungen an die Grenzen des Denk- bzw. Sagbaren stößt: »Welchen Grund haben wir, ›E‹ das Zeichen für eine Empfindung zu nennen? ›Empfindung‹ ist nämlich ein Wort unserer allgemeinen, nicht mir allein verständlichen, Sprache. Der Gebrauch dieses Wortes bedarf also einer Rechtfertigung, die Alle verstehen. – Und es hülfe auch nichts, zu sagen: es müsse keine Empfindung sein; wenn er ›E‹ A
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schreibe, habe er Etwas – und mehr könnten wir nicht sagen. Aber ›haben‹ und ›etwas‹ gehören auch zur allgemeinen Sprache.« (PU 261) Stets wird der Privatsprecher gezwungen, bei jeder minimalen Verwendung von Wörtern wie »Zeichen«, »Empfindung«, aber auch »etwas« oder »haben«, auf eine allgemein verständliche Sprache zurückzugreifen. Selbst das vermeintlich karge Etwas wird von Wittgenstein aus allzu engen bewusstseinstheoretischen Voraussetzungen befreit. Jedes Etwas auch noch so intimer Gegebenheiten zeigt sich als etwas, impliziert als Bestimmbarkeit – beispielsweise der Quantität (es ist eines und nicht zwei), der Qualität (angenehm/unangenehm, stark/ schwach etc.) ein breit gefächertes Differenzgeschehen. Gegeben ist zwar Singuläres, aber nie in einer exklusiven Isolierbarkeit. Die nur dem privaten Sprecher bekannte Bedeutung der Empfindung kann somit gerade nur in einer gemeinhin bekannten Sprache umschrieben werden. Wittgenstein insistiert mit Nachdruck auf dieser grundlegenden Problematik, die bei dem Versuch, ein strikt intimes Bedeutungswissen in eine ebenso privatime Benennung überzuführen, auf eine unlösbare Aporie zusteuert: »Wenn man sagt ›Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‹, so vergißt man, daß schon viel in der Sprache vorbereitet sein muß, damit das bloße Benennen einen Sinn hat.« (PU 257) Die Bestimmbarkeit von etwas (als etwas) impliziert folglich neben dem Differenzierungsgeschehen, in dem es von dem abgrenzt, was es nicht ist, auch eine bestimmte Hinsicht, die stets kontextuell erschlossen ist. Wenn nämlich beispielsweise eine Schmerzempfindung im Innersten eine privatime Bezeichnung erhalten soll, wird bereits ein ganzes Setting mit in Anspruch genommen. In vielfältiger Weise ist man bei dieser Zuschreibung in ein Geflecht von Abgrenzungen verstrickt: gemeint ist nämlich ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das sich von anderen unangenehmen, aber selbstverständlich auch angenehmen Erlebnissen abgrenzt. Nicht angesprochen sind Angst oder Freude, Trauer oder Glückseligkeit. Ebenso impliziert das Vernehmen von etwas Bestimmten eine gewisse kategoriale Zuschreibung, die somit eine Reihe von Attributen nach sich zieht, wie etwa Intensität, Dauer, Qualität etc. Wittgenstein weist darauf hin, dass das Zusprechen von Eigenschaften, ebenso ein Absprechen impliziert, das nur aus einem Gesamtzusammenhang verständlich werden und sich somit niemals lediglich auf der Ebene einer atomistischen Relation zwischen Empfindung und Wort wird abspielen können: »Und wenn wir davon reden, daß einer dem Schmerz einen Namen gibt, so 116
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ist die Grammatik des Wortes ›Schmerz‹ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird.« (PU 257) Schließlich liegen Schmerzen nicht irgendwo dinghaft vor, sondern sie werden stets von jemandem vernommen. Es sind meine oder deine, ihre oder seine Empfindungen. Von Schmerz zu sprechen oder ihn zu meinen, nimmt somit eine Reihe von Vorannahmen in Anspruch. Ein Wort, so simpel es auch sein mag, tritt somit nie als ein vereinzeltes Atom auf, sondern bedeutet nur eingelassen in einen Kontext etwas. Auf diese spezifische Weise einer sozial-institutionellen Positionierung innerhalb eines Zusammenhanges wird Wittgenstein am Ende seiner Argumentation hinaus wollen. Die Probleme rund um die hinweisende Definition – die, wie schon oben erläutert wurde, nur dann funktioniert, wenn eine Reihe von zusätzlichen Bedingungen erfüllt sind – kehren hier in einer verstärkten Weise wieder. Es ist nämlich unmöglich, in einer Privatsprache, die aus einem einzelnen Wort besteht, etwas Bestimmtes zu meinen. Denn dieses Bestimmte grenzt sich in mannigfacher Weise von anderen Bestimmtheiten ab und setzt immer schon einen sprachlichen Hintergrund voraus. Wenn eine hinweisende Definition gegeben wird – wie z. B. »Das hier ist grün« –, muss in dieser Sprache nicht nur die Unterscheidung zwischen Farbe, Größe, Anzahl etc. vorhanden sein, da ja eine Farbe und nicht eine andere Eigenschaft gemeint ist, sondern es muss auch die Möglichkeit bestehen, die intendierte Farbe von allen anderen Farben (grün ist nicht-blau, nicht-rot etc.) abzugrenzen. Eine Sprache, die aus isolierten Wörtern besteht, ist somit undenkbar. Man könnte schon an dieser Stelle dem Gedankenexperiment eine Absage erteilen. Der semantische Solipsismus hat folglich an Argumentationskraft eingebüßt, da er nicht erläutern kann, was er mit dieser oder jener Erfahrung meint. Und dies geschieht stets in einer bereits sozial eröffneten Medialität der Sprache. Die komplexere Weise, einen epistemischen Solipsismus samt privatem Bedeutungswissen zu vertreten, muss darauf insistieren, eine von der öffentlichen Sprache gänzlich verschiedene Semantik in Anspruch zu nehmen. Doch auch diese Alternative wird Wittgenstein destruieren. (2) Abgesehen von diesen kaum bewältigbaren Hürden rund um eine private Semantik soll dennoch weiter der Möglichkeit einer Privatsprache nachgegangen werden. Der Nachweis der Unbedarftheit des Privatsprechers muss sich im Zusammenhang dessen zeigen, was es heißt, eine Sprache zu gebrauchen, anderen und sich selbst dabei etwas A
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zu verstehen zu geben. Eine allgemein verständliche Definition, was diese Empfindung »E« sei, lässt sich – wie bereits ausgeführt – nicht geben, da »E« sich ausschließlich auf das genuin eigene Wissen des Sprechers bezieht. Für einen hartnäckigen Verfechter der Privatsprache scheint dieser Vorgang prima vista dennoch unkompliziert zu sein, indem er seine »Empfindung« jeder allgemeinen Kategorisierung entzieht. Mittels einer hinweisenden Geste, die gleichsam im Inneren in Form eines Konzentrationsaktes vor sich geht, schafft er eine Verbindung zwischen der für jede »natürliche« Sprache undefinierbaren Empfindung und einer privaten Bezeichnung. Das, was sich im Innern des Bewusstseins befindet, wird gemäß dieser Auffassung dinganalog verstanden, ebenso wie das Bewusstsein als abgeschotteter und niemandem zugänglicher Raum interpretiert wird. Man zeigt inwendig auf die spezielle Empfindung und legt diesen psychischen Gegenständen so einen Namen bei. Der Vertreter der Privatsprache möchte an der Möglichkeit einer inneren hinweisenden Definition festhalten. Die Verbindung zwischen »E« als Empfindungszeichen und der völlig privaten Empfindung selbst wird durch einen Akt innerer Aufmerksamkeit hergestellt. Künftig, so hat der Privatsprecher für sich beschlossen, wird diese bestimmte Empfindung einfach »E« genannt. Durch gesteigerte Aufmerksamkeit dürfte es ja kein Problem sein, eine gewisse Empfindung mit dem auserkorenen Zeichen zu assoziieren: »Wer sich eine private Worterklärung gegeben hat, der muß sich nun im Innern vornehmen, das Wort so und so zu gebrauchen« (PU 262) – beispielsweise – um bei den wittgensteinschen Überlegungen zu bleiben – bei der wiederkehrenden »Empfindung« das Zeichen »E« in seinen Kalender zu schreiben. Inwiefern entpuppt sich nun diese interne Zuordnung als unmöglich? Wittgenstein geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, in welcher Weise »ich mich in Zukunft richtig an die Verbindung erinnere« (PU 258). Wie vollzieht sich der Vorgang, wenn sich der Privatsprecher erneut mit dem festgelegten Zeichen »E« auf die wiederkehrende Empfindung bezieht? Wittgenstein formuliert hier folgenden Einwand: »Aber in unserem Falle habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit.« (PU 258) Wittgenstein fragt sich, ob der Privatsprecher mit dem Zeichen »E« immer dieselbe Empfindung meint und auch beim Wiederkehren das für das bestimmte subjektive Empfinden gewählte Wort stets richtig interpretieren kann. Es fehlt ein Maßstab, anhand dessen ausgewiesen werden kann, dass der Privatsprecher die Bedeu118
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tung bei jeder neuen Anwendung korrekt mit dem betreffenden Zeichen verbindet. Worin besteht denn die Richtschnur, die es dem Privatsprecher erlaubt, die korrekte (Re-)Identifikation vorzunehmen? Das Problem, das Wittgenstein hier anspricht, beruht nicht darauf, ob ich mich tatsächlich richtig erinnere, d. h. ob ich aufgrund einer Gedächtnisschwäche die Empfindung »E« mit einer anderen Empfindung, z. B. »F«, verwechsle und bloß fälschlicherweise das Zeichen »E« aufschreibe. Dann würde es sich bei Wittgensteins PrivatsprachenArgument in erster Linie um eine misstrauische Haltung gegenüber dem eigenen Erinnerungsvermögen handeln. Aber die Erinnerung ist ja auch in anderen lebensweltlichen Belangen fehlbar. Die Skepsis gegenüber dem eigenen Erinnerungsvermögen ist somit nicht der springende Punkt, sondern die Unmöglichkeit, überhaupt von einer korrekten respektive inkorrekten Zuordnung der Bedeutung sprechen zu können. 21 Was besagt in diesem Zusammenhang genauerhin die Rede von »sich in Zukunft richtig erinnern«? Dem Privatsprecher fehlen schlicht die epistemischen Kriterien für die Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Verwendung, denn er weiß laut Wittgenstein nicht, was er überhaupt mit dem Zeichen »E« gemeint hat. Dem Privatsprecher scheint die Möglichkeit genommen zu sein, sich selbst berichtigen zu können, da er die Weise der Verwendung (an) nicht(s) prüfen kann. Er weiß daher nicht einmal, was er überhaupt mit dem entsprechenden Zeichen meint. Die Bedeutung eines strikt privaten Zeichens vermag es nicht, eine Sinnkontinuität aufzuweisen, sie wird völlig willkürlich und damit bedeutungslos. Falls kein Kriterium für die Richtigkeit meines Zeichengebrauchs bereitsteht, das Selbstkorrekturen ermöglicht, kann auch nicht von einer sinnhaften Verwendung von Zeichen und damit von Sprache gesprochen werden. Die Abwesenheit eines Kriteriums, von der Bedeutung von E sprechen zu können, macht somit jede (erneute) identifikatorische Bezugnahme unmöglich. Lapidar weist Wittgenstein folglich darauf hin, dass ein Maßstab fehlt, um zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können, da die Bedeutung von »E« nicht gegeben ist: »Man möchte hier sagen: richtig 21 Auf diese wichtige Differenzierung macht Majetschak nachdrücklich aufmerksam: »Denn Wittgensteins Argument ist kriterien-, nicht gedächtnis- bzw. erinnerungskritisch. Und er bestreitet, daß die Erinnerung ein solches Kriterium für Gegenstands- bzw. Bedeutungsidentität abgeben kann.« (Majetschak 2000, 227)
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ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ›richtig‹ nicht geredet werden kann.« (PU 258) Wittgenstein fragt sich also, woher der private Sprecher oder Schreiber denn wüsste, wenn er erneut »E« in das Tagebuch einträgt, was er mit diesem Zeichen meint? Die Richtigkeit der Zuordnung des Zeichens »E« zu der betreffenden Empfindung als Bedeutung kann an nichts übergeprüft und damit nicht geprüft werden. Auf diesen Punkt weist Kenny in seiner Rekonstruktion des wittgensteinschen Arguments mit aller Deutlichkeit hin: »Wittgenstein sagt nicht: ›Wenn ich das nächstemal etwas ‚E‘‹ nenne, woher weiß ich, daß es wirklich E ist?‹, sondern: ›Wenn ich das nächstemal etwas ‚E‘ nenne, woher weiß ich, was ich mit ‚E‘ meine? Auch wenn ich fälschlich etwas für E halte, muß ich die Bedeutung von ‚E‘ kennen; und das ist nach Wittgenstein in der privaten Sprache nicht möglich.« (Kenny 1974, 224) 22 Die privatsprachliche Überprüfung der wiederkehrenden Empfindung E muss sich auf etwas Bestimmtes beziehen, um die Bedeutung von diesem Etwas (das sich gegenüber anderen Bedeutungen abgrenzen muss) angeben zu können. Es ist in einer Privatsprache aufgrund des fehlenden Maßstabes die Frage virulent, wie man beurteilen kann, welche Empfindung das Zeichen meint und welche Bedeutung es besitzt. Der Privatsprecher besitzt nämlich kein Kriterium dafür, ob er das Zeichen richtig oder falsch identifiziert. Eine »(re-)identifikatorische[] Bezugnahme« (Majetschak 2000, 229) auf die ursprüngliche Bedeutung und der Nachweis ihrer Iteration ist hier nicht mehr möglich, da der Privatsprecher nicht einfach auf das erste Erinnerungsbild zurückgreifen kann. Denn einen Maßstab, der die Identifikation bestätigen könnte, gibt es nicht, wenn davon ausgegangen wird, dass jeder Maßstab von dem, was er messen soll, unabhängig sein muss. Die Berufung auf ein Erinnerungsbild entspricht nicht dem geforderten epistemischen Prüfstein oder – wie Wittgenstein es formuliert – dem »Kriterium der Identität« (PU 253). 23 Daher Kenny bezeichnet die private Empfindung mit dem Zeichen »S« und nicht mit »E«. Um eine unnötige Verwirrung zu vermeiden, sind die Buchstaben ausgetauscht und an den wittgensteinschen Sprachgebrauch angepasst. Zudem unterscheidet er streng zwischen dem Zeichen (unter Anführungszeichen gesetzt) und der Empfindung als solcher (ohne Anführungszeichen). 23 Sehr anschaulich demonstriert Wittgenstein das Problem eines nicht unabhängigen Maßstabs in folgender Bemerkung: »Denke dir Einen, der sagte: ›Ich weiß doch, wie hoch ich bin!‹ und dabei die Hand als Zeichen auf seinen Scheitel legt.« (PU 279) 22
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wird der Stimme »›Nun, ich glaube, daß dies wieder die Empfindung E ist‹« konsequenterweise zu entgegnen sein: »Du glaubst es wohl zu glauben.« (PU 260) Um überhaupt glauben zu können, was mit »E« gemeint ist, muss der Privatsprecher wissen, was denn das ist, woran er glaubt. Dazu müsste er, so Wittgensteins Einwand, aber bereits wissen, was das Zeichen »E« bedeutet – und das weiß er nicht. Der Verfechter des Privatsprachenarguments könnte aber immer noch einwenden, dass er sich der von Wittgenstein geforderten Gegenstands- oder Bedeutungsidentität doch in seinem Inneren mittels Erinnerungskonstruktionen – einen externen und allgemein zugänglichen Referenzpunkt gibt es ja nicht – versichern kann. Er vergleicht einfach – analog zu gegenständlichen Musterbeispielen (z. B. eine Farbtabelle) – seine erste Empfindung, die er mit »E« bezeichnet hat, mit den weiteren Empfindungen. Diese kann er dann als damit identisch oder nichtidentisch klassifizieren. Aber dieses Kriterium – quasi eine innere Empfindungstabelle als »subjektive Rechtfertigung« (PU 265) – wäre als Maßstab für die Richtigkeit selbst auf seine Gültigkeit hin zu befragen. Wittgenstein insistiert immer wieder darauf, dass dem Privatsprecher eine unabhängige Instanz abgeht, mit deren Hilfe er die Identität der Bedeutung gewährleisten könnte. Der Vertreter der Privatsprache hält aber noch dagegen: »›Aber ich kann doch auch von einer Erinnerung an eine andre appellieren. Ich weiß (z. B.) nicht, ob ich mir die Abfahrtszeit des Zuges richtig gemerkt habe und rufe mir zur Kontrolle das Bild der Seite des Fahrplans ins Gedächtnis. Haben wir hier nicht den gleichen Fall?‹« (PU 265) Diese Möglichkeit, doch eine verbindliche Rechtfertigungsinstanz innerhalb einer gänzlich privaten Sprache zu besitzen, wird von Wittgenstein destruiert, indem er aufzeigt, dass der Privatsprecher auch hier wiederum keine unabhängigen Kriterien für die neuerlichen Verwendungen von »E« oder vom geistigen Bild des Fahrplans anführen kann: »Nein; denn dieser Vorgang muß nun wirklich nicht die richtige Erinnerung hervorrufen. Wäre das Vorstellungsbild des Fahrplans nicht selbst auf seine Richtigkeit zu prüfen, wie könnte es die Richtigkeit der ersten Erinnerung bestätigen? (Als kaufte Einer mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt.) / In der Vorstellung eine Tabelle nachschlagen, ist so wenig ein Nachschlagen einer Tabelle, wie die Vorstellung des Ergebnisses eines vorgestellten Experiments das Ergebnis eines Experiments ist.« (PU 265) Der Privatsprecher verstrickt sich hier in einen circulus vitiosus, denn der Rekurs auf ein weiA
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teres Erinnerungsbild wäre ja selbst wieder auf seine Korrektheit hin zu überprüfen und genau diese Möglichkeit ist hier nicht gegeben. Wittgenstein zeigt auf, dass mit der subjektiven Erinnerung an einen Fahrplan nichts gewonnen wäre; der springende Punkt ist nicht das schlechte Erinnerungsvermögen, dass beispielsweise die Erinnerungsbilder »Busfahrplan« und »Zugfahrplan« verwechselt werden. Der betreffende Fahrplan ist nur in der privaten Vorstellung enthalten und der Privatsprecher hat kein Kriterium dafür, ob er sich das richtige Erinnerungsbild vors geistige Auge führt oder nicht. Es besteht nämlich in dieser selbstreferentiellen Bezugnahme keine Möglichkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Die Rede von einer richtigen Erinnerung hat ja nur dann einen Sinn, wenn sie auch falsch sein kann, d. h. wenn sie sich an einem unabhängigen Maßstab bewährt oder auch nicht. Die Vorstellungsbilder stehen aber nicht in der Möglichkeit, korrekt oder inkorrekt zu sein. Die Erinnerung an das Bild Fahrplan wird nur durch sich selbst bestätigt und das besagt nichts, wie Wittgenstein anhand des Beispiels mit den verschiedenen Exemplaren derselben Morgenzeitung ausführt. Ebenso verhält es sich mit der Bedeutung der angeführten Zeichen: Für das Zeichen »E« kann nicht bestätigt werden (bzw. wird nur durch sich selbst bestätigt), welches privatime Erlebnis es nun meint. Richtig wäre dann, wie Wittgenstein bereits im zitierten Satz moniert hatte, »was immer mir als richtig erscheinen wird« (PU 258). »Und eine ›private Sprache‹ könnte man Laute nennen, die kein Andrer versteht, ich aber ›zu verstehen scheine‹.« (PU 269) Wittgenstein geht aber noch einer anderen Möglichkeit nach, um die Selbstwiderlegungen des Privatsprechers auf die Spitze zu treiben. Dabei wird er zeigen, dass vonseiten des Kontrahenten eine semantisch-epistemische Privatheit in die Diskussion eingeführt wird, die sich bei näherer Inblicknahme der Problematik schlicht als unnötig und verzichtbar erweist. Wie wäre es denn, wenn der Tagebucheintrag des Zeichens »E« irgendwie anderweitig kontrollierbar wäre? So ist es vorstellbar, dass der Privatsprecher, jedes Mal wenn er diese spezifische Empfindung fühlt, neben der Aufzeichnung noch zusätzlich durch ein Manometer feststellt, dass der Blutdruck steigt. Hätten wir dann nicht eine Identifizierung der Bedeutung für die Empfindung? Wittgenstein entgegnet der Überlegung folgendermaßen: »Und nun scheint es hier ganz gleichgültig zu sein, ob ich die Empfindung richtig wiedererkannt habe oder nicht. Nehmen wir an, ich irre mich beständig bei ihrer Identifizierung, so macht das garnichts.« (PU 270) Wie kann das Wittgen122
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stein behaupten? Es gibt doch einen tatsächlich überprüfbaren Gebrauch von »E«, der ja bedeutet »der Blutdruck steigt«. Dies ist sogar mittels Geräten objektiv messbar und der Privatsprecher braucht sich nicht ausschließlich auf seine Erinnerung und innere Wahrnehmung zu verlassen. Falls ich »E« richtig identifiziere, steigt der Blutdruck, identifiziere ich es falsch, bleibt er gleich. Bereits Kenny weist in seiner Auslegung zu Recht darauf hin, dass Wittgenstein die Aufmerksamkeit auf diesen merkwürdigen Zwischenschritt zwischen der Empfindung und der Tatsache des Blutdruckanstiegs lenkt. Denn nicht eine korrekte Identifikation zwischen der Empfindung und dem Zeichen ist bei diesem Experiment ausschlaggebend: »Angenommen, ich sage ›E‹ und der Blutdruck steigt nicht; mit welchen Gründen könnte ich sagen, ich hätte die Empfindung falsch identifiziert, nicht mich aber falsch erinnert, was für Empfindungen mit dem Blutdruckanstieg einhergehen? Es gibt keine, es sei denn, die ›die Empfindung identifizieren‹ hieße ›sie als die blutdruckerhöhende Empfindung identifizieren‹ ; dann aber gibt es keinen Raum für den Zwischenschritt, und ›E‹ ist nicht Name eines privaten Gegenstandes, sondern ein Wort einer öffentlichen Sprache.« (Kenny 1974, 228) 24 Es würde also keinen Unterschied machen, so Kenny mit Wittgenstein, wenn anstelle von der Empfindung E irgendeine andere private Empfindung treten würde, wenn sie nur auch blutdrucksteigernd wirken würde. Eine falsche Identifizierung wäre somit unerheblich. Der Verfechter der Privatsprache hätte nämlich nichts in der Hand, auch wenn er darauf beharrt, dass es sicher die Empfindung E war, der Blutdruck aber diesmal nicht steigt. Daher muss Wittgenstein den Schluss ziehen, dass wir uns in diesem Zusammenhang den Rekurs auf die privatimen Empfindungen sparen können. Eindringlich versucht Wittgenstein in seinem bekannten KäferBeispiel auf die Unmöglichkeit einer Rechtfertigung der Privatsprache einzugehen. Er entwirft hierfür folgendes Szenario: Zwei Personen – jeweils mit einer Schachtel ausgestattet, in die nur sie selbst Einsicht nehmen können – behaupten, dass in der Box ein Käfer sei und sie wissen ausschließlich aufgrund der Betrachtung des eigenen Käfers, was 24 Wie oben bereits angeführt, versieht Kenny die private Empfindung mit dem Zeichen »S« und nicht mit einem »E«. Auch hier sind wiederum, um eine unnötige Verwirrung zu vermeiden, die Buchstaben ausgetauscht und an den wittgensteinschen Sprachgebrauch angeglichen.
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nun überhaupt als ein Käfer bezeichnet werden kann. Konsequenterweise kann der private Sprecher überhaupt keine Eigenschaft dieses Käfers in einer öffentlichen Sprache angeben. Er ist so privat, dass er weder etwas über seine Größe, Form oder Farbe noch über seinen Kopf, seine Fühler oder seine Füße aussagen kann. In dieser Weise stellt sich ja auch der private Sprecher vor, was als Schmerz zu definieren ist. Auch hier weiß nur er, was sein Schmerz ist. Mitmenschen haben zu seinem Inneren keinen Zugang und können daher nicht wissen, was er unter Schmerz versteht. Wittgenstein führt nun dieses Exempel mit dem Käfer weiter aus. Es könnte doch sein, dass jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hat oder es sich immerzu verändern würde. »Aber«, wendet nun der Verfechter der Privatsprache ein, »wenn nun das Wort ›Käfer‹ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte?« (PU 293) Darauf entgegnet die Stimme, die dieses Argument grundsätzlich anzweifelt: »So wäre es nicht die Bezeichnung eines Dinges. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein.« (PU 293) Analog zum vorherigen Beispiel zeigt Wittgenstein auf, dass das nur introspektiv zugängliche Ding für den Gebrauch in unserer Sprache genauso irrelevant ist, wie das Beharren auf einer bestimmten Empfindung, die blutdrucksteigernd wirken soll. Für das Sprachspiel, dem im nächsten Abschnitt nachgegangen wird, ist diese Rückführung alles andere als notwendig; auf diesen Zwischenschritt kann, wie oben gezeigt wurde, verzichtet werden. Wittgenstein zieht daher folgenden Schluss: »Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹ ; es hebt sich weg, was immer es ist.« (PU 293) Und die (privatsprachliche) Bedeutungstheorie wird somit als unhaltbar zurückgewiesen: »Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ›Gegenstand und Bezeichnung‹ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus.« (PU 293) Wittgensteins Argument bezieht sich folglich nicht darauf, dass es irrelevant ist, ob jemand tatsächlich Schmerzen hat oder diese bloß vortäuscht, sondern dass das Schema zwischen Innen und Außen, zwischen einer rein privatim zugänglichen Empfindung und deren nachträglicher Benennung, als unhaltbar zurückzuweisen ist. Noch einmal tut der Vertreter des Privatsprachen-Arguments seinen Unmut kund: »›Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.‹« (PU 304) Darauf wird ihm entgegnet: »Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, 124
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worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will. / Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer nur auf eine Weise, diene immer nur dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was auch immer.« (PU 304) Wittgenstein hat in seiner Destruktion des Privatsprachen-Arguments aufgezeigt, dass »E« weder eine Empfindung bezeichnet noch sich auf etwas Bestimmtes richtet, das immer als das Selbe identifizierbar wäre. Es gibt für diese Art der privaten Gebilde keine Identitätskriterien. Daraus ist aber nicht zu folgern, dass es keine Empfindungen gibt oder dass es zwar solche Gebilde gibt, aber der Privatsprecher sie nicht identifizieren kann. Vielmehr muss eingesehen werden, dass »Empfindungen nicht als private Entitäten verstanden werden können« (Glock 2000, 289). Es muss aber auch der Schluss gezogen werden, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass es sich bei »E« im privatsprachlichen Umgang überhaupt um ein sprachliches Zeichen handelt. Denn die Zeichen sind, nachdem sie weder richtig noch falsch sein können und keinen eigenen Gebrauch besitzen, bedeutungslos. Weder für die Mitmenschen noch für den Privatsprecher selbst hat »E« oder »Käfer« irgendeine Bedeutung. Die privatsprachliche Empfindung entpuppt sich nach Wittgenstein als »grammatische[] Fiktion« (PU 307), die in semantischer Hinsicht belanglos bleibt. Schroeder bringt diese Einsicht Wittgensteins wie folgt auf den Punkt: »Die private Semantik, aus der sich die Privatheit einer Empfindungssprache ergeben würde, ist gar keine Semantik; und a fortiori nicht die Semantik unserer Empfindungsaussagen.« (Schroeder 1998, 26) Um jeden Rückfall in eine bedeutungstheoretische Interpretation zu vermeiden, hat Majetschak mit Nachdruck darauf insistiert, dass Wittgensteins Anti-Privatsprachen-Argument nicht durch eine verifikationistische oder falsch verstandene intersubjektivistische Lesart verkürzt werden dürfe (vgl. Majetschak 2000, 232–237). Wittgensteins Zurückweisung einer sprecherimmanenten Rechtfertigung – beispielsweise anhand der Kontrolle des Fahrplans durch das eigene Gedächtnis – besagt nicht, dass das Vorstellungsbild am tatsächlichen Fahrplan überprüft werden soll. Dann würde sich das Argument faktisch in einer Erinnerungsskepsis erschöpfen.25 Der am Bahnhof ausgehängte Fahr25
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plan oder ein sonstiges Muster stellen nicht die unabhängige Stelle dar, nach der gesucht wird. Denn den eigenen Augen, dem präsentischen Vollzug der Wahrnehmung, ist nicht mehr zu trauen als den Erinnerungen. Die Stoßrichtung, einen epistemischen Solipsismus zu unterwandern, ist eine andere. Mitunter stellt es sich, so Wittgenstein, in der alltäglichen Praxis durchaus in der Weise dar, dass wir berechtigte Zweifel haben, uns auf eine vorliegenden Farbtabelle zu stützen: »Wenn wir mit einem Muster statt mit unserm Gedächtnis arbeiten, so sagen wir unter Umständen, das Muster habe seine Farbe verändert und beurteilen dies mit dem Gedächtnis. Aber können wir nicht unter Umständen auch von einem Nachdunkeln (z. B.) unseres Erinnerungsbildes reden? Sind wir dem Gedächtnis nicht ebenso ausgeliefert wie einem Muster?« (PU 56) Nicht immer können somit »reale« Belege, wie etwa die Farbtabelle, die korrekte Erinnerung an die Verbindung zwischen sprachlichem Zeichen und Bedeutung garantieren. Wittgenstein scheint offensichtlich mit beiden Varianten nicht zufrieden zu sein: Weder das Vorstellungsbild noch der aktuelle Beleg eines Musters allein können als die gesuchten Kriterien herangezogen werden, die es erlauben, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Ebenso kann eine intersubjektivistische Rechtfertigung nicht die Identität zwischen Zeichen und Bedeutung bestätigen. Denn hier wäre es immer noch fraglich, inwiefern der Rekurs auf ein anderes Subjekt zu dem beitragen kann, was ich unter meiner Vorstellung nun verstehe. Eine dialogische Überprüfung zwischen diversen Einzelpersonen oder ein Konsens bestimmter Gesprächsteilnehmer geht nicht in dem gesuchten Sinne auf eine Sozialität ein, die Wittgenstein implizit bedenkt. Auch der andere kann sich nur auf das subjektive Gedächtnis oder auf die tatsächlich wahrnehmbare Mustertabelle beziehen. Hiermit wäre noch kein wesentlicher Schritt unternommen, aus den zuvor gezeigten Unzulänglichkeiten herauszukommen. Auch der Ausgriff auf eine intersubjektive Konvention, die sich über einen bestimmten Sprachgebrauch einigt, greift hier zu kurz, denn Sprache kann kein Produkt einer Vereinbarung sein. In welcher Sprache sollte diese Art Worin impliziert, das als institutionelle Mitte fungiert, wäre auch das phänomenologische »Prinzip aller Prinzipien« auf seine Gültigkeit hin zu befragen. Wie Husserl es noch in den Ideen I vertreten hat, besagt es, dass »jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei« (Hua III/1, 51). Diese Art der subjektiv gegebenen Unmittelbarkeit ist, wie Wittgenstein über das Privatsprachen-Argument zeigt, nur als vermittelte respektive als offen für den Dritten zu denken.
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der Abmachung fixiert werden? Vielmehr implizieren die Ausführungen rund um das Privatsprachen-Argument, dass Sprache als ein (vorausgehendes und zugleich uneinholbares) Drittes verstanden wird, das zwischen dem Mitmenschen und mir jede Kommunikation und damit jede Bezugnahme auf etwas als etwas gewährt. Es stellt sich hier die Frage, worauf Wittgenstein nun hinaus will. Die Möglichkeit einer Privat-Sprache wurde in vielfacher Hinsicht als unhaltbar zurückgewiesen. Ebenso scheint er sich nicht mit einer verifikationistischen oder intersubjektivistischen Deutung zufrieden zu geben, da man sich hier aufs Neue in die Aporien der intentionalistischen Bedeutungstheorie verstrickt. Offensichtlich möchte Wittgenstein die gesamte Betrachtungsweise ändern. Die von einem Privatsprecher vorgenommene Zuordnung von Bedeutung und Zeichen erklärt nicht (den Gebrauch von) Sprache. Darüber hinaus erweist sich die dichotome Einteilung in einen privaten Bereich des Bewusstseins und ein Draußen der Welt als nicht haltbar. Offensichtlich muss die Vorstellung von einem souveränen Bewusstsein, das denken, empfinden und fühlen kann, und erst nachträglich zur Welt, zu den Mitmenschen und zu einer gemeinsamen Sprache kommt, wie es das augustinische Bild der Sprache suggeriert, zurückgewiesen werden. Wittgenstein bestreitet nicht, dass es spezifische private Empfindungen gibt. Das wäre völliger Unsinn, denn jeder von uns kann Schmerzen fühlen, Empfindungen wahrnehmen oder Stimmungen erleben. So bestimmen wir Sinneseindrücke nicht in einer indifferenten Weise, sondern charakterisieren sie immer schon als qualitativ beschreibbare. Wir sprechen von einem ziehenden, stechenden, bohrenden, krampfartigen oder unregelmäßig wiederkehrenden Schmerz. Daher ist es auch nicht unsinnig, von gleichen, ähnlichen oder gänzlich anderen Schmerzen zu sprechen (der jeweils empfundene Schmerz ist dabei nicht an die medizinisch diagnostizierbare Verletzung gekoppelt): »Was ›gleich‹ und ›ungleich‹ ist, entscheidet sich hier am Maßstab der Art, wie wir unsere Schmerzen charakterisieren und zwar in einer Sprache, die wir beide verstehen.« (Wellmer 2004, 102) Das impliziert aber nicht, dass die Mitteilung von Schmerzen oder sonstigen Empfindungen stets artikulierbar wäre. Gerade diese Kommunikation von Gefühlen oder Empfindungen fällt uns mitunter sehr schwer. Schwierigkeiten treten nicht nur dann auf, wenn tiefen Gefühlen, wie etwa Trauer oder Freude, die richtigen Worte verliehen werden sollen, sondern auch bei der Deskription von relativ häufig auftretenden ZuA
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ständen, wie z. B. Kopfschmerzen. Aber die Angemessenheit der Beschreibung vollzieht sich nur in der öffentlichen Sprache einer gemeinsam geteilten Lebensform. Die Suche nach dem treffenden Ausdruck ist dabei gleichsam ein Klarwerden über unsere Empfindungen und den Sprachgebrauch anderer, wofür die gemeinsame Sprache allerdings nicht wie ein sekundäres Werkzeug der Abbildung zur Verfügung steht: »In Wirklichkeit sind diese Schwierigkeiten nur verständlich, wenn wir uns klarmachen, daß wir unsere eigenen Empfindungen und Gefühle allein im Medium einer öffentlichen Sprache gleichsam vor uns bringen können und daß nur auf dem Hintergrund einer öffentlichen Sprache der Empfindungen und Gefühle überhaupt das Problem entstehen kann, für bestimmte Empfindungen und Gefühle die richtigen Worte zu finden.« (Wellmer 2004, 108) Wittgenstein destruiert folglich eine falsche Vorstellung von Privatheit, die gleichsam als unvermittelbarer Bereich eines Bewusstseinsinneren verstanden wird, in dem nur Dinge sind, zu denen ausschließlich die betreffende Person einen vollkommen eigenen Zugang hat. Er weist somit die ontologischen Grundannahmen, die von einem Inneren des Bewusstseins, zu dem lediglich das Subjekt einen Zugang hat, und dem Äußeren der Welt sprechen, in der andere Menschen und Dinge gleichermaßen auftreten können, zurück. Diese gesamte Grundexposition, die von einem epistemischen Privileg des autonom-souveränen Ego ausgeht, beruht auf einem groben Selbstmissverständnis. Das Ego befindet sich nicht zunächst in einer Eigensphäre, aus der es hinaustreten muss, um zur Welt zu gelangen. Vielmehr impliziert das Sprechenkönnen einer Sprache ein Selbstverständnis des Menschen, das sich erst aus einer mit anderen immer schon geteilten und stets teilbaren sozialen Praxis versteht. Mitteilen heißt dann nichts anderes als, dass jede Mit-Teilung (communicatio) stets unweigerlich ein Mit-anderenTeilen (participatio) impliziert und erst aus dieser sozialen Praxis ihren (prekären) Sinn erhält. Die Mit-Geteiltheit der Sprache spiegelt sich im jeweiligen Eingebettetsein in einer Sprachgemeinschaft wider. Im nächsten Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, von welcher Gemeinschaftlichkeit Wittgenstein überhaupt spricht. Bislang wurde lediglich deutlich, dass Sprache nicht ein Projekt eines Einzelnen sein kann. Die Sinnsetzung wird nicht von einem Ego bewerkstelligt. Dieser immer schon gemeinsamen Sprache, die nicht auf einen nachträglichen Zusammenschluss von Individuen beruht, soll nun anhand weiterführender Erörterungen des Wittgenstein’schen Sprachverständnisses 128
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nachgegangen werden. In diesem Zusammenhang wird es für die Nachzeichnungen seiner Überlegungen unentbehrlich werden, auf sein genuines Verständnis von Öffentlichkeit und Gemeinschaft, das er mit regelgerichteten Praktiken und der Rückbindung an institutionelle Momente zu beschreiben versucht, näherhin einzugehen. Das Verstehen von etwas als etwas vollzieht sich nicht losgelöst von einer Sozialität, vielmehr geschieht es nur im Zusammenhang mit Anderen und dem gemeinsamen Gebrauch. Verstehen erweist sich somit als ein praktisches Können, das sich in einer (geregelten) Lebensform, die stets schon mit Anderen geteilt ist, vollzieht. Verstehen heißt folglich an Sprachspielen innerhalb einer Lebensform partizipieren zu können. Es gilt nun, Gemeinschaftlichkeit so in den Blick zu nehmen, dass sie sich nicht mehr an das Konstitutionsvermögen eines einzelnen Ich rückgebunden erweist, sehr wohl aber aus der Teilnahme an gemeinsamen Praktiken von Sprachspielen innerhalb einer Lebensform bzw. eines Weltbildes. Es wird sich dabei zeigen, dass Wittgenstein diese Möglichkeit des Partizipierens an ein offenes Verständnis von Regeln knüpft, sodass sich Sprache als kontingente – das heißt weder als notwendige noch als beliebige – Ordnungsstruktur zeigt, die sich immer als anschlussfähig zeigt und dadurch Veränderbarkeiten ausgesetzt ist. Sprache wird in diesem Zusammenhang nicht mehr als nachträgliche Verbindung, sondern als freigebend-gewährende Mitte verstanden, aus der heraus der Einzelne zu seinem spezifischen Selbst- und Weltverstehen innerhalb einer Gemeinschaft gelangt.
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Um ein erstes Zwischenresümee ziehen zu können, ist es notwendig, die bis dato ausgearbeiteten Einsichten in einem vorläufigen Ergebnis zu bündeln. Zu Beginn der Ausführungen rund um das Sprachverständnis von Heidegger und Wittgenstein wurde auf den editorischen Umstand hingewiesen, dass sich eine rezente Inblicknahme dieses Verhältnisses – insbesondere was ihr mittleres und späteres Schaffen anbelangt – nunmehr auf einen gewandelten Textkorpus stützen kann. Die bei beiden Denkern seit etwa Mitte der 1930er Jahre vollzogenen Entwicklungen lassen sich daher genauer fassen: Die (beinahe) vollständige Veröffentlichung der diversen Vorlesungen und Seminare im Rahmen der Heidegger-Gesamtausgabe, aber auch der so genannten »esoterischen« Manuskriptkonvolute rund um die und nach den Beiträgen (1936–38) erlaubt es, Zwischenschritte des Denkweges differenzierter als bislang in den Blick zu nehmen. Die Berücksichtigung dieser Publikationen eröffnet einen vielschichtigeren Zugang zur Sprachproblematik, als es eine alleinige Fokussierung auf die Aufsatzsammlung Unterwegs zur Sprache (1959) zulässt, die ausschließlich Beiträge der 1950er Jahre beinhaltet. Die Genese des Heidegger’schen Sprachdenkens kann daher klarer nachgezeichnet werden, sodass ein intensiveres Eingehen auf die Auseinandersetzung mit der Tradition und auf die Berücksichtigung ausgewählter Phänomene, wie etwa des Gesprächs und des sich wandelnden Selbstverständnisses des Menschen, möglich wird. In einer Abgrenzungsbewegung von den eigenen Überlegungen rund um das fundamentalontologische Projekt, wie Heidegger es selbst noch in Sein und Zeit (1927) mit der darin inhärenten transzendentalphilosophischen Erblast verfolgt, wird nunmehr verstärkt ein sich geschichtlich ereignendes Seinsgeschehnis und in weiterer Folge eine Topologie des Seyns in den Mittelpunkt der Besinnung gerückt. Damit einhergehend wird auch der methodische Einsatzgangspunkt seines ersten Hauptwerkes, vom Dasein aus die Seins130
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frage zu explizieren, einer Selbstkritik unterzogen. In dieser Akzentverschiebung – nach dem Sein selbst und nicht mehr ausgehend von einem ausgezeichneten Seienden nach ihm zu fragen – wird dem Phänomen Sprache besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erst von hier aus lässt sich Sprache vor dem Hintergrund einer Phänomenologie der Responsivität als ein Geschehen des Zu- und Entsprechens betrachten, welches das Menschsein als ein antwortendes Ereignetsein in den Blick zu nehmen vermag. Analog zu der geänderten Textgrundlage bei Heidegger können auch bei Wittgenstein die vielfältigen Entwicklungsstränge seit seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929 aufgrund der Veröffentlichungen im Rahmen der Wiener Ausgabe bzw. des Wittgenstein’s Nachlass in der Bergen Electronic Edition diffiziler herausgearbeitet werden. Hieraus wird ersichtlich, dass – neben thematischen Akzentverschiebungen – seine Überlegungen, die in die zwischen 1936 und 1946 entstandenen und überarbeiteten Philosophischen Untersuchungen eingegangen sind, die darin enthaltenen inhaltlichen Gewichtungen in einer noch näher zu berücksichtigenden Stilistik performativ ins Werk zu setzen gedenken. Diese Ausführungen grenzen sich vom idealsprachlichen Zugang ab, wie er noch im Tractatus (1918/21) samt solipsistischen und transzendentalphilosophischen Grundannahmen propagiert wurde, und dokumentieren nachhaltig den veränderten Blickwinkel auf die Sprache im Zusammenhang ihres mannigfaltigen alltäglichen Gebrauchs. Doch ein Blick auf die Manuskripte der frühen 1930er Jahre zeigt zugleich, dass nicht von einer schroffen Ruptur gesprochen werden kann, da zum einen die selbstkorrigierenden Bezugnahmen von einem mehrjährigen Abarbeiten an den im Tractatus erstmals vorgelegten Einsichten zeugen und zum anderen unterschiedliche inhaltliche sowie formale Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden müssen, um die Genese des Wittgenstein’schen Denkwegs in seiner Komplexität nachzeichnen zu können. Beiden Denkern muss daher eine durchgängige und vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sprache zugestanden werden, die ihre Anfänge bereits in den frühesten Überlegungen nimmt und sich – nicht nur trotz, sondern gerade – in diversen Brüchen bis in die spätesten Texte hinein durchzieht. In den vorangehenden Abschnitten wurde vornehmlich zu erläutern versucht, gegen welche Auffassung von Sprache sich sowohl Wittgenstein als auch Heidegger in methodischer Hinsicht abzusetzen geA
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denken. Diese »negativen« Ergebnisse gilt es nun systematisch zusammenzufassen, um die gemeinsame Stoßrichtung ihrer denkerischen Besinnung sichtbar zu machen: Beide Philosophen greifen in der vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Sprach-Phänomen auf die Tradition zurück, um sich im Durchgang durch sie von unausgewiesenen Vorannahmen abzugrenzen. Heidegger arbeitet sich in diesem Zusammenhang vornehmlich am aristotelischen Sprachverständnis ab; Wittgenstein hingegen widmet sich eingängig dem augustinischen Bild der Sprache. Der Boden der Auseinandersetzung ist somit ein geschichtlicher, der aber nur vordergründig um willen einzelner historischer Positionen geführt wird, da vielmehr ganze Traditionsstränge des metaphysischen Denkens kritisch diskutiert werden sollen. In erster Linie geht es somit nicht um bestimmte historische, nämlich antike Sprachkonzeptionen, sondern um die darin grundgelegten sprachphilosophischen Betrachtungsweisen, die über ihre geschichtliche Verortung hinaus bedeutsam sind. Die Grundannahme, die sowohl Wittgenstein als auch Heidegger leitet, geht davon aus, dass gegenwärtige Überlegungen, wenn auch zumeist unausdrücklich, auf diesen Fundamenten fußen. Eine Destruktion reduktionistischer Sprachauffassungen hat folglich vornehmlich Engführungen im Auge, die für das Sprachverständnis innerhalb des gesamten abendländischen Philosophie-Diskurses bis in die Gegenwart leitend geblieben sind und somit auch in der Aufarbeitung von rezenten Debatten berücksichtigt werden müssen. 1 Die in der Tradition vorgenommene primäre Berücksichtigung der Sprache hinsichtlich des so genannten Aussagesatzes erweist sich in mehrfacher Hinsicht als problematisch. Da laut Aristoteles einzig der logos apophantikos die Wirklichkeit richtig oder falsch wiedergeben kann, wird allein dem Urteil philosophische Dignität zugestanden und alle anderen Weisen des Sprechens werden als vernachlässigbar aus jeder weiteren Untersuchung ausgeschieden. Sprache lässt sich jedoch nicht ausschließlich auf eine repräsentationalistische Funktion einschränken. Daher führt Heidegger mehrere Aspekte ins Treffen – wie etwa Stimmart, Tonführung, Gestik, Satzmelodie, Rhythmus – und versucht ausgehend von einer Inblicknahme unterschiedlicher Weisen
Dass es innerhalb der Rhetorik seit der Antike auch Überlegungen gab, die die Sprache aus dem engen Konzept repräsentationalistischer und referenzialistischer Auffassungen zu befreien suchten, zeigt u. a. Hetzel (2010) eindrucksvoll auf.
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des Sprechens, wie es etwa im Gedicht oder im Gespräch vollzogen wird, andere Dimensionen der Sprache auszuloten, die eine Reduktion der Sprache auf ein Abbild der Realität konterkarieren. Die ausschließliche Orientierung am erkenntnistheoretischen Wert der Sprache, wobei stets diskutiert wird, ob und inwiefern Zeichen in der Lage sind, die Wirklichkeit adäquat wiederzugeben und unsere Gedanken angemessen in Worte zu kleiden, wird auch von Wittgenstein vielfach einer strengen Kritik unterzogen. Mit den Hinweisen auf den höchst unterschiedlichen Gebrauch der Sprache in einer offenen Mannigfaltigkeit von Sprachspielen, wird die essentialistische Suche nach einem einheitlichen Wesen der Sprache vielfach konterkariert und der Analytik einer idealen Sprache, die sämtliche Uneindeutigkeiten zu beseitigen trachtet, werden ihre Grenzen aufgezeigt. Das Phänomen Sprache erweist sich in vielerlei Hinsicht als reichhaltiger, als es die Betrachtung unter einem epistemologischen Blickwinkel suggeriert. Dieser essentialistischen Tendenz wird jedoch nicht nur eine Pluralität von Sprachgebräuchen und Sprechweisen entgegengehalten, sondern die ihr inhärente Ontologie und die einseitige epistemologische Orientierung wird einer tiefgreifenden Revision unterzogen werden müssen. Prägend für die traditionelle Sprachbetrachtung erweisen sich weitere reduktionistische Grundzüge. Sprache gilt als begrenzter und objektivierbarer Gegenstandsbereich, der – als akustische Verlautbarung oder schriftliche Fixierung verstanden – vornehmlich unter semantischen und epistemologischen Hinsichten betrachtet wird. Den Ausgangspunkt hierfür bildet das (ding-)ontologische Grundgerüst, das strikt zwischen Gegenständen der Außenwelt, intelligiblen Bewusstseinsinhalten und sprachlichen Ausdrücken differenziert. Untersucht wird dabei die erkenntnistheoretische Möglichkeit, Bedeutungen einer sprachnackten Wirklichkeit bzw. mentaler Eindrücke nachträglich in einen Zeichenbestand überzuführen und so eine stabile Semantik zu gewährleisten. So geht – aus einer wirkungsgeschichtlichen Perspektive betrachtet – die aristotelische Sprachauffassung davon aus, dass zwischen den getrennten Bezirken von Welt, Subjekt und Sprache ein kausalursächliches Abbildungsverhältnis besteht. Sprache repräsentiert in diesem semiotischen Dreieck lediglich die Vorgegebenheiten der Außenwelt oder der Bewusstseinszustände. Das Subjekt ist dabei in der Lage, vorliegende Dinge oder mentale Eindrücke zu benennen und mit Zeichen hinsichtlich logischer Kategorien zu versehen. Mit ähnlichen Grundannahmen operiert nach Wittgenstein auch das »augustiA
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nische Bild« der Sprache. Zeichen geben Ideen wieder, welche Gegenstände vertreten. In dieser Konzeption werden sprachliche Ausdrücke wie Namen behandelt, die losgelöst voneinander bedeuten. Eine so konzipierte Namenstheorie der Bedeutung stößt aber nicht nur aufgrund anderer Wortarten auf baldige Inkonsistenzen innerhalb ihres eigenen Ansatzes, sondern sie kann auch die vermeintlich nachträgliche Zusammenführung von Welt und Sprache mittels intentionaler Vermittlungsakte nicht schlüssig erläutern. Wittgensteins Hinweise auf die aporetischen Verstrickungen rund um die Interpretationsversuche der ostensiven Definition erschüttern diesen repräsentationalistischen Intentionalismus und den darin implizierten semantischen Atomismus nachhaltig. Er gelangt dabei zur Einsicht, dass sprachliche Ausdrücke nicht dadurch erklärt werden können, dass man auf einzelne Verbindungen von sprachlichen Zeichen mit »sprachnackten« Vorstellungen des Bewusstseins oder Elementen der »sprachfreien« Welt der Gegenstände rekurriert. Stets wird in diesen Modellen nämlich das schon vorausgesetzt, was diese Überlegungen zu begründen trachten: Denn nur innerhalb sprachlicher Strukturen lässt sich sinnvoll eine hinweisende Geste interpretieren. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens kann nicht durch eine isolierte Bezugnahme hergestellt werden, sondern das Vernehmen von etwas als etwas impliziert als ein komplexes Differenzierungsgeschehen stets ein Worin des immer schon sprachlich erschlossenen Kontextes. Damit wird bei Wittgenstein angezeigt, dass ein sprachliches Element nur im Verbund mit anderen sprachlichen Elementen auftritt und aus dem Gesamtkontext heraus verstanden werden muss; zugleich wird deutlich, dass Sprache in dieser holistischen Weite genommen nicht einen abgrenzbaren Gegenstandsbereich umschließt, sondern im Zusammenhang mit dem Handeln innerhalb eines mit Anderen geteilten und teilbaren Weltbezugs betrachtet werden muss. Soziale Praktiken, sinnliche Wahrnehmungen oder menschliche Erkenntnisfähigkeit spielen sich somit nicht in einem sprachunabhängigen Bereich ab. Nimmt man diese ineinander verflochtenen Bezüge ernst, lässt sich Sprache nicht mehr auf den vorliegenden Zeichenbestand reduzieren. Damit einhergehend lässt sich auch eine Stoßrichtung ausmachen, die es nicht mehr erlaubt, Sprache kontraktualistisch zu begreifen, da jede Selbstverständigung, wie die Destruktion des Privatsprachen-Arguments zeigt, und jede intersubjektive Vereinbarung bereits eine sprachliche Erschlossenheit von Welt voraussetzen. Die Möglichkeit einer unmittelbaren Begründung der 134
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Sprache und eines nachträglichen Zusammenschlusses von Individuen wird vonseiten Wittgensteins daher entschieden zurückgewiesen. Aus der Unmöglichkeit eines primären Sinnstiftungsaktes der Sprache zieht auch Heidegger seine Konsequenzen: Sprache »benennt« nicht in einem sekundären Akt bereits Vorliegendes, sondern bringt im Nennen überhaupt erst etwas als etwas zum Erscheinen. Es wäre jedoch ein grobes Missverständnis, diesen Akt des Nennens der Fähigkeit eines souveränen Subjekts zuzuschreiben, das beliebig schöpferisch agieren und von sich aus Seiendes zum Zeigen bringen kann. Heidegger grenzt sich mit großer Vehemenz von dieser verkürzten Sichtweise ab: »Die Sprache ist nichts, was der Mensch unter anderen Vermögen und Werkzeugen auch hat, sondern Jenes, was den Menschen hat, so oder so sein Dasein als solches von Grund aus fügt und bestimmt.« (GA 39, 67) Mit diesen Überlegungen scheint Heidegger nun in eine gegenteilige Position zu verfallen: Anstelle eines souveränen Subjekts wird nun ein passiver Determinismus forciert, der unter der Hand noch die Sprache als das eigentlich Zugrundeliegende hypostasiert. Doch nichts davon ist der Fall. Heidegger möchte vielmehr ein anderes Verständnis von Sprache und damit einhergehend von Menschsein respektive Welt gewinnen, das anthropozentrische auf der einen und fatalistische Engführungen auf der anderen Seite zugunsten der phänomenalen Gegebenheit in den Blick nimmt. Nicht der Mensch »besitzt« nämlich das Sprachvermögen, über das er beliebig verfügen kann, sondern er erfährt sich als je schon Angesprochener in sprachliche Bezüge eingelassen. Alles Erscheinen von Seiendem ereignet sich nur, insofern der Mensch auf einen an ihn ergangenen Zuruf antwortet. Die Erschlossenheit von Seiendem überhaupt zeigt sich ihm, indem diese Offenheit ihn bereits in Anspruch genommen hat und in seiner bedeutungshaften Fülle gegeben ist; jedes verstehende Vernehmen von etwas als etwas ist sprachlich gegeben. Sprache kommt somit nicht in einem zweiten Schritt hinzu, sondern der Mensch findet sich immer schon in sprachlichen Sinnzusammenhängen vor. Einzelnes kann erst vor dieser sprachlich zu verstehenden Erschlossenheit thematisch werden. Heidegger versucht diese zentrale Einsicht folgendermaßen zu verdeutlichen: »Etwas bedeutet mir etwas, es sagt mir etwas; darum hat für mich etwas eine Bedeutung, und wenn es nur die Bedeutung ist des ›hier‹, des ›es‹. Weil wir selbst etwas dazu sagen, dadurch, daß wir sprechen können, daß wir die Sprache haben, – deshalb ist die Möglichkeit gegeben, daß überhaupt für uns etwas ist.« A
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(Sch 43) 2 Entscheidend ist Heideggers Hinweis darauf, dass der Mensch als Angesprochener »etwas dazu sagen« muss. Das bedeutungshafte Erscheinen ereignet sich nicht ohne dieses »Dazu-Sagen« des Menschen. Alles Sichzeigen wird aus diesem Entsprechen gedacht, denn der Mensch wird erst dadurch Mensch, dass er auf diesen Zuspruch antwortet. Erst das responsive Verhältnis im Sinne des Zu- als Entsprechens – mit Heidegger kann dies als Gesprächsgeschehnis bezeichnet werden – eröffnet alle welthaften Bezüge für den Menschen. Welt – im Sinne des stets schon gelichteten Gesamtzusammenhangs, innerhalb dessen überhaupt erst einzelnes Seiendes begegnen kann – ereignet sich als Geschehnis der Sprache: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet die Welt – ist Seiendes.« (GA 38, 168; vgl. GA 39, 140 f.) Sprache ist somit nicht auf eine repräsentative Abbildungsfunktion reduzierbar, sondern muss in ihrer welt-eröffnenden Dimension und in ihrem Gabecharakter lesbar gemacht werden. Heidegger versteht jedes Erscheinen von Seiendem, ja die Eröffnung von Welt überhaupt, sprachlich, indem sich dieses oder jenes aus einem Bedeutungszusammenhang zeigt oder verschließt: »Unser Seyn geschieht demzufolge als Gespräch, sofern wir, so angesprochen sprechend, das Seiende als ein solches zur Sprache bringen, in dem, was es und wie es ist, eröffnen, aber auch zugleich verdecken und verstellen.« (GA 39, 70) Das Gespräch fängt somit zwar nicht beim Menschen an, sondern der Mensch wird erst dadurch Mensch, dass er sich als Teilnehmender eines Gespräches im Sinne des Angesprochenseins und offen für das Besprochene erfährt. Das Sprachgeschehnis ereignet sich jedoch nicht ohne (menschliches) Antworten. Gefragt werden muss aber, wie dieses Gegebensein von Sprache genauerhin verstanden werden kann. Dabei verschiebt sich sowohl bei Heidegger als auch bei Wittgenstein die epistemologische Fragestellung zugunsten einer umfassenden Erörterung des menschlichen Selbstverständnisses aus einer kontingenten Lebensform innerhalb einer Sprachgemeinschaft und geschichtlichen Situierung. Das menschliche Selbstverhältnis sowie sein Mit- und Umweltverständnis ist nicht sprachfrei gegeben, sondern artikuliert sich nur aus und in je schon überlieferten sprachlichen Kontexten. Wenn Sprache immer schon mit im Spiel ist, kann der Mensch nicht mehr als Bezugsmitte alles SeienDas Zitat stammt aus einer Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs, der als langjähriger Heidegger-Hörer als zuverlässig gelten kann.
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den verstanden werden, das Sprache lediglich aus einem rein instrumentalistischen Blickwinkel betrachtet. Die Zurückweisung einer uneingeschränkten Rationalität impliziert gravierende Konsequenzen. Gleichermaßen wird von Heidegger und Wittgenstein die Annahme destruiert, dass die Sprache samt ihren Sinnbezügen auf die Konstitutionsleistung eines souverän-autonomen Subjekts zurückgeführt werden kann. Wie jedoch eine andere Hinsicht auf das Menschsein, das sich aus der Teilnahme an einer Sprachgemeinschaft und den damit zusammenhängenden regelgeleiteten Praktiken von Sprachspielen respektive Lebensformen und Weltbildern versteht, sich näherhin mit Wittgenstein umschreiben lässt, wird noch im Fortlauf der Arbeit nachzugehen sein. Mit der Betonung der Sprachgemeinschaft wird der institutionelle Charakter der Sprache auch differenzierter in den Blick zu nehmen sein, als die Ausführungen von Heidegger es erlauben. Umgekehrt wird mit Heidegger der Gewichtung der je sich geschichtlich ereigneten Eröffnung von Welt und der responsiven Dimension auf die VorGabe der Sprache größere Aufmerksamkeit geschenkt. In der Rekonstruktion des Wittgenstein’schen Ansatzes wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine philosophische Inblicknahme Sprache, über eine rein epistemologische Fragestellung hinausgehend, zugleich den je schon öffentlichen Gebrauch innerhalb sozialer Gefüge zu berücksichtigen hat, aus dem her sich der Einzelne versteht. Sprache wird somit nicht mehr als individuelles Vermögen und in erkenntnistheoretischer Hinsicht verhandelt, sondern sie muss nun ebenso mit Möglichkeiten des Handelns und hinsichtlich ihrer Rückbindung an eine Sprachgemeinschaft näherhin befragt werden. Die sprachphilosophische Reflexion, die vermeintlich einen abgegrenzten Gegenstandsbereich auszuloten gedachte, wird hierbei über sich hinausgetrieben, ohne hinter sich zurückgehen zu können oder einem neuerlichen Reduktionismus – sie nämlich auf ein hypostasiertes Verständnis von Sprache zurückführen zu wollen – anheim zu fallen. Dieses Verständnis des so genannten linguistic turn, Sprache einfachhin anstelle der Erkenntnistheorie oder eines bewusstseinszentrierten Ansatzes als prima philosophia an die erste Stelle innerhalb philosophischer Reflexionen zu setzen, würde nicht am Grundgefüge metaphysischer Begründungskonzeptionen rütteln, sondern lediglich ein anderes Fundament in Anspruch nehmen. Es wird sich zeigen, dass die Erschlossenheit von Welt und das Mitsein mit Anderen nur aus sprachlichen Bezügen zu A
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eruieren ist. Dabei wird auf ko-konstitutive Zusammenhänge einzugehen sein, die eine nachhaltige Verschiebung von einer Ontologie der Vorhandenheit hin zu einer responsiven Ereignisdimension provozieren. Es gilt nun im nächsten Abschnitt, zunächst mit Wittgenstein Gemeinschaftlichkeit so in den Blick zu nehmen, dass sie sich nicht mehr an das Konstitutionsvermögen eines einzelnen Ich rückgebunden erweist, sehr wohl aber aus der Teilnahme an gemeinsamen Praktiken von Sprachspielen innerhalb einer Lebensform bzw. eines Weltbildes zu verstehen ist. Es wird sich dabei zeigen, dass er diese Möglichkeit des Partizipierens an ein offenes Verständnis von Regeln knüpft, sodass sich Sprache als kontingente – und damit weder als notwendige noch beliebige – Ordnungsstruktur zeigt, die sich immer als anschlussfähig erweist und dadurch Veränderbarkeiten ausgesetzt ist. Sprache wird in diesem Zusammenhang nicht mehr als nachträgliche Verbindung, sondern als freigebend-gewährende Mitte verstanden, aus der heraus der Einzelne zu seinem spezifischen Selbst- und Weltverstehen innerhalb einer Gemeinschaft gelangt. Danach wird mit Heidegger der responsiven Dimension des Gesprächs und der Geschichtlichkeit samt dem Gabe-Charakter der Sprache nachgegangen werden müssen, um die Differenzen zwischen den beiden Denkern in verstärkter Weise auszuloten.
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Wittgensteins Annäherung an Sprache – oder sich im Offenen bewegen »Der Ursprung […] des Sprachspiels ist eine Reaktion […].« (VE 115)
Wittgenstein verabschiedet in seinem Spätwerk den Versuch, Sprache dadurch erklären zu wollen, dass Bedeutungen bestimmter Elemente der Welt nachträglich mit sprachlichen Zeichen verbunden werden. In diesem Zusammenhang stellt er eine Namenstheorie der Bedeutung, die etwa durch die ostensive Definition oder eine wie auch immer geartete intentionale Verknüpfung eine Verbindung zwischen einem Wort und einem Gegenstand herzustellen beabsichtigt, radikal in Frage. So fungieren Zeichen gerade nicht als nachträgliche und exakte Repräsentation einer sprachunabhängigen und vorgängigen Wirklichkeit. Sprache bildet weder eine vorgegebene Außenwelt ab, noch lässt sie sich als invariante und kontextunabhängige Zuordnung, die etwa durch eine Konvention geregelt werden kann, begreifen. Neben der grundlegenden Kritik am Repräsentationsmodell im augustinischen Bild der Sprache und den damit zusammenhängenden inadäquaten Vorstellungen des menschlichen Selbstverständnisses als autonomsouveränes Subjekt ist es Wittgenstein darum zu tun, eine angemessene »positive« Beschreibung des Phänomens Sprache und ihrer Verortung in der menschlichen Faktizität zu liefern. Im Gegensatz zu einer theoretischen Betrachtungsweise plädiert er dafür, Sprache im Zusammenhang mit einer Praxis innerhalb bestimmter Lebensformen zu betrachten. Die folgende Skizze der Wittgenstein’schen Annäherung an dieses breit gefächerte Themengebiet wird sich dabei auf folgende Punkte konzentrieren: a) Wittgensteins Erweiterung des Verständnisses von Sprache in Form der Mannigfaltigkeit von Sprachspielen, b) der darin implizierte Handlungscharakter in Lebensformen und Weltbildern und c) die Rückgebundenheit der sprachlichen Vollzüge an eine Regelhaftigkeit in einer Sprachgemeinschaft.
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Die irreduzible Vielfalt der Sprachspiele als Eigensinn des Beispiels
Gegenüber der herkömmlichen Vorstellung von Sprache als Ausdrucksmittel von Gedanken oder als Abbildungsinstrumentarium weltlicher Referenten betont Wittgenstein die weit umfangreichere Verfasstheit der Sprache. Sie ist als bloßes Kommunikationsmittel, über das der Mensch beliebig verfügen kann, nicht angemessen in den Blick genommen. Mit der herkömmlichen instrumentalistischen Deutung geht auch eine vermeintliche Abkünftigkeit der Sprache in Hinblick auf den menschlichen Intellekt und auf eine nonverbale Wirklichkeit einher. 1 Doch Wittgenstein versteht Sprache weder als rein zweckorientiertes Gedankenvehikel noch ausschließlich und in erster Linie als akustische Verlautbarung; Sprache ist für ihn vielmehr ein »Sammelname« für »verschiedene Zeichensysteme«, die untereinander eine »größere oder geringere Verwandtschaft« (PG 137) aufweisen können. Wittgenstein zielt nun nicht darauf ab, den Zeichenbegriff zu klären oder den Systemgedanken zu verfolgen, sondern er führt eine Pluralität ins Treffen, die Verwandtschaftsbeziehungen in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Der Fokus der Aufmerksamkeit muss daher auf das Wie des Verständnisses dieser Mannigfaltigkeit gerichtet werden. Jede allgemeine Kennzeichnung der Sprache greift seiner Auffassung nach zu kurz, um ihre diversen Erscheinungsformen adäquat zu erörtern: »Denke an die Vielgestaltigkeit dessen, was wir ›Sprache‹ nennen. Wortsprache, Bildersprache, Gebärdensprache, Tonsprache.« (PG 129) Diese plurale Zugangsweise zum Phänomen Sprache verbietet es, von einer einheitlichen und klar umgrenzbaren begrifflichen Definition von Sprache auszugehen, denn Sprache zeigt sich in so vielen Ausformungen, dass sie jedes Einteilungsmuster immer schon übersteigt und jede Subsumierung unter eine Essenz konterkariert. Den Versuch einer Reduktion der Sprache auf einen bestimmten Zweck, beispielsweise der einer Informationsvermittlung, weist Wittgenstein explizit zurück (vgl. Z 322), da – abgesehen von der Zweckunbestimmtheit einer Sprache der Musik oder einer Sprache der (bildenAls locus classicus dieser instrumentalistischen Deutung kann Platons Dialog Kratylos angesehen werden. In Analogie mit handwerklichen Tätigkeiten wird das Wort als (geeignetes) Werkzeug (organon) aufgefasst, mittels dessen wir über Dinge belehrt werden und sie zu unterscheiden lernen (vgl. 388a–b).
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den) Kunst – eine einheitliche Zweckausrichtung schon in der Wortsprache vielfach unterwandert wird. Wenn Wittgenstein mehrfach in seinen Ausführungen auf das Wort »Gebrauch« zurückgreift, ist es nicht mit einer instrumentalistischen Ausrichtung verbunden; vielmehr möchte er den Blick für unterschiedliche Verwendungsweisen öffnen. So lässt sich beispielsweise für Wortfolgen, »wie sie in Gedichten Lewis Carroll’s vorkommen, oder von Worten wie ›juwiwallera‹ in einem Lied« (PU 13), weder eine feste Bedeutung noch eine allgemein bestimmbare Absicht ausmachen. Die zwischenmenschliche Verständigung ist ein möglicher Gebrauch der Sprache, aber nicht ihr einziger oder vordergründiger. Es ist daher typisch für Wittgenstein, dass er in diesem Zusammenhang auf unterschiedlichen Möglichkeiten insistiert, um so die Leserschaft für die Reichhaltigkeit des Sprachphänomens zu sensibilisieren: »Nicht: ›ohne Sprache könnten wir uns nicht miteinander verständigen‹ – wohl aber: ohne Sprache können wir andre Menschen nicht so und so beeinflussen; können wir nicht Straßen und Maschinen bauen etc. Und auch: Ohne den Gebrauch der Rede und der Schrift könnten sich Menschen nicht verständigen.« (PU 491) Um dem näher zu kommen, was in dieser dichten Textstelle alles unter Sprache verstanden werden kann, muss der Blick auf sämtliche menschliche Bezüge – und worin diese kontextuell eingebettet sind – gelenkt werden. Explizit führt Wittgenstein immer wieder so genannte nonverbale Tätigkeiten an, die zumindest vordergründig weder etwas mit Sprache zu tun haben – etwa Straßen bauen – noch untereinander stringent zusammenhängen; denn worin besteht der Zusammenhang zwischen einer Überredungskunst und der Anfertigung von Maschinen? Das, worin diese Beispiele in einer gewissen Weise übereinkommen, ist wohl das sich jeweilig unterschiedlich gestaltende Zusammenseinkönnen der Menschen in einer Sprachgemeinschaft. Bevor auf diesen Aspekt näher eingegangen werden kann, soll zunächst aber die Vielfältigkeit des sprachlichen Gebrauchs weiter akzentuiert werden. So vergleicht Wittgenstein die vielfältigen »Funktionen der Wörter« (PU 11) auch mit einem Werkzeugkasten. Er möchte damit aber nicht auf den instrumentalistischen Charakter der Sprache hinweisen, sondern zeigen, dass es unmöglich ist, die einzelnen Arbeitsmittel unter einem einzigen Zweck zu subsumieren: »Denke dir, jemand sagte: ›Alle Werkzeuge dienen dazu, etwas zu modifizieren. So, der Hammer die Lage des Nagels, die Säge die Form des Bretts, etc.‹ – Und was modifiziert der Maßstab, der Leimtopf, die Nägel?« (PU 14) Wittgenstein 142
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berücksichtigt in dieser Analogie jedoch nicht nur die unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten dessen, was mitunter eindimensional als Werkzeug verstanden wird, sondern macht darüber hinaus auf einen Grundzug seiner Betrachtung aufmerksam. Er führt nicht theoretische Behauptungen ins Treffen, sondern rekurriert auf unterschiedliche Beispiele samt den jeweiligen praxisorientierten Beschreibungen. Eine Praxis freilich, die sich nicht mehr als nachträgliche Applikation einer Theorie versteht, sondern die in eigenständiger und eigentümlicher Weise Felder der Betrachtung zu eröffnen vermag. Die sprachlichen Vollzüge verfolgen kein einheitliches telos oder einen gemeinsamen Urzweck, sondern können mannigfach verwendet werden. Der Gebrauch der Sprache ist dabei jedoch nicht einer übergeordneten und externen Instanz verpflichtet; er verweist vielmehr auf die Handhabe innerhalb des betreffenden sprachlichen Kontextes. Die Betonung einer »Autonomie« der Sprache 2 bei Wittgenstein, die kein Außerhalb im Sinne eines externen Maßstabs kennt, versucht Mersch anhand der aristotelischen Unterscheidung zwischen poiesis, die ein auf äußere Zwecke und Ziele gerichtetes Handeln bezeichnet, und praxis, die als Tätigkeit die Ziele und Zwecke in sich selbst besitzt, näher zu charakterisieren. 3 Sprache müsste im Wittgenstein’schen Sinne »ausschließlich in praxeologischen Kategorien« (Mersch 1991, 35) verstanden werden. Das »telos« der Sprache liegt bei Wittgenstein somit imDie autonome Grammatik der Sprache – die ich an dieser Stelle nicht nur für den »mittleren« Wittgenstein in Anspruch nehmen möchte, sondern auch in den Lebensformen der Philosophischen Untersuchungen oder den Weltbildern in Über Gewißheit tradiert sehe – ist an keine externe Instanz rückgebunden (»Die Grammatik ist der Wirklichkeit nicht Rechenschaft schuldig.« (BT 234)) und konstituiert als »autonomer Selbstzweck« unseren Erfahrungshorizont (»Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)« (PU 373)). In den späteren Schriften aber betont Wittgenstein weit stärker, dass die Grammatik nicht nur in Lebensformen oder Weltbildern eingebettet ist, sondern sich auch in der Praxis zu bewähren habe und gegebenenfalls auch modifiziert oder verworfen werden könne: »So lernen ja die Kinder bei uns rechnen, denn man läßt sie 3 Bohnen hinlegen und noch 3 Bohnen und dann zählen, was da liegt. Käme dabei einmal 5, einmal 7 heraus, (etwa darum weil, wie wir jetzt sagen würden, einmal von selbst eine dazu-, einmal eine wegkäme), so würden wir zunächst Bohnen als für den Rechenunterricht ungeeignet erklären. Geschähe das Gleiche aber mit Stäben, Fingern, Strichen und den meisten anderen Dingen, so hätte das Rechnen damit ein Ende.« (BGM 51 f.) 3 So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: »Denn das Hervorbringen [poiesis, M. F.] hat ein Endziel außerhalb seiner selbst, beim Handeln [praxis, M. F.] aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel.« (NE 1140 b 6 ff.) 2
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mer in ihr selbst. Auch die Begriffe »Gebrauch« und »Praxis« verweisen nicht auf eine nachträgliche Anwendung oder auf einen instrumentellen Charakter der Sprache, sondern bekunden ihren immanenten Selbstzweck, der sich unterschiedlich gestalten kann. Diese Autonomie der jeweiligen Gebrauchsweisen von Sprache zeigt sich wohl am eindringlichsten in dem, was Wittgenstein als Lebensformen und Weltbilder zu fassen sucht. Gegen die in der traditionellen Sprachphilosophie angestrebte Rückführung der diversen Sprachformen auf die privilegierte Satzart des wahrheitsfähigen Aussagesatzes führt Wittgenstein eine Vielzahl von eigenständigen und inkommensurablen Weisen der Sprache an. Auf die Frage »[w]ieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl?« gibt er zur Antwort: »Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹ nennen.« (PU 23) Um die Vielgestaltigkeit der sprachlichen Akte zu verdeutlichen, listet er eine ganze Reihe von Beispielen auf. So sind für ihn Befehle, Berichte, Rätselraten, Singen, Theaterspielen, Vermutungen, Bitten, Danksagungen, Flüche, Grüße oder das Gebet genauso irreduzible Sprachformen wie Vollzüge, die man gemeinhin nicht unmittelbar als sprachliche Akte bezeichnen würde: »Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung)«, »Eine Geschichte […] lesen« oder »Ein angewandtes Rechenexempel lösen« (PU 23). Sprachlichkeit ist somit für Wittgenstein von Anfang an nicht auf das Sprechen im Sinne der akustischen Verlautbarung oder Informationsvermittlung beschränkt, sondern wird in unterschiedlichste Richtungen erweiterbar. Neben diesem Aufbrechen des traditionellen Sprachbegriffs ist auffallend, dass Wittgenstein bei dieser Auflistung eine einheitliche Charakterisierung der diversen Varianten von Sprache unterlässt und sich statt dessen damit begnügt, die im Nachhinein beschreibbaren und bereits aus dem Alltag bekannten Beispiele anzuführen. Dabei vermeidet er jede Rangordnung und streicht, indem er eine »horizontale oder nicht-hierarchische Topologie« (Mersch 1991, 38) skizziert, ihre nicht auflösbare Heterogenität hervor, die folglich nicht mehr auf ein einheitliches Fundament zurückgeführt werden kann. Diese diversen Formen der Sprache nennt Wittgenstein Sprachspiele. Er expliziert sein genuines Verständnis dieses von ihm geprägten Terminus in den Philosophischen Untersuchungen zunächst an einer einfachen Sprachform, nämlich am Bauarbeiterbeispiel (vgl. PU 144
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2, 8). Er weist zunächst darauf hin, dass er »von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden« (PU 7; vgl. BB 36 f.) möchte. 4 Die selbst getätigte Beschränkung des Begriffs auf simple Arten der Sprachverwendung hebt er jedoch noch im selben Paragraph wieder auf: »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.« (PU 7) 5 Aus diesem Zusatz wird zweierlei sichtbar: »Sprachspiele« bezeichnen erstens nicht nur primitivere Varianten von sprachlichen Vollzügen, sondern lassen sich auf alle und in sich ganz unterschiedliche Verwendungsformen der Sprache ausdehnen. Zweitens, und darauf wird noch zurückzukommen sein, ist Sprache stets mit Tätigkeiten verbunden. Sprachspiele sind immer auch Sprachhandlungen. Eindringlich bringt Waldenfels diese Wittgenstein’sche Einsicht auf den Punkt: »Will man gründlich über Sprache sprechen, so muß man über mehr als bloße Sprache sprechen.« (Waldenfels 1985, 83) Der durch Mersch in die Diskussion eingeführte praxeologische Aspekt der Sprache wird hier mit weiteren Facetten angereichert: Praxis impliziert nicht nur, dass sie weder einer Theorie nachfolgt noch ein externes Ziel verfolgt, sondern auch dass Sprache um die Dimension des Vollzugs erweitert werden muss, genauso wie sie nur aus der Verschränktheit mit Handlungen und den betreffenden Kontexten verstanden werden kann. Die von Wittgenstein ins Treffen geführte Vielfältigkeit der Sprachspiele erweist sich als nicht abzählbar. Allein in den Philosophi4 Vonseiten Wittgensteins – zumindest jenem der Philosophischen Untersuchungen – drängt sich sogleich die Frage auf, von welchem Maßstab her, überhaupt etwas als ein primitives Sprachspiel gedeutet werden kann. Genauso wie es mitunter alles andere als einfach ist, zwischen einer analytischen und einer synthetischen Wortverwendung zu unterscheiden, kann das Bauarbeitersprachspiel nicht generalisierend als simpel angesehen werden. Jeder, der einmal auf einer Baustelle gearbeitet hat, weiß, wie schwer man sich als Außenstehender tut, die vermeintlich knappen Befehle angemessen zu interpretieren. 5 Dieser Satz ist laut PUK in einer fremden Handschrift im Ts 227 a nachgetragen. Dieser Zusatz weist auch auf eine Entwicklung innerhalb des wittgensteinschen Denkwegs hin, da er anfangs – wie es sich anhand des Blauen und Braunen Buchs nachvollziehen lässt – den Terminus »Sprachspiel« für primitive Weisen der Sprachverwendung reservierte und erst in den Philosophischen Untersuchungen auf die »gesamte« Sprache ausweitete: »Und nicht umsonst beginnt Wittgenstein den Sprachspiel-Begriff zunächst an kleinen erfundenen und primitiven Sprachen auszuprobieren. Dann sieht er, daß auch die übrigen tatsächlichen Formen unserer Verwendung von Ausdrücken einen ähnlichen Charakter haben. Am Ende nennt er auch das Ganze der Sprache: das Sprachspiel.« (Haller 1991, 129 f.)
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schen Untersuchungen tauchen Exempel von Sprachspielen – neben der langen Auflistung in Paragraph 23 – an diversen Stellen immer wieder auf. Der Terminus wird dabei stets mit unterschiedlichsten Vollzügen in Verbindung gebracht. So bezeichnet Wittgenstein etwa das Lesen (PU 156), das Lügen (PU 249) oder das Äußern von Schmerzen (PU 300) ebenso als Sprachspiele wie das Beobachten von chemischen Reaktionen (PU 630) oder das Beschreiben von psychologischen Vorgängen (PU, p. 498). Er suggeriert dabei stets, dass es sich bei der Auflistung um eine offene Folge handelt, die weder in ihrer synchronen Pluralität begrenzt werden kann noch in ihrer historischen Ausprägung gleichförmig bleiben muss. Er rückt dabei das Prozesshafte dieser unterschiedlichen Ausformungen in den Vordergrund: »Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.« (PU 23) Kein einzelnes Sprachspiel bildet eine für sich bestehende strikt-abgeschlossene oder überzeitliche Entität, es kann verschwinden, genauso wie es denkbar ist, dass neue Sprachspiele entstehen. Das Gesamt der Sprache in den diversen Ausprägungen von Sprachspielen ist folglich nichts unvergänglich Starres, sondern kann durchaus verschiedenen Veränderungen ausgesetzt sein und befindet sich somit – von einer unzähmbaren Lebendigkeit getragen – stets im Fluss. Um diese Vielfältigkeit zu veranschaulichen und die geschichtliche Wandelbarkeit von Sprachspielen zu unterstreichen, vergleicht Wittgenstein die Sprache mit einer historisch gewachsenen und immer wieder Veränderungen ausgesetzten Stadt, deren Charakteristikum gerade darin liegt, aus ganz unterschiedlichen Bezirken, Bauten, Straßen und Plätzen zu bestehen: »Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.« (PU 18) Wittgenstein konstatiert damit ein Dass der Veränderbarkeit des (gesamten) Ensembles von Sprachspielen; eine Erörterung, ob und wie ein einzelnes Sprachspiel sich ändern kann, bleibt jedoch aus. 6 6 Khurana macht in seiner Studie Sinn und Gedächtnis nachdrücklich auf diesen blinden Fleck in Wittgensteins Denken aufmerksam: »Wittgenstein fokussiert nicht auf den Moment der Veränderung selbst und interessiert sich eben deshalb auch in keiner Weise
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Doch was zeichnet nach Wittgenstein das Sprachspiel als Sprachspiel aus? Wie zuvor betont, hält er die unablässige Suche nach einer essentialistischen Definition für einen der folgenschwersten methodischen Irrtümer der Philosophiegeschichte und für überaus hemmend für die offenen Erkundungsbewegungen eines Denkens, das sich in erster Linie an den vielfältigen Gegebenheiten, wie sie aus dem alltäglichen Leben bekannt sind, und an der damit einhergehenden Irreduzibilität der diversen Ausformungen zu orientieren sucht. Es ist somit weder notwendig noch sinnvoll, von einem allgemeinen Begriff oder von einer alle Einzelfälle subsumierenden Essenz der Sprachspiele zu sprechen. Es gibt keine übergeordnete Sphäre von Wesenheiten, die allen konkreten Fällen enthoben wäre und gleichzeitig alle diversen Gegebenheiten vollständig erfassen könnte. Diese beständige Tendenz zur Verallgemeinerung liegt, wie Wittgenstein mehrfach hervorhebt, in der Sprache selbst – oder genauer gesagt in unserer allzu leichtgläubigen Orientierung an der Struktur der Oberflächengrammatik; sie suggeriert eine uniforme Definition bestimmter Begriffe: »Die unsägliche Verschiedenheit aller der tagtäglichen Sprachspiele kommt uns nicht zum Bewußtsein, weil die Kleider unserer Sprache alles gleichmachen.« (PU, p. 570) Die gleichlautende Nomenklatur verleitet allzu schnell zu Fehlschlüssen in Hinblick auf eine Generalisierung der Erscheinungen und stiftet nicht selten Verwirrung: »Es ist immer wieder überraschend, welche neuen Streiche uns die Sprache spielt, wenn wir uns auf ein neues Gebiet begeben.« (VG 12) Indem Wittgenstein auf die jeweils gravierenden Unterschiede im Gebrauch, z. B. des Vokabulars, aufmerksam macht, lehnt er auch jegliche Art einer abstrakten Begriffsbestimmung ab. Er möchte seine Leserschaft dafür sensibilisieren, in welchen unterschiedlichen Kontexten wir die jeweilige Terminologie gebrauchen: »Das Wort ›Schönheit‹ wird für tausend verschiedene Dinge verwendet. […] Die Bedeutung des Wortes ›Schönheit‹ können wir nur dadurch ermitteln, daß wir erkennen, wie wir es verwenden.« (VO 192; vgl. VG 11 ff.) So kann von einem »schönen« Wetter, etwa bei einem sonnigen Tag, von einer »schönen« Landschaft, die besonders reizvoll erscheint, oder von einem dafür, was in der Struktur sprachlicher Praktiken diese Veränderung eigentlich möglich macht; er fokussiert auf das Resultat eines selbst nicht bedachten Prozesses: ein neuer Typ ist entstanden, ein alter ist vergessen worden. Die Offenheit, die Wittgenstein so zugesteht, erweist sich in der Addition neuer Spiele und der Subtraktion alter, abermals aber nicht in der Modifikation ein und desselben Spiels.« (Khurana 2007, 149) A
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»schönen« Film, der nachdrücklich in Erinnerung bleibt, oder von einem »schönen« Pass, der dem Spielmacher in einer auffallenden Weise gelungen ist, gesprochen werden, aber ebenso gut kann man das Wort in einer anderen Weise verwenden, etwa indem man sich auf eine »schöne« Bescherung beruft, die eine ironische Verwendung suggeriert, oder auch – zumindest in Wien – auf die »schöne« Leich. Die Verwendung des Wortes »schön« bewegt sich somit nicht ausschließlich im ästhetischen Kontext, sondern kann in verschiedene Richtungen erweitert werden, ohne dass eine ausmachbare Essenz alle Weisen umfasst. Was jeweils unter einem Begriff verstanden werden kann, wird nur durch greifbare Beispiele erklärlich, die je nach Kontext auch eine andere Situierung erhalten. Diese Art von »Begriff« ist weder mit einer Demarkationslinie klar definierbar noch beansprucht er eine umfassende Vollständigkeit. Es ist vorstellbar, dass unter gewissen Umständen und um den Preis, Einzelfälle unberücksichtigt zu lassen, eine Grenze gezogen werden kann. In der Praxis wird das jedoch kaum geschehen, da es nicht notwendig sein muss. Vielmehr ist das, was darunter verstanden werden kann, immer nur aus spezifischen Verwendungsweisen eruierbar: »Ich würde den Begriff durch Beispiele erklären. – Also geht mein Begriff, soweit die Beispiele gehn.« (PG 112) Doch Wittgensteins Anführung von Exempeln darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie in ihrer Exemplarität insgeheim doch wieder auf ein Allgemeines abzielen. Dann wäre das Beispiel von der Sache her bloß eine kontingente und nachträgliche Illustration, wie etwa ein bestimmter Anwendungsfall von schon klar umrissenen Gesetzen. In der herkömmlichen Lesart nimmt nämlich das Beispiel lediglich die Rolle eines pädagogisch-didaktischen Vehikels ein, das auf eine jenseits des Phänomenalen angesiedelte, rein begriffliche Essenz verweist. Die Notwendigkeit der Beispielgebung, durch die Regelmäßigkeiten allererst erschlossen werden, zeigt jedoch die Unhaltbarkeit des schulmetaphysischen Postulats einer übergeordneten Wesenheit und der damit implizierten Vernachlässigung des Besonderen an. Selbst in einem traditionellen Verständnis erweist sich das Beispiel darüber hinaus als supplementäres Produkt, das als Erund gleichzeitig auch als Zusatz nicht restlos in ein abstraktes Allgemeines integrierbar ist. 7 Das Exempel muss somit nicht ausschließAuf diesen Umstand macht Kroß eindringlich aufmerksam: »Die Fähigkeit des Beispiels wiederum, das Allgemeine, das in ihm zur Sprache kommen soll, als etwas bloß
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lich als »wesenloses Beiherspielen« (Hegel 1991, 506) verstanden werden, da es sich in seiner irreduziblen Eigenart immer wieder gegen eine eindimensionale Rückführung auf ein Allgemeines sperrt. In seinem Spätwerk versucht Wittgenstein, auf den nicht aufhebbaren Eigensinn und die inhärente supplementäre Hartnäckigkeit des Beispiels hinzuweisen: »Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermangelung eines Bessern.« (PU 71) Dabei demonstriert er anhand einer Reihe von Bildern, Gleichnissen, Analogien und eben Beispielen immer wieder, inwiefern dieses differentielle Denken den mannigfaltigen Erscheinungen weit gerechter wird als der Rückgriff auf weltentrückte Allgemeinheiten. 8 Wittgenstein entwirft jedoch sein Verständnis des Beispiels nicht als simple Negativfolie zum Allgemeinen. Das Exempel wird nun nicht einfachhin als Partikulares aufgefasst, das dem Allgemeinen vorausgeht und so epistemologisch die Vorreiterrolle vor den Entitäten erhält. Die hierarchische Relation von Einzelfall und Wesen wird bei Wittgenstein folglich nicht bloß umgedreht. Vielmehr geht es Wittgenstein um den nicht integrierbaren und so stets uneinholbaren Rest des Beispiels, der weder im Besonderen noch in einer höheren Entität aufgeht. Das Beispiel ist somit etwas, das sich der Gegenüberstellung von universalem Allgemeinem und faktischem Besonderem in einer merkwürdigen Weise entzieht und das gängige Verhältnis von einem überzeitlichen ontos on und einem abkünftigen me on auf markante Weise verschiebt. 9 Es ist weder so umfassend wie das unkonkrete Allgemeine, Partikulares, an den Einzelfall unlösbar Gebundenes erscheinen zu lassen, scheint jenen Allgemeinheitsanspruch schlichtweg zu dementieren. Das Beispiel ist potentiell immer das Gegenbeispiel zu dem, was es exemplarisch zu machen versucht: Es muß ein Eigenes bewahren, das Allgemeine, zu dessen Erläuterung es herangezogen wird, dementieren und einen Eigensinn entfalten.« (Kroß 1999, 170) 8 Auf die eigentümliche Verwendung von Beispielen in Wittgensteins Spätphilosophie macht auch Haller aufmerksam: »In den späten Untersuchungen gewinnt dann das Beispiel eine ganz andere Funktion, und ich würde sogar sagen, überhaupt zum ersten Mal in der Philosophie eine andere Funktion.« (Haller 1991, 132) Diese andere Funktion beschränkt sich jedoch bei Haller darauf, dass Wittgenstein zahlreiche Exempel und Gegen-Exempel gibt und somit »ein ganz konsequenter Vertreter des individuellen Falles« (Haller 1991, 133) wird. Im Gegensatz dazu möchte ich das Beispiel mit Agamben (2003) gerade zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall ansiedeln. 9 Auf den Umstand, dass das Beispiel die Dichotomie von Allgemeinem und Besonderem subversiv unterwandert, indem es Leerstellen markiert, macht auch Agamben aufmerksam: »Ein Begriff, der der Antinomie von Allgemeinem und Besonderem entgeht, ist uns seit jeher vertraut: Es ist das Beispiel. […] Einerseits behandelt man jedes BeiA
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da es keine universale Gültigkeit beansprucht, noch in sich abgeschlossen wie der faktische Einzelfall, denn es weist – gerade im Unterschied zum in sich abgeschlossenen Besonderen – immer schon über sich hinaus und ist in seiner Bewegtheit immer auch erweiter- und modifizierbar. Das Beispiel lässt sich nicht lückenlos in eine bestehende Ordnung integrieren, sondern hinterfragt sie und treibt sie dabei über sich hinaus. Zugleich – und hierin zeigt sich markant der Eigensinn des Beispiels – wird die entworfene Ordnung als einzige dementiert, da es stets möglich ist, weitere Beispiele anzuführen, die in andere Richtungen gehen können. Die von Wittgenstein anvisierte heuristische Funktion des Beispiels liegt folglich darin, dass es sich gerade nicht als ein Equilibrium zwischen den beiden Extrempositionen Allgemeinheit einerseits und Einzelfall andererseits erweist. Im Gegensatz zu einem vermittelnden Ausgleich eröffnet das Beispiel in seiner spezifischen Singularität den Raum für weitere Möglichkeiten, ohne diesen Spalt zu schließen: Etwas braucht daher nie nur hinsichtlich einer einzigen Sichtweise betrachtet werden, sondern es lässt sich stets in einer anderen Weise in den Blick nehmen, da immer auch weitere Beispiele denkbar sind. Diese – mitunter beunruhigende – Offenheit, nicht nur (quantitativ) Anderes zu sehen, sondern auch (qualitativ) anders zu sehen, verschiebt in einer markanten Weise die dichotomische Gegenüberstellung zwischen Grund und Begründetem, Wesensallgemeinheit und Partikulärem. Das Beispiel überbietet das Faktische des Einzelfalls, indem es zugleich das Streben nach einer Essenz unterwandert. Immer wieder impliziert das Beispiel eine Andersheit, die nicht auf den Begriff zu bringen sein wird, da es einen Abstand zu definitorischen Umgrenzungen und zu positivistischen Reduktionen schafft. Der darin aufklaffende produktive Riss, wird – wenn man ein Philosophieren in Beispielen Ernst nimmt – nicht mehr zu schließen sein, sodass sich der Zusammenhang zwischen ihnen nicht mehr als geschlossener oder auf Vollständigkeit bedachter erweist, sondern als vielfach gebrochener, dessen Irritationspotential stets als Über- und Herausforderung lesbar bleibt. 10 spiel wie einen realen Einzelfall, andererseits geht man davon aus, daß es als Besonderes seine Gültigkeit verliert. Das Beispiel ist also weder besonders noch allgemein, sondern sozusagen ein singulärer Gegenstand, der sich als solcher zu erkennen gibt, der seine Singularität zeigt.« (Agamben 2003, 15) 10 Agamben beschreibt diese Bewegtheit des Beispiels, indem er betont, dass »der eigentliche Ort des Beispiels […] immer neben ihm, im leeren Raum« (Agamben 2003,
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Gerade beim »Sprach-Spiel« wird sich zeigen, dass sich um jedes »Bei-Spiel« mit dem jeweiligen Kontext zwar ein neues Gefüge entfaltet, es in sich aber zugleich schon über dieses hinausweist und somit die alte Anordnung in Frage stellt, da es keine Totalität beansprucht. Wittgenstein zwingt so seine Leserschaft, das Verhältnis- und das Ordnungsgefüge selbst zu überdenken. Es wird sich in der Folge weisen, dass sich Wittgenstein in mehrfacher Hinsicht einer traditionellen Begriffsbildung zu entziehen gedenkt, die sich in konstitutiver Hinsicht (un-)ausdrücklich auf ein Gegenüber bezieht. So wie das Beispiel weder die in sich nicht erweiterbare Singularität eines Einzelfalls, die aufgrund ihrer Abgeschlossenheit wieder in ein Ganzes einordenbar ist, noch eine abstrakte Essenz des Allgemeinen darstellt, so lassen sich auch andere Begriffe in der spezifischen Verwendung Wittgensteins nicht in ein hierarchisches Schema pressen. So versteht er – wie Merschs Hinweis auf Aristoteles verdeutlichen sollte – weder die Praxis als Gegenbegriff zur Theorie noch die Alltäglichkeit in Opposition zur Metaphysik 11 oder den Gebrauch als Gegenpol zur Bedeutung, sondern die von Wittgenstein eingeführten Begriffe entwinden sich auf eine eigentümliche Art jeder dichotomischen Einteilung und jeder metaphysischen Taxonomie. Die in den Philosophischen Untersuchungen gebrauchten Schlüsseltermini arbeiten gerade nicht wie Allgemeinbegriffe in der gewohnten Weise. Sie sind weder definitorisch festzumachen, wie Wittgenstein sehr eindringlich anhand des Spiels zeigt, noch haben sie ein Gegenüber oder ein Außerhalb, von dem sie sich in einer konstitutiven Weise abgrenzen. Die Reihe dieser »Quasi-
15) sei. Dieses Daneben ist aber nicht so sehr eine qualitätslose Leere, sondern ein kontextuell füllbares und ständiges Darüberhinaus, indem es sich zugleich mehr als eine (einzige) und weniger als eine (feststehende) Ordnung entfaltet. 11 Die Überlegung einer nicht in Abgrenzung zur Metaphysik verstehbaren Alltäglichkeit findet sich auch bei Puhl, der betont, dass bei Wittgenstein das Verhältnis zwischen beiden »nicht als eine der Opposition negativ aufeinander bezogener Seiten zu denken [sei], sondern als eine Beziehung, die das Gewöhnliche im Metaphysischen festmacht und umgekehrt« (Puhl 2005, 59). In dieselbe Kerbe schlägt auch Derrida, wenn er in einer Diskussion mit Mulhall einwendet, dass das Alltägliche nicht zwingend von seinem Gegenpart her verstanden werden muss, wie es die (unterschwellig) reglementierende ordinary language philosophy suggeriert: »However, when I say I am suspicious of this concept [of ordinary language, M. F.] it is not because I think that there is something else than ordinary language. I am suspicious of the opposition between ordinary/ extraordinary language.« (Derrida 2000, 415) A
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Begriffe« 12 lässt sich bei Wittgenstein erweitern, da sich weder die Regel vom Unregelmäßigen, der Witz vom Unwitzigen, die Grammatik vom Ungrammatischen noch das Spiel sich vom Ernst oder die Sprache vom Außersprachlichen her ausschließlich und in erster Linie verstehen lassen. So ist beispielsweise ein Spiel, das nicht den herkömmlichen Regeln entspricht, aber eigenen folgt, nicht ein falsch gespieltes, sondern ein anderes Spiel. Es ist keinem externen Maßstab verpflichtet, sondern der eigenen Regelhaftigkeit. Diesem allen Sprachspielen inhärenten normativen Charakter wird noch im Zusammenhang mit der Erörterung des Regelfolgens nachzugehen sein. Nur aus den betreffenden Sprachspielen wird eine Inblicknahme von korrekten und inkorrekten, angemessenen oder unangemessenen Zügen möglich sein. Um diese Differenz zu Tätigkeiten, die sehr wohl an einem äußeren Zweck orientiert sind, zu verdeutlichen, führt Wittgenstein folgendes Bild an: »Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich; und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil ich den Begriff ›Kochen‹ durch den Zweck des Kochens definiert denke, dagegen den Begriff ›Sprache‹ nicht durch den Zweck der Sprache. Wer sich beim Kochen nach anderen als den richtigen Regeln richtet[,] kocht schlecht; aber wer sich nach andern Regeln als denen des Schach richtet, spielt ein anderes Spiel; und wer sich nach andern grammatischen Regeln richtet, als etwa den üblichen, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem.« (PG 133; vgl. BT 237) Sprache ist keiner externen Instanz nachgeordnet, sondern entwirft ihre eigenen Maßstäbe. Jede oppositionelle Logik und jeder Versuch einer kontextunabhängigen Bewertung wird somit unterwandert; nicht aber in der Weise, dass eine Bestimmung der Begriffe noch nicht oder nur annäherungsweise aufgrund der empirischen Gegebenheiten 13 In Anlehnung an Derrida müsste folglich bei Wittgenstein nur mehr von Quasi-Begriffen (vgl. Derrida 2001, 189) gesprochen oder zumindest jeder dieser Schlüsseltermini unter Anführungszeichen gesetzt werden. 13 Im schroffen Gegensatz dazu denkt Haller, dass das Ganze der Sprachmöglichkeiten prinzipiell erreichbar wäre, wenn nur diverse Hürden aus dem Weg geräumt werden würden: »[E]ine Gesamttheorie der Sprache aufzustellen, die die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten ausfüllt, ist eine Aufgabe, die über die Zeit hinausreicht. Man weiß heute noch nicht, auf welchen Wegen ein solches Ziel erreicht werden könnte. Aber daß das Gesamtfeld als solches zur Verfügung gestellt werden muß, das, glaube ich, steht nicht mehr in Frage.« (Haller 1991, 134) 12
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möglich ist, sondern Wittgenstein zeigt auf, dass eine andere Herangehensweise als eine solche, die sich auf definitorisch strikte und vereinheitlichende Reglementierungen bezieht, notwendigerweise für die Komplexität der Phänomene erforderlich wird. 14 In seinen Texten unternimmt Wittgenstein den Versuch, die der Sprache inhärente Tendenz der Verallgemeinerung durch mehrere Strategien zu unterlaufen, da er univoke Termini verwenden muss und somit nicht einfachhin der Gefahr der Generalisierung entkommt: Einerseits wird er immer wieder die mannigfaltigen sprachlichen Vollzüge beschreiben und auf ihre Irreduzibilität hinweisen, andererseits versucht er durch eine höchst eigenwillige Beispielgebung – etwa durch die Verwendung eingängiger Vergleiche, aber auch bizarrer Bilder und überraschender Analogien –, das Streben nach Vereinheitlichung zu unterwandern. Indem er so überkommene Denkgewohnheiten aufbricht und neue Zusammenhänge herstellt, konfrontiert er die Leserschaft mit Überlegungen, die sich nicht immer problemlos in den herkömmlichen Auslegungshorizont und somit in ein allumfassendes Verständnis eingliedern lassen. 15 Nicht zuletzt die von Wittgenstein strategisch eingesetzte »Analogie« zwischen Sprache und Spiel vermag das Streben nach Allgemeinheiten entscheidend zu konterkarieren. Es wird sich nach Wittgenstein anschaulich zeigen, dass das Wort »Spiel« (und damit auch das Wort »Sprache«) gerade nicht wie ein klar definierbarer Begriff funktioniert. Die Sprengkraft des Spiel-Begriffs macht er sich in vielfacher Weise zu nutze. 14 Wittgensteins Denken bewegt sich hier in unmittelbarer Nähe zur Dekonstruktion. Ohne die Affinitäten im Einzelnen näher belegen zu wollen, sei zumindest auf Derridas andere Logik jenseits der binären Oppositionen hingewiesen: »Dieser oppositionellen Logik, die notwendiger- und legitimerweise eine Logik des ›Alles oder Nichts‹ darstellt, ohne die die Unterscheidung und die Grenzen eines Begriffs keine Chance hätten, setze ich nichts entgegen, ich setze ihr vor allem keine Logik des Beinahe entgegen, einen einfachen Empirismus der graduellen Differenz, sondern ich füge eine supplementäre Komplikation hinzu, die andere Begriffe, andere Denkweisen jenseits des Begriffs erforderlich macht und auch eine andere Form von ›Allgemeintheorie‹ oder vielmehr einen anderen Diskurs, eine andere ›Logik‹, die der Unmöglichkeit, eine solche ›Allgemeintheorie‹ abzuschließen, Rechnung trägt.« (Derrida 2001, 180 f.) 15 Puhl macht darauf aufmerksam, dass Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen »im wesentlichen zwei Verfahren« forciert: »zum einen die eher direkte Beschreibung alltäglicher Sprachspiele, zum anderen Analogien, Parabeln, Allegorien etc., Sprachspiele also, die offensichtlich nicht Alltägliches im engeren Sinn darstellen wollen, sondern Seltsames, Surreales, Paradoxes, Unsinniges […].« (Puhl 2005, 71)
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Wittgensteins Überlegungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich selbst immer wieder in Frage stellen; so erörtert er in diesem Zusammenhang, ob er es sich mit der Engführung von Sprache und Spiel respektive Sprachspiel und Beispiel nicht zu leicht macht: Wird in der Aufzählung von vielen verschiedenen Weisen der Sprachspiele und in der Zurückweisung der Frage nach einer allgemeinen Form der Sprache durch den späten Wittgenstein nicht gerade der Part der Untersuchung weggelassen, der ihm noch im Tractatus bei der Suche nach der allgemeinen Struktur des Satzes am meisten Mühe bereitete? Wird etwa das Ringen um die Definition des Terminus Sprachspiel auf halbem Wege abgebrochen und der Begriff selbst nicht zu Ende gedacht? Wird hier nicht die eigentliche Fragestellung beiseite geschoben und gar nicht zu beantworten versucht, was denn das »Wesentliche des Sprachspiels« (PU 65) sei? Das Aufzeigen einer Pluralität von Sprachspielen wirft folglich unweigerlich die Frage auf, ob den mannigfaltig aufgefächerten Sprachspielen nicht doch wiederum ein Allgemeines zugrunde liegt. Impliziert nicht das Sprechen über die verschiedenen Sprachspiele einen die Vielzahl überhaupt ermöglichenden Begriff von Einheit? Dies bedenkt auch Wittgenstein als mögliches Gegenargument: »Wir sind z. B. geneigt zu denken, daß es etwas geben muß, das allen Spielen gemeinsam ist, und daß diese gemeinsame Eigenschaft die Anwendung der allgemeinen Bezeichnung ›Spiel‹ auf die verschiedenen Spiele rechtfertigt […].« (BB 37) Wie kann Wittgenstein eine irreduzible Vielfalt für die mannigfaltigen Sprachspiele veranschlagen, ohne dabei auf ein Gemeinsames zu rekurrieren? Dieser Denkschwierigkeit möchte er mit dem Hinweis auf das Verständnis von Spiel weiter nachgehen, um einen Aspekt des vielschichtigen Terminus Sprachspiel hervorzuheben: »Ich werde keine allgemeine Definition von ›Satz‹ zu geben versuchen, denn das ist nicht möglich. Es ist genausowenig möglich wie die Angabe einer Definition des Wortes ›Spiel‹.« (VO 170) In den Philosophischen Untersuchungen greift er den Umstand dieses Nicht-Wissens noch einmal auf. Er versucht dabei zu zeigen, dass es nicht an einer durch äußere Umstände bedingten Unzulänglichkeit liegt, sondern dass sich eine einheitliche Definition von Spiel prinzipiell ausbleiben muss und wir ständig auf Beispiele rückverwiesen werden: »Was heißt es: wissen, was ein Spiel ist? Was heißt es, es wissen und nicht sagen können? Ist dieses Wissen irgendein Äquivalent einer nicht ausgesprochenen Definition? So daß, wenn sie ausgesprochen würde, ich sie als den Ausdruck meines Wissens anerkennen könnte? Ist nicht mein 154
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Wissen, mein Begriff von Spiel, ganz in den Erklärungen ausgedrückt, die ich geben könnte! Nämlich darin, daß ich Beispiele von Spielen verschiedener Art beschreibe […].« (PU 75) Eine Anerkennung eines definitorischen Wissens bleibt »prinzipiell« – und nicht etwa aufgrund äußerer Umstände – verwehrt. Der einzige, aber durchaus praktikable Weg führt über das Anführen von Beispielen, der in der behutsamen Deskription jeden dogmatisch-konstruktiven Gestus zurückzuweisen versucht. Wittgenstein bleibt dabei immer wieder stehen und fragt sich, ob ein Streben nach einem Allgemeinen – ausgehend von den Einzelfällen – nicht stets eine metaphysische Illusion darstellt: »›Aber reicht denn nicht das Verständnis weiter als alle Beispiele?‹ […] Gibt es eine noch tiefere Erklärung: oder muß nicht doch das Verständnis der Erklärung tiefer sein? – Ja, habe ich denn selbst ein tieferes Verständnis? Habe ich mehr, als ich in der Erklärung gebe?« (PU 209) Wittgenstein – und auch das ist ein eigentümlicher Zug seines Philosophierens – beantwortet die Frage nicht mit einem thetischen Ja oder Nein, sondern lässt die Frage als Frage stehen, indem er indirekt mit weiteren Beispielen zu Antworten ansetzt, welche die Diskussion nicht abzuschließen gedenken, sondern neue Denkanstöße liefern. Es zeigt sich für Wittgenstein, dass bei einer genauen Betrachtung der diversen Spiele – er führt dabei Brett-, Karten-, Ball- und Kampfspiele usw. an – nicht von einem allen gemeinsamen, »wesentlichen« Merkmal gesprochen werden kann. Zwar sind durchaus ineinandergreifende Ähnlichkeiten oder verwandte Elemente verortbar, aber es lässt sich kein einheitlicher Grundzug festmachen, der alle Arten des Spiels hinreichend bestimmen könnte. In einer eingängigen Erörterung versucht er seine Motive zu verdeutlichen: »Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ›unterhaltend‹ ? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im TenA
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nisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.« (PU 66) Alle im Vorhinein festgelegten Überlegungen werden von Wittgenstein radikal in Frage gestellt. Einem Philosophieren in Beispielen geht es nicht darum, Folgerungen aufgrund von theoretischen Erklärungsmustern zu treffen, sondern es lernt, Gegebenheiten zu beobachten und sie zu beschreiben. Im Laufe der Philosophischen Untersuchungen ist Wittgenstein bemüht, in mehreren Anläufen auf diesen entscheidenden Wandel der Betrachtungsweise aufmerksam zu machen: »Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.« (PU 109) 16 Oft sitzt uns die Vorstellung eines idealen Konstrukts wie eine Brille auf der Nase, durch die wir alles betrachten, und wir verschwenden keinen Gedanken daran, sie abzunehmen (vgl. PU 103) und unser Augenmerk darauf zu richten, welch eine unerschöpfliche Fülle an Ausformungen uns die Welt bietet. Das methodische Vorgehen gibt uns dabei das Wie der Gegenstände vor und nicht umgekehrt. 17 Gerade der offensichtliche Reichtum an Phänomenen wird in der herkömmlichen Philosophie zugunsten der Suche nach einem alles vereinheitlichenden und damit gleichmachenden Wesen vernachlässigt. Den tradierten DenkschemaFür Kober besteht der Unterschied zwischen Wissenschaft und dem, was Wittgenstein unter Philosophie versteht, in der Differenz zwischen dem Aufspüren von Ursachen einerseits und dem Anführen von Gründen andererseits: »In der Wissenschaft sucht man nach Ursachen (nach Relationen zwischen Ereignissen), in der Philosophie nach Gründen (nach Relationen zwischen Begriffen oder Sätzen […]).« (Kober 1993, 29). Meines Erachtens lässt sich das Philosophie-Verständnis des späten Wittgenstein dadurch einfacher umreißen, dass es ihm nicht um eine vorgängige und vollständige Theoriebildung geht, sondern um eine nachträgliche und klärende Beschreibung dessen, was ist: »[D]ie Aufgabe der Philosophie ist nicht, eine neue ideale Sprache zu schaffen, sondern den Sprachgebrauch unserer Sprache – der bestehenden – zu klären.« (PG 72) 17 Hierin kann man eine tiefgehende Parallele zwischen Heidegger und Wittgenstein sehen. Heidegger hat bereits in Sein und Zeit versucht, auf diese Thematik aufmerksam zu machen. Nicht wir dürfen ein (universales) Methodenideal an die Phänomene herantragen, sondern sollten uns umgekehrt den Zugang von den Phänomenen her vorgeben lassen: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« (GA 2, 46). Auf diesen gemeinsamen Zug im Denken von Wittgenstein und Heidegger weist auch Cavell (1996, 271 f.) hin. 16
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ta, die in ihren theoretischen Vorannahmen stets von einer Essenz ausgehen, hält er entgegen, dass ein genaues Hinschauen auf das in sich vielfältige Phänomen Spiel zeigt, dass sich nicht ein durchgehendes Hauptmerkmal ausmachen lässt. So sind weder alle Spiele unterhaltend noch gibt es immer Gewinner und Verlierer. Es lassen sich aber auch nicht alle Spiele von der Arbeit und vom Ernst abgrenzen, wie Wittgenstein in einem Gespräch mit Waismann ausführt: »Was ist der Unterschied zwischen der Sprache […] und einem Spiel? Man könnte sagen: Das Spiel hört dort auf, wo der Ernst beginnt, und der Ernst ist Anwendung. Aber das wäre noch nicht ganz richtig ausgedrückt. Man müßte eigentlich sagen: Spiel ist das, was weder Ernst noch Spaß ist.« (WWK 170, herv. v. M. F.) Das Spiel ist keine bloße Spielerei – im Gegenteil: Man könnte zwar noch behaupten, dass die Spielenden zwar wissen, dass das Spiel frei von herkömmlichen Zweckbezügen ist und keinen Ernstfall darstellt, doch diese Entlassung aus dem alltäglichen Ernst fungiert nicht als konstitutives Moment im Verständnis der Spielenden. Das Spiel selbst fordert nicht nur die Einhaltung bestimmter Regeln, sondern auch eine genuine Anerkennung der gestellten Aufgaben, die jedoch nicht aus dem Spiel hinausweisen und von einer distanzierten Warte aus als Bagatelle abgetan werden können, sondern vom Spiel selbst her motiviert sind. Der von einer Außenperspektive festgemachte Unterschied zwischen Spiel und Ernst verliert im Vollzug des Spieles seine Berechtigung. Gerade in der »ernsthaften« Ausübung des Spiels ist es geradezu unmöglich, das eigene Tun »bloß« als Spiel(erei) zu sehen. Tritt dieser Fall nämlich ein und wird das Spiel als beliebiges Larifari hingestellt, ist man gerade nicht bei der Sache des Spiels. Nimmt man es nicht in der Weise ernst, wie es vom Spiel selbst gefordert wird – indem man etwa den anderen stets gewinnen lässt oder nur halbherzig mitmacht –, gilt man gerade nicht als Mitspieler, sondern als Spielverderber. Man zerstört dadurch das Spiel. Das Spiel kennt, so verstanden, kein Gegenüber, sondern geht im eigenen Vollzug auf. Das, was gemeinhin als »Gegenbegriff« bezeichnet wird, ist kein inhaltlich bestimmbarer Gegenpol, sondern die Verneinung des Spiels. Das Außerhalb des Spiels ist somit das Nicht-Spielen. Das Spiel selbst kann, wie oben gezeigt wurde, weder durch ein oder mehrere durchgehende Merkmale zureichend bestimmt noch auf ein Zentrum oder auf ein verortbares Negativum zurückgeführt werden, sondern es gibt lediglich eine Reihe von Entsprechungen und VerA
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wandtschaftsbeziehungen, die sich überlappen und überschneiden: »Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« (PU 66) 18 Aber keines dieser Attribute ist allen Spielformen gemeinsam. Es gibt weder einen alleinigen Mittelpunkt noch einen gemeinsamen Nenner, auf den sämtliche Varianten rückführbar wären. Die Pluralität der verschiedenen Spielarten ist letztlich irreduzibel. Den Einwand, dass es doch ein Gemeinsames geben müsste – selbst wenn es »die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten« (PU 67) wäre –, da ansonsten nicht der »Begriff« Spiel verwendet werden könnte, weist Wittgenstein als bloße Rabulistik zurück. Der angestrebte Dogmatismus der Unifikation wird niemals den unzähligen Varianten des Spiels, die wir kennen, gerecht. Spiel ist für Wittgenstein ein offener, d. h. nie abschließbarer und immer wieder durch Beispiele erweiterbarer »Begriff«. Ist das Wort Spiel überhaupt verstehbar, wenn es unmöglich ist, den Terminus begrifflich klar zu umreißen? Für Wittgenstein ist nicht nur keine Definition möglich, sondern sie ist auch in keiner Weise notwendig, da wir auch ohne eine eindeutig exakte Erklärung auskommen. Es hat ja schließlich keinen von uns am Fußball- oder Schachspielen gehindert, dass wir keine umfassende Begriffsbestimmung parat haben, wenn wir das Wort Spiel verwenden. Das Fehlen einer scharfen Grenzziehung ist folglich kein zu behebender Mangel: »Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ›Definition‹ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.« (BB 49) Wir kommen laut Wittgenstein – wie sich im alltäglichen Umgang zeigt – auch ohne präzise Demarkationslinie aus, indem wir im konkreten Einzelfall anderen dieses oder jenes Spiel beschreiben und ihnen Beispiele dafür geben. Wie bereits ausgeführt, wendet sich Wittgenstein auch gegen das Ideal Der von Wittgenstein selbst ins Treffen geführte Terminus »Familienähnlichkeiten« (PU 67) wird hier (vorerst) bewusst vermieden, da er die Möglichkeit einer genealogischen Rückführung bzw. einer Extrapolierung eines alle Mitglieder umfassenden Merkmals suggeriert. In überzeugender Weise zeigt jedoch Richtmeyer auf, dass Wittgensteins Verständnis von »Familienähnlichkeiten« sich dezidiert von Galtons Verfahren der Kompositbilder abgrenzt und Adjunktion sowie Konjunktion in einem Zugleich zusammenzieht (vgl. Richtmeyer 2011).
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einer definitorischen Exaktheit, gerade indem er aufzeigt, dass wir im alltäglichen Gebrauch keinen konformistischen Methodenuniversalismus verwenden. Er führt eine Reihe von Beispielen an, bei denen wir ohne mathematisch eineindeutige Angaben auskommen, ja eine wissenschaftlich exakte Versicherung sich geradezu als unbrauchbar erweist (vgl. PU 88). Es gibt genügend Kontexte, die – frei von Verlusten – ohne ein von der Wissenschaft geprägtes Exaktheitsideal auskommen. Was Strenge, Genauigkeit oder Exaktheit heißt, lässt sich erst aus dem Zusammenhang eruieren, in den das Verständnis dieser Begriffe eingebettet ist. 19 Hier zeigt sich auch, inwiefern Wittgensteins Philosophieren in Beispielen seine Berechtigung erhält. Es gibt, wie Wittgenstein eindrucksvoll gezeigt hat, kein allgemeines Charakteristikum aller Spiele. Im Gegensatz zu einer eindeutigen und starren Logik der Rationalität beansprucht er nicht, »die Ordnung a priori der Welt, d. i. die Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein muß« (PU 97), zu erfassen. Vielmehr schließt das Beispiel per se ein vorgegebenes und in sich unveränderliches Gefüge aus. Um das, was unter Sprachspiel verstanden werden kann, deutlich zu machen, bleibt nur der Umweg über das Exempel. Doch das Beispiel ist nie auf den angeführten Einzelfall beschränkt, ja es kann gerade nicht als ein abgeschlossener Diskurs gelten. Keiner, der das Schachspiel als Exempel für ein Spiel anführt, würde behaupten, dass sich darin das Spielen erschöpft. Wie bereits zuvor betont, eröffnet ein Beispiel stets nur einen Kontext, nie aber alle möglichen Anwendungsgebiete. Damit unterwandert es nicht nur das Allgemeine, sondern auch sich selbst als singulären Fall, denn die entworfene Ordnung, so angemessen sie auch im jeweiligen Kontext platziert sein mag, wird durch die immer schon angelegte Möglichkeit weiterer Beispiele torpediert. Die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele mittels einer Auflistung von Beispielen wird somit nicht von einer sicheren Warte aus proklamiert, sondern Wittgenstein nimmt sich und sein Denken selbst in diese Bewegtheit und Unabschließbarkeit der Beispielgebung mit hinein. Er entwirft folglich keine pluralistische Theorie, sondern zeigt im An19 Nachdrücklich macht Kienzler auf diesen Umstand aufmerksam: »Der Sprachgebrauch ist nicht von der Existenz exakter Definitionen abhängig; es ist gerade umgekehrt, daß nämlich auch ein Wort wie ›exakt‹, und damit die Redeweise und Praxis der ›exakten Definitionen‹, erst durch spezifische Sprachspiele seine genaue Verwendung erhält.« (Kienzler 2007, 45)
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führen von Beispielen die Vielfalt von immer weiteren Möglichkeiten auf. Wittgenstein denkt also nicht mittels Exempel die Pluralität; vielmehr verweist er auf die in den Beispielen sich generierenden unermesslichen und produktiven Vervielfältigungen an Kontexten. Es gibt – wie Schneider zurecht betont – kein »integratives Ober-Sprachspiel« (Schneider 1999a, 142) als umfassende »Über-Ordnung« (PU 97). Die Philosophie fungiert gerade nicht als tertium comparationis im Sinne einer »zweite[n] Ordnung« (PU 121), die gleichsam alle anderen Sprachspiele begutachtet und reglementiert, sondern ist selbst nur ein Beispiel für ein Sprachspiel. Das darin explizierte Wissen kann gerade nicht eine regulative Funktion einnehmen, sondern lediglich – wie jedes andere Beispiel eines Sprachspiels auch – den Blick auf die Flut von Möglichkeiten und auf die stets erweiterbare Reihe von Beispielen lenken. 20 Wittgenstein selbst reflektiert an einigen Stellen über die Unabschließbarkeit und Offenheit seines eigenen Denkens: »Wir wollen in unserm Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichen Ordnungen; nicht die Ordnung.« (PU 132) Seine Beschreibungen können somit keine unwiderrufliche Gültigkeit beanspruchen; er räumt ihnen die Möglichkeit ein, erweitert, verändert oder verworfen zu werden. Nichts ist dabei unumstößlich, sondern kann nach anderen Gesichtspunkten wieder anders wahrgenommen werden. Wittgenstein erteilt jedem Projekt einer allgemeingültigen Ordnungsstruktur – auch seiner eigenen – eine Absage: »In der Philosophie liegt die Schwierigkeit darin, nicht mehr zu sagen, als was wir wissen. Z. B. einzusehen, daß wir, wenn wir zwei Bücher in richtiger Reihenfolge aufgestellt haben, sie damit nicht an ihre endgültige Plätze gestellt haben.« (BB 75) Als Zwischenresümee kann festgehalten werden, dass Wittgenstein mit seinem differentiellen Verständnis von Sprachspielen und der Beschränkung auf die Anführung von Beispielen darauf aufmerksam macht, dass Sprache sich als ein nicht definierbares und umgrenzIm Gegensatz dazu führt Kober an, dass Wittgenstein sein Anliegen der »SprachspielMethode […] eine Übersicht zu erstellen[,] offensichtlich nur von einem Sprachspielexternen Standpunkt aus verfolgen kann« (Kober 1993, 40). Diese Ansicht verkennt meines Erachtens, dass es sich bei Wittgenstein erstens nicht um eine Methode – im Sinne eines vorgezeichneten Weges – handelt und dass sich laut Wittgenstein zweitens ein sprachspiel-unabhängiger Standpunkt nie einnehmen lässt, da wir immer erst »innerhalb eines Systems« (ÜG 105) etwas beurteilen, kritisieren oder vergleichen können.
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bares Phänomen erweist. Kein Ordnungsgefüge kann diese Vielfalt eindämmen. Sie ist nur durch den Verweis auf ihre Mannigfaltigkeit in Form von Exempeln beschreibbar. Wittgenstein forciert jedoch, wie nun aufgezeigt werden soll, keinen platten Relativismus der Beliebigkeit. Sprachspiele sind gerade rückgebunden an den Kontext und an die Umstände, in denen sie Raum finden.
b) Das Gespieltwerden von Sprachhandlungen in Lebensformen und Weltbildern In Wittgensteins vielschichtigem Verständnis von Sprachspiel schwingt – wie zuvor angedeutet – die Dimension des Vollzugs mit: Spiele sind keine isolierbaren Objekte, die in Form von Gegenständen vorliegen, sondern sie werden ausgeübt und man nimmt an ihnen teil, andernfalls gibt es sie gar nicht. Dabei zeigt sich eine eigentümliche Verwischung der herkömmlichen kategorialen Inblicknahme: Von einer Gegenüberstellung zwischen einem ausübenden Subjekt und einem davon abhängigen gespielten Objekt auszugehen, erweist sich als unzureichend. Der Mensch »bewerkstelligt« ein Spiel nicht, sondern wird vielmehr in es hineingezogen und fügt sich den Ansprüchen des Spiels. In diesem unumgänglichen Moment des Partizipierens kündigt sich zugleich ein anderes Selbstverständnis des Menschen an, da er nicht mehr als Bezugsmitte agiert, sondern in vielfacher Weise auf die Anforderungen des (Sprach-)Spiels antwortet. Wittgenstein betont in seinen Beschreibungen der Sprachspiele deren Uneinholbarkeit und hebt deren konstitutive Rolle für das Subjekt hervor. Alle menschlichen Tätigkeiten finden nur im Rahmen solcher Sprachspiele statt. Menschsein heißt für ihn nichts anderes, als sich in sie abgerichtet zu erfahren: »Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten.« (PU 5) Damit ist nicht, wie es der erste Anschein vermuten lassen könnte, eine besonders ausgeprägte schwarze Pädagogik von Wittgenstein ins Auge gefasst, die jede Eigenständigkeit durch eine strenge Dressur vernichtet. Wittgenstein weist, indem er das Abrichten gegen die Erklärung absetzt, in erster Linie darauf hin, dass wir die Sprache nicht abstrakt – gleichsam aus einer sicheren Distanz – in Form einer Theorie erläutert bekommen, sondern sie uns stets in Bezügen des lebensweltlichen Gebrauchs aneignen, indem wir in sie je schon eingeführt – eben abgerichtet – worden sind. A
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So erlernt der Mensch seiner Auffassung nach nicht zuerst, Dinge gleichsam aus der Distanz zu benennen und neutrale Existenzaussagen zu tätigen; vielmehr ist er im Umgang mit Sprache in mannigfache motivierte und interessensbezogene Handlungsvollzüge eingelassen. »Die Kinder werden dazu erzogen, diese Tätigkeiten zu verrichten, diese Wörter dabei zu gebrauchen, und so auf die Worte des anderen zu reagieren.« (PU 6) Das Kind lernt folglich nicht, isoliert ein Ding als Stift zu benennen, um eine Existenzaussage tätigen zu können, sondern es lernt, was man damit machen kann, z. B. etwas zu Papier zu bringen. Aber in diesem einzigen Gebrauch erschöpft sich die Handhabe nicht. Das Kind kann mit ihm auch anderes als zeichnen oder malen, etwa Löcher ins Papier stechen und – wenn es sehr unartig sein sollte – jemanden damit pieksen oder Wände beschmieren. Auch die von Wittgenstein angeführten Nüsse (vgl. PU 28) wird man nicht in einer sterilen ostensiven Definition erklärt bekommen, sodass man sie womöglich noch mit einer Himmelsrichtung verwechselt, sondern es wird einem aufgezeigt werden, was man alles damit machen kann: nämlich essen, an Eichhörnchen verfüttern oder – zumindest mit den Schalen von Walnüssen – Schiffchen bauen (vgl. ÜG 476 f.). Wittgenstein geht dabei so weit, auch Empfindungsäußerungen keinen sprachspielunabhängigen Status zuzubilligen. Wir haben es seiner Auffassung nach nie mit einem naturwüchsigem factum brutum zu tun, das wir zunächst in einer reinen Form erhalten und das von uns nachher in ein Sprachspiel integriert wird. Diese Art der Einführung würde die Dimension der Abrichtung verkennen. Vielmehr bewegen wir uns immer schon in Sprachspielen, in die wir in vielfacher Weise eingewiesen wurden, um sie um- und fortsetzen zu können. Dieser Prozess, der nie bei uns begonnen hat, ist aber auch nicht von uns vollendbar; stets sind andere Verwendungsmöglichkeiten denkbar. So macht Wittgenstein in der Zurückweisung des Privatsprachen-Arguments mit Nachdruck auf den Umstand aufmerksam, dass selbst Schmerzäußerungen in einen Kontext eingebettet sind. 21 Erst nach Das bereits im vorherigen Abschnitt angeführte Zitat macht besonders deutlich, dass es keinen reinen Naturzustand geben kann, sondern die Abrichtung immer schon konstitutiv in die Artikulationsmöglichkeiten des Subjekt eingegriffen hat: »Wenn man sagt ›Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‹, so vergißt man, daß schon viel in der Sprache vorbereitet sein muß, damit das bloße Benennen einen Sinn hat. Und wenn wir davon reden, daß einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes ›Schmerz‹ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort
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der Zuweisung des Postens, d. h. nach der Einordnung des Wortes in einen Zusammenhang, wird der spezifische Gebrauch ablesbar. Lediglich in der kontextuellen Verankerung wird eine Äußerung ein Zug im Sprachspiel. In seiner Sprachbetrachtung geht es Wittgenstein in erster Linie darum, die Suche nach einer neutralen ein-eindeutigen und damit invarianten Bedeutung der sprachlichen Zeichen als ein metaphysisches Konstrukt zu entlarven und den Blick für den Spielraum der verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten zu schärfen (vgl. PU 116). Mit Wittgenstein kann nur dann vom verstehenden Gebrauch der Sprache gesprochen werden, wenn die Artikulationen nicht bloß mechanische Reaktionen darstellen, sondern das Subjekt in der Lage ist, das Verstandene in unterschiedlichen Situationen anzuwenden und in diversen Kontexten weiterführen zu können. Gerade diese Möglichkeit des eigenständigen Umgangs zeugt davon, an Sprachspielen partizipieren zu können. Das Abrichten ist folglich alles andere als eine nach einem bestimmten Schema ablaufende Dressur, sondern der vielfältige Umgang des Gebrauchs. Dieser ist nicht auf eine feststehende Bedeutung zu reduzieren, sondern kann – je nach Situation – verschieden ausfallen. Gebrauch wird folglich von Wittgenstein nicht in einem eindimensionalen Sinne verstanden, sondern im jeweiligen Mitspielen – variabel nach Kontext – verschiedene Antworten (er-)finden zu können. Es wäre aber auch nicht zutreffend, diesen responsiven Möglichkeitsraum als eine bestimmbare Polyvalenz zu interpretieren, denn die Vielfältigkeit des Gebrauchs besteht gerade darin, dass er je nach situagestellt wird.« (PU 257) Hierin lässt sich eine Verwandtschaft zur (Leib-)Phänomenologie Merleau-Pontys ausmachen, der in der Phänomenologie der Wahrnehmung darauf insistiert, dass beim Menschen nicht von der Gegenüberstellung von Natur und Kultur ausgegangen werden kann: »In Wahrheit ist aber z. B. die Mimik des Zornes oder der Liebe nicht dieselbe bei einem Japaner und einem Abendländer. Genau genommen besagt die unterschiedliche Mimik eine Differenz der Emotion selber. Nicht allein die Gebärde ist kontingent im Verhältnis zur Leibesorganisation, sondern überhaupt die Weise der Aufnahme und des Erlebens von Situationen. […] Der bloße Umstand, daß zwei bewußte Wesen dieselben Organe und dasselbe Nervensystem besitzen, bewirkt noch keineswegs, daß dieselben Erregungen sich beim einen wie beim anderen in den selben Zeichen äußern. Entscheidend ist vielmehr die jeweilige Art und Weise des Gebrauchs des Leibes, der in der Emotion in eins vollzogenen Formgebung von Leib und Welt. […] Es geht schlechterdings nicht an, beim Menschen eine erste Schicht von ›natürlich‹ genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte Schicht der geistigen oder Kultur-Welt unterscheiden zu wollen.« (MerleauPonty 1966, 223 f.) A
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tiver Bezogenheit beweglich bleibt. Gebrauch ist daher nicht bloß die numerische Abzählbarkeit einer Bedeutung, sondern er ist auf vollkommen unterschiedlichen Ebenen angesiedelt; die Verwendung eines Wortes kann je nach Kontext »zugleich enger und weiter« (Kemmerling 1992, 106) als die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens sein. Der Witz im Gebrauch besteht gerade darin, um seine praxeologischen Einsatzbedingungen zu wissen und mit ihnen umgehen gelernt zu haben. Wittgenstein spricht daher davon, dass die »Bedeutung eines Wortes […] sein Gebrauch« (PU 43) ist. Mit Bedacht stellt er dieser gewichtigen Sentenz den Satz voran: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benutzung so erklären [.]« (PU 43) Wittgenstein weist folglich darauf hin, dass es nicht zu einem bloßen Austausch der beiden Termini kommen soll. Damit darf nicht, wie es v. Savigny tut, einer umfassenderen »Gebrauchstheorie der Bedeutung« (Savigny 1998, 7; herv. M. F.) das Wort geredet werden. Eine solche Einordnung würde die weit reichenden Konsequenzen der wittgensteinschen Betrachtungsweise verkennen, da es »›Bedeutung‹ in irgendeinem sprachphilosophisch relevanten Sinne, in dem sie mehr wäre als eine (prinzipielles oder temporäres) Nicht-Verstehen behebende Erklärung von sprachlichen Zeichen, gar nicht gibt« (Majetschak 2000, 177). Der Vollzug des jeweiligen Gebrauchs kann nur im Rahmen des lebensweltlich situierten Umgangs erfolgen und ist gerade nicht im Vorhinein theoretisch fixierbar. 22 Das Heraustreten aus sprachlichen Bezügen, um gleichsam hinter die sprachlichen Zeichen zu einer »eigentlichen« Bedeutungsebene einer Wirklichkeit an sich zu gelangen, stellt für Wittgenstein ein unmögliches Unterfangen dar, das zum Scheitern verurteilt ist: »Wenn man aber sagt: ›Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‹, so sage ich: ›Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‹« (PU 504) Die Unterscheidung zwischen einer eigentlichen, aber sprachnackten Realität einerseits und der sekundären, letztlich jedoch lässlichen Ebene der Zeichen andererseits, verwirft Wittgenstein vollends. Jeder Sprach- und VerstehensGegen eine Theoretisierung im Sinne von Savignys und den Argumenten Majetschaks beipflichtend hält auch Kemmerling fest: »Meine These ist, daß Wittgenstein in seinem Spätwerk keine Theorie der sprachlichen Bedeutung hat, weder eine Gebrauchstheorie der Bedeutung, noch eine Spieltheorie der Bedeutung und auch keine Sprachspieltheorie der Bedeutung.« (Kemmerling 1992, 99)
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vollzug ist vermittelt: »Jedoch ist man versucht, sich das, was dem Satz Leben gibt, als etwas in einer geheimnisvollen Sphäre vorzustellen, das den Satz begleitet. Aber was es auch sei, das ihn begleitet, es wäre für uns nur ein anderes Zeichen.« (BB 21) Die Rückbindung jeder »Bedeutung« an den spezifischen Gebrauch impliziert auch eine für Wittgenstein untrennbare Verwobenheit des Sprachgebrauchs mit den dazugehörigen Tätigkeiten. Wie bereits angeführt, betont Wittgenstein bei der ersten Einführung des Terminus »Sprachspiel« das Zusammengehen einer spezifischen Sprachverwendung mit Handlungsvollzügen. Das Sprachspiel ist gerade dadurch ausgezeichnet, dass Sprache nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern stets auch in Hinblick auf die Tätigkeiten, in die sie eingebettet ist (vgl. PU 7). Diese Handlungen wiederum sind nicht schlichtweg außer- oder nicht-sprachlich zu nennen, als ob sie additiv zu sprachlichen Elementen hinzukämen, sondern sie sind ebenso eingelassen in Sprachspiele. In der Erweiterung seines Sprachverständnisses macht Wittgenstein darauf aufmerksam, dass eine strikte Trennung von verbalen und nonverbalen Elementen keinen Sinn mehr macht. 23 Eine Sprache sprechen und Tätigkeiten verrichten zu können, heißt, in einen Gesamtkontext einer Praxis eingelassen zu sein. Pointiert spricht Wittgenstein davon, dass die »Sprache […] durch die Sprachhandlungen charakterisiert« (PG 140) ist und fragt sich zugleich: »Aber ist denn sein Gebrauch nicht Teil unseres Lebens?!« (PG 29) Dieser merkwürdig offenen Frage, die den Gebrauch von Sprachspielen mit Lebensvollzügen respektive einer Lebensform zusammenzubringen versucht, soll nun weiter nachgegangen werden, um die Einbettung der Sprache in soziale Zusammenhänge noch eindringlicher zu verdeutlichen. In den Philosophischen Untersuchungen versucht Wittgenstein, 23 Glock hält offensichtlich an einer nachträglichen Zusammenführung von Sprachspiel und Tätigkeit fest, wenn er betont, »daß unsere Sprachspiele verflochten sind mit nichtsprachlichen Aktivitäten« (Glock 2000, 200). Er missinterpretiert meines Erachtens die grundlegende Einsicht Wittgensteins, von einer nicht hintergehbaren Zusammengehörigkeit von Sprache und Tätigkeit im Sprachspiel auszugehen. »Verbale« und »nonverbale« Elemente eines Sprachspiels sind nur im Nachhinein isolierbar. Wittgenstein geht es aber um das Zusammengehören beider Momente. In diesem Sinne schreibt Schneider: »Das Wort ›Sprachspiel‹ verweist also auf den nichtverbalen Anteil der Tätigkeit, und das Wort ›Lebensform‹ kommt (jedenfalls an der zitierten Textstelle [PU 19, M. F.]) dort ins Spiel, wo eine Sprache (also ein zusammenhängender Komplex von Sprachspielen, einschließlich der nichtverbalen Anteile) als ganze vorgestellt wird.« (Schneider 1999a, 139)
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das Ineinandergehen von Sprache und Tätigkeit noch weiter zu spezifizieren, indem er darauf hinweist, dass Sprachspiele über ihren Handlungscharakter hinaus, auch Anteil nehmen an einer »Lebensform«: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« (PU 23) Die diversen Sprachspiele einer Sprache stehen nicht isoliert da, sondern sind in eine Lebensform integriert. 24 Daher betont Wittgenstein: »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« (PU 19) Mit dem Gesamt einer Sprache als ihren diversen Sprachspielen ist folglich immer schon eine Lebensform in ihren geschichtlichen und soziokulturellen Ausprägungen mitgegeben, die zugleich aus den praxeologischen Zusammenhängen einer Sprachgemeinschaft zu verstehen ist: »[E]s ist charakteristisch für unsere Sprache, daß sie auf dem Grund fester Lebensformen, regelmäßigen Tuns, emporwächst.« (VE 115) 25 Analog zu den Sprachspielen, deren Regeln wir uns nicht in einem souveränen Akt aneignen, vollzieht sich auch die Ausprägung der Lebensformen. In einer kryptischen Äußerung weist Wittgenstein darauf hin, dass die Lebensformen das »Hinzunehmende, Gegebene« (PU, p. 572) seien. Nicht wir tätigen eine bewusste oder freie Entscheidung für oder wider eine Lebensform oder ein »Weltbild« 26 , wie WittgenEine nähere Bestimmung, was unter Lebensform zu verstehen sei, unterlässt Wittgenstein. Mit Schulte kann jedoch festgehalten werden: »Unter Lebensform versteht Wittgenstein – das wird aus seinen Beispielen deutlich – die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft. Dabei kommt es freilich nicht darauf an, die Summe aller Tätigkeiten, die während einer bestimmten Epoche in einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft eine Rolle spielen, zu bilden. Der Aspekt, auf den Wittgenstein in erster Linie hinaus will, ist der Zusammenhang zwischen der Verwendung sprachlicher Ausdrücke und eingefleischten Handlungsweisen, die den Sprechern so selbstverständlich vorkommen, daß sie gar nicht darüber nachdenken.« (Schulte 1989, 146 f.) 25 In einer mehrjährigen Debatte zwischen Garver und Haller wollte ersterer (Garver 1984 und 1999) den Terminus »Lebensform« vor allem als das spezifisch Menschliche – im Gegensatz zum Tierischen – sehen. Dieser Auffassung ist Haller (1984 und 1999) zu Recht mit der These entgegengetreten, dass es laut Wittgenstein auch innerhalb der menschlichen Spezies einen Plural von Lebensformen im anthropologisch-soziokulturellen Sinne gäbe. 26 Das Wort »Weltbild« wird in Über Gewißheit nur rund ein halbes Dutzend Mal verwendet (ÜG 93–95, 162, 167, 233, 262). Eine strenge terminologische Umgrenzung erfährt es dabei nicht. Eine treffende Charakterisierung in Anschluss an Wittgenstein gibt jedoch Kober: »Ein Weltbild besteht aus kulturell entwickelten Überzeugungen, die sich in unterschiedlichen Praktiken, d. h. sowohl in unterschiedlichen rituellen Tätig24
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stein in Über Gewißheit das »Nest von Sätzen« (ÜG 225) auch nennt, sondern wir finden uns immer schon in unserer lebensweltlichen Praxis von unbefragten und bereits von einer Sprachgemeinschaft getragenen »Grundanschauungen« (ÜG 238) wieder. Dieses lose und nicht vollkommen durchstrukturierte »Bezugssystem« (ÜG 83) bildet gleichsam den narrativen Rahmen, in dem sich unsere »großen« Erzählungen bewegen, in denen wir uns über uns selbst und mit anderen verständigen. 27 Eine Lebensform ist somit eine immer schon mit anderen geteilte Welt. So weiß ich beispielsweise Sätze wie »Die Erde hat schon vor meiner Geburt existiert« oder »Kein Mensch kann von Natur aus fliegen« im strengen Sinn des Wortes nicht; sie können nämlich nach Wittgenstein nicht falsch sein, da das Gegenteil nicht denk- oder vorstellbar ist. Kaum ein Mensch hat den Wahrheitsanspruch dieser Art von Sätzen ernsthaft überprüft, doch für jemanden, der aus dem so genannten westlichen Kulturkreis stammt, sind diese grammatisch-regulativen Sätze so gewiss, dass sie nicht in Frage gestellt werden können. Sie sind, wie Wittgenstein ausführt, »solchermaßen in allen meinen Fragen und Antworten verankert […], daß ich nicht an sie rühren kann.« (ÜG 103) Wenn sie sich als unzuverlässig herausstellen würden, würde das ganze Weltbild ins Wanken geraten. Der Inhalt der einzelnen Sätze eines Weltbildes wird nicht bewusst gelernt und ist auch kaum explizierbar, da er als selbstverständlich angenommen wird. »Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden, wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht so fest in dem Sinn, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.« (ÜG 152) So können zwei Autofahrer miteinander diskutieren, ob es von Vorteil ist, von Basel aus über Münkeiten als auch in unterschiedlichen Meinungen, Überzeugungen, Theorien, manifestieren, ohne unbedingt überprüft worden zu sein […].« (Kober 1993, 153) Kober weist zu Recht darauf hin, dass Sprache (eigentlich Sprachspiele), Lebensform und Weltbild miteinander verwoben sind, obwohl sie unterschiedliche Aspekte beleuchten. So werden nicht zuletzt in Über Gewißheit Weltbild, Lebensform und Sprachspiel zum Teil synonym verwendet. Das Weltbild als »epistemisches Pendant« (Kober 1993, 154) zu bezeichnen, scheint mir über das von Wittgenstein Intendierte hinauszuschießen. Es geht bei Wittgenstein mehr um eine Beschreibung der Rückgebundenheit an ein Bezugssystem denn darum, ein erkenntniskritisches Gegenstück zu entwerfen. 27 Der Rückgriff auf Lyotards (1999) Terminologie scheint mir insofern gerechtfertigt, als Wittgenstein selbst das Weltbild – auch unser mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtetes – wiederholt als eine »Mythologie« (vgl. ÜG 95, 97, 236) bezeichnet. A
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chen oder aber über Innsbruck nach Salzburg zu fahren. Die Grundlage des Gesprächs, dass es überhaupt Straßen gibt und dass Autos auf ihnen fahren können, wird dabei nicht thematisiert werden, sondern als unhinterfragte Grundannahme gelten – im Sinne der oben angeführten Rotationsachse, um die sich alles andere in einer selbstverständlichen Weise dreht. Diese »kategoriale« Differenz zwischen Wissen einerseits und Gewissheit andererseits ist für den späten Wittgenstein entscheidend. Während Wissen immer unvollständig, korrekturbedürftig oder einfach falsch sein kann und daher weiter begründet werden muss, fungiert die Gewissheit als konstitutive Voraussetzung für alles Wissen und Verstehen, die als Grundannahme keiner weiteren Begründung mehr bedarf – ja mehr noch, eine letztgültige Erklärung oder Begründung ist hier unmöglich. Anfragen, die Grundsätze der Gewissheit betreffen, haben keinen Platz in Diskussionen und können auch nicht mehr weiter fundiert werden, sondern werden als Voraussetzung schlichtweg unhinterfragbar anerkannt: »Ein Grund läßt sich nur innerhalb eines Spiels angeben. Die Kette der Gründe kommt zu einem Ende und zwar an der Grenze des Spiels.« (PG 55) Jeder Zweifel, so radikal er sich auch gebärdet, richtet sich nur gegen das Wissen und vollzieht sich deshalb immer schon innerhalb eines weltbildhaften Rahmens, denn, so Wittgensteins Worte als Spitze gegen jeden hyperbolischen Charakter eines Dubiums, »[i]ch habe noch gar kein System, worin es diesen Zweifel geben könnte« (ÜG 247). Wittgenstein zielt folglich auf die Bedingung des radikalen Zweifels ab; denn wenn alles in Frage gestellt wird, wäre auch die Möglichkeit des Zweifelns selbst davon betroffen, wie etwa auch die Aussage, dass an allem gezweifelt wird: »Wer keiner Tatsache gewiß ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiß sein.« (ÜG 114) Das impliziert aber nicht, dass uns alles gewiss ist und wir uns weder irren noch zweifeln können. Das Fehlgehen oder Infragestellen von etwas setzt vielmehr ein mit anderen geteiltes Weltbild voraus, in dem dieses oder jenes zur Debatte steht. Vor diesem Hintergrund einer gemeinsamen Sprache kann dieser Vorgang Sinn machen, aber er übersteigt als konstituierende Voraussetzung immer schon das Entscheidungsvermögen eines einzelnen Subjekts. Alles Wissen, Begründen, Argumentieren und Kritisieren findet somit immer schon »innerhalb eines Systems« (ÜG 105) statt: »Ob etwas ein Fehler ist oder nicht – es ist ein Fehler in einem bestimmten System. Genauso wie etwas ein Fehler in einem be168
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stimmten Spiel ist und nicht in einem anderen.« (VG 82) Hier erschöpft sich auch die Möglichkeit, an allem permanent zu irren oder zu zweifeln. Wir sind in unserem individuellen Tun stets an die Vorgängigkeit und Unhintergehbarkeit des vermittelten Weltbildes und der Sprache rückgebunden: »Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon Gewißheit voraus.« (ÜG 115) Obschon die Grundüberzeugungen nicht als Ganzes in Frage gestellt werden können, ist es nach Wittgenstein durchaus denkbar, dass gewisse Sätze unseres Weltbildes mit der Zeit an Festigkeit verlieren oder eine größere Beständigkeit gewinnen: »Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben.« (ÜG 97). Der narrative Komplex, in dem wir uns bewegen, ist immer wieder Wandlungen unterworfen und alles andere als starr. 28 Wittgenstein betont nicht nur die Unhintergehbarkeit und Wandelbarkeit unseres Weltbildes, sondern auch die Differenzen zu anderen unterschiedlichen historischen, kulturellen, sozialen etc. Ausformungen von Lebensformen und Weltbildern. Damit meint er weder konkurrierende Weltanschauungen bestimmter Gruppierungen in ideologischer Hinsicht noch bestimmte individuelle Gesinnungen. Solche Überzeugungen fußen immer schon auf so etwas wie einem Weltbild. »Weltbild« ist bei Wittgenstein ausschließlich für den Hintergrund einer Sprachgemeinschaft reserviert, auf dessen Rücken ideologische Differenzen – so genannte Weltanschauungen – überhaupt ausgetragen werden können. 29 Um die Vielfalt und Unüberbrückbarkeit von Weltbildern zu verdeutlichen, greift Wittgenstein nicht auf Unterschiede innerhalb einer Zivilisation zurück, sondern führt Beispiele aus vollkommen anderen 28 Ein unbeabsichtigtes Beispiel einer Modifikation des Weltbildes der westlichen, naturwissenschaftlich geprägten Zivilisation findet sich im Wittgenstein’schen Text selbst, der zwischen 1949 und 1951 verfasst wurde: »Wenn wir in unserm System denken, so ist es gewiß, daß kein Mensch auf dem Mond war. Nicht nur ist uns so etwas nie im Ernst von vernünftigen Leuten berichtet worden, sondern unser ganzes System der Physik verbietet uns, es zu glauben.« (ÜG 108) Wir haben nun, ein paar Jahrzehnte später, keine Schwierigkeit mit einem Ausflug in das All, obwohl sich das heutige Weltbild nicht markant von jenem zur Zeit Wittgensteins unterscheidet. 29 Schulte vertritt die Auffassung, dass ein Weltbild bei Wittgenstein mit spezifisch individuellen Urteilen belegt und durch persönliche Erfahrungen bestimmter Sprecher konstituiert werden kann, »die in Weltbildern anderer Sprecher nicht vorkommen« (Schulte 1990, 120). Weiberg wendet dagegen zu Recht ein, dass Wittgenstein das Weltbild nie hinsichtlich individueller Faktizitäten betrachtet, sondern »mein Weltbild immer das einer bestimmten Gesellschaft« (Weiberg 2002, 76) ist.
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Kulturkreisen und Religionen an. Dort, wo sich tatsächlich interkulturelle Gräben auftun, können wir mit unseren Erklärungsmustern, etwa einer kausalen Erklärung von physikalischen Phänomenen, den dort vorherrschenden Gebräuchen nicht näher kommen, sie erklären oder verstehen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Orakel anstelle eines Mediziners konsultiert wird oder ein Mythos die Entstehung der Welt erklärt und nicht eine szientistische Argumentation (vgl. VO 124 f.). Wittgenstein insistiert – gerade in seinen Überlegungen zur Religion, die sich jeder wissenschaftlichen Beweisführung verwehren und auch nicht auf Konzeptionen der Rationalität rückgeführt werden können (vgl. VG 78 f.) – auf diesen grundlegenden Differenzen zwischen Weltbildern, die Verschiedenheiten als solche einzusehen und stehen zu lassen, ohne allzu schnell eine versöhnende Geste der Vermittlung herbeizuzitieren; er beharrt somit auf der anti-hermeneutischen Kluft zwischen den Bereichen, die nicht mittels einer nachsichtigen Verständigung überbrückt werden können. 30 Das jeweilige Weltbild eröffnet und verschließt zugleich den je konkreten Möglichkeitsraum der Verstehens- und Sinnbezüge. Dieser ist immer nur ein begrenzter und kann nur innerhalb seines Horizonts Gültigkeit beanspruchen, ohne eine universale Transzendentalität reklamieren zu können. Wittgenstein zeigt nun gegen logo- oder eurozentristische Inblicknahmen auf, dass es weder eine an sich privilegierte Lebensform noch ein übergeordnetes Weltbild gibt. Er hütet sich auch, normative Ansprüche mit dieser Einsicht zu verknüpfen, die sich im Sinne eines alles umfassenden kategorischen Imperativs gerieren: »Damit will ich natürlich nicht sagen, daß der Mensch so handeln solle, sondern nur, daß er so handelt.« (ÜG 284) Für die jeweilige Ausrichtung der Lebensformen und Weltauffassungen gibt es keinen externen Maßstab, wie es etwa in der abendländischen Tradition der Diskurs der RationaParadigmatisch für eine harmonische Vermittlung kann hier die hermeneutische Position Gadamers angeführt werden, der allzu vorleilig deutlich macht, dass das Alteritäre kein Problem darstellt und möglichst schnell adaptiert werden muss: »Alles […] hat etwas Fremdes und stellt insofern die gleiche Verstehensaufgabe […]. Der Ausleger […] hat Fremdheit aufzuheben und Aneignung zu ermöglichen. […] Ich habe zu zeigen versucht, daß mindestens ein beherrschender Zug gemeinsam ist: die Struktur der Applikation.« (GW II, 419; Herv. M. F.) Gegenüber der Möglichkeit einer »Horizontverschmelzung« in einem »unendlichen Dialog« der wechselseitigen Verständigung meldet Wittgenstein immer wieder seine Bedenken an, da sie seiner Auffassung nach oft mit der imperalistischen Geste der Rückführung alles Fremden auf das Eigene einhergeht.
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lität für sich beansprucht, sondern »Normierungen« können immer nur innerhalb der jeweiligen Lebensform bestehen. Das immer wieder auch für Wittgenstein in Anspruch genommene Verstehen von Sinn artikuliert sich somit nur innerhalb der einzelnen Weltbilder, die für ihn als Bezugssystem eine gewisse Konsistenz – die »in wiederholten Spielhandlungen in der Zeit besteht« (ÜG 519) – aufweisen müssen. Welche genuinen Ausformungen von Sprachspielen es darin geben mag, wofür sie dort in ihrer spezifischen Art verwendet werden können und wie sich ihr Ablauf gestalten mag, kann nur aus der Immanenz der betreffenden Lebensform eruiert werden. Wenn wir von richtig oder falsch, fortschrittlich oder primitiv sprechen, gehen wir »schon von unserm Sprachspiel« (ÜG 609) aus. Pointiert spitzt Wittgenstein diese Einsicht im Satz zu: »Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben.« (PU 325) So stehen verschiedene Weltbilder für Wittgenstein in ihrer Eigenständigkeit nebeneinander, ohne dass das eine auf das andere zurückgeführt werden könnte. Ein archimedischer Nullpunkt, der eine autonome Neutralität garantieren könnte, lässt sich nach Wittgenstein nicht ausmachen. Eine externe Bewertung einer besseren und richtigeren Lebensform ist somit unangebracht, da hier stets schon ein von allen Weltbildern unabhängiger Maßstab mit in die Diskussion eingeführt sein müsste. Eine Lebensform ist daher nicht »an sich« wahr oder falsch, sondern das jeweilige Weltbild stellt allererst die Bedingungen und Kriterien bereit, hinsichtlich derer man allererst zwischen korrekt und inkorrekt zu differenzieren vermag. Dies geschieht somit stets innerhalb eines Bezugssystems und kann nicht als ihm vorgelagert verstanden werden. Das Eigene des Weltbilds, das den unhinterfragbaren Ausgang des jeweiligen menschlichen Selbstverständnisses bildet und dem somit immer auch Alteritäres anhaftet, ist für Wittgenstein nicht zwingend in einen kulturellen Relativismus zu nivellieren. Bei einem Relativismus könnten die diversen Lebensformen problemlos nebeneinander stehen. Wittgenstein macht aber im Gegenzug auf ein Nicht-Verstehen aufmerksam, welches das eigene Selbstverständnis herausfordern und vor unüberwindbare Hürden stellen kann. Der eigene Standpunkt wird aber auch nicht einfachhin absolut gesetzt, sondern es wird gezeigt, dass jedes Verstehen und Argumentieren, Verfechten und Kritisieren rückgebunden an eigene Voraussetzungen bleibt, deren Vorgängigkeit zwar anerkannt und eingesehen werden kann, deren Faktizität jedoch A
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nicht einfachhin wie ein Ideenkleid abzustreifen ist. Vielmehr tritt das eigene Weltbild dann hervor, sobald es sich mit Fremdem oder anderen Weltbildern und deren nicht restlos verstehbarer Alterität konfrontiert sieht. Wittgensteins Stärke besteht nun gerade darin, diese Differenz zwischen Weltbildern nicht einzuebnen oder auf eines zurückzuführen, sondern ihre Heterogenität anzuerkennen und auf dieser Differenzialität zu insistieren. 31 Die größte Schwierigkeit der Wittgenstein’schen Ausführungen besteht nun vermutlich nicht darin, die faktisch konstatierbare Inkompatibilität von Weltbildern anzuerkennen, sondern – um den zuvor liegen gelassenen Faden bei der Unterscheidung zwischen Wissen und Gewissheit wieder aufzunehmen – ihre jeweilige »Unbegründbarkeit« einzusehen. Am Weltbild wird von denen, die sich in ihm befinden, nicht gezweifelt. Wittgenstein betont in diesem Zusammenhang, dass wir an Weltbilder nur glauben können; jeder Beweis oder jedes begründbare Wissen scheitert bei dem Versuch einer Legitimation: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.« (ÜG 166) Der Versuch einer Begründung muss irgendwann einmal abgebrochen werden und der Einsicht weichen, dass die vermeintlich absolute Sicherheit nur eine konstruierte ist (vgl. ÜG 56). Wenn ich beispielsweise behaupte, dass das neue Auto meines Vaters blau ist und ein Bekannter mich fragt, warum ich denn das wisse, müsste ich wohl antworten, dass ich es bereits gesehen oder mein Vater es mir mitgeteilt habe. Und er würde mir normalerweise Glauben schenken und nicht weiter an meiner Fähigkeit, Farben zu erkennen, zweifeln. Aber wenn er dann nachhaken würde, woher ich denn überhaupt die Bedeutung der Farben kenne und wisse, was ein Auto ist, wäre eine kausale Rückführung auf ein weiteres Fundament ziemlich schnell an ein Ende gelangt. Ich könnte, so Wittgenstein, ohne imstanDiese Überlegungen Wittgensteins könnten auch im Zusammenhang des interkulturellen Dialogs oder in der Diskussion allgemeiner Menschenrechte von größtem Interesse sein. Das Unternehmen, ein universalistisches Fundament in einer positiven Weise zu ermitteln, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wittgenstein selbst hat den Ethnozentrismus von Frazers Golden Bough gerade dahingehend kritisiert, dass er unfähig ist, »ein anderes Leben zu begreifen, als das seiner Zeit« (ÜG 33). Genauso wenig gilt es aber, die Unterschiede in einem differenzlosen Multikulturalismus aufzuheben. Seinem philosophischen Programm gemäß versucht sich Wittgenstein jeder Beurteilung anderer Kulturen zu enthalten und ihre Andersheit dadurch sehen zu lassen, dass sie beschrieben werden.
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de zu sein, weitere Gründe anführen zu können, nur noch antworten: »›Ich weiß es; Deutsch ist meine Muttersprache.‹« (ÜG 528; vgl. PU 381) Alle weiteren Bemühungen, Rechenschaft über unser Wissen, über die angewandte strenge Methodik und die scheinbar unhintergehbare Vernünftigkeit abzulegen, stoßen hier laut Wittgenstein an ihre Grenzen: »Das Wissen gründet sich am Schluß auf Anerkennung.« (ÜG 378) Es kann sich nicht selbst legitimieren, ja es bleibt nicht einmal der Verweis auf ein fundamentum inconcussum veritatis. Es bleibt einzig und allein die Möglichkeit darauf zu verweisen, dass ich mich korrekt in den Bahnen meines Weltbildes bewege, das letztlich nicht eigens durch weitere Explikationen begründet werden kann. Trocken formuliert Wittgenstein: »Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ›Urphänomene‹ sehen sollten. D. h. wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.« (PU 654) Der Rekurs auf die unhintergehbare Faktizität des Weltbildes und der Hinweis auf eine Gemeinschaft, »die durch Wissenschaft und Erziehung verbunden ist« (ÜG 298), ist die letzte Aussage, die getätigt werden kann. Meine eigene Sicherheit dieser Evidenzen habe nicht ich mir geschaffen und ich kann sie auch nicht begründen, sondern ich habe sie hingenommen wie den gesamten Kontext, in dem ich sozialisiert wurde: »Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). / Es steht da – wie unser Leben.« (ÜG 559) Ein Weltbild kann somit nicht nur nicht begründet, es kann auch nicht als falsch oder unvernünftig bezeichnet werden. Dazu bräuchte es eine externe Instanz, die es erlauben würde, mit diesen Bewertungen zu operieren. Diese Kriterien gibt es aber laut Wittgenstein nicht. Jeder Versuch eines letzten Beweisgrundes führt unweigerlich zu einem Fundament, das selbst nicht weiter begründet werden kann, sondern als Annahme in Anspruch genommen werden muss: »Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glauben.« (ÜG 253) Jeder Nachweis einer vollkommenen Legitimierung ist dabei zum Scheitern verurteilt. Das Verlangen einer Letztbegründung muss so zugunsten des Lebens, der Praxis, in der wir stehen, zurückgewiesen werden: »Habe ich die Begründung erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben.‹« (PU 217) Das Bedürfnis, eine letzte Erklärung zu fordern, entlarvt Wittgenstein als eine unzulässige Absolutsetzung unseres rationalen Weltbildes: »Erinnere dich, A
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daß wir manchmal Erklärungen fordern nicht ihres Inhalts, sondern der Form der Erklärung wegen. Unsere Forderung ist eine architektonische; die Erklärung eine Art Scheingesims, das nichts trägt.« (PU 217; herv. M. F.) In welcher Lebensform wir uns befinden, basiert nicht auf unseren eigenen Entscheidungen. Eine solche Souveränität billigt Wittgenstein uns Menschen nicht zu: »Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.« (ÜG 94) In diesen überkommenen Hintergrund sind wir immer schon eingelassen. Wir können innerhalb dieses Hintergrundes agieren, affirmieren, gegen ihn vielleicht anrennen und ihn eventuell erweitern, aber ihn nicht frei wählen oder einfach ablegen. Wir können nur auf ihn in einer re-actio antworten. Den rationalistischen Ursprungsmythos konterkarierend hält Wittgenstein fest: »Der Ursprung […] des Sprachspiels ist eine Reaktion […].« (VE 115) Ein Sprachspiel vollziehen zu können, indem Sprachspiele stimmig verwendet werden, setzt bereits eine »vorgängige Eröffnung eines entsprechenden Begriffraums« (Wellmer 2004, 41) voraus. Das Subjekt ist immer schon in diesen Kontext eingeschrieben und versteht sich lediglich als Antwortendes aus diesen Zusammenhängen. Sprache bildet folglich nicht eine vorgängige Realität ab und ist auch keiner Einlösung von definitiven Wahrheitsansprüchen verpflichtet, sondern eröffnet allererst das, was Lebensform oder Weltbild genannt werden kann. Ihre Grundlagen, die grammatischen Sätze, sind von jeder externen Instanz, die als Maßstab fungieren möchte, unabhängig: »Die Grammatik ist keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig. Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung (konstituieren sie) und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich.« (PG 133) Wittgenstein geht also so weit, die Grundlagen eines Weltbildes als beliebig zu umschreiben. Doch von welcher Beliebigkeit spricht er? Heißt das, dass jeder von uns schalten und walten kann, wie es ihm genehm ist? Oder muss hier ein anderes Verständnis von Beliebigkeit in Anspruch genommen werden? Bevor auf diese Fragen in Hinblick auf Wittgensteins Verständnis des Regelfolgens innerhalb sozial etablierter Praktiken eingegangen werden kann, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass von seiner Seite ein Subjektverständnis artikuliert wird, das sich nicht als 174
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Ausgangs- und Mittelpunkt der Welt fasst, sondern von vielfältigen Voraussetzungen bestimmt und durchzogen bleibt. In all seinem Tun, Handeln und Sprechen antwortet das Subjekt auf diese soziokulturell bedingten Vorgegebenheiten, ohne sie eigens theoretisch einholen oder begründen zu können. Im Anfang jeder Lebensform bzw. jedes Weltbildes steht eine abgründige und bodenlose Anerkennung, die sich auf nichts anderes berufen kann, als auf das, was durch Sitte, Gebrauch und Übereinkunft überliefert ist. Erst vor dem Hintergrund eines bereits mit anderen geteilten Weltbildes bzw. einer Lebensform lässt sich das Menschsein in seiner unhintergehbaren Sozialität erörtern. Dabei macht Wittgenstein auf eine Pluralität von Bezugssystemen aufmerksam, die nicht mehr auf ein universales Grundprinzip rückbezogen werden kann, sondern sich mitunter inkompatibel zu anderen Lebensformen verhalten.
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Unweigerlich stellt sich die Frage, wie nun Wittgenstein den Zusammenhang zwischen einem nicht weiter begründbaren Weltbild einerseits und den darin vollzogenen Praktiken andererseits zu denken versucht. Schnell wird man geneigt sein, entweder das Schreckgespenst eines anything goes an die Wand zu malen und von einer vollkommenen Arbitrarität der Sprachspiele, Lebensformen oder Weltbilder zu sprechen, da sie nicht einer an sich seienden Realität verpflichtet sind, oder aber auf einen Determinismus zu rekurrieren, aus dem man aufgrund der jeweiligen Faktizität und Vorgegebenheit einer Sprachgemeinschaft nicht herauskommen kann. Ist nun alles beliebig oder vollständig bestimmt? Darauf gibt Wittgenstein eine für ihn nicht untypische Antwort: »Hat denn dieses System 32 etwas Willkürliches? Ja und nein. Es ist mit Willkürlichem verwandt und Nicht-Willkürlichem.« (BPP II, 427) Diese Auskunft hilft einem auf den ersten Blick kaum weiter, doch auf den zweiten eröffnet sie die Möglichkeit, eine Denkweise zu etablieren, die sich nicht in ein dichotomisches Entweder-Oder integrieren lässt, sondern eine andere Betrachtungsweise er32 Wittgenstein bezieht sich hier auf das nicht von der Natur gegebene System der Farben und Zahlen. Was aber für diese beiden Bereiche gilt, kann meiner Auffassung nach auf alle »Systeme« ausgedehnt werden.
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öffnet. Wir müssen das angesprochene Bezugssystem laut Wittgenstein als ein mit beiden, dem Beliebigen und Nicht-Beliebigen, Verwandtes auffassen; eine Verwandtschaft freilich, die von der Leserschaft erfordern wird, die »ganze Betrachtung [zu] drehen« (PU 108). Wie dem Dilemma, entweder die Bedeutungsganzheit präfiguriert zu betrachten oder aber sämtliche Vollzüge als willkürlich anzusehen, entkommen werden kann, diskutiert Wittgenstein im Zusammenhang mit dem Regelfolgen. Im Kontext rund um diese Erörterung soll nun versucht werden, diesem Weg, der sich einem Entweder-Oder entwindet, auf die Spur zu kommen. 33 Spiele und auch Sprachspiele – um die Analogie zwischen Sprache und Spiel um ein weiteres Moment zu erweitern – werden nach Regeln gespielt: »Wir betrachten die Sprache unter dem Gesichtspunkt des Spiels nach festen Regeln. Wir vergleichen sie so mit einem Spiel, messen sie an ihm.« (PG 36) Sprache und Spiel erweisen sich nämlich weder als restlos determinierte noch frei flottierende Abläufe, sondern als geregelte Angelegenheiten, bei denen von korrekten oder inkorrekten Verwendungsweisen gesprochen werden kann. Wie etwas angemessen oder unangemessen gebraucht und was als richtig oder falsch verstanden werden kann, wird erst aus dem Komplex des regelgeleiteten Verhaltens einsichtig. Damit sind nicht nur Spiele im engeren Sinn, sondern sämtliche menschliche Vollzüge – etwa einen Fahrplan lesen, eine Rechenaufgabe lösen, sich im Straßenverkehr bewegen oder im nächsten Beisl ein Bier bestellen – mehr oder weniger regelgeleitete (Sprach-)Handlungen. Fragen der Normativität brechen somit allerorts auf und nicht etwa bloß in einem abzugrenzenden Bereich der Ethik. Der Komplex des Regelfolgens wurde und wird im angelsächsischen Raum vor dem Hintergrund des skeptischen Lösungsansatzes von Kripke (1982), da sich Regeln nicht als (objektive) Tatsache ausmachen lassen, und der Kritik von Baker / Hacker (1985) breit diskutiert. Diese – insbesondere für die analytische Wittgenstein-Rezeption nicht untypische – Verselbständigung der Sekundärliteratur über Sekundärliteratur (vgl. auch die Garver-Haller- oder Diamond-Hacker-Debatte) fragt aber kaum danach, warum der »Primärtext« Wittgensteins überhaupt diverse Auslegungen evoziert. Nach einer ersten Rezeptionsphase, die von Stegmüller (1986) eingeläutet wurde, werden im deutschen Sprachraum einerseits konstruktive Lösungsansätze von McDowell (1998 und 2002) und Brandom (2000) in Hinblick auf ein genuines Verständnis von Normativität (für einen Überblick vgl. Bertram 2006, 123–170) erörtert oder es wird andererseits der Frage nachgegangen – etwa in Ausgriff auf Davidson (1999, 372–393) –, ob verstehende Sprachvollzüge überhaupt im Zusammenhang mit dem Regelfolgen expliziert werden müssen (vgl. Glüer 1999).
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Stets sind wir hier angehalten, Regeln entsprechend zu agieren. Zwar betont Wittgenstein, dass ein Spiel nach Richtlinien ablaufen muss, doch spricht er nicht von einer vollständigen Reglementierung. Aufgrund der Möglichkeit von Sprachspielen, höchst unterschiedliche Ausformungen annehmen und auch innerhalb ihres Ablaufes einen Freiraum einnehmen zu können, lässt Wittgenstein auch den Anfang der 1930er Jahre verwendeten Begriff des (Sprach-)Kalküls, den er aus der Mathematik übernommen hatte und der sich durch eine allzu strenge Regelstruktur auszeichnet, wieder fallen, denn »[i]n der Praxis gebrauchen wir die Sprache sehr selten als einen derartigen Kalkül« (BB 49). 34 Mit dieser Verabschiedung des Kalküls zugunsten des Spiels geht auch ein komplexeres Verständnis des Regelfolgens einher, das sich einer mathematischen Vorausberechenbarkeit verwehrt. Dennoch wird auf eine Regelstruktur nicht verzichtet werden können. Fehlt nämlich jede Regelhaftigkeit, etwa zwischen den artikulierten Lauten und entsprechenden Handlungsweisen, wären wir laut Wittgenstein kaum geneigt, es als Sprache zu bezeichnen (vgl. PU 207). 35 Einem Sprachspiel werden also weder vorab präskriptiv Regulierungen auferlegt noch kommen sie in einem zweiten Schritt hinzu, sondern sie konfigurieren in einer entscheidenden Weise Spielfeld, Spielzüge und Spielfiguren, sodass sich das Spiel ohne diese Reglementierungen nicht denken lässt. Um dieser konstitutiven Funktion von Regeln nachzukommen, die – wie sich zeigen wird, ebenso einen sozialen und praktischen Charakter mit impliziert, greift er – wie so oft – auf das Exempel des Schachspiels zurück: »Es ist übrigens sehr wichtig, daß ich den Holzklötzchen auch nicht ansehen kann, ob sie Bauer, Läufer, Turm etc. sind. Ich kann nicht 34 Eine genaue Nachzeichnung der Genese vom reglementierten Kalkülbegriff zum offenen Verständnis der Sprachspiele liefert Sedmak (1996). 35 Auf den Umstand, dass Wittgensteins vornehmliche Orientierung am Spiel eine bestimmte Einseitigkeit forciert, weist Bertram hin: »Das Spielmodell verfügt über keinen Begriff einer einzelnen normativen Praktik. Die Eindimensionalität hat zur Folge, dass nur das Gesamt einer Praxis als normativ zu verstehen ist.« (Bertram 2006, 139). Im Gegenzug dazu verfolgt er das Gerichtsmodell, um auf die zeitlichen Implikationen und auf Zusammenhänge mit anderen Richtersprüchen zu insistieren: »Einerseits stellt sich die Frage der Normativität immer in der je einzelnen Praktik, hic et nunc. Andererseits kann die einzelne Entscheidung normative Orientierung nur mittels der Beziehungen gewinnen, in denen die Entscheidung zu anderen Entscheidungen steht.« (Bertram 2006, 142) Dieser temporalen Verschränkung des jeweiligen Sprachgebrauchs mit vorangegangenen und nachfolgenden Praktiken soll gesondert nachgegangen werden.
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sagen: Das ist ein Bauer und für diese Figur gelten die und die Spielregeln. Sondern die Spielregeln bestimmen erst diese Figur: Der Bauer ist die Summe der Regeln, nach welchen er bewegt wird (auch das Feld ist eine Figur) […].« (WWK 134) Um die Praxisimmanenz des Regelfolgens zu unterstreichen, bezieht sich Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen zunächst auf Beispiele, die dezidiert Frage nach einem externen Regelverzeichnis korrumpieren: »Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹ ? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.« (PU 83) Regeln können sich nicht nur ändern, sie müssen auch nicht explizit gewusst werden. Jeder native speaker weiß, wie schwer es ist, grammatikalische Regeln der Muttersprache zu erklären, obwohl er sie korrekt anwenden kann. Spiele wollen in erster Linie gespielt werden, d. h. sie gehen im Vollzug auf und nicht in einem Regelbuch. 36 Neben dem Hinweis auf eine Normativität ohne auflistbare Normen, macht Wittgenstein darauf aufmerksam, dass Spiele trotz der inhärenten Regelstruktur nicht restlos determiniert sind: »Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z. B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.« (PU 68) Die Regeln lassen somit den Spielenden nicht nur in einem Tennismatch, sondern auch in allen anderen Varianten des Spiels, trotz der stets einzuhaltenden Spielregeln durchaus einen nicht vollkommen reglementierbaren Freiraum, den man bezeichnenderweise im Deutschen auch »Spielraum« nennt. Doch was kann hier unter Regelhaftigkeit und Regelfolgen verstanden werden? Woran, fragt sich nun Wittgenstein, lässt es sich ablesen, dass man sich im Einklang mit den Regeln befindet? Wodurch sind sie gerechtfertigt und woher erhalten sie ihre Legitimation? Wel-
Diese Rückgebundenheit des Spiels an eine Praxis, die nie von einer Theorie restlos einzuholen ist, demonstriert Schulte eindringlich, indem er darauf hinweist, dass man ein Spiel zwar erlernen kann, indem man sich das Regelwerk aneignet; doch das wird nur funktionieren, weil wir vorher mit ähnlichen Spielen bereits vertraut gemacht wurden. »An irgendeinem Punkt muß die Interpretation in der Abrichtung verankert sein: Was Gewinnen und Verlieren heißen, lernt man nicht durch das Studium der Spielregeln, sondern dadurch, daß man Menschen und ihre Reaktionen beim Spielen beobachtet und selber mit ihnen spielt. Dies ist ein praktischer Kontext, der ohne Einübung in diese oder ähnliche Verhaltensweisen unverständlich bleibt.« (Schulte 1989, 160)
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Regelfolgen als Übereinstimmung in einer Sprachgemeinschaft
cher Art ist die Regelstruktur in Sprachspielen und wie kann in angemessener Weise nach ihnen gefragt werden? Es wurde bereits gezeigt, dass der Gebrauch einer Sprache weder von der Intention eines einzelnen Sprechers abhängig sein kann, noch sich an naturalistisch-essentialistische Vorgaben rückgebunden erweist. Folglich werden gleichermaßen objektivistische und subjektivistische Verkürzungen zurückgewiesen. Dieses Spannungsverhältnis muss nun im Zusammenhang mit dem Regelfolgen genauerhin ausgelotet werden: einerseits rekurriert jedes Befolgen von Regeln auf eine normative Kraft, die das Tun der Einzelnen übersteigt und bestimmt, andererseits zeigen sich die Regeln nur aus dem jeweiligen Vollzug, sodass sie erst aus der immanenten Regelgeleitetheit einsichtig werden. 37 Das Regelfolgen ist somit an eine Praxis rückgebunden, die es verunmöglicht, die normative Dimension als von ihr unabhängig zu begreifen. Normativität in dem hier von Wittgenstein fokussierten Sinne ist daher nicht als vorgelagerte Norm oder eine über jeden Vollzug bestimmende Instanz zu verstehen, sondern muss aus dem regelgeleiteten Geschehen selbst einsichtig gemacht werden. Die interne Kraft der Regelhaftigkeit ist daher nicht mit einer von außen konstatierbaren Regelmäßigkeit zu verwechseln, wie sie etwa aus mechanischen Wiederholungen bestimmter Sequenzen ablesbar ist. Allein regelmäßige Reihen zu produzieren, setzt Wittgenstein gerade nicht mit dem Folgen einer Regel gleich: »Es könnte doch einen Höhlenmenschen geben, der für sich selbst regelmäßige Zeichenfolgen hervorbrächte. […] Aber er folgt nicht dem allgemeinen Ausdruck einer Regel. […] Wenn eine Drossel in ihrem Gesang die gleiche Phrase stets einige Male wiederholt, sagen wir sie gebe sich vielleicht jedes Mal eine Regel, der sie dann folgt?« (BGM 344 f.) Mit Wittgenstein könnten wir sowohl ein bloß regelmäßiges Tun des Höhlenmenschen als auch den Gesang der Drossel nicht als Regelfolgen anerkennen, da hier nicht zwischen falscher und richtiger Ausführung differenziert werden kann. Der Differenz zwischen Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit gilt es nun Rechnung zu tragen. Dabei verwehrt sich Wittgenstein gegen 37 Prägnant umreißt Bertram diese widerstrebenden Aspekte der nachzuzeichnenden Relation, gleichwohl hier noch nicht auf eine nachträgliche Verbindung von »Subjekt« und »Objekt« abgezielt wird, da der Prozess des Regelfolgens allererst in seiner subjektkonstitutiven Dimension einsichtig gemacht werden soll: »So besteht der Kern des Regelfolgen-Problems im subjektiven Zugang zur Regel und in ihrem objektiven Status sowie in dem Verhältnis zwischen beiden.« (Bertram 2006, 129)
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zwei Engführungen der Auffassung von Regel. Sie sollen erstens nicht in einem essentialistischen Sinne verstanden werden, das Regelfolgen bloß als kausalen oder mechanistischen Ablauf zu begreifen. Es wird sich aber zweitens auch das vermeintliche Gegenstück als unangemessen erweisen, aus einer dezisionistisch-interpretatorischen Perspektive Regelfolgen auf ein Regeldeuten zurückzubeziehen. Was ist damit von Wittgenstein ins Auge gefasst? (1) Das Verständnis einer vollständigen Regulierung im mechanistischen Sinne käme einer Programmierung gleich, bei der jeder Schritt im Vorhinein bereits restlos bestimmt wäre und sich bloß einer nachträglichen Applikation zu unterwerfen hätte, bei der sich nichts (Überraschendes oder Unerwartetes) mehr ereignen kann. Regeln wären dann nach einem rigiden kausalen Prinzip präfiguriert und sämtliche Anwendungsmöglichkeiten »müßten eigentlich – in einem mysteriösen Sinne – bereits gegenwärtig sein« (PU 193). Wittgenstein macht in diesem Zusammenhang somit mit aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, dass dieses mechanistische Verständnis eine Verkürzung auf ein präsentisches nunc stans impliziert, in dem jeder Spielraum und damit jede offene Zukünftigkeit verunmöglicht wird, da alle potentiellen Situationen bereits prognostizierbar und damit bereits anwesend wären. Bei dieser Vorstellung eines lückenlosen, gleichsam intuitiven Erfassen der gesamten Bedeutung eines Regelkomplexes orientieren wir uns nicht an der tatsächlichen, vielfältigen Verwendung der Regeln, sondern sitzen dem Bild »bis ins Unendliche gelegter Gleise« (PU 218) auf. Es könnte nur mehr eine von Anfang an determinierte Abfolge konstatiert, nicht jedoch von einem Folgen der Regeln gesprochen werden, das immer auch scheitern kann, den Regeln konform oder auch unangemessen zu handeln. Wenn alles vorab entschieden ist, haben Fragen nach der Korrektheit oder Inkorrektheit folglich keinen Ort mehr. Wenn die Zukunft nicht mehr im Kommen ist, sondern diese Offenheit als bereits bestimmte gefasst wird, fällt damit in eins die Möglichkeit weg, diesem oder jenem folgen oder nicht folgen zu können. Im Kontext solch einer prästabilierten Determination macht nicht nur die Frage nach der Richtigkeit keinen Sinn mehr, sondern auch ethische Erörterungen respektive Fragen nach der Verantwortung verlieren in einer zeitlosen Gegenwart jede Berechtigung. 38 38
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Eindringlich macht Khurana auf diese Verschränkung von ethischen Fragestellungen
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Nun möchte sich Wittgenstein keinen essentialistischen Hypostasierungen hingeben, sondern auf die offenen Gebrauchsmöglichkeiten der Sprache sein Augenmerk legen. Bei einem genauen Hinsehen wird sich zeigen, dass sich in diversen Praktiken der Sprachhandlungen keine »überstarre Verbindung« (PU 197) nach dem Vorbild einer »ideal starren Maschine« (PU 194) findet. Prägnant fasst Wittgenstein das, was Regeln eines Spiels charakterisieren, ex negativo zusammen: »Die Regel ist nicht so wie der Mörtel zwischen zwei Ziegeln.« (WWK 155) In diesem Spielraum, der stets mehr oder weniger streng an Normativität rückgebunden bleibt, kann sich das Spiel, ja überhaupt das, was als Witz des Spiels bezeichnet wird, entfalten. Es leuchtet ja noch ein, dass ein Fußball- oder Schachspiel, obschon an einem Regelwerk orientiert, nicht durchreglementiert ist, sondern den von Wittgenstein beschriebenen Freiraum bereithält, in dem ein Spiel aufgehen kann. Ebenso wenig wie festgelegt wird, mit welcher Figur das Schachspiel eröffnet werden soll, genauso wenig ist ausgemacht, wohin beim Fußballspiel der Pass zu lancieren ist oder welcher Mitspieler als erster den Ball erhalten soll. Der Witz des Spiels liegt ja gerade darin, dass stets ein Pool an Möglichkeiten zur Verfügung steht: »Das Spiel, möchte man sagen, hat nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz.« (PU 564). Dieses Entfaltenkönnen ist gerade das Faszinierende, das sich jeder ein-eindeutigen Voraussage und restriktiven Kontrolle entzieht. Dieses offene Regelverständnis, das den Witz des Spiels nicht ausschließt, sondern gerade seine Beweglichkeit berücksichtigt und ihm eine Unvorausberechenbarkeit einräumt, ist offensichtlich bei den diversen Spielen am Werk. Doch wie schaut es bei mathematischen oder logischen Regeln aus? Findet sich dort auch ein Freiraum vor oder sind dort nicht sämtliche Folgerungen einer Regel von vornherein in einer eindeutigen Weise bestimmt? Wird man dort nicht von der Regel selbst gezwungen, sie in einer einzigen Weise weiterzuführen? Wittgenstein lässt sich hier offensichtlich auf die Argumentation seiner Gegner ein, die mit einem Zeitverständnis aufmerksam, das einer uneinholbaren Offenheit ausgesetzt bleibt: »Wenn ein ideeller Regelausdruck die Gegenwart aller möglichen richtigen Anwendungen ist, wenn jede Anwendung quasi-kausal schon determiniert ist, so ist ein einzelner Vollzug allein der Effekt dieser Prädetermination, aber nicht ein verantwortlicher, normativ situierter und normativ Stellung nehmender Vollzug.« (Khurana 2007, 114) Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass sich Wittgenstein kaum um diese (tiefen-)ethische Fragestellung kümmert. A
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Regelausdruck und ihre Anwendung trennen wollen, um zu zeigen, dass der Ausdruck, nicht jedoch die Anwendung die entscheidende Rolle spielt. Um diese Herangehensweise Schritt für Schritt zu destruieren, gibt Wittgenstein folgendes Beispiel. Wie wird wohl diese Reihe fortgesetzt werden? »1 1
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… …« (WWK 153)
Liegt es nicht auf der Hand, wer unter 6 nicht 36 schreibt, handelt nicht gemäß der Regel? Wittgenstein gibt darauf eine überraschende Antwort, dass immer angenommen wird, die Befolgung der Regel sei allgemein und notwendig, »[a]ber das ist ein Irrtum. Die Buchstaben sind nämlich gar nicht der Ausdruck der Allgemeinheit […], sondern das Wesentliche an ihr, die Allgemeinheit, ist unausdrückbar. Die Allgemeinheit zeigt sich in der Anwendung.« (WWK 154) Aus dem Regelausdruck, etwa y = x2 , folgt laut Wittgenstein nicht aus Notwendigkeit eine allgemeine Verwendung der Regel des Quadrierens. Es wäre ja durchaus auch denkbar, dass man bei der oben angeführten Reihe einer anderen Regel folgt, z. B. unter jede ungerade Zahl wieder eine solche und unter jede gerade Zahl eine gerade zu setzen. 39 Wittgenstein destruiert folglich die Auffassung, dass jedes Regelfolgen notwendigerweise aus einem Regelausdruck abzuleiten ist: »Was ich geschrieben habe, stimmt mit der allgemeinen Regel des Quadrierens überein; aber offensichtlich stimmt es auch mit jeder beliebigen Anzahl von andern Regeln überein; und es stimmt mit keiner von diesen mehr oder weniger überein als mit irgendeiner anderen.« (BB 31) Eine unumstößliche Verbindung zwischen Regelausdruck und Regelanwendung lässt sich somit für Wittgenstein nicht postulieren. Die Regel vergleicht er daher mit einem Wegweiser: »Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe?« (PU 85) Wie ist diese Frage zu verstehen? Mit Nachdruck weist Wittgenstein darauf hin, dass nicht ein schlecht beschilderter Weg gemeint ist, denn es könnte sich sogar um eine »geschlossene Kette von Wegweisern« (PU 85) handeln, sodass im NorMajetschak führt eine weitere Deutung an: Es würde nämlich auch mit der Regel übereinstimmen, »in wiederholten Fünferschritten zur ersten Zahl jeweils 0, zur zweiten 2, zur dritten 6, zur vierten 12 und zur fünften stets 20 zu addieren.« (Majetschak 2000, 318)
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malfall kein Zweifel gehegt wird, in welche Richtung man gehen muss. Aber hierfür muss ein Wegweiser zunächst einmal als Richtungszeiger verstanden werden. Normalerweise wird auch niemand zweifeln, wohin zu gehen ist, wenn er nach links zeigt. Aber das Zeichen selbst nötigt uns nicht, den Weg in einer bestimmten Weise fortzusetzen. Es legt nicht fest, ob ich tatsächlich nach links abbiegen muss, er bestimmt auch nicht wie genau der Straße zu folgen ist, ob ich auf dieser oder jener Straßenseite spazieren darf oder ob ich auch ein bisschen abseits gehen kann. Selbst der präziseste Richtungszeiger zwingt mich nicht, dem spitzen und nicht dem stumpfen Ende zu folgen. Es ist durchaus möglich, wie bei der ostensiven Definition, den Wegweiser so oder so zu deuten. Eine Wahlmöglichkeit würde hier gemeinhin nicht angenommen werden, da wir so abgerichtet sind. Zwänge gehen davon jedoch nicht aus und so wendet Wittgenstein ein: »Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen 40 Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht.« (PU 85) Es ist somit zu keinem Zeitpunkt und an keiner Stelle unmittelbar offensichtlich, wie die Anwendung der Regel zu erfolgen habe. Der Wegweiser fungiert nur vermeintlich als selbsterklärendes Zeichen und doch folgen wir ihm gemeinhin in einer fraglosen Weise. (2) Wittgenstein beharrt darauf, dass Regelausdrücke nicht die zwingende Eindeutigkeit der Regelverwendung garantieren können. Könnte eine eindeutige Sicherstellung der Regelverwendung – und dieser Option eines Interpretationismus geht Wittgenstein ebenso nach – durch eine weitere Regel sichergestellt werden? »Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt – und so fort.« (PU 84) Doch der Versuch einer solchen Regelanwendungsregel würde unvermeidlich in einen unendlichen Regress führen: »Ich brauche eine neue Regel, die mir sagt, wie ich sie anzuwenden habe u. s. f.« (WWK 154) Das Auseinanderklaffen zwischen praktischem Vollzug des Regelfolgens und einer theoretischen Reflexion des Regeldeutens löst somit das Pro40 Stern hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier ein Redaktionsfehler in der Druckfassung der Philosophischen Untersuchungen besteht (vgl. Stern 1996, 470). Seiner Auffassung nach müsste hier »einen Zweifel« gemäß den beiden Typoskripten (er bezieht sich wohl auf Ts 227 a und b) stehen. Schulte vermerkt jedoch in PUK Folgendes zu diesem philologischen Problem: »UrTS und PU keinen Zweifel. In TS 227a korrigiert. In TS 227b Korrektur HsFr [durch eine fremde Handschrift, M. F.] rückgängig gemacht, also keinen Zweifel.« (PUK 798)
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blem nicht, sondern führt in eine weitere Sackgasse. Wittgenstein möchte folglich einer Regeldeutung, die stets aufs Neue zu entscheiden hat und so oder so ausfallen könnte, entgehen: »Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen.« (PU 198) Der Fehler beruht seiner Auffassung nach darauf, »daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen« (PU 201). Die Befriedigung würde nur einen Moment lang anhalten, bevor dann die nächste Regelanwendungsregel erforderlich wäre. Wenn immer wieder ab ovo ausgelegt werden muss, droht aber nicht nur ein unendlicher Regress, sondern dieses dezisionistische Interpretationsverfahren führt geradewegs in eine Beliebigkeit, da mittels der Deutung »jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung« (PU 201) gebracht werden kann und damit die Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen hinfällig wird. Hindert uns etwas, der Regel »heute die, morgen jene Extension [zu] geben« (BGM 328), wenn es doch weder Folgerichtigkeit noch ihr Gegenteil gibt? Dieser paradoxalen Situation versucht Wittgenstein jedoch zu entkommen. 41 Wittgenstein sucht nach einer Rückbindung an ein Regelfolgen, das »nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert was wir ›der Regel folgen‹, und was wir ›ihr entgegenhandeln‹ nennen« (PU 201). Wie ist dieses anhaltende Regelfolgen, das von Fall zu Fall sich in einer Konsistenz bewährt, zu verstehen, ohne im nächsten Augenblick von einer weiteren Interpretation in Frage gestellt werden zu können? Beide sich zunächst darbietenden Alternativen, dem Regelfolgen beizukommen, müssen daher zurückgewiesen werden: Weder kann es als vorgegebener Mechanismus im Sinne einer ewigen Regelidee noch Khurana insistiert in diesem Zusammenhang, dass weder die erste Option eines essentiellen Kausalismus, den er als Platonismus bezeichnet, noch die zweite Variante eines Dezisionismus eine Lösung des Problems herbeiführen können, da beide Ansätze eine einseitige Fokussierung der Präsenz in Kauf nehmen und daher gerade nicht das Regelfolgen als Wiederholungspraxis in den Blick zu nehmen vermögen: »Die platonistische Auffassung versucht zwar ein über den Vollzug hinausgehendes Kriterium anzugeben, macht Normativität aber insofern unverständlich, wie der einzelne Vollzug nicht mehr die verantwortliche Anwendung der Regel, sondern ihr quasikausaler Effekt ist. Der Interpretationismus nimmt den einzelnen Vollzug in die Verantwortung und behandelt ihn als normativen Vollzug einer Regel, er kann aber ihre Bindekraft über den Vollzug hinaus nicht erklären, da jeder Vollzug eine isolierte Entscheidung impliziert.« (Khurana 2007, 115)
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als nachträglicher Deutungsvorgang einer bloß punktuellen Entscheidung verstanden werden. Um diese beiden Spielarten einer Metaphysik der Präsenz zu vermeiden, verweist Wittgenstein darauf, dass wir »durch Abrichtung« (PU 86) und »durch Erziehung« (PU 189) darauf trainiert werden, die Regel in Hinkunft richtig anzuwenden, sodass ihr blind gefolgt wird. Auf diese selbstverständlichen Praktiken des Regelfolgens insistiert Wittgenstein. Die Befolgung von Regeln, etwa einem Wegweiser ungefragt in die richtige Richtung zu folgen, wurde durch den wiederholten Gebrauch angelernt: »[I]ch bin zu einem bestimmten Reagieren abgerichtet worden, so reagiere ich nun.« (PU 198) Wittgenstein insistiert folglich auf einer fraglosen Selbstverständlichkeit im Regelfolgen, das durch das »intrinsische Verhältnis von Norm und Vollzug gewährt wird« (Khurana 2007, 120). Es gibt hier nichts mehr zu erklären, das auf einen festen Grund im Sinne eines logischen Muss zurückgeführt werden könnte. 42 Eine hartnäckige Gegenstimme ist von dieser beinahe »unphilosophischen« Geste alles andere als zufrieden gestellt und wendet dagegen ein: »Aber damit hast du nur einen kausalen Zusammenhang angegeben, nur erklärt, wie es dazu kam, daß wir uns jetzt nach dem Wegweiser richten; nicht, worin dieses Dem-Zeichen-Folgen eigentlich besteht.« (PU 198) Ihr wird Folgendes geantwortet: »Nein; ich habe auch noch angedeutet, daß sich einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit, gibt.« (PU 198) Der Verweis auf ein praktisches Vermögen, in das man abgerichtet wurde und das sich ständig in der alltäglichen Verwendung sowie in gemeinsam-sozialen Praktiken zu bewähren hat, reicht aus: »Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).« (PU 199) Eine allgemein verbindliche Legitimation und eine letztgültige Fundierung einer Regel – über eine durch Abrichtung erreichte prak42 So zeigt Arnswald auf, dass es sich bei Wittgenstein selbst bei der Mathematik um ein »Netz von Normen« (BGM 436) und nicht um überzeitiche Idealitäten handelt: »[D]ie mathematischen Regeln stammen nicht von einer transzendentalen Erkenntnis ab, sondern haben ihren Ursprung in der Akzeptanz und ihrem Gebrauch durch eine soziale Übereinkunft in Form ihrer Verwendung.« (Arnswald 2003, 292 f.) Arnswald zieht aus der Rückgebundenheit an eine soziale Praxis den Schluss, dass »Wittgensteins Entwurf sowohl die transzendentalen Merkwürdigkeiten des Platonismus als auch die Mängel des Empirismus« (Arnswald 2003, 293) vermeidet. Vgl. hierfür auch die Ausführungen vom Ramharter / Weiberg (2006, 41–58).
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tische Fertigkeit hinausgehend – ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig. 43 Hier legt Wittgenstein, der vor Hypostasierungen der Sprache und vor nicht ausweisbaren Rechtfertigungsversuchen immer warnt, einen »Halt« (BPP II, 402) ein. Das Ende der Begründungskette kann seiner Auffassung nach nicht wieder in einem Gesetz der Reihe beruhen: »Er muß ohne Grund so fortsetzen. Aber nicht, weil man ihm den Grund noch nicht begreiflich machen kann, sondern weil es – in diesem System keinen Grund gibt. (›Die Kette der Gründe hat ein Ende.‹)« (BPP II, 404) Die Legitimationsversuche der Regelanwendung verlaufen sich im Niemandsland und führen zu keinem festen Fundament. Obwohl Wittgenstein ein intuitives Erfassen der Notwendigkeit einer Regel ablehnt und auf die Anerkenntnis ihrer Unbegründbarkeit pocht, verdammt uns diese »Grundlosigkeit« nicht zu einer Unfähigkeit zu handeln. 44 Im Gegenteil: die Rückgebundenheit an Gepflogenheiten, in die man abgerichtet wurde, erlauben es einem so zu handeln, wie wir es selbstverständlich tun: dem Wegweiser nachzugehen, die Zahlenreihe mittels der Quadrierung fortzusetzen etc.: »[D]ie Gründe werden mir bald ausgehen. Und ich werde dann, ohne Gründe, handeln.« (PU 211) Jedes Subjekt einer Sprachgemeinschaft ist in eine bestimmte Lebensform oder in ein bestimmtes Weltbild so abgerichtet worden, in einer dieser – etwa nach unserem Dezimalsystem – und nicht in einer anderen Weise zu zählen oder die Farben nach bestimmten Hinsichten zu differenzieren und sie in spezifischen Kontexten (etwa die rote Ampel im Straßenverkehr) unmittelbar zu verstehen. Nicht das Rot an sich zwingt mich, mein Auto anzuhalten, ich kann eine Ampel auch übersehen, und ich muss auch nicht jedes Mal überlegen, ob ich nun fahren darf oder anzuhalten haben, sondern es ist in einer selbstverständlichen Weise in meine Handlungen übergegangen. Um eine geMit der Betonung des intrinischen Verhältnisses von Normativität und Vollzug, das nicht weiter begründbar ist, aber auch nicht sein muss, unterscheidet sich die hier forcierte Lesart von einer »skeptischen Lösung«, wie sie prominent Kripke vertritt (vgl. Kripke 1987, 121), indem er einen objektiven Status der Regeln ausmachen möchte, hierbei aber keine Anhaltspunkte bei Wittgenstein findet. 44 Treffend beschreibt Rentsch den Umstand, dass beim Regelfolgen keine unabänderliche Notwendigkeit vorherrscht, sondern dass das Handeln – rückgebunden an unsere Situiertheit und Sozialisierung – sich stets in einer Offenheit bewegt, die von den Teilnehmenden selbst vollzogen werden muss: »Kein Regel-Essentialismus nimmt uns gleichsam die Arbeit an unserer Lebenspraxis und unserem Selbstverständnis ab – erst recht kein Formalismus oder Deduktivismus.« (Rentsch 2003, 44) 43
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nauere Betrachtung dieser (wieder-)gewonnen Fraglosigkeit in unserem regelgeleiteten Verhalten geht es Wittgenstein: Worauf beruft man sich, wenn jemand in der oben angeführten Reihe unter die Zahl sechs eine andere Zahl als 36, z. B. 1024, schreibt, aber felsenfest davon überzeugt ist, mit der Regel des Quadrierens im Einklang zu sein? Wie zuvor expliziert, gibt es keine objektive Notwendigkeit a priori, die zu einer korrekten Regelauslegung zwingt. Aber auch die sich anbietende Alternative, es als subjektive Deutung a posteriori zu verstehen, führt bei dem Versuch einer theoretischen Legitimierung zu einem Regress von Regelanwendungsregeln. Denn die Berufung auf eine private Gewissheit ist, wie die Ablehnung des Privatsprachenarguments zeigt, nicht zulässig. Sie bringt uns aber auch nicht in die Situation des Regelparadoxes, worin eine Beliebigkeit des Regelfolgens statthat. Denn hier wäre kein Kriterium gegeben, zwischen einem richtigen und falschen Regelfolgen zu unterscheiden. Wir befänden uns folglich im Dilemma des Privatsprachlers. Doch der »Regel zu folgen glauben« ist nicht einfachhin gleichzusetzen mit »der Regel zu folgen« (PU 202). Aus ihm ist nur durch das blinde Befolgen einer Regel in der konkreten und je schon mit anderen geteilten Praxis zu entkommen. Diese Handlungen sind somit immer im Kontext einer Lebensform zu sehen, aus der sich durchaus »Kriterien« dafür ergeben, ob sich jemand im Einklang mit den Regeln befindet oder nicht. Die Rückgebundenheit an eine soziale Praxis fungiert somit als – wenn auch nie als absolut zu setzende – Richtschnur: »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (PU 202) Selbst die genaueste Angabe des Weges oder des Ausdrucks einer Regel garantiert nicht mit einer inneren Notwendigkeit ein fehlerloses Folgen. Der »Zwang«, der von der Regel ausgeht, liegt nicht in ihr oder in einem Deutungsvermögen des Einzelnen, sondern kommt aus einer bestimmten Praxis, die erlernt wurde: »Wir können etwa davon ausgehen, daß die Menschen durch Erziehung (Abrichtung) dahin gebracht werden, die Formel y = x2 so zu verwenden, daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleiche Zahl für y herausrechnen.« (PU 189) Praktiken freilich, die in ihrer sozialen und geschichtlichen Dimension eine Kontingenz aufweisen; diese Ordnungen könnten auch anders sein, sodass eine Pluralität von Ordnungen immer möglich sein wird; daher kann keine von ihnen für sich einen absoluten Charakter im Sinne einer kosmologischen Gesamtordnung beanspruchen. Dennoch sind sie genauso wenig beliebig, da in den jeweiligen Ordnungen diese Praktiken eine über die subjektive Willkür A
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hinausgehende soziale Konsistenz und Permanenz samt ihrer sie strukturierenden Geschichtlichkeit aufweisen. 45 Das Regelfolgen ist somit immer schon ein sozialer und prinzipiell wiederholbarer Akt der Abrichtung. Aus diesem Grund ist für Wittgenstein die Vorstellung widersinnig, dass nur ein Mensch und auch nicht ein einziges Mal einer Regel folgt: »Es kann nicht ein einziges Mal ein Mensch einer Regel gefolgt sein.« (PU 199) Das Regelfolgen vollzieht sich somit nicht nur ausschließlich in einer Rückbindung an eine soziale Praxis, sondern es muss sich darüber hinaus in einer praktischen Fähigkeit manifestieren, den Regeln tatsächlich immer wieder zu folgen bzw. folgen zu können. Dieses wiederholbare Folgenkönnen beschränkt sich jedoch nicht auf einen einmaligen Akt, sondern muss sich im ständigen Gebrauch bewähren. Einem Kind, das nur einmal eine Multiplikation richtig gelöst hat, würde nicht zugestanden werden, diese Rechenart zu beherrschen, sondern es muss in der Lage sein, die Rechenaufgaben immer wieder – in diversen Zusammenhängen und auch mit verschiedenen Zahlen – zu bewältigen. Aus dieser Praxis heraus folgen wir Regelausdrücken, wie etwa dem Wegweiser, blind und wählen nicht – im Sinne einer »theoretischen« Interpretation – zwischen verschiedenen Möglichkeiten (vgl. PU 219). Hier wird nicht mehr gedeutet, wir folgen ihm einfach in einer Selbstverständlichkeit, in die wir abgerichtet worden sind. Durch Abrichtung, Erziehung, Gepflogenheiten, Institutionen (wohl im wörtlichen lateinischen Sinn von »Unterweisungen« zu verstehen) – Wittgenstein nennt hier eine Reihe dieser Begriffe, die sich der oben angeführten Dichotomie entwinden – erhalten wir eine Übereinstimmung mit den Regeln: »Nun, wie kommt es, daß wir übereinstimmend Von phänomenologischer Seite ist Waldenfels diesem kontingenten Verständnis von Ordnung in umfassender Weise nachgegangen, indem er sowohl transzendentale als auch arbiträre Ordnungsmuster als unhaltbar zurückweist und an Einsichten von Wittgenstein (bzw. Foucault) weiterführend anknüpft: »Unsere Frage ›Warum tritt vielmehr dieses auf und nicht vielmehr jenes?‹ findet hier zumindest keine Antwort, die der Frage ein Ende machen würde. Gäbe es keine Gründe für dieses Auftreten, so bliebe nur der Hinweis auf ein zufälliges Geschehen, das dann auf höherer Ebene als willkürliche Setzung wiederkehrt. Diese Antwort widerspricht nicht nur unserer Erfahrung, die uns zeigt, daß uns keineswegs Beliebiges auffällt und einfällt, sie wäre ebenso anfechtbar wie die Gegenantwort, die einen zureichenden Grund verspricht. Was uns hier und immer wieder begegnet sind Gründe, die den Spielraum der Beliebigkeit einschränken, ohne den Abgrund zu schließen, der die Entstehungen von Ordnungen provoziert.« (Waldenfels 1989, 60)
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zählen? ›Wir sind eben so abgerichtet‹, kann man sagen ›und die Übereinstimmung, die so erzeugt wird, setzt sich durch die Beweise fort.‹« (BGM 239) Diese Gepflogenheiten sind als solche nicht noch einmal begründbar, denn die Begründungsart oder Beweismethode ist wiederum genauso an diese überkommenen Gewohnheiten rückgebunden. Diese Übereinstimmung mit Regeln in Form von Sprachspielen, ja in weiterer Folge die Übereinstimmung mit Lebensformen und Weltbildern, bildet für Wittgenstein den uneinholbaren und immer bereits vorausgesetzten Ausgangspunkt sämtlicher menschlicher Bezüge. 46 In ihr manifestiert sich auf je verschiedenartige Weise das, was er eine Sprachgemeinschaft nennt. Diese von Wittgenstein anvisierte Art der Übereinstimmung ist, wie er in der Diskussion rund um das Regelfolgen gezeigt hat, weder einhol- noch legitimierbar. Die Übereinstimmung – die nicht vom einzelnen Sprecher bewerkstelligt werden kann, sondern auf die er stets angewiesen bleibt und nur nachträglich antworten kann – ist keine abstrakte oder solipsistische, sondern erhält ihre Ausprägung durch den Vollzug in sozialen Praktiken. Eine Lebensform ist nach Wittgenstein somit nicht auf ein Individuum begrenzt, sondern artikuliert sich als »die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft« (Schulte 1989, 146). Die Übereinstimmung mit Mitmenschen 46 Eigenartigerweise widmet Glock in seinem Wittgenstein-Lexikon (Glock 2000) dem v. a. in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik wichtigen Begriff »Übereinstimmung« keinen Eintrag. Auch bei Puhl (1998), der in seinem ausgezeichneten Artikel über das Regelfolgen der gemeinsamen Handlungsweise ein eigenes Kapitel zugesteht, findet sich keine nähere Explikation dieser vorgängigen Übereinstimmung. Stattdessen wird in einem Großteil der Wittgenstein-Literatur seit Mitte/Ende der 1980er Jahre diskutiert, ob das Regelfolgen nun »sozial« interpretiert werden soll oder nicht. Die beiden Kommentatoren Baker und Hacker treten dafür ein, dass das Regelfolgen nicht eine Übereinstimmung einer Sprachgemeinschaft voraussetzt: »[T]here is nothing conceptually awry about solitary rule-followers or unshared rules.« (Baker / Hacker 1985 243) Und in Hinblick auf Sprache schließen sie daraus Folgendes: »Wittgenstein argued that the solitariness or isolation of an individual is irrelevant to the question of his speaking a language.« (Baker / Hacker 1985, 175). Bezeichnenderweise wird Übereinstimmung von ihnen als »community agreement« (Baker / Hacker 1985, 243) wohl im Sinne einer nachträglichen Übereinkunft verstanden. Dieser Interpretation widerspricht Malcolm – völlig zu Recht – mit aller Vehemenz: »It seems clear to me, however, that Wittgenstein is saying that the concept of a rule is ›essentially social‹ – in the sense that it can have its roots only in a setting where there is a people, with common life and a common language.« (Malcolm 1995, 165) Leider wird in dieser Debatte nicht mehr erörtert, was denn nun unter »sozial« genauerhin zu verstehen ist; die geschichtliche Dimension wird in dieser Auseinandersetzung gänzlich außen vor gelassen.
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in diversen Sprachspielen, das selbstverständliche Teilen bestimmter Begriffe innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist folglich das, was Wittgenstein eine Lebensform nennt. In ihr spiegeln sich eine gemeinsame Erfahrungsgeschichte eines Denkstils und die ihn begleitenden Verhaltensweisen. Dieses je schon in einer Lebensform übereingekommen sein, zeigt sich in der Sprache: »[I]n der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. // Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« (PU 241 f.) 47 Menschsein heißt nicht nur eine Sprache haben, sondern in sie und ihre implizierte Lebensform immer schon eingelassen sein. Sprache als Mitteilung wird hier als coummunicatio und participatio evident. Dabei ist die je eigene Sprache aber immer auch schon eine geteilte, in welcher das jeweilige Subjekt mit anderen dieser Sprechergemeinschaft übereinstimmt. Diese Übereinstimmung ist kein rein aktiver oder bewusster Prozess der Aneignung, als ob wir uns nach einer eingängigen Überlegung dafür entschlossen hätten. Es geht ihr keine Meinungsbildung voraus, sondern wir sind, wie Wittgenstein betont, aufgrund von Urteilen, die bereits vor unserer Entscheidungsfähigkeit gefällt wurden, in ein Ganzes von Übereinstimmungen eingebettet: »Wir lernen die Praxis des empirischen Urteilens nicht, indem wir Regeln lernen; es werden uns Urteile beigebracht, und ihr Zusammenhang mit anderen Urteilen. Ein Ganzes von Urteilen wird uns plausibel gemacht.« (ÜG 140) Wir stimmen nicht nur mit anderen Menschen in Meinungen oder Definitionen überein, sondern weit fundamentaler in einer Lebensform und den darin implizierten Urteilen. Eine nachträgliche Übereinkunft der Meinungen, die erst gestiftet werden muss, würde das von Wittgenstein hier ins Auge Gefasste verfehlen, da eine so gedachte Konvention den Hintergrund einer sprachlich verfassten Lebensform einer Sprachgemeinschaft immer wieder voraussetzt. 48 Von dieser Seite her wäre das aristotelische kata syntheken (De int. 17 a) nochmals zu beleuchten. Neben der frappanten Affinität der beiden Ansätze besteht die gravierende Differenz wohl darin, dass es für Wittgenstein nicht nur eine Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Menschen gibt (gleichsam von der einen menschlichen Natur bedingt), sondern der Vielfalt der Lebensformen und Weltbilder gemäß, unendlich viele. 48 Waldenfels macht mit Nachdruck deutlich, dass eine Lebensform und ihre regelgeleiteten Praktiken nicht an sich wahr oder falsch sein können, sondern den unhinter47
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Regelfolgen als Übereinstimmung in einer Sprachgemeinschaft
Wittgenstein geht es folglich nicht darum, einen zeitlichen Beginn oder den ontischen Grund dieser Übereinkunft zu eruieren. Vielmehr betont er, dass wir im sprachspielrelativen Gebrauch der Sprache in einer Lebensform immer schon übereingekommen sind. Diese Übereinstimmung unterscheidet sich grundlegend von jeder konsenstheoretischen Auffassung. Sie impliziert nämlich das, »was überhaupt als konsensusfähig gelten kann« (Majetschak 2000, 370). 49 Es geht nicht um den historischen Ursprung der Sprache im Sinne eines ersten bedeutungsstiftenden Akts, so wie es von einer radikalen Konventionsthese propagiert wurde, sondern um ihren immer schon lebensweltlich gegebenen Gebrauch, über den wir uns nicht einigen können. Die Sprache ist kein Machwerk der Übereinkunft einzelner Subjekte. Auch wenn wir über dies oder jenes inhaltlich nicht übereinstimmen und unsere Meinungen variieren sollten, können wir das nur vor dem Hintergrund des vorgelagerten und nicht hintergehbaren bzw. nicht vergegenständlichbaren Übereingekommenseins in einer Lebensform tun, das den Handlungsspielraum des Einzelnen immer schon überstiegen haben wird; einigen oder streiten können wir uns über diesen oder jenen Sachverhalt, doch dies passiert immer schon innerhalb der sprachlichen Strukturen, in denen wir uns miteinander verständigen und die somit stets mit- und vorausgesetzt werden müssen. 50 So können Menschen – um ein holzschnittartig entworfenes Beispiel anzuführen – darüber diskutieren, ob ein Auto nun grün oder fragbaren Rahmen abgeben, innerhalb dessen Fragestellungen dieser Art allererst erörtert werden können: »Lebensformen sind nicht wahr oder falsch, gut oder schlecht, sondern ähnlich der Matrix der Sprache, die wahre und falsche Sätze, legitime und illegitime Forderungen zuläßt, stellen sie Bedingungen für Wahrheit und Richtigkeit bereit, ohne selbst wahr und richtig zu sein.« (Waldenfels 1985, 89 f.) 49 Diese Art der Übereinstimmung versucht Kober noch weiter zu differenzieren, indem er von einer Übereinstimmung a) im Handeln, b) in den Meinungen, c) einer Handlung mit der Regel und d) zwischen Wort und Wirklichkeit spricht (vgl. Kober 1993, 78). 50 In diesem Sinne spricht auch Edwards davon, dass die Übereinstimmung weder eine selbstgegebene noch eine in willentlicher Absicht hergestellte ist: »It is agreement understood as a brute congruence, not a deliberate identity of affirmation.« (Edwards 1990, 230) Diese vor jeder Konvention erfolgte Übereinstimmung verunmöglicht es auch seiner Auffassung nach den Hintergrund eines Weltbildes einzuholen oder noch einmal zu vergegenständlichen: »A background, qua background, cannot become a figure; and that is what ›the scene for our language-game‹, our ›agreement in form of life‹, must be for Wittgenstein: the background to all thinking, including this thinking about the background, and any of its extensions.« (Edwards 1990, 231) A
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blau war. Aber damit sie das können, müssen sie schon wissen, was ein Auto, was grün und blau ist, ja auch wie man Aussagen bestreitet und eigene Argumente anführt usw. Es müssen also mannigfache Voraussetzungen in Anspruch genommen werden, die selbst weder hergestellt noch auf einen ersten Ausgangspunkt zurückgeführt werden können. Wir befinden uns immer schon in einem Netz von Übereinstimmungen und nicht bloß in Kongruenz bestimmter Anschauungen oder einzelner Sätze: »Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.« (ÜG 142) Wir werden immer wieder rückverwiesen auf das gesamte Bezugssystem, in das wir abgerichtet wurden und dessen Abläufe wir beherrschen, wenn wir über einzelne Elemente debattieren oder uns einigen. Deswegen kann Wittgenstein auch sagen: »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.« (PU 199) Diese Übereinstimmung zeigt sich bei uns Menschen in dem, was wir Sprache nennen. Ohne diese fundamentale Übereinstimmung wäre es unmöglich, von einer Sprache, ja von Zusammengehörigkeit einer Sprachgemeinschaft in einem Weltbild zu sprechen: »Bestünde keine Übereinstimmung in dem, was wir ›rot‹ nennen, etc., etc., so würde die Sprache aufhören.« (BGM 196) So sind nicht nur Regel und Übereinstimmung »miteinander verwandt« (BGM 344), sondern auch Übereinstimmung, Handeln und Sprache (vgl. BGM 342). Es wurde nachzuzeichnen versucht, inwiefern nach Wittgenstein die Lebensform, das Weltbild, die Sprache als ein Hinzunehmendes (vgl. PU p. 572) aufgefasst werden muss, in das wir immer schon durch Abrichtung eingeschrieben worden sind. Die Abrichtung darf hier aber nicht als eine monoton-mechanische Konditionierung verstanden werden, sondern als das, worin sich eine vielfältige und kreative Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis vollziehen kann. Durch diese »Erziehung« sind wir nicht im Vorhinein auf determinierte Anwendungsfälle eingeschränkt, sondern sie bildet die Basis dafür, in mannigfachen Möglichkeiten davon Gebrauch zu machen. In dem in ihr gegebenen Spielraum kann sich immer auch Unerwartetes und Neues entfalten. Gerade um diese unauflösbare Spannung zwischen einer Ordnung, in die man abgerichtet wurde, und dem selbständigen Vollzug im Weiterspielen dieser Regeln hin in ein Offenes geht es Wittgenstein. 51 51
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So ist nach Schneider das Regelfolgen nach einer bestimmten Grammatik nicht mit
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Regelfolgen als Übereinstimmung in einer Sprachgemeinschaft
Diese Spannung klingt in wenigen Bemerkungen Wittgensteins – dafür aber umso eindringlicher – an. So schreibt er: »Unser Sprachspiel kommt freilich nur zustande, wenn eine gewisse Übereinstimmung herrscht, aber der Begriff der Übereinstimmung tritt ins Sprachspiel nicht ein. Wäre die Übereinstimmung vollkommen, so könnte ihr Begriff ganz unbekannt sein.« (Z 430) Damit ein Sprachspiel überhaupt gespielt werden kann, ist ein Übereingekommensein notwendig, das, wie Wittgenstein mit Nachdruck festhält, nicht selbst im Sprachspiel eingeholt und definiert werden kann. Es bildet somit die abgründige Voraussetzung für sein Gelingen. Doch – und hierin liegt der entscheidende Fingerzeig Wittgensteins – ist diese Übereinstimmung nicht vollendet und abgeschlossen. Es bleibt hier etwas – und zwar prinzipiell – offen. Diese nicht schließbare Lücke, in der sowohl das Misslingen als auch Gelingen sprachlicher Vollzüge ihren Ort haben, ist ebenso konstitutiv für die Sprachlichkeit wie die vorursprüngliche Übereinstimmung, ja das Übereingekommensein muss als frakturiertes bzw. prekäres verstanden werden, das permanent unterwegs ist. Die Idee eines absoluten Konsensus in einer vollkommenen Sprache jedoch wäre auch ihr Ende, denn die Bedingung der Möglichkeit von Sprache – die immer schon gestiftete Übereinstimmung – ist zugleich auch die Bedingung ihrer Unmöglichkeit als vollkommene Kongruenz. Wäre alles gesagt oder auch nur sagbar, wäre nichts mehr zu sagen. Dann käme in der Sprache nichts mehr zum Austrag und alle Spiele wären bereits gespielt. Zuvor wurde auch betont, dass die grammatisch-regulativen Sätze eines Weltbildes weder einholbar wären noch ein in sich gesichertes Fundament abgeben. Sie sind zudem keine starren und erweiterbaren Anordnungen, sondern sie können – wie Wittgenstein sehr schön mit dem Bild des Flusses zeigt (vgl. ÜG 96–99) – immer wieder in Bewegung geraten. 52 Das Rückgebundensein an eine Sprache oder ein Weltbild besagt dann, dass wir uns in einem permanenten, nicht abschließbaren Prozess befinden. Veränderungen werden gerade auch durch die zahllosen Sprachspiele in Form der unterschiedlichsten Kommunikaeiner vorgegebenen Struktur gleichzusetzen, denn sie »enthält als eine wesentliche Teilfähigkeit die Kompetenz, sich im ›Offenen‹ zurechtzufinden« (Schneider 1999b, 19). 52 Im Unterschied zu Schulte würde ich gerade nicht behaupten, dass bei Modifikationen stets der »Boden des Weltbildes davon unberührt bleibt« (Schulte 1991, 110). Auch seine Grammatik kann sich, wenn auch nicht permanent und total, in den Grundfesten ändern. A
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tions- oder Interaktionsprozesse, die wir täglich spielen, herbeigeführt. Die Gemeinsamkeit des Weltbildes oder der Lebensform ist damit in der Sprache unablässig unterwegs. Dieses »Wir« einer Sprachgemeinschaft ist somit kein durchgehendes oder uniformes Kollektiv, sondern trägt die Züge der Unabschließbarkeit und Differenz in sich. In ihr waltet nicht nur eine einfache Kongruenz, sondern auch die Möglichkeit der Auseinandersetzung und des Scheiterns. Differenzen treten ja nicht nur in Bezug zu anderen Lebensformen auf, sondern zeigen sich innerhalb einer Sozialität. Vielleicht hat Wittgenstein mitunter die Rückgebundenheit an eine gemeinsame Lebensform, die hinzunehmen ist, und ihre – im Verhältnis zu anderen Weltbildern – relative Bedingtheit stärker akzentuiert als die sich in einer Sprachgemeinschaft manifestierenden und sie konstituierenden Brüche. 53 Bevor in der Rekonstruktion von Wittgensteins Schreibgesten ein Teil der Thematik indirekt über die Performativität seiner Texte eingelöst wird, soll in einem Exkurs zu Derrida der Verschränkung von Geschichtlichkeit und Gemeinschaftlichkeit nachgegangen werden, um den Blick dafür zu schärfen, dass eine unvermeidliche Differenz in den Wiederholungspraktiken in ihrer konstitutiven Funktion lesbar gemacht werden kann. Dabei kann mit Derrida aufgezeigt werden, inwiefern eine Zeichenverwendung nicht auf die Intention eines Autors oder Empfängers bzw. auf eine umgrenzbare Gruppierung rückführbar ist. Die Rückführung auf ein subjektives Fundament sowie auf ein Ideenreich der Gemeinschaft müssen gleichermaßen zurückgewiesen werden. In diesem Zusammenhang bricht zugleich die Frage auf, ob Wittgenstein schlüssig erläutern kann, inwiefern sich Sprachspiele auch ändern können bzw. warum Regeln – allein die mannigfache geschichtliche Abwandlungen der Einzelsprachen weisen auf das Problem hin – nicht als starres Konstrukt anzusehen sind, sondern als temporale Vollzüge gefasst werden müssen.
Diese entscheidende Dimension der niemals eindämmbaren Offenheit bei Wittgenstein berücksichtigend schreibt Wellmer: »[J]edes ›wir‹ ist in stetiger Bildung begriffen und stets vom Zerfall bedroht. Das Wittgensteinsche ›wir‹ ist somit vielfach in sich abgestuft, es ist ein ›performatives‹ wir und es trägt in sich die Züge des ›nicht-wir‹ ; es ist niemals ganz präsent, es ist in jedem Augenblick ein Problem ebensosehr wie ein Ausgangspunkt.« (Wellmer 1999, 76) Gleichzeitig erblickt Wellmer hier aber auch die Grenzen Wittgensteins, der dieser Thematik nicht mehr nachgegangen ist.
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Exkurs Derrida: Gebrauch als Wiederholung oder das Erbe im Kommen
Ein Exkurs zu Derrida in der Erörterung des Wittgenstein’schen Spätwerks mag auf den ersten Blick verwundern. Obwohl sich Derrida nie einschlägig mit dem österreichischen Philosophen auseinandersetzt, sondern ihn nur ab und an mit größten Vorbehalten streift, 1 werden folgende Ausführungen an Überlegungen anknüpfen, die den Zusammenhang zwischen dem wiederholten Gebrauch, dem geschichtlichen Erbe und der Gemeinschaft aus Derridas Einsichten rund um sein Verständnis von Zeichenpraktiken zu erörtern versuchen. Schrift (écriture), Zeichen (signe) und Mark(i)e(rung) (marque) 2 , um auf die von Derrida verwendete Begrifflichkeit zurückzugreifen, müssen jedoch aus dem gängigen Verständnis gelöst werden. Sie stehen nicht wiederum im Gegensatz zu etwas, beispielsweise zum (gegenwärtig) Gesprochenen, zum (anschaulich gegebenen) Bildlichen oder zur (unmittelbaren) Erfahrung. Derrida insistiert darauf, dass nichts auf eine nicht-vermittelte Weise begegnet sein und somit immer erst nachträglich von einem nicht-unmittelbar Zugänglichen zeugen wird. Paradigmatisch lässt sich dies an der Zeichenhaftigkeit der Schrift demonstrieren; doch wenn sich Derridas These als haltbar erweist, daß es kein »Text-Außerhalb« 3 gibt, wird alles und jedem diese Art der Schriftlichkeit zukommen. Ähnlich wie bei Wittgenstein wird somit Vgl. Derrida 1989, 23 oder Derrida 2000. In der Sekundärliteratur wurden beide Denker immer wieder eingehend diskutiert: vgl. Staten (1985), Stone (2000 und 2002), Bertram (2006) und Khurana (2007). 2 Derrida verwendet den Terminus »marque« – das ins Deutsche mit »Marke«, »Markierung«, »Merkmal«, »Prägung«, »Note«, »Brandzeichen«, »Herkunftszeichen«, »Haus-« oder »Firmenmarke« übertragen werden könnte – nicht nur, um sich von einem zu eng gefassten Zeichenverständnis zu lösen, sondern auch um etwaige Assoziationen zu »marche« (»Fahrt«, »Gehen«, »Marsch(musik)«) und »marge« (»Rand«, »Spanne«, »Spielraum«) mitschwingen zu lassen. Der sachlichen Nähe zwischen marque, marche und marge wird im Folgenden implizit nachzugehen sein. 3 Der bekannte Satz Derridas lautet im französischen Original folgendermaßen: »Il n’y 1
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nicht der Gegensatz von Sprache und Handlung forciert, sondern aus ihrem intrinsischen Verhältnis zu denken versucht und deren Rückbindung an überkommene Gebrauchsweisen aufgezeigt. Entlang der nachfolgenden Explikationen soll daher der Anlauf genommen werden, der Thematik Geschichtlichkeit und Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Relationalität nachzugehen und aufzuzeigen, inwiefern die Sprache immer schon an eine Pluralität adressiert ist, die sich auf keine Exklusivität zurückziehen kann, und sich nur in stets teilbaren Wiederholungspraktiken konstituiert, ohne daß die Wiederaufnahme des (Vor-)Gegebenen und das darin inhärente Auftauchen des Anderen, Singulären und Differentiellen inkompatibel nebeneinander zum Stehen kommen würde. Die philosophische Tradition konnte der Schrift kaum eine eigene Dignität zusprechen, auch wenn sie darin ihre Auszeichnung fand, die Bereiche der oralen oder gestischen Kommunikation beträchtlich auszuweiten. Trotz der Abwesenheit des Senders oder Empfängers war es durch sie möglich, Botschaften über weite Abstände zu vermitteln, denn Bücher können die Zeiten überdauern und Briefe räumliche Distanzen überbrücken. Schrift wurde jedoch – ohne dieses ökonomischen Vermögen näherhin zu thematisieren – bloß als akzidentieller, äußerlicher oder mechanischer Zusatz verstanden, der das homogene Feld der Kommunikation nicht qualitativ, sondern lediglich quantitativ bereicherte, indem intelligible Inhalte nicht nur (unmittelbar) mündlich, sondern eben auch schriftlich (vermittelt) wiedergegeben und ihr vermeintlich ursprünglicher Sinn bloß wiedergeholt werden konnte. In Derridas vielfältigen Bezugnahmen auf den eigentümlichen Charakter der Schrift bildet diese insofern den strategischen Einsatzpunkt dekonstruktiver Überlegungen, da von ihr aus deutlich gemacht werden kann, daß die Abwesenheit, von der bei der Erörterung der Schrift meist beiläufig die Rede war, nicht in ihrer Eigenheit, sondern lediglich von der Wiederherstellung einer – momentan bloß aufgeschobenen – Anwesenheit bedacht wird. 4 Diese Abwesenheit stellt jedoch anderes als eine Modifikation der Präsenz, eines zur Zeit (noch) a pas de hors-texte«; er wurde als »Ein Text-Äußeres gibt es nicht« übertragen (Derrida 1974, 274). 4 Derrida bezieht sich in diesem Zusammenhang exemplarisch auf den Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746) von Étienne Bonnot de Condillac, den er paradigmatisch für die philosophische Tradition hält: »Ich werde nur ein Beispiel dafür erwähnen, glaube aber nicht, daß man in der ganzen Geschichte der Philosophie als solcher ein einziges Gegenbeispiel finden kann, eine einzige Analyse, die jener wesent-
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nicht Anwesenden, dar. Denn das Zeichen ist gar nicht an die Gegenwart eines vorgesehenen Empfängers und auch nicht an die Anwesenheit der Autor-Intention des Senders gebunden: Das Zeichen muss – um überhaupt als Zeichen fungieren zu können – unabhängig von der Präsenz einer Ausgangs- und Zielinstanz lesbar bleiben. Eine (Wieder-)Lesbarkeit freilich, bei der weder der ursprüngliche Sender noch der vorgesehene Empfänger in der Lage sein wird, sie zu kontrollieren; stets steht ein Text in der Möglichkeit, in einer erneuten Bezugnahme anders gelesen zu werden, auch wenn das nicht mit der vermeintlich auktorialen Bedeutungsintention und dem bewußten Sagen-Wollen des Produzenten korrespondiert. Diese stets notwendige Möglichkeit einer Wiederholung, die ein Zeichen zum Zeichen macht, nennt Derrida »Iterabilität«. Eine Wiederholbarkeit, die nicht als bloße Re-Aktualisierung der vermeintlich ursprünglichen Intention verstanden werden darf, denn um als Iteration gelten zu können, muss es – so minimal die Abweichung auch sein mag – anders repetiert werden, sonst wäre es keine Wiederholung, sondern unterschiedslos dasselbe. Doch dasselbe kann sich nie abermals ereignen. Selbst wenn genau derselbe Inhalt wiederholt werden würde, wären doch die Situation, der Kontext, die Adressierung oder zumindest die Zeit nicht mit den vorhergehenden vollkommen identisch. Jede Wiederholung ist somit notwendigerweise als Wieder-Holung immer schon von alteritären Momenten durchzogen, wie Derrida nicht nur von der Sache her, sondern auch durch einen etymologischen Hinweise zu unterstreichen weiß: »Diese Iterabilität – (iter, nochmals, kommt von itara, anders im Sanskrit, und alles Folgende kann als Ausbeutung dieser Logik gelesen werden, die die Wiederholung mit der Andersheit verknüpft) strukturiert das Zeichen [marque] der Schrift selbst, übrigens ganz gleich, um welchen Schrifttypus es sich auch handeln mag (den piktographischen, hieroglyphischen, ideographischen, phonetischen oder alphabetischen, um sich dieser alten Kategorien zu bedienen).« (Derrida 2001, 24) Auffallend in dem angeführten Zitat ist, dass Derrida zunächst durch den etymologischen Hinweis auf das sanskritische itara 5 verlich widerspricht, die Condillac, in enger Anlehnung an Warburton, in seinem Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse vorlegt.« (Derrida 2001, 19) 5 Franz Bopp, Mitbegründer der historisch-vergleichenden indoeuropäischen Sprachwissenschaft, bestätigt diesen etymologischen Hinweis Derridas, sowohl was den ZuA
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deutlicht, dass sich Differenz und Wiederholung in dieser Logik der Iterabilität nicht ausschließen, sondern dass Andersartiges gerade in Iterationszusammenhängen auftreten kann, ja – um die Stoßrichtung Derridas klar zu machen – nur darin aufzutauchen vermag. Das Singuläre ereignet sich in den stets notwendig sich verschiebenden Wiederholungsprozessen und nicht unabhängig von ihnen. Ereignis und Wiederholbarkeit stehen einander nicht gegenüber, ganz im Gegenteil; Derrida schlägt vor, die Ereignishaftigkeit im Zusammenhang mit der Iterabilität zu denken. Mark(i)e(runge)n sind stets in den Wiederholungen von neuem lesbar und dies auf eine einzigartig-singuläre Weise: »Ein Zeichen, das nur ›einmal‹ stattfände, wäre kein Zeichen. Ein rein idiomatisches Zeichen wäre kein Zeichen. […] Ein Phonem oder ein Graphem ist in einem gewissen Maße jedesmal, wenn es sich in einer Operation oder einer Wahrnehmung gegenwärtigt, notwendig immer anders, aber als Zeichen und Sprache im allgemeinen kann es nur fungieren, wenn eine formale Identität erlaubt, es wieder in Umlauf zu bringen und es wiederzuerkennen.« (Derrida 2003c, 69 f.) Ein Zeichen muss als Zeichen lesbar und damit mitteilbar bleiben, indem es immer schon mit Anderen geteilt ist und nie bloß von einem Subjekt in Anspruch genommen werden kann. Aus dem Hinweis Derridas geht hervor, dass das Zeichen nicht nur als signe – verstanden als Zeichen eines etablierten (Schrift-)Systems – gelten kann, sondern dass darüber hinaus die Wiederholbarkeit jeder Mark(i)e(rung) (marque) und somit allen lesbaren Zeichenformen zukommt, etwa auch dem Piktographischen oder Ideographischen. 6 Mit Wittgenstein könnte hinzugefügt werden, dass sämtliche Sprachspiele wiedergespielt werden könsammenhang zwischen dem lateinischen »iterum« (wiederum) als auch seiner Übersetzbarkeit des sanskritischen »itara« mit »anders« ins Deutsche anbelangt (vgl. Bopp 1833, 540). Die dezidierte Verwendung von »Iterabilität« (itérabilité und nicht etwa itération oder répétition) erklärt sich als Abstraktbildung zum lateinischen Adjektiv »iterabilis« (wiederholbar), welches mit dem lateinischen Suffix »-bilis« – vergleichbar mit dem deutschen Suffix »-bar« – eine Möglichkeit anzeigt und zum Verbum »iterare« (wiederholen) gebildet ist. Dieses leitet sich von »iterum« (wiederum) her. Die Iterabilität ist somit nicht bloß mit der Wiederholung (itération oder répétition) gleichzusetzen, sondern es zeigt vielmehr die Möglichkeit zur Iteration oder Repetition an, in der – nicht nur etymologisch betrachtet – »wiederum« »anderes« auftauchen kann. 6 Die terminologische Rochade von signe zu marque, die Derrida meines Wissens nicht eigens kommentiert, deutet nicht primär darauf hin, daß er sich des historischen Ballasts des Zeichenbegriffs entledigt; vielmehr soll damit eine Ausweitung der Zeichenhaftigkeit – weit über das traditionelle Verständnis von signum/signatum bzw. signifiant/
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nen müssen, ansonsten sind sie keine Spiele. Hier zeigt sich schrittweise die Einsicht, warum nicht ein Subjekt ein einziges Mal einer Regel gefolgt sein kann. Derrida insistiert darauf, dass diese Bewegung der Iterabilität nicht nur der Schrift im engeren Sinne, sondern schlichtweg allen Mark(i)e(runge)n zukommt. Er macht hierin deutlich, inwiefern in diesem Sinne nichts keinen »Schriftcharakter« besitzt, da alles, was vernehmbar ist, in Iterationszusammenhängen auf vermittelte Weise begegnet. Wenn in weiterer Folge von Zeichen, Schrift oder Text gesprochen wird, ist diese Ausweitung des Schriftbegriffs in einer analogen Weise zu berücksichtigen, wie es für Wittgenstein kein regelgeleitetes Tun Außerhalb von Sprachspielen gibt. Die Annahme einer ungebrochenen Gegenwärtigkeit oder reinen Anwesenheit wird daher nicht nur für Zeichensysteme des mündlichen Gesprächs oder sonstige Kommunikationsformen zurückgewiesen, sondern – und hierin befindet sich auch eine Spitze gegen eine allzu unbedarfte Hermeneutik oder eine vermeintlich »radikale« Phänomenologie – auch für jegliche Form der Erfahrung. Es gibt, wenn diese Einsicht Derridas ernstgenommen wird, keine ungeteilte Unmittelbarkeit oder immediate Zugänglichkeit. Alles ist in dieser Weise Schrift, nichts befindet sich außerhalb (kon-)textueller Strukturen der Iterabilität. Die Lesbarkeit der Mark(i)e(rung) ist weder von einem bestimmten Autor noch von einem bestimmten Empfänger regulierbar, denn sie wird sich immer wieder als anschlussfähig an andere Akte der Lektüre erweisen, die immer auch von Anderen vollzogen werden können. Auch über den Tod des Autors oder das Verschwinden des Empfängers hinaus bleibt eine Schrift, ein Zeichen und eine Marke – selbst die intimsten Briefe oder die vertraulichsten Codes – lesbar. Damit verschwindet die Kategorie der Intention nicht völlig, aber sie ist nicht mehr in der Lage, die Szenerie zu beherrschen. Die gegebenen Zeichen befinden sich nämlich immer schon im Abstand zum vermeintlichen Urheber, der das Vervielfältigen der Siegel nicht kontrollieren wird können. Nichtsdestotrotz redet Derrida nicht einer Beliebigkeit das Wort. Treu werden wir nicht gegenüber einer vermeintlichen Autorintention sein – worauf könnte sich diese Art der Treue berufen? –, sondern die Lektüre hat sich an die lesbaren Zeichen – und an keiner signifié – angezeigt und formalistischen Tendenzen – erinnert sei an die »sinnlich-materialhaften« Einschreibungen der Markierungen – entgegengewirkt werden. A
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wie auch immer gearteten Intention – zu halten. Da die Mark(i)e(rung) sich in ihrer Lesbarkeit nicht in der Präsenz ihrer Einschreibung erschöpft – denn sie ist weder an einen Produzenten noch an eine exklusive Adressierung, aber auch nicht an einen vorgegebenen Kontext unverrückbar gebunden –, wohnt jeder Mark(i)e(rung) die Kraft inne, mit dem vermeintlichen Urheber, dem ursprünglich vorgesehenen Horizont oder dem ausgewählten Empfänger zu brechen. Dieses Moment der Unberechenbarkeit trägt in sich das Sprengpotential, Tendenzen der Totalisierung entgegenzuwirken und sich einer restlosen Vereinnahmung zu entziehen. Die Iterabilität erweist sich als unkontrollierbar und unabschließbar, die – affirmativ gewendet – stets neue Räume eröffnet, die jede/r durchschreiten, wenn auch nie definitiv umgrenzen oder besitzen kann. Solange das Zeichen als Zeichen lesbar bleibt, ist ihm – zitierbar und wiederverwendbar – das Moment der Alterität und Differenzialität auf den Weg gegeben: »Jedes Zeichen [signe], sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (im geläufigen Sinn dieser Opposition), als kleine oder große Einheit, kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, daß das Zeichen [marque] außerhalb eines Kontexts gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.« (Derrida 2001, 32). Weitere Konturen gewinnen Derridas Überlegungen im Zusammenhang mit der tradierten Kategorie der Identität, die ausgehend von der Iterabilität vollkommen neu gedacht werden muss. Platon bestimmt im Sophistes die Identität dadurch, daß »jedes selber ihm selbst dasselbe« (hekaston auto tauton) ist (Soph. 254 d). 7 Identität wird gerade dadurch definiert, dass sie sich differenzlos zu einer Einheit bündelt. Doch einer unvorhersehbaren und unabschließbaren Offenheit der Iterabilität anheim gegeben, vermag weder ein Produzent noch ein Empfänger oder ein Kontext die Lesbarkeit einer Mark(i)e(rung) zu kontrollieren, sondern diese Unberechenbarkeit wahrt sie auch sich 7 Siehe hierzu Martin Heideggers Überlegungen in Der Satz der Identität (GA 11, 33 f.). Von Heidegger stammt auch die Übersetzung des angeführten Platon-Zitats. Dem inhärenten und hochkomplexen Spannungsverhältnis der Identitätskonzeption im platonischen Sophistes kann in dieser gerafften Darstellung, die aufgrund heuristischer Überlegungen einer schulmetaphysischen Rezeption geschuldet ist, nicht nachgegangen werden.
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selbst gegenüber. Auch Wittgenstein tradiert in gewisser Weise diese platonistische Erblast weiter, indem er zwar darauf insistiert, dass Sprachspiele vergehen und entstehen können, aber es ist unklar, wie er die Veränderbarkeit desselben Sprachspiels denkt und warum sie überhaupt möglich sind. Er fragt somit nicht nach den zeitlichen Implikationen jeder Identität. Mit Derrida kann aber gezeigt werden, dass das Sichändern eines Sprachspiels nicht notwendig ein anderes Sprachspiel impliziert, sondern das ein Von-sich-Differieren nicht nur im selben Sprachspiel vonstatten gehen kann, sondern dass diese Veränderbarkeit konstitutiv für die Identität der Selbigkeit verstanden werden muss. Denn die Identität einer Mark(i)e(rung) wird in Wiederholungspraktiken konstituiert. Perpetuiert wird dabei aber nicht ein von vornherein gesicherter und beständiger Nukleus an Merkmalen oder eine wie auch immer geartete Essenz, sondern was eine Mark(i)e(rung) zur Mark(i)e(rung) oder ein Sprachspiel zu einem Sprachspiel machen wird, ist einzig die Möglichkeit ihrer (Re-)Lektüre respektive der wiederholbare Gebrauch. Daraus sind weitreichende Konsequenzen zu ziehen, denn die Identität eines Elements – und hiermit verlässt Derrida vollends substanzontologische und kausalursächliche Auslegungsbahnen – geht erst nachträglich aus diesen Remarkierungsprozessen hervor. Das tradierte Verständnis des Verhältnisses von Wiederholung und Identität wird somit einer tiefgehenden Revision unterzogen. Nicht wird eine vorgegebene Identität in unterschiedlicher Weise wiederholt, sondern aus der Iteration konstituiert sich eine Einheit, welcher aber nie der Status einer festen und invarianten Identität zukommt. Die »Einheit« der Mark(i)e(rung) oder die Selbigkeit eines Sprachspiels wird somit durch die Iterabilität hervorgebracht, eine Konstitution freilich, die wiederum für weitere Bezugnahmen offen ist und somit keinen gesichert-unveränderlichen Bereich für sich reklamieren kann. Die Identität jeder Mark(i)e(rung) wird aufgrund ihrer uneingeschränkt offenen Lesbarkeit immer wieder (re-)konstituiert und (re-)markiert werden können, sodass sie in ihrem prekären Status immer auch anders lesbar bleiben und nicht durch eine eingrenzbare Identität zur Ruhe kommen wird. Somit erweist sich die Iterabilität nicht nur als Bedingung der Möglichkeit jeder Identität, sondern zugleich auch als die Bedingung der Unmöglichkeit jeder (festen) Identität: »[D]ie Wiederholung verändert und die Veränderung identifiziert […].« (Derrida 2001, 107) Auf diese paradoxale Struktur, die A
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jedes transzendentalphilosophische Moment in der Dringlichkeit ihrer Fragestellung gleichermaßen forciert und kontaminiert, macht Derrida mit Nachdruck aufmerksam: »Einmal mehr erlaubt die Iterabilität die Idealisierung, also eine gewisse wiederholbare, von der Vielfalt der faktischen Ereignisse unabhängige Identität, aber sie begrenzt die Idealisierung, die sie erlaubt, sie läßt sie nicht unversehrt.« (Derrida 2001, 102) Die Iterabilität gewährt somit nicht nur jedes Sagen-Wollen oder jedes intentionale Zeichengeben, sondern wird es zugleich immer schon subversiv unterwandert haben, indem sie, was sie identifiziert, bereits mit einer »Ver-Anderung« infiziert haben wird. Das Erreichen einer idealen Fülle oder reinen Selbstgegenwart wird somit verunmöglicht und erweist sich auch nicht als notwendig. Jedes lesbare Element ist von vornherein einer gesicherten Identität beraubt, jedes Siegel in sich disseminiert: »Die Iterabilität eines Elements spaltet a priori seine eigene Identität, ohne zu berücksichtigen, daß sich diese Identität nicht anders bestimmen, abgrenzen kann als in differentieller Beziehung mit anderen Elementen, und trägt die Marke dieser Differenz.« (Derrida 2001, 89) Derrida macht folglich deutlich, inwiefern jeder Identität desselben Elements aufgrund der Iterationsprozesse nur ein fragiler Zustand zugesprochen werden kann, der nie in eine reine, abschließbare oder vollkommene Selbstpräsenz münden kann. Die Identität jeder Mark(i)e(rung) ist in und von sich stets schon gespalten; nicht nur in Hinblick auf weitere Anschlussmöglichkeiten einer unerreichbaren Finalität, sondern auch auf ihren vermeintlichen Ausgangspunkt. Jeder Ursprung, jede Selbständigkeit oder jedes singuläre Ereignis ist der Iterabilität – bereits, immer schon, von vornherein, ohne zu warten, sogleich – ausgesetzt: »Die Zeit und der Ort des anderen Mals [autre fois] (the other time) arbeiten und verändern schon at once, sogleich [aussi sec], das erste Mal [première fois], den ersten Schlag [premier coup] und das at once. Solcherart sind die Tücken [vices], die mich interessieren: das andere Mal im ersten Mal, mit einem Schlag [l’autre fois dans la première fois d’un coup], at once.« (Derrida 2001, 103) Von welchen Tücken, von welchen Lastern und von welchen Vizes spricht hier Derrida? Die Iterabilität versteht sich nicht als Gegensatz zu einem ersten Mal oder einem singulären Ereignis, sondern es wird betont, dass diese nur durch die Iteration hindurch ankommen und sogleich einer anonymen Vervielfältigung anheim gegeben sind. Jeder Moment, jeder Schlag oder jedes Mal wird im Augenblick zugleich konstituiert und gespalten durch die allgemeine Wiederholbarkeit 202
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dessen, was sich darin als Singuläres ereignet. Identität darf daher nicht als eine ideale Gegebenheit formaler oder transzendentaler Natur gefasst, sondern nur im Zusammenhang mit der zeitlichen Verstrickung jeder Reaktualisierbarkeit verstanden werden. Vor diesem Hintergrund könnte auch der Grenzbegriff der Abrichtung bei Wittgenstein anders gelesen werden. Es würde nicht mehr um einen von außen konstatierbaren Zeitpunkt der Einführung in ein Bezugssystem gehen, sondern vielmehr um die Uneinholbarkeit des Eingeführtseins. So verfügt das Subjekt über keine Kategorien der Benennung bzw. über keinen Weltbezug vor der Abrichtung. Erst aus ihr heraus vermag es sich so oder so auf etwas zu beziehen. Hieraus wird ersichtlich, dass nicht das Subjekt als Bezugsmitte alles Seienden agieren kann, sondern in erster Linie zu antworten hat. Im Anfang des Sprachspiels steht somit nicht die souveräne Tat, sondern die aus einer Abrichtung evozierte Reaktion. Eine Reaktion freilich, die nicht mit einem Automatismus gleichzusetzen ist, sondern einen Spielraum von Antwortmöglichkeit impliziert. Das Subjekt wird genötigt sein, dass es auf einen je schon ergangenen Anspruch antwortet, wobei in diesem unausweichlichem »Dass« stets ein nicht-reglementierbares »Wie« des Antwortens aufbricht, die jeder mechanistischen Engführung zuwiderlaufen wird. 8 Obwohl jede sprachliche Äußerung sich in überlieferte Zusammenhänge einschreibt, muss das (responsiv verstandene) Subjekt gerade im und für das Fort- und Weiterschreiben dieser iterativen Praktiken Verantwortung übernehmen. Der unvermeidliche Rückgriff auf ein Erbe und damit die Wiederholung von überkommenen Mark(i)e(runge)n entbindet das Subjekt somit in der Responsivität nicht von jeder Responsabilität, sondern steigert die ethische Verantwortlichkeit ins Unendliche. Über den jeweiligen Vollzug hinaus zeichnet sich das Subjekt – da es den Zeichengebrauch mittels auktorialer Intention nicht mehr beherrschen kann – für die Folgen der Iteration, deren Akte nicht nur Den Versuch, das Verstehen aus dieser Dimension des Erben zu erörtern, unternimmt Bertram in treffender Weise: »Dieses Erbe kann man folgendermaßen beschreiben: Sprachliche Ausdrücke fungieren in Momenten des Verstehens als Entscheidungen von anderen in diesem neuen Verstehen. Verstehen heißt damit: sich normativ orientieren. Die normative Orientierung setzt aber nicht Normen voraus, sondern liegt darin, dass im Verstehen das Verstehen anderer als eine Instanz, die ich als eine bestimmte Einzigartigkeit anerkenne, als Anspruch wirksam ist. Normativ sind sprachliche Ausdrücke, da ihre Strukturierung als Strukturierung empfangen und nicht gesetzt wird. Dieses Empfangen findet […] in Momenten des Verstehens statt.« (Bertram 2006, 160)
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übernommen werden, sondern auch im Kommen bleiben, verantwortlich. 9 Mit der Betonung der Iterabilität geht die Hervorhebung der Wiederholungspraktiken einher, die stets von neuem – hier und jetzt – vollzogen werden müssen. Mit dieser Betonung der Praxisimmanenz distanziert sich Derrida nicht nur von tradierten transzendentalphilosophischen Fragestellungen, die immer von konkreten Vollzügen kontaminiert werden, sondern auch von einer rein formalen Inblicknahme der Iterabilität. Er insistiert daher auf den geschehnishaften Akten des jeweiligen Mals (fois) und des jeweiligen Schlags (coup), deren konkreter Vollzug und deren zeitliche Dimension unüberhörbar ist. Identitäten liegen nicht fertig vor und sind auch nicht in einem überzeitlichen Ideenhimmel voller Idealitäten anzusiedeln, sondern sie generieren sich nur und immer wieder (anders) in der Zeit aus diesen Akten der Wiederholung. 10 Diese Akte bleiben dabei im Doppelsinn des Wortes lesbar – actus als Akt und acta als Akte –, denn ihnen ist gleichermaßen der ereignishafte Vollzug und die Spuren vormaliger Verwendungen eingeschrieben: »der Akt als Archiv ebensosehr wie der Akt als Performanz« (Derrida 2000, 11). 11 Dass diese Vollzüge nicht nur Spuren von Vergangenem beinhalten und ihnen somit eine Geschichtlichkeit eingeschrieben bleibt, sondern dass sie auch als Aufforderung und Versprechen, das Andenken auch künftig zu behalten, verstanden werden müssen, unterstreicht Derrida damit, dass jeder Remarkierung »zugleich eine Verpflichtung auf die Zukunft […] und
Auf diese ultra-ethische Dimension der Iterabiltät weist insbesondere Butler hin: »Tatsächlich ist der Sprecher gerade wegen des Zitatcharakters des Sprechens für seine Äußerungen verantwortlich. Der Sprecher erneuert die Zeichen der Gemeinschaft, indem er dieses Sprechen wieder in Umlauf bringt und damit wiederbelebt. Die Verantwortung ist also mit dem Sprechen als Wiederholung, nicht als Erschaffung verknüpft.« (Butler 2006, 67 f.) Vgl. hierzu die instruktiven Überlegungen von Posselt (2011). 10 Auf die Unmöglichkeit einer reinen Idealität, die unabhängig von konkreten Iterationszusammenhängen gedacht werden könnte, macht Derrida in seiner Husserl-Lektüre aufmerksam: »Diese Idealität jedoch, die nur der Name für die Ständigkeit des Selben und die Möglichkeit seiner Wiederholung ist, existiert nicht in der Welt und kommt auch nicht aus einer anderen Welt. Sie hängt voll und ganz von der Möglichkeit von Akten einer Wiederholung ab. Sie wird durch sie konstituiert. Ihr ›Sein‹ entspricht dem Maß des Wiederholungsvermögens.« (Derrida 2003c, 73) 11 Das französische »l’acte« kann im Deutschen als »der Akt« und als »die Akte« übersetzt werden. 9
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eine Verpflichtung, das Gedächtnis des besagten Aktes zu wahren, die Akten dieses Aktes aufzubewahren« (Derrida 1988b, 130), mit auf den Weg gegeben ist. Den Re-akt-ualisierungen wohnt somit ein dia-chrones Auseinandertreten inne, das nie nur auf die Gegenwart, sondern immer auch auf anderes seiner selbst – im oszillierenden Sinn des Genitivs – bezogen bleibt. Im jeweiligen singulären Schlag sind die Akten dieses Aktes als das Andere des Aktes – Vorhergehendes und Kommendes – stets schon mit enthalten. Mit Derrida kann darauf hingewiesen werden, dass Wittgenstein die Schärfe des Blicks auf die allen Sprachspielen inhärente Temporalität fehlt und der Gebrauch von Sprache sich nur aus diesen Wiederholungspraktiken verstehen lässt, die nicht auf einen Ausgangs- oder Endpunkt zurückzuführen sind. In entscheidender Weise geht Derrida somit über ein Verständnis im klassischen Sinne hinaus, da sich die Differenz nicht nur in Abgrenzung zu anderen Elementen einschreibt und damit eine vermeintliche (a-temporale) Positivität innerhalb eines Systems gewinnt, sondern in sich Akte(n) der Selbstdifferenzierung als Selbstidentifizierung trägt, das immer einer instabilen Offenheit und der Möglichkeit erneuter Einschreibungen ausgesetzt bleiben wird. Mark(i)e(runge)n konstituieren sich somit nicht nur in Bezug auf andere Mark(i)e(runge)n, deren Spuren sich immer schon uneinholbar eingraviert haben werden, sondern ihnen wohnen auch Spuren der Zeitlichkeit inne, deren Vergangenheit ebenso wenig einzuholen sein wird wie deren Zukünftigkeit. Dieses komplexe generative Differenzierungsgeschehnis, das ein anderes Denken der Verzeitlichung und der Verräumlichung mit sich bringt, verunmöglicht es, dass ein Element oder eine Mark(i)e(rung) sich selbst gegenüber identisch oder präsent sein könnte: »Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.« (Derrida 1986, 67) Auch hier ist Derrida bedacht, Konsequenzen weit über einen semiotischen Diskurs im herkömmlichen Sinne zu ziehen. Es ist nicht nur jedem Zeichen, sondern allem und jedem eigen, nicht einfachhin mit sich selbst identisch zu sein. Es gibt keine subjektive, gemeinschaftliche oder kulturelle Identität ohne diese inhärente und konstitutive Differenz. Explizit wird im beeindruckenden Europa-Essay Das andere Kap auf diese Einsichten verwiesen: »Unter diesen Umständen ist das Von-sich-selber-sich-Unterscheiden [différence à soi], das Von-sichA
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selber-sich-Trennen und -Entfernen ebenfalls ein Bei- oder Mit-sich(Von-sich-)Differieren [différence (d’) avec soi], dem ›Bei-Sich‹ innewohnend und zugleich nicht auf es zurückführbar. Es hält die Heimstätte des ›Bei-Sich‹ zusammen und teilt sie auch unwiderruflich. In Wahrheit hält es sie nur zusammen, und bezieht sie auf sich selbst, um sie auf diesen Abweg, auf diese Abweichung hin zu öffnen.« (Derrida 1992, 13) Weitreichende Implikationen dieses anderen Verständnisses von Identität lassen sich aus diesem Zitat ablesen. Da sich Identität aus Wiederholungszusammenhängen generiert und diese immer nur ein prekäres Zwischenresultat als Ergebnis wird liefern können, ist keine Entität in der Lage, gänzlich und differenzlos bei sich zu sein. Kein Selbst und kein Subjekt, kein Gebilde und keine Gemeinschaft ist für sich vollkommen abschließbar, falls weitere Bezugnahmen auf sie möglich sein sollen. Eine klare Grenzziehung, die zwischen Innen und Außen trennt, wird allein dadurch nicht möglich sein, da das Eigene nie restlos identifiziert und sichergestellt werden kann. Immer wird es schon von differenten Momenten durchzogen sein, die seine prekäre Identität gleichermaßen einrichten und kontaminieren. Eine Ausklammerung der Alterität wird daher nie vom Erfolg gekrönt sein können, da damit nie nur das Andere, sondern auch das Eigene eliminiert werden müsste. Ein Bei- als ein Mit-sich-(Von-sich-)Differieren erweist sich streng genommen als einzige Möglichkeit, Identität – nunmehr in einer fragilen In-Stabilität – angemessen zu denken. Hierin zeigt sich ein gewichtiger Unterschied zu Wittgenstein, der die konstitutive Funktion der Differenz für jede Identität nicht zureichend würdigen konnte. Für ihn zeigen sich Diskrepanzen in erster Linie zwischen Weltbildern respektive Lebensformen, ohne aber darauf aufmerksam zu werden, dass dem Sprachgebrauch, der ja in Wiederholungspraktiken besteht, in einem notwendigen jeweilig und damit jeweilig anderen Vollzug diese Differenzialität eingeschrieben ist. Fremdheit wäre für Wittgenstein immer eine äußerliche. Es ist die unbekannte Lebensform, die nicht verstehbare Konfession oder ein fremdes Sprachspiel. Auch wenn er darauf beharrt, dass mitunter Unterschiede bestehen bleiben können, dass Sprachspiele oder Weltbilder schlicht fremd bleiben und mit den eigenen Auffassungen inkompatibel sind, waltet diese Alterität nicht in der entzogenen Mitte der eigenen Vollzüge. Differenz, Alterität und Identität schließen sich laut Derrida aber nicht aus, sondern müssen notwendigerweise zusammen206
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gedacht werden. Nur was sich wandelt und der Zeitlichkeit nicht verschließt, wird dasselbe gewesen sein und bleiben können. Differenz fungiert somit als inhärentes Moment der Identität, indem sie für Veränderungen stets schon geöffnet ist, um (anders) zu bleiben. Aus den Erörterungen zur Iterabilität ist hervorgegangen, dass die Lesbarkeit der Mark(i)e(rung) sich gerade darin manifestiert, dass sie immer anders lesbar bleibt. Damit entwindet sie sich der Dichotomie von Gleichbleiben und Anderswerden, einer einfachen Anwesenheit und gänzlichen Abwesenheit, aber lässt ebenso substanzontologische Kategorien hinter sich. Um dieses paradoxe (Anders-)Bleiben »begrifflich« anzuzeigen verwendet Derrida den Terminus restance: »Diese strukturelle Möglichkeit, des Referenten oder des Signifikats (und somit der Kommunikation und ihres Kontextes) beraubt zu werden, macht, wie mir scheint, jedes Zeichen [marque], auch ein mündliches, ganz allgemein zu einem Graphem, das heißt, wie wir gesehen haben, zur nicht-anwesenden Bleibendheit [restance non présente] eines differentiellen Zeichens [marque différentielle], das von seiner vorgeblichen ›Produktion‹ oder seinem Ursprung abgeschnitten ist.« (Derrida 2001, 29; Übers. mod.) Aspekte dieses Zitats wurden in den vorhergehenden Abschnitten zu erläutern versucht. Nochmals kann in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass Derrida mit marque alle (lesbaren) Grapheme im Allgemeinen, über alle traditionellen Einteilungsversuche hinweg, verstanden haben will. Besonderes Augenmerk verdient aber der schillernde Neologismus restance, den Derrida durch die Kursivierung hervorhebt und ihm zusätzlich das Attribut »nicht-anwesend« (non présente) beilegt. Die mit sich von sich differierende Mark(i)e(rung) wird aus dem Zusammenhang mit einer nicht-anwesenden Bleibendheit näherhin zu erörtern versucht. Doch was ist unter dieser Bleibendheit zu verstehen? Aus der Beifügung von non présente geht deutlich hervor, dass die restance nicht im Sinne einer beständigen Anwesenheit oder präsentischen Permanenz zu denken ist. Gemeint ist damit nicht, dass die Zeichen einfachhin vorliegen bleiben und sich in ihrer fassbaren Materialität erschöpfen. Derrida insistiert vielmehr darauf, dass die »Bleibendheit (restance) […] alles tut, außer zu bleiben […].« (Derrida 1998, 29) Wenn schon nicht im herkömmlichen Sinne von »bleiben« als »unverändert bestehen bleiben« gesprochen werden kann, eröffnet das Wortfeld rester im Sinne von »(zurück und übrig-)bleiben« (vgl. lat. re-stare) andere Möglichkeiten der LesbarA
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keit. 12 Impliziert ist damit ein irreduzibler Rest (reste), der bleibt, ohne sich gänzlich auflösen zu lassen, eine Art Widerständigkeit (résistance) – politische, aber auch psychoanalytische Assoziationen schwingen hier mit –, die nicht zu eliminieren ist, sich resistent gegenüber Durchstreichungen erweist und bleibend stört. Die Bleibendheit des widerständigen Restes ist offensichtlich kein Etwas, kein Seiendes und keine Substanz – und dennoch nicht nichts. Sie verwehrt sich einem definitorischen Zugriff und der Positivität eines Vorliegenden. Diese Bleibendheit, die nicht bleibt, geriert sich mehr als Beweglichkeit (rest-ance) 13 oder als das Moment einer Perturbation, die nie abschließend zu sich und zur Ruhe kommt, bei der keine Einkehr zu sich möglich sein wird. Dieser merkwürdige Rest, der sich jeder Habhaftwerdung entzieht, entpuppt sich als Stachel, der Wiederholungspraktiken stets evoziert, da nie vollkommen und restlos iteriert worden ist. Stets bleibt eine neue und andere Bezugnahme auf die Mark(i)e(rung) möglich, nie gelangt der Prozess mit sich selbst restlos ins Reine oder zu einem umfassend geglückten Abschluss. Dieser nie zu schließende Spalt evoziert jedoch in seiner Produktivität jedes Wiederspielenkönnen der diversen Sprachspiele. Wäre diese Kluft zu überEiner längeren Untersuchung müsste auch das lateinische Präfix »re-« unterzogen werden, das als ein »Zurück« (vgl. re-duco; »zurückziehen«, »sich zurücknehmen«), als ein »Gegen« (vgl. re-luctor; »sich widersetzen«) oder als ein »Wieder« und ein »Anders« (vgl. re-gnosco; »wiedererkennen«, »anders erkennen«) und als ein An-den-betreffenden-Ort-Zurückbringen (re-digo; »einbringen«) lesbar gemacht werden kann, ohne jedoch eine »eigentliche Bedeutung« zu erlangen, da wir immer schon in Reiterationsprozesse eingelassen sind und uns nie in einem wiederholungslosen Außerhalb bewegen: »Alle Kategorien, die wir verwenden könnten, um Sinn und Bedeutung zu übersetzen, die dem ›re-‹ zu eigen sind, sind unangemessen, vor allem deshalb, weil sie das zu Definierende als ein bereits Definiertes in die Definition wieder einführen [réintroduire].« (Derrida 2001b, 63) 13 Das Suffix »-ance« zeigt im Französischen das Abstraktum eines Partizips – dem Mittelwort zwischen Substantiv und Verb – an, dessen verbal-prozesshafter Aspekt eine Medialität beinhaltet, die weder aktiv noch passiv ist. In der Erörterung der différ-ance macht Derrida selbst auf diesen grammatikalischen Umstand aufmerksam, der hier auch für die restance in Anspruch genommen werden soll: »Es ist zu bedenken, daß im Französischen die Endung auf ance unentschieden zwischen dem Aktiv und dem Passiv verharrt. Und wir werden sehen, warum, was sich durch ›différance‹ bezeichnen läßt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken lässt.« (Derrida 1999a, 37) 12
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brücken, wäre alles gesagt und nichts mehr sagbar. Immer wieder und stets anders wird sich eine Iteration als möglich erweisen, ohne dass dieser strukturellen Notwendigkeit Einhalt geboten werden könnte: »Die Iterabilität setzt eine minimale restance voraus [suppose] (wie auch eine minimale, wenngleich begrenzte Idealisierung), damit die Identität des Selbst [l’identité du même] in [dans], quer durch [à travers] und selbst hinsichtlich [en vue de] der Veränderung [altération] wiederholbar und identifizierbar ist. […] Und weil diese Iterabilität differentiell ist, im Inneren jedes ›Elements‹ und zwischen den ›Elementen‹, weil sie jedes Element, indem sie es konstituiert, zerbricht, weil sie es mit einer Artikulationsbruchstelle [brisure articulatoire] markiert, ist die restance, obwohl unentbehrlich, niemals diejenige einer vollen Präsenz: Sie ist eine differentielle Struktur, die der Präsenz oder dem (einfachen oder dialektischen) Gegensatz Präsenz und Absenz entgeht, ein Gegensatz, von dem die Idee der Permanenz abhängig ist. Deswegen ist das Zeichen [marque] als ›nicht anwesende restance‹ nicht das Gegenteil des Löschens des Zeichens [marque]. Wie die Spur (als Spur) [comme (la) trace] ist sie weder anwesend noch abwesend.« (Derrida 2001, 89; Übers. mod.) In diesem komplexen Zitat expliziert Derrida sein Verständnis von restance. Er betont, dass die Iterabilität nicht ohne minimale restance auskommt. Das Verb suppose beinhaltet dabei aber keine Voraussetzung im logischen oder metaphysischen Sinne. Die restance geht der Iterabilität weder zeitlich noch sachlich voraus. Das Verhältnis beider artikuliert sich nicht in der klassischen Gegenüberstellung von Grund und Begründetem, sondern vielmehr in einer dia-statischen Verschränktheit. Die »Vorannahme« bleibt in einer gewissen Weise eine »Nachannahme«, da nachträglich immer wieder aufbrechen wird, dass Iteration nicht zu einem Endpunkt gelangt sein wird, da eine wiederholte Bezugnahme auf die Mark(i)e(rung) abermals möglich bleibt. Die Mark(i)e(rung) entpuppt sich somit nicht als Resultat einer unverrückbaren Gravur – einer sinnlichen Positivität im herkömmlichen Sinne –, sondern in einer prekären Fragilität, die zwar artikuliert werden kann, aber nicht ein festes Etwas impliziert, sondern einen Bruch anzeigt, der niemals nahtlos zusammengefügt werden kann. Vielmehr wird diese Artikulationsbruchstelle (brisure articulatoire) immer wieder, von neuem und anders aufgebrochen sein, indem sie sich als resistent gegenüber jedem kittenden Ausfugen erweist. Die Klüftung bleibt; stets wird es – selbst bei lückenlosen Ableitungen, geschlossenen KreisläuA
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fen und vollkommener Dokumentation – Spuren unkontrollierbarer Resteffekte geben, die das glatte Aufgehen sich abriegelnder Systeme gestört haben werden, allein dadurch, dass die Iterabilität nie beherrscht werden kann. Das, was traditioneller Weise als das Hyletische, Materialhafte oder Sinnliche zu fassen versucht wurde, könnte in einer anderen – und nicht-metaphysischen – Weise als restance gefasst werden, da in ihr das Moment der Irreduzibilität, der Undurchdringbarkeit und Unauflösbarkeit zum Tragen kommt. Dieses Moment der restance wäre aber nicht mehr in traditionellen Kategorien beschreibbar, v. a. könnte es nicht mehr in der dichotomischen Einteilung von Noetischen und Aisthetischen untergebracht und als das Stoffliche eingefasst werden, da es sich diesen Registern gleichermaßen entzieht. Die restance usurpiert damit das klassische substanzontologische Fundament. Mit dem Terminus restance wäre eine bleibende Unruhe markiert, die zu ReLektüren nötigt, wohl wissend, dass die Mark(i)e(runge)n nie erschöpfend gelesen und damit eingeholt werden könnten. Iterabilitätsprozesse reiben sich aber stets an einer restance, und in jeder Mark(i)e(rung) tritt diese Störung zu Tage, ohne je vollends präsent zu sein oder in eine Positivität überführt werden zu können. Vielleicht müssten künftige Überlegungen zur Sinnlichkeit und Materialität diese torpedierenden Effekte der restance berücksichtigen. Derrida scheint sich hier nicht nur formalistischen Tendenzen, die (neo-)strukturalistischen Überlegungen oft vorgeworfen werden, verwehren zu wollen, sondern auch nach anderen Möglichkeiten zu suchen, der Irreduzibilität einer a-präsentischen Bleibendheit in einem dezidiert nicht-metaphysischen Sinne nachzuspüren, um der Sinnlichkeit einen uneinholbaren Ort und eine nicht zu befriedende Bewegtheit zuzugestehen. In den abschließenden Betrachtungen des Exkurses zu Derrida soll das Moment des Alteritären mit Überlegungen zur Gemeinschaft bzw. zum Dritten ebenso berücksichtigt werden wie die temporale Dimension der Iterabilität. Eine Gemeinschaft freilich, die nicht in der faktischen Konstatierung einer abzählbaren Intersubjektivität begriffen werden kann, sondern sich nachgerade aus den Wiederholungspraktiken versteht. Da keine (Autor-)Intention die Wieder-Lesbarkeit der Mark(i)e(runge)n restlos kontrollieren kann, wird einsichtig, inwiefern selbst meine eigenen Mark(i)e(runge)n nie nur dem Verfasser oder den vorgesehenen Empfängern allein gehören; stets können sie von ihnen, aber auch von Anderen anders gelesen werden. Mark(i)e210
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(runge)n sind permanent in einer anonymen Dehiszenz unterwegs, die nie restlos von einer externen Instanz festzumachen sein wird. Stünden nicht selbst private Liebeserklärungen oder geheime Idiome immer auch in der strukturellen Möglichkeit, für andere lesbar zu sein, wäre es nicht möglich, ihnen eine Zeichenhaftigkeit zuzubilligen. Jede semantische oder epistemologische Privatheit eines geregelten Codes wird daher von Derrida als unmöglich zurückgewiesen, denn stets schon sind Zeichenpraktiken in einer strukturell notwendigen Wiederholbarkeit mit allen anderen teilbar: »Dies impliziert, daß es keinen Code gibt – Organon der Iterabilität –, der strukturell geheim wäre. Die Möglichkeit, die Zeichen [marques] zu wiederholen und damit zu identifizieren, ist in jedem Code impliziert, macht aus ihm ein kommunizierbares, übermittelbares, entzifferbares Raster, das für einen Dritten, also für jeden möglichen Benützer überhaupt, iterierbar ist.« (Derrida 2001, 25) Hierin zeigt sich nicht nur eine Verwandtschaft zu Wittgensteins Argument gegen jede Privatsprache, sondern darüber hinaus, dass Derridas Überlegungen zur notwendigen Iterabilität der Mark(i)e(runge)n gewichtige Implikationen der Gemeinschaft in sich tragen. Die stets mögliche (Mit-)Teilbarkeit der lesbaren Mark(i)e(runge)n sorgt dafür, dass – strukturell gesehen – keine exklusiven Besitzansprüche vonseiten einer bestimmten Person oder einer bestimmten Gruppierung geltend gemacht werden können. Kein Subjekt fängt bei sich an, sondern rekurriert stets auf ein ihm vorausliegendes Erbe. An diesem kann aber verschiedenartig angeknüpft werden, auch wenn jede Tradierung auf die überkommenen Vorgegebenheiten zu rekurrieren hat. Das Erbe der Geschichte wird nur dadurch tradiert, dass es bejahend oder verneinend aufgenommen und damit anders weitergebildet wird, selbst wenn es zurückgewiesen oder abgelehnt werden sollte. Kein Subjekt kann sich nicht zu dem Überkommenen verhalten. Derrida weist darauf hin, »daß die rhetorische Struktur der Sprache dem Akt unserer gegenwärtigen Initiative vorhergeht und – wenn das zu sagen möglich ist – ›älter‹ ist als dieser Akt. […] Über dieses Faktum haben wir keine Kontrolle. Dieses Faktum ist kein natürliches, es ist ein Artefaktum, das aber für uns […] immer schon da ist, als eine Vergangenheit, die niemals gegenwärtig gewesen ist. Man könnte behaupten, daß sie die Geschichtlichkeit selbst ist – eine Geschichtlichkeit, die nicht selbst geschichtlich sein kann, eine ›Anciennität‹, die ohne Geschichte, ohne zeitliche Vorgängigkeit ist, die aber Geschichte hervorbringt.« (Derrida A
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1988b, 127 f.) In diesem Sinne könnte Wittgensteins Verständnis von Abrichtung und die Rückbindung auf Gepflogenheiten sowie Gebräuche tiefer verstanden werden. Nicht existiert zunächst ein Subjekt, das nachträglich in eine Gemeinschaft eingeführt wird, sondern Subjektivität impliziert bereits die Wiederaufnahme eines uneinholbaren Erbes. Jedem Gebrauch wäre somit eine Geschichte eingeschrieben, die eine Vorgängigkeit in sich trägt, die nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen hätte, zugleich aber Geschichte und auch Zukunft hervorbringt. Sozialität erweist sich in diesem Zusammenhang nicht als diese oder jene Gemeinschaft im Sinne eines faktischen Zusammenschluss von Subjekten, sondern als die unhintergehbare Voraussetzung jedes Subjekts, den Sprachgebrauch immer schon mit anderen – aktuell oder potentiell – teilen zu müssen bzw. immer schon geteilt zu haben. Der Andere kommt somit nicht in einem zweiten Schritt hinzu, sondern hat das Subjekt bereits heimgesucht, noch bevor es sich sprachlich auf sich selbst oder die Welt beziehen kann. Mit anderen Worten: Die Lesbarkeit der Zeichen kann nie nur von einer/einem, zweien oder einer festgesetzten Anzahl reklamiert werden, stets ist ein privatimer oder eingrenzbarer Anteil durch einen offenen Zugriff konterkariert und von einer unzählbaren Alterität im Plural durchzogen. Es ist daher nicht unwesentlich, dass Derrida rund zwanzig Jahre nach Signatur, Ereignis, Kontext in seinen Ausführungen zu einer Politik der Freundschaft (1994) auf Einsichten rund um die Iterabilität zurückkommt: »Auch ein einziger kann aber ein einziges Mal ein[e] einzige Markierung nur empfangen, wenn diese in wie immer geringem Maße iterierbar, also in ihrem Auftreten und jedenfalls in ihrem Ereignischarakter zuinnerst vielfältig und gespalten ist. Der Dritte ist da. Und der eine als jener ›mehr als eine‹, jener ›nicht mehr eine‹, jene ›mehreren‹, die Berechenbarkeit zugleich zulassen und einschränken.« (Derrida 2002, 290) Der Dritte – verstanden als der nicht abzählbar oder identifizierbar Andere – ist in seiner Unvorhersehbarkeit und Anonymität immer schon mit da. In der Iterabilität ist daher je schon eine Gemeinschaftlichkeit eröffnet, die keinen Ausschluss mehr duldet. Anders als Wittgenstein, dessen Denken immer noch mit der Gegenüberstellung von Fremden und Eigenem operiert, ist weder eine reine Eigenheit noch eine Grenzziehung gegenüber dem Anderen möglich. Nachdem Mark(i)e(runge)n eine unkontrollierbare Teilbarkeit innewohnt, wird es sich als unmöglich erweisen, sie ausschließlich und originär für sich 212
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beanspruchen zu wollen. Eine strikte und gesicherte Grenzziehung zwischen dem eigenen inneren Bezirk und dem fremden äußeren Bereich wird sich dabei als unmöglich erweisen. Damit konterkariert Derrida bereits in seinen semiologischen Überlegungen ein polares Freund-Feind-Schema, da die eindeutige Identifizierung, wer auf welche Seite gehört, unterlaufen wird, und stellt so das Rüstzeug bereit, politische Konsequenzen aus den zeichentheoretischen Implikationen zu ziehen. Eine Reinheit des Eigenen wird in diesem »Mit-Da« des Dritten ebenso unterlaufen wie die Möglichkeit einer strikten Grenzziehung zu einem bloß alternativ Anderen, wie sie sich in der Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden kundtut. Alterität im derridaschen Sinne hat im Selben immer schon statt; jeder Versuch, zu einer exklusiven Selbstpräsenz oder Selbstidentität zu kommen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Überlegungen zur Gemeinschaft, die sich nicht mehr um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Positivität im Sinne von Verwandtschaftsbeziehungen oder territorialen Aspekten gruppieren, aber sich auch nicht als nachträglicher Zusammenschluss unter bestimmten Hinsichten verstehen, können hier bei Derrida theoretisch anknüpfen. Die proklamierte Offenheit konterkariert nicht nur ein mit sich selbst identisches Subjekt oder eine abschließbare Gruppierung, sondern ermöglicht es auch, das Ankommen des Singulären ernst zu nehmen, da sich im ersten Mal das andere Mal immer schon eingeschrieben haben wird, das Einzigartige jedoch sich nur durch diese Wiederholungspraktiken hindurch wird zeigen können. Konkrete Singularität und universalisierbare Gemeinschaftlichkeit wird somit – wie Ereignishaftigkeit und Iteration –von Derrida einander nicht gegenübergestellt, sondern – so paradox das zunächst anmuten mag – zusammengedacht. Der Anfang wird nie ab ovo gemacht werden können, da sich jedes einzigartige Sich-Bilden nur vermittelt in Wiederholungspraktiken, Traditionszusammenhänge und Kontexte ereignet und das Andere stets schon mit da ist. Gemeinschaft im derridaschen Sinne ist nie in einem präsentischen oder platt futurologischen Sinn zu verstehen, da sie die lineare Abfolge jeder Chronologie unterwandert und auf ein anderes Verständnis der Zeitlichkeit hinweist. Auch wenn somit nie eine iterationslose Reinheit reklamiert werden kann, da sich Singuläres stets in Remarkierungen ein- und fortschreibt, impliziert dies nicht ein fades Spiel differenzloser Wiederholungen mit sich selbst. Iteriert wird stets, aber immer anders und auf einzigartige Weise: »Man muß zuA
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nächst einmal wissen, was ›vor uns‹ kommt, man muß das, was ›vor uns‹ kommt, aufs neue zu bejahen wissen, das also, was wir empfangen, noch bevor wir es wählen und uns als freie Subjekte verhalten. Ja, man muß (und dies man muß ist dem empfangenen Erbe unmittelbar eingeschrieben), man muß alles tun, um sich eine Vergangenheit anzueignen, von der man weiß, daß sie im Grunde nicht bleibend angeeignet werden kann […]. Nicht nur, es anzunehmen, dieses Erbe, sondern es anders wieder in Gang zu bringen und es am Leben zu erhalten.« (Derrida / Roudinesco 2006, 15) Die stets notwendige Möglichkeit einer singulären Remarkierung im Sich-Bilden eröffnet nicht nur eine Gemeinschaftlichkeit, sondern in ihr erhält die überkommene Geschichtlichkeit eine Zukunft, indem sie nur anverwandelt zu-kommen werden können. Um diesem Im-Kommen-Bleiben des Gewesenen nachzukommen, reicht es nicht aus, es entlang einer linearen Zeitfolge fassen zu wollen. Dieses Zukommen ist nicht aus der chronologisch verstandenen Zukunft gedacht, sondern eröffnet diese erst. Hierbei wird der affirmative Gestus der Dekonstruktion deutlich, da sich in die Passivität des überkommenen Erbes, ein Imperativ eines Ja einschreibt, um das Vermächtnis auf je singuläre Weise aktiv zu tradieren.
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Das Wort als Antwort. Gespräch und Geviert als responsives Geschehen bei Heidegger »Da begann er [Heidegger] das Gespräch und sagte: ›Sprache ist also Gespräch, sagen Sie.‹ Ich [Gadamer] sagte: ›Ja‹ – Wir sind nicht sehr weit gekommen mit unserem Gespräch.« (Gadamer 1995, 274) »Wer ist der Mensch? Der Träger der Sprache (echon) oder der Getragene des Wortes (das Wort ›des‹ Seyns).« (GA 85, 89)
Im Folgenden soll dem Gespräch als responsivem Geschehen der Sprache nachgegangen werden. Eingedenk eines »dia-statischen« und »diachronen« Moments der Antwort, das in seiner daseins-gewährenden Dimension lesbar gemacht werden muss, soll vom (uneinholbaren) Gabecharakter des Wortes ein Bogen zu Heideggers Ausführungen zum Geviert gespannt werden. Hiermit soll seinen späten Erörterungen zum »Spiegelspiel der weltenden Welt« (GA 7, 182) nachgekommen werden, die sich explizit von den Überlegungen eines (daseins-erschlossenen) Bedeutungszusammenhang abgrenzen, wie sie sich in der transzendental-horizontalen Ausrichtung von Sein und Zeit noch finden lassen (vgl. GA 2, 85 ff.). Aus den Erörterungen zum Geviert soll auch deutlich werden, inwiefern uns selbst das Einfachste – ein Ding – nie unvermittelt, sondern eingelassen in ein differierendes Beziehungsgeflecht begegnet. Es gilt in der Rekonstruktion des Heidegger’schen Sprachdenkens also mehrere Fäden zusammenzuführen: Einerseits soll gezeigt werden, dass sich der Vollzug des Gesprächs und die Textur des Gevierts nicht ausschließen. 1 Sie gehören – analog zu Derridas Einsicht in die Diverse Annäherungen, etwa Überlegungen Wilhelm von Humboldts, forcieren einseitig die Vollzugsdimension, indem Sprache »kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)« (Humboldt 1979, 418) sei. Obwohl sich Heidegger aufgrund bewusstseinsphilosophischer Restbestände immer wieder von Humboldt abgrenzt (vgl. GA 12, 235 ff.), scheint er den »performativen« Aspekt des Vollzugs zu affirmieren. Weit problematischer erscheinen Heidegger hingegen Herangehensweisen, die eine Ordnungsstruktur herausarbeiten wollen, da sie hierbei unweigerlich in eine Verobjektivierung der Sprache verfallen. Ohne dass Heidegger sich je dezidiert mit dem Strukturalismus auseinandergesetzt oder Saussure zitiert hätte, kann die Unterscheidung
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Verschränkung von Ereignis und Wiederholung – vielmehr zusammen. Diese Zusammengehörigkeit kann über die Responsivität argumentiert werden. In Anschluss an diese lässt sich nämlich nicht nur jedes Dasein als ein antwortendes und nicht mehr als souveräner Akteur seines Sprechens verstehen, sondern aus ihm ereignet sich auch das in- und aufeinander Verwiesensein des Spiegelspiels der Welt. Es wird in diesem Zusammenhang der Frage nachzugehen sein, inwiefern das Gespräch und das Geviert niemals eindimensional im Eigenen ihren Ausgang nehmen, sondern je schon im Anderen begonnen haben werden, dessen Anspruch im Antworten aufbricht, ohne jedoch eingeholt werden zu können. Dieser Entzug wird sich als Eigentümlichkeit der Sprache erweisen, die somit niemals auf einen Ausgangs- oder Endpunkt sowie als Dinghaftes festzumachen sein wird, da wir das Sprechen dieses nur vermögen, indem wir uns je schon angesprochen und in Sprache eingelassen erfahren. Diesen Entzug als Entzug (samt der inhärenten Geschichtlichkeit seiner Verborgenheit) in der Responsivität zu bedenken, gilt für Heidegger als wesentlicher Schritt, der Geschlossenheit der Metaphysik und ihrer Tendenz zur restlosen Vergegenständlichung die eigenen Grenzen aufzuzeigen. Andererseits wird hier der Versuch unternommen, vom Gespräch her dessen Momente zu bedenken. Aus dem Gespräch als responsivem Zu- und Entsprechen gewinnen nicht nur die Teilnehmenden einen Stand, sondern darin geht auch Welt auf und wird Seiendes vernehmbar. Neben dieser »subjektkonstitutiven« und seinsvergebenden Dimension des Gesprächs werden ebenso Aspekte, die in der herkömmlichen Sprachbetrachtung zumeist als pejorative Modi in den Blick genommen werden, einer Revision unterzogen, um dem Hören und Schweigen den gebührenden Platz einzuräumen.
zwischen langue und parole als Gegenposition zu der Humboldts angeführt werden (vgl. Saussure 1967, 16 f.; vgl. Mersch 2010, 220 f.). In der hier angestrebten Interpretation soll jedoch gezeigt werden, dass Heidegger in seiner Erörterung des Gevierts ein spezifisches Verständnis von Textur entwickelt, indem er keine einseitige Akzentuierung des präsentischen Vollzugs vornimmt, und sich somit anschlussfähig für (post-)strukturalistische Fragestellungen erweist.
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Sprache als Gespräch? Oder Heideggers Verständnis von Responsivität
Es wurde im vorangegangenen Abschnitt zu Heidegger darauf hingewiesen, dass Sprache nicht auf ein Instrumentarium der nachträglichen Abbildung von Realität reduziert werden kann, da sie sich einer umfassenden Vergegenständlichung entzogen und in die Aufgeschlossenheit von Welt je schon eingeschrieben haben wird. Heidegger ringt in seiner Sprachbetrachtung unablässig um den Aufweis, inwiefern die Seinsweise der Sprache sich gerade nicht mehr in ein substanzontologisches Raster eines logisch-grammatischen Gegenstandes pressen lässt. Das Phänomen Sprache erweist sich für ihn dabei gerade »nicht mehr als das vorhandene les- und hörbare Ding« (GA 39, 23) und wird weder in funktionaler Hinsicht noch aus einem anthropozentrischen Blickwinkel adäquat vernommen. Er wendet sich durch diesen Hinweis strikt gegen eine Reduktion der Sprache auf einen in Wörterbüchern verzeichenbaren Bestand, die, so Heideggers harsche Formulierung, »einem Gebeinhaus auf dem Friedhof« (GA 38, 23) gleichzusetzen ist. Durch die Einsicht in die Grenzen der überkommenen Auslegung möchte er einem anderen Verständnis von Sprache nachspüren. Einem Verständnis, das Sprache nicht auf den propositionalen Gehalt des Aussagesatzes reduziert, denn obwohl Sprache nie restlos vergegenständlichbar ist, ist sie nicht nichts; sie zeigt sich allerdings nur dort, so Heidegger, »wo sie geschieht« (GA 38, 24). Dieses Geschehen ist aber selbst nichts Dinghaftes mehr und kann – aus der Vollzugsdimension verstanden – auch nicht auf ein außersprachliches Terrain zurückgeführt werden. Das Sprachgeschehen, so Heideggers Einsicht, entzieht sich auf eine höchst eigentümliche Art diesen scheinbar unentrinnbaren Optionen von Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein und zwingt daher, die Grundfeste dieser tradierten Ontologie prinzipiell zu überdenken. Sprache wird sich hierin nicht mehr als Eigenschaft oder Fähigkeit des Menschen erweisen, die beliebig gehandhabt werden könnte, sondern sie wird im Gegenzug als konstitutives Moment des Daseins auszumachen sein. Sprache wäre somit nicht etwas, über das ein sprechendes Subjekt verfügen und das es besitzen könnte; vielmehr gewährt ihr Zuspruch ihm erst das Vermögen, antwortend zu sprechen. Sprache offenbart sich damit als Bezug, der nicht nachträglich hergestellt werden oder angeeignet werden müsste, sondern den »Menschen« immer A
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schon durchzieht und ihn vor jedem intentionalen Akt des Bewusstseins bereits in Anspruch genommen hat. Sprache ist somit nicht vom Menschen her, sondern das »Menschsein« ist von der Sprache respektive vom Anspruch des Seins her zu verstehen. Thematisiert werden soll folglich dieses Verhältnis selbst, in dem das Dasein immer schon genötigt ist zu antworten und in das es sich eingelassen erfährt, noch bevor ein souveränes »Ich« sich kundtun kann. Sprache tritt, so bedacht, nicht in einem sekundären Schritt zu einem bereits konstituierten Subjekt hinzu, sondern Dasein ist immer schon in einen (sprachlichen) Zuspruch verstrickt. Dieses Zu- als Entsprechen ereignet sich im Dasein, ohne jedoch auf seine Tätigkeit zurückgeführt werden zu können. Eine Besinnung auf die Sprache als vor-ursprünglichen und uneinholbaren Anspruch, der im Antworten des Daseins aufbricht, verändert das Selbstverständnis des Menschen radikal, da nicht mehr von einem autonomen oder souveränen Subjekt ausgegangen werden kann. Dieses wird sich als Angesprochenes verstehen müssen, das je schon zum Antworten aufgerufen ist. Dabei erweist sich der Zuspruch der Sprache als ein »Phänomen«, das sich gerade in seiner Nicht-Phänomenalität – nämlich im sichentziehenden Mitereignen – zeigt, weil es nicht restlos wie Seiendes zur Erscheinung gelangen kann. Dennoch ist gerade diese Nicht-Phänomenalität an den Bereich des Phänomenalen und den je konkreten Vollzug rückgebunden, da sich Sprache nur im Gesagten des Antwortens manifestiert, ohne aber gänzlich darin aufzugehen. Um die Gegebenheit der Sprache angemessen erörtern zu können, widmet sich Heidegger dem Gespräch. Sprache wird somit vom Gespräch her verstanden und nicht etwa umgekehrt. Erst von hier aus lässt sich nicht nur die Phänomenalität der Sprache, sondern darüber hinaus die Seinsweise des Menschen sowie das Sichzeigen von Welt angemessen in den Blick nehmen: »Wir – die Menschen – sind ein Gespräch. Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch. Dieses ist jedoch nicht nur eine Weise, wie Sprache sich vollzieht, sondern als Gespräch nur ist Sprache wesentlich.« (GA 4, 38) Nach dem Exkurs zu Derrida mag es verwundern, nun in Rückgriff auf das Gespräch mit Heideggers »positiver« Verortung des Sprachphänomens anschließen zu wollen. Fällt man damit nicht unweigerlich in phono- und logozentrische Auslegungsbahnen zurück, die mit der Dekonstruktion als Restbestände einer Metaphysik der Präsenz entlarvt werden (vgl. Derrida 1974, 11 ff.)? 218
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Trotz dieser möglichen Einwände vonseiten der Dekonstruktion und trotz Heideggers skeptischer Haltung in seinem Spätwerk gegenüber der hermeneutischen Zugangsart 2 zum Phänomen Sprache am Leitfaden des Dialogs, wie es in erster Linie Gadamer in Wahrheit und Methode (vgl. Gadamer 1990, 387 ff.) vollzieht, soll hier dennoch die Herangehensweise an Sprache über das Gespräch des späten Heidegger in Anspruch genommen werden. 3 Ab Mitte der 1930er Jahre lässt sich die Inblicknahme der Sprache als Gespräch nachzeichnen. Vornehmlich der Rom-Vortrag zu Hölderlin und das Wesen der Dichtung (GA 4, 33–48) sowie die erste Vorlesung zu Hölderlin (GA 39), v. a. jedoch seine vielschichtigen und komplexen Aufzeichnungen zum Wesen der Sprache (GA 74) bezeugen nachhaltig dieses Unterfangen. Nicht zuletzt hat Heidegger selbst wichtige Texte in Gesprächsform verfasst, in denen sowohl die Möglichkeiten als auch Unmöglichkeiten des Gesprächs eindringlich vernehmbar werden. So gibt es neben den bekannten Feldweg-Gesprächen (GA 77; entstanden 1945) und Aus einem Gespräch von der Sprache (GA 12, 79–146; entstanden 1953/
Den Terminus »Hermeneutik« nimmt Heidegger in seinem Spätwerk nicht mehr für sich in Anspruch (vgl. GA 12, 93 f.) und überlässt ihn weitgehend Gadamer (vgl. Pöggeler 1983, 395), da Heidegger – wie Riedel anmerkt – »dem Begriff der Hermeneutik nicht länger zutraute, sein Denken von den Konsequenzen der transzendentalen Bewußtseinstheorie freizuhalten« (Riedel 1990, 167). Im Gegensatz zur tradierten Bestimmung der Hermeneutik als nachträgliche Auslegung möchte Heidegger sie »vordem schon [als] das Bringen von Botschaft und Kunde« (GA 12, 115) verstanden wissen. Erst ein Denken, das so in Anspruch genommen wird, kann auch zu einem anderen Verständnis der Hermeneutik gelangen: »Das Vorwaltende und Tragende in dem Bezug des Menschenwesens zur Zwiefalt ist demnach die Sprache. Sie bestimmt den hermeneutischen Bezug.« (GA 12, 116) 3 Bekanntlich nimmt Gadamer ja auch im Gespräch den Ausgang zu seiner Annäherung an die Sprache: »Wir suchen von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen.« (Gadamer 1990, 383) Heidegger scheint aber diesen Zugang als unbestreitbaren Königsweg mit aller Deutlichkeit zu hinterfragen. Gadamer berichtet nämlich über eine seiner letzten Begegnungen mit Heidegger Folgendes: »Da begann er [Heidegger, M. F.] das Gespräch und sagte: ›Sprache ist also Gespräch, sagen Sie.‹ Ich [Gadamer, M. F.] sagte: ›Ja‹ – Wir sind nicht sehr weit gekommen mit unserem Gespräch.« (Gadamer 1995, 274) Dieser humorvolle, aber durchaus abgründige Kommentar kann auch verdeutlichen, dass mit Gespräch nicht nur ein harmonisches Einvernehmen gemeint ist, sondern – wie hier immer wieder betont – ihm durchaus auch die Möglichkeit der Differenz und des Missglückens eingeschrieben bleibt. Eine hervorragende Erörterung der Unterschiede zwischen Heidegger und Gadamer in Hinblick auf ihre Annäherungen an das Phänomen Sprache liefert Barbaric´ (2005). 2
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54) noch das umfangreiche Abendländische Gespräch (GA 75, 57–196; entstanden 1946–48). 4 Bevor dem nachgespürt werden kann, was mit Heidegger unter Gespräch verstanden werden kann, ist es wichtig, auf die ungewohnt breite Berufung auf das Gespräch hinzuweisen, die gerade nicht auf die unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation einzuschränken ist. Einige Hinweise sollen dies belegen: Er spricht nämlich davon, dass die Dichtung nicht – wie gemeinhin angenommen – das Gegenstück zum Gespräch sei, sondern insistiert darauf, dass gerade auch sie als Gespräch verstanden werden kann: »Gesang bleibt Gespräch« (GA 12, 172). Ebenso zeigt sich für Heidegger die denkerische Besinnung auf die Dichtung oder auf die philosophische Überlieferung als Gespräch: »Jede Auslegung ist ein Gespräch mit dem Werk und dem Spruch.« (GA 8, 182) Die je schon begonnene Auseinandersetzung mit der Geschichte, in der wir uns in unserer Faktizität immer schon befinden, umschreibt Heidegger auch als »das sich voraussprechende Gespräch« (GA 55, 279). Dem Eingedenksein derer, die in jedem Gespräch mitsprechen, wohnt nach Heidegger – und hierin zeigt sich, dass eine geschichtliche Bestimmung stets für Zukünftiges leitend werden kann und darin eine zu übernehmende Verantwortung eingeschrieben ist – auch die Dimension des Kommenden inne: »Jeder ist jedesmal im Gespräch mit seinen Vorfahren, mehr noch vielleicht und verborgener mit seinen Nachkommen.« (GA 12, 117) Wir befinden uns nach Heidegger im Gespräch mit unserem Erbe, das im Übernehmen stets im Kommen bleibt und für Künftiges leitend wird. Um dem nicht einholbaren Walten der Sprache einen weiteren Schritt näher zu kommen, orientiert sich Heidegger an den Versen Hölderlins, 5 er lässt sich gleichsam von ihnen in den Bereich der Sprache weisen: »Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlische viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinan-
Auf die Implikationen, nicht nur denkerisch dem Gesprächscharakter nachzukommen, sondern selbst Gespräche zu verfassen und so dem Anspruch der Responsivität performativ nachzukommen, wird in einem eigenen Abschnitt noch gesondert und ausführlich eingegangen (vgl. Teil III). 5 Von außen betrachtet mag dem Sicheinlassen auf die dichterische Erfahrung immer etwas Willkürliches anhaften. Für Heideggers Denken jedoch entspricht diese Orientierung dem Ernstnehmen einer uneinholbaren Vorgabe, von der er je schon in Anspruch genommen wurde. 4
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der.« (Hölderlin 1998a, 361; vgl. GA 39, 68) 6 Am Leitfaden dieser Verse, die aus einer dichterischen Erfahrung stammen, soll nun ein Zugang aufgezeigt werden, was Heidegger unter Sprache als Gespräch zu denken versucht, um die Sprache als Sprache zur Sprache zu bringen. Das Sicheinlassen in und auf ein Gespräch, wovon es gleichsam getragen ist, lässt sich folglich nicht auf das Gesprochene der zwischenmenschlichen Unterredung reduzieren. Vielfältigste menschliche Vollzüge sind in Gespräche verstrickt, ja, es wird sich noch deutlicher herausstellen, dass Menschsein überhaupt aus dem Gespräch erfahren werden muss. Es wird sich noch weisen, dass der Vollzug der Sprache im Gespräch nicht auf eine unmittelbare Vergegenwärtigung abzielt, denn Heidegger widmet sich gerade dem, was nicht präsentisch vorliegt, sondern sich im Gespräch jedem beherrschbaren Zugriff entzieht. In Aus dem Gespräch von der Sprache findet sich folgende Passage zwischen einem Japaner und einem Fragenden, in der es nicht darum geht, eine restlose Bestimmung respektive vollkommene Verständigung im Sinne einer »Horizontverschmelzung« herbeizuführen, sondern auf das Unbestimmbare, das sich der Möglichkeit einer eindeutigen Bestimmung entzieht, zu achten und diesen Entzug als Entzug zu wahren: »J: Uns Japaner befremdet es nicht, wenn ein Gespräch das eigentlich Gemeinte im Unbestimmten läßt, es sogar ins Unbestimmbare zurückbirgt. / F: Dies gehört, meine ich, zu jedem geglückten Gespräch zwischen Denkenden. Es vermag wie von selbst darauf zu achten, daß jenes Unbestimmbare nicht nur nicht entgleitet, sondern im Gang des Gesprächs seine versammelnde Kraft immer strahlender entfaltet.« (GA 12, 95) Das Unbestimmbare erweist sich hierin nicht als lästig-lässlicher Rest, sondern im Entzug als konstitutives Moment des Gesprächs, das ein abermaliges Zurückkommen ermöglicht und einfordert. Ein Entzug freilich, der nicht als bloße Abwesenheit betrachtet werden soll, sondern sich gerade als Entzug zeigt. Damit wird der Entzug nicht als ein unter der Hand verkapptes Etwas gefasst, sondern in der Kraft des Zuges zu bedenken versucht: »Was sich uns entzieht, zieht uns dabei gerade mit, ob wir es sogleich und überhaupt Es handelt sich hierbei um die Verse 73 ff. des zweiten Entwurfs eines Gedichts, das ohne Titel geblieben ist und mit der Zeile »Versöhnender der du nimmergeglaubt« anhebt. In der Friedensfeier kehren die Verse in leicht abgewandelter Form wieder: »Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« (Hölderlin 1998a, 364, V. 91 ff.)
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merken oder nicht. Wenn wir in den Zug des Entziehens gelangen, sind wir […] auf dem Zug zu dem, was uns anzieht, indem es sich entzieht.« (GA 8, 11) Auf dieses stets Ungesprochene und sich Entziehende versucht Heidegger bei der Besinnung auf das, was er Gespräch nennt, hinzuweisen und einzugehen: sei es nun in der Zwiesprache mit der Geschichte oder mit dem Kommenden, in der Erörterung der Dichtung, in der Auseinandersetzung mit Werken der bildnerischen Künste sowie in Bezug auf das naturhaft Seiende, in der Hinwendung zum zwischenmenschlichen Gespräch oder eben im Gespräch von der Sprache. 7 Um somit den Vorwurf einer hermeneutischen Harmonisierung zu entkräften, soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern Heideggers Eingehen auf das Gespräch vor dem Hintergrund (einer Phänomenologie) der Responsivität, 8 sich aus einem Antwortgeschehnis her verDurch die ausdrückliche Berücksichtigung des Gesprächs soll hier auch der Eindruck vermieden werden, Heidegger verzichte in seiner Erörterung der Sprache gänzlich auf die Dimension des Zwischenmenschlichen. Zu voreilig kritisiert somit Thomann Heideggers Sprachauffassung: »Wahrheit erschließt sich dem Menschen nicht auf der horizontalen Achse im Gespräch und Meinungsaustausch mit dem Mitmenschen, sondern lediglich auf der vertikalen Achse im hörenden Vollzug der Sprache, die zur Letztinstanz einer metaphysischen Ordnung stilisiert wird.« (Thomann 2004, 74 f.) Auf der einen Seite muss das zwischenmenschliche Gespräch gerade in seinem Eingebettetsein in das Sprachgeschehnis verstanden werden, auch wenn das Wesen der Sprache im alltäglichen Sprechen an sich hält und dadurch ein Miteinandersprechen gewährt; auf der anderen Seite ist bei Heidegger das Sprachgeschehnis selbst gerade nicht im Sinne einer metaphysischen Taxonomie oder transzendentalen Instanz zu interpretieren. 8 Dieses Kapitel versucht, Heideggers Annäherungen an die Sprache mit einer Phänomenologie der Responsivität, wie sie Waldenfels in seinen Texten seit Antwortregister (1994) in einer beeindruckenden Form dargelegt hat, zusammenzudenken. Nicht weniger eindringlich scheint Derrida die »Vorgängigkeit« der Antwort vor allem Fragen eingeklagt zu haben, sodass sich von hier aus in vielfältiger Weise Anschlussmöglichkeiten an die nachklassische Phänomenologie und die Dekonstruktion nachzeichnen lassen: »Die Frage behält also in der Sprache nicht das letzte Wort. Warum? Zunächst einmal, weil sie nicht als erste das Wort, weil sie nicht das erste Wort hat. Vor dem Wort gibt es ein Wort, das zuweilen ohne Worte auskommt: wir sagen ›ja‹. Es ist eine Art vor-ursprüngliches Unterpfand, ein vor-ursprüngliches Hinterlegen eines Pfands, das jedem anderen Einsatz – in der Sprache oder in der Handlung – zuvorkommt.« (Derrida 1988c, 149) Von diesem Ja, das sich als uneinholbarer Zuspruch stets vor jedem expliziten Ja oder Nein eines Menschen ereignet haben wird, indem es sich jeder Vergegenständlichung entzieht bzw. verweigert, spricht auch Heidegger: »[D]as Nein sei ein ›Ja‹, es ist kein ›Ja‹, sondern das Nein als Inständigkeit in der Verweigerung« (GA 74, 17) Im Widerspruch dazu steht die Interpretation Riedels, der in seiner umfangreichen Studie über das Hören Heidegger ein monologisches Verständnis von Sprache unterstellt: »Es ist das Hören auf die Sprache, die wir sprechen, nicht auf andere Individuen, denn 7
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steht und sich somit dezidiert von einem »dialogischen« Verständnis im Sinne der menschlichen Unterredung bzw. etwaiger theologischer Implikationen abgrenzt. Neben der Distanzierung von der philosophischen Hermeneutik fällt mitunter auch die Kritik Heideggers an der so genannten Dialog-Philosophie sehr harsch aus: »Das ›Gespräch‹ […] – nicht als Unterhaltung und Zwiesprache zwischen festgestelltem ›Ich‹ und ›Du‹, und diese gar noch christlich als Mensch und Gott!« (GA 74, 143) 9 Nicht sprechen zwei oder mehrere Personen über etwas bereits Vorliegendes miteinander – das hieße die Relation als eine ontische misszuverstehen und sie als nachträgliche Verbindung von bereits konstituierter Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität zu fassen –, sondern das Selbst- als Mit- und Um-Welt-Verhältnis ereignet sich als responsives Geschehen von Zu- und Entsprechen. Das Aufgehen von Welt und das Erscheinen von Innerweltlichem vollzieht sich für Heidegger genauso sprachlich wie das Dasein: »Das Wort ereignet den Menschen.« (GA 74, 99) »Nur wo Sprache, da ist Welt […].« (GA 4, 38) Ein Geschehnis freilich, das – ein Stück weit gegen Heideggers eigene Tendenzen – nicht in eine Identität des Vollzuges im Sinne einer einträchtigen Versammlung und in einen Diskurs des Eigentlichen münden wird, sondern vielmehr hinsichtlich des im Antworten aufbrechenden und zugleich uneinholbaren Zuspruchs als Entzug bedacht werden soll. Dieser »dia-statischen« Verschiebung in der Erfahrung eingedenk, bei der in der Nachträglichkeit der Antwort die Vorgängigkeit des Anspruchs aufbricht und sich somit ein unversöhnlicher Hiatus in das Geschehnis der Responsivität einschreibt, kann das Sprachdenken Heideggers einer Relektüre unterzogen werden. Heidegger kommt in der Besinnung auf das Phänomen Sprache immer wieder auf das ereignende Wort zu sprechen. Soll hier, nachdem die Sprache offensichtlich vom Wort her verstanden werden soll, eine ›eigentlich‹ spricht für Heidegger die Sprache selbst, unabhängig vom Menschen, ein monologisches Verständnis der Sprache, das sie aus dem dialektischen Urverhältnis der Zweiheit des Sprechens-Hörens herausbricht.« (Riedel 1990, 63) Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es sich bei Heidegger keineswegs um ein solipsistisches Sprachverständnis handelt, sondern er vielmehr aus dem Bezughaften von Zu- und Entsprechen Sprache zu denken versucht, das bei aller (problematischen) Betonung der Versammlung auch das Augenmerk auf den Entzug legt. 9 Für einen differenzierteren Blick auf Heideggers Verhältnis zur Dialogphilosophie vgl. Vetter 2001. A
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Reduktion auf den wahrheitsfähigen Aussagesatz im Sinne des logos apophantikos vermieden werden, indem eine vor-aristotelische Position, etwa wie sie Kratylos im gleichnamigen Platonischen Dialog vertritt, eingenommen wird? Soll die Sprache hier von einer orthotes ton onomaton (Krat. 383a–b) – von einer Richtigkeit der Namen – her verstanden werden, die eine Erkenntnis von den Dingen garantiert? Diese reduktionistische Auffassung des Wortes, wie sie aus Positionen einer Namenstheorie der Bedeutung bekannt ist, derzufolge das Wort einen »Namen wie ein Schild an sich hängen hat« (GA 77, 118), wird jedoch zurückgewiesen. Gemeint ist hier zunächst nicht das Wort im nominalen Sinne einer Benennung, das als onoma ein Etwas repräsentiert. »Das Wort ›bedeutet‹ nicht und die Bedeutung zeigt nicht, sondern das Wort ist die Lichtung des Seins selbst, die erst von ›Bedeutung‹ eines Seienden und ›Zeichen‹ für Seiendes unwissend (?) in den Gebrauch genommen wird.« (GA 74, 72) Das Wort, dessen Plural nun nicht die »Wörter«, sondern die »Worte« sind, muss als ereignishaftes Zeigen und nicht als nachträgliche Abbildung im Sinne eines Verweisungszeichens verstanden werden. Das Wort als Zeigen ereignet sich nur dann, wenn es aufgenommen wird, das heißt als Ant-Wort erfahren wird. Diesen wichtigen Zusammenhang vermerkt Heidegger in einer kurzen Notiz: »das er-eignete Wort: die Ant-wort« (GA 74, 61). Diese Verschränkung von Wort und Antwort buchstabiert Heidegger immer wieder aus. Sprache ereignet sich – bei den Präfixen gilt es nun, die schillernde Nuancierung mitzuhören – als adressierter Zu-spruch respektive als ein gestellter An-spruch, dem entsprochen werden muss, als Zu-sage, die sich nicht nur an jemanden richtet, sondern die damit affirmiert, der zugestimmt und geantwortet wird, bevor in etwas (bewusst) eingewilligt werden kann. Die Unausweichlichkeit des Antwortens impliziert die Unmöglichkeit, sich dem Dass des An- bzw. Zuspruches entziehen zu können, bestimmt aber nicht restlos das Wie des Antwortens. Doch was heißt hier genauerhin Antwort? Antwort wird in diesem Zusammenhang nicht als Beantwortung einer vorausgegangenen Frage verstanden: »Alle Aussagen der genannten Art, ja vielleicht jede Aussage und Sage ist eine Antwort. Aber nicht jede Antwort ist Antwort auf eine Frage.« (GA 77, 22) Antworten kann hier nicht im Sinne des »Was« einer Beantwortung – etwa einer bestimmten Fragestellung, die eine Wissenslücke zu schließen gedenkt – aufgefasst werden, sondern muss als »Worauf« des Antwortens im Sinne einer Erwiderung 224
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eines Anspruchs verstanden werden, bei dem keine Leerstelle getilgt, sondern der Unterschied von Anspruch und Antwort, den Waldenfels treffend als »responsive Differenz« (Waldenfels 1994, 242) beschreibt, gewahrt bleibt. Dabei gibt es weder ein Nacheinander einer Reihenfolge von für sich seienden Bezugsgliedern, bei denen ein Prius ausgemacht werden könnte, noch eine vollkommene Deckung von Zuund Entsprechen; vielmehr gehen die Bezugsglieder erst aus der Relation von Anspruch und Antwort hervor, sodass dieses auseinanderdriftende und zugleich verschränkte »und« von Zu- und Entsprechen näherhin bedacht werden muss, aus dessen Zusammengehören sich allererst die differenten Relata ergeben können. Im Antworten bricht erst der Zuspruch als uneinholbarer auf. Das impliziert nun, dass das Antworten jeder dezidierten Frage – jedem ti estin? – in einer gewissen Weise vorausgeht. Nicht das Fragen wäre demnach das Erste, sondern das Antworten: »Das ursprüngliche Antworten ist also nicht das Antworten auf eine Frage. Es ist die Antwort als Gegenwort zum Wort. Das Wort muß dann erst gehört sein. So käme es auf das Hören an.« (GA 77, 25) Das Gespräch wird somit nicht durch eine Aussage eines Teilnehmers initiiert und bestimmt, sondern es hebt von Anfang an als Antwort an, indem der Zuspruch vernommen wird. Es versteht sich als hörendes Entsprechen auf einen je schon ergangenen Anspruch. Die Vorgängigkeit des Anspruches, die im antwortenden Entsprechen sich als Entzug zeigt, kann nicht eingeholt oder getilgt werden. Der Entzug wird als Entzug gewahrt, indem die Uneinholbarkeit eingesehen wird und diese im Antworten zu Tage tritt. Jede antwortende Rede ist dieser Vor-Gabe eingedenk, der ihre Alterität belassen wird, und erfährt sich darin als ein Gespräch vom Anderen her. Es ist vonseiten des Daseins nie eine bewusste Entscheidung, in die Sprache einzutreten und auf den Anspruch zu antworten. Es beginnt nie im Eigenen, sondern stets anderswo und erfährt sich als Endliches somit stets schon von alteritären Bezügen durchfurcht. Das Gespräch, das Heidegger im nachfolgenden Zitat unter Anführungszeichen stellt und das er somit nicht mehr im herkömmlichen Sinne als dialogische Unterredung verstanden wissen möchte, muss nun aus der Verschränkung von Wort und Antwort erörtert werden: »›das Gespräch‹ als Wort und Antwort« (GA 74, 61). Dieses Verständnis von Sprache stellt sich zunächst als kontraintuitiv dar. Man möchte meinen, der Zuruf komme doch zuerst, dann vollziehe sich das Vernehmen, woraufhin dann das Antworten folge. Diese Chronologik wird in einem responsiven Geschehen jedoch ausA
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gehebelt. 10 Genauerhin bedacht waltet im Zu- als Entsprechen aber nicht zuerst etwas, das in Anspruch genommen wird, dem dann in einem davon getrennten Akt erwidert wird, sondern jedes Vernehmen ist in sich selbst schon Antwort. So wird nicht auf ein vorgängiges und exteriores Etwas geantwortet, das zuvor vernommen werden müsste, sondern im Vernehmen wird bereits geantwortet. Waldenfels beschreibt dieses Vermögen, bereits hörend antworten zu können, treffend: »Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.« (Waldenfels 1994, 250; herv. M. F.) Die Zeitstruktur, die sich in der temporalen Konjunktion »indem« kundtut, kann hier nicht als eine lineare Abfolge der Chronologie und gemäß einem Schema von Aktivität und Passivität aufgefasst werden, da im Vollzug des Entsprechens eine Diachronie aufbricht. Man wird erst nachträglich im Antworten einsehen, dass man von einem je schon ergangenen Appell angegangen war, der über einen gekommen ist, ohne dass dieses Widerfahrnis als ein früheres Jetzt im Sinne eines Innerzeitlichen oder eines Apriori interpretiert werden könnte. Der Appell zeigt sich nur in der Response, ohne dass die uneinholbare »Vorgängigkeit« des Anspruches als ein (innerzeitliches) proteron und die Nachträglichkeit der Antwort als ein darauf folgendes hysteron zu verstehen wäre. Thematisiert wird ein Einst, das nie gegenwärtig war und sich so der herkömmlichen Zeitstruktur einer Abfolge von Jetztpunkten entzieht. Der (vor-ursprüngliche) Zuruf kommt nie in der Zeit, sondern er tritt immer zu einer Unzeit auf, ohne dass diese a-temporal zu verstehen wäre. Das Gespräch hat in diesem Sinne für das Dasein je schon begonnen. Das »zu spät« der hinkenden Antwort vermag diesen Aufruf somit nie gänzlich in einer Gegenwart einzuholen und den Anspruch zum Erliegen zu bringen. Denn erst im Entsprechen bricht der Anspruch in seinem zeithaften Entzug auf. Diese Ungleichzeitigkeit ist niemals in eine Synchronizität zu pressen. Im Antworten bleibt dieser diastatisch-diachrone Hiatus als unüberwindbarer Riss und markiert somit ein Geschehen, das in sich gebrochen zugleich auseinanderklaffend auf- und ineinander verwiesen ist. Die Verschiebung von Anspruch und Antwort im selben Ereignis ist somit durch die Ungleichzeitigkeit der responsiven Differenz gekennzeichnet. Nie ist in der Diesem a-chronologischen Zeitverständnis der Responsivität geht Iris Laner in ihrem Dissertationsvorhaben Re-Visionen der Zeitlichkeit. Zur Explikation impliziter Zeitlichkeit im abstrakten Bild in umfassender Weise nach.
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Response restlos geantwortet, denn dann wäre nichts mehr zu sagen. Stets wird es möglich sein, anders zu antworten, wenn auch nie alles gesagt sein kann. Aber gerade in dieser Uneinholbarkeit zeigt sich der Stachel der endlichen Unvollkommenheit als konstitutiv: Die Unverfügbarkeit des geschichtlichen Anspruchs erweist sich in dieser Unmöglichkeit als Möglichkeit für Kommendes. Dieses ist nicht von einem Horizont im Vorhinein bestimmbar oder von einem Dasein antizipierbar. Die Unzulänglichkeiten eröffnen gerade den Spielraum, dass sich Neues und nicht Voraussehbares ereignen kann. Aus diesem Zusammenhang wird auch nachvollziehbar, inwiefern der Mensch nicht über diesen Anspruch verfügt, sondern immer schon von ihm angegangen wird: »Vielleicht ist der Mensch überhaupt in seinem Haus nicht zuhause.« (GA 77, 37) Heidegger betont hier die Asymmetrie und Irreversibilität des Anspruches, der nicht auf den Menschen (oder ein anderes Seiendes) zurückgeführt oder eingeholt werden kann; doch dieser bricht erst auf, wenn ihm geantwortet und dadurch ein Ankommenlassen gewährt wird: »Sein west und währt nur, indem es durch seinen Anspruch den Menschen an-geht. Denn erst der Mensch, offen für das Sein, läßt dieses als Anwesen ankommen. Solches Ab-wesen braucht das Offene einer Lichtung und bleibt so durch dieses Brauchen dem Menschenwesen übereignet.« (GA 11, 39 f.) 11 So verstanden ist das Sprach- als Seinsgeschehen nie ohne dieses Entsprechen zu denken. Es gibt kein hierarchisches Oppositionspaar im Sinne eines Grundes und Begründeten, sondern nur in diesem Antworten bricht der Zuspruch auf. Zuspruch und Entsprechen bilden somit nicht zwei getrennte Aktionen, denn das eine ereignet sich nur als das andere. Dennoch darf das hier erörterte Gelangenlassen oder Antworten weder als eine (automatische) Reaktion noch als (bewusstes) Tun oder (passivisches) Ausgeliefertsein interpretiert werden. Vielmehr ist es ein dem Menschen gewährtes Lassen, das jeder erwerbbaren Fähigkeit sowie jeder intentionalen Bezugnahme vorausgeht und das Menschsein als solches aus11 Trotz aller uneinholbaren Asymmetrie, die Heidegger stets gegen einen Rückfall in die Subjektmetaphysik hervorhebt und der Betonung vom Sprechen der Sprache (und nicht des Menschen), muss auf diese responsive Relationalität mit Nachdruck hingewiesen werden, aus der erst Sein, Sprache oder Menschenwesen denkbar sind: »Die Sprache bleibt doch unverkennbar an das menschliche Sprechen [qua Entsprechen, M. F.] gebunden. […] Die Sprache braucht das menschliche Sprechen und ist gleichwohl nicht das Gemächte unserer Sprechtätigkeit.« (GA 12, 244)
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zeichnet, dass der Mensch nämlich überhaupt in seiner Offenheit antworten kann: »Aber das Auszeichnende des Menschen beruht darin, daß er als das denkende Wesen, offen dem Sein, vor dieses gestellt ist, auf das Sein bezogen bleibt und ihm so entspricht. Der Mensch ist eigentlich dieser Bezug zur Entsprechung, und er ist nur dies. ›Nur‹ – dies meint keine Beschränkung sondern ein Übermaß.« (GA 11, 39) Primär ist somit für Heidegger weder das Menschenwesen noch ein davon getrenntes Sein, sondern der Bezug zwischen beiden. Dieser Bezug des Zwischen bringt jedoch nicht nachträglich Sein und Mensch zusammen, sondern die Bezugsglieder ereignen sich im strengen Sinne als dieser Bezug und gehen daraus hervor. So heißt Menschsein für Heidegger nichts anderes als Entsprechen und Antworten. Ein responsives Vermögen freilich, das nicht eine Fertigkeit des Subjekts darstellt, sondern jeder bewussten Leistung vorausgeht. Um diesen Bezug als Bezug von An- und Entsprechen näherhin bedenken zu können, ist es notwendig, noch stärker auf die Sprache, die als dieser Bezug west, einzugehen. Das Phänomen Sprache entwindet sich nicht nur negativ dem beherrschenden Zugriff, sondern erlaubt positiv, das Verhältnishafte selbst – noch vor allen gegebenen Relata – so zu bedenken, dass die einzelnen Teile aus diesem allererst hervorgehen. Dieses Denken der sprachlichen Relationalität als Entsprechungsgeschehnis eröffnet den Bereich für das, was Heidegger in seinen späteren Schriften das Ereignis nennt. Den Bezug als Bezug angemessen zu denken, gewährt die Sprache in mehrfacher Hinsicht: »Das Ereignis ist sagend.« (GA 12, 251; vgl. GA 74, 99) Sprache ist dabei als Relationalität vernehmbar, die sich gegen die eindimensionale Rückführung auf einen Ausgangspunkt verwehrt und damit die metaphysische Grundfigur von Grund und Begründetem unterwandert. Gerade im Bedenken dessen, wie ein Gespräch sich ereignet, soll nachgezeichnet werden, dass es – nachdem es gerade nicht von einer vorausgehenden Instanz (Sprechende, Gegenstand oder Zeichensystem) her zu begreifen ist – nur aus einem responsiv zu verstehenden In-Zwischen 12 aufbricht. Heidegger formuDieses Inzwischen darf nicht als lokaler Zwischenraum oder temporales Intervall im herkömmlichen Sinne ausgelegt werden, das sich innerhalb bereits vorhandener Bezugsgrößen aufspannt, sondern muss vielmehr aus dem freigebenden »In« erfahren werden, das allererst Räumliches und Zeitliches gewährt. Trawny macht daher völlig zu Recht auf die Wichtigkeit dieser Präposition (die grammatische Einteilung kann hier wortwörtlich verstanden werden) aufmerksam, dessen sich entziehende Mitte ausge-
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liert diese Einsicht in einem prädikatlosen Satz, um eine thetische Vereinahmung des Gesagten zu verwehren: »Gespräch als […] Er-eignung des Da als Entscheidungsspielraum des Inzwischen« (GA 74, 143). Dieses Verhältnismäßige zeigt sich als responsives Eingehen auf einen Anspruch, der sich von anderswo erhebt und eine Antwort verlangt. 13 Alles menschliche Fragen und Tun versteht sich gerade aus diesem uneinholbaren Anruf, dem bereits im Vernehmen entsprochen wurde, denn »mit der Antwort setzt das Fragen erst ein, gerade um der Antwort ihren Antwortcharakter zu bewahren« (GA 44, 221). Nachgerade in seiner wohl schönsten und reichhaltigsten Vorlesung, in der sich Heidegger den Abgründen des herakliteischen Verständnis von L/logos widmet, wird die responsive Verschränkung in ihrer sprachlichen Verfasstheit als ein Zwischen bedacht: »Wir handeln vom Bezug des menschlichen logos zu dem Logos. Gemäß gesagt ist aber der menschliche logos nicht das eine Bezugsglied dieses Bezuges und ›der Logos‹ das andere Bezugsglied, sondern der menschliche logos selbst ist der Bezug, und der Logos insgleichen ist derselbe Bezug. Es ist nicht ein Bezug zwischen logoi, sondern sie sind das Zwischen und das Inzwischen, innerhalb dessen alles Zwischen und alles Beziehungsmäßige sein Wesen und sein bezughaftes Walten hat.« (GA 55, 434 f.) Mit der Zurückweisung der Sprache als objekthaft Seiendes, das von einem Subjekt zu seiner Disponibilität vor-gestellt werden kann, und der Hinwendung zur Sprache als eröffnenden Bezug des Zwischen kündigen sich somit auch weitreichende Konsequenzen für das menschstanden werden muss, indem man in ihr steht: »Vielleicht lautet das Hauptwort von Heideggers Denken nicht ›Sein‹, sondern ›in‹, ›In-Sein‹, noch anders, aber auch schon so gedacht wie jenes ›In-Sein‹ von ›Sein und Zeit‹ (§§ 12/13). Es gibt jedenfalls eine ganze Flut von Worten, von ›In‹-Worten, wie ›Innigkeit‹, ›Inständigkeit‹, ›In-begriff‹, ›Inmitten‹ und ›Inzwischen‹, Formulierungen wie ›Ins-Werk-setzen der Wahrheit‹ oder ›im-Wort-sein‹.« (Trawny 2010, 9) 13 In diesem Zusammenhag muss die gesamte Betrachtungsweise von Lafont zurückgewiesen werden, die Heidegger einen »Idealismus der Sprachlichkeit« unterstellt, indem sie aufzuzeigen beabsichtigt, worin näherhin »diese Hypostasierung« besteht (Lafont 1994, 10 f.). Sprache als »Instanz« zu verstehen, die »vorgängig präjudiziert, was innerweltlich begegnen kann« (Lafont 1994, 20 f.), forciert nicht nur eine fatalistische Konzeption des Seinsgeschehnisses, indem das Sein unter der Hand als ein Etwas interpretiert wird, sondern verkennt die responsive Dimension des Zuspruchs des Seins als Entsprechen des Daseins: Der Anspruch ergeht zwar von anderswo, bricht aber nur im Antworten als uneinholbarer auf. Anspruch und Entsprechen gehören in diesem Sinne zusammen, nicht jedoch als ein »kontingentes, schicksalshaftes ›Seinsgeschehen‹« (Lafont 1994, 21). A
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liche Selbstverständnis an: Nicht der Mensch verfügt über Sprache als umgrenzbares Objekt, sondern erfährt sich als ein aus diesem Ereignis Hervorgegangenes: »Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene erst das ›Zwischen‹ lichtet, innerhalb dessen eine ›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹ kann.« (GA 9, 350) Entgegen der herkömmlichen Auslegungstendenz wendet Heidegger – ohne sie jedoch einfachhin umzukehren – die bekannte aristotelische Bestimmung des Menschen als zoon logon echon (vgl. Pol. 1253a10 f.) in einer markanten Form (vgl. GA 74, 143). Die im aristotelische Diktum erörterte Fähigkeit zum Sprechen oder – besser gesagt – die Befähigung zur Sprache, auf die Heidegger in seinem Spätwerk immer wieder zurückkommt, stellt nicht eine beliebige Eigenschaft des Menschen neben zahlreichen anderen dar, sondern muss laut Heidegger in einer weit fundamentaleren Weise, nämlich als der »Aufriß seines Wesens« (GA 12, 229), verstanden werden: »Der Satz will sagen, erst die Sprache befähige den Menschen, dasjenige Lebewesen zu sein, das er als Mensch ist. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch.« (GA 12, 9) Diese Auszeichnung des Menschen als der zur Sprache Befähigte führt er in seiner letzten Hölderlin-Vorlesung genauer aus. Der Mensch als zoon logon echon ist »ein Lebewesen, will sagen: das Seiende, das das Seiende als ein solches auf sein Sein ansprechen kann« (GA 53, 102), d. h. sich zu sich selbst und anderen Seienden verhalten kann. Dabei wendet sich Heidegger, um jedes Missverständnis auszuschließen, dezidiert gegen die neuzeitliche Subjektivitätsmetaphysik und Transzendentalphilosophie: »Kant hat einmal gesagt, der Mensch unterscheide sich dadurch von allem Vieh, daß er ›ich‹ sagen könne, d. h. ein Selbstbewußtsein ›habe‹. Diese spezifisch neuzeitliche Kennzeichnung des Menschen muß durch eine ursprünglichere überwunden werden, die erkannt hat, daß der Mensch darin seine Auszeichnung vor allem anderen Seienden hat, daß er ›ist‹ sagen kann, daß er überhaupt ›sagen‹ kann. Nur weil der Mensch sagen kann: ›es ist‹, kann er auch sagen: ›ich bin‹, nicht umgekehrt. Und weil der Mensch ›ist‹ sagen kann, also den Bezug zum Sein ›hat‹, kann er überhaupt sagen, ›hat‹ er das Wort, ist er zoon logon echon.« (GA 53, 112; vgl. GA 12, 229 f.) 14 Eindringlich verweist Heidegger im so geHeidegger bezieht sich wohl auf die Preisschrift Kants über die Fortschritte der Metaphysik. Dort geht Kant folgender Frage nach: »Wie es möglich sei, daß ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst
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nannten Humanismusbrief auf die von ihm intendierte Dimension des Habens der Sprache als Ansprechenkönnen von Seiendem überhaupt, indem der Mensch bereits vom Sein in Anspruch genommen worden ist und ihm dort sein Aufenthalt gewährt wird: »Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird. Nur aus diesem Anspruch ›hat‹ er das gefunden, worin sein Wesen wohnt. Nur aus diesem Wohnen ›hat‹ er ›Sprache‹ als die Behausung, die seinem Wesen das Ekstatische wahrt.« (GA 9, 323) 15 Indem darauf hingewiesen wird, dass der Mensch als »Antwort auf das Wort« (GA 77, 103) verstanden werden soll, wird seine traditionelle Bestimmung als zoon logon echon anders lesbar. Sprache, die in der metaphysischen Tradition ganz selbstverständlich als das Proprium des Menschen angeführt wird, erweist sich nun gerade nicht in der Weise als sein Eigentum, über das er frei im Sinne einer externen Instanz verfügen kann. Das scheinbar Eigenste des Menschen – die Sprache –, die ihn laut Aristoteles vor allen anderen Lebewesen auszeichnet und so als differentia specifica seine vermeintliche »Identität« gewährt, besitzt er nun gerade nicht. Zwar ist der Mensch das Wesen, das logos hat, aber er wird seiner nicht habhaft, sondern das Wort kommt ihm nur insofern zu, als er auf es antwortet. Ein Antworten freilich, das den Anspruch nie restlos einholen und damit bergen kann. Stets wird ein sichentziehender Rest eine vollständige Kongruenz von Zu- und Entsprechen konterkarieren. Der Zuspruch der Sprache lässt sich nicht nur nicht im Subjekt zur Gänze bergen, er kann auch nicht auf die Konstitutionsleistung eines rationalistisch verstandenen Ich zurückgeführt werden. Vielmehr muss anerkannt werden, dass es stets die seiner Verfügungsgewalt entzogene Offenheit ausstehen und darauf antworten muss, sodass sich im menschlichen Selbstbezug stets unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Faktum ist; es zeigt aber ein über alle Sinnenanschauung so weit erhabenes Vermögen an, daß es, als der Grund der Möglichkeit eines Verstandes, die gänzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beizulegen, zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht.« (Kant 1998b, 601 (= A 35 f. / AA XX, 270)) 15 Auf den Zusammenhang zwischen Sprache, Geschichte (Herkunft und Erbe) sowie Wohnen wird noch gesondert einzugehen sein; Heidegger selbst gibt immer wieder Hinweise darauf, die Sprache als »Wohnort« zu verstehen, die »den geschichtlichen Menschen wohnen läßt« (GA 74, 58). A
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schon Anderes mitereignet haben wird. Bei einer näheren Inblicknahme des sprachlichen Vermögens zeigt sich, dass das Subjekt stets enteignende und »ver-andernde« Momente in sich birgt, die sich niemals vollends in seiner Verfügungsgewalt befinden. Niemals erlangt das Dasein eine in sich ruhende Selbstpräsenz und umfassende Selbsttransparenz. Jedem Selbstbezug wohnt ein Selbstentzug inne, der in dieser nicht zur Deckung zu bringenden Unabschließbarkeit in einer konstitutiven Weise das Offensein für … und damit das Aufgehen von Welt gewährt. Könnte das Subjekt jemals bei sich anfangen oder gänzlich zu sich kommen, wäre es nicht mehr die Stätte, wo ein Ereignis stattfinden könnte. Dann wäre es in einer monadischen Selbstgenügsamkeit und ohne möglichen Angang von Überraschendem und Unvorhergesehenem. Die Unmöglichkeit einer restlosen Selbst(er)schließung eröffnet gerade in der Exponiertheit eines sich selbst entzogenen Menschenwesens das Ankommenlassen von Anderem. Ein Ankommen, das nicht nur dann und wann gewährt wird, sondern welches das Dasein als Stätte des Da immer schon heimgesucht haben wird. Das »Haben des Logos« kann daher weder als Verfügbarkeit über die Sprache im Sinne des Wesenbesitzes des Menschen noch als fatalistische Konzeption einer externen und damit identifizierbaren Übermacht des Seins interpretiert, sondern muss als responsive Verschränkung gelesen werden, indem »das ursprüngliche Wort antwortend zum Sagen« (GA 74, 55) gebracht wird. Das Eine geschieht als das andere. 16 Die Sprache »hat« so in gewisser Weise den Menschen – und nicht umgekehrt: »Die Sprache ist nichts, was der Mensch unter anderen Vermögen und Werkzeugen auch hat, sondern Jenes, was den Menschen hat, so oder so sein Dasein als solches von Grund aus fügt und bestimmt.« (GA 39, 67) Die Einsicht, die Heideggers Besinnung auf die Sprache seit spätestens Mitte der 1930er Jahre leitet, kehrt leitmotivisch in seinem späten Band Unterwegs zur Sprache, der Vorträge und Aufsätze der 1950er Jahre zum Thema Sprache versammelt, wieder. Nicht der Mensch spricht, sondern – so Heideggers Spitze gegen die geläufige Vorstellung – die Sprache spricht (vgl. GA 12, 10). Wie Eindringlich markiert auch Waldenfels diese wesentliche Verschiebung in der Relektüre des aristotelischen Zitats: »Der alte Satz: ›Der Mensch ist ein Lebewesen, das Rede und Vernunft hat‹, ließe sich umformen in den Satz: ›Der Mensch ist ein Lebewesen, das Antworten gibt‹.« (Waldenfels 2006, 62) Vielleicht müsste dieser Satz noch weiter radikalisiert werden: Dort, wo sich ein Antworten ereignet, zeigt sich das Menschsein.
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aber lässt sich dann noch ein Weg zum gemeinhin nicht vergegenständlichbaren und damit »a-phänomenalen« Phänomen Sprache bahnen, das sich deutlich von der metaphysischen Auslegung der Sprache unterscheidet? Welcher »Zugang« zur Sprache – bei der wir immer schon sind – kann hier noch für eine Erörterung leitend sein?
b) Ein Weg zur Sprache – das Gespräch Es stellt sich die Frage, was in diesem Zusammenhang der Weg zur Sprache, die sich uns immer schon mitteilt, überhaupt heißen kann. Entgegen der neuzeitlichen Bestimmung, unter Methode ein Verfahren zu begreifen, das im Voraus das Gegenstandsgebiet umreißt und so einen gesicherten Zugang zu jeder Erforschung bestimmt, möchte Heidegger »Methode« und in weiterer Folge »Weg« anders verstanden wissen. 17 Er erläutert im Zusammenhang mit dem griechischen Wort für Weg (hodos) sein genuines Verständnis von einer Annäherung an das Phänomen: »He methodos ist das Auf-dem-Weg-bleiben, nämlich auf dem Weg, der nicht vom Menschen als ›Methode‹ gedacht, sondern von dem sich zeigenden Seienden her durch dieses hindurch gewiesen ist und so schon ist. He methodos ist griechisch nicht das ›Verfahren‹ einer Untersuchung, sondern eher diese selbst als das Auf-dem-Wegbleiben.« (GA 54, 87) Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass sich Heidegger nicht einen Weg zum Phänomen bahnt, sondern bereits von ihm in Anspruch genommen ist. Es geht hier folglich weder darum, das Phänomen in ein vorgegebenes Raster zur pressen, noch eine endgültige Definition zu erhalten und es als Objekt vor sich zu bringen. Es gilt vielmehr einzusehen, dass das Dasein sich schon in einem Verhältnis zur Sprache befindet. Dieses Eingelassensein in das Verhältnis gilt es nun, näherhin zu bedenken. Sprache kann nicht als ein Objekt ins Visier genommen werden, da es sich als unmöglich erweist, sie von einem (sprachexternen) Standpunkt her zu thematisieren. Doch inwiefern kann behauptet wer17 Prägnant beschreibt Heidegger das traditionelle Methoden-Verständnis, das seit Beginn der Neuzeit breite Auswirkungen – nicht zuletzt im wissenschaftlichen Diskurs – hatte: »›Methode‹ ist hier [in der neuzeitlichen Philosophie, M. F.] nicht ›methodologisch‹ als Weise des Untersuchens und Forschens zu verstehen, sondern metaphysisch als Weg zu einer Wesensbestimmung der Wahrheit, die ausschließlich durch das Vermögen des Menschen begründbar ist.« (GA 6.1, 117)
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den, dass die Sprache nicht als herkömmlicher Gegenstand philosophischer Forschung behandelt werden darf, sondern dass sie spricht und der Mensch immer schon in ein Gespräch mit ihr verwickelt ist? Bei der Suche nach einer Annäherung an die Sprache macht Heidegger darauf aufmerksam, dass sich jeder Versuch der Vergegenständlichung von Sprache von Anfang an in einer »aporetischen« Situation befindet: »Wir sprechen von der Sprache im ständigen Anschein, nur über die Sprache zu sprechen, während wir bereits aus der Sprache her, in ihr sie selbst, ihr Wesen, uns sagen lassen.« (GA 12, 180) In weiteren Überlegungen zur Sprache muss folglich bedacht werden, dass es unumgänglich ist, das Phänomen Sprache selbst wiederum sprachlich zu erörtern, denn das, was ein Nachdenken über Sprache gewährt, ist selbst wiederum Sprache. Jedes Sprechen über Sprache spricht somit immer schon aus und mit ihr. Sprache als vermeintlicher »Gegenstand« einer Untersuchung, der in philosophischen Reflexionen als Sonderdisziplin erforscht werden soll, stellt zugleich – um in der traditionellen Terminologie zu bleiben – die Bedingung der Möglichkeit der Untersuchung dar. Ermöglichungsgrund, Zugang und Gegenstand sind dabei in einer unauflösbaren Weise miteinander verstrickt: »Das Vorhaben eines Weges zur Sprache ist in ein Sprechen verflochten, das gerade die Sprache freistellen möchte, um sie als die Sprache vorzustellen und das Vorgestellte auszusprechen, was zugleich bezeugt, daß die Sprache selber uns in das Sprechen verflochten hat.« (GA 12, 230 f.) Mit süffisant ironischem Unterton weist Heidegger in einem Brief vom 3. Jänner 1932 an den Altphilologen Julius Stenzel eindringlich auf die Unmöglichkeit der klassischen Sprachphilosophie als Teildisziplin der Philosophie hin, um gleichzeitig auf das intrinsische Verhältnis Menschenwesen und Sprache, dem es nachzudenken und auf die Spur zu kommen gilt, aufmerksam zu machen: »Bleiben Sie ja mit aller Kraft bei der ›Sprachphilosophie‹. Vielleicht wird eines Tages dieses Wortgebilde ganz nichtssagend und das Überbleibsel eines Dokuments für ein großes Mißverständnis. Dann nämlich, wenn wir wieder begriffen haben, wie Philosophieren und Dasein und Sprache in sich verwurzelt sind und die Bodenlosigkeit des einen die anderen mit ins Verhängnis zieht.« (BW Heidegger / Stenzel 25) Jede Suche nach Sprache ist immer schon von ihr selbst als – und hierin besteht die eigentliche »Zumutung« 18 für das vorstellende Den18
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So schreibt Heidegger: »Das jetzt Gesagte ist eine Zumutung. Wäre es nur eine Be-
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ken – nicht zu umgrenzendes Forschungsobjekt getragen. Sprache wird somit nicht mittels der Diskursivität der Rationalität einzuholen sein, denn nirgendwo lässt sich ein Ausgangs- oder Endpunkt der Untersuchung erreichen, der nicht selbst wiederum sprachlich vermittelt sein wird. Sie dreht sich somit in einer gewissen Weise im Kreis, dessen Zirkelläufe Heidegger einmal mehr nicht als einen circulus vitiosus (vgl. GA 2, 202 f.), sondern als einem dem Phänomen adäquaten und unausweichlichen erörtert: Sprache erweist sich nämlich bei jeder Frage nach ihr als bereits vorgängig und ist daher nie restlos auf das Gegenüber eines Gegenstandes reduzierbar, da sie sich längst schon, wenn sie selbst allererst »wissenschaftlich« zum Thema gemacht werden soll, unausweichlich und untrennbar in die Untersuchung mit-einschreibt und immer schon mit-spricht.19 Jede wissenschaftliche Methodik konterkarierend lenkt und bestimmt ausgerechnet der Forschungsgegenstand selbst seine Zugangsweise. Die Methode, die eine unabhängige Untersuchung garantieren soll, ist somit immer schon sprachlich durchsetzt und von ihr abhängig. Wir bewegen uns dergestalt in sprachlichen Bahnen, dass es unmöglich ist, in einem Außerhalb der Sprache einen Stand zu gewinnen. Eine im strengen Wortsinn angestrebte Definition als Eingrenzung dessen, was Sprache ist, erweist sich somit als unmöglich, da das zu Umgrenzende unablässig in die Grenzziehung eingreift und klare Trennlinien immer wieder verwischt, ja verunmöglicht. Indem die Vor- respektive Mitgängigkeit der Sprache erörtert wird, erfährt die Konzeption eines souveränen Subjekts, die in der Metaphysik der Neuzeit zum Durchbruch gelangte, eine grundlegende Neuorientierung. Diese Erfahrung gilt es auszubuchstabieren, denn das, wohin die Erfahrenden unterwegs sind, belangt sie selbst auf eine nicht unbeträchtliche Weise. Hierin bekundet sich Heideggers genuines Verständnis dessen, was er »Erfahrung« nennt; diese bildet gleichhauptung, dann dürften wir uns daran machen, ihre Richtigkeit oder Falschheit zu beweisen. Dies wäre um vieles leichter, als die Zumutung auszuhalten und uns in sie zu finden.« (GA 12, 170) Die Zumutung ist aber nicht nur als Anmaßung und Überforderung zu verstehen. In ihr schwingt auch der Mut mit, sich auf ein Wagnis einzulassen und sich zuzumuten, selbstverständliche Auslegungsbahnen zu verlassen. 19 Der Einsicht in die »Selbstreferenzialität der Frage nach der Sprache im Medium von Sprache« geht Mersch in seinem aufschlussreichen Artikel Negative Medialität nach, indem er aufzeigt, inwiefern Heidegger der Unmöglichkeit Rechnung trägt, »die Sprache von einem anderen Ort als der Sprache her zu thematisieren, weil das Andere, das die Reflexion ermöglicht, schon Sprache ist« (Mersch 2005, 14). A
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sam einen Kontrapunkt zum sich selbst setzenden Vernunftdenken. Mit Erfahrung ist somit keine aktive und beabsichtigte Bewerkstelligung eines souverän agierenden Subjekts gemeint, sondern es passiert in ihr vielmehr etwas mit denen, die davon angegangen werden. Eine Erfahrung machen heißt demnach für Heidegger, »daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt« (GA 12, 149). Eine Unmöglichkeit der Distanznahme von einer Erfahrung mit der Sprache kündigt sich in diesem Zitat bereits dadurch an, dass er nicht von einer sicheren Warte aus über die Sprache und die sie Sprechenden spricht, sondern die Erörterung an sich selbst und an die im Vortrag angesprochene Hörer- und in weiterer Folge an seine Leserschaft adressiert – gekennzeichnet durch das Personalpronomen »uns« – und somit den Plural der ersten Person in diese Suche mit hinein nimmt. Nicht irgendwelche Sprechenden, sondern es bringt »uns« – gleichsam in einem akkusativischen Angegangenwerden – auf den Weg zur Sprache. Heidegger sieht sich und die seinen Texten Nachdenkenden unter diesen Anspruch der Erfahrung gestellt, bei dem sich mehr als ein Verstehen von Inhalten vollzieht, denn das Vernommene bringt uns – quasi performativ – in ein gewandeltes Verhältnis zur Sprache, in dem wir uns bereits befinden. Aus diesem Hinweis wird aber auch ersichtlich, dass – trotz der Zurückweisung jeder kalkulierbaren Tätigkeit – Erfahrung nicht mit einer reinen Passivität gleichzusetzen ist. Die gemeinhin angenommene Gegenüberstellung von Aktivität einerseits und Passivität andererseits wird von Heidegger unterlaufen. Obwohl in der Erfahrung mit uns, den Betroffenen, etwas passiert, zeigt sich darin ein mediales, genauer ein vernehmend-antwortendes Moment: Die Erfahrenden verwandeln sich in der Erfahrung, indem sie dem gestellten Anspruch entsprechen und auf die Herausforderung eingehen. Die Erfahrung, die mehr ein Erleiden als ein Tun ist, darf jedoch »nicht passivisch […], sondern […] muß medial verstanden werden« (GA 55, 338). Hier trifft sich Heidegger auch mit dem französischen Linguisten Benveniste, der darauf aufmerksam macht, dass sprachgeschichtlich gesehen die Opposition von aktiv/medial im Indogermanischen älter ist, als die heute geläufige Gegenüberstellung von aktiv/passiv, die nur den Unterschied zwischen ausgeübter oder erlittener Handlung eines Subjekts im Sinne des Ursache-Wirkung-Schemas kennt. Bei der Gegenüberstellung von aktiv/medial jedoch beruht laut Benveniste die Unterscheidung auf der Differenz zwischen einem Subjekt und einem Vorgang. Verben im ak236
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Ein Weg zur Sprache – das Gespräch
tiven Modus weisen auf Vorgänge hin, die von einem Subjekt ausgehen, während medial verwendete Verben auf ein Geschehen hinweisen, an dem das Subjekt teilnimmt, was nie rein passiv zu interpretieren ist (vgl. Benveniste 1974, 189–198). Von phänomenologischer Seite ist Waldenfels der subversiven Unterwanderung des UrsacheWirkung-Schemas in der Erfahrung umfassend nachgegangen: »Wird das Widerfahrnis aus der Beteiligungsperspektive des Erleidenden, des ›Patienten‹ betrachtet, so tritt es auf als Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht. Darin entspricht das Widerfahrnis dem Antworten. Das Geschehen, in dem wir von etwas getroffen werden, sowie jenes Geschehen, in dem wir auf etwas antworten, gehören zu den Hintergründen eines Geschehens, in dem etwas als etwas auftritt; insofern ist es selbst kein Etwas, außer im Rückblick oder in einer nachträglichen Beschreibung.« (Waldenfels 2002, 99) Heidegger streicht diesen Aspekt in seinem Verständnis von Erfahrung (mit der Sprache) hervor, indem er darauf hinweist, dass »das uns Treffende vernehmend empfangen« (GA 12, 149) wird. Das »vernehmende Empfangen« als participatio wird nicht nur in einem passiv-untätigen, sondern in gleichem Maße auch in einem aktiv-zulassenden Sinne verstanden. Das uns Treffende könnte uns gar nicht angehen und vernehmend entgegengenommen werden, wenn es keine Stätte gäbe, in dessen Offenheit es sich überhaupt entfalten könnte. 20 Um dieses zulassende Einräumen genauer zu umschreiben und Missverständnisse zu vermeiden, sieht sich Heidegger gezwungen, die kategoriale Unterscheidung zwischen aktiv und passiv fallen zu lassen. In der Erörterung der Gelassenheit gelangen die Gesprächspartner – ein Forscher, ein Gelehrter und ein Weiser – zur Einsicht, dass diese herkömmliche Einteilung das zu-Sagende 21 nicht angemessen umschreibt: »F: Sie reden da überall von einem Lassen, so daß der Eindruck entsteht, es sei eine Art von Passivität gemeint. Gleichwohl glaube ich zu wissen, daß es sich da keineswegs um ein 20 Auch Derrida weist darauf hin, dass bei jeder Kommunikationssituation ein unausgesprochenes und allem Gesagten vorgelagertes »Ja« (vgl. Derrida 1988b, 134 und 1999b, 183) des Vertrauensvorschusses besteht, indem die Hörenden den Sprechenden ihre Aufmerksamkeit schenken, ihnen ihr Ohr leihen und ihnen einräumen, sprechen zu können, »auch dann noch, wenn wir gleich diskutieren und in nichts mehr übereinstimmen sollten« (Derrida 1993, 22). 21 Das zu-Sagende muss im Folgenden in dem zweifachen und zusammenfallenden Bezug von dem, was sich zusagt, und dem, worauf geantwortet werden muss, verstanden werden.
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kraftloses Gleiten- und Treibenlassen der Dinge handelt. / G: Vielleicht verbirgt sich in der Gelassenheit eine höhere Aktivität als in allen Taten der Welt und in den Machenschaften der Menschentümer. / W: Nur daß diese höhere Aktivität doch keine Aktivität ist. / F: Demnach liegt die Gelassenheit, falls man hier von einem Liegen sprechen darf, außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität.« (GA 77, 108 f.) »Er-fahren« – im wörtlichen Sinne genommen – wird von Heidegger als eundo assequi (vgl. GA 12, 159) näherhin zu umschreiben versucht: Im Vollzug des Gehens eröffnen sich nicht nur neue Landstriche und unbekannte Gefilde, sondern es wird der Weg als Weg offenbar, sodass sich im Unterwegssein des Ergehens und Durchwanderns die Reisenden selbst wandeln und die werden, die sie sind. Das Erfahren der Sprache wird sich dabei nicht als ein Weg- und Dorthin-Fahren erweisen, sondern vielmehr als eine Ein- und Rückfahrt in das, worin wir uns je befinden und woran wir immer schon anteilnehmen. Doch wie können wir uns als Erfahrende das »Wesen der Sprache« 22 in einer angemessenen Art und Weise zusagen lassen? Nachdem wir von der Sprache bei der Suche nach der rechten Zugangsart zu ihr immer schon von ihr angegangen sind, stellt sich die Frage, wie dieser »ausdrückliche« Weg der Erfahrung mit der Sprache aussieht. Dieser soll sich aber erst im Erfahren des Weges, d. h. im Unterwegssein selbst, erschließen. Ein Weg stellt – in diesem Sinne verstanden – nicht, wie gemeinhin angenommen, eine nachträgliche Verbindung zwischen zwei Punkten dar, sondern im und auf dem Weg zeigt sich allererst das dabei Aufgehende: »Der Weg dieses Erdenkens […] hat nicht schon die feste Einzeichnung in einer Landkarte. Das Land wird ja erst durch den Weg und ist an jeder Wegstelle unbekannt und nicht zu errechnen.« (GA 65, 86) An anderer Stelle vermerkt Heidegger, dass »Weg« nicht substantivisch im Sinne eines vorhandenen Seienden, sondern verbal-geschehnishaft, vom alemannischen »wëgen« als »einen Weg bahnen«, verstanden werden müsse: »Der Weg ist ereignend. […] Bewëgen […] heißt […] den Weg zu … allererst erbringen und so der Das Wesen der Sprache wird hier stets verbal verstanden und ist folglich nicht mit einer essentialistischen Denkweise zu verwechseln. So schreibt Heidegger: »Das Wort ›Wesen‹ meint aber nicht mehr das, was etwas ist. ›Wesen‹ hören wir als Zeitwort, wesend wie anwesend und abwesend. ›Wesen‹ besagt währen, weilen. Allein, die Wendung ›Es west‹ sagt mehr als nur: Es währt und dauert. ›Es west‹ meint: Es west an, während geht es uns an, be-wëgt und be-langt uns.« (GA 12, 190; vgl. GA 65, 286–289)
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Weg ›sein‹.« (GA 12, 249) 23 Sprache ist somit nichts, was im Sinne eines ausgemachten Weges erschlossen werden könnte, der gleichsam vorgibt, welche Erfahrungen in und mit der Sprache gemacht werden müssen, sondern im Unterwegs zu und in der Sprache werden von der Sprache selbst Wege (und Abwege) vorgegeben, auf die sie uns gelangen lässt. »Der Sprache nachdenken verlangt somit, daß wir auf das Sprechen der Sprache eingehen, um bei der Sprache, d. h. in ihrem Sprechen, nicht in unserem, den Aufenthalt zu nehmen. Nur so gelangen wir in den Bereich, innerhalb dessen es glückt oder auch mißglückt, daß aus ihm die Sprache uns ihr Wesen zuspricht.« (GA 12, 10) Dementsprechend betont Heidegger immer wieder die Gefahr des Scheiterns im Unterwegssein, der man sich aussetzt, und die Unmöglichkeit, einen Erfolg mit Gewissheit (qua certitudo) prognostizieren zu können: »Ob der Versuch, uns vor die Möglichkeit einer solchen Erfahrung zu bringen, glückt, wie weit das vielleicht Geglückte bei jedem einzelnen unter uns reicht, dies hat niemand von uns in der Hand.« (GA 12, 151) Jeder Möglichkeit einer geglückten Erfahrung mit der Sprache ist somit auch ihr Misslingen, ihre Unmöglichkeit eingeschrieben. Etwas kann daher nur gelingen, wenn es auch scheitern kann; ansonsten wäre es ein determinierter Ablauf eines vorausberechenbaren Programms. In konstitutiver Weise gehört somit das Missglücken in das Wagnis dieser Erfahrung. Zwar können auch Funktionszusammenhänge fehlschlagen, doch dies nur, indem sie das vorgegebene Ziel verfehlen. Ob eine Erfahrung gelingt bzw. misslingt oder ob ein Gespräch 23 Guzzoni hat mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass ein Weg – im Sinne Heideggers – nicht als etwas für sich Bestehendes oder bereits Bekanntes, ja auch nicht als etwas Dinghaftes vorgestellt werden darf, wenn dieses Moment des Eröffnens nicht unterschlagen werden soll: »Die Wege sind selbst weder Dinge, noch sind sie das, worin jene sich befinden […]. In gewissem Sinne sind die Wege selbst nichts, oder vielleicht besser, sie sind nichts selbst, sondern nur ein Zwischen und Wodurch und Womit, etwas, das zurücktritt, worumwillen es ist.« (Guzzoni 1990, 303) Dieses Zwischen ist nun nicht als ein vermittelndes Drittes, sondern im Sinne des zuvor erwähnten vollzughaften Charakters zu verstehen. Ausgehend von Rombachs Hinweisen könnte hier auch ein denkerischer Zusammenhang zwischen Heideggers Denken und dem asiatischen Verständnis von Weg als Tao ausgelotet werden: »Für einen Vorblick auf das Phänomen Weg gibt uns die Philosophie allerdings wenig Hilfen. Sie denkt den Weg vom Ziel her und bestimmt das Ziel als das Worumwillen (ou heneka). Das Ziel ist ›früher‹ als der Weg und selbständig gegenüber diesem. […] Ein anders geartetes Denken, das dadurch charakterisiert ist, daß es aus der Erfahrung des Weges kommt, artikuliert sich im Tao.« (Rombach 1971, 9)
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glückt bzw. scheitert, wird sich nur im Nachhinein herausstellen, nicht bestimmt aber ein vorausliegendes telos diese Art der Vollzüge. Diese nicht beherrschbare Offenheit jeder Erfahrung, die stets von Erwartungen durchkreuzt und unvermutet in andere Richtungen verschlagen werden kann, muss gerade in der Erfahrung der Sprache mitbedacht werden: »Weg ist immer in der Gefahr, Irrweg zu werden.« (GA 7, 187) Dieses Scheitern, das genauer besehen in der Offenheit für Anderes als ein Scheitern-zulassen-können verstanden werden muss, ist laut Heidegger aber »kein Versagen und nichts Negatives«, sondern in der Abkehr von jedem vorstellenden und begründenden Denken ein »Anzeichen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs« (GA 42, 5). 24 Das Scheitern des Weges in einem Gespräch darf somit nicht auf die zwischenmenschliche Ebene oder auf individuelle Unzulänglichkeiten reduziert werden, ebenso wenig beschränkt es sich auf das Was des Sprechens, sondern die Gefahr liegt im Gespräch und dessen Sprache selbst, sodass – wie Heidegger selbst im Vollzug der Unterredung mit dem Japaner anmerkt – »die Sprache unseres Gesprächs fortgesetzt die Möglichkeit zerstört, das zu sagen, was wir besprechen« (GA 12, 98). Als ein wagnishafter und unvorhersehbarer Weg, auf dem sich die Sprache selbst zur Sprache bringen kann, kann sich gerade das Gespräch erweisen. Es bleibt in einem Gespräch offen, wann und unter welchen Umständen es sich ergibt, wie es sich in seinem Fortlauf gestaltet und was darin zur Sprache kommt. Nicht im Vorhinein ausmachbar bleibt auch, ob sich im Gespräch alle Differenzen auflösen, ob es abgebrochen werden muss, da es in eine Sackgasse führt, oder vollends fehlschlägt. Hierin erweist sich Sprache – gemäß dem Diktum Auf dieses Moment des Scheiternkönnens hat in Anschluss an Heidegger auch de Man hingewiesen, indem er das Diktum Heideggers »Die Sprache spricht« in »Die Sprache verspricht (sich) […]« (de Man 1979, 277) wandelt. Es wird sich zeigen, inwiefern ein solch nicht beherrschbares Weg-Denken sich auch gegen ein transzendentales Begründen wendet. In dieselbe Kerbe schlägt Derrida. Er betont wie Heidegger die Notwendigkeit einer transzendentalen (oder metaphysischen) Frage; in dieser Fragestellung jedoch muss seiner Ansicht nach der ihr innewohnenden Kontingenz und Aporie Rechnung getragen werden. Der Bedingung der Möglichkeit ist immer schon die Bedingung der Unmöglichkeit miteingeschrieben. Diese »Quasi-Transzendentalität« (Derrida 1999b, 181), bei der die »Möglichkeit als Unmöglichkeit zu definieren« (Derrida 1999b, 182) ist, bleibt einem potentiellen Scheitern ausgesetzt und befindet sich so stets im Unbestimmbaren zwischen Gelingen und Scheitern, Fiktion und Kontingenz, Möglichkeit und Unmöglichkeit.
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Hölderlins – als der »Güter Gefährlichstes« (Hölderlin 1998a, 265) 25 , da es unabsehbar ist, wie die Gegebenheit von Welt responsiv ausgestanden werden kann, in die das Dasein Dank der Sprache hinausgehalten ist: »Denn in der Sprache wagt sich der Mensch am weitesten vor, er wagt sich mit ihr als solcher überhaupt erst hinaus in das Sein. In der Sprache geschieht die Offenbarung des Seienden, nicht erst ein nachdrücklicher Ausdruck des Enthüllten, sondern die ursprüngliche Enthüllung selbst, aber deshalb auch die Verhüllung und deren vorherrschende Abart, der Schein.« (GA 39, 61 f.) Das Aufgehen von Welt und die Offenbarkeit des Seienden lässt sich nicht wie ein Scheinwerfer handhaben, mit dem je nach Gutdünken Objekte ausgeleuchtet werden, gleichsam als ob diese im Dunkeln bereits vorliegen; vielmehr bleibt der sprachlich verstandenen Gelichtetheit von Welt ihr prekärer Charakter aufgegeben, indem das Antworten stets auf den Zuspruch angewiesen bleibt. Diese freie Ungewissheit leitet auch das Gespräch der Sprache, das laut Heidegger gerade kein Sprechen über die Sprache sein soll, bei dem der Gegenstand schon vorausgesetzt werden kann, sondern ein Gespräch mit und von der Sprache, in der sie selbst als Sprache – als Unscheinbare – zu Wort kommen soll. So geht Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Fragenden und einem Japaner hervor: »F: Ein Sprechen über die Sprache macht sie unausweichlich zu einem Gegenstand. / J: Dann entschwindet ihr Wesen. / F: Wir haben uns über die Sprache gestellt, statt von ihr zu hören. / J: Dann gäbe es nur ein Sprechen von der Sprache … / F: in der Weise, daß es von ihrem Wesen her gerufen und dahin geleitet wäre. / J: Wie vermögen wir solches? / Ein Sprechen von der Sprache könnte nur ein Gespräch sein […], ein Gespräch vom Wesen der Sprache her […].« (GA 12, 141 f.) Die Gefahr der Vergegenständlichung der Sprache – und damit ein ungewollter Rückfall in metaphysische Auslegungsbahnen – ist für Heidegger permanent gegeben. Anstelle des zugreifenden und verobjektivierenden über rekurriert Heidegger auf ein Sprechen von der Sprache, das von ihr – ganz im antwortenden Sinne – her versteht und sie nicht vor sich zu stellen beabsichtigt. Wenn es möglich ist, dieser Tendenz des vorstellenden Denkens zu entkommen, dann nur dahingehend, dass die tradierte Diktion nicht übernommen wird und bei der 25 Im »Bruchstück« Im Wald aus dem Stuttgarter Foliobuch findet sich der hier nur teilweise wiedergegebene Vers acht.
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Erörterung die Unmöglichkeit, sie verobjektivieren zu können, stets mitbedacht wird. Doch wie soll sich ein Gespräch von der Sprache her vollziehen? Heidegger orientiert sich dabei an der »Wegformel«, auf die er in Der Weg zur Sprache variierend immer wieder zurückkommt: »Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen.« (GA 12, 230; vgl. GA 12, 232, 239, 250) Dieses Leitwort, das sich erst auf dem Weg in und zu der Sprache erschließen und unterwegs auch den formalen Charakter verlieren wird, zunächst jedoch wie ein inhaltsleerer Satz klingt und sich kaum als ein Aussagesatz verstehen lässt, nennt dreimal – scheinbar indifferent – das Wort »Sprache«. Die scheinbare Tautologie entpuppt sich erst bei näherem Hinhören als eine Einsicht in das Walten der Sprache, indem der Gabecharakter der Sprache vernehmbar gemacht werden soll. Heidegger insistiert darauf, dass die Wegformel »jedesmal Anderes und gleichwohl das Selbe sagt« (GA 12, 230). Das Grundwort »Sprache« wird hier folglich nicht gemäß einer Namenstheorie der Bedeutung in einer deckungsgleichen Kongruenz genommen, in der sich alles in einem uniformen Einerlei auflöst, sondern es tritt Verschiedenes zutage, dessen Unterschiede erst zum Austrag gebracht werden müssen. Diese Differenzen sagen aber zugleich – jeder Logik des Satzes vom Widerspruch zum Trotz – das Selbe: »Dies ist Jenes, was das Auseinandergehaltene aus dem Einen, worin das Eigentümliche der Sprache hält, zueinanderhält.« (GA 12, 230) 26 Es gilt nun der Wegformel gemäß, sich sowohl in die nun zu erfahrende Differenz des Austrags als auch in das Zueinanderhaltende einzulassen. Der springende Punkt scheint für Heidegger hier das Partikel »als« zu sein, das sich in einer auffälligen Weise in den Satz einschreibt und ihm eine andere Akzentuierung verleiht. Es lenkt im wiederholenden Zurückkommen ausdrücklich die Aufmerksamkeit darauf, was in diesem »als« hervorgehoben wird. Erst in und aus diesem »als« erhält So klärt Heidegger an anderer Stelle, was mit der angesprochenen Selbigkeit gemeint ist: »Darnach meint das Selbe nicht das leere Einerlei von Einem und Anderem, auch nicht das Einerlei von etwas mit ihm selbst. Das Selbe im Sinne dieses Einerlei ist das Gleichgültige der leeren, endlos wiederholbaren Identität: A als A, B als B. Das Selbe, gedacht im Sinne des Zusammengehörens im Wesen, sprengt jedoch die Gleichgültigkeit dessen, was zusammengehört, hält es vielmehr in die äußerste Ungleichheit auseinander, hält es und läßt es gerade nicht auseinander- und so zer-fallen. Dieses Zusammenhalten im Auseinanderhalten ist ein Zug dessen, was wir das Selbe und die Selbigkeit nennen.« (GA 10, 133)
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die Wegformel ihre eigentliche Bewegtheit. 27 Dabei bildet das »als« keine leere und gleichgültige Wiederholung, sondern eine »signifikative Differenz« (Waldenfels 2002, 28), in der Selbstverständlichkeiten und somit meist Unbedachtes dezidiert in den Mittelpunkt der Besinnung gerückt werden. Auf diese in die »Formel« eingeschriebene Differenz macht auch Heidegger mit Nachdruck aufmerksam; was sie »inhaltlich« besagt, löst Heidegger erst im Gang des Vortrages Der Weg zur Sprache, d. h. in der fortschreitenden Erfahrung mit der Sprache, auf: »Die Be-wëgung bringt die Sprache (das Sprachwesen) als die Sprache (die Sage) zur Sprache (zum verlautenden Wort).« (GA 12, 250) Heidegger verlässt mit dieser Sprechweise das in der metaphysischen Tradition grundlegende Schema des wirkursächlichen Denkens von Grund und Begründetem: Die Sprache als Sprache zu nehmen, heißt, sie explizit und ausschließlich hinsichtlich ihrer selbst zu verstehen suchen und sie nicht von einem externen Standpunkt zu fassen oder von einer ihr äußerlichen Instanz – vom Denken, von ihrer wirklichkeitsabbildenden Funktion etc. – her zu begründen. So schreibt Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm von Humboldt, dessen wegweisende Einsichten und »tiefdunkle Blicke in das Wesen der Sprache« (GA 12, 256) für ihn – bei aller Bewunderung – immer noch von einer zutiefst idealistischen Terminologie und somit von metaphysischem Denken durchsetzt sind: »Wir können uns nicht mehr nach allgemeinen Vorstellungen – wie Energie, Tätigkeit, Arbeit, Geisteskraft, Weltansicht, Ausdruck – umsehen, in denen wir die Sprache als einen besonderen Fall dieses Allgemeinen unterbringen. Statt die Sprache als dieses und jenes zu erklären und so von der Sprache wegzuflüchten, möchte der Weg zu ihr die Sprache als die Sprache erfahren lassen.« (GA 12, 238 f.) Wie Sprache sich gibt, soll demnach nicht von einem Dritten hergeleitet werden, wie es Heideggers Auffassung nach stets in der Tradition geschehen ist, sondern in einer gesteigerten Zukehr zum Phänomen von der Sprache als der Sprache selbst aufgegeben werden. Es gilt demnach, nicht vom Weg in und zur Sprache abzulas27 Mit Waldenfels kann diese entscheidende Rolle des »als« noch pointierter hervorgehoben werden: »Das merkwürdige Als, das in der besagten Differenzformel [etwas als etwas; M. F.] auftaucht, bildet kein Zwischenglied, das sich zwischen Dinge und Bedeutungen schiebt, keine Relation, die zwei Relata voraussetzen würde, und auch keine Konstante einer Funktionsgleichung, die zwei Größen miteinander koordiniert. Das Als fungiert als Scharnier zwischen dem, was ist, und dem, als was es ist, indem es zugleich eine Kluft zwischen beiden aufreißt.« (Waldenfels 2002, 29)
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sen, sondern sich im Unterwegssein das Walten der Sprache lediglich als Sprache sagen zu lassen und das eigene unentwegte Eingehen als Arbeit entlang des Wortens – d. h. des Sprachgeschehnisses – zu verstehen. Aber Heidegger bleibt an diesem Punkt nicht stehen; die »Formel« wiederholt ja dreimal das Wort »Sprache«. Er geht nun daran, das »als« nicht – wie er es der metaphysischen Tradition unterstellt – unter den Tisch fallen zu lassen; 28 jedoch reicht es ihm offensichtlich nicht mehr aus, die Differenz der Sprache als Sprache bloß zu bedenken, sondern die Sprache muss als Sprache – als sie selbst, d. h. in ihrem sichentziehenden Gabecharakter – zur Sprache gebracht werden. Es muss einsichtig werden, wie sich die Sprache als Sprache manifestiert, wie ihr unmerkliches Wesen im Sprechen selbst aufbricht und vernehmbar wird. Diese uneinholbare Unbestimmtheit der Sprache zeigt sich im Entzug als Exzess: Dass über Sprache nicht objekthaft gesprochen werden kann, da Medium und Gegenstand in einer unbotmäßigen Weise miteinander verstrickt sind, weist ja auch darauf hin, dass Sprache nicht geradewegs oder direkt thematisiert werden kann, ohne dabei wieder in ein vergegenständlichendes Worüber der Aussage zurückzufallen. Doch in jedwedem Sprechen über … – einerlei über welche Thematik – bringt sich die Sprache selbst auf eine kaum merkliche Art mit zur Sprache: »Wir achten jetzt nur darauf, was alles und zwar immer schon und nach demselben Maß, ob beachtet oder nicht, im Sprechen mitspricht.« (GA 12, 239; herv. v. M. F.) In jedem Gesagten schwingt auf eine andere Weise ein Sich-mit-sagen und Sich-mit-ereignen der Sprache mit. 29 Das Eigentümliche der Sprache zeigt sich geAn anderer Stelle widmet Heidegger dem in der Tradition unbedachten »als« größte Aufmerksamkeit: »Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ›als solches‹ selbst bedenkt sie nicht. Im ›als solches‹ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen. Das he im on he on, das qua im ens qua ens, das ›als‹ im ›Seiendes als Seiendes‹ nennen die in ihrem Wesen ungedachte Unverborgenheit. So Bedeutendes birgt die Sprache so unscheinbar in so einfachen Wörtern, wenn sie Worte sind. Das ›als solches‹ streift nennend die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein. Weil jedoch das Sein selbst ungedacht bleibt, bleibt auch die Unverborgenheit des Seienden ungedacht.« (GA 6.2, 317) 29 In diese Richtung gehen auch die Überlegungen Waldenfels’, der jedoch nicht ausdrücklich auf Heidegger Bezug nimmt: »Im Gegensatz zu einem Ereignis, das bloß zur Sprache kommt wie der aufleuchtende Blitz, wäre das Sagen ein Ereignis, das etwas zur Sprache bringt, indem es selbst mit zur Sprache kommt […].« (Waldenfels 1994, 201) Fraglich bleibt jedoch in diesem Zusammenhang, ob zwischen einem sprachlichen Er28
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rade darin, dass lediglich indem überhaupt etwas zur Sprache kommt, die Sprache selbst auf eine kaum merkliche Art mit zur Sprache gelangt und sich zugleich entzieht. Sie ereignet sich stets nur mittelbar als Gewährende mit und erscheint nie unmittelbar selbst im Sinne eines Etwas. Heidegger wird dem nur in einer Unscheinbarkeit sich meldenden, alles Gesagte begleitenden und daher exzessiven »Mit« im Zusammenhang mit dem sich entziehenden Ansichhalten der Sprache nachspüren. 30 Hier muss darauf hingewiesen werden, dass diesem Sich-Sagen der Sprache kein substantielles Selbst, das sich unter der Hand als hypostasiertes Etwas entpuppt, zugrunde liegt. In dem Satz »Die Sprache spricht«, der nun mit dem Zusatz »sich mit« versehen werden muss, rangiert die Sprache – aller Schulgrammatik zum Trotz 31 – gerade nicht als dahinterstehendes Subjekt. Dieses subtile Sich-mitSagen, das sich in sämtliche sprachliche Vollzüge einschreibt, ist nicht mit einem verschließenden Mit-sich-Sprechen zu verwechseln. 32 Das Sich muss in einer anderen Weise gedacht werden: weder rückbezüglich auf einen feststehenden Grund noch als nachträglicher Bezug zwischen an sich vorhandenen Gliedern, sondern als eröffnender Bezug und zugleich sich verbergender Entzug. Dieses Verhältnis ist jedoch kein indifferentes, sondern in ihm – und nicht anderswo – kommt geeignis und einem außersprachlichen Ereignis noch unterschieden werden kann, oder ob nicht vielmehr jedes Ereignis immer schon sprachlich verfasst ist, wie Waldenfels selbst an anderer Stelle anmerkt: »Es ereignet sich, es gibt. Es bleibt nur ein Spalt, ein Bezug, eine Doppelheit, eine Differenz, eine Präferenz in der Differenz, die eigentümlich stumm bleibt, und auf ewig stumm bliebe, gäbe es nur Ereignisse, die nur auf sich selbst bezogen wären.« (Waldenfels 1994, 223) 30 So notiert Heidegger zum Status seiner vorsichtigen Erkundungsbewegungen in einem Zusatz: »Der Vortrag versucht: das Eigentümliche der Sprache be-merken zu lassen und zu nennen – in die Fragwürdigkeit des Unscheinbaren rufen (das Unscheinbare eines Vorenthaltes, dessen Reichtum)[.]« (GA 12, 227) 31 Auf die enge Verbindung von Grammatik, die »überall Thäter und Thun« (KSA 6, 77) sieht, und Metaphysik, die beständig auf der Suche nach einer ersten Wirkursache ist, hatte schon Nietzsche eindringlich aufmerksam gemacht. 32 Heideggers Satz »Sie [die Sprache] spricht einzig und einsam mit sich selber« (GA 12, 229; vgl. GA 79, 173 f.), der unter Berufung auf Novalis (vgl. Novalis 1999, 438 f.) auf das autonom-mono-logische Moment der Sprache aufmerksam zu machen gedenkt, müsste hier einer Modifikation unterzogen werden, um die unauffällige synlogische als dia-logische und so in einer anderen Weise selbstbezügliche Dimension der Sprache vernehmbar zu machen. In diesem Sinne legt Heidegger auch den Satz aus: »Doch einsam kann nur sein, wer nicht allein ist; nicht allein, d. h. nicht abgesondert, vereinzelt, ohne jeden Bezug.« (GA 12, 254) A
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rade anderes als es selbst zu Wort. Sprache west als alles Einigendes und Gewährend-Gebendes dieses Verhältnisses – und darin als ein Sich-Entziehendes –, das Heidegger in dieser Ambivalenz treffend als das »entbindende Band« (GA 12, 231) umschreibt. In dieser Weite verstanden, fungiert Sprache aber weder als etwas Vorgängiges im Sinne einer ersten Ursache noch als ein Dahinterstehendes im Sinne einer zweiten (transzendentalen) Ordnung. 33 Auf dieses »differente« Selbstverhältnis, in dem allererst Seiendem sein Anwesen gewährt wird, aber zugleich ansichhält, weist Heidegger mit aller Schärfe hin: »Also in ihr eigenes Freies entbunden, kann die Sprache sich einzig um sich selbst kümmern. Dies hört sich an wie die Rede von einem egoistischen Solipsismus. Aber die Sprache versteift sich nicht auf sich im Sinne einer nur eigensüchtigen, alles vergessenden Selbstbespiegelung. Als die Sage ist das Sprachwesen das ereignende Zeigen, das gerade von sich absieht, um so das Gezeigte in das Eigene seines Erscheinens zu befreien.« (GA 12, 251) In der Hinwendung zum Gespräch lässt sich ablesen, dass Heidegger nicht beabsichtigt, Vorentwürfe in Hinblick auf die Sprache zu tätigen, sondern sich das, was unter Sprache verstanden werden kann, gleichsam von dort aufgeben lässt, wo sich Sprache als Sprache vollzieht, wo sie sich (mit-)ereignet. So unwegsam die Texte im Spätwerk mitunter sind, entspringt doch alle Besinnung Heideggers aus dem Einfachsten und Nächsten. Dieses Nächste ist jedoch zunächst nie das greifbar Vorliegende; es wird nämlich zumeist als das Selbstverständlichste übergangen. In dieses Nächste, das uns in gewisser Weise auch stets das Fernste ist, bei dem wir immer schon sind, gilt es einkehren zu lernen. So schreibt Heidegger: »Wir müssen erst da-hin zurückkehren, wo wir uns eigentlich immer schon aufhalten. Die verweilende Rückkehr da-hin, wo wir schon sind, ist unendlich schwerer als die eiligen Auch auf diesen Umstand, dass »das Sichsagen als Sagen auf irgendeine Weise mit sich identisch und zugleich von sich unterschieden ist« (Waldenfels 1994, 211), hat bereits Waldenfels hingewiesen. Ebenso hat Derrida auf die paradoxale Selbstbeziehung des Sprechens der Sprache, »das sich (selbst) nicht ereignet, das (selbst) nicht passieren läßt, aber das sich des Sich-Ereignens, […] des Ankommens oder des Stattfindens nicht entheben kann« (Derrida 1988b, 136), mit Nachdruck aufmerksam gemacht. Hierin zeigt sich deutlich, dass Sprache weder als solche explizit ins Anwesen gelangt, und so sich als Seiendes erweist, noch aber ihr Gewähren und Geben als Bedingung der Möglichkeit im Sinne einer zweiten, dahinter stehenden Ordnung verstanden werden darf. Gerade darin erweist sich das Sprachdenken als Alternative zu jeder transzendentalen Begründungsfigur.
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Fahrten dorthin, wo wir noch nicht sind […].« (GA 12, 179) Erschwert, ja geradezu verunmöglicht, wird dieser Weg zur Sprache nicht nur dadurch, dass er nach Heidegger der weiteste und daher unbekannteste ist, sondern auch dadurch, dass er mit Hindernissen versehen ist, »die aus der Sprache selbst kommen« (GA 12, 230; herv. M. F.). Diese Widerstände werden nicht einfachhin beseitigt werden können; vielmehr muss man sie aufzeigen und sich auf sie einlassen. Dadurch, dass die Sprache gerade nicht als sie selbst zum Erscheinen gelangt, weist Heidegger auf eine aporetische Ausgangssituation hin, die seine Leserschaft bereits aus seinem frühen Werk kennt, in dem er zwischen dem vulgären und dem phänomenologischen Phänomenbegriff unterscheidet: »Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne ›Phänomen‹ genannt werden muß? […] Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist […].« (GA 2, 47) 34 Die Untersuchung, die sich – auch im Spätwerk – im weitesten Sinne als »phänomenologische« versteht, hat es nicht mit einem vorliegenden Phänomen oder vorhandenen Gegenstand zu tun, sondern mit einem Nicht-Phänomen oder einem Un-Gegenstand. Was in Sein und Zeit vom Sein gesagt wird, gilt auch für das quasi a-phänomenale »Phänomen« Sprache. Doch den Impetus einer »radikalen Phänomenologie« lässt Heidegger im Spätwerk zugunsten einer anderen Herangehensweise fallen. In den Beiträgen spricht er im Zusammenhang mit dem »Sichverbergenden und Sichentziehenden« von dem »Ansichhalten der Verhaltenheit« oder einer »zögernden Versagung« (GA 65, 80), um in einem seiner letzten Seminare sein Denken als »Phänomenologie des Unscheinbaren« (GA 15, 399; vgl. GA 12, 227) zu umschreiben. Eine solche Phänomenologie widmet sich dem, was sich nicht auffällig in den Vordergrund drängt und so zumeist übergangen wird, sondern als wörtlich genommenes Unscheinbares nicht wie Seiendes ins Anwesen gelangt, da es sich als Gebendes entzieht. Es wird folglich darum gehen, diese aporetisch-paradoxe Ausgangslage einer Phänomenologie der Sprache 34 Bereits in einer Vorlesung aus dem Jahr 1923 weist er auf die Notwendigkeit einer Phänomenologie des Nicht-Phänomenalen hin: »Sollte es sich nun herausstellen, daß es zum Seinscharakter des Seins, das Gegenstand der Philosophie ist, gehört: zu sein in der Weise des Sich-verdeckens und Sich-verschleierns – und zwar nicht akzessorisch, sondern seinem Seinscharakter nach –, dann wird es eigentlich ernst mit der Kategorie Phänomen. Die Aufgabe: es zum Phänomen bringen, wird hier radikal phänomenologisch.« (GA 63, 76)
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zu berücksichtigen. Doch wo kann sich Sprache als Nicht-Phänomen, das sich nicht als Seiendes zeigt, in ihrem Zeigenlassen und damit als sie selbst zur Sprache gebracht werden? Das, was unter Sprache verstanden werden kann, soll sich nach Heidegger – wie bereits oben angeführt – aus dem Gespräch ergeben. Zusammenfassend kann vorerst festgehalten werden, dass sich für Heidegger folgende Momente im Unterwegssein in und zur Sprache qua Gespräch ankündigen. Ein Weg wird nicht als nachträgliche Verbindung zwischen Punkten verstanden, sondern als das alles Eröffnende. Er besitzt weder einen Anfangspunkt, da sich der Mensch immer schon in der Sprache befindet, noch einen Endpunkt, an dem sich von einer sprachexternen Warte aus über Sprache reden ließe. Die metaphysische Dichotomie zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt greift hier nicht mehr. Der Weg gibt als vorausgehend-eröffnendes Zwischen gleichsam das zu-Erfahrende allererst frei. Was darin offenbar wird, ergibt sich aus den Bahnen des Weges selbst und wird nicht von denjenigen bestimmt, die unterwegs sind. In diesem Erfahren passiert daher etwas mit denen, die sich auf dem Weg befinden. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Heidegger bewusst die erste Person Plural wählt und nunmehr von einem »Wir« spricht. Vielleicht ist der nicht voraussehbare Weg, der uns in die Sprache vorgegeben wird, nicht ein einziger. Es kann wohl unterschiedliche Wege des Erfahrens geben, wiewohl sich alle der Verfügungsgewalt des Menschen entziehen. Da sie nicht kontrollierbar sind, ist es im Vorhinein nicht auszumachen, ob sich der Weg als Um-, Irr-, Holz- oder Königsweg erweisen wird. Gleichwohl ist dieses Hinausgehaltenwerden in das Offene weder mit einer Willkür noch einer passiven Fatalität gleichzusetzen, sondern als ein sich einlassendes und somit hörendes Entsprechen der Vor-Gabe des Wortes zu verstehen. Diese Unentscheidbarkeit ist auf eine markante Weise dem Gespräch eingeschrieben – entlang seines Leitfadens soll nun das Walten der Sprache abgelesen werden.
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»Wir sind – ein Sprachgeschehnis«
Um dem Gespräch von der Sprache näher zu kommen, reicht das Repräsentationsmodell der Sprache nicht aus. Schon im zwischenmenschlichen Gespräch ist es nicht so – um auf den phänomenalen Gehalt von Heideggers Sprachverständnis zu rekurrieren –, dass durch die Sprache 248
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eine bereits vorliegende Sache besprochen wird. Vielmehr zeigt sich erst im – nicht im Voraus determinierbaren – Verlauf des Gesprächs, worauf es hinausläuft und was in ihm zur Sprache gelangen wird, inwiefern die Gesprächspartner aufeinander zugehen, in welcher Weise sie zu Wort kommen und sich so darin selbst verstehen werden. Die Trennung in voneinander unabhängige Instanzen von Sprecher, besprochener Sache und Sprache wird dabei in einer eigentümlichen Weise unterwandert. Etymologisch betrachtet, kündigt sich diese Zusammengehörigkeit in einem Geschehen bereits im deutschen Präfix »Ge-« an, das laut Grimm’schen Wörterbuch »eins der vorwörtchen [ist] […], die nicht mehr als wort für sich erscheinen, nur noch andern worten vorgesetzt, dienend beigegeben [sind]; von ihnen ist ge- das häufigste und merkwürdigste, hat den weitesten wirkungskreis und die reichste geschichte, darum auch noch manche dunkle stelle, ist aber auch nach mehreren seiten für allgemeine fragen lehrreich wie kein anderes.« Die älteste Bedeutung ist dabei »eine zusammenfassende, in vielseitiger verwendung, am erkennbarsten bei subst[antiven]«, die sowohl Verschiedenals auch Gleichartiges »in einer beziehung zwischen ihnen, womit denn der begriff […] das unsinnliche gebiet betritt« (Grimm 2004, Bd. 4, Sp. 1594 ff.), versammeln. Das Präfix »Ge-« markiert – in dieser Bedeutung genommen – keine nachträgliche und willkürliche Anhäufung, sondern weist vielmehr darauf hin, dass sich eine Versammlung von Zusammengehörigen hinsichtlich eines nicht zu vergegenständlichenden Bezugs vollzieht. So schwingt auch bei anderen geläufigen Wörtern diese vorgängige Einheit mit: z. B. sind bei einem Gebirge die einzelne Berge als Ganzes, d. h. als Massiv von Erhebungen und Tälern, zu verstehen, aus dem die einzelnen Berge erst ihren Stand erhalten (vgl. GA 7, 173). Für die weitere Explikation des Ge-Sprächs soll dieser etymologische Hinweis auf das Zusammengehören eines gemeinsamen Geschehens, aus dessen Versammlung die einzelnen Momente ihren Ort zugewiesen bekommen und aus dem erst nachträglich die einzelnen »Teile« betrachtet werden können, mitgehört werden. So werden Sprechende ja auch als Gesprächsteilnehmer bezeichnet, die an einem Gesamtgeschehen partizipieren und sich daran orientieren. In diesem Sinne wird von Heidegger nun auch der Hölderlin’sche Vers »Seit ein Gespräch wir sind« näher betrachtet. Die Gedichtszeile gibt nicht definitorisch an, was denn ein Gespräch überhaupt ist, sondern sagt, dass wir eines sind. Was »wir« und in weiterer Folge A
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Menschsein besagt, kann sich erst aus dem Gespräch ergeben, in das wir unterwegs zur Sprache gelangen. Wir Menschen werden somit bei der Frage nach dem Gespräch von Anfang an in einer eminenten Weise in diese Fragestellung mit hinein genommen, ja von ihr bestimmt. Das Gespräch fungiert dabei nicht als ein Objekt, das aus der Distanz beobachtbar wäre, sondern waltet als Geschehnis, in dem wir – angesprochen antwortend – zu uns kommen: »Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber dies geschieht erst eigentlich im Gespräch.« (GA 4, 38) Doch was ist ein Gespräch und wie lässt sich daraus nicht nur die Seinsweise der Sprache ablesen, sondern auch das Selbstverständnis des Menschen neu verorten, ja auch das Aufgehen von Seiendem in einer Welt angemessener einsehen? Gängigerweise verstehen wir unter einem Gespräch nicht eine beliebige Unterhaltung zwischen zwei oder mehreren Subjekten, die über vorliegende Dinge sprechen. Bereits im Alltag sind wir nicht geneigt, jedes Miteinandersprechen als Gespräch zu bezeichnen, vielmehr wird es für eine besondere Weise des Redens in Anspruch genommen: »Wo Sprachfähigkeit des Menschen vorhanden ist und ausgeübt wird, da ist noch nicht ohne weiteres das wesentliche Ereignis der Sprache – das Gespräch.« (GA 4, 39) Laut Heidegger sprechen wir in erster Linie dann von einem Gespräch, wenn es sich um eine Angelegenheit dreht, in der etwas – ganz wörtlich genommen – »zur Sprache kommt« (GA 77, 57). Dieses Zur-Sprache-Kommen im Vollzug des Gesprächs ist von einer Begegnung und einem aufeinander Zukommen zwischen Menschen geprägt, die gemeinsam in einer Sache – und ihr gemäß – übereinzukommen versuchen. Im Gespräch ereignet sich folglich mehr als ein bloßer Informationsaustausch, denn ohne die in der Bewegung hin zum anderen gebilligte Offenheit, in der den Worten und Anliegen des Gegenüber ein Raum zugestanden wird, kann sich ein Gespräch nicht entwickeln. Darin wird das, was ein anderer sagt, stehen gelassen und die Sprechenden befinden sich so »im Zu-geständnis […] zum Gesagten des anderen« (GA 55, 250). Das Gespräch kann sich als Ort erweisen, an dem das Besprochene sich gegenseitig anvertraut wird und dieses so von sich her zum Aufscheinen gelangt. Dieser einvernehmliche Einklang darf nach Heidegger nicht mit einem indifferenten Einerlei gleichgesetzt werden, denn ein Übereinkommen im Gleichen vollzieht sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Verschiedenheit: »Nur das Verschiedene kann gleich sein. Das Verschiedene ist gleich durch seinen verschiedenen Bezug auf das Selbe.« (GA 55, 250) 250
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Nun betont Hölderlin, dass das Menschsein allererst seinen Anfang findet, indem die Menschen an einem Gespräch teilnehmen. Das sachlich Erste ist somit nicht der Mensch, der über etwas spricht, sondern was es überhaupt heißt, Mensch zu sein, ergibt sich allererst aus dem Gespräch, indem er ihm entspricht. Lässt sich diese allen herkömmlichen Vorstellungen widersprechende »Zumutung« vonseiten Heideggers auch phänomenal ausweisen? Diese Dimension des Gesprächs zeigt sich in gewisser Weise in unserem alltäglichen Verständnis von diesem Phänomen. Ein Gespräch vollzieht sich – wie bereits vermerkt – immer durch die Teilnahme von Gesprächspartnern, gleichwohl, so Heideggers Vermerk, ist es »nicht das bloße Gemächte unserer Sprechtätigkeit« (GA 12, 244). Dass gemäß Heidegger die Sprache nicht auf den Menschen und seine Verlautbarung zurückgeführt werden kann, impliziert weder den Umkehrschluss, dass Sprache abgetrennt vom Menschen zu verstehen sei, noch die Annahme, dass der Mensch der Sprache in einer fatalistischen Weise ausgeliefert sei. Das Gespräch ist weder auf die Instanz der Sprechenden noch auf ein davon abgekoppeltes Geschehen zu reduzieren, es wird weder ausschließlich aktiv bewerkstelligt noch bloß passiv erlitten, es ist den Teilnehmenden weder vollkommen zu eigen noch völlig äußerlich. 35 Es wird vielmehr darum gehen, das Gespräch vom Antwortcharakter des Menschen, der hierin allererst Mensch wird, und seinen Möglichkeiten des Entsprechens zu verstehen: »Die Sprache braucht das menschliche Entsprechen […].« (GA 12, 244) Diesem responsiven Geschehen eingedenk, streicht Heidegger die Unumgänglichkeit der Partizipation der Teilnehmenden und damit das Zusammengehören von An- und Entsprechen hervor, um jeder Hypostasierung des Seins oder der Sprache als monolithischem Ausgangspunkt oder autonomer Instanz entgegenzuwirken: »Der Satz ›Die Sprache spricht‹ […] ist nur halb gedacht, 35 Mit Nachdruck verweist Waldenfels auf die ereignishafte Medialität der Rede oder des Gesprächs, indem er sich gegen die Rückführung auf Regulierungsinstanzen oder gegen die Subsumtion eines Einzelfalles unter ein Allgemeines verwehrt: »Was den Logos der verschiedenen Ordnungsmuster angeht, so bedeutet die durchzuführende Epoché eine Definalisierung: die Rede ist kein bloßes Mittel zum Zweck; sie bedeutet eine Dekausalisierung: die Rede ist keine bloße Wirkung; sie bedeutet eine Detotalisierung: die Rede ist nicht bloß Teil oder Moment eines Ganzen; sie bedeutet eine Entstrukturalisierung: die Rede ist mehr als das variable, austauschbare Element eines Strukturzusammenhangs; sie bedeutet schließlich eine Entregelung: die Rede ist kein bloßer Fall einer Regelung.« (Waldenfels 1994, 197)
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solange der folgende Sachverhalt übersehen wird: Um auf ihre Weise zu sprechen, braucht, d. h. benötigt die Sprache das menschliche Sprechen, das seinerseits gebraucht, d. h. verwendet ist für die Sprache in der Weise des Entsprechens […].« (GA 75, 201) Die in einem Gespräch geforderte responsive Offenheit im Aufeinanderzugehen kann aber nicht nach Belieben hergestellt werden. Das, was sich in einem Gespräch entwickeln kann, entzieht sich der menschlichen Verfügungsgewalt und lässt sich aus diesem Grund nicht restlos planen. Zwar führen Menschen ein Gespräch, doch dieses Führen ist weniger ein Diktieren als ein Gelenktwerden. So weist Heidegger die Dimension des Wollens, in der etwas gezielt verfolgt wird, als Movens für das Gespräch zurück: »Doch vielleicht könnte einer bezweifeln, ob ein Gespräch überhaupt noch ein Gespräch ist, wenn es etwas will.« (GA 77, 56) Ob das Gespräch ge- oder misslingt, liegt nicht vollends in den Händen der Teilnehmer. Gespräche lassen sich nicht erzwingen, sondern sie ergeben sich. Der richtige Moment für ein Gespräch kann somit nicht von außen angesetzt werden (solcherart durch subjektive Strategien erzwungene Gespräche sind zumeist im Vorhinein zum Scheitern verurteilt); vielmehr ergreift er uns – ohne dass wir dadurch eine Gewissheit für dessen Gelingen haben könnten – und wird uns aus der Situation gewährt. Anstelle des fordernden Wollens, das die Grundkategorie der Subjektmetaphysik bildet, gewährt ein wartendes Lassen und das Eingedenksein der Zueigung das Gespräch: »Gespräch – nicht Mache und nicht Leistung, sondern zugeeignet.« (GA 74, 108) 36 Daher kann es durchaus sein, dass trotz größten Bemühens Gespräche scheitern oder, gegen alle Vorsätze, einen anderen Verlauf und Ausgang nehmen, ja es kann sich sogar weisen, dass die besprochene Sache ganz anders als vorgesehen zu Wort kommt oder sich den GeAls befremdlich werden gerade konstruierte Gespräche – etwa medizinische Anamnesegespräche oder die so genannten Prüfungsgespräche – empfunden, in denen nach einem bestimmten Schema vorgegangen und ein bestimmtes Ziel verfolgt wird und so die Gesprächsteilnehmer nicht in ihrer Eigenheit berücksichtigt werden. Auch rhetorisch aufgeladene Gespräche, in denen wir von einer dominierenden Seite in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, werden von uns als zwanghaft aufgefasst. In all diesen Fällen ist nicht die Selbstbewegtheit des Gesprächs leitend, sondern es sind externe Absichten am Werk, die unserem Verständnis des Miteinanderredens zuwiderlaufen. Ob es de facto so etwas wie ein reines Gespräch – gänzlich losgelöst von Machtdiskursen geben kann – muss jedoch offen gelassen werden.
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sprächspartnern gänzlich versagt. Nicht das Subjekt bestimmt restlos das Gespräch, sondern die Gesprächsteilnehmer werden ein Stück weit von ihm bestimmt. Das verfügende Können, das im Wesentlichen das rationalistische Weltbild auszeichnet, muss hinsichtlich seines Souveränitätsanspruchs auf eine universale Berechenbarkeit stark revidiert werden. Denn das Glücken eines Gesprächs lässt sich – bei allen Fähigkeiten, die von den Sprechenden in ein Gespräch mitgebracht werden müssen – nicht vollends auf das subjektive Vermögen und normative Setzungen zurückführen. So kann Heidegger darauf hinweisen: »Zum Sprechen gehören die Sprechenden, aber nicht nur so wie die Ursache zur Wirkung. Die Sprechenden haben vielmehr im Sprechen ihr Anwesen.« (GA 12, 239) Das wirkursächliche Denken und die anthropozentrische Bestimmung der Sprache, in der das Subjekt als voraus- und zugrundeliegende Regulierungsinstanz über die Sprache verfügt, werden so gerade im Gespräch unterlaufen. Vielmehr ergibt sich, indem die Gesprächspartner ihr »Wesen einander zu-sagen« (GA 52, 157), das Verständnis von Welt, Mitmenschen und Selbst der Sprechenden und damit – wie Heidegger es prägnant beschreibt – ihr gesamtes »Anwesen« aus dem Gespräch. Was wir sind, wie wir uns und andere verstehen, erhält entscheidende Wendungen aus dem Fortgang des Gesprächs. Wir sind somit nicht nur nicht diejenigen, die außerhalb der Gesprächssituation stehen und den Verlauf diktieren können, sondern im Gespräch passiert etwas mit den miteinander Sprechenden. Hieraus muss auch die Seinsweise der Sprechenden als Teilnehmende neu bedacht werden. Sie verstehen sich aus dem Gespräch und können so als Veränderte daraus hervorgehen. Menschsein als Gespräch besagt demnach, dass nicht »statische Entitäten« vorgegeben sind, sondern sie aus diesem Bezugshaften das werden, was sie sind. Ihr Sein bleibt so stets im Kommen. Im Gespräch, das um wechselseitige Verständigung bemüht ist, bleibt nämlich der jeweilige Standpunkt der miteinander Sprechenden nicht derselbe. Denn bei einem sturen Beharren auf der eigenen Meinung kommt gerade kein Gespräch zustande. Erst im Aufeinanderzugehen gemäß der gemeinsamen Sache kann sich das Gespräch entwickeln. Die Gesprächspartner verstehen sich dabei von dem im Miteinandersprechen Besprochenen her, so »daß ihnen im Gespräch etwas widerfährt, was ihr eigenes Wesen verwandelt« (GA 77, 57). Dieses Verwandeln durch die Erfahrung des Gesprächs, das mehr ist als ein punktuelles und diskontinuierliches Erlebnis, bestimmt laut A
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Heidegger unser gesamtes Welt- und Selbstverständnis: »Unser Seyn geschieht als Gespräch, […] ob und wie wir sind […].« (GA 39, 70) Nachdem es für Heidegger um dieses andere Verständnis des Menschenwesen geht, das nicht mehr als Bezugsmitte alles Seienden agiert, spricht er auch von der »Ver-rückung des Menschenwesens in das Da-sein« (GA 65, 372) und sogar von einer »Entmenschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen und ›Subjekt‹« (GA 65, 510). Mit dem Wort »Dasein« (GA 2, 16), das mit Anfang der 1920er Jahre in der betonten Weise verwendet wird (vgl. GA 59, 82), möchte Heidegger nicht lediglich einen »anderen« Terminus für den Menschen in die philosophische Diskussion einführen, sondern vielmehr auf das Unzureichende der traditionellen Bestimmungen hinweisen: »Denn: das Menschenwesen menschlich (humanistisch, human, anthropologisch) oder gar allzumenschlich (›psychologisch‹) sehen, heißt, nichts vom Menschenwesen erfahren.« (GA 71, 93) Heidegger verwehrt sich gegen eine anthropologische Selbstverständlichkeit, bei der schon klar wäre, was den Menschen als Menschen ausmache; folglich wäre auch nicht weiter nach seiner Seinsweise zu fragen. Deshalb insistiert Heidegger bereits in Sein und Zeit: »Die existenziale Analytik des Daseins liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie.« (GA 2, 60) Daher richtet sich die spezifische Verwendung von Dasein gegen das Ungedachte der Tradition und kann auch als »Angriff auf den Menschen« (GA 29/30, 31) gelesen werden, dessen Definition als animal rationale, subiectum, Bewusstsein oder Seele vermeintlich als allzu bekannt vorausgesetzt wird und damit in ontologischer Hinsicht nicht in seiner Fraglichkeit gesehen werden kann. Als Dasein wird dem Menschen das Vermögen gewährt, sich selbst und zugleich anderes Seiendes, ja Welt überhaupt, als gelichtet zu erfahren, indem er diese Offenheit auszustehen hat. Das Seinsverständnis, um in der Terminologie des frühen Heidegger zu bleiben, artikuliert sich somit als Seinsverhältnis, d. h. nicht in einem theoretischen Zugriff auf die Dinge, sondern im jeweiligen vollzugsmäßigen Sichverhalten zur Erschlossenheit des Seins. Dieser Jeweiligkeit ist als konstitutives Moment seiner Offenheit eine radikale Endlichkeit eingeschrieben, die nicht nur als faktisches Ableben ins Visier zu nehmen ist. Die Endlichkeit im Sinne der Gebürtigkeit und Sterblichkeit des Daseins tritt nicht irgendwann hinzu und kann somit nicht als Äußerliches oder Externes verstanden werden. Sie verunmöglicht prinzipiell 254
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eine souveräne Geschlossenheit oder reine Selbstbezogenheit. Durch die sich zeitigende Zeitlichkeit ist eine vollständige und autarke Identität eines Subjekts verunmöglicht. Denn das Dasein muss sich permanent zu seiner unabschließbaren Begrenztheit verhalten, es ist somit nie restlos bei sich. Weder kann es seine Faktizität noch sein Sein zum Ende einholen. Das zeitliche Aufgespanntsein schließt sich weder vollständig noch gibt es einen Standort außerhalb der Temporalität. Die konstitutive Mitte des Daseins bildet somit ein Riss der sich zeitigenden Zeitlichkeit, der je schon aufgebrochen ist und nicht gekittet werden kann. Dieser stets schon aufgebrochene Spalt der Selbstentzogenheit in der endlichen Verfasstheit des Daseins muss nun positiv in seiner limitativ-ermöglichenden Funktion sichtbar gemacht werden. Erst aufgrund dieses Entzugs wird dem Dasein in seiner radikalen Endlichkeit prinzipiell Mit- und Umwelt eröffnet und es kann sich als Angesprochenes erfahren. Nur aufgrund dessen, dass das Dasein – durchzogen von diesem alteritären Moment des (zeitlichen) Entzugs – nie sich in einem monadischen Sein einschließen kann, waltet in ihm eine unabschließbare Offenheit, die zugleich die Möglichkeit und Unmöglichkeit seines Selbst bildet. Es ist gerade in der radikalen Endlichkeit unmöglich, ganz bei sich zu sein, aber nur dadurch ist es ihm möglich, als Offenheit für Anderes zu ek-sistieren. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit, sich zu sich und zur Mitund Umwelt verhalten zu können, gründet in der Abgründigkeit des Selbstseins, in seiner radikalen Endlichkeit. Weltoffenheit wird dem Dasein in der Endlichkeit erschlossen, ohne dass sie in seiner Verfügungsgewalt stünde. Offensein heißt demnach für Heidegger auf die Erschlossenheit antworten zu müssen, ohne diesen Anspruch einholen zu können. In dieser responsiven Entzogenheit – dass im Antworten der Anspruch aufbricht, ohne dass er beantwortet oder getilgt werden könnte – zeigt sich die radikale Endlichkeit alles daseinsmäßigen Antwortens. Ohne dieses Moment der Unverfügbarkeit und Uneinholbarkeit der sich zeitigenden Zeitlichkeit gäbe es keine Offenständigkeit von Innerweltlichem, da dann Menschsein nur als ein zu verwirklichendes Programm, nicht aber als responsives Sichverhaltenkönnen zu Gewesenem als Künftigem verstanden werden würde. Ebenso macht Derrida darauf aufmerksam, dass nicht nur im Anfang die Antwort steht, in der (nachträglich) eine uneinholbare Vorgängigkeit aufbricht, sondern dass aufgrund der Endlichkeit sich eine Offenheit für Unabsehbares – als Verheißung eines Weges – lichten kann: A
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»Man muß sich, ob man will oder nicht, in dieser Aporie einrichten, in die wir Endlichen und Sterblichen nun einmal geworfen sind und ohne die es keine Verheißung eine Weges gäbe. Man muß mit dem Antworten beginnen. So wäre also am Anfang kein erstes Wort. Der Ruf ruft sich erst von der Antwort aus. Diese geht ihm voraus, sie kommt ihm entgegen, ihm, der vor ihr nur insoweit erster ist, als er die Antwort erwartet, die ihn herbeiführt.« (Derrida 1999c, 43) Die Gegebenheit des Seins kann nie vom Menschen qua Subjekt her bestimmt oder eingeholt werden, stets wird sich das Da schon gelichtet haben, wenn auf etwas Bezug genommen werden kann. Dieser uneinholbaren Mit- und Vorgängigkeit eingedenk, die im Dasein aufbricht, spricht Heidegger im Kant-Buch (1929) auch davon, dass »[u]rsprünglicher als der Mensch […] die Endlichkeit des Daseins in ihm« (GA 3, 229) sei und bringt es, um sich von einer vorschnellen Vereinnahmung der Anthropologie abzugrenzen, auf die bündige Formel vom »Dasein im Menschen« (GA 3, 230). Um etwaige Missverständnisse zu vermeiden, die unter »Dasein« noch eine Eigenschaft des Menschen verstehen könnten, kommt er unter anderem in den Beiträgen (1936–38) nochmals auf die Wendung zurück, um seine Überlegungen zu verdeutlichen: »Da-sein – was den Menschen zugleich unter-gründet und überhöht. Daher die Rede vom Da-sein im Menschen als Geschehnis jener Gründung. Man könnte aber auch sagen: der Mensch im Da-sein. Das Da-sein ›des‹ Menschen.« (GA 65, 301) Mit der so genannten Kehre fragt Heidegger aber nicht mehr ausgehend vom Dasein als geworfener Entwurf und seiner Offenheit nach dem Sein, sondern er möchte vielmehr das »gegenschwingende Ereignis« (GA 65, 261) selbst bedenken. Da-sein wird als Zu- und Übereignetes und somit Angesprochenes erfahren, das sich aus der responsiven Verschränkung des Ereignisses als »Kehre« (GA 71, 207) versteht. Diese gewichtige Akzentverschiebung zeigt sich auch in der Schreibweise, indem Heidegger nicht nur das Sein des Da respektive das Da-sein (vgl. ZS 187) hervorhebt, sondern sich auch genötigt sieht, vom »Da-seyn« (GA 71, 85) zu sprechen. 37 Für seine Erörterung der Seinsfrage aus dem verbal verstandenen Seinsgeschehnis scheint es nicht unerheblich zu sein, dass Heidegger auf die ältere Schreibweise von Seyn (und nicht Sein) zurückgreift, um bereits auf dieser Ebene gängigen Missverständnissen vorzubeugen: »Mit solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt ins Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das
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Noch auffälliger ist, dass Heidegger nun verstärkt auf den Plural zurückgreift und nicht nur danach fragt, »Wer sind wir?«, sondern die Erörterung nach einem »Wer sind wir?« (GA 69, 8) als dringliche anstrengt. Neben einer Revision des Menschen als zoon logon echon ließe sich von hier aus die Frage nach dem Zusammenhang mit dem aristotelischen zoon politikon stellen, dessen Gemeinschaftlichkeit Heidegger nicht als bloße »Aufspreizung des Ich« (GA 71, 154) im Sinne eines differenzlosen pluralis majestatis verstanden wissen möchte, sondern in seiner Pluralität und in seiner Endlichkeit respektive Geschichtlichkeit ernst zu nehmen gedenkt. Die Singularität verschwindet in diesem Verständnis von Gemeinschaft aber nicht. Diese Art von Pluralität impliziert, dass die Jemeinigkeit des Daseins nie allein ist, sondern sich stets von Anderem angegangen und sich so unablässig mit ihm verstrickt erfährt. Singularität und Alterität schließen einander nicht aus, sondern die jeweilige Eksistenz des Daseins vollzieht sich nur als Offenheit für einen Anspruch, der nicht von ihm selbst ausgeht, und erweist sich gerade in diesem Sinne als Mit-(Anderem-)sein. Das Soziale muss jedoch aus der Alterität verstanden werden, da im Anspruch evident wird, dass Dasein in seiner Offenheit immer schon mit Anderem ist. Gemeinschaft bestünde dann in der allen zukommenden Endlichkeit, nie bei und mit sich, sondern stets beim Anderen anfangen zu müssen. Nachgerade in der Sprache bricht nicht nur der Entzug, sondern das Mit auf: Kein Ich erfindet Sprache, sondern antwortet auf einen Anspruch – ein Anspruch freilich, der immer Anspruch des Anderen ist. In sämtlichen sprachlichen Vollzügen spricht somit das Andere mit und es zeigt sich so die Unmöglichkeit einer autochtonen Verschließung im Ego. Diese Gemeinschaft, die weder im Nachhinein und nach Belieben hergestellt werden könnte, noch als Übereinkunft in einem positiv anSein jetzt als ›Seyn‹. Dieses soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« (GA 65, 436) Heidegger verwendet, wie bereits angemerkt, in seinem Spätwerk öfters, aber nicht durchgängig, die ältere Schreibweise von Seyn, um damit das Sein selbst (den Austrag der sichverbergenden Lichtung) im Gegensatz zum Sein des Seienden (Seiendheit) der Tradition, das im Ausgang und in der Abstraktion vom Seienden zu erreichen versucht wird, anzuzeigen: »›Das Seyn‹ meint nicht nur die Wirklichkeit des Wirklichen, auch nicht nur die Möglichkeit des Möglichen, überhaupt nicht nur das Sein vom jeweiligen Seienden her, sondern das Seyn aus seiner ursprünglichen Wesung in der vollen Zerklüftung, die Wesung nicht auf ›Anwesenheit‹ eingeschränkt.« (GA 65, 75) A
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gebbaren Etwas bestehen würde, etwa in territorialen oder ethnischen Eigenschaften, erfährt sich als (Mit-)Teilung. Was geteilt und mitgeteilt wird, ist das Antworten auf den Zuspruch, der nie zur Gänze eingeholt werden kann und sich gerade im Entzug als konstitutives Moment erweist. Endlichkeit, als (geschichtliches) Geschick des Seyns bedacht, tritt damit nicht als pejorativer Aspekt in den Vordergrund, sondern gilt als sich entziehende Mitte, die die jeweilige geschichtliche Situierung ernst nimmt sowie ein Antworten auf dieses Erbe abverlangt und dringlich werden lässt. Das Eingelassensein in ein Verhältnis, das uns in Anspruch nimmt und zu antworten herausfordert, besagt auch, dass der Mensch nicht als souveräner Mittelpunkt, sondern als Teilnehmender am Gespräch zu verstehen ist, einem Gespräch mit der Geschichte, die übernommen werden muss und so im Kommen bleibt. Gerade in unserer Endlichkeit sind wir somit immer schon im Gespräch mit Gewesenem als Künftigem. Eingedenk der Uneinholbarkeit sowie der Unvorhersehbarkeit des Zurufs wird die Endlichkeit des Daseins erfahrbar. So versteht Heidegger die Seinsweise des Dasein nun dezidiert als »die Sterblichen«, die »den Tod als Tod erfahren können« (GA 12, 203) und »den Tod als Tod vermögen« (GA 7, 180). 38 Der Tod wird von Heidegger somit einmal mehr nicht nur als factum brutum verstanden, das jedes Lebewesen einholt, sondern nachgerade als Vermögen, das Verhältnis als abgründiges und entzogenes auszustehen: »Sie [die Sterblichen, M. F.] sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein.« (GA 7, 180) In den wenigen, leider sehr knappen und dichten Stellen, in denen sich Heidegger mehr andeutend als ausführend zum Verhältnis von Tod und Sprache äußert, werden die Menschen nicht nur hinsichtlich ihres Sterblichseins thematisiert, sondern (beinahe) ausschließlich im Plural angeführt; Heidegger spricht folglich nicht vom einzelnen Sterblichen, sondern von einer Gemeinschaft der Sterblichen. Das Wissen um die eigene Endlichkeit und das Gegebensein der Sprache, auf die eine subjektive Verfügungsgewalt nie totaliter einen Zugriff Im Anschluss an Heidegger verfolgt Nancy dieses Verständnis einer »negativen« oder »entwerkten« (désoeuvrée) Gemeinschaft mit der gebotenen philosophischen Dringlichkeit: »[U]nsere Existenz zu teilen, gemeinsam zu sein als Existierende, das bedeutet nicht, irgendeine Substanz zu teilen (Fleisch, Blut, Erde, Geist oder was auch immer). Es geht um etwas gänzlich anderes: Es bedeutet, die Tatsache zu teilen, dass wir sterblich sind […].« (Nancy 2009, 101) Vgl. zum Themenkomplex Tod und Phänomenologie auch Sternad 2011.
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Der Gabecharakter des Wortes
besitzt, ist somit keine solitäre Angelegenheit. Sterblich sind nach Heidegger nur diejenigen, denen Sprache gegeben ist und die so auf den unverfügbaren Anspruch des Seins antworten können. Mit der Sprache vollzieht sich somit auch das Wissen um die Zeitlichkeit und die Anerkenntnis der eigenen Endlichkeit (vgl. GA 65, 282 ff.) und damit die Möglichkeit, sich zu sich und anderen verhalten zu können: »Die vernünftigen Lebewesen müssen erst zu Sterblichen werden.« (GA 7, 180) Die Sterblichen, darauf wird noch zurückzukommen sein, werden in ihrer vollen Tragweite erst aus dem Geviert verstanden. Aus dem Anspruch des Gesprächs, dem sich das Dasein fügt, ergibt sich sein (endliches) Sein. Dieses Geschehnis des Wortes wird nur dann angemessen verstanden, wenn die sich darin kundtuende seinsvergebende Dimension der Sprache näherhin bedacht wird.
d) Der Gabecharakter des Wortes Es soll nun in einem weiteren Anlauf aufgewiesen werden, dass im Gespräch ein dem gängigen Verständnis zuwiderlaufendes Verhältnis von Sein, Seiendem und Sprache offenbar wird. Es zeigt sich nämlich eine höchst merkwürdige Abhängigkeit der besprochenen Sache vom Wort. Denn das Worüber der Sprache, ihr Thema, ist nicht unabhängig von Sprache vorzufinden, sondern wird erst in ihr offenkundig. Was für das Gespräch vielleicht noch gemeinhin angenommen werden kann, möchte Heidegger nun für das Gegebensein schlechthin in Anspruch nehmen: In der responsiven Verschränkung von Zu- und Entsprechen geht somit nicht nur das Dasein als angesprochen Antwortendes hervor, sondern es zeigt sich Seiendes, indem sich zugleich Welt lichtet. Heidegger behauptet sogar: »Das Wesen der Sprache ist das Haltende im Verhältnis, das Sein und Denken in ihrem Zusammengehören zueinander hält.« (GA 79, 167) Nur im Vollzug der Sprache wird Seiendes für ein Vernehmen offenbar. Nicht liegt zuerst das Ding als ein bereits an sich Seiendes vor, das anschließend benannt wird, sondern das Ding rückt nur in der Sprache ins Unverborgene einer Welt. Heidegger weist darauf hin, dass gemeinhin angenommen wird, »als seien die Worte wie Griffe, die das schon Seiende und für seiend Gehaltene umgreifen« (GA 12, 161). Gemäß dem Repräsentationsmodell bildet Sprache lediglich vorgegebene Dinge, Sachverhalte, Gedanken etc. nachträglich ab. Die Sprache dient dabei zur Handhabung A
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und Vergegenwärtigung der Dinge. Doch wenn wir miteinander reden, werden wir nicht mittels sprachlicher Zeichen auf Dinge verwiesen, die unabhängig von der Sprache gleichsam »hinter« ihr liegen, sondern im Sprechen – und nicht vorher oder außerhalb von ihm – sind wir bereits bei der besprochenen Sache: »Wenn wir unmittelbar Gesprochenes unmittelbar hören, dann hören wir weder zunächst Worte als Wörter, noch gar die Wörter als bloßen Schall. Damit wir den reinen Schall eines bloßen Lautes hören, müssen wir uns zuvor aus allem Verstehen und Nichtverstehen des Gesprochenen herausnehmen.« (GA 8, 134) So können wir aus unserer alltäglichen Spracherfahrung auch nicht entnehmen, dass wir es mit einer Dreiteilung in akustische Verlautbarung als materielle Hülse für geistige Inhalte, in die intelligiblen Werte selbst und in eine außersprachliche Realität zu tun haben, die nachträglich zusammengeführt werden müssen. Im Miteinandersprechen und Einanderzuhören sind wir dagegen immer schon bei den besprochenen Sachen selbst. Das vollzieht sich so unmittelbar, dass uns die eröffnende Dimension der Sprache zumeist nicht evident wird und sich auf eine unscheinbare Weise unserer Aufmerksamkeit entzieht. Mit anderen Worten: Sprache und ihr Worüber sind von unserer lebensweltlichen Erfahrung her gesehen nicht zu trennen, sondern in ein und demselben Phänomen gegeben. Sprache ist somit immer schon im Spiel, wenn wir uns auf dieses oder jenes beziehen. In jedem Verstehen von etwas als etwas, bricht eine sprachliche Dimension auf, die nicht mehr an die Verlautbarung oder an die Apophansis gebunden ist (vgl. GA 2, 210). Gerade im Gespräch, wo zumeist auch nichts Gegenständliches besprochen wird, sondern der Gesprächsinhalt erst im Verlauf der Konversation Konturen gewinnt, lässt sich ablesen, dass nur in der Sprache das Besprochene zum Vorschein gebracht werden kann. Nun soll der Fokus nicht ausschließlich auf die vorgängige Synthesis gelegt werden, dass wir immer schon etwas als etwas vernehmen, sondern dass sich das Dass des Sichzeigens (von etwas als etwas) samt den weltlichen Bezügen sprachlich ereignet und so dem Gabecharakter der Sprache geschuldet bleibt. Die Sache ist – wie eine phänomenologische Inblicknahme zeigt – sprachlich erschlossen und hat im Angesprochensein ihren Erscheinungsort. Dem Wort wird nicht durch irgendeinen Akt nachträglich eine Bedeutungshaftigkeit verliehen, sondern die Sprache besitzt immer schon Bedeutung, ja sie ist – um in der herkömmlichen Terminologie zu bleiben – bedeutungskonstitutiv: »Im Wort, in der Rede stellt 260
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sich das Seiende selbst in seiner Aufgeschlossenheit dar. Weder nur das Seiende und daneben das Wort, noch auch dieses als Zeichen ohne jenes. Keines von beiden ist getrennt und keinem vereinzelt zugetan, sondern dem Seienden im Wort.« (GA 36/37, 114) Das Verhältnis zwischen Wort und Ding respektive Sprache und Sein muss nach Heidegger entgegen der traditionellen Sprachauffassung anders bedacht werden, denn im Nennen des Wortes zeigt sich das Seiende. Dieses Nennen grenzt Heidegger vom herkömmlichen Benennen als Bezeichnen, in dem im Nachhinein Dingen sprachliche Zeichen zugeordnet werden, scharf ab: »Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort. Das Nennen ruft. Das Rufen bringt sein Gerufenes näher.« (GA 12, 18) Im Nennen des Wortes zeigt sich das Besprochene in seiner Offenständigkeit. Die so verstandene Nennkraft des Wortes, in und aus der Seiendes anwesen kann, rührt laut Heidegger in mehrfacher Hinsicht auch an den Grundfesten der Substanzontologie, die selbstverständlich von der Reihenfolge Wirklichkeit, Denken und Sprache ausgeht. Offensichtlich macht weder der Sprechende noch das sprachliche Zeichen das Seiende, sondern im Sprachgeschehnis geht die Sache auf. Diese Verschränkung von Wort und Seiendem, da jedes Sichzeigende als dieses oder jenes sich uns zuspricht und somit erscheint, möchte Heidegger eindringlich bedacht wissen. Sein ereignet sich im Wort. Hierin erblickt er auch die Verabschiedung von der herkömmlichen Auffassung von Sprache: »Wenn uns im Wort erst – oder auch im noch nicht gefundenen ›Wort‹ – das Seiende erst als dieses entgegenkommt, und wenn das Seiende nur im Sein geeignet wird zum Seienden, dann muß das Wort zum Sein selbst und darf nur aus der Wahrheit des Seyns erfragt werden. Mit diesem Schritt ist alle ›Sprachphilosophie‹ überwunden.« (GA 74, 72) Den Gabecharakter des Wortes versteht Heidegger nun in einer umfänglicheren Weite. Alles zeigt sich nur in diesem Zuspruch, ja das Aufgehen von Anwesen überhaupt gewährt die Sprache. Heidegger verlässt in seiner Sprachbetrachtung somit die Ebene der gemeinhin als sprachlich betrachteten Phänomene und verweist auf die sprachliche Verfasstheit des Erscheinens überhaupt. Jedem Anspruch, dem entsprochen wird, wohnt eine genuine Sprachlichkeit inne. In diesem Sinne gibt es für Heidegger auch kein »außersprachliches« oder »sprachunabhängiges« Erscheinen, da dieses nur ist und sich nur zeigt, indem ihm entsprochen wird. Gleichwohl ist nicht jedes Zeigen im Sinne des Sagens an die Verlautbarung gebunden. All die uns umgebenden A
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Gebrauchsdinge, die vorliegenden Seienden, das in der Natur Anzutreffende oder die Kunstwerke etc. können uns in einer verschiedenartigen Weise ansprechen: »In allem, was uns anspricht, was uns als Besprochenes und Gesprochenes trifft, was sich uns zuspricht, was als Ungesprochenes auf uns wartet, aber auch in dem von uns vollzogenen Sprechen waltet das Zeigen, das Anwesendes erscheinen, Abwesendes entscheinen läßt. Die Sage ist keineswegs der nachgetragene sprachliche Ausdruck des Erscheinenden, vielmehr beruht alles Scheinen und Verscheinen in der zeigenden Sage. Sie befreit Anwesendes in sein jeweiliges Anwesen, entfreit Abwesendes in sein jeweiliges Abwesen.« (GA 12, 246) Das reichhaltige Zitat markiert deutlich, dass Heidegger Sprache als anfängliches Zeigen, in dem Seiendem sein Scheinen gewährt wird oder versagt bleibt, verstanden wissen möchte. Dieses Zeigen kann nicht willentlich herbeigeführt oder von einem vorstellenden Denken bestimmt werden, sondern es wird – gemäß Heideggers Phänomenologie der Responsivität – von einem antwortenden Sichzeigenlassen her zu verstehen sein. Das Seiende ist uns Menschen somit nur sprachlich erschlossen, aber nicht nur dieses oder jenes, sondern Seiendes überhaupt. So verstanden ereignet sich in der Sprache ein Darreichen von Welt. Das darin eröffnete Ganze aller Bezüge zwischen Seienden, das sich nicht wiederum als Seiendes oder als Summe aller Seienden verstehen lässt, sondern als Geschehnis, in dem alles Seiende sein Anwesen findet, waltet als Zuspruch der Sprache, »als die Weltbewëgende Sage« (GA 12, 20). So schreibt Heidegger: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet die Welt – ist Seiendes.« (GA 38, 168) Das Seiende oder – wie Heidegger später auch sagen wird – das Ding zeigt sich nicht nur als etwas, d. h. als so oder so vernommenes, sondern lichtet sich immer in kontextuellen Bezügen. Es erscheint somit weder ein abstraktes Etwas, das nachträglich interpretiert werden müsste, noch ein isoliertes Ding, dessen Bezüge in einem zweiten Schritt herzustellen wären. Stets wird Seiendes in seinem sprachlichen Sichzeigen aus einer Welt erfahren. 39 Das Wort wird dabei nicht mehr vom Sprechen im Sinne der akusTrawny umreißt das Heidegger’sche Weltverständnis in seiner phänomenologischen Erörterung dieses Themenkomplexes folgendermaßen: »Das Ganze ist die unermeßliche Gesamtheit aller Bezüge und Bezuglosigkeiten zwischen Seiendem. Das Ganze ist die unerschöpfbare Fülle der Erfahrung und der Möglichkeit der Erfahrung von Seiendem und Nichtseiendem schlechthin. Diese Fülle ist die Welt.« (Trawny 1997, 37 f.)
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tischen Verlautbarung zu erörtern versucht, sondern von dem, was Heidegger unter »sagen« versteht. Man kann zwar viel sprechen, doch dies kann nichtssagend sein. Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass einer kaum oder nichts spricht und gerade in den wenigen Worten oder sogar im Schweigen sagend ist. Sagen muss somit, im Gegensatz zu einem an der Verlautbarung orientierten Sprechen, in einer anderen Weise verstanden werden. Sagen, das Heidegger vom althochdeutschen »sagan« her denkt, heißt soviel wie »zeigen: erscheinen lassen, lichtend-verbergend frei-geben als dar-reichen dessen, was wir Welt nennen« (GA 12, 188) oder »zeigen, erscheinen-, sehen- und hörenlassen« (GA 12, 241). 40 Es wird ersichtlich, dass Heidegger das Sagen der Sprache nicht von der Zeichenhaftigkeit her zu fassen versucht, sondern von einem anfänglich-eröffnenden (als in sich verbergenden) Zeigen respektive – um seinen responsiven Charakter nachdrücklich zu unterstreichen – als Zeigen-lassen. Lichtung ereignet sich jedoch nur, wenn dem Aufscheinen selbst ein Ort des Erscheinens eingeräumt wird, an welchem dem Anspruch entsprochen werden kann, denn Unverborgenheit ereignet sich nur als bergendes Erscheinenlassen. Jedes Bedeuten ist laut Heidegger diesem vorausgehend-eröffnenden Zeigen als Sichzeigenlassen nachgeordnet und allem Benennen ist ein Geben vorgängig. Erst aus der nach Heidegger stets übergangenen Vor-Gabe des Wortes lässt sich der geläufige Umgang mit der Sprache verstehen. Heidegger führt seine Leserschaft mit einem entscheidenden Schritt – er würde wohl von einem Sprung sprechen, da es hier kein kontinuierliches Fortschreiten vom Einen zum Nächsten gibt – in ein anderes Verhältnis zum Wort. Dieses ist nun nichts Seiendes mehr 40 Weder im Kluge (1999) noch im Grimm (2004) lässt sich diese etymologische Herleitung bestätigen. Im Duden wird jedoch der Hinweis Heideggers nachhaltig unterstrichen: »sagen […] = sehen lassen, zeigen« (Duden 1999, 3267). Helting macht zudem darauf aufmerksam, dass in neueren Untersuchungen der Indogermanistik für die Verbalwurzel *bhah2, für die anfänglich zwei homophone Wurzeln, *bhah2 - für »glänzen«, »leuchten«, »scheinen« auf der einen und auf der anderen Seite »sprechen«, angenommenen wurden, nunmehr ein einziger Stamm vermutet wird, ganz so wie Heidegger von der Sache her die Sprache als Sage im Sinne von »Zeigen«, »Zur-Erscheinung-bringen« oder »Anwesenlassen« versteht: »Wenn allerdings mit Heidegger ›sprechen‹ als das ›zum Erscheinen-, Glänzen-, Hervorscheinen-Bringen‹ gefaßt werden kann, dann würde es sich hier nicht um zwei verschiedene Verbalwurzeln, sondern um ein und die selbe Wurzel handeln […].« (Helting 1997, 52) Auch Mayrhofer (vgl. 1993, 260) verweist darauf, dass das indogermanische *bheh2 für ›leuchten‹ und *bheh2 für ›sprechen, sagen‹ aller Wahrscheinlichkeit nach ursprungsgleich sind.
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(und bildet auch kein Vorliegendes ab), sondern wird als Wort des Seyns und als Sage, »die zeigend Seiendes in sein es ist erscheinen läßt« (GA 12, 224), in den Blick genommen. Bei der Anerkenntnis dieses gewandelten Bezugs zur Sprache wird ein ganzes Bündel an Fragen virulent: Welche »Seinsweise« kann dem Wort, das selbst ja kein Seiendes mehr ist, durch das aber Seiendes, ja Welt aufgehen kann, zugebilligt werden und wann meldet sie sich? Wie ist dieses Geben selbst, nachdem das Wort nichts Gegebenes ist und folglich die Gegebenheit als fragwürdig erscheint, zu verstehen? Es muss gefragt werden, wie die sprachliche Gegebenheit gegeben ist. Denn wenn sich alles sprachlich zeigt und es keinen Standpunkt außerhalb der Sprache gibt, bleibt offen, wie sich das Zeigen der Sprache zeigt, wie sie selbst als Zeige gegeben ist, nachdem sie nicht etwas, sondern das Geschehnis der Un-Verborgenheit ist. Um den Gabecharakter des Wortes in der zuvor skizzierten Responsivität und damit die Seinsweise der Sprache zum Aufweis zu bringen, stellt sich Heidegger die Frage, wann dieses, der gewöhnlichen anthropozentrisch-instrumentalistischen Sprachauffassung zuwider laufende Verständnis des Wortes, offenkundig wird. Dass Sprache als Eröffnendes waltet, entzieht sich für gewöhnlich im Vollzug des Sprechens. Die Sprache hält dabei mit ihrem Wesen an sich und erlaubt es so, problemlos Begebenheiten, Anliegen und Sachverhalte zu bereden. So hält Heidegger fest: »Nur dadurch, daß im alltäglichen Sprechen die Sprache selber sich nicht zur Sprache bringt, vielmehr an sich hält, vermögen wir geradehin eine Sprache zu sprechen, von etwas und über etwas im Sprechen zu handeln, ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben.« (GA 12, 151) Mit dem Phänomen Sprache hat es somit eine höchst eigentümliche Bewandtnis auf sich: Gerade im reibungslosen Ablauf entwindet sie sich jeder Aufmerksamkeit, sie scheint als Sprache nicht auf. So sind wir im Miteinanderreden bei der besprochenen Sache, nicht jedoch explizit zur Sprache. Rückt sie in den Vordergrund, erfahren wir die Unterredung als unterbrochene, etwa wenn wir den anderen akustisch nicht verstehen oder den Ton seiner Sprache problematisch finden etc. Die Untrennbarkeit von Wort und Sache, die gemäß Heidegger das Walten und Währen der Sprache auszeichnet, zumeist aber aufgrund des glatten Funktionierens der Sprache nicht weiter bedacht wird, macht sich gerade dann bemerkbar, wenn »wir für etwas, was uns angeht, uns an sich reißt, bedrängt oder befeuert, das rechte Wort nicht finden« (GA 12, 151). Hier kann nicht nur etwas 264
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nicht benannt werden, sondern etwas kommt ohne dieses Wort nicht ins Erscheinen. Zum Vorschein kommt unser Angewiesensein auf die Nennkraft des Wortes. Erst in dieser Erfahrung des Ausbleibens des rechten Wortes wird auch im alltäglichen Umgang mit der Sprache offensichtlich, dass der Mensch stets auf den Zuspruch der Sprache angewiesen bleibt, dabei nicht willkürlich über die Sprache verfügen kann und sie nicht in einer bloß nachträglich-abbildenden Funktion aufgeht. Im Versagen des sprachlichen Zuspruchs lässt sich gerade nicht das zur Sprache bringen, worum es geht. Der Mensch und die Sache, die erörtert werden soll, sind hierbei in einer höchst merkwürdigen Weise auf den Gabecharakter der Sprache angewiesen. Das Beispiel, dass das rechte Wort im Alltag oder in der dichterischen Erfahrung ausbleibt, wie Heidegger es entlang seiner Erörterung des George’schen Gedichts Das Wort zeigt, darf weder als peripheres Phänomen noch als eine zu vernachlässigende Problematik interpretiert werden. Gerade im vermeintlich defizitären Modus, der zunächst als unergiebig erscheint und lediglich ausgemerzt werden muss, kann sich für Heidegger die Möglichkeit einer »positiven« Inblicknahme des Sprachphänomens auftun. Es zeigt sich, dass der Erfahrung der Sprache das Trauma innewohnt, ein Versagen nicht ausschließen zu können. Das Ringen um Worte wäre dann nicht nur und in erster Linie ein subjektives Unvermögen, sondern stets von der Einsicht getragen, über das Wort nicht verfügen zu können und nachhaltig auf den Zuspruch der Sprache angewiesen zu sein. Heidegger verweist dabei immer wieder auf die der Sprache inhärente Problematik als »Sprache der Metaphysik« zugleich eine »Metaphysik der Sprache« zu evozieren (vgl. GA 9, 328). Dem wird keine neue Sprache entgegengehalten, vielmehr wird die Abgründigkeit der Sprache gehört. Folgerichtig verneint er in den Beiträgen die Möglichkeit der Erfindung einer »Seinssprache« mittels Neologismen oder auch einer neuen Grammatik: »Kann [die Wahrheit des Seyns] überhaupt unmittelbar gesagt werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Sprache für das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar ohne künstliche Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende. Alles Sagen muß das Hörenkönnen mitentspringen lassen.« (GA 65, 78) Nicht nur schreibt sich Heideggers eigenes Denken in das Suchen entlang des »Wortens« ein und erweist sich als unentwegtes Scheitern, das sich im abermaligen Sagen, Wider- und Anderssagen artikuliert. Allein die unterschiedlichen »Stile« bzw. »Register«, die verA
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dichtet in Unterwegs zur Sprache diese Sprachnot zum Ausdruck bringen – neben dem Sichmiteinschreiben in die Dichtung Trakls, wie es sich nachhaltig in Die Sprache im Gedicht manifestiert, gerät Heidegger im Gespräch mit dem Japaner stets an den Rand der eigenen Sprachlichkeit und überlässt im letzten Beitrag, Der Weg zur Sprache, Wilhelm von Humboldt das letzte Wort, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass das Ereignis »eigend-haltend-ansichhaltend das Verhältnis aller Verhältnisse« sei und »unser Sagen als Antworten stets im Verhältnisartigen« (GA 12, 256) bliebe. Sprache wird in diesen unterschiedlichen Wegen nicht als menschliche Fertigkeit ausgelotet oder gar als zu beherrschendes Objekt betrachtet, sondern stets tut sich kund, inwiefern wir auf ihren Anspruch antworten müssen und auf dieses unverfügbare Verhältnis angewiesen bleiben, wenn wir überhaupt etwas sagen wollen. Aus diesem stets möglichen Scheitern versteht es Heidegger, den Zuspruch der Sprache als Gabe vernehmbar zu machen. 41 Gerade im Fehlen des Wortes, also im Bruch mit dem gewohnten Umgang mit Sprache, kommt laut Heidegger die »Sprache selber als Sprache zum Wort« (GA 12, 151). Für Heidegger wird das, was Sprache als Sprache in ihrem Gabecharakter auszeichnet, im Entzug vernehmbar; erst in diesem wird das Gewährende der Sprache offenkundig. Einerseits lässt sich daran ablesen, dass die Menschen im Sprechen auf die Gabe des Wortes angewiesen bleiben. Ohne das treffende Wort kann die zu besprechende Sache nicht artikuliert werden und ihr Erscheinen versagt sich. Doch neben diesem offensichtlichen Versagen der Sprache, in dem ihr Gabecharakter vernehmbar wird, bricht ein anderes Versagen auf; in der Sprache, auch dort wo ihr Umgang (scheinbar) glückt, meldet sich der Entzug in einer kaum merklichen Weise: Indem das Wort die Dinge nennt und so Seiendes eröffnet, d. h. in die Unverborgenheit hebt und erscheinen lässt, tritt der Gabecharakter der Sprache zugunsten des darin Angesprochenen in den Hintergrund. Die Sprache hält stets mit ihrem Wesen im Nennen der Dinge an sich und bringt sich im Gesagten gerade nicht eigens zur Sprache. In diesem Sinne ist auch den Ausführungen Merschs zuzustimmen: »Die Philosophie der Sprache vermag daher nicht die Sprache […], sondern stets nur die Bahnungen solcher Modifikationen zu entdecken und es gilt, die Sprache […] gleichsam ständig wieder von Neuem in Bewegung zu halten, um ihr immer andere, überraschende und noch ungeahnte Bahnen zu entlocken.« (Mersch 2006, 223)
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Es geht Heidegger folglich nicht einzig und allein um die Dimension der Entbergung von Seiendem in der Sprache. So betont er mit Nachdruck, dass sich Sprache als »die ursprüngliche Enthüllung selbst, aber deshalb auch [als] die Verhüllung« (GA 39, 62) ereignet: »Sie [die Sprache, M. F.] ist die Gefahr aller Gefahren, weil sie allererst die Möglichkeit einer Gefahr schafft. Gefahr ist die Bedrohung des Seins durch Seiendes. Nun ist aber der Mensch erst kraft der Sprache überhaupt erst ausgesetzt einem Offenbaren, das als Seiendes den Menschen in seinem Dasein bedrängt und befeuert und als Nichtseiendes täuscht und enttäuscht. Die Sprache schafft erst die offenbare Stätte der Seinsbedrohung und Beirrung und so die Möglichkeit des Seinsverlustes, das heißt – Gefahr.« (GA 4, 36 f.) Sprache lässt somit – und insofern sind wir vollends auf sie angewiesen – als »ursprüngliche Enthüllung« Seiendes anwesen oder abwesen. Heidegger spricht hier auch von einem möglichen Sprachmissbrauch als dem »vernutzte[n] Gerede« (GA 39, 64), das sich auf das besprochene Seiende beschränkt. 42 Doch seine Aufmerksamkeit schenkt er vornehmlich nicht diesen Formen der Verbergung (Seinsverlust, Schein, Gerede), sondern der sich verbergenden Dimension der Entbergung selbst, die »als die Lichtung des Sichverbergenden begriffen« (GA 65, 428) werden muss und »zugehörig zum Wesen des Seyns selbst« (GA 65, 428) west. In der sprachlich ereigne-
42 Auf die Möglichkeit der Verdrehung und Verstellung des Seienden durch Sprachmissbrauch geht Heidegger – neben seinen Ausführungen in Sein und Zeit zum »Gerede« (GA 2, 222–226) – explizit in GA 39, 62 ff. und im »Kunstwerkaufsatz« ein. Neben der Verbergung von Seiendem als Versagen der Gelichtetheit spricht Heidegger dort auch von einer Verbergung als Verstellen innerhalb des Entbergungsgeschehens: »Aber Verbergung ist zugleich auch, freilich von anderer Art, innerhalb des Gelichteten. Seiendes schiebt sich vor Seiendes, das eine verschleiert das andere, jenes verdunkelt dieses, weniges verbaut vieles, vereinzeltes verleugnet alles.« (GA 5, 40) Dieser der Sprache immanenten Möglichkeit des Missbrauchs widmet sich Heidegger jedoch in Unterwegs zur Sprache nicht mehr eigens. Derrida hat diesem »Versprechen« der Sprache (zugunsten des Ent-Verbergungsgeschehens) weit größere Aufmerksamkeit geschenkt: »Diese Zufälle, Unfälle sind wesentlich; sie widerfahren dem Sprechen nicht von außerhalb.« (Derrida 1988b, 135; vgl. Derrida 2001) In seiner beeindruckenden historisch-systematischen Studie über die rhetorische Figur der Katachrese (lat. abusio) geht Posselt der der Sprache immer miteingeschriebenen Möglichkeit des Missbrauchs nach und macht darauf aufmerksam, »daß die allgemeine Möglichkeit des Mißbrauchs nicht etwas ist, was in der Gestalt des sprechenden Subjekts von ›außen‹ an die Sprache hinzutritt, sondern eine allgemeine Struktur markiert, die der Sprache und dem Sprechen selbst inhärent ist« (Posselt 2005, 9).
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ten Lichtung waltet ein kaum merklicher Entzug, der auf das Geheimnis der Sprache hinzudeuten scheint; so schreibt Heidegger: »Der Güter Gefährlichstes ist die Sprache deshalb, weil sie das Ungesprochene nicht wahren könnte – (weil sie nicht zu sehr verhüllt, sondern zu sehr preisgibt).« (GA 77, 159) Dem Exzess der Unverborgenheit – dem Preisgeben und Gewähren alles Seienden in einer Welt – ist der Entzug der Verborgenheit miteingeschrieben. Der Sprache – und hierin ist sie gemäß Heidegger »das Zweischneidigste und Zweideutigste« (GA 39, 62) – ist somit ein Ent- und Verbergungsgeschehen inhärent: »Es [das Sprach-Ereignis, M. F.] er-gibt das Freie der Lichtung, in die Anwesendes anwähren, aus der Abwesendes entgehen und im Entzug sein Währen behalten kann.« (GA 12, 247) Sprache behält im Freigeben von Seienden und Welt auf eine eigentümliche Weise ihr Währen ein; sie hält mit ihrem Wesen an sich und entzieht sich kaum bemerkbar. Sprache lichtet sich nur, indem sie das Sichzeigen von Anderem gewährt, ohne selbst als Erscheinende im Sichmitsagen anzuwesen: »Als die Sage ist das Sprachwesen das ereignende Zeigen, das gerade von sich absieht, um so das Gezeigte in das Eigene seines Erscheinens zu befreien.« (GA 12, 251) Die Seins- qua Sprachvergessenheit der Metaphysik ist somit nicht lediglich Versäumnis der Tradition, einen Bestandteil nicht berücksichtigt zu haben, sondern sprachlichem Seinsgeschehnis inhärent. Heidegger möchte nicht eine Unterlassung rückgängig machen, indem er die Seins- qua Sprachvergessenheit einfachhin ausmerzt, sondern vielmehr möchte er die Geschichte dieses (unumgänglichen) Entzugs bedenken: »Manches spricht dafür, daß das Wesen der Sprache es gerade verweigert, zur Sprache zu kommen, nämlich zu der Sprache, in der wir über die Sprache Aussagen machen. Wenn die Sprache überall ihr Wesen in diesem Sinne verweigert, dann gehört diese Verweigerung zum Wesen der Sprache. Somit hält die Sprache nicht nur dort an sich, wo wir sie gewohnterweise sprechen, sondern dieses ihr An-sich-halten wird von daher bestimmt, daß die Sprache mit ihrer Herkunft an sich hält und so ihr Wesen dem uns geläufigen Vorstellen versagt.« (GA 12, 175) Der Sprache kann laut Heidegger kein Objektstatus zugeschrieben werden, da sie sich nicht als Gegenstand umgrenzen lässt, über den dann gesprochen werden kann. Im Eröffnen der »Ortschaft aller Orte und Zeit-Spiel-Räume« (GA 12, 246) entwindet sie sich jeder direkten Thematisierung. Die Sprache entzieht sich dabei unscheinbar auf eine noch eigentümlichere Art. Wie kann dieser Entzug 268
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als Entzug – d. h. ohne ihn wieder zu vergegenständlichen – des seinsvergebenden Wortes genauer bedacht werden? Alles Seiende kommt in dieser entbergenden-verbergenden Offenheit allererst zur Erscheinung. Diese vorausgehende und sich je schon ereignete Lichtung wurde laut Heidegger im Laufe der Geschichte der Philosophie nie eigens bedacht: »Die Metaphysik achtet jedoch dessen nie, was sich gerade in diesem on, insofern es unverborgen wurde, auch schon verborgen hat.« (GA 9, 380) So verweist Heidegger darauf, dass sich das Denken der Tradition dieser vorgängigen Unverborgenheit alles Seienden in der Sprache verdankt. Doch dieses Lichtungsgeschehnis – als das in seiner Unvordenklichkeit wohl Nächste, aber in seiner unscheinbaren Selbstverständlichkeit das Fernste – wurde stets zugunsten des Gelichteten als Besprochenen übergangen: »Das Licht, d. h. dasjenige, was solches Denken als Licht erfährt, kommt selbst nicht mehr in die Sicht dieses Denkens; denn es stellt das Seiende stets und nur in der Hinsicht auf das Seiende vor.« (GA 9, 365) Dass das Geschehnis der Unverborgenheit nicht eigens in den Blick genommen wurde, ist jedoch nicht mit einer Unterlassung gleichzusetzen, denn in der Lichtung des Seins selbst west der Zug der Verbergung, »daß im Wort, in dessen Wesen, jenes sich verbirgt, was gibt« (GA 12, 182). 43 Das Wort bringt das Ding in das Offene des Vernehmbaren, ohne dass diese Unverborgenheit selbst – als etwas Dinghaftes – zur Erscheinung gelangen würde. Folgerichtig müsste daher nicht von einer Sprachvergessenheit – in der jemand etwas bewusst oder unbewusst verabsäumt hat –, sondern von einer Sprachverlassenheit – einem Entzug der Sprache als Seyn selbst – gesprochen werden: »Dann zeigt sich: daß das Sein das Seiende verlässt, besagt: Das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt.« (GA 65, 111) Oder noch eindringlicher: »Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.« (GA 5, 337) 44 Im Gewähren von Seiendem kommt das Geben selbst nicht mehr eigens in die Unverborgenheit. Dieses Ansichhalten kann nun aber nicht in einem weiteren Anlauf in die Unverborgenheit ge43 In dem späten Vortrag Zeit und Sein wird Heidegger diesbezüglich noch deutlicher: »Das Sein [und damit auch die seinsvergebende Dimension der Sprache, M. F.] eigens denken, verlangt, das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen zugunsten des im Entbergen verborgenen spielenden Gebens, d. h. des Es gibt.« (GA 14, 10) 44 Heidegger verleiht diesem Satz besonderen Nachdruck, indem er ihn allein als einen ganzen Absatz stehen lässt und ihn darüber hinaus auf einer Seite zweimal wiederholt.
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hoben werden. Seyn bleibt dieser Zug der Verbergung eingeschrieben; dem Seyn nachdenken besagt somit, gerade dieses notwendig Sichentziehende zu verwahren. 45 Die Unverborgenheit ist daher nicht mit einer vollkommenen Transparenz zu verwechseln, denn sie waltet – und zwar notwendigerweise – als Lichtung immer schon als Verbergung. Diese Verbergung ist weder als additiver Zusatz zu verstehen, der bloß noch nicht enthüllt ist, noch sind Unverborgenheit und Verbergung zwei für sich gesonderte Entitäten, sondern im Erscheinenlassen von Seiendem entzieht sich das Erscheinen selbst zugunsten dessen, was in diesem Erscheinen offenbar wird. Nicht nur verhält es sich so, dass sich die Menschen vordergründig am gelichteten Seienden halten und nicht die Lichtung selbst bedenken, sondern diese Lichtung hält selbst an sich, indem sie selbst gerade nicht als vernehmbares Seiendes zur Erscheinung gelangen kann. Der Zuspruch des Seyns »entbirgt« sich nur im Ansichhalten. Unverborgenheit und Verborgenheit fallen somit stets als Un-Verborgenheit in eins und bilden ein nicht voneinander ablösbares Geschehen. 46 Dieses Geschehnis ist niemals einholbar und als Seiendes zu umgrenzen. Jedem dieser Versuche der Eingrenzung und der Vergegenständlichung hat es sich immer schon entzogen: »Das Schicken im Geschick des Seins wurde gekennzeichnet als ein Geben, wobei das Schickende selbst an sich hält und im Ansichhalten sich der Entbergung entzieht.« (GA 14, 27) Das lichtende Geben selbst lässt sich nur als je schon sich Entziehendes bedenken. Der Entzug als Entzug bricht jedoch zumeist nur dann auf, wenn das Gegebensein der Sprache nicht in einer »selbstverständlichen« Auch Trawny betont diese Dimension der Verbergung in der Lichtung: »Das Erscheinen, das uns so selbstverständlich ist, weil Dinge erscheinen, erscheint selbst gerade nicht. Sowohl bezüglich der erscheinenden Dinge als auch bezüglich der Dimension, in welcher die Dinge erscheinen, der ›Lichtung‹, ist stets Verbergung mit im Spiel. Insofern wir sozusagen die ›ganze Wahrheit‹ verstehen wollen, dürfen wir sie nicht nur einseitig als ›Lichtung‹, sondern auch als ›Lichtung der Verbergung‹ begreifen, als eine positive Erkenntnismöglichkeit also, für welche die Grenze der Erkenntnis konstitutiv ist.« (Trawny 2003, 94) 46 Auf das beharrliche Übergehen des Seinsgeschehnisses zugunsten der Gelichtetheit von Seiendem weist Held pointiert hin: »Zugunsten dieser Offenbarkeit [der Unverborgenheit des Seienden, M. F.] hielt das Sein sich selbst zurück und verborgen; was dabei verborgen blieb, war aber – entsprechend dem Offenbarwerden der Offenbarkeit – nichts anderes als sein Verborgenbleiben selbst. […] Womit das Sein an sich hielt, war sein eigenes Ansichhalten; was es den Menschen vorenthielt, war es selbst als Vorenthalt seiner selbst.« (Held 1980, 540 f.) 45
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Weise gewährt wird. Das Ausbleiben des Wortes wird somit von Heidegger nicht – wie gemeinhin üblich – als ein defizitärer Modus des subjektiven Sprachvermögens gedeutet, sondern gerade in dieser negativen Erfahrung machen sich spurhaft die darin waltende Unverfügbarkeit des Sichzeigenlassens und das responsive Wesen des Menschen bemerkbar: »Dieses Zerbrechen des Wortes ist der eigentliche Schritt zurück auf dem Weg des Denkens.« (GA 12, 204). Vernehmbar werden diese Grenzen der menschlichen Subjektivität und damit die Möglichkeit eines Umdenkens insbesondere in der Sprache. Denn gerade im Offenbarwerden von Seiendem im Gespräch entzieht sich das, was das Dingsein der Dinge »bedingt«. Die nie restlos instrumentalisierbare Sprache ist nach Heidegger somit auch nicht mehr zu den seienden Dingen zu zählen; ihr kommt kein »Dingwesen« (GA 12, 182) mehr zu. Dennoch vermag man die Sprache nicht »in die Leere der bloßen Nichtigkeit« (GA 12, 182) abzuschieben. Ihr Sagen ist nicht nichts. Wie kann jedoch ihre alles »bedingende« Seinsweise näher bestimmt werden? Im Versagen des Wortes kann das »Ding« nicht benannt und über Seiendes nicht gesprochen werden. Damit dreht sich das metaphysische Verständnis der Sprache: Nicht mehr das Wort als materieller Träger ist dem Ding oder der geistigen Bedeutung nachgeordnet, sondern das Wort, dessen Seinsart aufgrund des phänomenalen Gehalts anders verstanden werden muss, geht in einer gewissen Weise der Sache voraus. Der Mensch bleibt in seinem Sprechen auf die seins-vergebende Dimension der Sprache, d. h. auf den Zu-Spruch des Wortes, angewiesen, um Seiendes »anwesen« lassen zu können. Die Sprache ist bei Heidegger nicht mehr an die nachträgliche Artikulation von Bedeutungen gebunden, sondern wird in ihrer seinserschließenden Weite ernst genommen. In ihr eröffnet sich allererst Seiendes. So hält Heidegger fest: »In der Sprache geschieht die Offenbarung des Seienden, nicht erst ein nachdrücklicher Ausdruck des Enthüllten, sondern die ursprüngliche Enthüllung selbst […].« (GA 39, 62) Hier werden viele Fragen virulent: Wie ist dieses entbergend-verbergende Anwesen-lassen von Seiendem im Wort zu verstehen? Warum spricht Heidegger in diesem Zusammenhang von einem Gewähren, Bedingen oder Geben? »Verursacht« das Wort die Dinge und dreht sich hier das metaphysische Verhältnis von Grund und Begründetem einfachhin um, sodass nicht die Realität oder der Gedanke der Sprache nachgeordnet ist, sondern umgekehrt? Oder ist es möglich, A
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dass dem Wort ein »Gabecharakter« zugestanden wird, der nicht mehr als Kausalitätsverhältnis von Grund und Begründetem oder Ursache und Wirkung gedacht wird? Hier betont Heidegger nachdrücklich: »Was das Ereignen durch die Sage ergibt, ist nie die Wirkung einer Ursache, nicht die Folge eines Grundes.« (GA 12, 247) Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, spricht Heidegger explizit davon, dass das »Bedingen« des Wortes zum Ding kein Begründen oder Verursachen ist. Um die Seinsart des Wortes angemessen zu umschreiben, weist er darauf hin, daß das Wort das Ding zum Ding »be-dingt« (GA 12, 220). Doch diese »Bedingnis« (GA 77, 140) möchte Heidegger weder als erstursächlichen Anstoß noch als Bedingung der Möglichkeit für Seiendes verstanden wissen: »Aber das Wort be-gründet das Ding nicht. Das Wort läßt das Ding als Ding anwesen.« (GA 12, 220) 47 Das Wort fungiert somit nicht als die erste Ursache im ontischen Sinne; es ist gerade nicht »das Seiendeste, seiender als die Dinge« (GA 12, 180), sondern »gewährender als jedes Wirken, Machen und Gründen« (GA 12, 247). Heidegger ringt darum, in einer anderen Sprache traditionellen Denkfiguren, die sie auf ein vergegenständlichendes Erstes und Oberstes zurückzuführen gedenken, den vertrauten Boden zu entziehen. Die Rückführung auf ein neues Zentrum, das »als das ständigste Anwesende in allem Seienden das Seiendste« (GA 65, 425) das Sein von allen übrigen Seienden bewirkt, wäre jedoch ein Rückfall in die Metaphysik.
Heidegger thematisiert die seins-vergebende Dimension des Wortes in erster Linie im Zusammenhang mit der umfangreichen Auslegung des Verses »Kein ding sei wo das wort gebricht« von Stefan George (vgl. GA 12, 147–225). Doch weder das Währende der Sprache noch ihr Entzug aus der Verfügungsgewalt eines Subjekts ist ausschließlich auf die Dichtung beschränkt. Aus diesem Grund möchte ich das Aufgehenlassen von Seiendem im Wort für alle sprachlichen Vollzüge in Anspruch nehmen und dies gerade im Gespräch nachzeichnen. Aber mit von Herrmann kann hervorgehoben werden, dass dieser Entzug mitunter in der Dichtung eigens als Entzug aufscheint: »Während im alltäglichen Sprechen das Erscheinenlassen von Welt und Offenbarwerden des Seienden in seiner Innerweltlichkeit in der Weise des An-sich-haltens geschieht, geschieht im dichterischen Sprechen und im sprachlichen Kunstwerk das Erscheinenlassen von Welt und Offenbarwerden des innerweltlichen Seienden offenkundig.« (Herrmann 1999, 209) Doch dass die Menschen das An-sich-halten der Sprache »außerhalb des Machtbereichs der Dichtung nicht sehen und nicht erfahren« (Herrmann 1999, 209) können, würde ich, ebenso wie eine strikte Trennung zwischen Alltagssprache und Dichtung, nicht vertreten.
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Das Bedingen der Dinge im Wort darf nicht als apriorischer und ontologischer Ermöglichungsgrund verstanden werden (vgl. GA 77, 139). Nicht zuletzt im Nachspüren der seinsvergebenden Dimension des Wortes unternimmt Heidegger den Versuch, sich dezidiert von einem transzendental ausgerichteten Projekt abzugrenzen. Damit ist nicht nur die Kantianische Philosophie gemeint, sondern in erster Linie sein eigener Ansatz der Fundamentalontologie rund um Sein und Zeit. Dort hält er noch am seinskönnenden und seinserschließenden Vermögen des Daseins fest, auf dessen Entdeckendsein das Lichtungsgeschehnis angewiesen ist: »Dergleichen Verstehen von Seiendem in seinen Seinszusammenhängen ist nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit, das heißt des Entdeckendseins des Daseins.« (GA 2, 301) Heidegger selbst wendet sich ab Mitte der 1930er Jahre gegen sein (zumindest in Ansätzen noch) 48 transzendentales Denken, das zum einen einer Fundierung alles Ontischen im Ontologischen als (daseinsmäßige) Bedingung der Möglichkeit nachging und dadurch eine Trennung zwischen Seiendem einerseits und Sein andererseits als ontologische Differenz aufrechterhielt, ohne jedoch die Differenz als Differenz und somit das Sein selbst als sichverbergendes Lichten zu bedenken. 49 Um jede unterschwellige Verwechslung mit einer metaphysischen Fragestellung zu vermeiden, trachtet Heidegger in seinem späteren Denken danach, jede Rückführung auf ein Prius zu vermeiden und statt48 So schreibt er in einem Brief (3. 8. 1974) an Mauer: »Wenn man meinen Denkversuch in ›Sein und Zeit‹ als transzendentalphilosophisch bezeichnet, so ist dies nur unter der Voraussetzung richtig, daß man das Transzendentalphilosophische von der Transzendenz (Sorge) als dem Sein des Daseins her denkt, mit der allerdings das Transzendentalphilosophische im überlieferten Sinne, sowohl Kants als auch Husserls, verabschiedet ist. Das Transzendentale in ›Sein und Zeit‹ hat bereits einen ganz anderen Sinn als üblicherweise, der sich aus dem Verlassen der Subjektivität des Subjekts zugunsten des Daseins ergibt.« (zit. nach Kettering 1987, 51) 49 So schreibt er klärend in den Beiträgen: »Diese Unterscheidung ist seit ›Sein und Zeit‹ als ›ontologische Differenz‹ gefaßt, und dieses in der Absicht, die Frage nach der Wahrheit des Seyns gegen alle Vermischung sicher zu stellen. Aber sogleich ist diese Unterscheidung auf die Bahn gedrängt, aus der sie herkommt. Denn hier macht sich die Seiendheit geltend als die ousia, idea, und in ihrem Gefolge die Gegenständlichkeit als Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes. […] Daher das Quälende und Zwiespältige dieser Unterscheidung. Denn so notwendig sie ist, aus dem Herkömmlichen gedacht, um überhaupt einen ersten Gesichtskreis für die Seynsfrage zu schaffen, so verhängnisvoll bleibt doch diese Unterscheidung. Denn diese Unterscheidung entspringt ja gerade einem Fragen nach dem Seienden als solchen (nach der Seiendheit).« (GA 65, 250)
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dessen die Verhältnishaftigkeit zu betonen, sodass »es vom Ereignis her nötig wird, dem Denken die ontologische Differenz zu erlassen« (GA 14, 46). Er spricht folglich nicht mehr von einer Fundamentalontologie oder der Differenz zwischen Sein und Seiendem, sondern vom aufgehenden Verhältnis zwischen Welt und Ding aus der sichverbergenden Lichtung. In seinem ersten Hauptwerk trachtet Heidegger danach, ausgehend vom menschlichen Dasein die Seinsfrage zu stellen, ohne die Relationalität von Sein und Menschenwesen zu bedenken. Damit rückt für ihn aus der Sicht der Beiträge die Fundamentalontologie in einer leicht missverständlichen Weise zu stark in die Nähe einer Anthropologie (vgl. GA 65, 305), wie sich auch anhand der existenzialistischen Rezeption von Sein und Zeit ablesen lässt. Dieser daseins-zentrierte Ansatz muss folglich von der Sache des Seyns her eine Akzentverschiebung erfahren (Kehre), indem sich der Zuspruch des Seins als menschliches Entsprechen im Aufgehen von Seiendem ereignet. Die Kehre darf dabei weder ausschließlich noch primär als zeitliche Angabe ausgelegt werden, die Früh- und Spätwerk trennt. Vielmehr muss die Kehre als das in sich gegenwendige Ereignis selbst verstanden und in ihrer responsiven Verschränktheit lesbar gemacht werden: »Die Kehre west zwischen dem Zuruf (dem Zugehörigen) und der Zugehör (des Angerufenen), Kehre ist Wider-kehre.« (GA 65, 407) 50 Das Seyn und der seinsvergebende Gabecharakter des Wortes sind somit nicht mit einer transzendentalphilosophischen Bedingung der Möglichkeit oder einer Inanspruchnahme einer ersten und damit seiendsten Ursache zu verwechseln. Wie kann aber dann das Gabe-Ereignis der Sprache verstanden werden? Sprachlich merkt Heidegger den Umstand einer anderen Seinsweise der Sprache dadurch an, dass das Wort nicht im Sinne eines Dinges 51 ist, sondern dass es dem Wort wie dem »ist« ergeht (vgl. GA 12, 182). Das »ist« lässt sich selbst nicht mehr als ein Dinghaftes Diese Auffassung teilt auch Trawny: »Heideggers Philosophie ist kein Denken ›vor‹ und ›nach‹, sondern ›in‹ der ›Kehre‹.« (Trawny 2003, 100) 51 »Das Wort – kein Ding, nichts Seiendes […].« (GA 12, 181 f.) Heidegger destruiert hier die dreigliedrige Struktur der Gabe von Gebendem, Gegebenem und Gabenempfänger und eine Ökonomie des Tausches. Dabei nimmt er in gewisser Weise Derridas Einsichten zu diesem Themenkomplex vorweg. Bezeichnenderweise deutet Derrida gerade im Zusammenhang mit dem Gegebensein der Sprache die »Möglichkeit« einer Gabe an: »Wir sind in unserem Bezug zur Sprache, zum Beispiel zu den so genannten 50
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ausmachen. Das Wort – so Heidegger – ist nicht, sondern gibt: »Es gibt – dies nicht in dem Sinne, daß ›es‹ Worte gibt, sondern daß das Wort selber gibt.« (GA 12, 182) 52 Das »es gibt« bezeichnet somit nicht einen vorliegenden Bestand, wie es im Deutschen im alltäglichen Wortgebrauch verwendet wird, sondern Heidegger weist durch diese Formulierung zum einen in einer negativen Abgrenzung darauf hin, dass das Wort nicht im Sinne des Seienden ist, zum anderen wird in einer positiven Weise darauf aufmerksam gemacht, dass es sich in der Sprache um eine Gabe handelt, die gegeben wird, indem sie gibt. Geben und Gabe werden dabei nicht getrennt als Vollzug und Vollzogenes gedacht, in dem jemand etwas jemandem gibt, sondern als Geschehen der Gabe selbst geltend gemacht. Was gibt und ver-gibt das Wort, das nicht mehr selbst als Gegebenes und somit als dinghaftes Seiendes verstanden werden darf, sondern als das Geben selbst – und zwar »vor allem anderen« (GA 12, 182; herv. v. M. F.)? Das Wort gibt das Sein und erst in der Sprache kann Seiendes anwesen. In diesem Sprach-Ereignis geht Seiendes auf und gelangt so in sein Eigenes, ohne dass das Geben – die Sprache – je als Gegebenes erscheint. Das Wort ist »das Gebende selbst, aber nie Gegebene« (GA 12, 182). 53 Fällt hier Heidegger nun nicht doch wieder in eine metaphysische Denkfigur zurück, wenn er von einem Geben spricht, das »vor allem anderen« (GA 12, 182; herv. v. M. F.) waltet? Wie kann das noch mit der eingangs betonten Responsivität und ihrer inhärenten Identität natürlichen und Mutter-Sprachen, den Idiomen, von vornherein in einen Bezug eingebunden, der dazu verpflichtet, die Gabe zu denken […].« (Derrida 1993, 107) 52 In ihrer nicht nur aufgrund der Materialfülle bemerkenswerten Darstellung des Themenkomplexes der Gabe und des Gebens vermerkt Busch (2004, bes. 67–84), dass bei Heidegger allein eine ereignishafte und damit vorgängige Gabe in den Blick genommen wird, die gerade nicht mehr in einer zwischenmenschlichen oder phänomenalen Ebene zum Aufschein gelangen kann. Obwohl Heidegger gerade in Zeit und Sein diesen Eindruck erwecken mag, indem er nur davon spricht, dass Es »Sein« und »Zeit« gibt, möchte ich im Gegenzug gerade bei Heideggers Besinnung auf die Sprache den Akzent darauf legen, dass das Eröffnende der Sprache nicht in einer bezugsleeren Abstraktion, sondern im Wort, das sich nicht auf einen vorliegenden Bestand reduzieren lässt, aber dennoch im Gespräch vernehmbar wird, anzusiedeln ist. Hierin wird sich auch weisen, dass es durchaus möglich ist, mit Heidegger eine ethische Dimension der Gabe herauszustreichen. Er forciert dabei weder, wie Busch es suggeriert, einen transzendentalen Aspekt der Gabe als Bedingung der Möglichkeit von Seiendem, noch einen empirischen, sondern er ringt vielmehr darum, auf eine andere Denkweise hinzuweisen. 53 So schreibt Heidegger: »Sein gehört als die Gabe dieses Es gibt in das Geben. Sein wird als Gabe nicht aus dem Geben abgestoßen.« (GA 14, 10) A
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des Vollzuges von Anspruch und Entsprechen zusammengebracht werden? Denkt Heidegger hier Sprache noch als das Bezugshafte selbst oder mutiert sie unter der Hand zu einem vorausgehenden Grund? Die angesprochene uneinholbare Vorgängigkeit ist nicht (inner-)zeitlich zu verstehen, sondern eröffnet allererst alle Zeit-SpielRäume. 54 So bemerkt auch Derrida in seiner Heidegger-Lektüre, »daß sie [die Frage und damit alles menschliche Tun, M. F.] in das Andenken einer Sprache, einer Spracherfahrung eingeht, die ›älter‹ ist als sie selbst, die stets vorgängig ist und stets vorausgesetzt werden muß, die so alt ist, daß sie nie in einer ›Erfahrung‹ oder in einem ›Sprechakt‹ […] gegenwärtig gewesen ist. Dieser Augenblick, der kein Augenblick ist, wird in Heideggers Text markiert. Dann nämlich, wenn Heidegger vom Versprechen, von der Verheißung und vom ›Es gibt‹ spricht […].« (Derrida 1988c, 148) Das Vorausgehende des Anspruchs west jedoch, wie oben angemerkt, nicht als unabhängiger Prius, sondern geht nur im Entsprechen auf. In diesem Sinne muss Heidegger betonen: »Das Seyn aber ist nicht ein ›Früheres‹ – für sich, an sich bestehend, sondern das Ereignis ist die zeiträumliche Gleichzeitigkeit für das Seyn und das Seiende.« (GA 65, 13; vgl. 288 f.) 55 Um dem Seins-Geschehnis angemessen nachzudenken und nicht sogleich der Gefahr der Ontifizierung zu verfallen, ringt Heidegger darum, es nicht von einem Relatum her zu denken, sondern als Verhältnis, in dem sich die lichtend-verbergende Offenheit ereignet. So finden sich bei Heidegger dunkle Sätze wie, »daß das Sein wohl west ohne das Seiende« (GA 9, 306). Heißt das nicht, dass Seiendes und respektive der Mensch aus diesem Bezug ausgeschlossen sind? Was soll hier noch die Rede von einem zwiefältigen Bezug und einem Entsprechen des Menschen? Wo findet hier noch das Bezughafte einen Raum? So schreibt er weiters: »Sein ohne das Seiende denken, heißt Sein Das Problem der (Seins-) Geschichte kann hier nicht näher entfaltet werden, gehört aber thematisch in diesen Themenkomplex: »Das Seyn als Er-eignis ist die Geschichte […].« (GA 65, 494) 55 Vielleicht schärfer fasst Waldenfels diese zeitliche Verschiebung der Antwort durch den von Lévinas (vgl. 1998, 87 und 255) ins Feld geführten Terminus der Diastase (Auseinanderstehen): »Die zeitliche Verschiebung bedeutet eine Diastase, die der Antwort nicht von außen zuwächst durch ein Ereignis, das ihr vorausgeht; vielmehr ist die Antwort in sich selbst als nachträglich gekennzeichnet. Ihre Nachträglichkeit erweist sich als ursprünglich, unhintergehbar, unwiderruflich; denn das, worauf sie antwortet, ereignet sich für sie einzig und allein, indem sie antwortet.« (Waldenfels 1994, 266) 54
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ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken.« (GA 14, 29) Mit solchen Sätzen versucht Heidegger, die uns geläufigen Vorstellungen aufzubrechen. Sein darf nicht als apriorisch-transzendentale Bedingung der Möglichkeit verstanden werden, die als eigenständige Instanz allem Empirischen das Sein ermöglicht. Auf Sein kann auch nicht mittels einer Abstraktion von Seiendem rückgeschlossen werden, indem man vom vorliegenden Bestand in einem Grund-Folge-Denken eine erste Ursache – gleichsam als das höchste Seiende oder als Sein des Seienden (Seiendheit) – dafür in Anspruch nimmt. Es liegt das Missverständnis auf der Hand, Sprache als rein ontologisches Geschehen aufzufassen, das sich ohne Rückbindung an das Seiende und einen phänomenal vernehmbaren Bestand vollzieht. Doch Heidegger wendet sich, wenn er sich von jedem ontischen Bezugsrahmen löst, nicht einer abstrakten Ontologie zu. Das vernehmbar Seiende soll nicht in einer apriorisch-transzendentalen Ebene rückgegründet werden. Vielmehr versucht er, gerade mit seinem Sprach-Denken auf ein Denken hinzuweisen, das sich nicht in diese Opposition einteilen lässt, da »im Wort und als Wort das Seyn west« (GA 66, 23). Es ereignet sich somit nicht der Zuspruch des Seins und daneben gibt es noch das Aufgehen von Seiendem und das Miteinandersprechen von Menschen, sondern das Seyn sagt sich uns »nur als Wort im Wort« (GA 66, 51) zu. Nicht ereignet sich zuerst der Zuspruch des Seyns, dem dann nachträglich und davon losgelöst die Offenständigkeit des Seienden folgt, sondern die Bergung des Seyns vollzieht sich als Antworten im Wort, d. h. im Entsprechen, worin dann Seiendes aufgehen kann. Im Wort – aus dem etwas als etwas vernehmbar wird – zeigt sich das responsive Geschehnis der sichverbergenden Lichtung als Entzug. »Sie [die sichverbergende Lichtung des Seyns, M. F.] bedarf dessen, was sie in der Offenheit erhält, und das ist je verschieden ein Seiendes (Ding – Zeug – Werk). Aber diese Bergung des Offenen muß zugleich und im voraus so sein, daß in ihr das Sichverbergen und damit das Seyn west.« (GA 65, 389) Das Seyn bedarf gemäß Heidegger des Seienden, um sich als sichverbergendes Lichtungsgeschehen zu ereignen. Im Wort zeigt sich das Seiende nie als bloß präsentisch Vorliegendes, sondern aus dem Bezug zum Seyn, um »vom ›Seienden‹ her den Weg zur Wesung der Wahrheit zu finden und auf diesem Weg die Bergung als zur Wahrheit gehörig sichtbar zu machen« (GA 65, 389). Die Bergung des Seyns im Seienden kann somit als das Ins-Wort-Setzen der Wahrheit des Seyns umschrieben werden. Das Wort – als Antwort – wahrt A
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folglich das Ereignis und ist dem Zuspruch eingedenk. Das menschliche (Ent-)Sprechen wird in diesem Sinne als Bezeugung des Anspruchs hörbar. Als diese wird der Anspruch des Seyns bewahrt. Sprache ereignet sich nur, indem der Mensch diesem Zuspruch des Seyns im Wort entspricht. Auch hier kann nicht von zwei getrennten Bezügen gesprochen werden, sondern von einem zwiefältigen Bezug des Entsprechens: »Aber der Bezug des Menschen zum Sein steht nicht neben dem Bezug des Menschen zum Seienden. Es sind nicht zwei getrennte Bezüge, der zum Sein und der zum Seienden, sondern es ist da ein Bezug, der freilich durch eine einzigartige Zwiefalt ausgezeichnet ist, daß der Mensch in der Gegenwart des Seins stehend zum Seienden sich verhält, daß Seiendes begegnet im Licht des Seins.« (GA 55, 343) Diese Zwiefältigkeit – die weder einer abgehobenen Ontologisierung als auch einer voreiligen Ontifizierung von Sprache das Wort redet – lässt eine andere Hinsicht auf die irreduzible Sinnlichkeit von Sprache zu, ohne dass diese als Gegenpart zu einer semantischen Dimension gefasst wird. Behutsam vortastend versucht Heidegger Sprache aus der Dichotomie von Sinn und Sinnlichkeit bzw. von noesis und aisthesis zu entwinden. Bekanntlich hat sich Heidegger nie in einer umfassenden Weise zur Thematik der leiblichen Verfasstheit des Menschen geäußert, obwohl er dieser von Anfang an eine »grundlegende Bedeutung« (GA 56/57, 210) beimisst und sie auch in späteren Ausführungen als »das schwierigste Problem« (GA 15, 236) bezeichnet. Doch nachgerade in der Besinnung auf das Sprachphänomen insistiert er darauf, dass »die adaequate Fassung des Sprachlautes« (GA 15, 236) näherhin bedacht sein will. Bemerkenswert erscheint, dass Heidegger von der kaum greifbaren phone 56 her die Leiblichkeit näherhin thematisiert haben möchte. Die menschliche Stimme darf dabei nicht als das bloß Materialhafte im Gegensatz zur Ebene des Bedeutungshaften verstanden werden: »Indes bleibt offen, ob dabei [bei der metaphysischen Trennung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem, M. F.] je das Eigene des Lautens und Tönens im Sprechen erfahren und im Blick behalten wird. […] Daß die Sprache lautet und klingt und schwingt, schwebt und bebt, ist ihr im selben Maße eigentümlich, wie daß ihr GesprocheIn diesem Kontext muss auch bedacht werden, dass für Aristoteles die Stimme (phone), die in sich bedeutungshaft ist, stets als Laut von einem beseelten Wesen verstanden werden muss und sich von jedem Geräusch (psophos) grundlegend unterscheidet (vgl. De an. 420 b 5 f.).
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nes einen Sinn hat.« (GA 12, 193) Die Stimme – der darin zur Geltung kommende Tonfall, die Sprachmelodie oder der Rhythmus – ist nie ein bloß additiv Hinzukommendes, sondern der jeweilige Vollzug des Entsprechens ist stets ein leiblicher. Sie kann in dieser Dimension verstanden auch nie restlos auf den Aussagegehalt reduziert werden, denn in ihr eröffnet sich Sinn, ohne von diesem eingeholt werden zu können. Gerade in der menschlichen Stimme, die nie als bloßes Transportmittel für intelligible Inhalte fungieren und somit nicht als ein unterschiedsloses Tönen aufgefasst werden kann, zeigt sich die leibliche Verfasstheit des Menschen – und zwar rückgebunden an situative Kontexte: Jedem Gespräch, jedem kommunikativen Austausch oder jeder Vermittlung von Gedachtem muss immer eine Stimme verliehen werden, um dem zu-Sagenden einen Ort zuweisen zu können. Erst in dieser Bergung ins Stimmliche kann sich etwas als etwas zeigen. Jedes Antworten vollzieht sich daher stimmlich. Stimmlich vollzieht es sich noch in einem weiteren Sinne, nämlich in den »landschaftlich verschiedenen Weisen des Sprechens«, die Heidegger »Mundarten« (GA 12, 194) nennt. Im »Klangcharakter der Sprache« (GA 13, 156) muss dabei nicht eine Glorifizierung des Ursprünglichen oder gar eine antiquierte Rückwendung an Heimatdichtung erblickt werden, sondern der Umstand, dass das spezifische Lauten und Leiben einer Stimme sich als ein Erbe erfährt. Die Mundart gehört nie jemanden, sondern stets in eine Gegend, aus der sie entstammt und in der sie sich ausgebildet hat. Das »Lautende« bezeichnet Heidegger daher an einer Stelle als das »Erdige der Sprache« (GA 12, 196). Diese Faktizität des Leiblichen und die Rückbindung an die jeweilige Herkunft tut sich wohl nirgends so offensichtlich Kund wie im Idiom, das einem nicht gehört, sondern dem man zugehört. 57 Auf den Zusammenhang von Rhythmus und ethos als Aufenthaltsort weist Nielsen eindringlich hin: »Heidegger übersetzt rhythmos an einer Stelle auch mit ›Ver-Hältnis‹ (GA 13, 226) und deutet damit seine ursprünglich ethische Dimension an, nach der der Rhythmus alles andere ist als ein musikalisches Beiwerk. Rhythmus als Bindung ist erstes Maß. Er ist als das eigentlich Stimmende das erste ethos des Menschen, sein geschichtlicher Wohnort oder das Haus, das einem bekannten Wort Heidegger zufolge die Sprache sein soll.« (Nielsen 2003, 142) Heidegger nimmt in seinen Erörterungen zum Rhythmus auch Anleihen von dem einflussreichen Musiktheoretiker Georgiades (vgl. Georgiades 1958 und 1959), den er in einem späten Seminar explizit erwähnt: »Georgiades weist darauf hin, daß nicht die Menschen den Rhythmus machen, sondern daß für die Griechen der rhythmos das Substrat der Sprache ist, der Sprache, die auf uns zukommt.« (GA 15, 94)
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Zusammenfassend lässt sich sagen: Sprache als Sprache zeigt sich niemals als Etwas, sondern ist nur spurhaft gegeben, indem sie sich entzieht. Dem logos – um die titelgebende Alliteration im Text anzuführen – ist lethe eingeschrieben, sodass er nur als Entzug vernehmbar wird. Dieses Zumal von Gabe und Entzug als Wahrheitsgeschehen von Ent- und Verbergung stellt somit kein außersprachliches Phänomen dar, sondern Heideggers Denken ist von der tiefen Einsicht getragen, dass dies nichts anderes als die Sprache selbst ist. Dieser Gedanke widerstrebt den Grundtendenzen einer wissenschaftlichen Weltauffassung, in der alles restlos erforscht und ausfindig gemacht werden soll. Heideggers Denken widmet sich diesem unauflöslichen Rest, der nicht selbst noch einmal eingeholt werden kann, weder als ontos on oder summum ens noch als transzendentale Möglichkeitsbedingung oder als ein vollständig entschlüsselbarer Code. Wenn dieses oder jenes, ja selbst die Summe aller Seienden thematisiert werden soll, muss Seiendes sich bereits als Unverborgenes gelichtet haben. Diese Gelichtetheit kann somit nicht als Etwas verstanden werden, sondern bleibt unfasslich, weil wir immer schon zu spät kommen, um das Geschehen als solches einzufangen. Dieses verbirgt sich im Entbergen. Dieser Angewiesenheit auf eine »vorgängige« Gelichtetheit, die nicht im herkömmlichen Sinne vorausliegt, sondern deren »zu früh« sich niemals in der Zeit manifestiert, sondern stets schon aufgebrochen sein wird, indem wir antworten, diesem Geheimnis, das sich nicht wie ein Rätsel auflösen lässt, bleibt Heideggers Besinnung auf die Sprache eingedenk. In der Vor-Gabe der Sprache, die sich im Zeigen von Etwas zugleich entzieht, bricht unsere Endlichkeit auf, diesen Anspruch nie zur Gänze einholen zu können. In ihr zeigt sich aber im Stachel der Unverfügbarkeit der Spielraum, in dem sich unser Denken bewegt und auf das es stets einzugehen hat. Weil nie alles sagbar ist, kann es stets nochmals und anders gesagt werden. Nur in diesen Erkundungsbewegungen, die niemals zu einem vollendeten Abschluss kommen können, wird die Sprache als Zeige selbst in Bewegung gehalten. Spuren zeugen so je unterschiedlich von diesem sich entziehenden Gewährenden. Umso dringlicher wird es für Heidegger – trotz aller unverfügbaren Vorgängigkeit des Anspruchs – den Zuruf des Seins als menschliches Entsprechen zu verstehen; erst in diesem Zugleich (vgl. GA 65, 223) lichtet sich Sein als »die Kehre im Ereignis« (GA 65, 407), d. h. als Zusammengehören von Sein und Menschenwesen: »Die zeigende Sage be-wëgt die Sprache zum Sprechen des Menschen. Die Sage 280
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Antwortendes Hörens als Ent-sprechen
braucht das Verlauten im Wort. Der Mensch aber vermag nur zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend sein Wort sagen zu können.« (GA 12, 252) Um dieses Nachsagen angemessen zu denken, muss nachgefragt werden, was Heidegger unter Hören versteht und wie sich dieses in einer phänomenologischen Besinnung auf die Sprache erschließt.
e) Antwortendes Hörens als Ent-sprechen Der Vers Hölderlins »Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander«, der Heideggers Besinnung auf die Sprache leitet, widmet sich nicht nur dem Gespräch im Sinne des Miteinandersprechens, sondern betont in eindringlicher Art auch das Hören. Erst durch das einander Hörenkönnen wird das Gespräch zum Gespräch. Dem Hören wird hier eine entscheidende Rolle in Hinblick auf eine umfassende Erörterung des Phänomens Sprache zugestanden, das nicht in einer abkünftigen und additiven Weise in den Blick genommen wird, sondern in einer zumindest »gleichursprünglichen« Weise mit dem Sprechen in das Gespräch gehört, ja dieses erst gewährt. Hat diese verstärkte Berücksichtigung des Hörens im Bedenken der Sprache und respektive des Gesprächs seine Berechtigung? Lässt sich diese tragende Rolle der akroasis auch in der lebensweltlichen Praxis, insbesondere im täglichen Miteinandersprechen, festmachen? Heidegger scheint davon auszugehen, dass die Wichtigkeit des Hörens uns aus dem Alltag bereits vertraut ist. So zeigt sich bereits im täglichen Umgang mit Menschen, dass im uneingeschränkten Sprechen gerade kein Gespräch zustande kommt. Wenn beide Partner fortwährend reden und eben nicht aufeinander hören, ergibt sich kein gemeinsames Gespräch. Wir sprechen dann von einem Monologisieren oder schlicht von einem Aneinandervorbeireden. Das Gespräch kommt offensichtlich ohne Hören nicht aus, ja erst im einander Zuhören kann einem Gespräch der gebührende Raum eröffnet werden. Und Gesprächspartner werden nicht zuletzt dafür geschätzt, dass sie gute Zuhörer sind, das Gesagte aufmerksam vernehmen und sich ganz ins Gespräch vertiefen können. Dieses achtsame Hinhörenkönnen scheint eine (seltene) Gabe zu sein, die auch nicht – offensichtlich im Gegensatz zur Redekunst – erlernbar ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass in der traditionellen A
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Sprachbetrachtung – etwa bei Aristoteles in Peri Hermeneias 58 oder in den antiken Explikationen der Rhetorik (vgl. Ottmers 1996) – das Hören kaum eigens berücksichtigt wird. Der Hörende wird in der traditionellen Sprachauffassung als derjenige verstanden, der augenblicklich nicht spricht und bloß in einer passiven Weise sein Gegenüber rezipiert, ohne dass diesem Vernehmen ein eigenes Vermögen zugestanden wird. Diese scheinbar untätige Rolle als (allzu symmetrische) Umkehrung des Redeakts muss in dieser unterordnenden Gleichstellung offensichtlich nicht notwendig ein eigenes Thema der Untersuchung werden. Doch nicht nur im Verhältnis zum aktiven Part des Sprechens, sondern auch in Hinblick auf den in der Tradition stets vorrangigen Sinn des Optischen wird das Phänomen des Hörens kaum eingehender gewürdigt, ja mit einer tiefen Skepsis betrachtet. So findet sich schon bei Platon die für die Folgezeit leitende Unterscheidung zwischen einem originären Sehen, an das jede wahrhafte Erkenntnis (episteme) rückgebunden bleibt, und dem, was als »nach dem bloßen Gehör urteilend« (Theait. 201 b) bezeichnet wird und lediglich von einer vagen Vorstellung (doxa) ohne evidente Beweiskraft zeugt. 59 Für Blumenberg lässt sich daher ein Vorrang des Blicks, des Sehens oder des Lichts im Rahmen einer philosophischen Wahrheitsfindung bis hin zur Wortverwendung ausmachen. Zahlreiche Nachweise Eine bemerkenswerte Ausnahme findet sich jedoch auch bei Aristoteles, der sich in De anima in auffälliger Weise auf das Phänomen des Hörens bezieht, um hervorzustreichen, was er unter einer Identität des Vollzuges versteht: »Wenn aber das zu hören Vermögende sich vollzieht, und das zu tönen Vermögende tönt, dann stellt sich zugleich das Gehör in Wirklichkeit [kat’ energeian] und der Ton in Wirklichkeit [kat’ energeian] ein, von denen man das eine Hören, das andere Tönen nennen könnte.« (De an., 425b29–426a1) Weitere einschlägige Stellen zum Phänomen Hören in der griechischen Literatur hat Wille (2001) in seiner reichhaltigen Sammlung zusammengetragen. 59 Folgerichtig spricht Waldenfels davon, dass mit den meisten Sprach- und Kommunikationstheorien bis in die Gegenwart eine zumeist unausdrückliche und nicht weiter reflektierte »Bevorzugung der Sprechakte gegenüber den Hörakten« (Waldenfels 1994, 246) einhergeht. So wagt er auch die Behauptung: »Unsere abendländische Ontologie sähe anders aus, wenn sie sich stärker an das Hören und weniger stark an das Sehen angelehnt hätte.« (Waldenfels 2004, 198) Einen Zusammenhang zwischen dem Sehsinn und der Dingontologie stellt im Anschluss an Heidegger Espinet her: »Gesagt ist damit, daß die Substanzmetaphysik ihre Vorliebe für unveränderliche und feste Entitäten der vorherrschenden Orientierung am Sehen verdankt, welches bei aller Bewegtheit der sichtbaren Körper diese als in sich unveränderliche, solide Erscheinungen erfährt, auf welchen der Blick stets, zumindest der Möglichkeit nach, ruhen kann.« (Espinet 2010, 101) 58
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erfährt diese Deutung sowohl durch die griechische Terminologie der Metaphysik, die Großteils aus dem optischen Bereich stammt, wie etwa theoria, idea, eidos etc., als auch durch die deutsche Begriffsbildung; diese orientiert sich ebenso weitgehend am Sehsinn, wie zahlreiche Termini, welche die Erkenntnisevidenz unterstreichen sollen, z. B. »beleuchten«, »einsehen« oder »erblicken«, belegen. Doch neben der griechisch geprägten Metaphysik lässt sich Blumenbergs Ansicht nach nicht zuletzt in der jüdisch-biblischen Tradition ein grundlegend anderes Verständnis des Hörens ausmachen: »War für das griechische Denken das ›Hören‹ die wahrheitsindifferente und primär unverbindliche Vermittlung von doxa als einer im Sehen immer erst noch zu bestätigenden Aussage, so ist in der alttestamentarischen Literatur und dem von ihr bezeugten Wirklichkeitsbewußtsein das Sehen immer schon durch das Hören vorbestimmt, in Frage gestellt oder überboten. Das Geschaffene gründet im Wort, und das Wort bleibt ihm an verbindlichem Anspruch immer voraus.« (Blumenberg 2001, 161) 60 Das Hören kann auch nicht – wie gemeinhin üblich – auf die nivellierte Auffassung eingeschränkt werden, dass ihm, gemäß einem Sender-Empfänger-Modell, prinzipiell ein Sprechen vorausgeht, welches als aktiver Part des Kommunikationsschemas Signale von sich gibt, die in einem zeitlich nachträglichen Akt von einem aufnahmefähigen Adressaten empfangen werden können. In dieser gängigen Vorstellung wird das Hören – wie oben angedeutet – lediglich als Gegensatz und passives Derivat in Verhältnis zum eigentlichen Modus des Sprechens gesehen, das nichts Produktives verrichtet und bloß das Gegebene rezipiert. Es stellt sich hierbei die Frage, ob das Hören überhaupt als eine nachträgliche Synthesis von akustischen Daten, die in einem zweiten Anlauf vom Empfänger decodiert werden, verstanden werden kann. Denn im Alltag hören wir nicht isolierte Lautkomplexe, die anschließend interpretiert werden müssen, sondern immer schon etwas als etwas, nämlich das Poltern der Nachbarn, das Vorbeirattern der Straßenbahn oder den Mutzuspruch der Freundin. Selbst ein noch unbekanntes Geräusch wird nicht als bloß auditive Empfindung, son60 Zarader verortet gerade aus diesem Grund eine »verschwiegene Nachbarschaft« zwischen Heideggers Sprachauffassung und dem darin gebührend berücksichtigten Phänomen des Hörens und der jüdisch-biblischen Tradition (vgl. Zarader 1990, 60 ff.). Die Suggestionskraft der These Zaraders ist nicht einfach von der Hand zu weisen, wird sich aber – aus Mangel an Textbelegen – wohl kaum einfachhin für Heidegger in Anspruch nehmen lassen.
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dern als nicht bekannter Laut vernommen. Welt zeigt sich uns somit nicht nur sprachlich erschlossen, sondern – wie es am Phänomen des Hörens gezeigt werden kann – stets vielfach gegliedert und bereits im Vernehmen different (im wörtlichen Sinne verstanden) »artikuliert«. Der Trennung von gehörtem Objekt – qua bloßer Schallquelle – und hörendem Subjekt, das zunächst die akustischen Empfindungsdaten sammeln und nachträglich verarbeiten muss, widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung mit diesem Phänomen. Das Vernehmen eines bloßen Schalls ist nicht das Primäre, sondern eine höchst komplizierte Sache, die kaum zu bewerkstelligen ist. Beim Miteinandersprechen sind wir nicht bei irgendwelchen Schallwellen, die erst gefiltert und gedeutet werden müssten, sondern stets verstehend beim Gesagten des Gegenübers. Selbst dort, wo das aufmerksame Hinhören durch weitere akustische Einflüsse erschwert wird, wie etwa bei einem Gespräch in einem Wirtshaus, sind wir trotz des hohen Schallpegels durch die Unterhaltung anderer Gäste bei den Ausführungen des Gesprächspartners und nicht gleichzeitig bei allen anderen Nebengeräuschen. Sind die umliegenden Unterredungen zu laut, sprechen wir davon, nichts mehr zu hören, obwohl wir doch »mehr« – in Dezibel gemessen – hören als zuvor. Hier zeigt sich auch die Fragilität des Phänomens. Einen Blick kann man von etwas abwenden. 61 Sich gegenüber Lärmbelästigung taub zu stellen – die uns wohl aus diesem Grund wesentlich schneller als visuelle Eindrücke quält – und indifferent zu verhalten, ist nahezu unmöglich. Wie sich am Wirtshausbeispiel zeigt, ist Hören nie ein diffuses Aufnehmen von Geräuschen und ein verspätetes Herausfiltern der eigentlichen Informationen. Sein Gegenüber, dem die Aufmerksamkeit gilt, nicht zu hören, ist mit einem Nichtverstehen gleichzusetzen. Ja, wir hören eigentlich nur im nachvollziehenden Hinhören auf das Gesagte – das nicht als bloße inhaltliche Informationsvermittlung vernommen, sondern stets in der leibhaft-stimmlichen Gesamtheit der Nähe des Anderen gehört wird. Das Hören kann weder einfachhin vom Verstehen getrennt werden noch existiert im Hören eine zeitliche Staffelung. Es ertönt nicht zunächst etwas – und dann höre ich es; sondern etwas ertönt, indem ich es verstehend vernehme. Hören ist Dieses Verständnis des Sehens und des Blicks entspricht der abendländischen Stilisierung als selbstbewusster Akt. Alternativ dazu kann z. B. mit Lacan dafür eingestanden werden, dass das Sehen keineswegs ein souveräner Akt, sondern ein Ausdruck des Begehrens ist, wenn man das Phänomen des Blickes ernst nimmt (vgl. Lacan 1996, 99 ff.).
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somit immer in sich bereits verstehendes Hören. 62 Selbst wenn eine hermeneutische Annäherung mitunter vorschnell alles Sinnliche als Sinn vereinnahmt, soll hier die Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit betont werden, ohne dass das eine im anderen aufgeht. Vielmehr erweisen sich beide Momente als zusammengehörig und damit nicht aufeinander rückführbar: es gibt kein Vernehmen ohne Verstehen und kein Denken ohne Hören. Jedes Vernehmen von etwas als etwas bleibt damit an die Dimension der irreduziblen Sinnlichkeit gebunden. 63 Heidegger wendet sich auch gegen eine rein physiologische Erklärung, die das Hören auf die Aufnahmefähigkeit der Hörorgane zurückführt, die akustische Schallwellen dahingehend verarbeiten können, dass sie über Nervenreize in die Sprachzentren des Gehirns und ins Bewusstsein gelangen. Er stellt dieses weit verbreitete Schema dabei provokativ auf den Kopf, um von der gängigen Auffassung loszukommen: »Wir hören nicht, weil wir Ohren haben. Wir haben Ohren und können leiblich mit Ohren ausgerüstet sein, weil wir hören.« (GA 7, 220) Spätestens hier wird ersichtlich, dass das Hören nicht mehr rein am akustisch-physiologischen Hörvorgang festgemacht werden kann. In pointierter Manier zitiert Heidegger ein bekanntes Beispiel aus der Musikgeschichte, um das zu verdeutlichen, worauf sein Verständnis des Hörens abzielt: »Wir hören, nicht das Ohr. Wir hören allerdings durch das Ohr, aber nicht mit dem Ohr, wenn ›mit‹ hier sagt, das Ohr als Sinnesorgan sei das, was uns das Gehörte ermittelt. Wenn daher das menschliche Ohr stumpf wird, d. h. taub, dann kann es sein, daß, wie der Fall Beethovens zeigt, ein Mensch gleichwohl noch hört, vielleicht sogar noch mehr und Größeres hört als zuvor.« (GA 10, 70) Das Gehörorgan ist für Heidegger zwar eine notwendige, aber niemals die zureichende Bedingung für das, was unter Hören verstanden werden kann. Dieses hörende Vernehmen begleitet nicht nur das Sprechen 62 Auf diese Vollzugsidentität von Hören und Gehörtem hat mit Nachdruck Pöltner hingewiesen: »In meinem Hören ereignet sich das Klingen des Gehörten (die Anwesenheit des Gehörten in der Weise seines Klingens). Mein Hören und das Klingen des Gehörten ist nicht zweierlei, sondern ein einziges Geschehen. Das Klingen – diese bestimmte Weise der Anwesenheit des Gehörten – ereignet sich als mein Hören. Hier herrscht die Identität eines einzigen Vollzugs.« (Pöltner 1993, 151; vgl. Pöltner 2004) 63 Prägnant fasst diesen Sachverhalt Espinet zusammen: »Menschliches Hören und Denken werden durch eine ursprüngliche Korrelation aufeinanderzugehalten. Weder gibt es faktisch ein reines Hören noch ein reines Denken. Menschliche Sinnlichkeit ruft Sinn auf, und im Sinn meldet sich Sinnlichkeit.« (Espinet 2010, 107).
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und fungiert auch nicht bloß als ein komplementäres Gegenstück zum sprachlichen Vollzug. Vielmehr insistiert Heidegger darauf, »daß Sagen und Hören nicht nur zusammengehören, sondern in einem wesentlichen Sinne das Selbe sind« (GA 52, 160). Jedes Sagen ist laut Heidegger zugleich ein Hören. Das besagt nicht, dass sich jeder beim Sprechen auch selbst vernehmen kann. Dieser Satz gilt in verstärktem Maße erst dann, wenn man ihn umdreht und die Zumutung Heideggers vernehmbarer macht: Jedes Hören ist zugleich ein Sagen – das heißt, dass das Hören von sich aus ein Sprechen, nämlich ein antwortendes Ent-sprechen auf den Zuspruch der Sprache ist. Das Hören ist für Heidegger somit nicht nachträglich, sondern geht jedem Sprechen voraus: »Sagen und Hörenkönnen sind zum mindesten gleichursprünglich. Das Hörenkönnen ist auch gar nicht die Folge des Miteinandersprechens, sondern eher umgekehrt, die Bedingung dafür.« (GA 39, 71) Die von Heidegger hier angezeigte Gleichursprünglichkeit und Selbigkeit von Sagen und Hören, die im zweiten Satz des letzten Zitats zugunsten des Hörens verschoben wird, meint offensichtlich anderes, als dass im Miteinandersprechen stets jemand sprechen und der andere zuhören muss. Die Selbigkeit von Sagen und Hören und die Vorgängigkeit des Hörens müssen dabei zusammengedacht werden: »Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist die Sprache, die wir sprechen. So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören. Dieses Hören auf die Sprache geht auch allem sonst vorkommenden Hören in der unscheinbarsten Weise vorauf. Wir sprechen nicht nur die Sprache, wir sprechen aus ihr.« (GA 12, 243) Die kaum merkliche Vorgängigkeit des Hörens zeigt sich nicht nur im Aufeinanderhören im Miteinandersprechen, sondern weit umfänglicher darin, dass der Mensch stets und selbstverständlich aus der Sprache spricht, ja ihr immer schon ge-hört. 64 Das Menschsein hebt somit nicht mit dem Sprechen, sondern zuvor mit dem Hörenkönnen an. Dies ist ein Können, das weniger eine zu bewerkstelligende Leistung darstellt, als ein nicht aktiv zu verstehendes und allem bewussten Tun vorausgehendes Vermögen. Erst im vernehmenden Entsprechen auf den Zuspruch der Sprache vermag der Mensch nach Heidegger – das treffende Zitat wurde bereits zu Beginn des Abschnittes einmal angeführt – antGemäß dem Grimm’schen Wörterbuch ist das Verb »gehören« ein »verstärktes hören, aber mit eigener bedeutsamer entwickelung [sic] weit über hören hinaus« (Grimm 2004, Bd. 5, 2504).
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wortend zu sprechen: »Das ursprüngliche Antworten ist also nicht das Antworten auf eine Frage. Sie ist die Antwort auf das Gegenwort zum Wort. Das Wort muß dann erst gehört sein. So käme es auf das Hören an.« (GA 77, 25) Das Hören stellt für Heidegger somit in sich schon eine Antwort da: »Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören.« (GA 12, 29) Die Vorgängigkeit muss als ein Zugleich verstanden werden. Wir werden nicht von etwas in Anspruch genommen, dem wir dann noch irgendwie nachträglich antworten müssten, sondern das Vernehmen ist in sich schon Antwort. Dass bereits das Vernehmen als Antworten verstanden werden kann, macht das Phänomen des Hörens eindringlich deutlich. Das Hören als »noch gar nichts ›hörendes‹ Hinhören« (GA 55, 245) zeichnet sich laut Heidegger nicht durch eine intentionale Gerichtetheit auf Etwas aus, sondern steht als Horchen eine vor-intentionale respektive freigebende Offenheit aus. Hier ist das Hören nicht auf einen bestimmten Gegenstand oder auf einen Laut gerichtet, der bloß in einen etablierten Sinnhorizont einzugliedern wäre. Geantwortet wird im Aufhorchen nicht auf etwas, sondern die Offenheit wird vielmehr als Stätte der Ankunft für Zukommendes offengehalten. 65 Das Vermögen des Menschen, stets einer uneinholbaren Vorgängigkeit zu entsprechen und erst darin einen Stand zu gewinnen, konterkariert das Projekt der Moderne, ein souveränes Subjekt als Richtschnur für alles Seiende etablieren zu wollen. Demgegenüber muss die menschliche Seinsweise aus einer Responsivität gegenüber einem nicht einholbaren und abgründigen Anspruch verstanden werden. Gerade in der Sprache, die gemäß alter Kunde das Auszeichnende des Menschen und nun in einer anderen Tonart vernehmbar ist, zeigt sich, inwiefern wir in unseren Vollzügen immer schon auf eine vorgängige Aufgeschlossenheit rekurrierend antworten. Ebenso wird aber auch eine hermeneutische Annäherung an das Hör-Phänomen, die stets von gegebenen Sinnbezügen ausgeht und in dessen Sinnhorizont alles integriert werden kann, unterwandert: Das Aufhorchen – vorintentional und freigebend – geschieht an jener Schwelle des Sinns, an der ein An65 Umsichtig spürt Espinet dieser vorintentionalen Offenheit nach, indem er immer wieder den phänomenalen Erfahrungsschatz des Hörsinnes auszuloten vermag: »Wenn ich aufhorche, und sei es auch auf etwas, das mich anspricht, so horche ich auf, derart, daß ich warte, ob noch etwas zu hören sein wird, und dies gerade deshalb, weil auch nichts kommen könnte.« (Espinet 2010, 107)
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kommen gewährt wird, jedoch auch Ausbleiben kann. Dem Hören als Aufhorchen bleibt diese Prekarität mitgegeben. In diesem responsiven Bezug zum Anspruch verortet Heidegger auch die Möglichkeit, so etwas wie Gemeinschaft zu denken und jeden Solipsismus zu durchbrechen. Dem Hören wohnt je schon ein Moment der Offenheit für Anderes inne, aus dem heraus sich jedes weitere Verhältnis versteht: »Das Hörenkönnen schafft nicht erst die Beziehung des einen zum anderen, die Gemeinschaft, sondern setzt sie voraus.« (GA 39, 72) Die Aufgeschlossenheit im Hören wäre demnach immer schon ein Vernehmen des Anderen, unabhängig ob es sich faktisch meldet oder nicht. Leider ist Heidegger der uneinholbaren Vorgängigkeit der Beziehung zum Anderen hinsichtlich der Frage nach einer Gemeinschaft nicht weiter nachgegangen, doch aus dem Zitat wird ersichtlich, dass eine koinonia nicht aus einem nachträglichen Zusammenschluss für sich bestehender Individuen angemessen gedacht werden kann. 66 Dass der Mensch nicht über die Sprache verfügt, sondern aus ihr spricht und ihr gehört, impliziert aber nicht eine unterwürfige Hörigkeit. Heidegger dreht hier nicht, wie es bei einer oberflächlichen Lektüre 67 den Anschein haben könnte, das Verhältnis zwischen Mensch und Sprache einfachhin um, als ob die menschliche Seinsweise nun als bloßes Werkzeug der Machenschaft der Sprache fungierte und von ihr determiniert würde: »Denn der Mensch, offen für das Sein, lässt dieses als Anwesen ankommen. Solches An-wesen braucht das Offene einer Heidegger weist bereits in Sein und Zeit dem Hören eine konstitutive und wesentliche Rolle in Hinblick auf das Mitsein zu: »Das Hören ist für das Reden konstitutiv. […] Das Hören auf … ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen […].« (GA 2, 217) 67 Eine solche, Heidegger geradezu karikierende Lektüre unternimmt Edwards in seinem Vergleich zwischen Wittgenstein und Heidegger, indem er letzterem einen »linguistischen Faschismus« vorwirft, der geradewegs in einen politischen und in weiterer Folge in einen religiösen Totalitarismus führe: »If language is made numinous and sovereign in this way, there seems nothing to protect us from power of those who claim to speak with its voice. We and our institutions are delivered over to what Heidegger portentously calls our Destiny. Such quasi-religious rhetoric is disturbing, since it encourages in us both passivity and a yearning for eschatological transformation, the classic conditions for the rise of totalitarian moral and political structures. The threat of philosophical nihilism has been replaced by threat of a kind of linguistic fascism, which elevates the Logos to the status of a god.« (Edwards 1990, 2 f.) 66
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Lichtung und bleibt so durch dieses Brauchen dem Menschenwesen übereignet. Dies besagt keineswegs, das Sein werde erst und nur durch den Menschen gesetzt. Dagegen wird deutlich: Mensch und Sein sind einander übereignet. Sie gehören einander.« (GA 11, 40) In der Wendung, dass nicht der Mensch sondern die Sprache spricht, ereignet sich mehr als ein bloßer Austausch von »Subjekt« und »Objekt«. Das »Haben« der Sprache ist kein Besitzen oder sich Bemächtigen, sondern ein Gewähren. Dieses Gewähren ist jedoch nicht einseitig; es beinhaltet vielmehr ein wechselseitiges Sich-in-Anspruchnehmen-lassen vom Zuspruch der Sprache und ein antwortendes Entsprechen des Menschen im Hören und Sagen. In den handschriftlichen Zusätzen, die im Rahmen der Gesamtausgabe mitabgedruckt sind, geht Heidegger auf diese responsive Verschränkung ein, indem er die korrelierende Klammer des Über- und Ver-Antwortens ausbuchstabiert: »Überantwortung des Seins an den Menschen / Verantwortung des Menschen für das Sein – / was beide be-stimmt, verbietet jedoch eine bloße Gegenüberstellung ebenso wie eine Vermischung.« (GA 11, 40) 68 Heidegger entwirft somit keine fatalistische Konzeption des Subjekts, sondern versucht das Menschsein von einer Responsivität, deren Antwortenmüssen nicht zu umgehen ist, her zu denken: »Der Satz ›Die Sprache spricht‹ […] ist nur halb gedacht, solange der folgende Sachverhalt übersehen wird: Um auf ihre Weise zu sprechen, braucht, d. h. benötigt die Sprache das menschliche Sprechen, das seinerseits gebraucht, d. h. verwendet ist für die Sprache in der Weise des Entsprechens […].« (GA 75, 201) 69 Der Mensch tritt nicht mehr als metaphysisches Subjekt und uneingeschränkte Bezugsmitte alles Seienden auf,
68 Dass die Sprache den Menschen hat, ja ihn braucht, darf nicht vorschnell als »ausbeuten«, »verbrauchen« oder »benötigen« aufgefasst werden. So schreibt Heidegger: »›Brauchen‹ besagt demnach: etwas Anwesendes als Anwesendes anwesen lassen […]: etwas seinem eigenen Wesen aushändigen und es als so Anwesendes in der wahrenden Hand behalten.« (GA 5, 367) 69 Riedel scheint die von Heidegger immer wieder ins Feld geführte Auszeichnung der Sprache als differenten und nicht solipsistischen Selbstbezug gänzlich aus den Augen zu verlieren: »Es ist das Phänomen des schweigenden Hörens auf das Geläut der Stille, das sich im reinen Selbstbezug erfüllt, eine Erfüllung, die ebenso unmittelbar eintritt.« (Riedel 1990, 174) Mit Barbaric´ kann jedoch festgehalten werden: »Die zentrale Rolle, die etwa der Zuspruch, die Antwort und Entsprechung, der Unterschied, das Brauchen usw. im Sprachdenken Heideggers spielen, schließen wohl jede Möglichkeit aus, sein Sprachverständnis schlicht als ›monologisch‹ […] zu bezeichnen.« (Barbaric´ 2005, 52)
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von dem aus das Was und Wie des Erscheinens von Seiendem in einem vorgängigen Entwurf diktiert wird, sondern gewinnt sein Selbstverständnis als »Zeuge des Seyns« (GA 39, 61). In dieser Zeugenschaft wird er vom Seyn in Anspruch genommen, für den es einzustehen gilt. Dieses Einstehen ist nun nicht mit einem unabänderlichen Ausgeliefertsein zu verwechseln, sondern ist der Freiraum, in dem das Menschsein auf ein asymmetrisches Angesprochensein in einer gemäßen Weise antworten kann und diese Art des Entsprechens, die keine automatische Reaktion darstellt, auch verantworten muss. In der Verantwortung wird der Zuspruch im Wie des Antwortens bewahrt. Gerade diesen Bereich gilt es nach Heidegger als »einen Spielraum der Verantwortlichkeit offen zu halten« (GA 44, 221). 70 Jeden Normenkatalog mit verbindlichen Anweisungen ablehnend, versucht Heidegger, aus der hörenden Responsivität diesen Verantwortungsbereich, den Ethos, als je geschichtlich-gestimmten Aufenthaltsort des Menschen zu denken. Vernehmbar wird dieser Zuspruch im Schweigen und in der Stille, die für Heidegger die »entzogene Mitte« der Sprache bilden. 71
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Immer wieder stößt Heidegger seine Leserschaft mit Sätzen wie »[d]ie Sprache gründet im Schweigen« (GA 65, 510) oder »der Wesensursprung der Sprache [ist] das Schweigenkönnen« (GA 36/37, 106)
Die hier anklingende ethische Dimension der Verantwortung im Wie des Entsprechens wird bei einigen Interpreten vollkommen ausgeblendet. So auch bei Thomann: »Dem von der Sprache dergestalt entmündigten Subjekt bleibt jede Möglichkeit eigenständigen Denkens oder gar der Kritik an der bestehenden Denkordnung verwehrt.« (Thomann 2004, 76) 71 Um das Grundproblem der »entzogenen Mitte« kreist die gleichnamige Studie von Nielsen, die in beeindruckender Weise den hier skizzierten Sachverhalt auf den Punkt bringt: »Der Bruch des vorweltlichen Schweigens ist jetzt also ausdrücklich, ›eine Weise der Stille selbst‹ (GA 85, 118). Das bedeutet, daß die Frage nach dem Ursprung sich zur Frage nach der Bruchstelle und damit zur Frage nach der gebrochenen oder doppelsinnig entzogenen Mitte wandelt. Es gibt keinen eigentlichen, ungebrochenen Aufenthalt, gegen den eine bruchlose Eigentlichkeit abgehoben werden könnte. Die Mitte entzieht sich nicht nur immer schon, sie ist auch immer schon entzogen, das heißt in ihrem Zug zur Unbestimmtheit verhüllt.« (Nielsen 2003, 144) 70
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vor den Kopf. In Unterwegs zur Sprache sagt er, dass die Sprache als das »Geläut der Stille« (GA 12, 27; vgl. GA 12, 203 f.) spricht. Seine Ausführungen dazu sind allzu knapp, ja sie verlaufen sich in ihrer Ungewohntheit bald im Dunkeln. Wie kann ein Leser mit der alles andere als gemeinhin verständlichen Wendung »Geläut der Stille« umgehen, wenn sie – einig mit dem Verfasser – nicht auf eine poetische Metapher, 72 die mehr als ein Oxymoron denn als ein denkerisches Wort anmutet, reduziert werden soll? Wie können Sprechen und Sprache vom Schweigen und von der Stille her verstanden werden? Was versteht man gemeinhin unter Stille und warum misst Heidegger dem Schweigen diesen gewichtigen Ort in der Sprachauffassung zu? Darüber hinaus weist Heidegger darauf hin, dass über das Schweigen nicht einfachhin gesprochen werden kann: »F: Geschwiegen wird vor allem über das Schweigen … / J: weil das Reden und Schreiben über das Schweigen das verderblichste Gerede veranlaßt … / F: Wer vermöchte es, einfach vom Schweigen zu schweigen?« (GA 12, 144) Einer phänomenologischen Nachzeichnung dessen, was Schweigen und Stille sein können, scheint somit vollends der Boden entzogen zu sein, zumal sich Heidegger an anderer Stelle verweigert, eine »Definition« des Schweigens abzugeben, denn wer so über das Schweigen spricht, belegt seiner Einschätzung nach nur, »daß er das Schweigen weder kennt noch versteht« (GA 36/37, 107). Ohne das Schweigen oder die Stille »als eine ›mystische‹ und dunkle Sache dem sogenannten Ahnen und Erahnen seines Wesens anheimzustellen« (GA 36/37, 107), wird es aber dennoch darum gehen, Bereiche des Schweigens und der Stille zu erkunden, sie dabei aber nicht auf einen Aussagegehalt zu reduzieren, sondern verstärkt ein angemessenes Reden von diesem Grenzphänomenen zu bedenken. Auch hier muss wieder Abstand davon genommen werden, das Schweigen und die Stille bloß als defizitäre Modi aufzufassen. Normalerweise werden beide Phänomene ausschließlich negativ bestimmt, da in ihnen nichts verlautet und so nichts vernehmbar wird. Vor so einer voreiligen pejorativen Bestimmung warnt Heidegger ausdrücklich: »Was ist Stille? Sie ist keineswegs nur das Lautlose.« (GA 12, 26) Doch wie lassen sich das Schweigen und die Stille, in denen das Tönen aus-
72 An anderer Stelle vermerkt Heidegger: »Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Metaphysik.« (GA 10, 72)
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bleibt und offensichtlich nichts passiert, in einer anderen Weise erörtern? Ist Stille, ist Schweigen doch nicht nichts? Auch eine Besinnung auf die alltägliche Sprachverwendung von Stille scheint zunächst eine rein negative Kennzeichnung zu stützen. Wir sprechen beispielsweise von einer Windstille und meinen offensichtlich das Ausbleiben der rechten Brise oder von einer Meeresstille und verstehen darunter das Ausbleiben eines allzu stürmischen Seegangs (ob diese Kennzeichnung nur negative Konnotationen beinhaltet, dass eben der gewünschte Luftzug zum Segeln fehlt, oder ob damit umgekehrt das Fernbleiben von einem unheilvollen Sturm gemeint sein könnte, muss vorerst offen gelassen werden). Doch mitunter lässt sich auch die Stille, obwohl wir keinen Schall hören, auf eine höchst seltsame Weise vernehmen. So spricht man von der Unheimlichkeit einer Toten- oder Grabesstille, die einen angeht und beängstigend sein kann, gerade weil nichts darin zum Verlauten kommt. Diese Art der Stille ist ungewöhnlich und schwerlich auszuhalten. Wir können uns an nichts mehr halten und sind diesem Nichts ausgeliefert. Doch das Phänomen der Stille zeigt sich auch in einer anderen, weit genehmeren Weise. So spricht man ja auch davon, dass eine Mutter ihr Kind stillt, d. h. es zur Ruhe bringt, indem sie es an ihrer Brust nährt. Stille wird hier zwar auch noch als Ausbleiben von etwas verstanden – nämlich als Besänftigung von Geschrei –, doch nicht auf eine negative Weise. Im Stillen wird dem Kind nichts weggenommen, sondern es wird ihm ein Wegbleiben von Unruhe und damit Geborgenheit gewährt. In einem ähnlichen Sinn verwenden wir mitunter auch das Wort »Abendstille«, in der das Tagwerk seine Ruhe findet und darin aufgehoben gesammelt wird, indem man, vom lärmenden Getöse und den Anstrengungen des Tages befreit, nunmehr Zeit für sich selbst hat. Vertraut ist uns das Phänomen der Stille auch aus der Musik in Form von Pausen. Bekanntlich sind sie nicht bloße Unterbrechungen einer Melodie, sondern bilden einen wesentlichen Bestandteil jedes Stücks. Sie wollen nicht nur gespielt werden – was mitunter zum Schwierigsten des Musizierens gehört –, sondern aus ihnen entsteht erst die Spannung, die eine melodische Abfolge von Tönen als Ganzes zusammenhält und Raum für Überraschendes freigibt. Nicht streng eingehaltene, sondern zu lang oder zu kurz geratene Pausen, die sich allerdings nicht metronomisch exakt bestimmen lassen, zerreißen den stimmigen Fluss einer Melodie. Ebenso reagieren wir empfindlich darauf, wenn am Ende eines Musikstücks der Applaus zu jäh einsetzt und damit die 292
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Stille, in der auf eigentümliche Weise das ganze Spiel lautlos nachhallend aufbewahrt zu sein scheint, zerstört. 73 Auf Stille stoßen wir auch im Miteinandersprechen: nicht nur als Bestandteil der Rhetorik in Form der bewussten Unterbrechung einer Rede (aposiopese), in welcher der Redefluss als Teil der Inszenierung ins Stocken gerät und damit die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen kann, ähnlich einem Lehrer, der mit seinem Vortrag aussetzt, um ohne Worte zu sagen, dass es im Klassenraum zu laut ist, sondern auch in einer Atempause, ohne die der Andere in einem gemeinsamen Gespräch nicht zu Wort kommen kann. In diesen Wendungen kommt das Gespräch erst in seine Bewegung und aus ihnen ergibt sich manch überraschender Umschlag. In den letztgenannten Beispielen zeigt sich, dass Stille nicht nur und ausschließlich als negatives Phänomen umschrieben werden kann, sondern in diesem Weniger kündigt sich mitunter ein Mehr an. In ihr sammelt lautlos sich das Verlautende und wird so in ihr aufgehoben. Doch im gemeinsamen Gespräch stoßen wir noch auf eine andere Art des Innehaltens, in dem nicht ein Teilnehmer dem anderen das Wort zugesteht, das aber auch nicht mit einem erzwungenen Verstummen oder einem unbedeutenden Ausbleiben des Redeschwalls gleichzusetzen ist. Wir sind dann geneigt, von einem Schweigen zu sprechen. Vielleicht meint Heidegger dieses Innehaltenkönnen, wenn er schreibt: »Schweigen ist zwar ein Nichtreden, aber nicht jedes Nichtreden ist schon Schweigen.« (GA 36/37, 109) Vielmehr gehört diese Stille zu den entscheidenden Momenten in einem Gespräch, das nicht mehr allein an Worte rückgekoppelt zu sein scheint, sondern in diesem vielsagenden Schweigen, das sich als unerzwungenes Schweigenkönnen erweist – welches nicht willentlich herbeigeführt werden kann, sondern sich aus dem Gespräch ergibt. 74 So sind gerade eindringliche Ge73 Feinsinnig geht Rivera dem Phänomen der Stille in der Musik nach: »In diesem Musikstück wiederum hören wir unterschiedliche Dinge: Wir hören das Unglaubliche der einzelnen Musiknoten, der Akkorde, des Kontrapunkts, der Rhythmen. […] Aber vor allem läßt uns das Musikstück die Stille hören; es läßt uns hören, wie es in Stille verfällt – in seinen Pausen – und wie es in neuen Klängen wieder aufersteht, um erneut in die Stille verfallen, die schließlich immer in der endgültigen Stille triumphiert.« (Rivera 1999, 270) 74 Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang auch, ob das Schweigen hier als Überfülle gefasst werden kann, bei der man lediglich noch nicht weiß, wie sie in Worte zu fassen und wie mit dem Sagen zu beginnen ist, wie es beispielsweise Gadamer suggeriert und somit das Schweigen immer noch vom Wort her denkt: »Indessen, wenn es einem
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spräche nie allein auf den semantischen Inhalt der verlautbarten Wörter zu beschränken, sondern im Ansichhalten der Rede und im Vollzug des Schweigens ereignet sich eine nicht wörtlich einzuholende Nähe, in der der Anspruch des Anderen in einer schwerlich zu beschreibenden Tiefe erfahrbar wird: »Daher stammt das seltene Wunder, daß die, die im Gespräch sind, sich immer wieder alles zu sagen haben und stets zugleich nichts.« (GA 52, 160) Die Stille, von der Heidegger spricht, kehrt wohl auch anders ein und ist nicht ausschließlich an das zwischenmenschliche Gespräch gebunden. Es sind die seltenen Augenblicke der Abgeschiedenheit, in denen einen die Stille überkommt, Momente, deren Ankunft man geschehen lassen, aber nicht willentlich herbeiführen kann. Sie brechen manchmal dann auf, wenn man sich nicht auf Etwas konzentriert, sondern sich in einer anderen Weise sammelt, ja gesammelt wird. Es geschieht bei Bergwanderungen, nächtlichen Spaziergängen oder Streifzügen in einer Winterlandschaft. Man hört, obwohl man nichts mehr hört, die Stille, man wird von ihr angegangen, ohne etwas vor sich zu haben, das in einer intentionalen Gerichtetheit anvisiert werden könnte. Diese Art der Ruhe wird nicht als monoton oder unangenehm empfunden, die möglichst rasch durchbrochen werden sollte, sondern in ihr erscheint umschlagartig alles in einem anderen Licht und Welt wird in einem anderen Ton – auch wenn nichts Schallendes zu hören ist und einem selbst kein Wort auskommt – vernehmbar: Kein Bezug zu einem einzelnen Seienden, sondern der Bezug als Bezug zum Seienden im Ganzen, das schlichte »Dass« des Seins wird offenkundig. Vielleicht meint Heidegger mit Stille diese sich ereignende Offenheit eines unerhörten, aber in seiner Lautlosigkeit nicht unhörbaren Zuspruchs: »Der Anruf auf den Zu-sprung in die Ereignung ist die große Stille des verborgensten Sichkennens. Von hier nimmt alle Sprache des Da-seins ihren Ursprung und ist deshalb im Wesen das Schweigen (vgl. Verhaltenheit, Ereignis, Wahrheit und Sprache).« (GA 65, 407 f.) 75 die Sprache verschlägt, so heißt das, daß man so viel sagen möchte, daß man nicht weiß, wo beginnen. Das Versagen der Sprache bezeugt ihr Vermögen, für alles einen Ausdruck zu suchen – und so ist es ja selbst geradezu eine Redensart, daß es einem die Sprache verschlägt – und eine solche, mit der man die Rede nicht beendet, sondern beginnt.« (Gadamer 1993, 185) 75 Fink weist in dem mit Heidegger gehaltenen Heraklit-Seminar auf diese Dimension einer »ursprünglichen Stille« im Sinne des »Geläuts der Stille« hin: »Man müßte hier den Begriff der ursprünglichen Stille bilden, die das gleiche wie das Licht beim Sehen ist.
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Das Schweigen als Antwort auf die Stille und das Lauten der Stimme
Was hier in der Stille aufbricht und worauf das Schweigen antwortet, 76 ist zwar kein Etwas, aber es ist nicht nichts. Hierin ereignet sich in einer lautlosen Sprache das Aufgehen von Sein: »Schweigen: die gesammelte Aufgeschlossenheit für den übermächtigen Andrang des Seienden im Ganzen.« (GA 36/37, 111) Als diese Überkommnis der Stille, die in der menschlichen Ek-sistenz geborgen werden möchte, west Sprache. Aus ihr als das Bezugshafte von Anspruch und Entsprechen schlechthin ereignet sich Sein. Deshalb versteht Heidegger auch die Sprache als das »Verhältnis aller Verhältnisse« (GA 12, 20; herv. M. F.), die nicht mehr an einen Ausgangspunkt rückgebunden ist, sondern als »reiner, ursprungsloser Bezug und nur dieses« (GA 55, 328) 77 waltet, aus dessen Aufriss Welt und Ding hervorgehen können: »Die Sprache, das Geläut der Stille, ist, indem sich der Unter-Schied ereignet. Die Sprache west als der sich ereignende Unter-Schied für Welt und Dinge.« (GA 12, 27) Das Vernehmen der Stille im Schweigen ist somit nicht als passives und nachgeordnetes Moment des Sprechens zu fassen. Vielmehr richtet Heidegger sein Ohr auf ein »vorweltliches Schweigen« (GA 39, 218), das in seiner offenen Aufgeschlossenheit nicht mit dem Verstummen gleichzusetzen ist, aus dem das Lauten erklingen kann. Diese innere Verwandtschaft von akroasis und Sigetik, die dem Zuspruch des Seins nachsinnt und das Angewiesensein dieses sich ereignenden Aufriss eingedenk bleibt, zeigt sich im Antworten, das kein Sprechen, sondern ein schweigendes Hören ist: »Das bergende Sammeln des Seienden als eines solchen ist ursprünglich schon jener Bezug, worin der Mensch schweigend erst und schweigend noch das Sein von Seiendem, Seiendes in seinem Sein, Seiendes als solches vernimmt. Dieses Be-schweigen des Seins ist das ursprüngliche Sagen Jeder Laut bricht die Stille, muß als das die Stille Brechende verstanden werden. Es gibt auch die Stille, in die wir hineinhorchen, ohne etwas Bestimmtes zu hören. Die ursprüngliche Stille ist ein konstitutives, die Ferne des Hörraumes bildendes Element des Hörens.« (GA 15, 227) 76 In ähnlicher Weise versucht auch von Herrmann Heideggers Verständnis vom Verhältnis von Stille und Schweigen zu erläutern: »Das Schweigen ist die Weise, wie das Da-sein als ereigneter Entwurf an der Entfaltung der Stille teilhat.« (Herrmann 1994, 241) 77 Der gesamte Satz lautet: »Der Bezug zwischen dem menschlichen logos und dem Logos ist daher nicht ein Bezug zwischen Dingen und Gegenständen, sondern der Bezug zwischen Beziehungen, und d. h. reiner, ursprungsloser Bezug und nur dieses.« (GA 55, 328) A
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und Nennen von Seiendem, ist das ursprüngliche Wort, das entgegnet der Gegend des Seins, ist die erste Antwort, in der jegliches Wort schwingt, das sich in die Sage entfaltet und verlautet im Wort der Sprache.« (GA 55, 382) Wie kann dann aber das verlautende Wort für Heidegger noch angemessen verstanden werden? Es muss seiner Auffassung nach stets dieses Verhältnisses und seines Antwortcharakters eingedenk sein, dass es sich anderem verdankt als der menschlichen Subjektivität: »Das Wort bricht das Schweigen, aber nur so, daß es zum Zeugen jener Verschwiegenheit wird und Zeuge bleibt, solange es noch wahrhaftes Wort ist.« (GA 36/37, 111) Heideggers letztes Wort ist demnach nicht, nichts mehr zu sagen und einfachhin zu verstummen, sondern dieses responsiv-zeugnishafte Verständnis von Sprache aus dem Ungesagten ins Gesagte, das heißt ins Wort zu setzen. »Das höchste denkerische Sagen besteht darin, im Sagen das eigentlich zu Sagende nicht einfach zu verschweigen, sondern es so zu sagen, daß es im Nichtsagen gerade genannt wird. Das Sagen als Erschweigen. Dieses Sagen entspricht auch dem tiefsten Wesen der Sprache, die ihren Ursprung im Schweigen hat.« (GA 44, 233)
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Ding und Welt im Geviert
Zu Beginn dieses Abschnittes wurde darauf hingewiesen, dass Heidegger Vollzug und Struktur respektive Ereignis und Textur zusammendenkt. Den systematischen Ort, an dem Heidegger nicht nur den ereignishaften Hervorgang von Sein und Menschenwesen in den Blick zu nehmen versucht, sondern in diesem responsiven Geschehen ein Bezugsgeflecht von Ding und Welt entfaltet sieht, bilden seine Ausführungen zum Geviert. Das Wort »Geviert« – im Deutschen zwar selten gebraucht, aber durchaus belegt (vgl. Grimm, Bd. 6, Sp. 4682 ff.) und so viel wie »vierfach«, »in vier Teile geteilt« oder »viereckig« bedeutend – erörtert Heidegger in genuin denkerischer Hinsicht. Immer wieder werden im Geviert Anklänge an andere Traditionsstränge vernommen – so werden neben Platon, Hölderlin oder Klee auch mythologische oder theologische Implikationen angeführt. 78 Diesen möglichen geisSelbst namhafte Interpreten – wie z. B. Harries (2003) – bekunden immer wieder ihr Befremden über das Unzeitgemäße dieser Ausführungen Heideggers. In meinen Über-
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tesgeschichtlichen Rückbindungen soll hier aber nicht nachgegangen werden; auch eine erschöpfende Interpretation ist nicht beabsichtigt. Nachdem die Relektüre des Feldweggespräches Anchibasie abermals auf das Geviert in Zusammenhang mit dem Ding eingehen wird, werden sich die folgenden knappen Skizzierungen an strukturelle Momente halten und vornehmlich dem Wie der Heidegger’schen Erläuterung nachgehen. Dabei ist freilich eine Struktur angesprochen, die nicht als überzeitlich oder kulturell invariant gedacht werden soll; vielmehr geschieht und entzieht sie sich in, ja als Geschichte. Gerade in durchdringender Auseinandersetzung mit der Tradition versucht Heidegger, Ding und Welt anders zu bedenken. Er arbeitet sich dabei an unterschiedlichen Positionen der Philosophigeschichte ab, um überlieferte Annäherungen an den Themenkomplex zu hinterfragen. Ohne einzelne Überlegungen hier zu diskutieren, kann Heideggers Zugang auf eine einfache Grundfrage zugespitzt werden: Wie begegnen uns Dinge in und aus einer Welt? Von Heidegger werden dabei insbesondere reduktionistische Ausdünnungen von Erfahrung zurückgewiesen, indem er auf der Reichhaltigkeit und Zusammengehörigkeit der Erfahrung insistiert. Dabei macht er deutlich, dass die Fragen nach dem Ding, der Welt, der Zeit, dem Ort oder der Sprache keine nebensächlichen sind, sondern dass diese das Menschsein fortund gewährend angehen. Zugleich werden aber Vorstellungen, wie sie sich in der Moderne etabliert haben, in ihrer Fraglichkeit kenntlich zu machen versucht: Welt weltet nicht als bloße Summe aller Seienden oder als ein umfassender Behälter. Dinge werden nicht als das nackte Vorhandensein eines Objekts erfahren, das einer funktionalen Dienlich- oder Verwertbarkeit unterstellt werden könnte. Zeit ist nicht als Abfolge von präsentischen Jetztpunkten zu bestimmen und der Ort zeigt sich auch nicht als bezugsloser Punkt des dreidimensionalen Raumes. Ebenso, und das dürfte mittlerweile hinlänglich deutlich geworden sein, lässt sich Sprache nicht auf ihren instrumentellen Charakter des wahrheitsfähigen Aussagesatz reduzieren. All diese verkürzenden Hinsichten möchte Heidegger in ihrer gemeinhin akzeptierten Selbstverständlichkeit aufbrechen und ihnen ein Stück weit ihre Vielfältig-
legungen zum Geviert orientiere ich mich weitgehend an Steinmann, der zu Recht darauf hinweist: »Woher die Vorstellungen kommen, ist zunächst weit weniger relevant als die Frage, was mit ihnen gedacht werden soll.« (Steinmann 2008, 338) A
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keit und damit die Fülle von Erfahrungsmöglichkeiten zurückgeben, indem er ihrer Verhältnishaftigkeit überhaupt nachgeht. Das Nachzeichnen von Zusammengehörigkeit artikuliert sich bei Heidegger weniger als harmonisierende Geste, sämtliche Momente in eine unterschiedslose Einheit bergen zu wollen, denn vielmehr als Erfahrung, gerade über die Epiphanie des Zusammenhangs nicht verfügen zu können und so vielmehr deren Bewegtheit und stets möglichen Verlust bedenken zu müssen. Jedem Aufblitzen der Nähe ist dabei immer schon Entzug in die Ferne mitgegeben. Dem Gewährenden bleibt somit stets eine Fragilität und Prekarität eingeschrieben. Es wird sich hierin zeigen, dass Heidegger eine Onto-Logik des EntwederOder zugunsten feinerer Zwischentöne unterwandert und somit auf eine buntere Vielfalt verweist. 79 Die Überlegungen zum Geviert bahnen sich Mitte der 1940er Jahre im Zusammenhang mit der Besinnung auf die »Gegnet« respektive der »Gelassenheit« an (vgl. GA 77, 125 ff.), bevor Heidegger den Terminus explizit 1949 (GA 79, 12) nennt und vor allem in den Sammlungen Vorträge und Aufsätze sowie Unterwegs zur Sprache mehrmals darauf zurückkommt. Es ist auffällig, dass diese Erläuterungen nicht nur werkgeschichtlich an einer entscheidenden Stelle stehen, an der sich retrospektiv Heidegger selbst in einem Übergang von der »Wahrheit des Seins« hin zu einer »Topologie des Seyns« verortet (vgl. GA 15, 335) und in einer verstärkten Art und Weise nicht nur beim Einfachsten einkehrt und ein neues Verhältnis zum Ding und zur Welt gewinnt. Darüber hinaus stehen sie im engsten Zusammenhang mit der dezidierten Inblicknahme der Responsivität. Es wurde bislang deutlich zu machen versucht, dass sich Sprache ereignet, indem der Mensch dem Zuspruch des Seyns im Wort entspricht. Dieses Zu- als Entsprechungsgeschehnis ereignet sich als Hervorgang von Mensch und Sein, in der auch Seiendes zu stehen kommt. Hier kann – das Zitat wurde bereits angeführt – nicht von zwei getrennten Bezügen gesprochen werden, sondern von einem in sich mehrfältigen Bezug. Heidegger vermerkt in seiner Vorlesung zu Heraklit: »Aber der Bezug des Menschen zum Sein steht nicht neben dem Der Infragestellung der Metaphysik als Prinzipienwissenschaft, die sich am Satz des Widerspruchs, am Satz der Identität und am Satz des Grundes hält, geht Heidegger zu Beginn von GA 38 nach. Die Überlegungen zum Geviert bilden in gewisser Hinsicht eine »positive« Antwort auf die Restriktionen der metaphysischen Onto-Logik.
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Bezug des Menschen zum Seienden. Es sind nicht zwei getrennte Bezüge, der zum Sein und der zum Seienden, sondern es ist da ein Bezug, der freilich durch eine einzigartige Zwiefalt ausgezeichnet ist, daß der Mensch in der Gegenwart des Seins stehend zum Seienden sich verhält, daß Seiendes begegnet im Licht des Seins.« (GA 55, 343) Mit den Ausführungen zum Geviert möchte er diese mehrfachen Bezüge als Einfalt deutlicher kennzeichnen. Im Seienden – Heidegger wird es in Anlehnung an das althochdeutsche thing »Ding« nennen (vgl. GA 79, 13) – lässt sich jeder Vorhandenheitsontologie trotzend das Moment der Versammlung herausstreichen. Er macht dabei deutlich, dass wir uns niemals bei einem isolierten Ding aufhalten, sondern hierin eine Mannigfaltigkeit der Bezüge mitaufbricht. Im Ding entfaltet sich Welt. Dieses Sichentfalten von Welt ereignet sich für Heidegger sprachlich. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »Rufen« der Dinge, die im Nennen diese nicht benennt oder bezeichnet, sondern sie im Nennen einlädt und willkommen heißt, den Menschen angehen zu können. In diesem Rufen, das Dinge in die Nähe rückt, bleibt eine Ferne miteingeschrieben. Jedes mögliche Anwesen ist so dem Abwesen zugehalten. Nicht eine zustellende Verfügungsgewalt zeichnet Sprache aus, sondern ein Mitsagen von Ferne. »Das Herrufen ruft in eine Nähe. Aber der Ruf entreißt gleichwohl das Gerufene nicht der Ferne, in der es durch das Hinrufen gehalten bleibt.« (GA 12, 18) Heidegger operiert hier also nicht mehr mit dem sich aus dem Widerspruchssatz ergebenden Oppositionspaar präsent/nicht-präsent, sondern bedenkt ein nicht auf eine Gegenüberstellung oder auf eine quantitative Größe zu reduzierendes Verständnis von Nähe und Ferne. Gerade in der Dichtung zeigt sich für Heidegger diese für ihn charakteristische Weise eines »ins Abwesen geborgene[n] Anwesen[s]« (GA 12, 19), das die starre Struktur der herkömmlichen Ontologie der Vorhandenheit sprengt. 80 Das in der Dichtung Genannte ist weder eine Beschreibung eines bereits vorliegenden Seienden noch wird das darin zur Sprache Gebrachte in einer greifbaren Präsenz vorgestellt. In dieser 80 Mehrmals wiederholt Heidegger in seinem Vortrag Die Sprache, dass das dichterische Rufen in das Unverborgene nicht mit einem vorhandenen Seienden gleichzusetzen ist: »Schneefall und Läuten der Abendglocke sind jetzt und hier im Gedicht zu uns gesprochen. Sie wesen im Ruf an. Dennoch fallen sie keineswegs unter das jetzt und hier in diesem Saal Anwesende.« (GA 12, 18)
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Weise des rufenden Nennens geht vielmehr eine nicht präsentisch vorliegende, aber doch gegenwärtige Welt auf. Nachdem in der Alltagssprache diese Dimension der Nähe und Ferne zumeist zugunsten des disponiblen Seienden übergangen wird, 81 spürt Heidegger diesem Aufgehen von Seiendem in der Dichtung – etwa im Anfangsvers der hölderlinschen Hymne Andenken (vgl. Hölderlin 1998a, 473) – nach: »›Der Nordost wehet‹ – und nicht der Südwest. Der Nordost wehet doch jetzt, da der Dichter dieses zu dichten anhebt? Soll der erste Vers etwa die Windrichtung feststellen zu der Zeit, da Hölderlin dieses Gedicht niederzuschreiben beginnt? Vielleicht ist alles eher umgekehrt. […] ›Der Nordost wehet‹ – d. h. der Zeit-Raum der Dichtung, die mit in diesem Gedicht gedichtet ist, steht offen.« (GA 52, 31 f.) 82 Das so in der Dichtung zu Wort Gekommene rückt das darin Gerufene ins Offene und erschließt sich uns, indem wir lesend an der Dichtung teilhaben. Nur im Vollzug des Anspruches wird dem Gedichteten der Freiraum gewährt, sich zeigen zu können. Mitgesagt ist in jedem Nennen der Dinge die Offenheit der Welt: »Das Heißen, das Dinge ruft, ruft her, lädt sie ein und ruft zugleich den Dingen hin, empfiehlt sie der Welt an, aus der sie erscheinen.« (GA 12, 19) Heidegger versucht darauf einzugehen, dass Dinge sich nicht abgesondert zeigen und nachträglich in einen Kontext eingebettet oder in einen Zusammenhang mit anderem gebracht werden müssten. Vielmehr macht er auf das Verwiesensein von Welt und Ding aufmerksam, das als »Aus- und Zu-einander« (GA 12, 23) umschrieben wird. Der Austrag von Welt ereignet sich im Angang der Dinge. Dinge entfalten Welt, aus der sie erscheinen können. Welt und Dinge können Die Dichtung ist jedoch nicht in Opposition zur Alltagssprache zu verstehen: »Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus der kaum noch ein Rufen erklingt.« (GA 12, 28) 82 »Die Dichtung«, so Heidegger, »ist die Sage der Unverborgenheit des Seienden.« (GA 5, 61) So gibt er an anderer Stelle durch einen etymologischen Hinweis zu verstehen, warum er die Dichtung in dieser Weise fasst, indem er auf die ursprüngliche Wortbedeutung des lateinischen dictare und des griechischen deiknymi aufmerksam macht: »Das heißt zeigen, etwas sichtbar, etwas offenbar machen […]. Dichten: ein Sagen des weisenden Offenbarmachens.« (GA 39, 29 f.) Eindrucksvoll unterstreicht dies Handke im ersten Satz des Buchs Der Chinese des Schmerzes in einer Aufforderung an die Lesenden, das (anwesend-abwesend) Stiftende der Dichtung, das sich jeder unmittelbaren Präsenz des sichtbaren Vorsichhabens entzieht, zu vernehmen: »Schließ die Augen, und aus dem Schwarz der Lettern bilden sich die Stadtlichter.« (Handke 1986, 7) 81
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somit nicht aufeinander rückgeführt werden und fallen auch nicht in eins, sondern wollen aus diesem sie freigebenden Zwischen bedacht werden. Dieses Zwischen fasst Heidegger als »Unter-Schied«: »Der Unter-Schied trägt Welt in ihr Welten, trägt die Dinge in ihr Dingen aus.« (GA 12, 22) Der Unterschied, der nicht mehr als ontisch-ontologische Differenz aufbricht, reißt in eins Welt und Ding auseinander, indem er sie zugleich versammelt. Im Auseinanderhalten bleiben sie aufeinander bezogen. Die Welt ist für Heidegger als ein verschränktes Zueinander sowie auseinanderhaltendes Gegeneinander verschiedener Momente – er wird sie als »vier Weltgegenden« (GA 12, 199) bezeichnen – ausgezeichnet. Mit der Erörterung unterschiedlicher Gegenden als Geviert möchte Heidegger Welt in einer anderen Weise verstanden wissen als er es noch in Sein und Zeit getan hat. Dort ist das Dasein als verstehender Entwurf vor allen anderen Seienden ausgezeichnet und Welt als Existenzial verstanden. Welt erschließt sich im Entdeckendsein des Daseins, in dessen Bedeutungsganzheit bzw. Bewandtniszusammenhang (innerweltlich) Seiendes als Zuhandenes respektive Vorhandenes begegnet. Nun verweist er aber darauf, dass die Entfaltung von Welt durch die Näherung des Dinges erbracht wird. Dem Menschenwesen gebührt dabei keine Vorrangstellung mehr, sondern es findet sich in den Ausführungen Heideggers in der Zusammengehörigkeit der Vierfalt des »Himmels«, der »Erde«, der »Göttlichen«. Die »Sterblichen« gehören in die Welt, konstituierten sie aber nicht: »Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen.« (GA 7, 152) Was diese Vier nennen, soll hintangestellt werden. Es kommt an dieser Stelle vielmehr darauf an, das Wie des Verhältnisses der Vier zu Welt und Ding in den Blick zu nehmen. Es fällt auf, dass Heidegger nicht in der Weise vier Bereiche beschreibt, als ob sie klar abgegrenzt für sich bestünden. Die vermeintliche Beständigkeit wird in der Nachzeichnung zugunsten der Hervorhebung ihrer Bewegtheit zurückgenommen. Beispielhaft sei hier Heideggers Nennen des Himmels angeführt: »Der Himmel ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde Mondlauf, der wandernde Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, das Wirtliche und Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers.« (GA 7, 151) Das Unzeitgemäße ist in dieser Erörterung evident und behält ihr irritierendes Moment. Sie steht quer zur uns geläufigen phiA
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losophischen Diktion. Der Himmel wird nicht in naturwissenschaftlicher Hinsicht ins Auge gefasst, sondern in einer höchst merkwürdigen Weise beschrieben. Nichts in dieser Deskription ist uns unbekannt und dennoch ist sie ungewöhnlich, ja geradezu befremdend. Worin besteht das Auffällige – abgesehen von den mitunter ungebräuchlichen und antiquierten Wörtern wie das »Unwirtliche« oder der »Äther« – dieses Zitats? Heideggers Skizzierung scheint nicht den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es wird kein abgeschlossenes Gesamt aufgelistet, das sämtliche Teile erschöpfend umfasst; vielmehr zeigt sich in dieser losen Reihe eine vielfältige Offenheit, die in ihrer Breite möglicher Erfahrungen erkundet wird. Der Himmel wird nicht als ein Objekt charakterisiert, sondern ihm ist eine Mannigfaltigkeit eingeschrieben, denn mit und in ihm bricht eine Reihe von weiteren Momenten auf. Dieses Mitnennen von anderem unterstreicht dabei nicht nur das Anführen von dem Himmel Zugehörigem, sondern in einer emphatischen Weise kommt darin die Bewegtheit selbst zur Sprache. Neben der adjektivischen Verwendung der Partizipien »wölbend«, »gestaltwechselnd«, »wandernde« etc., die eine Verbalität nachhaltig unterstreichen, vermeidet Heidegger darüber hinaus weitgehend die Fixierung auf ein angebbares Objekt. Er spricht nicht von der Sonne, sondern vom »Sonnengang«, nicht vom Mond, sondern vom »Mondlauf«, nicht von den Wolken, sondern vom »Wolkenzug«. Im Gang, Lauf und Zug spiegelt sich ebenso ein unentwegter Wandel wider, wie im Wechsel der Jahres- und Tageszeiten oder im Umschlag des Wetters. Deutlich wird dabei, dass es den Himmel als vorliegendes Seiendes nicht gibt, sondern er in seiner Bewegtheit und Zeitlichkeit als ein stets sich änderndes Bezugsgeflecht erfahren wird. Wenn im Folgenden vom Verhältnis der Vier gesprochen wird, muss mitbedacht werden, dass es hier nicht um eine Verbindung von statischen Punkten geht, sondern dass es Heidegger um ein Vernehmen der inhärenten Bewegung geht, die zugleich anderes impliziert: »Sagen wir Himmel, dann denken wir schon die anderen Drei mit, doch wir bedenken nicht die Einfalt der Vier.« (GA 7, 151) Was ist mit dieser Art der Einfalt gemeint? Das Präfix »Ge-«, dem eine Reihe von Heideggers Grundworten vorangeht (neben dem »Geviert« spricht er ja auch von der »Gelassenheit«, dem »Gestell« oder dem »Geschick«), markiert das Zusammengehören von heterogenen Momenten. 83 Ein83
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Vgl. hierzu auch Abschnitt c) in diesem Kapitel.
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zelne Berge können zu einem Gebirge zusammengefasst werden, sowie der Zusammenstand von Balken auch als Gebälk bezeichnet wird. Stets wird hier eine Einheit in Anspruch genommen, die aus Unterschiedlichem besteht. Von ihr her wird allererst das Einzelne vernommen. Es geht daher weder um eine nachträgliche Zusammenfügung noch um die bloße Summe der einzelnen Teile. Im Gesamt ist auch die Anzahl nicht von primärer Wichtigkeit, sondern ihr Zusammengehören. In diesem Sinne ist das Geviert weder eine im Nachhinein zu bewerkstelligende Synthesis noch als Addition der genannten Bereiche zu verstehen. Die Anzahl tritt zugunsten einer Einheit, die stets in ihren voneinander differierenden Momenten lesbar bleibt und nicht in eine uniforme Masse übergeht, in den Hintergrund. Es erscheint daher angebracht, das Geviert nicht primär von der Anzahl, sondern von der »Vierung« (GA 7, 181) zu verstehen, in der eine chiasmatische Verschränkung entgegengesetzter und zugleich aufeinander bezogener Bereiche aufbricht. Dort zeigt sich das Zusammengehören von Unterschiedlichem, ohne dass Momente auf andere rückgeführt werden können; gerade aus diesem Zusammenspiel erlangen sie ihr Eigenes. Das zu- und aufeinander Bezogensein nennt Heidegger das »Spiegel-Spiel« (GA 7, 181) der Welt, das nachdrücklich das Ineinanderverflochtensein und damit die Einfalt betonen soll. In jedem spiegeln sich die anderen wider: »Jedes der Vier spiegelt in seiner Weise das Wesen der übrigen wider. Jedes spiegelt sich dabei nach seiner Weise in sein Eigenes innerhalb der Einfalt der Vier zurück.« (GA 7, 180) Die Gegenden sind durch eine Offenheit für anderes ausgezeichnet, sodass auch im Aufgehen des einen die anderen als Abwesende mitschwingen. Hierin wird in der Nähe eine Ferne vernehmbar, die eine dichotomische Einteilung von An- oder Abwesenheit der traditionellen Logik aushebelt. Heidegger bezeichnet diese Nachbarschaft, die als Fernnähe bzw. Nahferne umschrieben werden könnte, als »Gegen-einander-über« (GA 12, 199), in dem sowohl das »Gegeneinander« als auch das »Gegenüber« und somit das Bezogensein sowie das Auseinandergehen bedacht werden will. Keines steht so für sich, stets wird es im offenen Verhältnis zu anderem austariert: »Im waltenden Gegen-einander-über ist jegliches, eines für das andere, offen, offen in seinem Sichverbergen; so reicht sich eines dem anderen hinüber, eines überläßt sich dem anderen, und jegliches bleibt so es selber; eines ist dem anderen über als das darüber Wachende, Hütende, darüber als das Verhüllende.« (GA 12, 199) Diese Art der »Nahnis« (GA 12, 200) darf nicht mehr als statische interA
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pretiert werden, sondern als Bewegung. Eine Bewegung freilich, die nicht eine Ortsveränderung markiert, sondern in ihren Wegen die Gegenden erst öffnet und ihre irreduzible Bezogenheit aufeinander herausstreicht. Dieses Offensein für anderes, ja das Insichtragen von anderem macht Heidegger an einfachen Dingen – wie am Krug oder an der Brücke – deutlich. Wir können diese als Versammlung des Gevierts erfahren, da der Krug in sich auf anderes verweist, indem er zu trinken gibt. 84 Immer sind wir in die Vielfalt der Bezüge eingekehrt, die Heidegger als offene Einfalt des Gevierts zu kennzeichnen sucht. Nie sind wir bloß bei der Aussage von etwas als etwas, stets sind Zusammenhänge miterschlossen, die etwas als etwas überhaupt erst vernehmbar machen. Das Sichereignen, das Eigenes gewährt, gewährt immer schon anderes. Vielleicht kann man Heidegger zugestehen, auch wenn man die Diktion vom Geviert und den darin sich kundtuenden Weltgegenden nicht explizit übernimmt, dass selbst das einfachste Ding nie unbezüglich und isoliert auftritt, sondern immer schon anderes in sich trägt. Es gilt, diese offenen und stets veränderbaren Zusammenhänge zu sehen, die man nicht von Außen überblickt, sondern in die wir als Erfahrende uns je schon eingelassen befinden. Nun muss aber in einem letzten Schritt kenntlich gemacht werden, was diese Überlegungen mit Sprache zu tun haben. Heidegger selbst stellt sich diese Frage: »Doch sagt das soeben Gewiesene noch vom Wesen der Sprache?« (GA 12, 202) Wenn die Einsicht waltet, dass Sprache selbst als Zeige verstanden wird, in der Welt eröffnet und Dinge freigegeben werden, dann wird ersichtlich, dass Sprache und Nähe nichts Verschiedenes sind. Heidegger versucht somit deutlich zu machen, dass das Darreichen von Welt und die Entund Verbergung von Dingen, ja das Gegen-einander-über der Weltgegenden kein außersprachliches Phänomen ist, sondern sich als Sprache selbst ereignet. Als und in der Sprache eröffnet sich dieses Zusam84 In den Ausführungen zu Anchibasie wird auf den Krug nochmals gesondert und in extenso eingegangen; hier soll lediglich angedeutet sein, dass der Krug für Heidegger das Getränk bewahrt und somit in sich das Geviert versammelt: »Im Geschenk des Gusses weilen je verschieden die Sterblichen und die Göttlichen. Im Geschenk des Gusses weilen Erde und Himmel. Im Geschenk des Gusses weilen zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. Sie sind, allem Anwesenden zuvorkommend, in ein einziges Geviert eingefaltet.« (GA 7, 175)
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mengehören: »Die Sprache ist als die Welt-bewëgende Sage das Verhältnis aller Verhältnisse. Sie verhält, unterhält, reicht und bereichert das Gegen-einander-über der Weltgegenden, hält und hütet sie, indem sie selber – die Sage – an sich hält.« (GA 12, 203) Sprache ist nichts anderes als der Aufriss, d. h. die eröffnende Bewegung des Zwischen, in der Dinge in einer Welt an- und abwesen können und zugleich der Zusammenhang der Weltgegenden unterhalten wird. Sprache ist das Verhältnis selbst, das lautlose Versammeln von Gegenstrebigem. Das Wort oder die Sprache ist damit das Geschehnis, in dem erst aus der Responsivität die Bezugsglieder in einer nicht vergegenständlichbaren Weise freigegeben und ins Anwesen gerufen werden. Dieses Denkwürdige, das Heidegger auch als »das Geheimnisvolle dieses Verhältnisses« (GA 12, 172) umschreibt, wird in der Sage qua verhältnishaftes Geschehen zur Sprache gebracht. Eingedenk dieser freigebenden und zugleich sich entziehenden Mitte wird für Heidegger Sprache als Sprache vernehmbar: »Die Sprache spricht, indem das Geheiß des UnterSchieds Welt und Dinge in die Einfalt ihrer Innigkeit ruft. Die Sprache spricht als das Geläut der Stille.« (GA 12, 27) Heidegger geht es nun darum, das menschliche Sprechen als Entsprechen zu verstehen, da es erst aus dem Verhältnis von Sprechen und Sprache zureichend bedacht ist. Nachdrücklich insistiert er dabei darauf, diesem Moment der Responsivität nachzugehen, da jedes Sprechen als hörende Antwort auf den lautlosen, aber eröffnenden Zuruf der Sprache erfahren wird: »Das menschliche Sprechen ruht aber als Sprechen der Sterblichen nicht in sich. Das Sprechen der Sterblichen beruht im Verhältnis zum Sprechen der Sprache.« (GA 12, 28) Das menschliche Sprechen antwortet eingedenk dieser aufreißenden Stille auf den sich ereignenden Unter-Schied und bricht damit die Stille. Im gegenwendigen Verhältnis von Stille und Laut zeigt sich die responsive Verschränkung des Wortes als Antwort, der ein nicht überwindbarer Hiatus eingeschrieben bleibt. Der Laut wird nicht mehr wie in der metaphysischen Tradition als nachträgliche Verlautbarung verstanden, der – letztlich als solcher vernachlässigbar – lediglich intelligible Inhalte vermittelt und in dieser Funktion aufgeht, sondern rückbezogen auf die Stille erfahren: »Der Laut ist der Widerhall der Stille im Inzwischen des Austrags.« (GA 74, 142) Als Echo der Stille ist das Lauten und Klingen des Wortes seinem Ereignetsein eingedenk und bezeugt antwortend den je ergangenen Zuspruch: »Die Antwort ist ereignete, Gedächtnis, das schweigend die Stille vernimmt, der sinnende A
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Das Wort als Antwort. Gespräch und Geviert als responsives Geschehen
Dank – das Entgegnen.« (GA 74, 62) Das Wort wahrt die Stille als Nachhall nur, indem es sie notwendigerweise bricht. Das responsive Lauten weiß hierin um ihr unzureichendes Moment, das den Zuspruch niemals völlig einzuholen vermag. Stets wird in ihr, soviel auch verlautet werden mag, diese Differenz offenkundig. Ein Bruch durchzieht nach Heidegger unsere Erfahrung mit dem Wort, das nie gänzlich zu sich kommt und niemals ungebrochen in sich ruht. Niemals wird es erstes oder letztes Wort sein. Stets ist dem menschlichen Entsprechen diese Endlichkeit eingeschrieben, dem nie ein restlos unversehrter Aufenthalt oder eine vollkommene Bleibe gewährt wird, um in einer bruchlosen Sphäre der Eigentlichkeit seine Befriedung zu finden: »Die Lautung ist Wesensfolge der Stille und ihrer ›Stimme‹, weil die Stille das Inzwischen den Streit von Welt und Erde durchträgt; dieser Streit als Riß gibt den ersten (wesensmäßig gesehen) Laut, bricht die Stille, aber bricht eben die Stille und west nur als ein Bruch und Ab-bruch dieser.« (GA 74, 132) Bezeugt wird im menschlichen Entsprechen somit nicht ein harmonischer Einklang mit dem Zuspruch des Seins, sondern der unschließbare Riss im Austrag der Sprache als unentwegtem Ver-Hältnis von einem verschränkt-auseinanderdriftenden Zu- und Entsprechen, das im Sagen dem Ungesagten als Unsagbares eingedenk bleibt: »Das Seyn ist das zuerst und stets und zuletzt Gesagte, aber als das Un-gesagte, sofern es nie der Gegenstand einer Aussage wird, auch nicht im denkerischen Sagen.« (GA 74, 130)
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Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wurde eine These ins Treffen geführt: Sprache wird im Laufe der Philosophiegeschichte vornehmlich hinsichtlich epistemologischer Überlegungen abgehandelt, die danach fragen, inwiefern sie überhaupt in der Lage sei, »Wirklichkeit« exakt wiederzugeben oder den Gedanken eines »Subjekts« den adäquaten Ausdruck zu verleihen. Von philosophischem Interesse ist dabei vornehmlich der Aussagesatz, der einzig in der Lage ist, ein »wahrheitsfähiges« Urteil über etwas zu fällen. Diese Diskussion reduziert Sprache nicht nur auf ihren instrumentellen bzw. repräsentationalistischen Charakter, sondern geht auch in einer selbstverständlichen Weise davon aus, dass zum einen eine an sich seiende Realität vorliegt und zum anderen ein bereits konstituiertes Subjekt die Szenerie souverän überblickt. Sowohl Heidegger als auch Wittgenstein arbeiten sich mit großer Intensität, wie im ersten Teil der Arbeit gezeigt wurde, an dieser für sie reduktionistischen Sprachbetrachtung ab, indem sie zugleich bewusstseinstheoretische und dingontologische Vorannahmen in Frage stellen. Den Ausgangspunkt der angestellten Überlegungen bildet diese gemeinsame Stoßrichtung gegen die Insuffizienz der tradierten Sprachbetrachtungen, die metaphysische Ansätze ausgebildet haben. Beide Denker sind dabei von der Einsicht geleitet, dass sich Sprache als Sprache nicht vergegenständlichen, definieren oder auf ein einheitliches Fundament zurückführen lässt. Trotz der unterschiedlichen Gewichtungen ihrer Ausführungen lassen sich hierbei eine Reihe von inhaltlichen Gemeinsamkeiten ausmachen, die sich nicht nur in der Hinterfragung geläufiger Vorstellungen der Sprachphilosophie zeigen, sondern auch in der jeweiligen Zugangsweise und im Wie des Sprechens von der Sprache. In dieser umfassenden Weite genommen gestaltet sich die Frage nach Sprache nicht als eine unter vielen, sondern in ihr zeigt sich das gesamte Welt- und Selbstverständnis des MenschA
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seins überhaupt – ein Mensch, der sich nicht mehr als souveräner Besitzer der Sprache versteht, sondern sich als immer schon antwortend in sprachliche Strukturen, die er mit anderen teilt, eingelassen erfährt. Der vorherrschende Traditionsstrang der abendländischen Philosophie, der in der Neuzeit seine grundlegende Ausbildung erfahren hat und weit in rezenten Debatten der Sprachphilosophie nachwirkt, setzt beim eigenen Ich an und endet der teleologischen Ausrichtung eines Systemdenkens oder eines wissenschaftlichen Totalitätsdenkens zu Folge letztlich beim Ganzen. Doch diese erkenntnistheoretische Inblicknahme der Sprache wird durch eine andere – bereits in der Antike angelegte – Hinsicht konterkariert. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten – von einem Ego als Bezugsmitte auszugehen, das potentiell in der Lage ist, alles Seiende restlos auf sich zuzustellen – werden hier radikal unterlaufen. Sprache fungiert nicht mehr als nachträgliches Mittel zur Abbildung von Welt oder zur intersubjektiven Kommunikation, sondern hat immer schon in die Konstitution des Ich eingegriffen. Sprache lässt sich nicht als ein Objekt unter anderen fassen und ist dabei nie ausschließlich nachträglicher Ausdruck eines Ego, sondern dieses findet sich im verstehenden Zutunhaben mit Dingen stets schon in sprachlichen Zusammenhängen vor, sobald es etwas vernimmt. Vor jedem Urteil und vor jeder Verlautbarung ist das Selbstverhältnis als Weltverständnis weit abgründiger in und mit Sprache verstrickt. Das Verstehen von etwas als etwas, die diversen praktischen Tätigkeiten mit den Dingen, ja die Gegebenheit von Welt sind sprachlich. Die je eigene Sprache erweist sich hierin einer vollständigen jemeinigen Disponibiltät entzogen, denn nie beginnt ein Ich allein bei sich. In der Sprache ist es immer schon mit Anderen im Gespräch. Sprache ist nie nur Sprache einer Jemeinigkeit, sondern sie antwortet stets auf einen Zuspruch. Dieser je schon ergangene Zuspruch erhebt sich von anderswo, d. h. er ist weder auf das Ich zurückzuführen noch von ihm einzuholen, bricht aber nur im Entsprechen auf diesen Zuspruch auf. Die systematische Rekonstruktion des responsiven Sprachdenkens im Spätwerk von Wittgenstein und Heidegger sieht sich, wie im zweiten Teil der Abhandlung gezeigt wurde, diesem zweiten Traditionsstrang verpflichtet. Die Einsicht einer Phänomenologie der Responsivität, die von Waldenfels systematisch entfaltet wird und vor dessen Hintergrund die Lektüre von Heidegger und Wittgenstein unternommen wird, forciert keine Hypostasierung der Sprache und malt auch nicht das Schre308
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ckensgespenst eines apriorischen Sprachfatalismus an die Wand. Das Dass des Antwortenmüssens erweist sich zwar als unausweichlich, das Wie des Antwortenkönnens ist allerdings nicht durch dieses determiniert. Das Antworten wird nicht als automatisierter Reflex verstanden, sondern ihm wird ein Spielraum von Antwortmöglichkeiten eingeräumt, den es ausschreiten kann und dessen Form es zu verantworten hat. Subjektkonstitutive Fragen stehen hier nicht nur mit Fragen nach der Sprache, sondern auch mit Überlegungen zur Alterität und Ethik in Zusammenhang. Ein responsiv verstandenes Subjekt fungiert zwar nicht mehr als vorausliegendes fundamentum inconcussum, jedoch auch nicht als bloßes Produkt. Von der »Selbstzerstörung der philosophischen Vernunft« (Apel 1998, 462), die Apel im Œuvre von Heidegger und Wittgenstein in einer bedrohlichen Weise aufbrechen und in der neueren französischen Philosophie – er führt namentlich Derrida und Lyotard an – in einer beunruhigenden Weise fortgeführt sieht, kann nur insofern die Rede sein, als dass ein bestimmtes Verständnis von Vernunft respektive Subjektivität in die Schranken verwiesen wird. Mit der Zurückweisung eines ungebrochenen Anspruchs der Rationalität ist keineswegs einem frei flottierenden Irrationalismus das Wort geredet. * *
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Im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung wurde der Versuch unternommen, in einer »positiven« Weise die Einsichten des Sprachdenkens im Spätwerk von Wittgenstein und Heidegger zusammenzutragen. Zugunsten einer systematischen Rekonstruktion wurden kritische Rückfragen bewusst zurückgehalten, die nun explizit formuliert werden; nicht jedoch im Sinne einer pauschalen Bemängelung, sondern in Hinblick auf offene Fragen, die sich vor dem Hintergrund der hier angestrebten Lektüre aufdrängen. Es wurde gezeigt, dass mit Wittgensteins Überlegungen zum Sprachspiel, dem Eingebettetsein in Lebensformen sowie Weltbildern, in die das Subjekt abgerichtet wird und aus denen es erst sich und anderes versteht, eine fundamentale Kritik an jeder naturalistischen, akontextuellen und ahistorischen Verkürzung des Themenkomplexes Sprache geübt wird. Zugleich wurde dabei aufgezeigt, dass eine Erörterung der Sprache bzw. des Menschseins nie beim einzelnen Subjekt beginnen kann, sondern immer schon weitere Zusammenhänge mit in den Blick nehmen muss. Nicht nur sind im Sprachspiel immer schon A
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verbale und nonverbale Tätigkeiten in einem intrinsischen Verhältnis miteinander verknüpft, es ist auch, wie Wittgenstein eindrucksvoll mit der Zurückweisung des Privatsprachenarguments aufzeigt, unmöglich, von einem isolierten Individuum auszugehen. Das Subjekt eignet sich den jeweiligen Zugang zum spezifischen Verständnis von Welt und den vielfältigen Gebrauch von Sprache nicht solitär an, sondern erlangt ihn nur innerhalb einer Sozialität. Sprache ist somit nicht mehr auf ein Bedeutungswissen eines Einzelnen reduzierbar, sondern das eigene Selbstverständnis eröffnet sich allererst in einem Kontext, an den es stets rückgebunden bleibt und der als Sprachgemeinschaft umschrieben werden kann. Das Sein des Subjekts ist nicht von einem vor-ursprünglichen Mitsein mit Anderen zu trennen. Hierin wird deutlich, dass Sozialität sich nicht als nachträglicher Zusammenschluss von an sich seienden und zunächst isolierten Individuen begreifen lässt, sondern dass der Mensch immer schon mit anderem anfängt und nie bei sich beginnt. Höchst fragwürdig erscheint in diesem Zug die Rückführung sämtlicher sprachlicher Vollzüge auf ein einheitliches Fundament – etwa des Behauptungssatzes oder sonstiger »oberflächen-grammatischer« Strukturen –, wie Wittgenstein selbst es noch in seinem Frühwerk forciert hatte und es später an den Sprachauffassungen von Frege und Russell kritisiert. Neben diesen essentialistischen Bestrebungen werden in seinen Argumenten gegen eine Privatsprache auch von einer gemeinsamen Sprache unabhängige mentalistische Konzeptionen zurückgewiesen, die ein inadäquates menschliches Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, da eine strikte Privatsprache keine epistemischen Kriterien für ihre eigene korrekte oder inkorrekte Zuordnung anzugeben vermag. Konventionalistische Stiftungsakte der Sprache vonseiten eines souveränen Subjekts sind für Wittgenstein somit ebenso wenig wie für Heidegger vertretbar. Deutlich zeigt sich aber auch, dass die traditionell stets angeführte Alternative einer naturgegebenen Ordnung einer kontingenten Vielfältigkeit einerseits und einer geschichtlichen Veränderbarkeit von Sprachmöglichkeiten andererseits nicht entspricht. Mit Nachdruck verweist Wittgenstein auf die eröffnende Dimension einer stets mit anderen geteilten Sprache, die weder der Realität noch dem Denken nachgeordnet ist; vielmehr erhält das, was wir Wirklichkeit oder Denken nennen, seinen Stand nur in den jeweiligen sprachbezogenen Kontexten einer gemeinsamen lebensweltlichen Praxis. Stärker als Heidegger betont er damit die stete Ver310
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wobenheit von sprachlichen Äußerungen mit Handlungen durch die Rückbindung an deren vielfältigen Gebrauch, der nicht einem einzigen telos unterzuordnen ist. Sprache wird somit nie als bloße Verlautbarung oder uniformes Kommunikationsmittel, sondern stets aus den je unterschiedlichen Kontexten von Sprachspielen verstanden, die unter anderem die unzertrennbare Einheit von Sprache als Tätigkeit anzeigen sollen. Denkerische Anstöße erhält Wittgenstein dabei aus der vielfältigen Abgründigkeit der Praxis – sie schlagen sich nicht zuletzt in seiner spezifischen Terminologie nieder. Kennzeichnend für seine Herangehensweise ist ein Denken in Beispielen, das sich im Freiraum zwischen der Inanspruchnahme eines essentialistischen Allgemeinen und der abzählbaren Begrenztheit von Einzelfällen ansiedelt. Zu jedem Exempel sind potentiell Gegenbeispiele und damit supplementäre Ordnungen denkbar, ohne dass eine einzige Satzung für sich einen Absolutheitsanspruch reklamieren könnte. Beispielhaftes kann sich je nach Kontext anders konfigurieren und sich so gegen jede starre Eingliederung verwehren. Wittgensteins Terminologie ist daher – exemplarisch zeigt sich dies nachdrücklich in seinem Verständnis vom Spiel – von einer »Begrifflichkeit« geleitet, die sich einer invarianten und alle Beispiele subsumierenden Definition entzieht. Wittgensteins Denken fällt jedoch nicht einem platten Relativismus anheim, da sich die Sprachspiele stets aus einer regelgeleiteten Praxis von Lebensformen und Weltbildern verstehen, die sich in der Abrichtung in sozialisierte Gepflogenheiten manifestiert. An Wittgensteins Regelverständnis lässt sich dabei einmal mehr zeigen, dass die jeweiligen Bezugssysteme weder theoretisch durch eine Letztbegründung legitimierbar sind, noch als solche in toto in Frage gestellt werden können, da selbst ein radikaler Zweifel stets uneinholbare Gewissheiten als ihn konstituierende Voraussetzungen annehmen muss. So sind Wittgensteins Regeln nicht als absolute Reglementierungen zu verstehen, die eine »logisch« zwingende Eindeutigkeit besäßen oder von strikten Regelanwendungsregeln determiniert wären und somit einem Regress anheim fallen würden. Sie gelten vielmehr als eine jeder subjektiven Stiftung je schon vorausliegende Übereinstimmung, die sich einer rigiden Begründbarkeit entzieht. Hierin lässt sich ablesen, dass sprachspielrelative Lebensformen nie auf ein subjektsouveränes Machwerk der Übereinkunft zu reduzieren sind, sondern die Möglichkeit des Übereinkommenkönnens als Übereinstimmung zwischen Menschen A
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allererst bilden. Jeder Versuch einer Letztfundierung bleibt immer wieder an den Hintergrund eines kontextuell unterschiedlichen, aber stets vorgelagerten und unhintergehbaren Übereingekommenseins in einer Lebensform rückgebunden; einigen oder streiten können sich Menschen über diesen oder jenen Sachverhalt, doch dies passiert immer schon innerhalb der sprachlichen Strukturen, in denen sie sich miteinander verständigen und die somit stets vorausgesetzt werden müssen. Menschliches Handeln und Sprechen versteht sich somit nur aus dieser Unhintergehbarkeit von Sprachspielen oder Weltbildern – deren Pluralität Wittgenstein stets betont –, einer Gemeinschaftlichkeit, deren (Ab-)Grund uneinholbar allen individuellen Aktionen vorausliegt. Diese nie schließbare Differenz, die keiner durchgängigen Reglementierung oder einem unabänderlichen Automatismus unterworfen sein kann, gewährt eine Offenheit, die den Freiraum für unterschiedliche Antwortmöglichkeiten und plurale Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt. In mannigfacher Weise wird auf Ansprüche des Anderen eingegangen, die sich erst im Antworten zeigen und sich zugleich als uneinholbar manifestieren, gleichwohl sie einen Spielraum des Wie der Response gewähren. Ansonsten wäre, wie in der Diskussion rund um das Regelfolgen nachdrücklich gezeigt wurde, die Antwort keine Response sondern ein kausalmechanischer Ablauf. So insistiert Wittgenstein darauf, dass das Regelfolgen aus einer Praxisimmanenz erwächst, die nicht auf ein Subjekt als Urheber zurückzuführen ist, dessen Kraft jedoch auch nicht in einen objektiven Tatbestand überführt werden kann. Es erweist sich als unmöglich, einen zureichenden Grund anzuführen, der diesen Abgrund zu schließen oder die Spannung in eine Richtung hin aufzulösen vermag. Das Subjekt bleibt dieser Uneinholbarkeit ausgesetzt, wobei sich gerade diese nicht zu schließende Kluft zugleich als produktiver Stachel aller menschlichen Unternehmungen erweist. Sprache zeigt sich hier als nichts anderes als als Austragungsort dieses abgründigen Verhältnisses. Der hier unternommene Versuch, Wittgensteins Überlegungen für die Konzeption einer responsiv verstandenen Subjektivität fruchtbar zu machen sowie sein Denken vor dem Hintergrund des Verstehenund Nicht-Verstehen-Könnens näherhin auszuloten, muss jedoch eingeschränkt werden. Wittgenstein macht seine Philosophie nicht primär für ein Subjekt-Denken fruchtbar; ebenso bleibt ein elaborierteres Verständnis von Sozialität respektive Politizität einer Sprachgemeinschaft weitgehend im Dunklen. Er geht der Differenz zwischen Weltbildern 312
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nicht in umfassender Weise nach, da er etwaige Gründe für unterschiedliche geschichtliche Stränge, verschiedene Denkstile oder diverse kulturelle Ausformungen nicht angibt. Er konstatiert vielmehr deren Divergenzen und beschreibt etwaige Unterschiede. Die Prekarität des eigenen Weltbildes, das sich aus einer kontingenten Ordnung heraus versteht, die somit auch immer anders sein könnte, wird nicht im gewünschten Maße ausbuchstabiert. Dem hier verfolgten Anliegen, die Einsicht in das Phänomen des Abrichtens für ein Subjekt-Verständnis und für Fragen nach Gemeinschaft fruchtbar zu machen, wäre Wittgenstein wohl mit der größten Skepsis begegnet, ebenso wie der Frage, ob die einzelnen Weltbilder nicht einer permanenten Wandelbarkeit unterworfen sind und sich diese inhärente Zeitlichkeit für ihre Identität als konstitutiv erweist. Ein Weltbild oder eine Lebensform zeichnet sich bei Wittgenstein durch eine relative Geschlossenheit und Festigkeit aus, die als gegeben hingenommen wird, ohne dass die Möglichkeit einer sich stets ereignen-könnenden Veränderbarkeit näherhin bedacht wird. Mit dem Rekurs auf Derrida konnte jedoch gezeigt werden, dass diese fragile Veränderbarkeit den Wiederholungspraktiken selbst inhärent ist, jeder abermalige Gebrauch zwar an vormalige Praktiken anschließt, diesem kontextuell rückgebundenen Vollzug – ganz vom französischen Doppelsinn von l’acte (als sich vollziehender Akt und an Kontexte rückgebundene Akte) – notwendigerweise ein differentes Moment mitgegeben ist. Gebräuche als Wiederholungsakte zu begreifen, heißt zum einen einzugestehen, dass sie nie ab ovo beginnen, sondern stets an Vormaliges anknüpfen, zum anderen aber auch, dass sie sich permanent verändern können und nie zu einem absoluten Endpunkt gelangen. Diese immanent zeitliche Dimension wird bei Wittgenstein nicht in den Blick genommen und daher nicht in ihrer konstitutiven Funktion sichtbar gemacht. In einer auffälligen Weise bringt sich Wittgenstein in seinen expliziten Ausführungen damit um wichtige Konsequenzen seiner Arbeit, denen mitunter pragmatische Verkürzungen eingeschrieben sind und deren Abgründigkeit er vorschnell als nicht weiter problematisierbare Gegebenheit hinnimmt. Nicht umsonst werden in der Wittgenstein-Sekundärliteratur skeptische Lösungsansätze breit diskutiert. Insbesondere eine Nachbesichtigung der von ihm immer nur angedeuteten Erörterungen von »Abrichtung«, »Gebräuche« sowie »Institutionen« oder die Inblicknahme einer frakturierten Sprachgemeinschaft A
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innerhalb von Weltbildern oder Lebensformen ist für weiterführende Überlegungen zur Sprache in ihrem subjektkonstitutiven Moment unumgänglich. Ebenso kann die konstitutive Funktion des Entzugs, die Wittgenstein lediglich andeutet, stärker berücksichtigt werden und zu einer Relektüre anregen. Mit der Betonung der wechselseitigen Durchdringung von Sprache und Tun sowie des Abgerichtetseins in diverse Sprachspiele wird vonseiten Wittgensteins nicht eine einseitige »entwicklungspsychologische« Position eingenommen, um den Übergang aus einem Naturzustand zu beschreiben. Es geht nicht primär darum, dass Eltern etwa ihre Kinder mit bestimmten Zusammenhängen vertraut machen; diese empirisch-beobachtbare Perspektive wird dem »Grenzbegriff« der Abrichtung nicht im vollen Umfange gerecht, da es um die Erörterung dessen geht, dass jeder Mensch sich nur aus seinem jeweiligen Abgerichtetsein versteht und sich dann so zu sich sowie zu anderen verhalten kann. Ins Visier genommen wird somit nicht die Beschreibung aus einer so genannten 3.-Person-Perspektive, sondern die jedes Selbstverständnis (mit-)konstituierende Faktizität der Abrichtung selbst, hinter die kein Subjekt zurückgehen kann. Ein sich verstehendes und mit anderen interagierendes Subjekt, das an Sprachspielen zu partizipieren gelernt hat und sich innerhalb bestimmter Lebensformen bewegt, artikuliert sich erst aus dem Eingelassensein in diese Kontexte, sodass es kein unabhängiges Verstehen vor dieser Form der Sozialisation im Sinne einer stets schon in es eingeschriebenen Abrichtungsgeschichte gibt. Eine Geschichtlichkeit freilich, und dem geht Wittgenstein nicht weiter nach, die als abgründige ausgelegt werden muss, da sie für das betreffende Subjekt nie gegenwärtig war bzw. zur Disposition stand. Sie stellt die uneinholbare Bedingung der Möglichkeit für jedes differenzierende Selbst- und Weltverhältnis dar. So macht es beispielsweise erst Sinn über dieses oder jenes Farbvernehmen zu diskutieren, wenn das Subjekt weiß, was Farben überhaupt sind und zugleich gelernt hat, Farben zu unterscheiden. Diese Art der entzogenen Vorgängigkeit nimmt Wittgenstein andeutungsweise in den Blick, wenn er von der Abrichtung in Sprachspiele spricht: »Das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Überlegung. Die Überlegung ist ein Teil des Sprachspiels.« (BPP II, 632) Verstehen, Beurteilungen oder Bedenken kann es immer nur innerhalb der Sprachspiele oder Lebensformen geben, nicht jedoch in einer ihnen vorgelagerten Sphäre. Von ihnen erhalten wir laut Wittgenstein allererst den Maßstab für unser Urteilsvermögen. Die Abrich314
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tung rein aus der Beobachterperspektive zu behandeln, würde heißen, den primären Spracherwerb aus der Warte der Aneignung einer Zweitsprache zu betrachten und damit den Irrtümern von Augustinus’ Auslegung seiner Kindheitserinnerungen aufzusitzen. Wir besitzen kein absolutes, von allen Beziehungen und Zusammenhängen losgelöstes Verstehen, sondern es ist immer kontextbezogen, da wir in es bereits je schon eingeführt worden sind. Immer wieder führt Wittgenstein seine Leserschaft an den Rand des Verstehbaren: »[I]n der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. / Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen. Dies scheint die Logik aufzuheben; hebt sie aber nicht auf.« (PU 241 f.) Was ist mit dieser vermeintlich alogischen Logik gemeint, auf die Wittgenstein nicht weiter eingeht? Wenn man gewillt ist, Abrichtung als unhintergehbare Faktizität zu verstehen, wird auch ersichtlich, dass das herkömmliche chronologische Zeitverständnis, analog zum Künftigen im Regelfolgen, nicht mehr ausreicht. Nachdem es kein Subjekt vor der Abrichtung gibt, macht es keinen Sinn, einen Zeitpunkt der Abrichtung im herkömmlichen Sinne anzugeben. Es gibt aus der Warte des Subjekts kein Davor. Die Abrichtung entpuppt sich in diesem Zusammenhang zwar nicht als schlechterdings atemporal, jedoch als ein Früher, das nie gegenwärtig war oder dem Subjekt zur Disposition stand. Dieser Aspekt einer uneinholbaren Geschichtlichkeit und somit der Abgrund der eigenen Faktizität wird von Wittgenstein jedoch nicht in der gewünschten Schärfe problematisiert. Wohl kann man Wittgenstein zugute halten, dass er nicht auf die Rückführung aller Lebensformen auf eine allgemeine Form hinzielt, denn das Weltbild fungiert aufgrund möglicher unterschiedlicher Ausprägungen zwar nicht als ein Universalhorizont im klassisch phänomenologischen Sinne einer Lebenswelt, 1 es ist jedoch im spezifischen Vgl. hierfür die Kritik von Waldenfels an Husserl: »Doch eine einzige Lebenswelt, die den ersten Boden und letzten Horizont aller Erfahrung abgäbe […], hätte zur Folge, daß die Fremdheit […] auf eine vorläufige Form der Fremdheit oder Entfremdung reduziert würde. Fremdheit wäre kein Radikal, sondern ein Derivat. Die Verständigung zwischen Eigenheit und Fremdheit würde unterbaut von einer anfänglichen Eigenheit vor der Fremdheit, sie würde überhöht von einer möglichen Gemeinsamkeit jenseits von Eigenheit und Fremdheit.« (Waldenfels 1997, 79 f.)
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Weltbild der unhinterfragte und unhinterfragbare Boden aller menschlicher Verhaltungen. Differenzen innerhalb eines Weltbildes werden dabei stets – wenn überhaupt – als relative gedacht, nie aber als radikale. Eine Andersheit dieser Art tritt bei Wittgenstein nur zu Tage, wenn man mit Lebensformen, die nicht aus dem eigenen Kulturkreis, der Epoche oder dem religiösem Weltbild entstammen, konfrontiert wird. Nie jedoch tangiert dieses mögliche Nicht-Verstehen den Kern des eigenen Verständnisses und die eigenen Sinnbezüge. Inkompatibilitäten werden somit in die Sphäre der Bereiche zwischen den einzelnen Weltbildern ausgelagert, betreffen aber nicht das eigene Selbstverhältnis. Am Ende jedes Verstehens findet sich zwar eine Unmöglichkeit der theoretischen Letztbegründung, doch diese Einsicht erlaubt es weiterhin so zu handeln, dass keine weiterreichenden Konsequenzen gezogen werden müssen. Wie und ob sich Sinn konstituiert, wird dabei nicht näher bedacht. Hier klafft offensichtlich eine Lücke zwischen den Einsichten und den zu ziehenden Konsequenzen. Die von Wittgenstein selbst forcierte Trennung von Verstehbarem oder Sinnhaftem einerseits und Unverständlichem und Unzugänglichem andererseits stellt in gewisser Weise eine Erblast dar, die er aus dem Tractatus mitträgt. Dort wird von der Möglichkeit ausgegangen, eine »logische Klärung der Gedanken« (TLP 4.112) herbeiführen und eine strikte Grenze zwischen dem sinnvoll Sagbaren und schlicht Unsinnigen bzw. Unverständlichen ziehen zu können: »was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein« (TLP Vw). Auch wenn Wittgenstein in seinem Spätwerk das Nichtverständliche in keiner Weise diskrediert, wie er es noch in seinem ersten Text getan hat, 2 und auch keiner hermeneutischen Aneignungstendenz anheimfällt, sondern Andersheit anerkennt, lagert er diese aus dem vermeintlich gesicherten Bestand des jeweiligen Weltbildes aus. Wohl belässt er anderen Lebensformen und Denkstilen seine Alterität, doch diese Fremdheit verweilt stets jenseits des Eigenen. Mit der Inblicknahme der Uneinholbarkeit des Ursprung des Sprachspiels, aber auch mit der Einsicht in die Unvorhersehbarkeit des »Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen.« (TLP 4.003)
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regelgeleiteten Tuns wird von Wittgensteins Seite aus aber doch implizit einer Alterität Rechnung getragen, die nicht mehr als Exteriorität verstanden werden kann, sondern jedes Sprachspiel, jede Lebensform und jedes Weltbild in einer konstitutiven Weise durchzieht. Wenn das »Dass« des Sprachspiels, der Lebensform oder des Weltbilds nicht mehr in der Hand eines Einzelnen liegt, wird dem Ego seine Soveränität und Autonomie entzogen. Mit der Uneinholbarkeit der eigenen Abrichtung geraten die Partizipierenden selbst in die Sphäre des Nicht-Verstehbzw. Erklärbaren. Eine fein säuberlich trennbare Demarkationslinie zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen scheint damit nicht mehr haltbar zu sein; im Gegenteil: jeder Vollzug erweist sich unauflösbar mit alteritären Momenten durchzogen. Denn für Wittgenstein kann der vermeintliche Beginn eines Sprachspiels nicht als souveräne Tathandlung eines Ich begriffen werden, sondern gilt ihm als »Reaktion« (VE 115). Vor jeder bewussten Entscheidung bzw. intentionalen Bezugnahme des Subjekts, sich so oder so verhalten zu wollen, muss es auf einen Anspruch antworten und wird so seiner Souveränität und Autonomie beraubt. Wenn der »Ursprung des Sprachspiels« nicht als angebbarer Anfang gefasst werden kann, sondern vielmehr als Response verstanden werden muss, dann bleibt im Antworten auf die vor-ursprünglichen Vorgegebenheiten ein alteritärer Anspruch uneinholbar da, der alle weiteren Vollzüge mitbestimmt und durchwirkt. Diese responsive Differenz zwischen Anspruch und Antwort steht als konstitutives Moment zugleich am Anfang und am Ende jedes Sprachspiels. Das Sprachspiel beginnt somit nie bei einem Ausgangspunkt und erreicht daher auch keinen Abschluss. Ein Einholen der geschichtlichkulturellen Situiertheit bildet ein nicht einzulösendes Unterfangen, da das Ich sich über sein Abgerichtetsein in eine Lebensform erheben müsste, indem es den Ort, von dem aus es vernimmt, als beliebig austauschbaren Standpunkt deklarierte, was sich aber als undurchführbar herausstellt, da es in eins damit jede Verankerung und damit jede perspektivisch rückgebundene Bezugsmöglichkeit in einem Weltbild aufgäbe. Die geschichtliche und mundane Situiertheit – kurz die radikale Endlichkeit jedes Subjeks – kann nicht einfachhin negiert werden, weil das Ego sich aus der eigenen Faktizität in ein Nirgendwo verlieren würde. Das Angewiesensein auf die Abrichtung, mit der sich das Subjekt zur und in, niemals aber über der Welt vorfindet, birgt weitreichende Implikationen in sich. Vor jeder expliziten Bezugnahme auf sich selbst oder auf innerweltlich Seiendes wird es auf diesen Anspruch bereits A
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geantwortet haben müssen. Das Subjekt hinkt sich somit stets selbst hinterher. Das Antworten auf einen Anspruch vermag ihn nie restlos einzuholen; stets wird sich eine weitere Bezugnahme als möglich erweisen. Die Uneinholbarkeit der Faktizität erweist sich als Stachel, im Antworten immer wieder auf diese Abgründigkeit zurückkommen zu müssen, ohne dass dem Anspruch zur Gänze entsprochen werden könnte und damit alles gesagt wäre. Das alteritäre Moment ist somit nicht jenseits der Eigensphäre anzusiedeln, sondern jedes Sprachspiel, jede Lebensform und jedes Weltbild ist von einer Ver-Anderung durchzogen. An einem Sprachspiel oder Weltbild zu partizipieren, mitzusprechen, heißt dann, dass nicht ein Ich mit dem Sprechen anhebt, sondern ein alteritäres Moment von jeher an- und mitspricht. Jedes Verstehen bzw. jeder Sinn trägt uneinholbar einen Nicht-Sinn bzw. ein Nicht-Verstehen in sich. In diesem Entzug erweist sich jeder Sinn innerhalb von Sprachspielen, Lebensformen und Weltbildern als prekär. Sprache gilt als Austragung dieser Differenz respektive des Entzugs; ein Entzug, der nicht mehr als Mangel angesehen werden darf, sondern in seinem konstitutiven Moment lesbar gemacht werden muss. Wittgenstein unterlässt es in diesem Zusammenhang aber, auf die Uneinholbarkeit einer Vor-Vergangenheit näherhin einzugehen sowie auf die Implikationen einer Vor-Zukunft hinzuweisen. Wenn die Response auf einen je schon ergangenen Anspruch nicht als mechanischer Ablauf gefasst werden kann, sondern im Spielraum des Antwortens den Kategorien von richtig/falsch bzw. korrekt/inkorrekt unterliegt, geht das Subjekt im Antworten immer ein Wagnis ein, so und nicht anders fortzufahren, auch wenn die meisten regelgeleiteten Handlungen aus einer fraglosen Selbstverständlichkeit vollzogen werden. Nachdem es kein bereits vorliegendes Programm abspult, bleibt den Vollzügen stets ein Offenes eingeschrieben, das sich nicht als vorausberechenbar erweist. Obwohl es Wittgensteins Beispiele nicht nahelegen – der Wegweiser oder mathematische Exempla sind hierbei wohl zu harmlos –, kann mit dem herkömmlichen Regelfolgen und den tradierten Ordnungen in vielfältiger Weise gebrochen werden. Wittgenstein scheint das ethisch-politische Potential seiner Schriften – das Künftige als das unvorhersehbar Kommende zu sehen – nur beschränkt berücksichtigt zu haben. Das Wie des Antwortens muss über Wittgenstein hinaus immer auch als Ver-Antworten lesbar gemacht werden. 318
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Unklar bleibt in den Ausführungen Wittgensteins, was unter den aufs engste zusammenhängenden Grundworten »Abrichtung« und »Sprachgemeinschaft« zu verstehen ist. Die ins Treffen geführten Termini wie »Gepflogenheiten«, »Gebräuche« und »Institutionen« – letzteres wohl mehr im wörtlichen Sinne von »Unterweisen« bzw. »Einsetzen« denn im landläufigen politischen Sinne zu verstehen – bleiben merklich unterbestimmt und es lässt sich nicht ablesen, welche Konsequenzen sich hierin für die Subjektkonstitution ergeben, die sich nur in einer auflösbaren Verschränkung mit einer Gemeinschaft eruieren lässt. Die angezeigte geschichtliche Dimension der Gebräuche oder Gepflogenheiten, die immer schon Habitualitäten des Einzelnen übersteigen und somit nur aus einer je schon geteilten gemeinsamen Praxis zu verstehen sind, werden keiner weiter ausholenden Analyse unterzogen. Regelgeleitete Sprachhandlungen sind nach Wittgenstein nur aus einem sozialen Kontext verstehbar. Dennoch wird nicht erörtert, was Sozialität heißt und worin die Gemeinsamkeit einer Sprachgemeinschaft überhaupt besteht. Auch ein Großteil der Sekundärliteratur verschließt sich dieser Erörterung. Obwohl beispielsweise Malcolm gegen Baker und Hacker mit Nachdruck darauf hinweist, dass das Regelfolgen als »essentially social« (Malcolm 1995, 165) verstanden werden muss, wird nicht weiter gefragt, was »sozial« hier überhaupt bedeuten kann bzw. inwiefern Gemeinschaftlichkeit unauflösbar mit dem Subjekt verstrickt ist. Wittgensteins Verständnis von Gemeinschaftlichkeit scheint zwei Grundmodelle von Sozialität zurückzuweisen, denen es nicht gelingt, Gemeinschaft angemessen zu denken: die atomistische Vorstellung von Gesellschaft einerseits und die Verschmelzungsvorstellung der Gemeinschaft andererseits. Doch es stellt sich die Frage, wie ein Wir einer Sprachgemeinschaft näherhin umrissen werden kann, wenn sich diese weder auf einen nachträglichen Zusammenschluss von Individuen noch auf vorgegebene Eigenschaften reduzieren lässt. Im ersteren Fall resultiert die Einheit der Gesellschaft aus einer verspäteten Zusammenführung bereits konstituierter Subjekte unter einer bestimmten – etwa ökonomischen, juridischen etc. – Hinsicht. Die Eigenschaften und Werte des Ego werden zumeist unterschiedslos auf andere ausgeweitet, ohne dass die (äußerliche) Vergesellschaftung Rückwirkungen auf das Selbstverständnis des Subjekts ausüben könnte. Im zweiten Fall wird Gemeinschaft von bestimmten und von vornherein garantierten – territorialen, kulturellen, religiösen oder verwandtschaftlichen – ZuA
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gehörigkeiten her gedacht. Geographische oder ethnische Voraussetzungen bestimmen die Mitgliedschaft zu einer Gruppierung oder Nation. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, gehört nicht zu der angestrebten Identität und wird aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Wittgenstein entwindet sich in gewisser Weise beiden alternativen Zugängen, indem er aufzeigt, inwiefern sich jedes Subjekt in Lebensformen abgerichtet vorfindet und somit nie bei sich beginnt, sondern auf mannigfache Ansprüche antworten muss. Die erste Option, dass es sich bei Gemeinschaft um einen nachträglichen Zusammenschluss von bereits konstituierten Individuen handelt, wird somit eindeutig zurückgewiesen. Wittgenstein scheint sich auch gegen die zweite Variante des Gemeinschaftsdenkens zu verwehren, gleichwohl er immer noch mit den Kategorien der Interiorität und Exteriorität operiert. Dabei stellt er eine Pluralität von Weltbildern nicht in Abrede, sondern weist mit Nachdruck auf Mannigfaltigkeiten hin. Er zeigt in seinem Spätwerk auf, inwiefern Sprache stets in eine regelgeleitete Praxis einer Sprachgemeinschaft eingebettet ist, wobei dieser Gebrauch nicht als algorithmisierbarer Prozess zu begreifen ist, sondern sich stets im Spielraum des Offenen bewegt. Dabei könnte an ihn der Vorwurf eines Kollektivismus herangetragen werden: Das Ich bleibt beständig an den Kontext der Gemeinschaft rückgebunden. Wittgenstein geht nicht in vollem Umfang der Frage nach, inwiefern nicht nur jedes Ich, sondern auch jede Sozialität aus einer Responsivität verstanden werden muss. Die Gemeinschaft einer Lebensform müsste in ihrem prekären Status lesbar gemacht werden, da sie niemals auf einem objektiv gesicherten Fundament aufruht, sondern sich stets in mannigfachen Interaktionen und unterschiedlichen Vollzügen zu bewähren hat. Ein so verstandenes »performatives Wir« impliziert, wie Wellmer richtig gesehen hat, »in sich die Züge des ›nicht-wir‹« (Wellmer 1999, 76). Das Gemeinsame ist dann nicht dadurch ausgezeichnet, dass es in etwas mit anderen übereinkommt, sondern es wird vom offenen Austrag der Sprachpraktiken her bestimmt, sodass es nicht durch einen Besitz oder eine sonstige positive Identifikationsmöglichkeit die Grundlage bildet, sondern stets über sich hinausgetrieben wird, um diese Abgründigkeit in einer je unterschiedlichen Weise auszuloten. Der zuvor aufgewiesene prekäre Status des Sinns lässt sich somit nicht auf das Ich beschränken, sondern muss in seiner Sozialität lesbar gemacht werden. Ein frakturiertes Wir einer Sprachgemeinschaft fungiert nicht in einem angebbaren Grund der Übereinkunft, sondern das stets aus320
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zutragende Übereingekommen zeigt sich im Antworten auf Ansprüche und manifestiert sich dabei nicht in etwas, sondern im Entzug. Die Gemeinschaft ist damit nicht als ein Vorliegendes gegeben, sondern muss sich stets aufs Neue ausgestalten und bleibt so im Kommen. In Hinblick auf einen möglichen Kollektivismus-Vorwurf wird bei einer dezidierten Berücksichtigung der Wittgenstein’schen Schreibgesten der These nachgegangen, dass trotz der kontextuellen Rückgebundenheit an je schon geteilte Weltbilder und dem selbstverständlichen Folgen von Regeln auch das Zurechtfinden im Offenen und Fortschreiben der Sprachspiele propagiert wird. Dort wird nämlich keine Pluralität behauptet, sondern diese in einer performativen Weise ins Werk gesetzt, um jeden noch so subversiven Gestus des Dogmatischen durchzustreichen. Diese responsive Teilnahme an einem medialen – also weder aktiven noch passiven – Prozess bekundet sich nicht zuletzt im Schreibstil Wittgensteins: durch eine Vielheit an Stimmen bekommen die Lesenden keine dogmatische Sichtweise präsentiert, sondern müssen selbst auf Leerstellen Antworten erfinden und ihren fragilen Status der Identität anerkennen, so wie ein nicht abschließbares Wir und damit eine »negative« Gemeinschaft ins Werk gesetzt wird. * *
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Heidegger erörtert in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition die bei Aristoteles angelegte und seit dem Hellenismus vollends wirkmächtige Verengung der Sprache auf eine logisch-grammatische Betrachtungsweise. Sprache wird hierbei nur hinsichtlich ihrer Abkünftigkeit vom menschlichen Intellekt, dessen noetischer Bereich sich an den sprachtranszendenten Denkgesetzen der Logik orientiert, und von einer außersprachlichen Realität her betrachtet. Damit einhergehend vollzieht sich eine Reduktion der Sprache auf eine korrekte Wiedergabe von intelligiblen Einsichten und Tatbeständen der Wirklichkeit mittels des wahrheitsfähigen Aussagesatzes; andere Formen des Sprechens als der logos apophantikos bleiben dabei in der Folgezeit bei den sprachphilosophischen Diskussionen unberücksichtigt. Sprache fungiert fortan als fragliches Medium, das kaum den eineindeutigen Anforderungen der Logik gewachsen zu sein scheint. Sie gilt als eine stets nachträgliche Repräsentation von Bedeutungen, die sie selbst – als ausschließlich materielles Transportmittel – gerade nicht besitzt. Ihre Seinsweise wird somit auf den sinnlich vernehmbaren Bestand des Lautes oder des Buchstabens eingeengt und wie jedes andere Seiende A
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im Sinne einer Ontologie der Vorhandenheit als beständig Vorliegendes befragt. In dieser Reduktion auf eine repräsentativ-instrumentalistische Funktion, der keine eigene Seinsvalenz mehr zugebilligt werden kann, und in der ausschließlichen Inblicknahme des phonetisch-grammatischen Zeichengehalts wird Sprache nicht als sie selbst, sondern als eine der vielen Fertigkeiten des Menschen verstanden. In dieser anthropozentrischen Deutungsebene wird sie nicht nur auf den vernehmbaren Bestand begrenzt und als sekundäres Produkt des menschlichen Intellekts betrachtet, sondern auch die Uneinholbarkeit der Sprache vonseiten des Subjekts bleibt unberücksichtig, ebenso wie die reichhaltigen Formen der Sprache oder die in der Tradition als defizitäre Modi betrachteten Phänomene wie das Hören oder das Schweigen. In diesem Sinne fasst Heidegger das traditionelle Sprachverständnis prägnant zusammen: »1. Die Sprache wird in ein gesondertes Gegenstandsgebiet abgedrängt. 2. Die Sprache wird in einen Bereich abgedrängt, der nicht so umfassend scheint wie das formale Denken der Logik. 3. Die Sprache ist zweitrangig, sofern sie nur Ausdrucksmittel ist. 4. Die Erfassung der Sprache ist für uns durch die herrschende Logik vorgeformt.« (GA 38, 17) Eine Wiedergewinnung einer angemessenen Frage nach Sprache vollzieht sich nach Heideggers Dafürhalten aber nicht in einem geschichtsleeren Raum. Das gängige Verständnis von Sprache als bloßes Informationsmittel bleibt unausdrücklich an metaphysische Einsichten rückgebunden. Erst in Auseinandersetzung mit diesem ersten Anfang – die nicht mit einer Kritik oder Bemängelung gleichzusetzen ist, sondern auf (notwendig) Ungedachtes aufmerksam zu machen gedenkt – lassen sich neue Wege für ein zukünftiges und anderes Denken ausmachen. In der von Heidegger insbesondere in den 1930er und 1940er Jahren unternommenen Hinwendung zur Überlieferung verschafft sich das Denken den Freiraum von tradierten Auslegungstendenzen, der letztere in ihrer Selbstverständlichkeit fragwürdig werden lässt. Durch die geschichtliche Verortung wird ersichtlich, dass wir es nicht mit zeitenthobenen Grundsätzen, sondern mit geschichtlich Kontingentem zu tun haben, das weder immer so war noch stets in der Weise verstanden werden muss. Wie in der vorliegenden Arbeit angedeutet, finden sich in Heideggers Auseinandersetzung mit der Tradition nur wenige explizite Bezugnahmen auf klassische Sprachauffassungen wie etwa diejenigen von Aristoteles, Herder oder Humboldt, die mitunter in gedrängten 322
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Auslegungen nur holzschnittartig wiedergegeben werden. Mit einem gewissen Bedauern muss man dabei feststellen, dass die direkte Beschäftigung mit aktuelleren sprachphilosophischen Überlegungen, wie etwa semiologischen, strukturalistischen oder sprachanalytischen Ansätzen, vollends fehlt. 3 Heidegger kommt es – ungeachtet seiner bahnbrechenden Lektüren von Heraklit oder der wegweisenden Interpretationen von Aristoteles – jedoch nicht darauf an, die gesamte Geschichte der metaphysischen Sprachphilosophie nachzuzeichnen oder eine erschöpfende Interpretation auch nur einzelner Denker oder ausgewählter Texte anzustellen, sondern es geht ihm offensichtlich darum, die wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Fragerichtungen der traditionellen Einsichten in ihrer Gesamtheit offen zu legen. Die hier forcierte »positive« Lektüre, Heideggers Einsichten in das Phänomen Sprache als ein responsiv verstandenes Gespräch in den Blick zu nehmen, kulminiert in folgendem – erst Anfang der 1970er Jahre angebrachten – klärenden Zusatz: »Der Satz ›Die Sprache spricht‹ […] ist nur halb gedacht, solange der folgende Sachverhalt übersehen wird: Um auf ihre Weise zu sprechen, braucht, d. h. benötigt die Sprache das menschliche Sprechen, das seinerseits gebraucht, d. h. verwendet ist für die Sprache in der Weise des Entsprechens […].« (GA 75, 201) Damit erläutert Heidegger den in Unterwegs zur Sprache wiederholt angeführten, jedoch auch immer wieder missverstandenen Leitsatz »Die Sprache spricht« (GA 12, 10). 4 Hierin wird deutlich, dass das Sprechen nicht auf den Menschen zurückgeführt werden kann, aber auch nicht einer absolutistischen Hypostasierung der Sprache das Wort geredet wird. Sprache und Mensch »brauchen« einander und gehen aus diesem Zu- als Entsprechungsgeschehnis hervor. Dieses verschränkte Geschehnis ist, wie die Fortsetzung des Zitats in Rekurs auf Hölderlins Abgrenzung vom Deutschen Idealismus kenntlich macht, Auf diese Aussparungen hinweisend geht Thomä mit Heidegger scharf ins Gericht: »Hier ist nicht der Raum, konkurrierende Sprachtheorien, die Heidegger ausgespart oder gar nicht gekannt hat, zu Vergleichszwecken erst noch darzustellen […]; so muß man sich damit begnügen, Heideggers massive Kritik an Fehldeutungen der Sprache als Selbstbestätigung seiner Metaphysik- […] und Subjektkritik […] zur Kenntnis zu nehmen.« (Thomä 2003b, 310) 4 Heidegger führt diesen provokanten Leitsatz im Aufsatz »Die Sprache« rund ein Dutzend Mal an und geht auch unterschiedlichen Betonungen nach, um dessen Tragweite und Unerhörtheit auszuloten: »Die Sprache spricht. Dies heißt zugleich und zuvor: Die Sprache spricht. Die Sprache? Und nicht der Mensch?« (GA 12, 19) 3
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nicht als eine dialektische Synthesis zu interpretieren, sondern muss in seiner Asymmetrie gelesen werden. Dem abgründigen Verhältnis, das weder auf eines der Relata als Aus- oder Endpunkt respektive Grund zurückgeführt werden kann, bleibt ein Hiatus eingeschrieben: »Das Eigentümliche des hierbei waltenden, doppeldeutigen Brauchens wäre verkannt, wollte man es, was nahe liegt, auf das leere Spiel eines wechselseitigen Vermittelns einebnen. Insofern Hölderlin dichtend das Verhältnis der Mittelbarkeit denkt, bleibt sein Gedachtes durch einen Abgrund von der absoluten Dialektik Hegels und Schellings getrennt. ›Das Höchste‹ ist nicht das Absolute, sondern die ›strenge Mittelbarkeit‹, d. h. die Endlichkeit.« (GA 75, 201) Neben dieser dezidierten Berücksichtigung der »strengen Mittelbarkeit« im Sinne einer radikalen Endlichkeit, die in keine versöhnende Harmonie überführt wird, lässt sich bei Heidegger auch eine andere Tendenz ausmachen. Er betont an verschiedenen Stellen, dass dieser Zuspruch nicht nur bewahrt und behütet, sondern zugelassen werden muss. Es stellt sich in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, ob ein mögliches »Sicheinlassen« (vgl. GA 77, 118) in das, was Gelassenheit genannt wird, wenn nicht als Können so doch als ein Vermögen verstanden wird. Denn einerseits möchte sich Heidegger der Dichotomie von Aktivität und Passivität und somit sowohl der Konzeption eines souveränen Subjekts als auch eines rein passiven Verständnis des Menschen entwinden, andererseits suggeriert ein in diesem Sinne erörtertes Lassen so etwas wie eine Fähigkeit, die dem responsiven Charakter in seiner pathischen Dimension nicht vollends gerecht wird. Wenn Erfahrungen auf Widerfahrnissen beruhen, die uns ohne eigenes Zutun zustoßen und uns dabei auch aus dem Tritt bringen können, sodass uns mitunter Hören und Sehen vergeht, ist die Offenheit des Menschen keine einräumend-gewährende, sondern in seiner stets möglichen Verletzbarkeit eine radikalere, da unberechenbare Offenheit, die nicht von einem Zulassen her verstanden werden kann. 5 Auch Neben Waldenfels streicht auch Tengelyi dieses pathische Moment der Erfahrung heraus: »Denn von ›Erfahren‹ im eigentlichen Sinne des Wortes kann nur dort die Rede sein, wo etwas Neues, Unvorhergesehenes, Unverhofftes und letztlich Überraschendes ins Bewußtsein tritt. Etwas, das sich auch gegen etwaige vorgefaßte, im jeweiligen Bewußtsein gegebene Erwartungen durchzusetzen weiß und somit nicht auf das Bewußtsein zurückgeführt werden kann. Vielmehr deutet es auf eine Bruch- oder Rißstelle im Bewußtsein hin.« (Tengelyi 2007, xi f.) Stärker als Tengelyi möchte ich jedoch auf das Widerfahrnis in seiner subjektkonstitutiven Dimension aufmerksam machen. Es geht
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wenn Heidegger explizit Assoziationen mit einer aristotelisch verstandenen hexis und damit jedes Einnehmen einer Haltung zurückweist (vgl. GA 77, 144), geraten seine Ausführungen in die Nähe dieser Tradition. Eine von Widerfahrnissen durchkreuzbare Offenheit ist weder durch ein Warten noch durch ein Verhalten gekennzeichnet, darüber hinaus ist nicht klar, ob und wie sie aus Erfahrungen hervorgehen wird. Aufgrund dieser Vulnerabilität sind wir immer wieder gefordert, auf und in unvorhersehbare Situationen – in der wir nicht mehr Herr der Lage sind – eine Antwort zu (er-)finden. Ob und wie es uns gelingt, überhaupt eine Antwort zu finden, wird sich stets nachträglich herausgestellt haben. Gleichwohl müssen wir hic et nunc stets mit dem Unmöglichen rechnen. 6 Das Dass als Antwortenmüssen zeigt sich im Angesprochenwerden in einer unausweichlichen Notwendigkeit; wie jedoch geantwortet wird, bricht im (Er-)Finden der Antwort auf, in dessen Wagnis erst das Angesprochensein vernehmbar wird. Eindringlich bedenkt Waldenfels die Diachronie und Diastase der Responsivität, die keine Aufhebung der Brüche mehr erlaubt: »Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage. […] Dieses Antworten ist also ganz und gar vom Getroffensein her zu denken, in der Nachträglichkeit eines Tuns, das nicht bei sich selbst, sondern beim anderen beginnt […]. Diese Verzögerung läßt sich niemals aufholen; nicht primär um das empirische Faktum einer »außerordentlichen« Erfahrung, sondern um die stete Möglichkeit, von Widerfahrnissen durchkreuzt zu werden. Man könnte hier – in einem nicht psychopathologischen Sinne – von einem »Trauma des Traumas« sprechen, d h. dem Trauma, dass es überhaupt Traumen geben kann. 6 Hierin erweist sich auch die Notwendigkeit, sich auf eine »Grammatik« der Vorzukünftigkeit zu beziehen, von der Derrida bereits in der Grammatologie schreibt: »Für diese Welt im Kommen [à venir] und für das, was die Werte von Zeichen, Wort und Schrift in ihr erschüttert haben wird [aura fait trembler], für das, was hier unsere Vorzukunft [futur antérieur] leitet, gibt es noch keine Inschrift [il n’est pas encore d’exergue].« (Derrida 1974, 15; Übers. mod.) In unserem Sprachgebrauch scheint das futur antérieur (als grammatikalische Kategorie) stets einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt zu benennen, an dem und von dem an das zunächst als zukünftig Ausgesagte selbst zu einem Präsens bzw. einer Vergangenheit würde. Die Derrida’schen Formulierungen der Vorzukünftigkeit insistieren jedoch laut Zeillinger in einer philosophischen Lektüre darauf, dass dasjenige, was in der Zukunft liegt, die Gegenwart bereits durchzieht, die so immer schon auf Zukunft hin aufgerissen ist. Damit geht die ethisch-politische Forderung einher, sich hic et nunc wagnishaft auf diese Künftigkeit hin ausgerichtet zu engagieren, ohne Gewissheit über das Gelingen dieses Vollzugs zu haben (vgl. Zeillinger 2006, bes. 191 ff.). A
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um sie aufzuholen, müßte ich mein eigenes ›Vor-Sein‹ aufholen, obwohl dieses unauflöslich mit fremden Einwirkungen verquickt ist.« (Waldenfels 2002, 59) 7 Das »dia-chrone« und »dia-statische« Moment verweist somit nicht nur auf eine »vor-ursprüngliche« Vergangenheit, sondern zugleich auf eine »Vorzukünftigkeit«, deren Stachel ein Engagement als notwendiges lesbar macht. Es kann nicht nicht geantwortet werden; selbst ein Verweigern der Antwort wäre in dieser Lesart immer noch eine Antwort. Menschsein heißt nichts anderes, als diesen Vorgaben und Ansprüchen aufgrund der eigenen Faktizität antworten zu müssen. Niemand fängt mit sich an, stets findet man sich in Geschichten verstrickt vor, deren Erbe – in welcher Weise auch immer – übernommen werden muss. Die (Er-)Findung der Antwort impliziert dabei eine Übernahme an Ver-Antwortung. Hier kommt nicht nur das »Paradox einer kreativen Antwort« ins Spiel, bei der »[w]ir erfinden, was wir antworten, nicht aber das, worauf wir antworten« (Waldenfels 2006, 67), sondern auch eine ethische Dimension der Responsivität, indem das Wie des Antwortens der Responsabilität des sich hierin konstituierenden Respondenten unterliegt. Eine Verantwortlichkeit, die Heidegger zwar mitunter erwähnt, indem er auf die »Verantwortung der Antwort« (GA 71, 155) hinweist, ohne jedoch weiterführende ethische oder politische Konsequenzen zu ziehen. Es stellt sich die Frage, warum Heidegger die Unausweichlichkeit des Antwortens nicht dezidiert mit ethischen Überlegungen des Verantwortens zusammenbringt. Eine ethische Dimension freilich, die weniger mit einem Heimischwerden in Verbindung zu bringen ist. Obwohl im Humanismusbrief von einer »ursprüngliche[n] Ethik« (GA 9, 356) die Rede ist, beschränkt sich diese auf den Aufenthaltsort – griechisch to ethos – in der Versammlung des Seins, ohne hierin den Bezug zur Alterität in seiner Abgründigkeit weiter zu bedenken. Auf diese chiasmatische Verschränkung von Responsivität und Responsabilität macht Mersch aufmerksam, indem jedem Sprechen ein Bezug zur Alterität eingeschrieben ist, das im Vorhinein ethische Implikationen mit sich führt: »Vermöge der Struktur des Anrufs ist die Sprache bereits vorgängig an den Ort des Anderen versetzt. Er birgt den Appell zu ›ant-worten‹, selbst da, wo er schweigend hingenommen und eine adäquate Antwort verweigert oder nicht gegeben Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Bedorf zur verkennenden Anerkennung (Bedorf 2010, bes. 144 f.).
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werden kann. Der Appell meint darum keinen Zwang, sondern ein Ersuchen, das nicht das Gesicht einer normativen Verpflichtung trägt, sondern eines Verlangens, das im wörtlichen Sinn nach einer ›Ver-Antwortung‹ verlangt: […] Mein Sprechen erfährt sich überall schon als ein anderes, d. h. von der Frage des Anderen affiziert und durchdrungen, selbst dort, wo ich kein Gegenüber habe.« (Mersch 2010, 253) Das Zu- als Entsprechen im Gesprächs wird bei Heidegger jedoch nicht aus einem »hiatischen Als« bedacht, sondern aus einer möglichen (und erwarteten) Versammlung. In dieser herrscht die Kategorie der Identität, die stets in der Lage ist, Differenzen zu versöhnen oder zumindest ihre Abkünftigkeit deutlich zu machen: »Ver-sammlung ist das ursprüngliche Einbehalten in einer Gesammeltheit, welches Einbehalten erst alles Ausholen und Einholen bestimmt, aber auch alle Verstreuung und Zerstreuung erst zuläßt.« (GA 55, 269) Die Differenz, die zwischen dem Logos qua Zuspruch des Seins und dem logos des menschlichen Entsprechens waltet, wird im homo-logischen Bezug als eine Gleichheit in Aussicht gestellt. »Die Weise, wie der Mensch sich sammelt auf die Versammlung, ist anders als die Weise, wie der Logos in sich die Ver-sammlung ist; die Verschiedenheit ermöglicht eine Gleichheit des legein, das in sich dabei, bei dieser Verschiedenheit, denselben Logos angeht.« (GA 55, 280) Das konstitutive Moment des Entzugs und das stets mögliche Scheitern werden dabei nicht im vollen Umfang ernst genommen, da eine Unversöhnlichkeit zugunsten eines möglichen Heimischwerdens in der Versammlung eine Befriedung erfährt. Diese Tendenz der Harmonisierung durchzieht auch andernorts wesentliche Bereiche des Denkens Heideggers. Gespräch und Geschichte beruhen gleichermaßen auf der homologischen Versammlung und verkennen den Stachel der Alterität. Das Sicheinfinden im Eigenen vollzieht sich seiner Auffassung nach erst in der »Auseinandersetzung mit der Fremde« (GA 53, 67). Das Eigene wäre zwar nicht etwas, worin man sich als Eigenes immer schon befindet, oder etwas, das man gar im Vorhinein bereits besitzt, sondern dorthin ist man immer über das Fremde unterwegs. Dabei muss das Fremde als Fremdes anerkannt werden, um ins Eigene zu gelangen. Für Heidegger ist in der Dichtung Hölderlins die Möglichkeit angelegt, sich auf die Geschichtlichkeit eigens zu besinnen und ein künftiges Selbstverständnis zu artikulieren. Die hier von Heidegger angesprochene Auseinandersetzung meint nun nicht eine herrschaftliche Adaption im Sinne einer Auflösung des A
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Fremden im Eigenen. Vielmehr muss das Fremde als Fremdes erfahren werden, um das Eigene zu gewinnen: »Denn erst dort, wo das Fremde in seiner wesenhaften Gegensätzlichkeit erkannt und anerkannt ist, besteht die Möglichkeit der echten Beziehung, und d. h. der Einigung, die nicht wirre Vermischung, sondern fügende Unterscheidung ist. Wo es dagegen nur dabei bleibt, das Fremde zurückzuweisen oder gar zu vernichten, geht notwendig die Möglichkeit des Durchgangs durch das Fremde und damit die Möglichkeit der Heimkehr ins Eigene und damit dieses selbst verloren.« (GA 53, 67 f.) Zwar betont Heidegger in seinen vielschichtigen Auseinandersetzungen mit Hölderlin, 8 dass sich der Prozess des »Heimischwerden[s] im Eigenen« (GA 53, 60) entlang einer Zwiesprache mit dem Fremden, »damit am Fremden das Eigene zu leuchten beginnt« (GA 52, 175), vollzieht; in diesem notwendigen »Durchgang durch das Fremde« (GA 53, 60) als möglichem Sichselbstgewinnen kann jedoch gerade ein »Verkennen des Anderen« gesehen werden. Auch wenn er jedweder Vereinnahmung oder Instrumentalisierung des Fremden Vorschub leistet und das dem Anderen Ausgesetzsein als konstitutiv für das Eigene betrachtet, fungiert hier Alterität nicht als unabweisbare Beunruhigung, die jede Befriedung und jedes Zusichkommen verunmöglicht, sondern lediglich als notwendiges Durchgangsstadium in einer Heimkehr zu sich. In diesem Zusammenhang muss die kritische Rückfrage Derridas, die er in Marx’ Gespenster an Heidegger adressiert, ernst genommen werden, da sie auf einen entscheidenden Gestus des Heidegger’schen Denkens aufmerksam machen: »Führt Heidegger nicht, wie immer, die Dissymmetrie ein zugunsten dessen, was er tatsächlich als die Möglichkeit der Gunst selbst interpretiert, der gewährenden Gunst, das heißt des Einklangs, der versammelt oder aufnimmt, indem er harmonisiert (Versammlung, Fug), und sei es in der Selbigkeit von Unterscheidenden (différents) oder zu Unterscheidenden (différends) und vor der Synthese eines Systems?« (Derrida 2004, 46) Von dieser Warte aus muss nicht nur die zwar im Spätwerk zurückgetretene, aber mitunter auftauchende Distinktion von Eigentlichkeit und Uneigentlich8 Trawny macht in seiner umfangreichen Studie Heidegger und Hölderlin (vgl. Trawny 2004, 85 ff.), die sich in das Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden einschreibt, darauf aufmerksam, dass sich bei Heidegger über ein halbes Dutzend Bezugnahmen auf den berühmten ersten Böhlendorff-Brief finden. Dort betont Hölderlin, dass »der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist« (Hölderlin 1998b, 913).
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keit problematisiert, sondern auch eine den Heidegger’schen Ausführungen inhärente Telelogie des Geschichtsdenken kritisch in den Blick genommen werden. Gerade in seiner Lektüre von Hölderlins »Vaterländischer Umkehr« stechen Hegel’sche Restbestände einer versöhnlichen Dialektik und einer reziproken Anerkennung ins Auge: »Wenn das Heimischwerden eines Menschentums die Geschichtlichkeit seiner Geschichte trägt, dann ist das Gesetz der Auseinandersetzung des Fremden und des Eigenen die Grundwahrheit der Geschichte, aus welcher Wahrheit sich das Wesen der Geschichte enthüllt.« (GA 53, 60 f.) Im gesamten Themenkomplex des »Mitseins« – das Heidegger in einer höchst auffälligen Weise aus seinen Erörterungen in Unterwegs zur Sprache ausspart – tritt Gemeinschaft stets als eine durch die Geschichte aufgegebene Einheit des Eigenen auf, ohne dass die Alterität als Alterität bedacht wird. Das Fremde wird als dieses oder jenes identifiziert und damit in die Exteriorität verbannt: »Was für die Griechen ihr Eigenes, ist für die Deutschen das Fremde; und was den Deutschen das Fremde, ist den Griechen ihr Eigenes.« (GA 53, 154) Das Moment der Alterität muss jedoch nicht nur in einer groß angelegten seinsgeschichtlichen Perspektive verortet werden, es tritt auch im zwischenmenschlichen Gespräch als konstitutiver Riss auf, in dem sich die Differenzen immer auch als fruchtbar herausstellen können; genauso ist es möglich, dass sich dieser Hiatus als unproduktiv oder sinnlos entpuppt. Diese Prekarität zeichnet Sprache aus. Der waltende Abgrund – der Stachel der Differenz – fungiert als entzogene Mitte der Sprache: Wäre alles gesagt, gäbe es keine Reibungsflächen oder unterschiedlichen Hinsichten mehr, müsste nicht mehr gesprochen werden. Das Spiel der Sprache wäre mit dem Einebnen der Differenzen selbst zum Erliegen gebracht und damit hinfällig. 9 Mit Nachdruck insistiert Espinet auf den produktiven Stachel, gerade im Gespräch nicht übereinzukommen und sich in keiner Horizontverschmelzung einzufinden: »Nicht nur ist es so, daß Gespräche faktisch immer auch mißlingen können – ähnliches gilt für Funktionszusammenhänge ebenfalls, die ja auch zuweilen entgleisen –, sondern es bedarf schon einer gewissen Distanz zum Anderen, damit ein Gespräch zustande kommen kann: Unterschiedliche Positionen, Reibungsflächen, auch Mißverständnisse, unkalkulierbare Entwicklungen, Fragen, Erwartungen – kurz Differenzen aller Art – sind dem Spiel von Reden und Hören wesentlich. Wer diese Differenz ausschaltet – im Sinne reibungsloser Kommunikation standardisierter Sprechakte, die in einem ganz und gar durchsichtigen Bedeutungszusammenhang vollzogen werden, in welchem man auf sie wie auf Vorhandenes beliebig oft zurückgreifen kann –, der wird zwar Wortabtausch erhalten wie den Funkverkehr zwischen Piloten und Lotsen, aber kein Gespräch.« (Espinet 2009, 99 f.)
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Dieser unumgängliche und konstituierende Entzug muss im Austrag der Sprache stets aufs Neue aufbrechen und beinhaltet so weitreichende Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis: Sprache erweist sich als eine unumgängliche Gabe, die nie vollends, d. h. vergegenständlichend, in den menschlichen Verfügungsbereich überzuführen ist und so stets als Ganzes entzogen bleibt. 10 Es zeigt sich in ihr ein uneinholbarer und unabschließbarer Abgrund in der innersten Proprietät des Menschseins, das immer schon durch die sprachliche Unverfügbarkeit eines (vor)ursprünglichen Außer-sich-seins geprägt ist, deren Kluft auch im Nachhinein nicht gekittet werden kann. Wie sich aus der Besinnung auf Sprache zeigt, besagt Menschsein gerade ein vorgängiges Hinausgehaltenwerden und beinhaltet stets einen verhältnishaften Bezug zu einer die eigene Identität konstituierenden Alterität. 11 Diese Bruchstelle markiert nun nicht nur das »defiziente Weltverhältnis des Menschen« (Günther 2001, 90), sondern gewährt als alles eröffnender Aufriss das Menschsein überhaupt, in der aber auch die Endlichkeit und die Rückgebundenheit an die geschichtliche und sprachspielkontextuelle Faktizität vernehmbar wird. Die Gabe der Sprache wird hier wohl weniger als frei verfügbares donum (das man annehmen kann oder nicht), denn mehr als je schon vereignetes munus verstanden werden müssen, in dem die Bedeutungen von donum, officium und onus oszillieren (vgl. Esposito 2004, 11–19), und dem folglich auch eine Verpflichtung mitgegeben ist, deren Verbindlichkeit man sich nicht entziehen kann und auf die man immer schon geantwortet haben wird. Inwiefern diese Ek-sistenz, deren Innerstes stets von einem Anderen durchzogen bleibt, es uns erlaubt und uns nötigt, das Menschsein immer schon als Ko-Ek-sistenz mit anderen und damit als so etwas wie eine Communitas zu denken, deren Anklänge in Heideggers Diktion einer Gemeinschaft der Sterblichen 12 und Wittgensteins An dieser Stelle drängt sich einmal mehr der Bezug zum Denken Derridas auf: »Wir sind in unserem Bezug zur Sprache, zum Beispiel zu den so genannten natürlichen und Mutter-Sprachen, den Idiomen, von vornherein in einen Bezug eingebunden, der dazu verpflichtet, die Gabe zu denken […].« (Derrida 1993, 107) 11 Provokanter formuliert es Esposito: »Das Leck, das Trauma, die Lücke, von der wir stammen: nicht der Ursprung, sondern dessen Fehlen, sein Rückzug. Das ursprüngliche munus, das uns in unserer sterblichen Endlichkeit konstituiert und destituiert.« (Esposito 2004, 19) Und weiter: »Subjekt, das dem eigenen ›Nicht‹ unterworfen ist, und das heißt einer Uneigenheit, die viel eigener als jede Eigenschaft ist.« (Esposito 2004, 132) 12 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Heidegger die Sterblichen fast ausnahmslos im Plural anführt. Diese Wortwahl erinnert stark an die brotoi bzw. thnetoi Xenopha10
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Rückgriff auf eine soziale Praxis deutlich widerhallen, muss hier offen gelassen und andernorts entfaltet werden. * *
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In den Erörterungen zu Wittgenstein und Heidegger wurde zu zeigen versucht, dass die Frage nach der Sprache keine unter anderen ist, da sie sich nie auf ein Gegenstandsgebiet einschränken lässt und somit nie den Status eines vorliegenden Objekts erhält. Hierfür muss das angestammte Terrain einer Ontologie der Vorhandenheit verlassen werden, um Sprache in ihrer Vollzugsdimension zu bedenken. Sowohl Wittgensteins Verständnis des Sprachspiels als auch Heideggers Berücksichtigung des Gesprächs machen Sprache als ein komplexes Zu- und Entsprechungsgeschehnis lesbar, dessen »Anfang« sich in einer merkwürdigen Weise entzieht. Dieser Entzug führt weitreichende Implikationen mit sich, da klassisch metaphysische Begründungsfiguren nicht mehr greifen. Vor dem Hintergrund einer Phänomenologie der Responsivität wurden mögliche Konsequenzen für Fragen nach der Konstitution des Subjekts, der Stiftung von Gemeinschaft und der Gegebenheit von Welt artikuliert: Beide Denker grenzen sich gleichermaßen von kontraktualistischen Konzeptionen der Sprache ab. Besonders Wittgenstein versteht es, eindringlich deutlich zu machen, dass sich jedes Subjekt als Teil einer Sprachgemeinschaft erfährt, in der die Sprache als ein komplexes und kulturell sowie historisch kontingentes Netz von Regeln je schon etabliert ist. Sprachliche Ausdrücke können nicht dadurch erklärt werden, dass man auf die Verbindung von Verlautbarung mit (sprachnackten) Vorstellungen des Subjekts oder (außersprachlichen) Elementen der Realität rekurriert. Vielmehr ist – wie Heidegger mit Nachdruck hervorhebt – sowohl Denken als auch Welt sprachlich gegeben. Seine Besinnung auf das Phänomen Sprache versucht in vielfältiger Weise dieser Vor-Gabe eingedenk zu sein. Kraft der Sprache als Zunes’ (vgl. B 18), die in Heraklits Fragmenten, nicht zuletzt im Wortspiel von epesthai to xyno (dem Gemeinsamen folgen) bzw. xyniemi (zusammenbringen) und axynetos (einer, der es nicht zusammenbringt) widerhallen, in denen nicht nur auf ein je schon Übereingekommensein in einem Gemeinsamen (zynos) hingewiesen wird, sondern nach der erhellenden Auslegung von Günther auch darauf aufmerksam gemacht wird, dass »der Mensch wesenhaft axynetos ›ohne volle Gemeinschaft mit seinem Gegenüber‹, apeiros, ›nie am Ende in seinem Durchgang durch die Welt‹ ist« (Günther 2001, 72). A
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und Entsprechungsgeschehnis geht dem Angesprochenen eine geschichtliche Welt auf, in der Seiendes so oder so verstanden werden kann. Damit wird vonseiten Wittgensteins und Heideggers einem spezifisch »holistischen« Verständnis von Sprache das Wort geredet. Es gibt für beide Denker kein Außerhalb der Sprache, stets wird sie sich mitgesagt haben, wenn sich Etwas zeigt oder zu verstehen gibt. Nicht jedoch wird sie selbst als ein Etwas in die Präsenz überzuführen sein. Erschlossen ist einem responsiven Subjekt nicht bloß Vereinzeltes, das nachträglich zusammengeführt werden müsste, sondern stets eine Vielfalt von Zusammenhängen. Diese Einsicht wird bei Wittgenstein nicht nur über die Inblicknahme der Weltbilder als ein Knäuel von Sätzen, sondern auch in einer »strukturalen« Lektüre von Heideggers Geviert deutlich zu machen versucht. Sprache – nunmehr als komplexes Geflecht verstanden, das ein mögliches Selbstverständnis und die Gegebenheit von Welt allererst gewährt – unterbindet eine Rückführung auf ein souveränes Subjekt. Hierin zeigt sich nicht nur, dass das Subjekt nicht mehr als Bezugsmitte fungiert, sondern dass eine solipsistische Konzeption sich als unmöglich erweist. In der Sprache ist das Subjekt immer schon beim Anderen, auf dessen Anspruch es zu antworten hat. Diese Besinnung von Sprache eröffnet die Möglichkeit, nach einer ethischen Dimension zu fragen; eine Ethik freilich, über die kein »transzendentales« Subjekt verfügen kann, sondern die als konstitutives Moment für Subjektivität waltet und immer schon dem Anderen verpflichtet ist, da sie diese Alterität nie abzuschütteln vermag. Kritische Rückfragen müssen an beide Denker jedoch hinsichtlich einer möglichen Inblicknahme dieses ethischen respektive politischen Aspekts gerichtet werden. Hierin liegt das noch unausgeschöpfte Potential beider Ansätze. 13 In einem dritten und abschließenden Teil sollen nun Wittgensteins und Heideggers »Stil« genauer erörtert werden, um dort nicht nur ihr Sprechen »über«, sondern ihr zeugen »von« der Sprache zu Wort kommen zu lassen. Ihre Texte, die sich gegen die reibungslose Einordnung in die gängige philosophische Literatur sperren, bewegen sich stets im Bereich des Offenen, um sich auf die Bewegtheit der Sprache einzulasIn meinem Habilitationsprojekt Konzeptionen der Inter-Subjektivität und Gemeinschaft in der klassischen und nachklassischen Phänomenologie werde ich mich eingehender dieser Problematik widmen.
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sen, die sich nicht auf den propositionalen Gehalt des Aussagesatzes oder auf die Tätigkeit eines dahinterstehenden Subjekts zurückführen lässt. Nachdrücklich wird dies bei Heidegger im Modus des Vielleicht 14 , des Konjunktivs oder etwa der Frageform angezeigt, um dem freien Walten der Sprache insbesondere im nicht reglementierbaren Anspruch des Gesprächs – in dem die Gesprächsteilnehmer nicht die Gleichen bleiben, sondern unterwegs sind – nachzukommen. Zusätzliche Möglichkeiten könnten im tautologischen Sprechen 15 und in den Überlegungen zum Über-setzen aufgespürt werden. 16 Sprache erweist 14 Zeillinger hat bereits nachdrücklich auf den »performativen Modus des Vielleicht« (Zeillinger 2003, 192) in den späten Texten Derridas hingewiesen, der noch ausgeprägter als in den Schriften Heideggers die Tonart der Texte bestimmt. Obwohl – vielleicht – das Attribut des »Performativen« abgeschwächt werden müsste (denn wer vollzieht hier was?), unterscheidet Zeillinger mit Derrida zwischen »vielleicht«/»perhaps«, in das ein offener Bezug zum Kommenden eingeschrieben ist, einerseits und »peut-être«/»maybe«, in dem sich eine mögliche und somit berechenbare Zukunft ausdrückt, andererseits. So führt Derrida in einem auf Englisch geführten Gespräch mit García Düttmann Folgendes aus: »The hypothesis I hand over to you is that with maybe you have a relation to the future, to possibility, to something possible which may occur or not occur, which nevertheless includes a reference to being – ›it may be or not‹ – and with this reference to being you have a number of philosophical, ethical, and political consequences […]. Whereas in perhaps or perchance the reference to the event, to what happens, is more obvious. And then we would have to address the question of what an event means, what the happening of an event means in terms of perhaps rather than maybe. […] I would distinguish between the future and what is to come. The future means something which will be or shall be or should be, which will be present tomorrow. When I define a future I define something which will happen, which is supposed to happen, but in order to be, tomorrow or after tomorrow, present as such. The essence of the future is an essential relation to being, to being present. ›It will be present in a moment‹, ›It will be present tonight or tomorrow or in the next millennium‹, but in the form of the present. Whereas the event as such, that is, what is to come [à-venir, venire], does not necessarily come under the form of something present, is not something which would fall under the ontological category of being present.« (Derrida 1997b, 2) 15 Das Thema der Tautologie bei Heidegger wurde in den letzten Jahren verstärkt rezipiert: Courtine (1993) sieht Heideggers Verständnis von Phänomenologie an die Tautologie geknüpft. Grotz (2000), auf den in dieser Arbeit öfters hingewiesen wird und dessen Ausführungen schon allein aufgrund der umfangreichen Textkenntnis bestechen, setzt sich mit dem tautologischen Sprechen von Heidegger und Jakobson auseinander. Bassler (2001) widmet sich im Rahmen der Tautologie vornehmlich der Rezeption Parmenides’ in Heideggers Spätwerk. 16 Die Problematik des Übersetzens wird, nicht zuletzt durch die verstärkte Rezeption dieser Thematik bei Benjamin durch Derrida, auch in der Heidegger-Forschung kontrovers diskutiert. Zu nennen sind hier die Ausführungen von von Herrmann (1992), Emad (1993), Gondek (1997), Heidbrink (1997), De Gennaro (2001, 62–76) und Sallis (2005).
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sich hier einmal mehr nicht als starres und nachgeordnetes Repräsentationsinstrumentarium, sondern als jedes Bedeutungsgeschehen eröffnende Medialität, die nie eingeholt, aber in der von Heidegger gewählten Weise des Sagens angezeigt werden kann. Das notwendig Ungesagte, von dem er an mehreren Stellen spricht, ereignet sich im Gesagten – nicht dahinter oder daneben –, sodass sich im Sagen stets ein Mehr als das Gesagte mitsagt, das aber zugleich immer auch ein Weniger ist. Aus dieser Leerstelle werden sämtliche Möglichkeiten freigegeben, wiewohl das Ungesagte stets auf das Sagen verwiesen bleibt. Heideggers Schreiben von Gesprächen, in denen ein exzentrischer Versuch erblickt werden kann, dem responsiven Sprachereignis nachzukommen, bewegt sich wohl in traditionelleren Bahnen, als er es sich selbst zugestehen möchte. Abgründiger ist die polyphone Weise des Schreibens in Wittgensteins je nach Zusammenhang und Lesart sich kaleidoskopartig ändernden Bemerkungen gegeben. Die Freiräume im Gesagten werden in der Albumform der Philosophischen Untersuchungen weit stärker offen gehalten und gewähren kontextuell variable Anknüpfungsmöglichkeiten der Lektüreweise, worin die Produktivität dieser Zwischenräume nachhaltig vernehmbar wird. Dies zeigt sich nicht nur in der offenen Struktur von Wittgensteins schillernden Bildern, überraschenden Gleichnissen und hypothetischen Entwürfen, sondern vor allem im Verzicht auf jede auktoriale Sprecherinstanz, der eine Lektüre immer wieder auf den vielstimmigen Text selbst und seine Unabschließbarkeit und nicht etwa auf eine herauspräparierbare Autorintention lenkt.
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Wie (nicht) sagen? Heideggers Sagen des Ungesagten: Bemerkungen zum Feldweg-Gespräch Anchibasie Stil »hat« man oder man hat ihn nicht und man hat ihn nur, indem man der Stil ist. Dennoch scheint mir dieser Satz nur für einzelne Stile zu gelten. Und gerade nicht für unseren Stil […]. (BW Heidegger / Bauch 41)
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Exposition: Der Stil der Verhaltenheit
In einer wohl nur ihm zukommenden Radikalität lotet Martin Heidegger die Grenzen des Sagbaren aus, indem er nicht nur die Erwartungen einer akademischen Attidüde sprengt, sondern darüber hinaus die deutsche Sprache nachhaltig erschüttert und vielfältige Verschiebungen evoziert. Gleichermaßen stießen – und stoßen immer noch – diese gewagten Randgänge des Schreibens dabei auf emphatischen Zuspruch sowie auf schroffe Ablehnung. Selten wurde aber gefragt, welchem Anspruch er mit seinen verwegenen Expansionen nachzukommen versucht und welcher Not(wendigkeit) diese Texte antworten, die sich unterschiedlicher Register bedienen und so gar nicht in das herkömmliche Raster philosophischer Prosa passen wollen. Neben didaktisch bestechenden Vorlesungsmanuskripten, akademisch akzeptierten und grundlegenden Werken schreibt er privatim an umfangreichen Konvoluten, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Form nicht mehr innerhalb des philosophischen Diskurses rezipiert werden, ganz zu schweigen von diversen Miszellen und von den Gedichtversen, die von der Fachwelt nicht mehr ernst genommen werden. Heidegger verfasst darüber hinaus einige (Selbst-)Gespräche, die vornehmlich in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs entstanden sind. Diese markieren in einer auffälligen Weise eine Bruchstelle in seinem Denken, durch die das Wie des Sagens eine tiefgreifende Revision erfährt. Die nun folgenden Ausführungen sollen sich diesem beschränkten – jedoch historisch, biographisch sowie denkerisch bewegten – Abschnitt in Heideggers Lebensund Werkgeschichte zuwenden, um über diesen Weg der Thematik des 336
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Exposition: Der Stil der Verhaltenheit
Stils im Sinne Wie (nicht) sagen? nachzukommen und ein wenig Licht auf die Gestik dieser Texte zu werfen. Bevor sich die Überlegungen dezidiert den so genannten FeldwegGesprächen widmen, muss der denkerische Kontext seiner Texte aus den späten 1930er und frühen 1940er Jahren miteinbezogen werden, um diesen Schnitt als solchen kennzeichnen zu können. Unerlässlich ist es dabei, nochmals auf Heideggers Sprachauffassung zu rekurrieren, um vor diesem Hintergrund deutlich zu machen, inwiefern sich hierin das Selbstverständnis des Menschen, insbesondere sein Umgang mit der Geschichte, in grundlegender Weise verändert und wie dieser gewandelten Auffassung wiederum »stilistisch« nachgekommen werden kann. Um zu erörtern, was Heidegger unter »Stil« versteht – ein Begriff, den er vor allem in den 1936 bis 1938 verfassten Beiträgen 1 vermehrt verwendet – muss daher weiter ausgeholt werden, als es herkömmliche Inblicknahmen der Sprache samt der Gegenüberstellung von Form und Inhalt suggerieren. Stil auf die sprachliche Form zu reduzieren, in die ein intelligibler Inhalt verpackt wird, würde nicht nur auf die stets von Heidegger problematisierte Dichotomie von hyle und morphe bzw. aisthesis und noesis zurückgreifen, sondern implizierte auch eine Sprachauffassung, die seinem Sprachdenken zuwiderliefe. So wendet sich Heidegger mit aller Vehemenz gegen eine Konzeption, in der Sprache bloß als sinnlich-materieller Träger für Bedeutungen steht. Dem Wort wird Heidegger zufolge aber nicht durch einen nachträglichen Akt eine Bedeutungshaftigkeit verliehen, sondern die Sprache besitzt immer schon Bedeutung, ja, sie ist selbst bedeutungskonstitutiv und sinnstiftend. Sprache ist somit nicht auf eine repräsentative Abbildungsfunktion reduzierbar, sondern muss in ihrer welt-eröffnenden Dimension lesbar gemacht werden. Evoziert wird diese Eröffnung jedoch nicht von einem Benennungsakt eines starken Subjekts; vielmehr versteht sich das Dasein aus dem Geschehen der Unverborgenheit und erfährt sich angesprochen und zum Antworten herausfordert durch den Zuruf des Seyns. Auf dieses responsive Verhältnis 2 und auf ein anderes Ohne für die folgende Stellenauflistung Vollständigkeit beanspruchen zu wollen, ist die obsessive Verwendung des Begriffs »Stil« in den Beiträgen augenfällig (vgl. GA 65, 1; 12; 15; 33; 34; 69; 75; 98; 23; 274; 405), die in der Besinnung (GA 66) aber schon wieder zurücktritt. 2 Ebenso wie Waldenfels (vgl. Waldenfels 1994) scheint eindringlich Derrida die »Vorgängigkeit« der Antwort vor allem Fragen eingeklagt zu haben (vgl. Derrida 1988c, 1
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Selbstverständnis des Menschen verweist Heidegger mit allem Nachdruck: »Die Antwort ist das Wort der Sprache, das menschentümlich dem Wort des Seyns entgegnet. Die Antwort ist wesenhaft Entsprechung. […] Die Antwort ist das menschentümliche Gegenwort der Sprache zur Stimme des Seyns.« (GA 71, 155 f.) Das Sagen des Seyns ist nicht als Aussage über das Seyn misszuverstehen, sondern muss als das nachträgliche Eingedenksein des gewährend-gebenden Zuspruchs des Seyns, unter dessen Anspruch jedes antwortende Sagen steht, bedacht werden. Erst in diesem Antwortgeschehen wird das Dasein gegründet, sodass sich im Zu- als Entsprechen Seyn und Menschenwesen ereignen: »In der Eröffnung der Wesung des Seyns wird offenbar, daß das Da-sein nichts leistet, es sei denn den Gegenschwung der Er-eignung aufzufangen, d. h. in diesen einzurücken und so erst selbst es selbst zu werden: der Wahrer des geworfenen Entwurfs, der gegründete Gründer des Grundes.« (GA 65, 239) Das Dasein versteht sich somit stets aus diesem überantworteten Gegründetsein, das es niemals einzuholen, jedoch in seiner Abgründigkeit zu wahren vermag. Das Antworten ist selbst nicht in der Lage, den Zuspruch totaliter einzuholen und vollends zu bergen, denn das Dasein bleibt gegründeter Gründer und fängt den Zuruf des Seyns zwar auf, nicht jedoch beginnt dieses Geschehen in ihm. Stets wird in diesem Zu- als Entsprechen ein Riss klaffen, der nicht zu glätten sein wird. Das gewährende Seyn gelangt in dieser Uneinholbarkeit nicht selbst als Etwas zur Erscheinung, sondern west vielmehr als Entzug (vgl. GA 65, 470). Ein Sichentziehen freilich, das gerade im zurückhaltenden Entschwinden trifft und somit anzieht. Dieser paradoxen Verschränkung des Entzuges als Anziehung gilt es nun nachzukommen. Dieser Entzug des Seyns muss vom Dasein bezeugt und als »Verschweigung […] im Stil der Verhaltenheit ins Werk und Wort gesetzt werden« (GA 65, 12). Für Heidegger ist der Mensch daher nichts anderes als der »Zeuge des Seyns« (GA 39, 61) und er sieht sein eigenes Schreiben unter diesem antwortenden Testimonium stehend: »Diese ›Dar-stellung‹ beschreibt und berichtet nicht; sie ist weder ›System‹ noch ›Aphorismus‹. Sie ist nur dem Anschein nach
149), doch mitunter reduziert er auf unzulässige Weise Heideggers Annäherung an Sprache auf den Vorrang der Frage: »The question is privileged everywhere by Heidegger as the mode of thinking. […] [T]he Denkweg is always a way of questioning.« (Derrida 1987, 171).
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›Dar-stellung‹. Es ist ein Versuch des antwortenden, gründenden Wortes […]. Jedes Wort antwortet auf den An-spruch […].« (GA 71, 3) 3 Doch wie kann im Antworten von diesem Entzug in einer adäquaten Weise Zeugnis abgelegt werden? Heidegger ist dessen eingedenk, dass alle Sätze stets schon (eine nunmehr sprachlich verstandene) Unverborgenheit voraussetzen. Jede explizite Thematisierung des Sprachgeschehnisses kommt damit immer schon zu spät. Der Versuch der Benennung im Sinne einer Überführung in den propositionalen Gehalt verfehlt gerade das Zu-Sagende. Der von ihm ins Treffen geführte welt-eröffnende und seins-gewährende Charakter der Sprache rückt in Aussagesätzen nicht ins Blickfeld. Dieses Ungenügen gilt es nun aber nicht, beckmesserisch zu kritisieren und sich auf eine bessere Alternative zu verlegen, sondern es muss laut Heidegger allererst auf dieses notwendige Verfehlen aufmerksam gemacht werden. Zum Ausdruck soll nicht Etwas gebracht werden, das in einer »positiven« Weise bezeichenbar wäre und über das gesprochen werden könnte, sondern ins Werk gesetzt wird in Hinblick auf »ontologische« Überlegungen vielmehr ein (Ver-)Sagen der Sprache selbst, deren Entzug als Entzug allererst vernehmbar gemacht werden soll. So insistiert er in den Beiträgen auf der unaufhebbaren Differenz einer ontischen und ontologischen Inblicknahme, sodass ein dem Seyn Nachdenken »nie mitgeteilt und verbreitet werden [kann] wie die Kenntnisse vom Vorhandenen« (GA 65, 434) und beharrt daher, um dem Seinsgeschehnis auf die Spur zu kommen, auf dem notwendigen Gang eines »Um-wegs«, der freilich »kein Um-weg in dem Sinne [ist], als hätte er einen unmittelbareren Weg und einen kürzeren zum Seyn verfehlt« (GA 65, 434). Es wird bei der Frage nach Heideggers Stil(en) nicht um implizite oder explizite Inszenierungen im Sinne von bewussten Ausgestaltungen von Texten gehen, sondern es muss dem nachgegangen werden, wovon diese zeugen und auf welche Vor-Gabe sie zu antworten gedenken. In diesem Sinne lehnt Heidegger das Unterfangen ab, einfachhin eine bessere Ausdrucksweise erschaffen zu können und damit unter der Hand wiederum bedeutungstheoretische bzw. instrumentalistische Sprachkonzeptionen zu affirmieren. Folgerichtig verneint er in den Um den hier angezeigten Zusammenhang zwischen Zeugen und Erben umfassender nachzugehen, müsste Heideggers Erörterung des Hölderlin’schen Diktums »Und darum ist […] der Güter gefährlichstes, die Sprache, dem Menschen gegeben, […] damit er zeuge, was er sei, geerbt zu haben […]« herangezogen werden (vgl. GA 4, 35 ff.).
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Beiträgen die Möglichkeit der Erfindung einer »Seinssprache« mittels Neologismen oder auch einer neuen Grammatik: »Kann [die Wahrheit des Seyns] überhaupt unmittelbar gesagt werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Sprache für das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar ohne künstliche Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende. Alles Sagen muß das Hörenkönnen mitentspringen lassen.« (GA 65, 78) Die Frage nach Heideggers Stil(en) darf daher nicht auf den Schreibstil im Sinne einer bloß rhetorischen Fertigkeit beschränkt werden, dem Seinsgeschehen nun doch einen adäquaten Ausdruck im herkömmlichen Sinne zu verleihen, sondern muss als Weise, wie dem Anspruch der »sichverbergenden Lichtung des Seyns« nachgekommen werden kann und welche Konzequenzen ein Hören auf diesen Zuspruch impliziert, näherhin erörtert werden. Stil zeigt somit das abgründige Verhältnis an, wie Seyn sich zuschickt und in welchem Selbstverständnis sich dabei das testimonial verstandene Menschsein in seinem Antworten auf diese Vor-Gabe zu artikulieren vermag. Nachdem es für Heidegger um ein anderes Verständnis des Menschen geht, der nicht mehr als souveräne Bezugsmitte alles Seienden agiert, spricht er auch von der »Ver-rückung des Menschenwesens in das Da-sein« (GA 65, 372) und sogar von einer »Entmenschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen und ›Subjekt‹« (GA 65, 510). In den Beiträgen, in denen diese neue Auffassung von Stil immer wieder thematisiert wird, weist Heidegger daher – bezeichnenderweise einen thetischen Aussagesatz vermeidend – auf diese Wendung hin, in der sich der Mensch zurücknimmt und in ein anderes, nämlich responsives Verhältnis gelangt: »Der Stil der Verhaltenheit, weil diese von Grund aus die Inständlichkeit durchstimmt, die erinnernde Erwartung des Ereignisses.« (GA 65, 69) Der Stil der Verhaltenheit ist für Heidegger demnach dadurch angezeigt, dass sich der Mensch nicht mehr als das allem Seienden Voraus- und Zugrundeliegende fasst, wie es die Subjektmetaphysik noch zu bestimmen trachtete. Vielmehr weiß sich das Dasein als dem geschichtlichen Seinsgeschehen eingelassen und innestehend, sodass nicht mehr die Verfügbarkeit über alles Seiende das es Auszeichnende ist, sondern ein medial – und nicht aktivisch – verstandenes »Sicheinlassen auf die Entborgenheit« (GA 9, 188). In der Verhaltenheit kündigt sich somit ein neues Verhältnis des Daseins an: Es fungiert nicht mehr als Herr und Meister der Natur, sondern versteht sich in einer bescheideneren und zurückhal340
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tenderen Weise als (Ein-)Gelassenes. Dasein ereignet sich als Angesprochenes, das nie bei sich selbst beginnt und auch nicht vollends zu sich zurückkehrt, sondern stets herausgefordert und angegangen ist, ohne im Hinausgehaltenwerden im Offenen in einer possessiven Weise auf ein Eigenes rekurrieren zu können. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einem Ort des Menschen, an dem sich »die Befremdung des Menschen (das Zwischen, in dem er ein (der) Fremdling bleibt, gerade wenn er zum Seienden heimisch wird)« (GA 65, 486 f.) manifestiert. Dasein hat dabei keinen festen Boden, sondern versteht sich aus einem Entsprechen, das sich aus der stets prekären Verhältnishaftigkeit versteht. Ein Verhältnis, dessen Vollzug immer auch scheitern kann. Heidegger betont daher: »Es [das Dasein] west als Wagnis.« (GA 65, 475) Dieses prekäre Unternehmen darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass es sich um eine autonome Handhabe dessen handelt, wie vorgegangen wird. Vielmehr versteht Heidegger es als ein Warten, dass in der geschichtlichen Besinnung, d. h. in der Rück-sicht auf das überkommene Erbe, eine Vor-sicht auf Kommendes aufbrechen kann, das den Verlauf des Künftigen nicht determiniert und vorausplant, sondern in seiner Offenheit offen hält. Erst im Eingehen auf die Geschichtlichkeit wird sich für Heidegger ein Spielraum für Zukünftiges eröffnet haben. Diese Besinnung erweist sich dabei nicht als etwas Beiläufiges im Sinne eines historischen Rekurses, der auch unterlassen werden könnte; vielmehr ist Heidegger der Bürde des Erbes der abendländischen Tradition eingedenk, die in Gesprächen mit dem durch die philosophischen Ahnen Aufgegebenen stets als lebendige vollzogen wird. Falls es aber in der geschichtlichen Besinnung um anderes geht, als um eine historische Rekonstruktion, deren Status selbst nicht weiter hinterfragt wird, sondern vielmehr um die Frage, was sich uns Heutigen in diesen Texten zuspricht, indem sowohl tradierte Blickrichtungen in Frage gestellt werden als auch auf Ungedachtes in diesen Texten hingewiesen wird, dann wird man Heideggers Gestus von einer anderen Warte aus bedenken müssen als seine Einsichten von vornherein als inkorrekt zu apostrophieren. Heidegger möchte die geschichtliche Auseinandersetzung nicht als Beschäftigung mit historischen Einsichten verstanden haben wissen, sondern als ein Sich-auseinander-setzenund ein davon Angehen-lassen, was uns die Geschichte zum (ihr Nach-)Denken aufgibt. Das impliziert selbstverständlich nicht, dass Heideggers Auslegungen keiner Kritik unterzogen werden können, es A
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bedeutet aber, dass die Notwendigkeit einer geschichtlichen Besinnung und die Einsicht in unsere geschichtliche Verstricktheit, die nie gänzlich einzuholen sein wird, ernst genommen werden. Denn das Erbe konstituiert uns in einem wesentlichen Sinne, weil wir ohne es nicht das wären, was wir sind, und eröffnet somit unsere Zukunft. Geschichte ist daher immer im Kommen. Das Dasein ist somit nichts anderes – wie bereits angeführt – als »der Wahrer des geworfenen Entwurfs« (GA 65, 239). Gewahrt wird aber nicht die Geschichte im Sinne der in ihrer Gesamtheit vorliegendenden Historie, sondern Geschichte gilt es ausdrücklich, auf die je eigene Weise zu übernehmen und so zu wiederholen. Der Erbe (lat. heres) ist damit immer auch ein Häretiker (gr. hairesis), indem er eine Auswahl trifft und das Erbe nur insofern übernimmt und ihm treu bleibt, sowie indem er es (in seiner Weise) wiederliest und damit verrät. Obschon Heidegger in den Beiträgen und den zum Teil angeführten Vorlesungen rund um diesen Text thematisch fundamentale Einsichten zu Papier gebracht hat, hebt er in den nachfolgenden Konvoluten immer wieder das Ungenügen seiner Darstellung hervor. So betont er beispielsweise zu Beginn der Sammlung Das Ereignis, die 1941/42 verfasst wurde, in Hinblick auf seinen Versuch der Beiträge: »Die Darstellung ist stellenweise zu lehrhaft« (GA 71, 4) und bemerkt hinsichtlich der Explikation der Seinsfrage in der Unterscheidung zwischen Leit- und Grundfrage, dass diese »noch eher im Stil der Metaphysik gefaßt« (GA 71, 4) sei. Insbesondere in Ein Rückblick auf den Weg markiert Heidegger das Unzureichende der Beiträge: »Noch aber ist auch hier [in den Beiträgen] nicht die Form erreicht, die ich für eine Veröffentlichung als ›Werk‹ gerade hier fordere; denn hier muß sich der neue Stil des Denkens kundgeben – die Verhaltenheit in der Wahrheit des Seyns; das Sagen des Erschweigens – das Reifmachen für die Wesentlichkeit des Einfachen.« (GA 66, 427) 4 Ohne auf die vielschichtige Diskussion rund um die so genannten »esoterischen« Schriften (vgl. Trawny 2010) eingehen zu wollen, soll hier der Blick auf den geforderten »neuen Stil des Denkens« gelenkt werden, der sich durch ein In einem Brief vom 24. November 1939 an Kurt Bauch hält Heidegger daher fest, indem er nachhaltig auf das Problem der adäquaten Sageweise aufmerksam macht: »[W]enn ich nachträglich darüber nachsinne, ob und wie weit das Sagen dem Denken gemäß sei, dann wird mir immer deutlicher, daß alle bisherigen ›literarischen Formen‹ des philosophischen Denkens unmöglich geworden sind. Was das ›Neue‹ ist, kann ich nicht sagen.« (BW Heidegger / Bauch 60)
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»Sagen des Erschweigens« auszeichnet und eine Einkehr in die »Wesentlichkeit des Einfachen« bereitet. Dieses Ringen ist ernst zu nehmen, vor allem aber deshalb, weil Heidegger von einer anderen Erfahrung in den letzten Kriegsmonaten berichtet, die er rückblickend im schroffen Kontrast zum Tonfall der Beiträge und der nachfolgenden Konvolute sieht. So schreibt er in einem Brief vom 4. April 1945 an den befreundeten Freiburger Romanisten Hugo Friedrich: »Es gibt trotz aller Entfremdung noch Nähe. Denken Sie, in den letzten vierzehn Tagen habe ich hier, plötzlich im Sturm bei halber Kraft und Schlaflosigkeit, ganz wach ein ›Gespräch‹ niedergeschrieben, das ich in den nächsten Tagen noch zu beenden hoffe […]. Ein anderes Gespräch (über den Tod) ist mir ganz gegenwärtig. 5 Das Schöne dabei ist, daß ich das Gefühl habe, nicht im geringsten den Dialog Platons nachzuahmen; aber ich verstehe diesen jetzt erst. Und alles ist eine einzige Notwendigkeit des reinen freien Sagens.« (BW Heidegger / Friedrich 101 f.) Dieser Erfahrung, die sich zwar in Dialog – nicht aber in dessen Gefolgschaft – mit dem platonischen Denken sieht, ja dieses erst zu verstehen vermag, soll nun in einer umfassenden Weise nachgegangen und sie soll gerade in Hinblick auf ein reines freies Sagen problematisiert werden. Um sie nachzeichnen zu können, soll lediglich ein beschränkter Abschnitt in Heideggers Schreiben näherhin betrachtet werden. Es handelt sich, wie eingangs erwähnt, um Texte die kurz vor Ende des 2. Weltkriegs entstanden sind und denen auf vielfache Weise eine bizarre Brisanz innewohnt. Entgegen den von ihm selbst immer wieder getätigten Weisungen, die Vita streng vom Werk zu trennen und sie aus philosophischen Erörterungen gänzlich auszuklammern, sollen zunächst – ausgehend von anderen Briefstellen – dezidiert biographische Umstände mit in den Blick genommen werden. Sie dienen der Skizzierung einer Situation, in der ihm sein eigenes Schaffen in einer besonderen Art und Weise fragwürdig wird und in der, wie in den Briefen an Friedrich angekündigt, gleichzeitig eine neue Form der Textgestaltung zum Durchbruch gelangt. Diese wird dann in einem weiteren Schritt einer Mikrolektüre unterzogen werden, um dem vielfältigen Ausgreifen dieser Textsorte angemessen nachkommen zu können. 6 Es ist nicht klar, auf welchen Text Heidegger sich hier beruft, da keines der in GA 77 veröffentlichten Gespräche den Tod explizit zum Gesamtthema hat. Am ehesten kann im Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Rußland diese Thematik verortet werden (vgl. GA 77, 224 ff.). 6 Es soll hier nicht unterschlagen werden, dass Heidegger, der Zeit seines Lebens aus5
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Der biographische Kontext der Feldweg-Gespräche Heidegger muss seine letzte öffentliche Vorlesung als Lehrstuhlinhaber an der Freiburger Universität mit dem Titel Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten vom Wintersemester 1944/45 bereits nach wenigen Sitzungen im November beenden. Der Vorlesungstext dokumentiert nachhaltig sein Ringen um das philosophische Selbstverständnis, das er aus der Verwandtschaft von Dichten und Denken zu erörtern sucht, da beide »die eigentlichen Bewahrer des Wortes in der Sprache sind« (GA 50, 94). Im unmittelbaren Zusammenhang damit stehen seine mehrjährige Auseinandersetzung mit Nietzsche, seine Auslegung von Hölderlin sowie die beeindruckende Lektüre der Vorsokratiker, namentlich von Anaximander, Parmenides und vor allem von Heraklit. Der Abbruch der Vorlesung ist den Kriegsereignissen geschuldet. Heidegger wird zum so genannten »Volkssturm« einberufen und zum Schanzen ins Elsass gebracht. Währenddessen wird Freiburg durch Luftangriffe der Alliierten fast vollständig zerstört. Heidegger selbst kehrt daher nicht nach Freiburg zurück, sondern reist mit Jahreswechsel – zum Teil auf dem Fahrrad seines Sohnes Jörg – zu seinem Bruder Fritz nach Meßkirch. 7 Markanter könnte sich von Außen betrachtet der Bruch nicht manifestieren: Auf der einen Seite liegt die Welt in Trümmern, auf der anderen Seite beschäftigt sich ein Philosoph mit der (Vor-)Geschichte der Metaphysik und sucht nach deren Verwindung im Verhältnis von Dichten und Denken. Differenzierter lässt sich dieser Umstand aus den wenigen bislang veröffentlichten Briefen dieser Zeit an seine Frau Elfride ablesen. Heidegger ordnet mit einer tauben Akribie seine Manuführlich korrespondierte und unzählige Briefe verfasste, sich dezidiert gegen die Reduktion seines Schaffens auf postalische Sendungen und biographistische Erklärungsversuche wendet: »Das Schlimmste, was diesen Bemühungen begegnen konnte, wäre die psychologisch-biographische Zergliederung und Erklärung, also die Gegenbewegung zu dem, was uns gerade aufgegeben ist – alles ›Seelische‹, so innig es bewahrt und vollzogen sein muß, daran zu geben an die Einsamkeit des in sich befremdlichen Werkes. Daher – wenn sie überhaupt wichtig sein könnten – keine Briefsammlungen und dergleichen, was nur der Neugier dient und der Bequemlichkeit, der Aufgabe des Denkens der ›Sachen‹ auszuweichen.« (GA 66, 427) Es soll aber nicht das Werk aus der Biographie erklärt, sondern es sollen die Texte (ohne Unterteilung in Haupt- oder Nebentexte) selbst gelesen werden. 7 In einer umfangreichen Weise ist Riedel (2003) den Entstehungsbedingungen der Feldweggespräche nachgegangen.
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skripte und sucht verzweifelt nach einem geeigneten Aufbewahrungsort für seine Aufzeichnungen – eine Tätigkeit die zusehends dringlicher wird, nachdem auch Meßkirch Bombenangriffen ausgesetzt ist. Gleichzeitig schreibt er von einer inneren Unruhe und großen Selbstzweifeln, die ihn nicht weiter arbeiten lassen und die Sinnhaftigkeit seines gesamten Schaffens in Frage stellen. Auch berichet er von Hemmungen, sich gerade zu dieser Zeit der Archivierung seiner Schriften zu widmen und sieht sich gegenüber seiner Frau auch zu einer Rechtfertigung seines Tuns genötigt. 8 Zusätzlich plagen ihn Schlafstörungen und andere gesundheitliche Probleme. Neben diesen Beschwerden belastet ihn die Ungewissheit über den Verbleib seiner Nächsten schwer. Seine Frau, deren Mutter währenddessen nach einem Bombenangriff in Wiesbaden stirbt, lebt noch im zerstörten Freiburg, seine Söhne befinden sich an der Ostfront. Zudem steht Heidegger eine veritable Beziehungskrise aufgrund eines außerehelichen Verhältnisses aus. Gegen Kriegsende zieht die Freiburger Universität nach Burg Wildenstein – unweit von Meßkirch – um. Heidegger hält dort einen Vortrag über Armut (vgl. A) und widmet sich Fragen der Zukunft der Universität und dem kommenden Ort der Philosophie. Fest steht für ihn, dass eine Universität moderner Prägung, die sich sukzessive mehr als Wissensbetrieb und Fachausbildung versteht, einem Denken, das nicht in einer unmittelbaren Verwertbarkeit aufgeht, nicht den gebührenden Freiraum zugestehen kann. Kritische Überlegungen zur Grundausrichtung der Universität finden sich zwar in seinen Schriften seit Anbeginn seiner Lehrtätigkeit 9 und kehren immer wieder, doch nun scheinen sich die Bedürfnisse des Unterrichtens verstärkt gegen sein Denken zu kehren. Er schreibt – seine 25-jährige Lehrtätigkeit retrospektiv überblickend – beinahe resigniert an seine Frau: »So wertvoll immer die bisherige Lehrtätigkeit war, so hat sie doch das Eigentliche meines »In den letzten Wochen, die seit dem Sturm im Osten doch eine einzige innere Unruhe brachten, versuchte ich trotz weiterer Hemmungen, das mögliche an d. Mkr. zu tun. Manchmal mochte [sic!] ich alles liegen lassen, ich würde aus Selbsttäuschung Vieles zu wichtig nehmen. Aber wo ich jetzt ältere Arbeiten, die z. T. zwei Jahrzehnte zurückreichen, durchgesehen u. ihren inneren Zusammenhang mit dem jetzt Erreichten erkannt habe, wo ich den Weg überblicke, den es mich bei manchem Um- u. Abweg geführt hat, u. wenn ich vergleiche mit dem, was sonst da ist, dann kann ich dies Alles nicht dem Zufall überlassen.« (MlS 230 f.) 9 Eine Überblicksdarstellung von Heideggers universitätspolitischen Überlegungen seit den 1910er Jahren findet sich bei Strube (2003). 8
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Denkens nie recht frei werden lassen – unversehens drängte sich das Schulmäßige u. Gelehrte ein u. verhinderte oder verbog das Einfache und Wesenhafte.« (MlS 238) Die didaktische Vermittlung wird zusehends als Hemmschuh angesehen, dem Zu-Sagenden nachzukommen. Immer stärker treten bei Heidegger in dieser Zeit Fragen des Kommenden, der Möglichkeit künftigen Wohnens und Erörterungen zur Sprache in den Vordergrund. Seine Anstrengungen kreisen um die Schwierigkeit, für Angedachtes das rechte Wort zu finden, um dem »Einfachen« und »Wesenhaften« zu entsprechen. So schreibt er wiederum in einem Brief an seine Frau: »Vieles aus Hölderlin geht mir jetzt erst auf; aber es sind nur einzelne Worte u. kaum Sätze, in denen ich diese Einsichten festhalten kann.« (MlS 231) Und gleichzeitig hebt er hervor: »[I]mmer deutlicher spüre ich die Notwendigkeit des einfachen Sagens; aber das ist schwer; da unsere Sprache nur für das Bisherige gilt.« (MlS 228) Das Einfache des Sagens kann sich für Heidegger nicht mehr im Rahmen einer traditionellen Terminologie und überkommener Formen vollziehen. Selbst die Konvolute rund um die Beiträge scheinen für ihn dieser Notwendigkeit nicht in einem adäquaten Sinne Folge zu leisten. Der Geltungsbereich des Bisherigen ist für ihn nicht mehr für die Aufgaben eines Denkens des Kommenden tragfähig. Doch das Ringen um das Wort ist auch von einer Zuversicht geprägt. Er verleiht der Hoffnung Ausdruck, »daß […] die Sprache als die Behausung für ein neues Wohnen erwachen wird« (MlS 232). In dieser Zeit welthistorischer Katastrophen, in denen Heideggers Gemütsverfassung zwischen einer schwachen Zuversicht auf eine mögliche Zukunft und einer verbitterten Resignation über das Zeitgeschehen schwankt, wandelt sich plötzlich der Ton in den Briefen an seine Frau Elfride. Angeregt von einem Gespräch zweier chinesischer Denker über das Wesen des Unnötigen – es handelt sich um einen Auszug aus Das wahre Buch vom südlichen Blütenland von Dschuang Dsi 10 –, schreibt er am 23. März 1945 – analog zum bereits angeführIm Brief vom 2. März 1945 an seine Frau vermerkt Heidegger: »Zum Wesen des Unnötigen (es ist das, was ich mit dem ›Sein‹ meine) fand ich neulich das kurze Gespräch zweier chinesischer Denker, das ich dir abschreibe.« (MlS 234) Die Stelle übernimmt Heidegger wörtlich für sein letztes Feldweg-Gespräch Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Rußland, ohne freilich eine Quelle anzuführen (vgl. GA 77, 239): »Hui Dsi sprach zu Dschuang Dsi: ›Ihr redet von Unnötigem.‹ Dschuang Dsi sprach: ›Erst muß einer das Unnötige erkennen, ehe man mit ihm vom Nötigen reden kann. Die Erde ist ja weit und groß, und doch braucht der Mensch, um zu stehen, nur soviel
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ten Brief an seinen Kollegen Friedrich einige Tage später – geradezu euphorisch: »Plötzlich fand ich eine Form des Sagens, die ich nie gewagt hätte schon wegen der Gefahr der äußeren Nachahmung der platonischen Dialoge. Ich schreibe an einem ›Gespräch‹ – eigentlich habe ich die ›Inspiration‹ – ich muß es schon so nennen, gleichzeitig zu mehreren. Das dichtende u. denkende Sagen haben so eine ursprüngliche Einheit gewonnen, u. alles fließt leicht u. frei.« (MlS 235) Diese Feststellung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Neben dem bereits angesprochenen Spannungsfeld zwischen den historischen Geschehnissen und dem Ringen um das denkerische Selbstverständnis verfasst Heidegger Gespräche, die ihn in einer bestimmten Weise an die philosophische Tradition – sei es nun an die fernöstliche oder die griechische – rückbinden, wovon er sich gleichzeitig zu distanzieren versucht.11 Im Laufe seiner Lehrtätigkeit hat sich Heidegger zwar immer wieder mit Platon auseinandergesetzt, der ihm aber nie ein rechter Gesprächspartner werden wollte. 12 Er möchte die DialogForm nicht nachahmen, sondern mit ihr eine andere Weise des Sagens finden. Zwar war das Gespräch in der abendländischen Philosophiegeschichte immer eine Ausdrucksform des Denkens, nie aber erhielt es – außer eben bei Platon – einen exklusiven Ort. Heidegger gesteht nun einzig dem Gespräch, das nicht einfachhin mit dem Dialog gleichgesetzt werden kann (vgl. GA 77, 57), eine Sageweise zu, in der Dichten und Denken aus ihrer »ursprünglichen Einheit« gefasst werden können. Erst in ihr gelangt sein Schreiben – losgelöst von Vorgaben Platz, daß er seinen Fuß darauf setzen kann. Wenn aber unmittelbar neben dem Fuß ein Riß entstünde bis hinab zu der Unterwelt, wäre ihm dann der Platz, worauf er steht, noch zu etwas nütze?‹ Hui Dsi sprach: ›Er wäre ihm nichts mehr nütze.‹ Dschuang Dsi sprach: ›Daraus ergibt sich klar die Notwendigkeit des Unnötigen.‹« (Dschuag Dsi 1912, 203 f.) 11 Der hier sich ankündigende Konnex zwischen der europäischen und fernöstlichen Tradition gewinnt bei Heidegger rund um Überlegungen zum Verhältnis zwischen Orient und Okzident immer mehr an Bedeutung (vgl. GA 4, 176), wobei er Anfang der 1950er sogar von einem »unausweichliche[n] Gespräch mit der ostasiatischen Welt« (GA 7, 41) spricht, von dem her allererst ein Verständnis des Eigenen zu erhalten sei. 12 Im Gegensatz zu den geradezu euphorischen Mitteilungen, die von einem neuen Einblick in die Dialogizität Platons sprechen, steht der von Georg Picht überlieferte Satz Heideggers unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg: »›Eines muß ich Ihnen zugeben: die Struktur des platonischen Denkens ist mir vollkommen dunkel.‹« (Picht 1977, 203) Für eine grundlegende Lesehilfe rund um das platonische Verständnis des logos (als dia-logos) vgl. Dunshirn 2010. A
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des akademischen Betriebs – ins Freie. Heidegger fehlte seinem eigenen Selbstverständnis nach bislang noch dieses Einfache des Sagens, in dem sich Dichten und Denken nicht in einem dichotomischen Verhältnis befinden. Die Möglichkeit, diese gattungspezifischen Grenzen in einer bestimmten (und damit gerade nicht in einer beliebigen) Hinsicht aufzulösen, gewährt ihm die Gesprächsform in einer ausgezeichneten Weise, die sich sowohl von einer »wissenschaftlichen« als auch »alltäglichen« Ausdrucksform unterscheidet und die Anforderungen philosophischer Abhandlungen geradezu subversiv unterwandert.
Das Gespräch als Vollzug Doch was versteht Heidegger unter Gespräch und was nötigt ihn dazu, selbst Gespräche zu verfassen, die er nicht als (platonische) Dialoge verstanden wissen wollte? Das Gespräch muss hierbei von landläufigen Vorstellungen des Miteinandersprechens befreit werden. Weder begreift er das Gespräch als intersubjektiven Gedankenaustausch noch als mündliche Mitteilungsform gegenüber etwa einer schriftlichen. Ebensowenig ist es Heidegger darum zu tun, eine philosophische und eine literarische Ausdrucksweise – etwa in einer dramatischen Wechselrede mit philosophischem Inhalt – zu vermengen. Die ursprüngliche Einheit des Sagens, auf die im oben zitierten Brief an Friedrich dezidiert hingewiesen wird, muss anders verstanden werden. Etymologisch betrachtet, kündigt sich – wie bereits ausgeführt – eine Zusammengehörigkeit in einem einheitlichen Geschehen bereits im deutschen Präfix »Ge-« an, das keine nachträgliche und willkürliche Anhäufung markiert, sondern vielmehr darauf hinweist, dass sich eine Versammlung von Zusammengehörigen vollzieht, worin die einzelnen Momente allererst in ihr Eigenes entlassen und damit erst aus diesem Geschehen als einzelne »Teile« betrachtet werden können. Aus diesem Gesamtgeschehnis muss nun der Text gelesen werden und nicht als Anhäufung diverser Aussagen, die verschiedenen Figuren in den Mund gelegt werden. Das Gespräch – und hierin kommen Denken und Dichten in einer für Heidegger maßgeblichen Weise überein – zeugt von diesem Zusammengehören, einem Zusammengehören, das sich nicht bloß auf die Teilnehmenden untereinander erstreckt: Heidegger verweist hierzu in einer Relektüre des aristotelischen zoon logon echon auf die menschliche Seinsweise als eine genuin sprachliche, indem sie 348
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zum Aufscheinen bringt, dass Menschsein nichts anderes als das Entgegnen auf ein Angesprochensein heißt: »Die Sprache ist nichts, was der Mensch unter anderen Vermögen und Werkzeugen auch hat, sondern Jenes, was den Menschen hat, so oder so sein Dasein als solches von Grund aus fügt und bestimmt.« (GA 39, 67) Ein Anspruch, der nur dadurch aufbricht, indem ihm entsprochen wird. Sprache erweist sich damit nicht als Eigenschaft, die nachträglich dem Menschen angeheftet wird, sondern ihn vor jeder bewussten Bezugnahme bereits in Anspruch genommen hat, bevor sich noch ein souveränes »Ich« kundtun kann. Sprache tritt, so bedacht, nicht in einem sekundären Schritt zu einem bereits konstituierten Subjekt hinzu, sondern das menschliche Dasein ek-sistiert nur antwortend auf diesen Zuspruch. Dieser Anspruch ereignet sich in ihm, ohne jedoch restlos auf seine Tätigkeit zurückgeführt werden zu können. Eine Besinnung auf die Sprache im Sinne des Angesprochenseins verändert das Selbstverständnis des Menschen radikal, da nicht mehr von einem autonomen oder souveränen Subjekt ausgegangen werden kann. Heidegger entwirft dabei keine fatalistische Konzeption des Daseins, sondern versucht, das Menschsein aus dieser Verschränkung einer Responsivität zu denken. Das Gespräch fängt somit nicht beim Menschen an, sondern der Mensch wird erst dadurch Mensch, dass er sich als Teilnehmender eines Gespräches im Sinne des Angesprochenseins und offen für das Besprochene erfährt, aber das Sprachgeschehnis ereignet sich nicht ohne (menschliches) Entsprechen. Dass der Mensch antwortet, ist unausweichlich, wie er jedoch antwortet, liegt in seiner »Verantwortung der Antwort« (GA 71, 155). Der Mensch befindet sich im Gespräch und wird erst dadurch Mensch. Dieses responsive Verhältnis eröffnet für Heidegger alle welthaften Bezüge: »Unser Seyn geschieht demzufolge als Gespräch, sofern wir, so angesprochen sprechend, das Seiende als ein solches zur Sprache bringen, in dem, was es und wie es ist, eröffnen, aber auch zugleich verdecken und verstellen.« (GA 39, 70) In dieses Gespräch eingelassen, das wir nie selbst beginnen, erörtert Heidegger die geschichtliche Dimension des Gesprächs. In ihm bricht unser Bezug zu einer Vorgängigkeit auf, die sich als zeitkonstitutiv erweist. Das Gespräch ist in seinem Antwortcharakter immer schon ein geschichtseröffnendes, das auf eine Vorgängigkeit rekurrierend gleichzeitig einen Weg in Künftiges weist. Dem Eingedenksein dessen, dass in jedem Gespräch auf den Anspruch des Anderen geantwortet wird, wohnt nach Heidegger – und hierin zeigt sich, dass eine A
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geschichtliche Bestimmung stets für Zukünftiges leitend wird – auch die Dimension des Kommenden inne: »Jeder ist jedesmal im Gespräch mit seinen Vorfahren, mehr noch vielleicht und verborgener mit seinen Nachkommen.« (GA 12, 117) Heidegger, der bereits in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung im Wintersemester 1934/35 dem Gesprächscharakter des Menschseins in umfassender Weise nachgeht und die responsive Dimension des Menschseins aufzeigt (vgl. GA 39, 68 ff.), sucht mit den Feldweg-Gesprächen in gewisser Hinsicht auf das Ungenügen der bis dahin von ihm forcierten Darstellungen einzugehen und einen neuen Anlauf zu wagen. Im Vollzug des Gesprächs soll nun davon gezeugt werden, wovon zuvor lediglich gesprochen worden ist. Es gilt nun, nicht über das Gespräch nachzudenken und es als Thema zu etablieren, sondern das Gesprächwerden des Denkens und damit den Antwortcharakter des Menschen selbst aufbrechen zu lassen. Daher soll nun erörtert werden, inwiefern es Heidegger gelingt, nicht über diese responsive Form zu schreiben, sondern sie im Vollzug des Textes zu Tage treten zu lassen und sie somit aus dem Eingelassensein in ein Gesprächgeschehnis her verständlich zu machen. Es muss in diesem Zusammenhang der Frage nachgegangen werden, ob die Dialogform diesem Text nur in einer äußerlichen Weise zukommt, von der auch abstrahiert werden könnte, oder ob nicht vielmehr eine Notwendigkeit Heidegger veranlasst, in dieser Weise dem Zu-Sagenden nachzukommen. Falls diese Frage bejaht werden kann, muss darüber hinaus erörtert werden, warum es sich nur auf diese Weise sagen lässt. Zudem soll deutlich gemacht werden, welche Konsequenzen diese Textsorte nach sich zieht und welches Grundanliegen dabei zur Sprache kommt. Das Augenmerk soll nun dezidiert nicht auf die Erörterungen des Autors Heidegger gelegt werden, da dabei mitunter das Eigentümliche des Gesprächs, das sich nicht auf den propositionalen Gehalt der Aussage reduzieren lässt, allzu schnell aus dem Blick gerät. Vielmehr kommt es auf das Wie des Sprechens und des Nichtsprechens der einzelnen Figuren an, auf die Gesten und auf das Periphere, dessen Zwischentöne in einer signifikanten Weise das Gespräch durchstimmen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie dieser Text als philosophischer gelesen werden kann. Das Gespräch wird nicht mehr als ein Sprechen über …, sondern vielmehr als ein Mitsprechen und Mitgehen verstanden werden müssen, dessen Begleitumstände in einer besonderen Art das Gespräch mittragen und mitbestimmen. 350
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Innerhalb weniger Wochen entstehen drei solcher Gespräche mit Varianten und Fortsetzungen, die nun in den Blick genommen werden sollen. 13 Sie liegen im Band 77 der Heidegger-Gesamtausgabe unter dem Titel Feldweg-Gespräche gesammelt vor. Zwei weitere solcher Gespräche, die nun nicht eingehend behandelt werden, folgen mit einem gewissen zeitlichen Abstand: 1946–48 verfasst Heidegger das Abendländische Gespräch (GA 75, 57–196) und 1953/54 den bekannten und bereits zitierten Dialog aus Unterwegs zur Sprache mit dem Titel Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden (GA 12, 79–146).
Die Struktur der Feldweg-Gespräche Die drei Feldweg-Gespräche weisen eine ähnliche Struktur auf. Heidegger kommt mit wenigen Figuren aus, es sind durchwegs Zweieroder Dreiergespräche, die zumeist von einer merkwürdigen Asymmetrie gekennzeichnet sind. Sie unterscheiden sich entweder durch die Profession der Sprechenden – wie etwa der »Gelehrte«, der »Forscher«, der »Weise« in Anchibasie oder der Türmer und der Lehrer in Der Lehrer trifft den Türmer an der Tür zum Turmaufgang – oder durch deren Alter – der Ältere und der Jüngere im Abendgespräch. Es kommen zwar alle – ausschließlich männlichen – Gesprächspartner zu Wort, aber sie stehen zumeist für unterschiedliche Positionen. Obwohl sie mitunter anders denken und ungleicher (intellektueller) Herkunft sind, sprechen sie nicht gegeneinander. Ins Werk gesetzt wird damit eine Polyphonie, in der die Gesprächsteilnehmer zwar nicht mit derselben Stimme sprechen und sich unterschiedlicher Register bedienen, aber stets einem Gemeinsamen nachzukommen versuchen. Die Unterredungen mutieren nie zu einem eristisch-sophistischen Streitgespräch, sondern sie ringen in einer seltsamen Undramatik um ein
13 Falls man den Datumsangaben Glauben schenken darf, vergehen zwischen dem Brief an Elfride vom 23. März und dem ersten bzw. dritten Gespräch, die jeweils mit einer konkreten Datierung (7. April und 8. Mai) versehen sind, wenige Wochen, in denen Heidegger rund 250 Druckseiten verfasst. Wie es in der Gesamtausgabe zu der Datierung 1944 und 1945 kommt (vgl. GA 13, 247), bleibt unklar. Wie aus den Briefen eindeutig hervorgeht, schreibt Heidegger erst seit dem Frühjahr 1945 an diesen Gesprächen.
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wechselseitiges Verständnis und um die allen zukommende Sache der Unterredung. In augenfälliger Weise wird der Ort der Gespräche thematisiert (der Feldweg, die Tür zum Turmaufgang, das russische Gefangenenlager) und mitunter auch die Jahres- oder Tageszeit angeführt, die aufgrund der kargen äußerlichen Handlungen ein nicht unwesentliches Gewicht erhalten, ja selbst für den Fortgang des Gesprächs prägend werden. Sie bilden mit den spärlichen Hinweisen auf die Landschaft – vornehmlich Feld und Wald – den Rahmen der Unterredungen, die ohne diese Einbettung anders verlaufen wären. Interieurs kommen nicht vor, wohl wird aber der Turm mit seiner Turmstube thematisiert. Auffallend ist, dass sich Orte im Übergang zu anderen manifestieren. In einer gewissen Weise wird durchwegs von dieser Schwellenerfahrung gesprochen. So weisen nicht nur das dämmernde Übergleiten in den Abend im ersten und dritten Gespräch auf einen Umschlag hin, sondern die Zwischenräume werden auch am Übergang von Feld- und Waldweg, an der Schwelle zum Turmaufgang und im Gegenüber von der Enge des Lagers und der Weite Russlands in Erinnerung gerufen. Die Gespräche finden zwar vornehmlich in Landschaften statt, jedoch nie im öffentlichen Raum etwa im Sinne der Agora, an der wahlweise jeder partizipieren kann. Selbst der »Gast«, der im zweiten Gespräch gegen Ende hin auftritt, wird erwartet. Die Zahl der Figuren ist somit genau umrissen und wird in keinem der Gespräche erweitert. Es scheint beinahe so, als ob das Denken sich weder in Innenräumen der dafür vorgesehenen Lokalitäten, wie etwa die Universität, noch an beliebigen Orten einer größeren Publizität entfalten kann. Stets sind es wenige, die bereit sind, sich in bestimmten Gegenden einzufinden, aufeinander einzugehen und sich im Gespräch mitzuteilen. In einer auffallenden Weise sind sämtlichen Gesprächen biographische Bezüge inhärent, ohne dass sie sich auf faktische Vorgegebenheiten reduzieren ließen. So ist beispielsweise der »Forscher«, der sich mit der Höhenstrahlung befasst, wohl stark an Heisenberg angelehnt. 14 Die Unterredung zwischen einem »Älteren« und einem »Jüngeren« in einem Gefangenenlager in Russland legt Assoziationen mit Heideggers Söhnen nahe, die sich tatsächlich zur Zeit der Abfassung der Texte an der Ostfront und später in Kriegsgefangenschaft befinden. Darüber hinaus führen der »Forscher« (GA 77, 24) und der »Gelehrte« 14
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Vgl. GA 77, 3; Heisenberg 1936 und Weizäcker 1976.
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(GA 77, 143), der als klassischer Philosophiehistoriker durchaus Ähnlichkeiten zu Vertretern der etablierten Professorengilde nahe legt, ein Buch ihrer Zeit an, das sich als Heideggers Sein und Zeit ausmachen lässt. Es ließen sich noch weitere offene Anspielungen und eine Reihe von impliziten Hinweisen – nicht zuletzt durch die sprechenden Namen der Figuren – festmachen. Doch auch autobiographische Züge treten zu Tage: Der »Türmer« flieht nicht nur vor den welthistorischen Ereignissen, sondern möchte sich – wie einst Hölderlin – in einen Turm zurückziehen, um zu arbeiten. 15 Heidegger selbst tritt als Figur nicht auf. Er lässt andere sprechen, auch wenn einzelne Figuren (der »Weise«, der »Türmer«, der »Jüngere« 16 ) eine gewisse Identifizierung, ja Selbststilisierung des Autors nahelegen. 17 Explizit tritt der Autor erst am Ende des ersten Gespräches auf, indem er es signiert, mit einer spezifischen Ortsangabe und einem konkreten Datum versieht, durch die sich die Gespräche in welthistorische Zusammenhänge einschreiben (vgl. GA 77, 157; vgl. auch GA 77, 240 18 ). Konterkariert werden diese Datierungen durch die Gespräche selbst, denen konkrete zeitgeschichtliche Momente – provokativ den Kriegsgeschehnissen trotzend – nur in einer indirekten Weise mitgegeben sind. Insbesondere im Abendgespräch in einem Kriegsgefangenen15 Im Kommentar in den Briefen an seine Frau findet sich folgender Vermerk: »Er [Heidegger] hat die Idee, den Turm des Schloßes [von Meßkrich] restaurieren zu lassen, um ihn als Arbeits- und Aufbewahrungsort für seine Manuskripte zu nutzen.« (MlS 225) 16 Bei dieser Figur ist eine voreilige Identifizierung besonders problematisch, da der »Ältere« das oben angeführte Gespräch zweier chinesischer Denker zitiert, das »ich mir in meiner Studienzeit […] abgeschrieben habe« (GA 77, 239). Die Verse, die der »Jüngere« spricht (GA 77, 232), legen jedoch wieder eine gewisse Nähe zu Heidegger nahe (vgl. GA 81, 75). Die Figuren weisen somit Bezüge zu Heidegger und seinen Söhnen auf, ohne dass es hier zu eindeutigen Zuordnungen kommen könnte. 17 Dem polemischen Tonfall des gesamten Aufsatze entsprechend, moniert Beierwaltes: »Weil dies Heideggers Selbsteinschätzung entspricht, spricht aus dem ›Weisen‹ mit Sicherheit Er [sic!] selbst.« (Beierwaltes 1998, 7 f.) 18 Dass diese Orts- und Datumsangaben nicht nebensächlich sind, zeigt sich allein darin, dass Heidegger den 8. Mai 1945, den Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und des Siegs der Alliierten über Nazi-Deutschland, unter sein Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager setzt und es mit folgenden Zeilen versieht: »Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte / und noch nicht erkannte, daß sie seit / Jahrhunderten schon die Besiegte ihres / eigenen Aufstandes ist.« (GA 77, 240) Die zweite Datumsangabe – 7. April 1945 – ist schwieriger einzuordnen, legt aber Assoziationen zur Publikation von Sein und Zeit (8. April 1926) und Husserls (8. April 1859) Geburtstag nahe.
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lager tritt diese Diskrepanz unverhohlen auf, da – kaum nachvollziehbar – in den russischen Wäldern eine Weite erblickt wird, die Heilsames bereit hält und im Kontrast zu der »verblendete[n] Irreführung des eigenen Volkes« steht, die »zu kläglich ist, als daß wir daran eine Klage verschwenden dürften trotz der Verwüstung, die über der Heimaterde und ihren ratlosen Menschen lagert« (GA 77, 206). Die politischen Verhältnisse werden somit nicht gänzlich ausgespart und die ruinöse Erfahrung des Krieges tritt an dieser Stelle offen zu Tage, denn es lassen sich für die Verwüstung und die den beiden Figuren anheimgegebene Ratlosigkeit zunächst keine entsprechenden Worte finden. 19 In Hinblick auf Struktur und Duktus der Feldweg-Gespräche ist es wichtig zu betonen, dass diese nie in der Weise stattgefunden haben, sondern dezidiert biographistische Verkürzungen kappen. 20 Die Auslegungstendenz, das Werk vom Leben ableiten zu wollen, wird somit konterkariert und in ein anderes Verhältnis verwiesen. 21 Obwohl sich Doch Heideggers Umgang mit dieser Katastrophe nötigt zu einer kritischen Zwischenbemerkung: Das Schweigen entpuppt sich bald weniger als traumatisches, denn als beredtes, indem in einer problematischen Geste der Heidegger’schen Großgeschichtsschreibung aufgezeigt wird, in welchen seinsgeschichtlichen Zusammenhang der Weltkrieg gestellt und damit lesbar gemacht wird: »[D]iese Verwüstung sei keineswegs erst die Folge des Weltkrieges, sondern die Weltkriege seien ihrerseits schon und nur eine Folge der Verwüstung, die seit Jahrhunderten die Erde anzehrt.« (GA 77, 211) Ohne der Frage nach Heideggers politischer Verantwortung und seinem etwaigen Wissen von der Massenvernichtung der europäischen Juden hier nachzugehen, muss festgehalten werden, dass er sich damit begnügte, diese Katastrophe in ein längst sich anbahnendes Geschick einzuordnen. Der Holocaust wird zwar nicht ohne geschichtliche Fragestellungen »verstehbar« sein, doch erweist sich der Einordnungsversuch Heideggers als höchst problematisch. Gegen diese nahtlose Einteilung, die mitunter bereits Ende der 1930er Jahre zu wegweisenden Charakterisierungen des Totalitarismus und der Macht (vgl. GA 66, 122 f. und 167–169; GA 69) führte, wird Heidegger auch nach Bekanntwerden des gesamten Ausmaßes des Holocaust nicht anschreiben; selbst dieser bleibt für ihn als Konsequenz der Seinsverlassenheit und damit als ein Datum unter anderen lesbar (vgl. GA 79, 27). Auschwitz wird dem Heidegger’schen Denken keine Revision der Seinsgeschichte abnötigen. 20 Fabris urteilt hierbei allzu voreilig, wenn er die Figuren des Gesprächs mit realen Personen gleichsetzt: »Wenn auch in einer stilisierten Weise entsprechen diese Figuren doch wirklichen Personen, mit denen Heidegger spezifische Themen erörtert hatte. Sie entsprechen Max Kommerell, der das Muster des Gelehrten ist, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, die das Muster des Wissenschaftlers darstellen.« (Fabris 2007, 193 f.) 21 Eine Nähe freilich, die nicht als Erläuterung der Schriften durch die Biographie misszuverstehen ist. Gegen diese Auslegungstendenz verwehrte sich Heidegger bekanntermaßen auch selbst immer wieder, indem er den Zusammenhang von Leben und Werk in 19
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Heidegger ausdrücklich biographischen, lokalen und zeitlichen Bezügen verschreibt, repräsentieren die Gespräche nicht einfachhin faktisch Stattgefundenes. Eine voreilige Gleichsetzung des Autors mit bestimmten Figuren vergisst, die Frage zu stellen, warum Heidegger nicht selbst als Figur auftritt, was ihn also überhaupt genötigt hat, nicht im eigenen Namen zu sprechen, sondern Andere sprechen zu lassen. Dieses Auseinanderklaffen zwischen Autor und Figur – man kann hier in Rückgriff auf die philosophische Tradition auch an die Trennung zwischen Nietzsche und Zarathustra oder zwischen Kierkegaard und den diversen Pseudonymen denken – scheint nicht nebensächlich zu sein. Vielleicht kommt insbesondere in den Worten des »Weisen« das zur Sprache, was Heidegger selbst nie zu sagen gewagt hätte, sodass die Figuren in bestimmter Art und Weise dem Autor vorausgehen und andere Wege als die gewohnten beschreiten. Auffallend ist noch die betonte Unabgeschlossenheit der Unterredungen. Sie brechen nicht nur mitunter unversehens ab, ohne ein offensichtliches Ergebnis präsentieren zu können, sondern sie beziehen sich auf Vor-Gespräche, die auf eine längere Geschichte schließen lassen, ohne dass diese zur Gänze eingeholt werden könnte. Ihr Anfang fällt somit nicht gemeinhin mit dem Beginn der jeweiligen Unterredungen zusammen; ihr Ende erweist sich in mehrfacher Hinsicht als ein offenes. Den Texten ist als »erdachten« Geistergesprächen Beispielhaftes mitgegeben, ohne dass sich ihre Exemplarität entweder auf tatsächliche Begebenheiten oder auf eine universale Form reduzieren ließe. Das Exemplarische lässt sich auch an den einzelnen Figuren ablesen, die durchaus Eigenheiten aufweisen, diese aber zunächst zugunsten einer gewissen Typik in den Hintergrund treten lassen. Es sprechen keine konkreten Personen miteinander, sondern die Figuren vertreten zunächst bestimmte, je unterschiedliche Positionen, die etwas anderes ins Werk setzen als die bloße Wiedergabe von vorgefallenen Begebenheiten. In einer merkwürdigen Weise bleiben sie zwischen einer konkret biographischen und einer abstrakt allgemeinen Dimension in der ein anderes Verhältnis zu setzen gedachte: In diesem Zusammenhang vermerkt Heidegger in einem Brief vom 9. Mai 1972 an Palmier: »[K]ann und muß das Werk der Dichtung und damit aller großen Kunst aus der Biographie erklärt werden, oder ermöglicht erst gerade das Werk eine recht geleitete Deutung der Biographie?« (zit n. Sembera 2002, 168 (Anm. 127)). A
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Schwebe. Erst allmählich gewinnen die Gespräche eine irreduzible Sageweise, die aber nicht mit individuellen Zügen der Figuren gleichgesetzt werden kann, da sie nicht im Vorhinein feststehen, sondern sich allererst aus dem Gespräch ergeben und sich in ihm bewähren. Das Eigentümliche kann somit nicht der Originalität einzelner Figuren zugeschrieben werden, sondern ergibt sich aus dem Gang des Gesprächs. Aber nicht nur die Figuren bewegen sich in dem Spannungsfeld zwischen Typik, biographischen Bezügen und ihrer konkreten Ausgestaltung im Text, auch den Ortsangaben ist dieses Moment inhärent. So ist beispielsweise der Feldweg nicht ein unverfänglich beliebiger Weg in ein Feld, aber auch nicht unbedingt nur die Strecke zwischen dem Meßkircher Hofgartentor und dem Ehnried (vgl. GA 13, 87–90), sondern, was den Feldweg als Feldweg exemplarisch auszeichnet, ergibt sich aus dem Zusammenspiel des Textes. Was unter Ort bzw. Gegend verstanden werden kann, wird erst aus dem Gespräch offenbar. Dies soll nun in Hinblick auf Anchibasie. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen näherhin erläutert werden. Das letzte Drittel des Gesprächs publiziert Heidegger in leicht abgewandelter Form bereits 1959 unter Zur Erörterung der Gelassenheit – Aus einem Feldweggespräch über das Denken, was die Wichtigkeit des Textes für Heidegger – trotz der »unvollständigen« Veröffentlichung – unterstreicht.22 Zudem ist es mit Abstand das umfangreichste der drei Feldweg-Gespräche.
b) Durchführung: Anchibasie Der Zug des Titels Der Obertitel Anchibasie führt ein hapax legomenon an, das lediglich durch das Fragment 122 von Heraklit überliefert ist. Dieses besteht darüber hinaus ausschließlich aus diesem einzigen Wort. Dem Gestus, lediglich bei einem Wortfragment einzukehren, wohnt etwas Gespenstisches inne. Es verwundert daher nicht, dass diese Herangehensweise Heideggers Erstveröffentlichung des Bändchen Gelassenheit (1959, 29–73; GA 13, 37–74) entspricht (von kleineren Divergenzen abgesehen) GA 77, 105–157. Die Frage, warum Heidegger jedoch nur einen Teil für den Druck freigab, kann hier nicht beantwortet werden.
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Durchführung: Anchibasie
von philologischer Seite als Provokation verstanden und einer schroffen Kritik unterzogen wurde, ohne jedoch auf die sich darin kundtuenden Implikationen näherhin einzugehen (vgl. Beierwaltes 1998, 12 f. (Anm. 37)). Es geht im Text nicht um eine historische Rekonstruktion dessen, was Heraklit gemeint haben könnte, sondern was sich uns heute in diesem Wort zuspricht. Von Anbeginn an steht die Erörterung somit in Bezug zur geschichtlichen Überlieferung für die Heutigen als Zukünftige. In diesen Geistergesprächen wird von den drei Figuren das durch das abendländischen Denken Tradierte einer Relektüre unterzogen und so das überkommene Erbe in einer genuin eigenen Weise übernommen. Der Fortgang der Unterredung entfaltet sich gleichzeitig als ein Rückgang in den Anfang des Denkens. Die Geschichtlichkeit bildet nicht nur in einer nebensächlichen Weise den Rahmen des Gesprächs. Zwar wird bereits mit dem Titel Heraklit zitiert und gleichzeitig werden andere Denker aus der abendländischen Philosophietradition genannt, 23 weit wichtiger ist jedoch, dass die Gesprächsteilnehmer selbst immer wieder auf die geschichtliche Bedingtheit ihres Denkens stoßen, bei Grundworten einkehren und sich ihrer Herkunft besinnen. 24 Bemerkenswert ist, dass hierbei offen Vorbehalte gegen eine gebrauchstheoretische Verengung der Sprachauffassung zu Tage treten, denn zwar ist das Wort »stets Wort für einen Sprachgebrauch« (GA 77, 12), doch in der Weise, dass das Wort in seiner geschichtlichen Dimension (und nicht umgekehrt) leitend für diesen ist. Erst dieser Rückgang in die Geschichte erweist sich als Aufbruch in Künftiges. Dieses wird nur dann kommen können, wenn auf die Geschichte gehört wird. Gewesenes und Kommendes schließen sich nicht aus, sondern bilden eine in sich verschränkte Bewegung. Eine Bewegung freilich, die sich nicht ans Präsentische klammert, sondern im Schritt zurück über die Gegenwart hinausgreift. Was bedeutet dieses griechische Wort anchibasie? Es setzt sich aus anchi (nahe) und bainein (gehen) zusammen, das nicht einfachhin wörtlich als »nahe-gehen«, sondern als »In-die-Nähe-gehen« im Sinne von »In-die-Nähe-hinein-sich-einlassen« (GA 77, 156) verstanden werden 23 Angeführt werden neben Heraklit noch Platon (GA 77, 91), Aristoteles (GA 77, 14 u. ö.), Meister Eckhart (GA 77, 109), Leibniz (GA 77, 53 u. ö.), Kant (GA 77, 3 u. ö.), Goethe (GA 77, 35), Hegel (GA 77, 7) oder Nietzsche (GA 77, 97 u. ö.). 24 Neben der abschließenden Besinnung auf das Titelwort, wird etwa in Rückgriff auf die aristotelische Erörterung des Wortes techne das Wesen der Technik genauerhin zu bedenken versucht (vgl. GA 77, 12 f.).
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soll. Der Titel impliziert dabei eine Anweisung, die nicht nur dem Text voransteht, sondern den Grundzug des Gesprächs auszeichnen wird. Es ist nicht nur die Rede von der Nähe, sondern es wird ein durchaus wörtlich zu nehmendes Ein-Gehen und Sich-Einlassen in sie gefordert. »Nähe« ist aber nicht einfachhin Thema – im engeren Wortsinn als »das von uns Gesetzte« (GA 77, 75) – einer Abhandlung, denn die »Anwesenheit des Gegenstandes für unser Gespräch« (GA 77, 27) wird schmerzlich vermisst und gerade das Bedürfnis, einen Gegenstand vor sich zu haben, wird problematisiert (GA 77, 51). Erst im Laufe der Unterredung mit all ihren vermeintlichen Ab- und Umwegen kommt sie unmerklich als Paralipomenon zum Vorschein. Zunächst werden diese ständigen Kreisund Rückbewegungen auf das Zu-Sagende als lästiges »Spiel mit Worten« (GA 77, 32) empfunden und als bloße »Verzierung« (GA 77, 47) bezeichnet, doch dieser Hinweis auf ein lässliches Parergon wird dankend aufgenommen, indem die vermeintlichen Ausschmückungen anders lesbar gemacht werden: »Wenn der Schmuck, wie das Wort sagt, sich der Sache anschmiegt, dann kann diese durch den Schmuck schöner hindurchscheinen […]. Das Schmücken bestände eigentlich nur darin, daß wir die Sache selbst zum Leuchten bringen.« (GA 77, 47) Der Weg des Gesprächs muss daher in seiner Notwendigkeit einsichtig werden, dass nur im Gesagten, so weitläufig und abwegig es sich mitunter gestaltet, die Zu-Sage des Seyns in Form einer indirekten Mitteilung aufbrechen kann, ohne selbst eigens bezeichnet werden zu können. Die Überschrift bleibt somit dem Text nicht äußerliche Anzeige, worüber sich nun die Abhandlung auszubreiten gedenkt, sondern erweist sich als Movens des Gesprächsgangs selbst, das auf mehreren Ebenen ins Werk gesetzt wird, sodass der Text das In-die-Nähe-gehen performiert. Was heißt eigentlich »Nähe« im Sinne von »In-die-Nähe-gehen«? Der semantische Herd von »Nähe«, aber auch »nahen« und »nähen«, auf die der Text insbesondere gegen Ende hin anspielt, ist im Deutschen reichhaltig. Dezidiert wird eine Erörterung des Wortes von seinem vermeintlichen Gegenteil her – im Sinne von »wegbleiben« – nicht in Anspruch genommen, um eine antithetisch-dialektische Inblicknahme von Nähe zu vermeiden (vgl. GA 77, 30). »Nähe« soll gerade nicht von einem Dritten her bestimmt und damit seiner Rätselhaftigkeit allzu schnell entledigt werden. Angezeigt werden mit dem Wort »Nähe« normalerweise Zeit-, aber vor allem Ortsbestimmungen, die nicht nur in einer quantitativ-berechnenden, sondern auch qualitativ-lebensweltlichen Hinsicht verstanden werden können. In Sätzen 358
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wie z. B. »Der österreichische Schifahrer kommt lediglich in die Nähe der Bestzeit des Schweizers« oder »Basel liegt ganz in der Nähe von Freiburg« werden temporale und lokale Hinsichten evident. Es kann im Wort auch eine Vertrautheit angezeigt werden, wie sie sich in einer »geistigen Nähe« ankündigt, oder jemand verspürt eine Nähe, in der etwas einem nahe geht, indem es berührt. In einer gewissen Weise kehrt sich im Feldweg-Gespräch das übliche Verhältnis: Nicht wird die Nähe als Ableitung von Raum, Zeit oder Vertrautheit verstanden, sondern als das diese allererst Gewährende. Der gesamte Schwingungsbereich des Wortes ist in den Übersetzungsversuchen 25 im Gespräch zwar mitzuhören, doch er beschränkt sich weder darauf noch ist er primär von diesen herkömmlichen Bestimmungen her zu verstehen. Vielleicht ist er – den herkömmlichen Sprachgebrauch erweiternd – deswegen nicht darauf einzuschränken, da »Nähe« gängigerweise stets eine Relation zwischen zwei bereits vorhandenen Relata markiert, ob es nun lokale oder temporale Bezüge anzeigt, eine freundschaftliche Nähe zweier Personen postuliert oder jemandem etwas nahegeht; stets ist in diesen Beispielen die Nähe die verbindende Mitte zwischen zwei Polen, die nachträglich in ein Verhältnis treten. Mit der Präposition »in« versehen, geht es im »In-die-Nähe-gehen« jedoch nicht um die Zusammenführung zweier Instanzen, sondern um Nähe selbst – noch bevor überhaupt konstituierende Bezugsgrößen abgesteckt werden könnten. In dieser unüblichen Weise gebraucht, ist es nicht mehr möglich, von einem (nachgeordneten) Zwischen zu sprechen, denn es geht hier offensichtlich nicht darum, eine Verbindung herzustellen. Es ist wohl auch nicht intendiert, ein anvisiertes Ziel zu erreichen, denn die Nähe soll gerade nicht in eine Abstandslosigkeit aufgelöst, sondern als ein Sichnähern – ganz im Sinne der verba incohativa – bewahrt werden. Dies ist wohl nur dadurch möglich, dass die Vollzugsdimension nicht einen Endpunkt erreicht oder auf ein telos gerichtet ist, sondern sich einer vollständigen Aneignung entzieht. Anchibasie darf daher nicht als Herangehen oder Annäherung verstanden werden. Augenfällig ist zudem, dass die im Text angeführten Bindestrichkonstruktionen eine 25 Das gesamte Gespräch ist eine Über-setzung im Heidegger’schen Sinne, »das Griechische griechisch zu denken« (GA 77, 155) und dabei in diesen Bereich überzusetzen, nicht jedoch um des Griechischen willen, sondern um in ein gewandeltes Verhältnis zur »eigenen« Sprache zu gelangen: »Das Übersetzen ist vielmehr eine Erweckung, Klärung, Entfaltung der eigenen Sprache durch die Hilfe der Auseinandersetzung mit der fremden.« (GA 53, 80)
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Verbalität anzeigen, diese jedoch weniger aktivisch, als in der medialen Weise gebraucht wird, indem anchibasie dezidiert als ein »In-dieNähe-hinein-sich-einlassen« (GA 77, 156) ausgelegt wird. Von diesem Angang der Nähe, aber auch von der Bereitschaft, sich darauf einzulassen, werden die Figuren im Fortlauf des Gesprächs zeugen. Auf anchibasie wird gleich mit der ersten Wortmeldung angespielt. Der »Gelehrte« weist – ohne es zu nennen – auf ein »altes griechisches Wort« hin (GA 77, 3), das dem nachkommen könnte, wonach bereits bei ihrem vorhergehenden Treffen gesucht wurde und das offenbar eine weitere Zusammenkunft dringlich erscheinen ließ. Die Suche – im Sinne eines deuteros plous als einer notwendig gewordenen zweiten Fahrt – nach dem, wofür »der Name fehlt« (GA 77, 30), ist dem Gang des Gesprächs aufgegeben und bildet den Bogen der gesamten Unterredung, dessen Spannung bis zum Ende ausgehalten wird und worauf leitmotivisch im gesamten Text immer wieder zurückgekehrt wird. Erst auf den letzten Schritten, als die Nacht schon vollkommen hereingebrochen ist, wird das Wort, wiederum von der ansonsten ungelenkigen Figur des »Gelehrten« – der dadurch sein Mitgehen im Gespräch nachhaltig bezeugt –, eigens genannt (GA 77, 150 ff.). Im Zuspruch der anchibasie stehend erschließt sich allererst der Verlauf des Gesprächs. Anchibasie fordert die drei Weggefährten auf, ihr im Gang des Gesprächs nachzukommen, sich in die Nähe einzufinden. Eine Nahnis – Heidegger verwendet dieses eigentümliche Wort an anderer Stelle (vgl. GA 12, 200) –, die sich nicht nur darauf beschränkt, dem heraklitischen Fragment und sich als Gesprächspartner näher zu kommen, sondern sich als dieser Nähe (Ent-)Sprechende zu verstehen und dem Andrang der Nähe selbst zu entsprechen. Gesprochen wird somit nicht über ein »In-die-Nähe-gehen«, sondern es wird das Eingelassensein in diese Nähe qua Unverborgenheit selbst vollzogen, aus der allererst Anwesendes sich zeigen kann. Eine Nähe freilich, die nicht als ein Etwas erreicht wird, sondern unter deren eröffnenden Anspruch – zumeist in einer unbedachten, da sich entziehenden Selbstverständlichkeit – das Menschsein steht und deren Erfahrung nun aufbricht: »In allem Anwesen waltet Nähe. Das Unverborgene ist ein Genahtes.« (GA 77, 154). Im Gespräch kündigt sich der Entzug einer sichverbergenden Lichtung an, aus der her alles Genahte – d. h. alles Seiende – aus seinen Bezügen verstanden werden soll und das ihm sein Anwesen gewährt, ohne selbst zur Erscheinung zu gelangen: »Doch näher als das Nächste, das Seiende, und zugleich für das gewöhnliche Denken ferner 360
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als sein Fernstes ist die Nähe selbst: die Wahrheit des Seins.« (GA 9, 332) Die allzu nahe Nähe wird meist übergangen. Dies Unscheinbare tritt aber gegen Ende des Gesprächs als sich entziehende, jedoch alles gewährende Mitte hervor. In der Besinnung auf das Wort anchibasie wird im Gespräch »der Widerhall seines frühen Halles an einem Ort geborgen« und mit der Hoffnung versehen, dass dieser Nachklang »sogar uns Heutigen nicht ganz unzugänglich bleiben kann« (GA 77, 156). Die Figuren gehen damit als gewandelte aus dem Gespräch hervor, durch welches sich auch Seiendes anders zeigt. Ihnen wird am Ende der Unterredung – markiert durch ein »jetzt« (GA 77, 156) – die Erfahrung, dass sie den Anklang der Nähe selbst vernehmen, mitgegeben. 26
Wege des Gehens als Wege des Denkens Zu Beginn des Textes melden sich mehrmals der »Gelehrte« und der »Forscher« zu Wort, bevor der »Weise« am Gespräch teilnimmt. Das Ungleichgewicht in diesem Dreiergespann ist augenfällig: Während der »Forscher« einen Physiker moderner Prägung repräsentiert, der zunächst selbstbewusst Anleihen aus der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodik nimmt und sich ganz der verifizierbaren Objektivität verschreibt, von der »[a]lles Zeitbedingte und Persönliche« (GA 77, 42) abprallt, stellt sich der »Gelehrte« als Philosophiehistoriker alten akademischen Schlags vor, der beliebig viele Bezüge zur Geistesgeschichte herzustellen vermag und nie darum verlegen ist, Definitionen aus der Philosophiehistorie zu liefern oder Gesagtes mit weiteren doxographischen Hinweisen zu unterfüttern. Der »Forscher« erweist sich im Laufe des Gesprächs agiler, indem er sich nicht voreilig mit Hinweisen abspeisen lässt und den »Weisen«, etwa bei der Erörterung des Nicht-Wollens, zu einigen umfassenderen Ausführungen nötigt. Er lässt sich somit früher auf die ungewohnten Zwischenfragen ein, als es der »Gelehrte« tut, und bereichert das Gespräch in einer erfrischenden Weise. Der »Gelehrte« hingegen wirkt – weniger als Widerpart denn als geisteswissenschaftliches Pendant in Szene gesetzt – etwas hölzern und trocken, ja agiert mitunter als Karikatur seiner 26 Weiterführende Überlegungen zu Heideggers Verständnis der Nähe findet sich bei Kettering 1987.
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selbst, indem er altbackene Sentenzen vorbringt, etwa bei der Charakterisierung der Geisteswissenschaften, da seinem Verständnis nach dort die »Ernte in Gestalt seelischer Erbauung und geistiger Bereicherung« (GA 77, 42) eingebracht wird. Auch wohnt ihm der Hang inne, Reflexionen hyperkomplex darzustellen und im Gespräch verläuft er sich bisweilen in aporetischen Überlegungen, die von einer unfreiwilligen Komik geprägt sind. Insbesondere seine Ausführungen zum Horizont oder zum Krug sind nicht bar jeder Ironie und eine der wenigen Stellen im Heidegger’schen Œuvre, die mit süffisanten Zwischentönen durchsetzt sind (vgl. GA 77, 131). Wie folgt werden nämlich die Gedankengänge des »Gelehrten«, deren »Antwort schon beinahe erreicht« zu sein scheint, vom »Weisen« zusammengefasst: »Wir bedienen uns, hinausblickend auf das Wesen des Menschen, mit diesem Wesen eines Horizontes, der das Wesen des Horizontalen umgreifen soll und dabei selbst durch das Horizontale mitbestimmt ist.« Nachdem der »Gelehrte« diesem Resümee als den Sachverhalt treffend zustimmt, erhält er nur eine lapidare Frage als Rückmeldung: »Und das nennen Sie eine einfache Fragestellung?« (GA 77, 93) Einmal mehr erweist sich die trockene Stubengelehrsamkeit als besonders hinderlich, ungewohnte Pfade zu durchschreiten. Erst mit dem Hereinbrechen der Nacht, einer grundlegenden Wende im Gespräch, auf die noch eigens einzugehen sein wird, ist es dem »Gelehrten« möglich, sich auf das Gespräch einzulassen. Mit »freundlichem Spott« wird aber auch der »Forscher« bedacht, der allzu stur auf naturwissenschaftlichen Erklärungen beharrt und an lebensweltlichen Einsichten in einer grotesken Weise vorbeigeht. So ist seiner Ansicht nach ein Trinkgefäß niemals leer, da es immer mit etwas gefüllt sein muss, zumindest mit Luft, sodass der »Weise« neckisch anmerkt, dass sich Physiker offensichtlich in der privilegierten Lage befinden, »stets vor vollen Krügen sitzen [zu] dürfen« (GA 77, 131). Der »Weise«, seinem Selbstverständis nach weniger ein (Philo-)Sophos (GA 77, 21) denn ein Weisender im Sinne eines Deiktikos (vgl. GA 77, 84 f.), irritiert nicht nur durch seine Art der Rede, die zunächst als Schwärmerei (vgl. GA 77, 4) oder ein Sinnieren »über bloße Wörter« (GA 77, 3) abgetan und der wenig später Unaufmerksamkeit unterstellt wird, sondern sukzessive mehr durch seine Fragen (vgl. GA 77, 6) und Andeutungen (vgl. GA 77, 18). Seine Wortmeldungen befinden sich quer zum gewohnten und beabsichtigen gelehrigen FrageAntwort-Spiel, indem er es – anstelle griffige Definitionen bereit zu 362
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halten – mit erneuten Rückfragen, Wendungen eines »Vielleicht« 27 und eines »Vermutlich« 28 unterwandert und so die beiden anderen Gesprächspartner nachhaltig irritiert. Entgegen der gewünschten thetischen Rede entziehen sich seine Wortmeldungen, mitunter im Konjunktiv gehalten, propositionalen Aussagen. Ihnen ist ein retardierendes Moment mitgegeben, das immer wieder den Unmut der anderen Gesprächpartner hervorruft und gänzlich ihren Erwartungen zuwiderläuft. Der »Weise« muss sich daher immer wieder die Vorwürfe gefallen lassen, mit seiner eigenartigen Hinwendung zur Sprache eine »Zumutung« (GA 77, 19) darzustellen und das Gespräch nicht nur nicht voranzubringen, sondern es geradezu scheitern lassen zu wollen. Durch sein Nachfragen kann dem »Weisen« zwar ein maieutisches Moment zugestanden werden (GA 77, 6; 66, 70; 94), doch ihm wohnt eine seltsame Unaufdringlichkeit inne, der weniger das Bohrende der sokratischen Manier inhärent ist als ein erratisches Moment, das nicht einzuordnen ist und den gewohnten Gang beträchtlich verzögert. Trotz seiner Verhaltenheit gibt er den Takt des Gesprächs vor und lenkt es unversehens in andere Bahnen als in die von dem »Forscher« und dem »Gelehrten« intendierten. So scheut sich der »Weise« auch nicht, offene Fragen offen (vgl. GA 77, 65) und dabei das Rätselhafte als Rätselhaftes stehen zu lassen (vgl. GA 77, 31). Dieses Aushalten aporetischer 27 Das Irritationspotential des Vielleicht tut sich bereits beim ersten Auftauchen der Partikel kund: »Der Gelehrte: Sie waren daher nicht zerstreut genug, um unserem Gespräch zu folgen. / Der Weise: Vielleicht.« (GA 77, 4) Das Adverb darf jedoch nicht in einem schwachen Sinne gelesen werden, da Mitteilungen des Weisen von größter Tragweite zumeist mit einem »vielleicht« versehen sind, um Aussagen im herkömmlichen Sinne zu vermeiden, für die »der Name fehlt« (GA 77, 30). Dass sich im Vielleicht für Heidegger eine Möglichkeit im starken Sinne ankündigt, kann ein handschriftlicher Zusatz belegen: »vielleicht aus vil-lichte/viel-freies, viel-mögliches, möglicherweise« (GA 14, 80; Anm. 13). Die Verwendung des Vielleicht häuft sich mitunter bei Heidegger frappant: »Doch vielleicht ist das, was in einem solchen Text eines solchen Denkers ›dasteht‹, auch immer nur das Anwesende und nicht das Gegenwärtige. Vielleicht auch denkt ein Denker mehr als das, was er weiß und zu wissen meint und ausspricht. Vielleicht ist dieses ›mehr‹ dasjenige, was den Denker zum Denken bringt und ihn erst denkt. Vielleicht müssen wir dies, und daß es so steht, einem Denker zubilligen, wenn wir ihn überhaupt und zum voraus als einen Denker ernst nehmen.« (GA 55, 307; herv. M. F.) Für grundsätzliche Überlegungen einer Philosophie des Vielleichts vgl. Zeillinger 2009. 28 Analog zum »Vielleicht« hört Heidegger jedoch auch anderes mit. Vermutlich steht für ihn im Zusammenhang mit Zumutung und Mut: »Und wir achten nicht einmal darauf, daß vermutlich das Ratlose uns vom Rätsel selbst zugemutet wird.« (GA 77, 31)
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Momente ist dabei nicht ausschließlich den Interventionen des »Weisen« geschuldet, sondern dem »Zu-fall« (GA 77, 96), sodass etwa der »Forscher« konsterniert festhalten muss, dass sie vom geplanten Fortgang der Unterredung abdriften, ohne jedoch dafür Gründe angeben zu können (vgl. GA 77, 26). In ihren Wortmeldungen tut sich Überschüssiges kund, ohne dass diesem exzessiven »mehr« Einhalt geboten werden könnte. Im Sagen sind die Gesprächsteilnehmer sich selbst vorweg, worauf der »Weise« von Anfang an immer wieder hinweist: »Sie sagen da vermutlich mehr, als Sie denken.« (GA 77, 5; 7; 14) Bemerkungen dieser Art sind nun nicht als rhetorische Manöver oder gar beleidigende Unterstellungen zu sehen, sondern in ihrer denkerischen Tragweite ernst zu nehmen, indem in den jeweiligen Wortmeldungen anderes aufbrechen kann, als vom Sprecher intendiert ist. Die Sprache steht somit nicht in der Verfügungsgewalt eines souveränen Subjekts, sondern liegt dem Menschen in seinem Sagen voraus. Der eingeschlagene Weg wird dabei von den Protagonisten selbst im Gehen vollzogen und führt damit auch auf einer anderen Weise den Gang des Gesprächs vor Augen. Der Weg des Denkens vollzieht sich als Weg des Gehens. Diese Parallelisierung tritt an entscheidenen Punkten zu Tage. Explizit wird dabei nicht nur ihr Gehen auf dem Feldweg und später auf dünkleren Pfaden im Wald thematisiert, sondern auch das, was es heißt, in ein Gespräch eingelassen zu sein und ihm nachzukommen. Das Schreiten auf dem Feldweg und der Fortlauf des Gesprächs erweist sich aber als alles andere als geradlinig und zielgerichtet. Nicht jeder Schritt bringt sie im gewünschten Ausmaß nach vorne, oftmals entsteht der Eindruck, dass der Fortgang beschwerlich ist und sie im Gespräch sowie im Gehen auf derselben Stelle treten (GA 77, 31): Der Gelehrte: […]. Mir ist, als hielte uns etwas Lähmendes vom frischen Fortgang unseres Gespräches ab. Der Forscher: Auch möchte ich darauf hinweisen, daß Wir nun schon geraume Zeit an der selben Stelle dieses Feldweges stehen geblieben sind. Der Weise: Fast als scheuten wir uns, seiner Biegung zu folgen, die auf den Wald zuführt. Dieses Unterwegssein ist von der gemeinsamen Suche nach dem Wesen des Denkens geprägt, das ein mühsames Aufeinanderzugehen abverlangt. Gekennzeichnet ist das Gespräch ebenso vom Ringen um die gemeinsame Sache sowie von einer Mehrstimmigkeit, die von Misstönen und Unverständnis begleitet ist, bevor sich auf Um-, Ab- und 364
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Irrwegen eine Nähe allmählich einstellt. Doch bis dahin ist es ein »weiter Weg« (GA 77, 40), denn die Unterredung bleibt unentwegt der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Der Verlauf des Gespräches entspricht zunächst nicht den Erwartungen des »Forschers« und des »Gelehrten«. Sie möchten erkenntnistheoretische Fragestellungen erörtern und dabei – offensichtlich ihrer Profession entsprechend – sowohl natur- als auch geisteswissenschaftliche Einsichten in die Überlegungen miteinbeziehen. Immer wieder sehen sie sich genötig, den »Weisen« darauf aufmerksam zu machen, dass die vorgesehene Auslegungsbahn verlassen wird. Es wird die Gefahr angesprochen, vom »Thema abzuirren« (GA 77, 16) oder es bereits »aus dem Auge verloren [zu] haben« (GA 77, 25); zu sehr lassen sie sich durch unliebsame Zwischenfragen »auf alle möglichen Seitenwege ablenken« (GA 77, 26), indem sie ihrer Auffassung nach »richtungslos umherschweifen und den Weg bereits wieder verloren haben« (GA 77, 45), sodass eine »straffe Ordnung der Gedankengänge« (GA 77, 26) gänzlich vermisst wird. Es kommt bei ihnen das Gefühl auf, dass sie sich »im Kreis bewegen und nichts sagen« (GA 77, 80). Sie versuchen daher, durch Zusammenfassungen die Ergebnisse des Gespräches zu rekapitulieren (GA 77, 10; 25), und müssen dabei einsehen, dass entgegen der Gewohnheit, selbst »längere Ketten von Schlußfolgerungen in ihrer Verklammerung zu überblicken« (GA 77, 25), ihnen jedes feste Resultat aufgrund der Zwischenmeldungen des »Weisen« zwischen den Fingern zerrinnt. Der »Gelehrte« und der »Forscher« gestehen ein, dass sie immer mehr »ratlos [und] tatenlos« (GA 77, 31) werden. Ihren Unmutsbekundungen zum Trotz bestreitet der »Weise« nicht, dass sich das Denken dem herkömmlichen Fortschrittsdenken, wie es in der Technik oder anderen Wissenschaft forciert wird, entzieht und nicht von der Stelle kommt. Diese permante Einkehr im Selben wird von seiner Seite als das genuin Philosophische affirmiert: »Die Philosophen gehen nicht nur nicht vorwärts, sie treten nicht nur auf der selben Stelle, sondern sie gehen rückwärts. Dort ist nämlich die so genannte ›selbe Stelle‹.« (GA 77, 21) Es gilt im philosophischen Denken nicht so sehr, rasch weiterzukommen, sondern immer wieder beim Zu-Denkenden einzukehren und so bei dem zu verweilen, was zumeist übergangen wird. Eindringlich kündigt sich in diesen Überlegungen der Grundzug der anchibasie an. Die Hinwendung zu diesem Unscheinbaren ereignet sich als mühsames Zurückgehen und Nachbesichtigen. Das NachdenA
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ken vollzieht sich in der geschichtlichen Besinnung als ein – durchaus wörtlich zu nehmendes – Zurückdenken. Das Denken kommt nur weiter, indem es zurückkehrt und immer wieder auf die selbe Stelle tritt und dieses Zurückkommen auch aushält. Der »Weise« streicht diesen Zusammenhang – wiederum mit einem »Vielleicht«-Satz – heraus: »Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, daß wir uns dem Selben, ich meine dem, was von Hause aus das Selbe und nur das Selbe ist, ohne Umschweife nähern.« (GA 77, 45) Das Nähern wird somit nicht mehr im gewöhnlichen Sinne verstanden, auf einen Gegenstand zuzugehen und seiner habhaft zu werden, sondern dort zu verweilen, wo man sich schon befindet. Einhergehend mit dieser beunruhigenden Ruhe gerät auch das Gehen der Teilnehmer ins Stocken, da sie auch auf dem Feldweg nicht vorangeschritten sind. Provoziert von diesen vermeintlichen Stillständen, fordert der »Forscher« den »Weisen« auf, die »bisher ausgeübte Gesprächstaktik endlich auf[zu]geben« (GA 77, 45) und sich mehr dem Gegenstand zu widmen. Die zunächst schematisch zugewiesenen Positionen im Triumvirat lösen sich im Fortgang des Gesprächs allmählich auf. Aus dem Gespräch werden die Teilnehmer als andere hervorgehen. Die Veränderung ist dabei weniger an neuralgischen Punkten klar festzumachen, denn als Prozess unmerklicher Wandlungen in der Erfahrung des Gesprächs vernehmbar, der erst im Nachhinein als solcher zu kennzeichnen sein wird. An einer Stelle gibt der »Weise« einen Fingerzeig, was sich alsbald im Verlauf der Unterredung einstellen wird: »Doch das Gespräch wartet erst darauf, das zu erreichen, wovon es spricht. Und die Sprechenden des Gesprächs können nur in seinem Sinne sprechen, wenn sie dafür bereit sind, daß ihnen im Gespräch etwas widerfährt, was ihr eigenes Wesen verwandelt.« (GA 77, 57) So vermerkt der »Forscher«, dass der »Gang des Gesprächs« (GA 77, 117) ihn veranlasst habe, sich in einer anderen als in der gewohnten Weise auf die Dinge einzulassen und insistiert gegen Ende auf grundlegenden Einsichten der geschichtlichen Besinnung, sodass die methodologische Dichotomie zwischen historischem und systematischem Verfahren von ihm selbst aufgelöst wird. Diese Wende des Gesprächs wird vernehmbarer, sobald die drei nicht mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit die Unterredung beenden und auf dem Feldweg umkehren, sondern – nach einigem Zögern – den »weiten Weg durch den Wald« (GA 77, 74) einschlagen, um tiefer ins Dickicht der Überlegungen einzukehren. Auch wenn das Gespräch im366
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mer noch weit davon entfernt ist, sich in einem harmonischen Akkord aufzulösen, wird spätestens von nun an, ohne sich weiter über die vermeintliche Gesprächsführung des »Weisen« zu monieren, um die gemeinsame Sache gerungen. Das Gespräch schreitet über erkenntnistheoretische Fragestellungen fort zu einer Erörterung, was Denken und Menschsein überhaupt heißt. Doch was zeichnet ein Gespräch überhaupt als Gespräch aus, in dem es zu Verwandlungen kommen kann, die weder willentlich herbeigeführt werden können noch als solche vorauszusehen sind? Welches Verständnis von Wort ist dabei leitend und wie wird dieser Bewegtheit auf einer impliziten und explizten Ebene nachzukommen versucht?
Ein Gespräch des Gesprächs Im Gespräch kehren vermehrt Überlegungen wieder, was ein Gespräch allererst ein Gespräch werden lässt. Damit verschreibt sich der Text einem gewagten Unterfangen, gleichzeitig über das Gespräch zu sprechen und das Gespräch als Gespräch zu vollziehen. Normalerweise wird zwischen konstativen und performativen Sprechakten unterschieden oder doch zumindest, unter welcher Hinsicht die Aussagen einzuordnen werden könnten. Doch diese dichotomischen Kategorisierungsversuche greifen hier in einer auffälligen Weise zu kurz. Anchibasie wird mit dieser doppelten Geste zum Gespräch ein »Gespräch des Gesprächs«, dessen Genitiv stets als subjectivus und objectivus lesbar bleibt. Es wird dabei über das Gespräch gesprochen, indem es sich als Gespräch performiert. Was sich darin kundtun, wird aber nicht in einer direkt-anschaulichen Weise vorliegen, sondern entzieht sich gerade im gelingenden Vollzug. Das Anfangsthema, vom Erkennen her das Wesen des Menschen als animal rationale näherhin bestimmen zu wollen, wandelt sich unversehens im Gespräch. Im Gespräch wird vom Gespräch her dem nachgegangen, was es heißen könnte, Mensch zu sein. Es wird dabei erörtert, »ob denn die Frage nach dem Wesen des Menschen überhaupt eine Frage nach dem Menschen sein könne« (GA 77, 102), gewissermaßen beim Menschen anfangen müsse oder nicht vielmehr das zu berücksichtigen habe, von woher er sein – verbal verstandenes – Anwesen erhält. Traditionelle anthropologische Bestimmungen erweisen sich dabei nicht mehr als tragfähig, vielmehr weist das Gespräch selbst in eine andere Richtung. Der »Weise« äußert A
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dabei seine Bedenken, ob bei der Frage und einer Definition im herkömmlichen Sinne angesetzt werden kann, »ob die Wesensbestimmung des Menschen die Antwort auf eine Frage sei, oder [vielmehr; M. F.] die Antwort auf das Wort« (GA 77, 103). Um dieser Vermutung nachzukommen, die die herkömmlichen Auslegungsbahnen verlässt, wird der responsiven Dimension des Gesprächs selbst nachzukommen sein. Inwiefern der Mensch als Antwort auf das Wort verstanden werden kann, ergibt sich aus dem Gespräch. Zunächst ringt der »Weise« darum, das Gespräch nicht misszuverstehen. Was es sein könnte, ist zwar »schwer zu sagen«, doch in der von ihm »betonten Bedeutung« (GA 77, 57) kann nicht jedes Miteinandersprechen oder jedes Gesprochene als Gespräch verstanden werden. Das Gespräch ist seiner Auffassung nach auch nicht von einer Absicht geleitet, durch die von vornherein ein bestimmtes Ziel anvisiert wird, vielmehr muss ein Gespräch sich entfalten können. So gibt der »Weise« zu bedenken: »Doch vielleicht könnte einer bezweifeln, ob ein Gespräch überhaupt noch ein Gespräch ist, wenn es etwas will.« (GA 77, 56) Das Glücken eines Gesprächs hängt somit nicht vom Können oder vom Willen der Gesprächspartner ab, wiewohl es nie ohne deren teilnehmenden Vollzug – der »Weise« insistiert hier eindringlich auf ein Mit-sprechen (vgl. GA 77, 46) – gelingt. Die Prämissen der Willensmetaphysik und Ontologie der Vorhandenheit werden damit nachdrücklich in Frage gestellt: Das, was sich in einem Gespräch zeigen kann, entzieht sich der Plan- und Berechenbarkeit. »Planmäßige Gespräche« – gibt der »Weise« lakonisch zu bedenken – »sind in unserem Fall wohl ein Unding.« (GA 77, 74) Zwar werden Gespräche geführt, doch dieses Führen ist weniger ein Diktieren als ein Gelenktwerden. Ob das Gespräch ge- (oder miss-)lingt, liegt nicht vollends in den Händen der Teilnehmenden. Sie können immer auch scheitern, wie der Gang auf dem Feldweg zeigt. Gespräche lassen sich nicht erzwingen, sondern sie ergeben sich. Der richtige Moment für ein Gespräch kann somit nicht von außen bestimmt werden; vielmehr ergreift er die Figuren und macht sie zu Teilnehmenden eines Geschehens – ohne dass sie dadurch eine Gewissheit für dessen Gelingen haben könnten. Gerade das vermeintliche Mäandern und vom anvisierten Ziel Abkommen kann sich im Nachhinein als ertragreicher herausstellen als der direkte Zugriff. Mittels bewährter methodischer De- oder Induktionen, wie sie aus den Fachwissenschaften bekannt sind, lässt sich Nähe offensichtlich nicht fassen. Sie entzieht sich dieser Art bewährter Zugriffe (vgl. 368
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GA 77, 54). Der »Zu-fall« (vgl. GA 77, 3; 96), verstanden nun nicht als unerklärbare Unterbrechung von Kausalverkettungen, sondern als was sich im Gespräch unverhofft ergibt, erweist sich für die Unterredung als leitend. Anstelle des fordernden Wollens wird das Gespräch in seiner welt-eröffnenden Dimension vernehmbar. Es gibt kein Thema des Gesprächs, das unabhängig von dessen Vollzug vorläge. Erst im Gespräch ereignet sich ein Zur-Sprache-kommen (vgl. GA 77, 46). Das Besprochene ergibt sich erst aus ihm und wird so offenbar. Es kommt aber nicht nur etwas, sondern das Wort selbst zur Sprache, auch wenn sich das Sichmitereignenen des Wortes zumeist zugunsten des Besprochenen entzieht. Die Sache des Gesprächs ist somit das Wort, es kommt in ihm zur Sprache, sodass »das eigentliche Gespräch erst das Wort zur Sprache bringt« (GA 77, 57). Gespräch wird somit als das verstanden, wodurch der gewährende Zuspruch des Wortes eigens erfahren wird. Die Besinnung auf das responsive Wesen des Menschen mutet befremdlich an. Der »Forscher« muss sich eingestehen: »Seltsame Dinge sind es, an die wir da rühren. Und ich möchte hier nun auch nicht länger verschweigen, daß mir jedesmal in unseren Gesprächen so ist, als verschwänden Stand und Name, ja sogar das eigene gewohnte tägliche Wesen. […] Ich weiß bald nicht mehr, wo ich bin und wer ich bin.« (GA 77, 85; vgl. GA 77, 110) Die dem Menschen inhärente Selbstentfremdung wird somit von den Figuren selbst mitvollzogen. Das Verständnis des Menschen als Selbstverständnis der Figuren bleibt nicht das, was es war. Performativ wird die Einsicht ins Werk gesetzt, dass das Gespräch nur dann gelingen kann, wenn nicht auf dem eigenen Standpunkt beharrt wird, sondern die je schon aufgebrochene Selbstentfremdung in ihrer fundamentalen Tragweite einsichtig gemacht wird.
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Zuvor wurde bereits angemerkt, dass das Gespräch mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit und dem Entschluss, die Unterredung nicht abzubrechen, sondern die Bemühungen über den längeren Waldweg schreitend in einer verstärkten Weise weiterzuführen, eine eigentümliche Wende erfährt, obwohl die Sache des Gesprächs – die Wesensbestimmung des Menschen und sein Verhältnis zum Seienden – dieselA
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be (wenn auch nicht die gleiche) bleibt. In mehrfacher Hinsicht verwandelt sich nämlich der gesamte Duktus des Gesprächs. Die Nacht spielt in anderen Texten Heideggers keine nachgeordnete Rolle; sie wird dabei – in Rückgriff auf seine Lektüre von Heraklit (als erster Anfang) und Hölderlin (als anderer Anfang) – weniger unter negativen Vorzeichen betrachtet denn als Möglichkeit eines in ihr aufkommenden anderen Anfangs: »Die Nacht übernimmt den Untergang und nimmt ihn in ihre Verwahrung, denn sie ist Vorbereitung des Aufgangs.« (GA 52, 88) Es gilt daher nicht, sie voreilig zu beseitigen, sondern »die Nacht zu behüten« (GA 65, 487). Gewahrt wird die Nacht insofern, als sich in ihrem Schutz eine gewagte Redeweise ankündigt. Was in den Hölderlin-Vorlesungen oder in den Beiträgen noch über die Nacht gesagt wurde, vollzieht sich hier – beinahe unmerklich – im Text selbst. Im Feldweggespräch Anchibasie wird einer »politischen« Dimension der Nacht nicht weiter nachgegangen, die im Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager gestreift, in anderen Texten explizit hervorgehoben wird. Heidegger möchte in diesem Zusammenhang zu einem anderen Verständnis von »Europa« im Sinne des Abend-Landes kommen: »Das ›Abendland‹ […] ist das Land des Abends, der die Nacht vorbereitet, aus der eh der Tag des anfänglicheren Anfangs sich ereignet.« (GA 71, 95) Diese Spannung im »Untergang«, der anderes als das Überkommene in sich birgt, wird insbesondere gegen Ende des Gespräches vor dem Hintergrund anderer Texte Heideggers vernehmbar. Dieser »Untergang«, den er andernorts terminologisch von der »Verendung« einer neuzeitlich-metaphysisch Konzeption Europas abgegrenzt (vgl. GA 71, 84), beinhaltet die Möglichkeit eines kommenden »Morgenlands«, das sich nicht mehr als geopolitisches Gebilde aufzufassen lässt und sich auch nicht mehr aus einer alles verrechnenden Ordnung versteht. Diesem anderen Anfang der Geschichte möchte Heidegger in seiner seynsgeschichtlichen Besinnung einen Weg bereiten. Im Feldweggespräch kündigt sich dieser andere Anfang eines Kommenden bereits an. Die zunächst für Jahres- und Tageszeiten unempfänglichen Figuren – gemeint sind der »Forscher« und der »Gelehrte« – sprechen der Nacht wesentliche Impulse für das Gelingen des Gesprächs zu (GA 77, 107): Der Forscher: Daß mir dies glückte, liegt nicht an mir, sondern an der inzwischen hereingebrochenen Nacht, die zur Sammlung zwingt, ohne Gewalt anzuwenden.
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Der Gelehrte: Sie läßt uns Zeit zum Nachsinnen, indem sie den Schritt verlangsamt. Es werden fortan nämlich nicht mehr allzu bekannte und mitunter auch schematische Positionen rund um die drei Protagonisten skizziert, denen bislang stets etwas Didaktisches anhaftete, sondern die Figuren wagen sich nun – altbewährte Pfade verlassend – in unbekannte Gefilde vor. Sie bewegen sich dabei am Rande des Sagbaren, dessen Nachvollzug wohl nur mehr aus dem gemeinsamen Gesprächsverlauf einsichtig gemacht werden kann, dessen Rede jedoch grenzfällig bleibt. Eingefordert wird gleichzeitig ein verstärktes Mitgehen der Lesenden, die Einsichten nicht mehr in einer griffigen Weise erläutert bekommen, sondern mit einer Reihe von Überlegungen und Worten konfrontiert werden, die den herkömmlichen philosophischen Diskurs sprengen. Es wird in einer unerhörten Weise von der »Gelassenheit« und »Gegend«, aber auch »Gegnet«, »Vergegnis« und »Bedingnis« die Rede sein – Worte, die eigentümlicherweise der »Gelehrte« (und nicht der »Weise« als das vermeintliche alter ego Heideggers) einwirft, indem er den Bewegungen des Gesprächs folgt. Erstmals wird – der Sache nach – eine »Topologie des Seins«, wie sie ein Jahr später explizit für ein denkendes Dichten in Anspruch genommen wird (GA 13, 84), skizziert, in der das Verhältnis von Mensch und Ding aus der Gegnet anders als in der metaphysischen Tradition, aber auch anders als in Sein und Zeit (qua Sinn des Seins) oder auch in den Texten rund um die Beiträge (qua Wahrheit des Seins) bedacht wird (vgl. GA 15, 335), sodass allmählich einsichtig wird, warum Heidegger Figuren auf diesem Weg des Denkens vorausschickt, ja vorausschicken muss. Offensichtlich wird ihnen mehr zugemutet, als es sich der Autor selbst zutraut, auch lässt er sie eine Sprache sprechen, die (noch) nicht seine eigene ist. Im Gegensatz zu späteren Aufsätzen, wie etwa Das Ding (GA 7, 165 ff.) oder Bauen Wohnen Denken (GA 7, 145 ff.), in denen Heidegger die Topologie des Seins als »Geviert« zu verstehen versucht, ist Anchibasie aufgrund seines Gesprächscharakters eruptiver und fließender, sodass kein Schema das Unterwegssein zu verfestigen vermag. Der zuvor zitierte Ausspruch des »Weisen«, der den »Mut zum Vermuten im Gespräch aus dem Gespräch« (GA 77, 84) erfährt, trifft wohl in erster Linie auf den Autor selbst zu. Diese Gestaltung darf jedoch nicht als verspielt-provokatives Unterfangen angesehen werden, sondern ist dem Wagnis geschuldet, tradierte Auslegungsbahnen verlassen zu müssen, um dem Anspruch des ZuA
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Denkenden nachkommen zu können. Der Text versteht sich in seinem Vorausdeuten nunmehr als »Übergang« (GA 77, 124), in dem manches nun – wiederum auch ganz wörtlich genommen – übersprungen werden muss, um in ein gewandeltes Verhältnis zu gelangen und erst von dort aus Übergangenes nachzuholen. Dezidiert wird somit ein schrittweises Vorgehen zugunsten einer Kehrtwende oder eines Sprunges zurückgenommen, das sich von jedem linear-didaktischen Erläutern verabschiedet hat. Zunächst wird in einer besonderen Weise ein Einhören auf die Worte und die »Fülle ihrer Sagekraft« (GA 77, 100) eingefordert. Ein Denken, das sich sukzessive mehr als Danken verstehen wird, besinnt sich auf die (geschichtliche) Weite des Schwingungsbereichs der Worte, auf deren Einfall es wartet und woran es sich mehr und mehr orientiert. Dezidiert weist eine Anspielung auf Heideggers eigenes Denken, die der »Gelehrte« einwirft, auf dieses gewandelte Verhältnis zur lesenden Einkehr im Wort hin: »Man könnte sich z. B. die Möglichkeit ausmalen, daß ein Denken nur darin besteht, ein einziges längst bekanntes Wort, z. B. das griechische Wort aletheia wieder in den Sprachgebrauch zu bringen.« (GA 77, 99) Fortan wird nicht mehr im eigenen Namen (weder in dem des Autors noch in denen der Figuren) gesprochen, sondern es wird versucht, auf Worte zu antworten, indem sie in ihrer geschichtlichen Tragweite gehört und gelesen werden. 29 Den Lesenden wird nun die Aufgabe (mit-)übertragen, in dieses gewandelte Verhältnis zum Wort zu gelangen, da nicht mehr die Sprechenden allein ihr nachkommen können. So macht der »Weise« auf den Umstand aufmerksam, dass das Wort dem jeweiligen Denker voraus sein kann: »Der Denker sagt sogar mehr, als er selbst wissen kann, so daß er von der Unerschöpflichkeit des eigenen Wortes überrascht und vor allem übertroffen wird.« (GA 77, 100) Insbesondere dieser Text transzendiert sich selbst, da er sich nicht mehr erschöpfend erklärt, sondern sein Sagen sukzessive als Zeigen bzw. Weisen versteht,
Heidegger selbst betont in einer Aussprache an der Universität Zürich im Jahre 1951: »Ich habe in meiner 30–35jährigen Lehrtätigkeit nur ein bis zweimal von meinen Sachen gesprochen. Ich habe nie ein sogenanntes systematisches Kolleg gehalten, weil ich es nicht wagte, weil ich glaube, daß wir […] erst wieder lernen müssen zu lesen. Diese ganz einfache Sache, lesen zu lernen, das Wort der Dichter und Denker – diese einfache Vorschule ist es, die, in ganz weiter Sicht, das vorbereiten soll, was ich sagen möchte.« (GA 15, 426)
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das der Deutung harrt und die responsive Dimension des Wortes ins Werk setzt. In dieser offenen Adressierung übersteigt das Gespräch nun sowohl eine vermeintliche Autorintention als auch das Vorhaben der Figuren. Welchem sachlichen Problem möchte das Gespräch nun – im Schutze der Nacht – in einer vertieften Weise nachkommen? In der Philosophie, verstärkt in ihrer neuzeitlichen Prägung, wurde das Denken als Vermögen des Subjekts verstanden. Dieses ist in der Lage, sich Objekte vor- und auf sich zuzustellen. Dabei agiert es als Bezugsmitte aller Gegenstände, da erst innerhalb seines Horizontes die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinenkönnens alles Seienden gewährt wird. Diese »überlauten Ansprüche der philosophischen Anthropologie« (GA 77, 102) sollen jedoch insofern unterlaufen werden, indem – wie wiederholt insistiert wird – »das Andere« (GA 77, 102) des transzendental-horizontalen Denkens bedacht werden soll. Die Eröffnung des horizontalen Aufrisses bestimmt sich im klassischen Verständnis dadurch, dass ein Ego als dessen fundamentum inconcussum agiert oder diese Lichtung bewerkstelligt. Alles Erscheinende wird dabei gemäß einer Ontologie der Vorhandenheit als res obstans, die dem Subjekt entgegensteht (das Objekt wird also ganz wörtlich als ob-jectum verstanden), interpretiert. Weder soll nun aber das Sichzeigen der Dinge auf ein souveränes Subjekt zurückgeführt werden, noch sich ihr Erscheinen in seinem possessiven Zugriff erschöpfen, indem Seiendes in seinem Gegenstandscharakter dingfest gemacht wird. So betont der »Weise« in Anspielung auf ein wörtliches Verständnis des Horizonts (als das Begrenzende) kritisch: »Der Gesichtskreis ist also ein Offenes, was seine Offenheit nicht davon hat, daß wir hineinsehen.« (GA 77, 112) Das, was dem Menschen begegnet, soll somit weder kausalursächlich von ihm evoziert, noch in einer transzendental-horizontalen Weise auf ihn zurückgestellt werden. Diese transzendentale Konzeption des Horizontes kommt gerade nicht dem nach, was sie per definitionem beinhalten möchte: die Grenzziehung im Gesichtskreis. Ein universaler bzw. letzter Horizont umfasst als Horizont aller Horizonte nämlich alles – außer seine eigene Grenzhaftigkeit. So verabschiedet der »Gelehrte« selbst, der den Horizontbegriff ins Spiel gebracht hat, das transzendental-horizontale Denken einer subjektivistischen Allverfügbarkeit, die ihre eigenen Grenzen und damit auch die eigene Endlichkeit nicht mehr ernst nehmen kann, wie das Abdriften in einen unendlichen Regress plastisch vor Augen führt: »Wie soll aber dann der Horizont das A
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sein, was sein eigener Name sagt? Wie soll er das Umgrenzende sein, wenn ihm wesenhaft die Grenze mangelt? Ein grenzenloser Horizont ist wie eine ungerade Gerade.« (GA 77, 94) Nach dieser sich entziehenden und zugleich gewährenden Grenze wurde in der Tradition nicht weiter gefragt. Dem möchte nun das Gespräch nachkommen, indem dezidiert nach dem Moment des gewährenden Entzugs im freigebenden Offenen gefragt wird. Dieses Offene, in das der Mensch eingelassen ist und auf dessen Anspruch er angewiesen bleibt, wird im Gespräch als »Gegend« (GA 77, 112) und wenig später, um Missverständnissen vorzubeugen, als – angeblich aus dem Tiroler Dialekt stammender Terminus30 – »Gegnet« umrissen: »Die Gegnet ist die verweilende Weite, die, alles versammelnd, sich öffnet, so daß in ihr das Offene gehalten und angehalten ist, Jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen.« (GA 77, 114) Als Gegnet wird somit die gewährende Offenheit einsichtig zu machen versucht, in der alles (zusammen-) gehalten wird und jedes seinen Ort findet, ohne jedoch selbst ein Ort oder ein Ding zu sein. Während im Feldweg-Gespräch eine Unterscheidung von Ort und Gegend/Gegnet nicht vorgenommen wird, ja, das Wort »Ort« gar nicht vorkommt, grenzt Heidegger in einer Vorlesung aus dem Sommersemester 1944 Gegend von Ort in Rückgriff auf das Griechische dezidiert ab. Indem er topos als Ort auslegt, Gegend jedoch als chora zu interpretieren versucht, zeigt sich das heuristische Moment dieser Unterscheidung: »Der Ort ist stets in einer Gegend und hat um sich die Umgebung, die aus der Umgegend [sic!] kommt.« (GA 55, 335) Gegnet erweist sich hierbei nicht als fertig eingerichtete Werkstatt, wie sie in Sein und Zeit beschrieben wird (vgl. GA 2, 137 f.), in der sich alles in einer blinden Vertrautheit an seinem Platz befindet, sondern als unkontrollierbare Weite, die gerade nicht restlos überblickbar ist, und sich im Prozess offener Erkundungsbewegungen auch zu wandeln vermag. Insbesondere die Schwellenerfahrung, die sich im Übergleiten in die Nacht, im Übergang vom Feld- zum Waldweg kundtut, weist nach-
Das Wort »Gegnet« findet sich als bayrische Abwandlung auch im Grimm’schen Wörterbuch. Den Hinweis auf eine Tiroler Redewendung erläutert Heidegger in seiner Vorlesung zu Heraklit: »In der Tiroler Mundart gibt es eine Redewendung, die lautet ›keine Gegnet haben‹ – d. h. kein freies Schußfeld haben.« (GA 55, 335) Ein Beleg für diese Verwendung wurde jedoch nicht gefunden.
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drücklich auf diese Unabschließbarkeit hin. Gerade das Unterwegssein des Denkens, das sich auf diese Offenheit einlässt, weiß nicht, wohin es gelangen wird. Weder das Vorgehen im Sinne einer planbaren Methodik noch das Ziel im Sinne eines anzuvisierenden Telos ist dabei gegeben. Das Wagnis eines hodophilen Denkens besteht gerade darin, sich aus diesen offenen Erkundungsbewegungen zu verstehen (vgl. GA 12, 168). Dabei wird die Gegnet nicht als räumliches Pendant zur Zeitlichkeit verstanden. Sie gewährt zumal Weite und Weile, ohne jedoch als transzendentale Anschauungsform missverstanden zu werden. Zurückgwiesen wird nicht nur die traditionelle Gegenüberstellung zwischen innerem Zeitsinn und äußerem Raumsinn, sondern es wird deutlich gemacht, dass Raum und Zeit nicht mehr voneinander getrennt behandelt werden können, da sie immer schon ineinander greifen. Die Gegnet trägt somit ihre genuine Geschichtlichkeit mit sich, ja mehr noch: Sie ereignet sich nur als Geschichte. Stets ist die Gegnet eine bestimmte (auch wenn sie sich darin nicht erschöpft), wie auch das Ausschreiten des Feld- und Waldweges nahelegt; sie ist somit mit einer je idiographischen und irreduziblen Spezifizität versehen, sodass sich in ihr alles Gegebene sammelt und in Bezügen zueinander steht. Die Gegnet ist somit nur als hodologische gegeben, indem sie wortwörtlich durch die sie erschließenden Wege erfahren wird. Erst im Ausschreiten eröffnet die Gegnet ihre Eigenheit. Damit unterscheidet sich die Gegnet auch grundlegend von einem homogenen (cartesianisch-mathematischen) Raum, in dem alle Punkte gleich gültig und damit letzlich gleichgültig sind. Assoziationen mit einem umfassenden Behälter, in dem alles wahllos und indifferent untergebracht werden kann, werden daher dezidiert ausgeschlossen. Diese Konzeption bezugsloser und messbarer Raumpunkte widerspricht einem Verständnis der Gegnet, die differente Orte erörtert, um die Frage nach der Eigenheit, aber auch nach der Bewohnbarkeit oder Unbewohnbarkeit eben dieser Orte zu stellen. Die Gegnet wird vielmehr als das Versammelnde erfahren, das weder als geschlossene Systematik noch als nachträglicher Zusammenschluss zu interpretieren ist, sondern sich als gefügte Weite kund tut, aus der Seiendem seine Jeweiligkeit gewährt wird und wohin dieses gehört. Eine Gegend erschließt sich jedoch nur durch die in ihr gehaltenen Orte und Dinge, sodass sie aus einer jeweils genuinen Verschränkung verstanden werden muss. Im Gegensatz zu einer Apriorität (des Raumes und der Zeit) spielen GeA
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gend und Ort auf je singuläre Weise – respektive das darin gehaltene Ding, das darin seinen Ort findet – ineinander und zeichnen die Gegnet als Gegnet aus. Intendiert ist damit nicht eine simple Readaptierung des klassisch phänomenologischen Begriffs von Welt, die ein (fundamental-)ontologisches und atemporales Fundierungsverhältnis alles Seiende in einem (daseinserschlossenen) Bedeutungszusammenhang forcieren möchte. Dieses Verständnis von Welt, wie es in Sein und Zeit noch zu finden ist (vgl. GA 2, 85 ff.), wird im Gespräch einer expliziten (Selbst-)Kritik unterzogen (vgl. GA 77, 143). Im Unterschied zum Welt-Horizont ist die Gegnet nicht an den Entwurf des Daseins rückgebunden. Vielmehr erfährt sich nun auch der Mensch als ein in jeweilig geschichtlich-situativ ineinanderlaufende Beziehungen ein-gelassener. Sich als in die Gegnet Gelassener zu verstehen, ist jedoch nicht etwas, das der Mensch herbeiführen kann, sondern was sich – aufgrund seiner geschichtlichen Zugehörigkeit – er-gibt. Damit werden die herkömmliche Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt sowie ein transzendental-horizontaler Ansatz mit einem ontisch-ontologischen Fundierungsverhältnis unterwandert. Aus dem Verständnis von Welt, die insofern weltet, indem alles zueinander versammelt wird, kommt es auch zu einer anderen Einsicht von Nähe. Aus ihr wird das freigebend Gewährende und entziehend Verwehrende erfahren. Zu diesem Verständnis von Gegnet und Welt und Nähe ist das Gespräch unterwegs. Nähernd lassen sich die drei in diese Art der Nähe ein. Eingedenk dessen, dass sich das Menschsein aus diesem Eingelassensein in Weltgegenden versteht, wandelt sich auch sein Selbstverständnis. Es erfährt sich angesprochen und herausgefordert von der Gegnet, in die es eingelassen ist. Anstelle der »Haltung« – durchaus im Sinne einer hexis verstanden –, die gemäß der subjektiven Willkür so oder so ausfallen kann, wird auf eine vor-ursprüngliche »Verhaltenheit« aufmerksam gemacht, in deren Verhältnishaftigkeit sich der Mensch je schon befindet, ja aus der er allererst hervorgeht. Das Eingelassensein konterkariert dabei nicht nur eine Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt als an sich gegebene Bezugsglieder, sondern zeigt auf, dass sich in dieser responsiven Dimension ein Weltverhältnis kundtut, das dem Mensch übereignet und geschenkt ist. Responsivität und das Welten der Welt müssen als ein Geschehnis verstanden werden. Im Antworten tut sich eine Bejahung kund, die im responsiven Vollzug diese Vor-Gabe affimiert wird. Der Mensch erfährt sich 376
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hierin als je schon Beschenkter. Dieser Zusammenhang von dankender Responsivität und gewährendem Weltgeschehnis wird im Krug als Ding verdeutlicht, der sich als etwas »Festliches« (GA 77, 136) und als Gabe im emphatischen Sinne erweist. Das Sichzeigen der Dinge und das Walten der Welt wird nicht mehr auf die Konstitutionsleitstung eines Subjekt zurückgeführt, sondern das Menschsein erfährt sich antwortend und zugehörig aus dieser ihm zukommenden Gegebenheit. Um das gewandelte Verständnis von Menschsein im Sinne der Gelassenheit anzuzeigen, unterstreicht der »Weise«, »daß das Wesen des Denkens nicht aus dem Denken her und d. h. nicht aus dem Warten als solchem her bestimmt ist, sondern aus dem Anderen seiner selbst, d. h. aus der Gegnet, die west, indem sie vergegnet.« (GA 77, 123) Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass das Denken nicht aus ihm selbst im Sinne einer autonomen Souveränität zu bestimmen ist, sondern aus dem Anderen seiner selbst, nämlich als »Vergegnis der Gegnet« (GA 77, 123). Eindringlich werden hier die Lesenden aufgefordet, mit dem Gespräch mitzugehen und dem nachzukommen, was hier »ver-gegnen« heißen könnte, da sich der Text einer expliziten Erläuterung versagt. Ein »Hören auf die dem Wort gemäße Antwort« (GA 77, 120) könnte hier nicht nur eine Erörterung dessen, was »Gegnet« heißt, abverlangen, sondern auch eine verstärkte Einkehr in das Präfix »ver-«. Die Gegnet ist nicht, sie ist nicht wie Seiendes, sondern west. Sie west aber nicht in der Weise, dass sie begegnet (und so dem Menschen gegenübersteht), sondern ver-schenkt, indem sie einen Zugriff ver-wehrt. Das Präfix »ver-« wird somit in einer Ambiguität hörbar, deren paradoxales Widerstreben nicht aufgelöst, sondern aus dieser Verschränkung vernehmbar gemacht werden muss. Sie ge-währt und ver-wehrt als sich eingrenzende und entziehende Offenheit, indem sie diese stets in einer idiotopologischen Weise aufreißt, ohne dass darin alles möglich wäre. 31 Nicht nur ereignet sich die Lichtung als eine sichverbergende, indem ihr Offenes sich nicht selbst als etwas Offenständiges erweist, sondern darüber hinaus bleibt dieses Geschehen einer je spezifischen Verortung – oder adäquater ausgedrückt – einer jeweiligen Vergegnis geschuldet.
31 Heidegger kommt dem Idio(topo)graphischen an anderer Stelle nach, indem er über die Sixtina spricht (vgl. GA 13, 119–121). Insbesondere seine späten Erörterungen Die Kunst und der Raum (GA 13, 203–210) sind von dieser Einsicht getragen.
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Es wird nicht mehr über Gegnet in einem abstrakten Sinne gesprochen, sondern – wie das Feldweg-Gespräch zeigt – in einem je sich konkret auszugestaltenden, ohne dass sie an einer Raumstelle oder an einem Seienden festzumachen wäre. In diesem topologischen Ver-Hältnis gelangt das Menschsein in einen gewandelten Bezug zum »Ding«, sofern ihm nämlich dabei das Seiende nicht entgegensteht, sondern sich in einer anderen Weise als ein Objekt zeigt. Das Feldweg-Gespräch gelangt hier zu einem anderen Verständnis des Dinges, als es bislang aus den Texten Heideggers ersichtlich war: Während in Sein und Zeit der Tendenz (des Verfallens) nachgegangen wurde, alles Seiende gemäß einer Ontologie der Vorhandenheit auszulegen und die ding-analoge Interpretation der Herstellbarkeit daher einer grundlegenden Kritik unterzogen wurde (vgl. GA 2, § 10), wird hier »Ding« nunmehr vom althochdeutschen »thing« im Sinne der Versammlung verstanden (vgl. GA 7, 175; GA 79, 13). Es lässt sich mit dieser Hinsicht auch nicht mehr unter die im Frühwerk Heideggers explizierten Seinsweise des Zuhandenen eines Zeuges einordnen. Wie ereignet sich das (Dingen des) Ding(es) als Versammlung? Am »Beispiel« eines Kruges wird dieses neue Verständnis aufzuzeigen versucht, das nun nicht mehr vor-gestellt und über das verfügt werden kann, sondern das in seinen Bezügen vernommen und so verwahrt wird. Bemerkenswert ist hier, dass der Text sich dem Einfachen zuwendet und zum Alltäglichen findet. Es geht nicht um abgehobene theoretische Konstruktionen, sondern um ein Zeugnisgeben dessen, was und wie es ist. Tradierte Ansätze, wie die aristotelische Vierursachenlehre oder die dichotomische Einteilung in Form und Stoff, wie sie der »Gelehrte« in die Unterredung noch einwirft (vgl. GA 77, 126 f.), werden als unhaltbar zurückgewiesen. Diese technomorphen Herangehensweisen gehen am Krug als das Fassende eines Getränks vorbei, da die fassende Leere weder etwas ist noch hergestellt werden kann und gerade das nicht berücksichtigen, was den Krug als Krug auszeichnet, nämlich dass er Trinkbares für den Menschen bereithält. Diese »Phänomenologie des Unscheinbaren« (GA 15, 399) widmet sich dem, was sich nicht auffällig in den Vordergrund drängt und daher zumeist übergangen wird, da es als wörtlich genommenes Unscheinbares nicht eigens zum Erscheinen gelangt. Heideggers Denken verschreibt sich somit immer mehr dem einfach Gegebenen, ohne auf altbewährte Kategorien zurückgreifen zu müssen. Das Ding ist dabei weder konkreter Einzelfall (im Sinne der Existenz) noch eine abstrakte Allgemeinheit (im Sinne 378
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der Essenz), sondern schlicht das, was versammelt und worin diese Versammlung als Zusammengehören zum Vorschein kommt. 32 Das Dingsein des Dinges wird anhand eines Kruges zu sehen versucht. Die gesamte Erörterung ist dabei von unterschiedlichen Hinsichten geprägt, da sowohl der »Gelehrte« als auch der »Forscher« sich schwer tun, das Einfache zu erblicken. Den Passagen ist ein retardierendes Moment anheim gegeben, das auch die Leserschaft zwingt, sich in diese Verwandlung der Denkgewohnheit einzulassen. Worauf lenkt der Text seinen Blick? Der Krug darf weder als ein bloßes Beispiel einer allgemeinen formalen Bestimmung einer Dingheit ausgelegt werden, noch ist das Dingen des Dinges allein auf den Krug zu beschränken. 33 Am »Spezifischen« des Kruges soll ein je bestimmtes Dingen vernehmbar werden, ohne dass es sich darauf einengen ließe. Erneut ist der Text zu einem anderen Denken unterwegs, das sich nicht mehr in der Dichotomie zwischen Allgemeinem und Besonderem aufspannen lässt, ohne jedoch auf die Irreduzibilität des Gegebenen verzichten zu wollen. Der Krug in seiner sinnlich-konkreten Vernehm- und Verwendbarkeit ist dadurch ausgezeichnet, als Gefäß fassen zu können. Das Fassende lässt sich jedoch nicht auf »Wand und Boden« (GA 77, 126) und somit auf materialistische Bestimmungen beschränken, wie es der »Forscher« zunächst behauptet. Hierbei prallen sein naturwissenschaftlicher Zugang und die Einsichten des »Weisen« ein letztes Mal schroff aufeinan32 Mit unüberhörbaren Anklängen an das Heidegger’sche Denken kommt Peter Handke diesem gewandelten Bezug zu den Dingen mit einer Einkehr in die Versammlung des Dinges nach: »Kein Krug wirkt mehr als Ding Krug, kein Tisch steht mehr als Tisch, sämtliche Dinge in dem Gebiet Deutschland erscheinen dem Zurückgekehrten als ›gegenstandslos‹. Wie gegenständlich aber wurden dafür mir durch die Jahre, jedes Mal, gleich beim wiederholten Überschreiten der Grenze, die Dinge in Slowenien: Sie entzogen sich nicht […], sie gingen einem zur Hand. Ein Flußübergang ließ sich spüren als Brücke; eine Wasserfläche wurde zum See; der Gehende fühlte sich immer wieder von einem Hügelzug, einer Häuserreihe, einem Obstgarten begleitet, der Innehaltende dann von etwas ebenso Leibhaftigem umgeben, wobei das Gemeinsame all dieser Dinge die gewisse herzhafte Unscheinbarkeit gewesen ist, eine Allerwelthaftigkeit: eben das Wirkliche, welches wie wohl nichts sonst jenes Zuhause-Gefühl des ›Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!‹ ermöglicht.« (Handke 1991, 13 f.) 33 An anderer Stelle nennt Heidegger neben Krug und Brücke auch Bank, Steg, Pflug, Baum, Teich, Bach, Berg, Reiher, Reh, Pferd, Stier, Spiegel, Spange, Buch, Bild, Krone und Kreuz (vgl. GA 7, 183 f.). Dieser differentiellen Typologie kann hier nicht nachgegangen werden, auffällig ist aber, dass Ding auf keine spezifische Gruppe von Seienden einschränkbar zu sein scheint.
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der. Die Leere lässt sich nicht als physikalische Eigenschaft fassen. Ein Krug wäre dann nämlich nie leer, da er zumindest mit Luft gefüllt sein müsste. Hierin zeigt sich der Krug allerdings nicht als Krug, sondern als beliebiger Hohlraum. Doch der Krug erweist sich als ein Bestimmtes – nämlich Trinkbares – Fassendes, wobei ihm nicht etwas, sondern die Leere dieses Vermögen gewährt: »Die Leere, dieses Nichts am Krug, ist das, was der Krug als das fassende Gefäß ist.« (GA 7, 170) Eine Leere freilich, die als Nichts nicht zu fassen sein wird und sich somit entzieht. Das Fassende erweist sich vielmehr als das Unfassliche. Mit diesem Verweis auf die Leere wird aufgezeigt, dass eine materialistische Reduktion des Dinges (Wand und Boden im Sinne der causa materialis), aber auch die technomorphen Fertigungsbedingungen (der Töpfer als causa efficiens) samt der isolierten Inblicknahme des eidetischen Vorblicks in der Herstellung (causa formalis) oder die Einschränkung auf den Gebrauch (causa finalis) das verweisungsoffene Dingen des Dinges nicht mehr erfährt. In der herkömmlichen Relation von Ursache und Wirkung lässt sich der Krug nun gerade nicht als Krug in den Blick nehmen, sondern stets als ein Gegenstand. Der Krug als das Fassende ist nämlich dadurch ausgezeichnet, Trinkbares aufzunehmen und zu verwahren. Dieses Nehmen und Behalten jedoch zeigt sich erst im verschenkenden Ausgießen, in dem beispielsweise der Wein als Gabe des Himmels und der Erde für die Menschen vernehmbar wird (vgl. GA 7, 173). Der »Weise« kommt in einer umständlich gedrechselten Rede darauf zurück, wohl auch um in dieser Geschraubtheit auf die ineinanderlaufenden Bezüge aufmerksam zu machen: »Das Getränk nennt das Zusammengehören des tränkenden Trinkbaren und des trinkbaren Getrunkenen des Trinkens. Das Getränk ist Trank und Trunk. Trinkbares Tränkendes ist unter anderem der Wein. Der Trinkende ist der Mensch. Das Getränk als das Tränkende weilt im Wein, der weilt in der Rebe, die weilt in der Erde und in den Gaben des Himmels.« (GA 77, 134 f.) Falls man gewillt ist, die Sageweise ernst zu nehmen und nicht im Vorhinein als Schwärmerei abzutun – dem »Forscher« fällt das mitunter immer noch schwer (vgl. GA 77, 133) 34 –, wird man darauf aufmerksam gemacht, dass im Getränk nicht nur der Trinkende, der Trank (als AufEs fällt dem »Forscher« auch insofern schwer, weil der »Gelehrte« nun auch Verse anführt, die er bei einem Freund gelesen hat, die dieser wiederum »irgendwo abgeschrieben hatte« (GA 77, 144). Die Zeilen, die mit dem Titel Inständigkeit überschrie-
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bewahrung) und der Trunk (als Ausgießen) zusammengehören, sondern dass darüber hinaus – verdeutlicht am Wein – auf das Gedeihen der Reben auf fruchtbaren Böden und auf die Gunst der Witterung verwiesen wird. All das wird im Krug – und nicht unabhängig von ihm – versammelt: »Der Krug ist demnach er selbst erst, indem er in dieser Weite beruht, und in gewisser Weise das Selbe ist wie Rebe und Sonnenschein.« (GA 77, 135) Es wird einsichtig, dass das Einfache sich nicht als etwas Vereinzeltes erweist, sondern nur im Aufgespanntsein und Eingelassensein in eine mannighafte Verhältnishaftigkeit erfahrbar wird. Das Eingedenksein des Dinges lenkt seinen Blick nicht mehr auf den isolierbaren Gegenstand, sondern auf seine Topotextur, die als solche bewahrt sein möchte. Dieser Reichtum der Welt, der sich nicht an Großem ablesen lässt, sondern am Kleinod unmerklich zum Vorschein kommt, wird zwischen den Zeilen ins Werk gesetzt. Der Text spricht nicht mehr in einer philosophischen Nomenklatur – ja er entzieht sich einer expliziten Diktion –, sondern in einer unerhört und ungehört einfachen Sprache, die Befremdliches mit sich trägt, zeigt sich, worauf sich der Blick der Lesenden lenken soll. Das genus grande, das Heideggers Texten oft innewohnt, wandelt sich in ein ungewohnt schlichtes genus tenue, das nicht minder frappiert und provoziert. In ihm wird aber ersichtlich, dass das Sichzeigen des Dinges als komplexe und offene Bezughaftigkeit aus einer Gegnet in Orten erfahrbar wird, in der eine differentielle Verhältnishaftigkeit ersichtlich wird. Das Einfache erweist sich dabei als die Bezughaftigkeit des Weltgeschehnisses überhaupt. Dieses Geschehnis zeigt sich als gewährende Nähe, der wir nicht habhaft werden können, sondern in der sich alles hält und die gibt. Was Nähe heißen kann, wird aus den ineinandergreifenden Bezügen erfahrbar. Es gilt dem Wie des Erscheinens nachzugehen: Es liegt kein vereinzelbarer Gegenstand vor, dem man totaliter habhaft werden könnte, vielmehr zeigt sich das Dingen des Dinges aus einer mannigfachen Bezugshaftigkeit eines Ineinander, das stets auf andere Weise aufbrechen kann. Vernehmen heißt daher immer mit-vernehmen von Anderen. Dieses überbordende Mit der Bezüge kann nicht mehr – aktualiter oder potentialiter – als ein Etwas eingeholt werden. Hierin wird deutlich, inwiefern eine Phänomenologie des Unscheinbaren geben sind, stammen aus der Feder Heideggers und sind 1941 als Privatdruck veröffentlicht worden (vgl. GA 13, 27). A
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rade dem kaum Augenfälligen seinen geheimnisvollen Reichtum zurückerstattet. Das Unscheinbare ist dieses Geflecht der Bezüge, deren Nahnis im »Gegnen der Gegend« (GA 77, 126) und im gewandelten Verhältnis des Menschen zum Ding – und zum Eingelassensein – erfahrbar wird. Es wird nicht mehr darum gehen, wie man sich selbst und seiner Objekte versichert, sondern wie sie in der rechten Weise bewahrt und somit geschont werden (vgl. GA 7, 153). Mit dieser Blickwendung eröffnet sich ein anderes Verständnis des Kruges, aber auch des Menschseins: Der Krug fungiert nicht mehr als bloßes Mittel zum Zweck im Sinne eines Trinkbehältnisses, sondern in ihm zeigt sich ein gewährendes Geben, auf das der Mensch ver- und angewiesen ist. Menschsein heißt, sich im Vernehmen des Dingen des Dinges als Beschenktsein zu erfahren und dieser Vor-Gabe eingedenk zu bleiben. Im Feldweg-Gespräch wird jedoch nicht nur eine Topologie des Seyns entwickelt, in der das Versammelnde geborgen wird, sondern eine Topotextur, die das irreduzible Geflecht von Ding – (Ort –) Gegnet einsichtig macht, das als Sichereignen der Welt verstanden werden kann. Ein Verständnis von Welt als Gegnet freilich, das einen Weltbegriff sowohl im Sinne der Gesamtheit des Seienden als auch des Universalhorizontes oder fundamentalontologischen Existenzial gleichermaßen zurückweist. Es wird nämlich ersichtlich, dass nichts unvermittelt begegnet und in einer reinen Unmittelbarkeit aufgehen könnte. Jeder Versuch einer präsentischen Fixierung verkennt das Sichmitereignen von Anderem in jedem Erscheinen von Anwesendem. Welt wird als je geschichtlich-verortbares, d. h. »gegnishaftes« In- und Auseinander von Nähe als Ferne erfahrbar, in das wir eingelassen sind und aus dem sich uns Dinghaftes zu-spricht oder ver-sagt, 35 ohne dass sie einzuholen wäre. Der »Gelehrte« bringt daher im Konjunktiv gehalten die Einsicht hervor: »Die Welt wäre selbst die Nähe der Ferne und die Ferne der Nähe.« (GA 77, 149) Das sich entziehende Verhältnis von Ding – (Ort –) Gegnet wird als unentwegter Austrag eines differentiellen Gesamtgeschehnisses erfahrbar. Keines steht mehr für sich allein, An dieser Stelle muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieses Sichereignen von Welt verbal aus einer Responsivität verstanden wird. Heidegger insistiert in Unterwegs zur Sprache nachdrücklich auf dieser Dimension der Sprache als Sage: »Die Sage ist keineswegs der nachgetragene sprachliche Ausdruck. des Erscheinenden, vielmehr beruht alles Scheinen und Verscheinen in der zeigenden Sage. Sie befreit Anwesendes in sein jeweiliges Anwesen, entfreit Abwesendes in sein jeweiliges Abwesen.« (GA 12, 246)
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keines ereignet sich ohne das Andere: »Keines ist in diesem Sinne endlich. Keines ist ohne die anderen. Un-endlich halten sie sich aneinander, sind, was sie sind, aus dem un-endlichen Verhältnis, sind dieses Ganze selbst.« (vgl. GA 4, 170). Das Un-Endliche dieses Verhältnisses impliziert gerade, dass es nie als Ganzes vorliegt, sondern sich einer Vergegenständlichung entzieht. Der Zusammenhang der ineinanderlaufenden Bezüge wird somit nicht primär von einer vorliegenden Anwesenheit her gedacht, sondern von einem verschränkten »ins Abwesen geborgene[m] Anwesen« (GA 12, 19). Im Anwesen bricht zugleich das Abwesen auf. Eine reine Präsenz ist vor dem Hintergrund eines gegnishaften Weltverständnisses nicht mehr denkbar. Das Ding zeigt sich somit nie als isolierbares Selbständiges oder als ein auf das Subjekt hingerichteter Gegenstand, sondern trägt das Andere in sich und wird erst aus der sich entziehenden Verwiesenheit, aus einer sich verzweigenden Textur vernehmbar. Die Verhältnishaftigkeit darf dabei nicht als nachträglicher Zusammenschluss verstanden werden, sondern das Eine ist nur im Zusammenhang mit dem Anderen erfahrbar, ohne dass dieses wiederum restlos einholbar wäre. Das Denken kehrt bei der Irreduzibilität der Gegebenheit des Dinges ein, ohne dass diese auf eine bloße Vorhandenheit reduzierbar wäre. In der Immanenz des Dinges bricht die Transzendenz einer topotextuell verstandenen Transzendenz der Welt auf, ohne dass hier eine klare Unterscheidung beider Bereiche noch möglich wäre. Die Bezüge laufen somit nicht nur ineinander, sondern zugleich auch auseinander. Konstitutiv für die Irreduzibilität des Einen ist der anwesend-abwesende Entzug des Anderen. Das jeweilig Gegebene ist somit nur spurhaft erschlossen, indem es sich aus seinen Bezügen und der darin inhärenten Abwesenheit zeigt. Das Ding erweist sich vielmehr als beziehungsoffen, indem es selbst die Möglichkeit der Verweisungen sowie den Bezug zu Bezügen mit sich trägt und geneigt ist, die Bezüge zu Anderem aufzunehmen und freizugeben. Heidegger insistiert darauf, dass nichts – nicht einmal ein vermeintlich simples »Gebrauchsding« wie ein Krug – auf eine nicht-vermittelte Weise begegnet und somit von einem nicht-unmittelbar Zugänglichen zeugen wird. Im Text wird die komplexe freigebende Verhältnishaftigkeit als Text eindringlich erörtert. Nachdem das Verhältnis von Mensch und Ding aus dieser Verschränktheit erfahren wird, die nunmehr vom Gelehrten als »Inständigkeit« (GA 77, 144) bezeichnet wird, nimmt es nicht Wunder, dass A
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die überlieferte Interpretation des Menschen als isoliertes Ich bzw. als animal rationale aus ihrem geschichtlichen Kontext einsichtlich gemacht wird. Die gängigerweise als allzu selbstverständlich angesehene Auslegung erweist sich jedoch nunmehr weder als das einzig mögliche Selbstverständnis des Menschen noch als das dieser Verhältnishaftigkeit angemessen. Nähe wird nun nicht nur erfahrbar im Aufeinanderzugehen der Figuren und dem gewandelten Verhältnis der Dinge aus der Gegnet, sondern als die sich entziehende Mitte, die alles Erscheinen zusammen- und auseinanderhält, die der Mensch aussteht und worauf er antwortet. Der Text lässt somit nicht additiv Anderes im Welthorizont sehen, sondern lässt das Zusammenspiel des Weltgefüges anders sehen. Menschsein (selbst der Terminus »Mensch« müsste hier – wie oben mit Heidegger betont – hinterfragt werden) wird somit aus einer »Wesensgeschichte« (GA 77, 141) erfahren und nicht als überzeitliche Essenz. Der Text weist aber gleichzeitig darauf hin, dass nun aber auch die Gegnet nicht als ein ahistorisches Konstrukt anzusehen ist, sondern der Geschichtlichkeit ausgesetzt bleibt, freilich nicht mehr in einem äußerlichen, sondern ihr inhärenten Sinne, denn die Geschichte ereignet sich als »Geschichte der Gegnet« (GA 77, 141). Die Gegnet »hat« somit keine Geschichte, sondern geschieht einzig als diese. Obwohl sich der Text auf das »Fest« bezieht (GA 77, 136), in dem der Trunk als Trunk besonders gewahrt wird, wird der Mensch stets im Singular gehalten. Das Zusammenspiel von Krug, Wein, Erde, Himmel usw. kommt ohne explizite Erwähnung des Mitseins aus. In der Wiederaufnahme dieser Einsichten in den Bremer Vorträgen aus dem Jahr 1949 wird Heidegger erneut am Krug dem gewandelten Verständnis des Dinges nachgehen, nun aber diese Bezugshaftigkeit explizit »Geviert« nennen (vgl. GA 79, 13 ff.) und dabei nicht nur die Erde, den Himmel, die Göttlichen (auch dieser Hinweis findet in den FeldwegGesprächen keine explizite Erwähnung), sondern vor allem auf die Sterblichen rekurrieren, die in ihrer Mortalität aus einem Plural verstanden werden müssen. Im Feldweg-Gespräch ist das Denken zwar in einer erfrischenden Weise unterwegs, jedoch ist diese Ausgrenzung eines (differentiell) gemeinschaftlichen Moments auffällig. Sie wird sich aus dem Gespräch selbst – wenn auch nur implizit und in einer problematischen Weise – ergeben müssen.
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Coda: Das Gelingen des Feldweg-Gesprächs als dessen Scheitern
d) Coda: Das Gelingen des Feldweg-Gesprächs als dessen Scheitern Das Gespräch ist von der Einsicht getragen, dass sich das Menschsein als Antworten auf einen Zuspruch versteht. Es fängt nicht bei sich an. Am Anfang steht nicht das Subjekt als fundamentum inconcussum, sondern die Antwort. Eine Antwort freilich, die diesem Anspruch, wenn er ernst genommen wird, nicht gänzlich nachkommen kann. Im Antworten kommt der Anspruch somit nicht zum Erliegen, sondern er tritt als solcher hervor. Der Mensch ist unentwegt Antwortender und kehrt so nicht zu sich zurück, sondern bleibt von dieser Entfremdung geschlagen. Diese Erfahrung der Enteignung verdeutlicht die Endlichkeit und das stete Ungenügen der Antwort, die gerade nicht eine Vollständigkeit evoziert, sondern vielmehr andere Angänge möglich macht. Die Zukunft wird gerade dadurch offen gehalten, dass niemals alles gesagt werden kann und diese Kluft zwischen Anspruch und Entsprechen nicht zu schließen ist. Das Feldweg-Gespräch beinhaltet gegen Ende jedoch eine doppelte Geste. Auf der einen Seite spricht es – mit signifikanten Kursivierungen hervorgehoben – von dem »Anklang« der anchibasie, indem wir »dorthin vereignet« bleiben, »woher wir gerufen sind« (GA 77, 157). Die Spannung zwischen dem Hin und Her, zwischen dem Anklang und vollem Tönen scheint dabei gewahrt zu werden, indem der umhaltende Anfang als Entzug vernehmbar wird. Selbst im Heimischwerden in den Dingen bricht diese Unheimlichkeit der Nähe auf, die nicht beim Menschen beginnt und deren er nicht habhaft wird. Das Moment der Befremdlichkeit wird gerade im Vernehmen dieser sonderbaren Wechselrede nicht gänzlich verschwinden. Doch andererseits wird gerade in der Gesprächssituation selbst jede Dissonanz sukzessive aufgelöst, denn der Gesprächsverlauf unterwandert hier die semantische Ebene des Gesagten. Schritt für Schritt folgen in unterschiedlichen Tempi der »Gelehrte und dann der »Forscher« dem »Weisen«. Die drei versammeln sich gemeinsam in seiner Rede und entsprechen einträchtig dem Zuspruch der Nähe. Etwaige Differenzen scheinen aufgelöst, zurück bleibt ein harmonischer Einklang, der ohne Misstöne auskommt. Die Nähe wird nun explizit im Gespräch vernehmbar. Der Kreis der Unterredung scheint sich zu schließen, nicht nur zwischen dem »Forscher«, dem »Gelehrten« und dem »Weisen«, sondern auch mit dem Tradierten, das »jetzt« A
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(GA 77, 156) ins Anwesen überführt wird. Es wird suggeriert, dass das Antworten in einer abgerundeten Form zur Gänze zu sich findet und damit nicht mehr unter dem Anspruch des Gesprächs steht. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich die ins Gespräch eingeführte Dissymetrie als inszeniertes Konstrukt entpuppt und nunmehr in der gewährenden Gunst der Versammlung eine wohlklingende Auflösung erfährt. Das Feldweg-Gespräch endet in einem finale furioso mit einem sich steigernden stichomythischen Stretto, in dem jeder der Gesprächsteilnehmer den noch unvollständigen Satz des Anderen ineinandergreifend vollendet und somit zu einem alles abschließenden Endpunkt gelangt. Sie haben sich »selbstdritt« 36 in der Nähe eingefunden (GA 77, 156 f.): Der Weise: Für das Kind im Menschen bleibt die Nacht die Näherin. Sie nähert, so daß Stern bei Stern im stillen Licht erglänzt. Der Gelehrte: Sie fügt die Lichter ohne Naht und Saum und Zwirn zusammen. Der Forscher: Die Nacht ist die Näherin, die nähernd näht. Sie arbeitet nur mit Nähe, die das Ferne fernt. Der Gelehrte: Falls sie je arbeitet und nicht eher ruht – Der Weise: indem sie die Tiefen der Höhe erstaunt – Der Gelehrte: und im Staunen das Verschlossene eröffnet – Der Forscher: so wie das Warten die Ankunft verwahrt – Der Weise: wenn es ein gelassenes ist – Der Gelehrte: und das Menschenwesen dorthin vereignet bleibt – Der Weise: woher wir gerufen sind. Das Gespräch erhält in diesem – zugegeben befremdlichen – ZusichKommen eine heimelige Bleibe. 37 Der Zuspruch wird in einer Identität des Vollzuges im Entsprechen geborgen, ohne dass der Stachel der Entfremdung vernehmbar ist. Das stets mögliche Misslingen vermag die responsive Kluft zwischen Anspruch und Entsprechen und somit das »Selbstdritt« ist in erster Linie ein veraltetes Wort für »zu dritt«, legt aber Assoziationen zur christlichen Ikonographie (vgl. das beliebte Motiv »Anna selbstdritt« als Darstellung der heiligen Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesusknaben) und einer unio mystica nahe. 37 Auch an anderer Stelle bringt Heidegger den Abend bzw. die Nacht mit einer Einkehr in der Versammlung bzw. im Heimischen zusammen: »Wir gehen dem Abend zu und kehren heim in das Heimische seines Landes und seiner Landschaft.« (GA 71, 98) 36
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Coda: Das Gelingen des Feldweg-Gesprächs als dessen Scheitern
konstitutive Moment des Entzugs nicht mehr zu thematisieren. Das Kommen bleibt und verweilt so im Kommenden, ist aber nicht mehr im Kommen. Das Feldweg-Gespräch ist in dieser Leseweise vergangen, es wohnt ihm keine offene Zukünftigkeit mehr inne, da sich aus diesem Sicheinfinden in der Nähe kein weiterer Anspruch ergibt. Es wird nämlich nicht ersichtlich, was aus dem Eingelassensein in einer Versammlung folgen soll und wo eine weitere Unterredung anknüpfen sollte. Es ist nichts mehr zu sagen, vielmehr scheint am Ende alles gesagt zu sein. Der Abschluss des Gesprächs spricht diese rundum einträchtige Sprache, in der – worauf mittels der bereits angeführten Briefstellen verwiesen wurde – die vermeintlich »ursprüngliche Einheit« von Dichten und Denken sowie ihr »reines Sagen« gefunden worden seien. In diesem Gelingen des Feldweg-Gesprächs jedoch scheitert das Unternehmen Heideggers, das Wort als – stets ungenügende – Antwort vernehmbar zu machen, wie er es selbst immer wieder unterstrichen hatte. Mit einem harmonischen Mitsein, in dem alle in etwas übereinkommen und die offene Mitte selbst anwest, verspielt der Text mit seinem in sich vollendeten Schluss Einsichten in Hinblick auf ethische oder politische Implikationen der Responsivität. Heidegger weist zwar eine atomistische Vorstellungen des Sozialen als eines nachträglichen Zusammenschlusses von Individuen zurück, forciert aber unter der Hand differenzlose Verschmelzungsvorstellungen aller Gesprächsteilnehmer zu einem starken Wir in der letzten Zeile, ohne einer Möglichkeit diesseits der Dichotomie von nachträglich formierter Gesellschaft und immer schon (in etwas Vorliegendem) übereingekommener Gemeinschaft nachzugehen. Gerade das Gespräch würde sich anbieten, über die Weise des Übereinkommens und Übereingekommenseins der Teilnehmer nachzudenken. Wie sich diese Gemeinschaft »selbstdritt« versteht, bleibt in einer merkwürdigen Weise ausgespart, sodass sich diese Frage immer mehr als das Ungedachte des Textes in den Vordergrund drängt. Ein produktiver Umgang mit einer Phänomenologie der Responsivität müsste gerade aufzeigen, inwiefern sich Gemeinschaft nicht als homogene und in sich ruhende Ganzheit, sondern als »negative« versteht, in der die Differenz zwischen den Teilnehmenden in ihrer Gemeinschaftlichkeit nicht aufgelöst, sondern vielmehr gewahrt bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dass die drei darin übereinkommen, dem Anspruch nie gänzlich entsprechen zu können, kann der Dringlichkeit nachgegangen werden, diesem Anspruch stets jeweilig anders nachkommen zu müssen. A
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Wie (nicht) sagen? Heideggers Sagen des Ungesagten
Vielleicht hat Heidegger selbst dieses Unzureichende verspürt. So verzichtet er ab Mitte der 1950er Jahre gänzlich auf die Dialogform als Textsorte und er schreibt auch nicht mehr an großen Konvoluten, sondern lediglich an kürzeren Texten, die er zu Sammlungen bündelt, insistiert jedoch stets mit Nachdruck darauf, dass seine Aufsätze und Vorträge in Aussagesätzen sprechen müssen, ohne darauf reduziert werden zu sollen. Sie müssen als offene Gespräche verstanden werden, die von der responsiven Differenz zeugen, die niemals von einem Gesagten eingeholt werden können: »Es gilt, nicht eine Reihe von Aussagesätzen anzuhören, sondern dem Gang des Zeigens zu folgen.« (GA 14, 6)
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Wie (nicht) schreiben? Das Offene in Wittgensteins Texten »Was der Leser auch kann, das überlaß dem Leser.« (VB 560)
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Die Textsorte der »Bemerkungen« und Wittgensteins Arbeitsweise
In der Wittgenstein-Forschung wird der Stilbegriff meist hinsichtlich des jeweiligen Denkstils als Ausdruck eines Weltbildes – z. B. physikalischer Denkstil contra religiöse Weltsicht (vgl. VO 123 f.) – betrachtet oder hinsichtlich des individuellen Stils eines Menschen im Sinne des ethischen Anspruchs auf Wahrhaftigkeit untersucht. Diese von Wittgenstein selbst in den Vermischten Bemerkungen angestellten Gedankengänge stehen hier nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, obwohl sie indirekt immer wieder hineinspielen. Weiberg hat Wittgensteins Stilbegriff nach vier Gesichtspunkten untergliedert: a) der einer Geisteshaltung entsprechende Denkstil, b) der individuelle Stil eines Menschen, c) der Stil einer Epoche und d) der Stil in der Kunst (vgl. Weiberg 2002, 88–107). 1 In Ergänzung dazu soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern die spezifische Arbeitsweise und der damit verbundene Schreibstil erhebliche Konsequenzen für Wittgensteins Denken beinhalten. »Philologische« oder »stilistische« Details stellen in diesem Zusammenhang keine belanglosen Nebensächlichkeiten dar, sondern zeigen vielfache Rückwirkungen auf die philosophischen Einsichten. Der Form des Gedachten und der Anordnung der Absätze hat Wittgenstein höchste Bedeutung beigemessen, die kaum überschätzt werden kann. Schulte stellt dabei einen treffenden Vergleich zwischen Wittgensteins Schreibstil und einer künstlerischen Ausdrucksform an: »Nichts, was Wittgenstein geschrieben hat, ist im mindesten indifferent dagegen, wie er es geschrieben hat, Für Wittgenstein gibt es wesentliche Parallelen zwischen der Arbeit des Philosophen und der des Zum Stilbegriff in diesem Sinne vgl. Schulte (1990, 59–72), Wiesing (1991, 116 ff.), Majetschak (2000, 261–272).
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Künstlers: Nur was klar und im richtigen Ton ausgedrückt ist, kann bestehen.« (Schulte 1990, 8) Schon der erste Blick auf Wittgensteins späte Texte macht deutlich, dass es sich hierbei nicht mehr um eine traditionelle Form der philosophischen Prosa handelt. Zugeständnisse an den wissenschaftlichen Betrieb – wie etwa eine Einteilung durch Kapitelüberschriften, gelehrige Fußnoten oder gar elaborierte Bezüge, kurze Hinweise einmal ausgenommen, zur so genannten Primär- und Sekundärliteratur – fehlen gänzlich. Vor allem in den Philosophischen Untersuchungen ist diese auffallende Art des Schreibens besonders ausgeprägt; 2 entgegen traditionellen Abhandlungen verzichtet Wittgenstein – rein optisch – auf einen durchgehenden Text und unterteilt ihn vielmehr in relativ überschaubare Einheiten, die oft in einer dialogischen Struktur verfasst sind. Wittgenstein weist im ersten Absatz des Vorwortes – in dem er sich als Autor eines ungewöhnlichen »Buches« zumindest dort verpflichtet fühlt, der Leserschaft diese Weise des Schreibens näher zu bringen – darauf hin, dass er seine Gedanken als »Bemerkungen« in Form von »kurze[n] Absätze[n]« (PU Vw) festgehalten hat. Diese einzelnen Textstücke, die in der Wittgenstein-Literatur aufgrund der Nummerierung gemeinhin auch als »Paragraphen« bezeichnet werden, sind – zumindest in Teil I – durch eine Leerzeile und fortlaufende Zählung als textuelle Mikroeinheiten gekennzeichnet. Diese können aber auch – insofern ist Wittgensteins Rede von kurzen Absätzen etwas verwirrend – selbst wiederum durch Absätze untergliedert sein. Wittgenstein verzichtet zwar nicht auf die Nummerierung der einzelnen Passagen, doch die Aneinanderreihung der Abschnitte, die manchmal enger, manchmal loser miteinander in inhaltlicher Beziehung stehen, folgt keinem streng hierarchischen Gesamtkonzept, wie er es selbst nicht nur im Tractatus, sondern etwa auch im linearen Aufbau des Braunen Buchs vorexerziert hat. Mitunter kommt sogar der Eindruck auf, dass vornehmlich die Zählung die einzelnen Bemerkungen als Texteinheit zusammenhält. 3 Doch der Anschein einer willkürlichen 2 Im Big Typescript findet sich z. B. noch eine Einteilung in Themengebiete samt Inhaltsverzeichnis. 3 Wittgenstein selbst führt diese Überlegung in einer früheren Fassung des Vorworts ins Feld: »Die Zusammenhänge der Bemerkungen aber, dort, wo ihre Anordnung sie nicht erkennen lässt, will ich durch eine Numerierung erklären. Jede Bemerkung soll
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Die Textsorte der »Bemerkungen« und Wittgensteins Arbeitsweise
Ordnung, die beliebig arrangiert hätte werden können, täuscht. Zwar widmen sich diese knappen Abschnitte nicht einem einzigen, klar umrissenen Fachgebiet, sondern schreiten mitunter mehr oder minder frei von einer Fragestellung zur nächsten fort, aber nur, um von einem geänderten Blickwinkel aus wieder darauf zurückzukehren. 4 So lassen sich – neben den von Wittgenstein selbst angeführten Querverweisen – Themenkomplexe ausmachen, die über mehrere Paragraphen hindurch mit einer eigentümlichen Strenge und sich nicht an der herkömmlichen Kohärenz einer linearen Problementfaltung orientieren, verfolgt werden. Die Bemerkungen beleuchten Problemfelder aus differenten Blickwinkeln, indem sie von verschiedenen Stimmen erörtert werden. 5 Dass der Leserschaft kein durchgängiger Text vorliegt, sondern sie es in den Philosophischen Untersuchungen von Anfang an mit einer hoch komplexen Ansammlung von Bemerkungen zu tun hat, die sich stets in scheinbarem Widerspruch mit der einfachen Sprache, in der sie verfasst sind, befinden, liegt zum Teil an Wittgensteins Arbeitsweise, auch wenn die spezifische Textualität der Untersuchungen, wie noch zu zeigen sein wird, nicht darauf reduziert werden kann. Wittgenstein hielt seine oft knappen Bemerkungen, die nicht mehr als ein paar Zeilen umfassen, in handlichen Taschennotizbüchern oder Merkheften fest, die er zumeist bei sich führte. Eine »Auswahl« der Notizen schrieb er in Reinschrift 6 – üblicherweise nicht ohne Überarbeitungen oder Anmerkungen, doch anfangs mit deutlicher Korreseine laufende Nummer und ausserdem die Nummern solcher Bemerkungen tragen, die zu ihr in wichtigen Beziehungen stehen.« (Ts 225 Vw; PUK 208) 4 So kommt Wittgenstein beispielsweise auf das augustinische Bild der Sprache, das er in den ersten vier Paragraphen der Untersuchungen skizziert hat, erst nach der Zurückweisung der ostensiven Definition, des Mentalismus und der repräsentationstheoretischen Auffassung von Sprache sowie der Einführung des Verständnisses von pluralen Sprachspielen in PU 32 unter geänderten Vorzeichen zurück: »Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht […].« (PU 32) 5 In der Wittgenstein-Literatur hat sich dabei eine Zusammenstellung der einzelnen Themengebiete herausgebildet, die mitunter zwar im Detail, nicht aber in der groben Einteilung in Frage gestellt wird (vgl. Glock 2000, 278). Als hilfreich erweist sich darüber hinaus die Untergliederung der Themengebiete mit Hilfe von Strukturogrammen in den Kommentarbänden von Baker / Hacker (1980 ff.), die ihre Vorgehensweise in der Lektüre dadurch übersichtlich kennzeichnen. 6 Gleich nach der Rückkehr nach Cambridge vermerkt Wittgenstein am 4. 2. 1929 dazu: »Ich schreibe nicht alles ein es scheint mir unrecht alles breitzutreten wenn ich es nicht bessern kann oder will.« (Ms 105, 2) A
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Wie (nicht) schreiben? Das Offene in Wittgensteins Texten
pondenz, die zusehends stärkeren Veränderungen wich – in größere Manuskriptbände 7, um sie in Folge – wiederum mit Umgestaltungen, Kürzungen und weiterführenden Explikationen – in Typoskripte, die er vornehmlich einer Schreibkraft diktierte oder manchmal auch abschreiben ließ, einfließen zu lassen. 8 Auch hier arbeitete Wittgenstein unentwegt daran, einzelne Passagen zu redigieren, Absätze zu verwerfen und neue hinzuzufügen oder die Zusammenstellung anders zu ordnen. Er behielt zwar die Reihenfolge Notizbuch-Manuskript-Typoskript laut Pichler weitgehend bei, doch insbesondere in den späteren Texten kann nur mehr schwerlich von einer kontinuierlichen Ausarbeitung gesprochen werden, da Wittgenstein mitunter so stark in die Texte eingriff, dass die fortschreitende Genese im Einzelnen oft nicht mehr nachvollziehbar ist: »Später aber dienen die Bände selbst immer mehr der Heraus- und Überarbeitung, sodass die physischen Größen Notizbuch, Band, Typoskript nicht mehr so einfach bestimmten Arbeitsschritten zugeordnet werden können.« (Pichler 2004, 45) Gerade die Maschinenabschriften, von denen Wittgenstein fast durchgängig mehrere Durchschläge erstellen ließ, wurden dann zum Teil auch zerschnitten, verzettelt und neu zusammengesetzt. Das Anwachsen des bereits Verfassten multiplizierte zudem die Möglichkeiten der Arrangements, auf die Wittgenstein stets größte Sorgfalt verwendete. So ist es nicht unüblich, dass Wittgenstein Bemerkungen, deren erste Niederschrift mehrere Jahre zurücklag, auch neben neu verfassten anordnete. Auch in den Philosophischen Untersuchungen, deren eigentliche Arbeit im Herbst 1936 in Norwegen begonnen wurde, finden sich nicht nur zahlreiche Bemerkungen, die aus den Jahren zuvor stammen, sondern sie stehen auch in permanenter Auseinandersetzung mit älteren Aufzeichnungen. 9 Nicht zuletzt aufgrund der mehrfach gebrocheDie meisten dieser Schreibbücher wurden von Wittgenstein nummeriert (Bände I–XVIII von 1919–1940; Bände Q, R, S von 1948–1949); ob diese, wie Schulte bemerkt, aufgrund der Zählung »als Glieder einer fortlaufenden Reihe« (Schulte 2001, 16) aufzufassen sind, muss wohl offen gelassen bleiben. 8 Übersichtlich werden diese verschlungenen Prozesse in den Stammbäumen in der von Michael Nedo herausgegebenen Wiener Ausgabe angeführt (z. B. BT, VIII). 9 So konnte beispielsweise Pichler den Nachweis erbringen, dass Wittgenstein in der Abfassung des Ms 142, das als »Urfassung« der Untersuchungen gehandelt wird, auf das Big Typescript zurückgriff (vgl. Pichler 1997, 86 ff.). Außerdem hält Schulte in Hinblick auf die Abfassung von Ts 227 – der Spätfassung der Untersuchungen – fest: »Die Neuordnung dieser Materialfülle muß ein hartes Stück Arbeit gewesen sein, vor allem wenn man bedenkt, daß hier 1930 entstandene Sätze neben solche gerückt wurden, die 7
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Die Textsorte der »Bemerkungen« und Wittgensteins Arbeitsweise
nen Collagetechnik, die Schulte treffend auch als »Patchworkmethode« (Schulte 2001, 24) bezeichnet, finden sich einzelne Paragraphen in mehreren Varianten verstreut in unterschiedlichen Manu- und Typoskripten des Nachlasses. So sind auch von den Philosophischen Untersuchungen mehrere Versionen überliefert (vgl. PUK) und auch darin finden sich noch zahlreiche Veränderungen. Im Nachlass befinden sich somit nicht ausschließlich und in erster Linie chronologisch fixierbare Textstufen, sondern auch zahlreiche synchrone Varianten, an denen Wittgenstein auf der Mikroebene – beispielsweise in der Suche nach dem treffenden Ausdruck –, aber auch auf der Makroebene – etwa in der Anordnung der einzelnen Bemerkungen – unablässig gearbeitet hat. 10 Zudem schrieb er in dieser Arbeitsweise nicht nur an einem einzigen Manu- oder Typoskript, sondern widmete sich mitunter parallel mehreren Texten. 11 Die von Wittgenstein eingeführte Textsorte der »polyphonen« Bemerkungen bildet aus mehreren Gründen eine singuläre Erscheinung in der philosophischen Literatur. Die Abschnitte können zwar auch alleine genommen werden, weisen jedoch stets vielfältige kontextuelle Bezüge und Anknüpfungspunkte zu anderen Stücken auf, sodass sie weder als aphoristische Gebilde 12 – für die als abgeschlossene Sinneinheiten in ihrer weitgehenden Autarkie die Anordnung nicht eine ähnlich dominierende Rolle spielen würde, wie es bei Wittgensteins »offenen« Bemerkungen der Fall ist – noch als »Fragmente« (Frank 1989, 34), die implizit oder explizit als ein Bruchstückhaftes Wittgenstein 1945 zum ersten Mal niedergeschrieben hatte. Eine Liste, deren sich Wittgenstein zur Durchführung dieser Umordnung bediente, ist erhalten, doch man kann sich kaum vorstellen, daß sie sein einziges Hilfsmittel war.« (Schulte 2001, 25) 10 Wie exzessiv Wittgenstein die Überarbeitungen an seinen Texten betrieben hat, zeigt ein Blick auf das Vorwort; allein der Satz über die »Landschaftsskizzen« erfuhr in der so genannten »Zwischenfassung« knapp ein Dutzend Veränderungen (vgl. PUK 566; Ms 129 6v–7r). Ebenso auffallend sind Wittgensteins Revisionen der ersten vier Paragraphen der Untersuchungen über mehrere Jahre, denen Pichler mit vorbildlicher Genauigkeit nachgegangen ist (vgl. Pichler 2004, 230 ff.). 11 So kritisiert Kroß zurecht die irreführenden Titulierungen von Urfassung, Frühfassung, Zwischenfassung und Spätfassung, die Schulte in PUK verwendet, da hierin der Eindruck erweckt wird, als arbeitete Wittgenstein »›linear‹-progredierend« (Kroß 2005, 51). 12 So wendet sich Pichler gegen das Verständnis der Bemerkungen im Sinne einer »Aphoristik und Zusammenhangslosigkeit« (Pichler 2004, 146). Ebenso hält Frank fest: »Wittgensteins Texte sind keine Aphorismen […]. Aphorismen sind selbstgenügsame, in sich allseits beschlossene Mitteilungsgebilde.« (Frank 1989, 34) A
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von einem potentiell erreichbaren oder unerreichbaren Gesamt angesehen werden würden, aufgefasst werden können. 13 Die herkömmliche dichotomische Einteilung in Teil und Ganzes scheint dieser unauflöslichen Spannung zwischen den Bemerkungen untereinander und ihrer Kontextualisierung, die sich je nach Akzentuierung kaleidoskopartig ändern und in anderen Zusammenhängen in einem neuen Licht erscheinen kann, nicht mehr gerecht zu werden. Ähnlich verhält es sich mit der Etikettierung des Stils Wittgensteins als »dialektisch« (vgl. Schulte 2005, 36), da hiermit unter der Hand – trotz aller Gegensätze – eher eine versöhnliche Synthesis suggeriert und weniger die zum Teil unauflösbare Polyphonie von Ansichten hervorgehoben wird. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang immer mehr, ob mit einer traditionellen Kategorisierung der Wittgenstein’sche Stil überhaupt zu fassen ist, oder ob nicht vielmehr eine neue Beschreibungsweise für eine unerhört andere Textsorte gesucht werden muss. 14 Schon am Arbeitsvorgang mit dem vielfältigen und komplexen Ineinandergehen von sich wiederholenden Schreib- und Revisionsprozessen, rekonzipierendem Sortieren und Arrangieren der Bemerkungen in unterschiedlichste Richtungen lässt sich ablesen, dass weder eine lineare Genese der Schriften noch der traditionelle Werkbegriff für das Textverständnis der Philosophischen Untersuchungen zureichend sein wird. Wichtige Hinweise für die von Wittgenstein selbst herausgestrichene Eigenheit seiner späten Texte finden sich im Vorwort der Untersuchungen, aus dem ersichtlich wird, dass die nicht reduzierbare VielFrank unternimmt den Versuch, Wittgensteins Bemerkungen als die aus der Tradition bekannte Textsorte des Fragments zu fassen: »[Die Bemerkungen] gehören zur Gattung des Fragments. Es sind Bruchstücke eines verfehlten, im Bereich des Aussagekalküls bzw. aufgrund der Sprachspiele-Grammatik gar nicht darstellbaren Ganzen. Eben damit schließen sie – vermutlich unwillentlich – erneut an die Grundstellung des führromantischen Philosophierens sich an.« (Frank 1989, 34) Problematisch erscheint mir hier nicht nur die Rückbindung Wittgensteins an allzu Vertrautes, sondern darüber hinaus auch die Deutung, dass es sich hierbei um ein Ganzes handelt, das nicht dargestellt werden kann. Es geht Wittgenstein doch weniger darum, auf ein umfassendes Moment in einem melancholischen Tonfall hinzuweisen, sondern vielmehr um die ausdrückliche Affirmation der Mannigfaltigkeit, die aufgrund ihrer Heterogenität nie auf ein einheitliches Fundament zurückgeführt werden kann. 14 Einen Versuch unternimmt Pichler, der auf biologische Metaphern zurückgreift: »So sind Wittgensteins Bemerkungen auf der einen Seite zwar kleine bewegliche Einheiten, auf der anderen Seite sind sie aber auch keine Monaden, sondern Zentren wie die Nervenzellen, von denen viele Stränge wegführen.« (Pichler 2004, 205 f.) 13
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stimmigkeit zu einer neuen, undogmatischen Art des Schreibens zu zählen sein wird.
b) Überlegungen zum Schreiben im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen Das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen unterscheidet sich markant vom anderen Teil des Textes, da Wittgenstein hierin auf die Textform der »dialogischen« Bemerkungen verzichtet und sich nur in diesem Part so etwas wie eine »ungebrochene« Autorintention ablesen lässt, indem er auf seinen Schreib-, Arbeits- und Denkstil näher eingeht und den Text bekenntnishaft situiert. 15 Gleich zu Beginn vertraut Wittgenstein der Leserschaft an, dass er an dem Text nicht nur über anderthalb Jahrzehnte gearbeitet hat – Wittgenstein selbst setzt also, wenn die Datierung des Vorwortes mit 1945 ernst genommen wird, den Anfang der Untersuchungen mit seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahre 1929 gleich – und sich darin eine Reihe von Überlegungen zu unterschiedlichsten Themengebieten finden, die man in der herkömmlichen Terminologie als Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik und Philosophie der Psychologie umreißen könnte, 16 sondern er tätigt auch höchst interessante Aussagen zu seinem methodischen Vorgehen. Die expliziten Reflexionen über seine Arbeits- und Schreibweise nehmen dort breiten Raum ein; weit weniger als mit inhaltlichen Belangen setzt er sich auffallend stark mit Fragen des Stils und der Komposition seiner Passagen auseinander: »Ich habe die Gedanken alle als Bemerkungen, kurze Absätze, niedergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten, über den gleichen Gegenstand, manchmal in raschem Wechsel von einem Gebiet zum andern überspringend.« (PU Vw) Diese mitunter nur lose verbundenen Stücke
15 »Konsequenterweise« hat von Savigny (1988) das Vorwort aus seinem Kommentar ausgespart. Auch im Gegenzug dazu soll es hier verstärkt berücksichtigt werden, da es entscheidende Einsichten in die Philosophischen Untersuchungen eröffnet. 16 Wittgensteins philosophische Überlegungen zur Mathematik und Psychologie – wie sie der Leserschaft aus anderen Schriften (z. B. BGM und BPP) mittlerweile vertraut sind – finden sich jedoch nicht in umfassenden Ausführungen in Ts 227. Der prominente Hinweis im Vorwort bezeugt aber die Wichtigkeit dieser Themenbereiche für Wittgensteins Fragestellungen.
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wollte er zu einem einheitlichen Ganzen, einem Werk im traditionellen Sinne, dessen Konzeption sich laut eigenen Aussagen immer wieder änderte, bündeln: »Wesentlich aber schien es mir, daß darin die Gedanken von einem Gegenstand zum andern in einer natürlichen und lückenlosen Folge fortschreiten sollten.« (PU Vw) Neben der auffallenden Verwendung des Präteritums, die wohl hier schon auf die Verabschiedung dieses Projekts hindeuten, spricht Wittgenstein vom vormals angestrebten Ideal einer durchgängigen Linearität der Gedankenentwicklung, die er hier noch als »natürliche« Abfolge bezeichnet. Wie ernst es Wittgenstein um eine angemessene Erfassung seiner Bemerkungen zu tun war, bezeugen im engeren Sinn die diversen Anläufe der Philosophischen Untersuchungen, 17 im weiteren Sinn die umliegenden Texte Wittgensteins. Insbesondere im Braunen Buch 18 verfolgte er, wenn auch vornehmlich aus didaktischen Gründen, das sukzessive Voranschreiten von »primitiven« zu »komplexen« Sprachspielen und bemühte sich so um eine nachträgliche Vereinheitlichung von diversen Textpassagen zu einem kohärenten Gesamt mit lehrbuchartigem Charakter. Doch dieses Ringen um eine einheitlich-durchgängige Form der Überlegungen scheiterte, wie Wittgenstein in einem resignativen Ton der Unzufriedenheit feststellt, sobald er versuchte, sie in ein Schema zu pressen: »Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde. Daß das beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, in einer Richtung weiterzuzwingen.« (PU Vw) Wittgenstein musste folglich auf seiner Schreibweise von kurzen Abschnitten beharren, nicht nur und nicht in erster Linie, weil er inkonsequent oder unfähig war, einen traditionellen Text zu verfassen,
Die »Textgenese« der Philosophischen Untersuchungen – die laut Kroß (2005) nicht als solche beschrieben werden kann – von der Urfassung (Ms 142), Frühfassung (Ts 220, Ts 221, Ts 225), bearbeiteten Frühfassung (Ts 239), Zwischenfassung (Ts 242) und Spätfassung (Ts 227) bis zu Teil II (Ms 144) ist mittlerweile durch die Kritisch-genetische Edition (PUK) auch in Buchform zugänglich. Zur Entstehungsgeschichte der PU vgl. von Wright (1986, 117–143), Pichler (1997 und 2005) und Schulte (2001). 18 Mit dem Braunen Buch ist hier nicht nur der gescheiterte Übersetzungsversuch von Ms 115, sondern auch das englische Typoskript Ts 310 und der erste deutschsprachige Anlauf in Ms 141 gemeint. 17
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sondern weil sich die Gedanken selbst gegen ein Prokrustesbett von formalen und dogmatischen Vorgaben sperrten. Es liegt also nicht ausschließlich an Wittgensteins Denken oder an seiner Schreibnatur, sondern an der zu behandelnden Sache: »Und dies hing freilich mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.« (PU Vw) Einerseits gesteht sich Wittgenstein durchaus selbst ein gewisses persönliches Unvermögen ein, seine Überlegungen in eine gewohnt kohärente Form zusammenzufügen, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass sich die Gedankengänge – die er nicht vollends kontrollieren konnte – gegen rigide Vorschriften verwehren, andererseits sperrt sich aber in erster Linie der Inhalt der Untersuchungen – Wittgenstein spricht hier wieder von Natur – selbst gegen eine systematisierende Betrachtungsweise. Er hat sich seinen eigenen Aussagen zufolge nicht einen Stil bewusst ausgesucht, sondern er wurde ihm vom Gegenstandsbereich aufgedrängt. Wittgenstein war von der zu behandelnden Sache gleichsam gezwungen, den herkömmlichen, in sich abgeschlossenen Werkbegriff und eine deduktive Methode der Themenentfaltung fallen zu lassen und in einer anderen Weise das Gedachte festzuhalten, um den thematischen Anforderungen zu entsprechen. Der Verzicht auf eine durchgehende Systematisierung der Gedankengänge besagt aber nicht, dass die Philosophischen Untersuchungen weniger stimmig als traditionelle philosophische Abhandlungen sind; die denkerische Strenge bezieht sich nicht mehr auf ein vorgegebenes Gesamtkonzept, sondern auf die jeweiligen Anforderungen des zu Denkenden. Damit wird ein dogmatisch-konstruktives Vorgehen zugunsten eines responsiven Eingehens und Beschreibens verlassen. Wittgenstein hegt aus diesem Grund auch eine gewisse Skepsis gegenüber herkömmlichen Textsorten der Philosophie, wie eine Vorlesungsnotiz belegt: »Es ist etwas Wahres an Schopenhauers Ansicht, […] daß ein Buch über Philosophie, das Anfang und Ende hat, eine Art Selbstwiderspruch darstellt.« (VO, 199) Wohlüberlegt verabschiedet er sich daher von einer in sich abgeschlossenen Textstruktur zugunsten einer erheblich offeneren Form, die es erlaubt, uneingeschränkt aus vielfältigen Perspektiven ein Themengebiet zu durchleuchten. Nicht eine vorgegebene Richtung determiniert die Untersuchung, sondern das Phänomen selbst bestimmt die Wege der Erörterung. So bezeichnet er seine Bemerkungen als »Landschaftsskizzen« – die keinen Totalitätsanspruch einer GeA
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samtsicht erheben, sondern als prägnante, aber auch unvollendete Zeichnungen – Skizzen eben – auf bestimmte Punkte aufmerksam zu machen gedenken –, die auf »langen und verwickelten Fahrten entstanden sind« (PU Vw). Der Autor musste sich dafür auch auf ausholende Umwege einlassen, die kein vorgegebenes telos besitzen; vielmehr wurde die Ortskenntnis in den diversen Erkundungen und Ausfahrten erweitert, um unterschiedliche Landstriche aus vielfältigen Zugängen zu erschließen, selbst auf die Gefahr hin, auf Irr- und Holzwegen zu wandeln. Die Behandlung eines Themenkomplexes war dabei mit der schriftlichen Fixierung durch einen Absatz nicht abgeschlossen und erledigt. Gerade die Form der Bemerkungen erlaubte es Wittgenstein, auf die jeweilige Fragestellung in abermaligen Anläufen zurückzukommen und sie so von einem anderen Blickwinkel her zu betrachten. Selbstkritisch fragt sich Wittgenstein dabei immer wieder, ob ihm dieses Unterfangen auch geglückt ist: »Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. Eine Unzahl dieser waren verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet.« (PU Vw) Bemerkenswert an diesen Sätzen ist vor allem der Hinweis Wittgensteins, dass sein Denken immer wieder auf dieselben Stellen, jedoch aus unterschiedlichen Zugängen zurückkommt, die dadurch in einem anderen Licht erscheinen können. Durch dieses Mäandern und Herumkreisen verändert sich mitunter markant die Sichtweise auf die Dinge, die aber trotz der Drehungen und Wendungen nicht zu einem – auch nicht approximativ – endgültigen Resultat führen. Bewusst lässt Wittgenstein den Ausgang der Untersuchungen offen, ohne auf einen holistischen Endzweck zu blicken. Dieses Verfahren führt dann auch zum »Philosophie-Verständnis« der Untersuchungen, das auf die Angabe von letzten Gründen zu verzichten vermag: »Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will.« (PU 133) Sein Denken beschränkt sich darauf, Gegebenheiten zu beschreiben, ohne sie in das Korsett eines theoretischen Rasters zu pressen: »Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.« (PU 126) Gerade in Hinblick auf die Reglementierungsversuche der Sprachphilosophie kann festgehalten werden: »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am 398
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Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist.« (PU 124) 19 Diese Aussagen Wittgensteins sollen aber nicht als Ausdruck der Resignation oder als Sichzurückziehen auf einen nihilistischen Standpunkt im Sinne eines »theoretische[n] Nichteinmischungsrelativismus« (Schneider 1999, 152) missverstanden werden; natürlich zeugen diese Einsichten auf der einen Seite von einer extremen Zurücknahme des philosophischen Anspruchs: Wittgenstein will nichts mehr erklären oder gleichsam von einer überlegenen Position aus die Zusammenhänge durchleuchten. Doch auf der anderen Seite unterstreicht dieser Zugang gerade den ungeheuren Anspruch des Textes, die Differenzen zwischen allen Formen der Sprachspiele, zwischen allen unterschiedlichen Einzelfällen unablässig aufscheinen zu lassen, sodass keiner der Kontraste ausgeblendet oder verwischt wird. Diese offene Bewegung des Beschreibens und der stetigen Neu- und Nachbesichtigung der einzelnen Fälle kommt nie zu einem Abschluss. Sie versucht, ohne ein beruhigendes Sichzurückziehen auf ein fundamentum inconcussum, ohne eine Letztbegründung, ohne »transzendente Sicherheit« (ÜG 47) auszukommen und die Spannungen etwaiger Diskrepanzen unter den nicht auf einen Einheitsgrund rückführbaren Sprachspielen auszuhalten. Erst das Offenhalten der pluralen Differenzen kann die irreduziblen Eigenheiten der jeweiligen Kontexte wahren. Es ist somit nicht mehr möglich, eine externe Position – fernab von jeder situativen Verankerung – einzunehmen; wir sind immer schon in perspektivische Verflechtungen eingelassen und an das Umfeld des jeweiligen Gebrauchs verwiesen. Das trifft auch in einer markanten Weise auf Wittgensteins eigenes Schreiben zu: die Philosophie tritt nicht in der Form eines »integrativen Ober-Sprachspiels« (Schneider 1999, 142) auf, sondern es wird laut Wittgenstein jeweils »eine von vielen möglichen Ordnungen, nicht die Ordnung« (PU 132) hergestellt. Die Zurückweisung eines absoluten Standpunktes führt aber nicht zwangsläufig in einen Relativismus – im Gegenteil: Wittgenstein nimmt das jeweilige Sprachspiel so ernst, dass es weder als das bloß Kontingente eines platonistischen me on apostrophiert werden kann, noch in eine gleichgültige Beliebigkeit münden muss. Jenseits der (me19 So klärt Wittgenstein auch Mitte der 1940er Jahre in einer kurzen Notiz sein Verständnis von Philosophie: »›Es muß sich doch so verhalten‹ ist kein Satz der Philosophie. Dogmatismus [.]« (Ms 130, 53)
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taphysischen) Alternative Absolutismus – Relativismus eröffnet uns der einzelne Kontext die Möglichkeit, die endliche Faktizität der jeweiligen Lebensform in unserem Denken als unhintergehbares Konstitutivum anzuerkennen. Ein Denken in Beispielen weiß um die eigene Begrenztheit und Endlichkeit; gleichzeitig weiß es aber auch um die Pluralität der Fälle und um die Unmöglichkeit, einen dieser Fälle überzuprivilegieren. In diesem Sinne weist Wittgenstein bereits im Big Typescript auf die gewandelte hexis 20 dieses Philosophierens hin, das nicht mehr nach Totalitätsansprüchen strebt, sondern im Wissen um die eigene Begrenzt- und Endlichkeit die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen zu affirmieren vermag: »Die besondere Beruhigung, welche eintritt, wenn wir einem Fall, den wir für den einzigen hielten, andere Fälle an die Seite stellen können, tritt in unseren Untersuchungen immer wieder ein, wenn wir zeigen, daß ein Wort nicht nur eine Bedeutung (oder, nicht nur zwei) hat, sondern in fünf oder sechs verschiedenen (Bedeutungen) gebraucht wird.« (BT 416) Die Vielfältigkeit wird nun in den Texten nicht dogmatisch konstatiert, sondern in einer Polyphonie gezeigt, die sich gleichsam zwischen den Sätzen und ihrem propositionalen Gehalt ausbreitet. Zu wenig pointierte Skizzierungen, die vermutlich diesen charakteristischen Wechsel der Perspektiven und somit die Perspektivität als solche nicht deutlich genug sichtbar zu machen vermochten, schied Wittgenstein aus seiner Sammlung aus; die prägnanten Bemerkungen führte er nicht in einem Buch mit abgeschlossenen und kohärenten Werkcharakter, sondern in einem Album zusammen: »So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album.« (PU Vw) Wenn nun Wittgensteins Vermerk, dass aus seinem Buch nur ein Album geworden sei, nicht ausschließlich und vielleicht auch nicht in erster Linie pejorativ gelesen wird, so stellt sich die Frage, was denn in positiver Weise ein Buch als ein Album auszeichnet. Was ist ein Album? 21 Wird der Hinweis auf die Wittgenstein ging es nie ausschließlich um theoretische Einsichten, sondern stets um deren Rückwirkung auf den Philosophierenden selbst: »Die Arbeit an der Philosophie ist […] eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und nicht was man von ihnen verlangt.)« (VB 472) 21 Auch Baker / Hacker weisen auf die Wichtigkeit des Albums hin: »The metaphor of an album of sketches is important. It signifies a confessed failing in the book, explicitly reaffirmed in the final paragraph of the Preface. The cutting down, rearranging, and reject of sketches is not merely figurative. W.’s method of composition involved writing down remarks in rough notebooks, transferring these, with alterations and some selec20
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lateinische Herkunft ernst genommen, dann bedeutet Album – vom Lateinischen albus für die Farbe »weiß« abgeleitet – soviel wie eine leere oder weiße Tafel, die für öffentliche Bekanntmachungen gebraucht wurde und immer wieder neu beschrieben werden konnte. Im Deutschen wird unter dem Lehnwort ein freies Arrangement einer Sammlung verstanden, dessen Ordnung nicht einem vorgegebenen Muster im Sinne einer rigiden Taxonomie folgt, sondern sich aus bestimmten Motiven ergeben hat. Dafür können sich unterschiedliche Gesichtspunkte leitend zeichnen: Ein Briefmarkenalbum kann nach geographischen Bezügen ausgerichtet sein, aber auch nach chronologischen oder thematischen; ebenso kann bei einem Photoalbum nach nicht weiter ausgewiesenen Gründen eine Auswahl getroffen werden – normalerweise findet ja nicht jedes Photo, etwa ein missglücktes, oder nicht jede Briefmarke, beispielsweise eine doppelte, Eingang in die Sammlung –, in welcher Weise sich die offene Ordnung aufbaut. Stets muss in Hinblick auf die Zusammenstellung eine Entscheidung getroffen werden, die es versteht, mit den »weißen« Leerstellen eines Albums umzugehen und den Spielraum der Anordnungsmöglichkeiten positiv zu nützen. Diese Reihung ist nicht einfacher als die nach einem vorgegebenen Einteilungskriterium, sondern im Gegenteil wesentlich komplexer, da sie sich vornehmlich an dem orientiert, was gesammelt wird. Dem Gehorteten zu entsprechen, scheint das leitende Motiv jedes Albums zu sein, sodass man unter Umständen auch gewillt ist, das Arrangement zu verändern oder zu variieren, um dem Aufbewahrten ganz zu der ihm gebührenden Geltung zu verhelfen. Von einem Werk im herkömmlichen Sinne, das einen vorgegebenen Rahmen oder eine alles Weitere bedingende Methode besitzt, unterscheidet sich ein Album durch die stete Beweglichkeit in der Anordnung, die sich vornehmlich vom Gesammelten selbst her ergibt. Die Philosophischen Untersuchungen propagieren somit kein sukzessives Fortschreiten in Hinblick auf ein Ganzes, sondern betonen in ihrem wiederholend ellipsoiden Verfahren die Unabschließbarkeit der Beschreibungen. In der Spannung zwischen »Wiederholung als Mittel« (VO, 199) – die tion, to mire polishes MS. volumes from which remarks were selected for TSS. These TSS. were commonly cut up, sifted, rearranged, annotated, and amended. […] PI is, as it were, a sketchbook of a master-artist who could not produce a finished canvas.« (Baker / Haker 1980, 20) Im Gegensatz zur herkömmlichen pejorativen Deutung des Albums – Wittgensteins Eingeständnis, kein Ganzes mehr entwerfen zu können – soll hier weit stärker der »positive« Aspekt des Albumhaften betont werden. A
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sich nicht in der bloßen Repetierung erschöpft, sondern durch leichte Verschiebungen Differenzen sichtbar werden lässt – und den immer neuen Aufbrüchen erstreckt sich Wittgensteins Denken. Er betont daher in den Vermischten Bemerkungen fest: »Meine Art des Philosophierens ist mir selbst immer noch, und immer wieder, neu, und daher muß ich mich so oft wiederholen.« (VB 451) 22 Die Philosophischen Untersuchungen verabschieden sich nicht nur textgenetisch, sondern auch formal von werkbezogenen Vorgaben – wie etwa einem linearen Aufbau, einer systematischen Darstellung oder einer kohärenten Abhandlung der Themenpunkte –, und entwerfen in der freien Variation des Arrangierens stets neue Sichtweisen auf Problemstellungen, deren Möglichkeiten nicht gänzlich ausschöpfbar sind. 23 So ist ein Album ständig erweiterbar und somit in dieser Unabschließbarkeit stets für Neues offen. Die kontextuelle Verortung des Albumhaften der Untersuchungen beschränkt sich aber nicht nur auf den eigentlichen Text, sondern weist auch darüber hinaus. So führt Wittgenstein den Wunsch an, die Untersuchungen zusammen mit dem Tractatus zu veröffentlichen. Obwohl er von »schwere[n] Irrtümer[n] […] in jenem ersten Buche spricht« (PU Vw), will er es trotz dieser massiven Kritik nicht gänzlich verleugnen, sondern in der Zusammenstellung mit den neuen Bemerkungen aufgehoben wissen. Ja, seine neuen Texte erhalten erst durch diese kontextuelle Verankerung »ihre rechte Beleuchtung« (PU Vw). Wittgenstein unternimmt folglich einen Abgrenzungsversuch gegenSo hält Waismann, der zusammen mit Wittgenstein ein gemeinsames Buch verfassen wollte, resignierend und bewundernd fest: »Er [Wittgenstein, M. F.] hat ja die wunderbare Gabe, die Dinge immer wieder wie zum erstenmal zu sehen. Aber es zeigt sich doch, meine ich, wie schwer eine gemeinsame Arbeit ist, da er eben immer wieder der Eingebung des Augenblicks folgt und das niederreißt, was er vorher entworfen hat.« (WWK 26) Dieses wiederholende Moment darf nicht so sehr auf das denkerische Naturell Wittgensteins im Sinne einer sprunghaften Naivität oder auf seine persönliche Unzufriedenheit mit dem Geschriebenen verkürzt werden, sondern ist dem Reichtum der Sache selbst geschuldet. 23 Haller verweist nicht zu Unrecht darauf, dass nur so die Gedanken im Fluss bleiben; aber nicht nur die Wittgensteins, sondern auch die der Lesenden: »Immer wieder werden diese kurzen Absätze früherer Entstehungszeiten hervorgeholt, um in einer anderen gedanklichen Umgebung einen neuen Kontext zu finden. […] Sie machen deutlich, was dem gründlichen Leser nicht verborgen bleiben kann, daß nahezu kein Satz und kein Absatz von vornherein einen angestammen Platz erhält: jeder ist ein Stück für sich, verschieb- und veränderbar, wie unsere lebendigen Gedanken.« (Haller 1990, 16 f.) 22
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über vormalig Geschriebenem, aber nur in der Weise, dass in der rückwärtsgewandten Bezugnahme darauf die nunmehrige Problemlage und die Notwendigkeit, in dieser Weise darüber zu schreiben, noch offenkundiger werden. Die letzten Absätze des Vorworts sind reich an Spannungen: Zuvor hatte Wittgenstein bereits betont, dass seine Gedanken »vielfach mißverstanden, mehr oder weniger verwässert oder verstümmelt im Umlauf« (PU Vw) seien. Nun hebt er aber auch hervor, dass sich seine Schriften »mit dem berühren, was Andre heute schreiben« 24 und sich so offensichtlich in einen philosophischen Diskurs eingliedern lassen; er möchte, wenn sie nicht explizit, d. h. wohl aufgrund ihrer Originalität, den »Stempel« des Verfassers tragen, sie »auch weiter nicht als [s]ein Eigentum beanspruchen« (PU Vw). Das Zugeständnis, dass durchaus auch andere Denker in ihren Überlegungen zu ähnlichen oder sogar zu denselben Ergebnissen kommen könnten, ja vielleicht schon gekommen sind, wird durch die Bemerkung kontrastiert, dass er sein Album nicht nur aufgrund großer persönlicher Unsicherheiten mit »zweifelhaften Gefühlen der Öffentlichkeit« (PU Vw) übergibt (die ja so groß waren, dass er sie selbst nicht veröffentlichte), sondern auch aufgrund der Berfürchtung dass diese Arbeit trotz ihres Ungenügens wohl kaum auf fruchtbaren Boden fallen wird, da die Zeit für das Ungewöhnliche dieses Textes nicht reif zu sein scheint. Lakonisch bemerkt Wittgenstein mit einem ironischen Unterton: »Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein sollte, Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich.« (PU Vw) Entscheidend scheinen mir aber die letzten beiden Absätze zu sein, in denen Wittgenstein auf das Unerhörte seines Textes aufmerksam macht. Wohl im Gegensatz zu herkömmlichen philosophischen Werken, die die Leserschaft von erstmalig dargelegten Einsichten in Kenntnis setzen möchten, sie also mit neuem Wissen zu belehren gedenken, nimmt Wittgenstein dogmatische Ansichten und didaktische 24 In den Dankesbekundigungen, die nur Ramsey, der bereits 1930 verstorben war und dessen Verhältnis zu Wittgenstein gegen Ende seines Lebens nicht ganz ungetrübt war (vgl. PU 81, VB 473 und Schulte 2005, 33 f.), und Sraffa, einen in Cambridge lehrenden Ökonomen (vgl. Schulte 2005, 39 und Malcolm 1987, 94), berücksichtigen, fällt auf, dass sich Wittgenstein auf diese Weise vom aktuellen philosophischen Betrieb – etwa von Russell, Moore, Waismann, Carnap, Schlick, Keynes etc., mit denen er zum Teil noch in regem Kontakt war – nicht zuletzt durch die Nichtnennung distanzierte.
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Ansprüche – zumindest in der gewohnten Weise – zurück und legt die Möglichkeiten seines Albums in den Verantwortungsbereich der Lesenden, die nunmehr in einer anderen, denn rein passivisch-konsumierenden Haltung vom Text herausgefordert werden sollen: »Ich möchte nicht mit meiner Schrift Andern das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemanden zu eigenen Gedanken anregen.« (PU Vw) Es geht Wittgenstein folglich nicht um Lehrmeinungen, die von ihm und in weiterer Folge von seinem Publikum vertreten werden sollen, sondern um die Freigabe seiner Bemerkungen für eigene Erkundungsbewegungen der Leserschaft. Es wird sich im Folgenden zeigen, inwiefern Wittgenstein sich selbst als souveräne Autorinstanz im Text zurückzunehmen versteht, um sich gerade in einer Polyphonie von Hinsichten einer reglementierenden Funktion zu entziehen. Er selbst wird in den Bemerkungen nicht mehr als allwissender Erzähler auftreten, da die Texte mit zahlreichen Leerstellen versehen sind, in deren Freiräumen sich der Austrag der Themenfelder vollziehen wird. Insofern möchte ich mit Pichler die Wittgenstein’schen Unmutsbekundungen – »Ich hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht. Es ist nicht so ausgefallen; aber die Zeit ist vorbei, in der es von mir verbessert werden könnte.« (PU Vw) – dahingehend deuten, dass er nicht der kohärenten Bündelung seiner Gedanken im Sinne eines systematischen Lehrwerks nachtrauert, sondern dem Umstand, dass seine Bemerkungen nicht in der von ihm gewünschten Abgründigkeit die Albumform angenommen haben: »Die Unzufriedenheitsbekundung bezieht sich nicht auf die Albumform als solcher, sondern auf bestimmte Stellen im ›Album‹. […] Wenn es dem Buch an etwas fehlte, dann brauchen es also das [sic!] nicht Linearität und axiomatische Systematik gewesen zu sein, sondern vielleicht die Optimierung der verbindenden und vernetzenden Albumform.« (Pichler 2004, 58 und 178) Weit mehr Brüche, die nicht mehr geglättet oder übergangen werden können, sollten die Denkbewegungen markieren und jede dozierend-reglementierende Instanz verhindern. Wittgensteins Plädoyer für einen Pluralismus an Sprachspielen tritt somit nicht selbst in einer dogmatischen Form auf, sondern in einer bis dato noch nie gehörten Vielstimmigkeit, die sich Normierungsversuchen einer Autorinstanz zu entziehen vermag. Um diesen Wandel näherhin nachzuzeichnen, sollen nun Unterschiede in der Weise des Schreibens zwischen dem Braunen Buch und den Philosophischen Untersuchungen kurz angedeutet werden.
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Ob zwischen dem Beginn der Untersuchungen mit Ms 142 und den diversen Manu- und Typoskripten vor Ende 1936 tatsächlich eine Ruptur feststellbar ist, kann durchaus kontroversiell diskutiert werden. Es gibt – neben einer Reihe von Andeutungen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll – auch explizite Äußerungen Wittgensteins, die in dieser Hinsicht gedeutet werden können. So schreibt er in einem Entwurf des Vorworts aus dem Jahr 1938 zu den Untersuchungen: »Vor etwa 4 Jahren machte ich den ersten Versuch einer Zusammenfassung. Das Ergebnis war ein unbefriedigendes, und ich machte weitere Versuche. Bis ich endlich (einige Jahre später) zur Überzeugung gelangte, dass es vergebens sei; und ich alle solche Versuche aufzugeben hätte. Es zeigte sich mir, dass das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; dass meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, einem Gleise entlang weiterzuzwingen.« (Ts 225, I f., PUK 207) Ich nehme an, dass sich Wittgenstein hier in erster Linie auf das Big Typescript bezieht und in weiterer Folge vornehmlich den Buchkomplex des Braunen Buches im Auge hat. Diese Versuche scheiterten seiner Ansicht nach aufgrund der Einengung der Explikation auf eine Richtung. Die Gedankengänge müssen sich jedoch, um nicht sogleich zu versiegen, in einer freieren Weise arrangieren können. Dass »methodische« Unzulänglichkeiten im Text zum Abbruch der Übersetzung der deutschen Überarbeitung des Brown Book – die Wittgenstein mit den Worten »Dieser ganze ›Versuch einer Umarbeitung‹ […] ist nichts wert« (Ms 115, 292) 25 verwirft – geführt haben könnten, führt auch der Herausgeber des Blauen und Braunen Buchs, Rush Rhees, ins Feld: »Aber Wittgenstein scheint auch den Eindruck gehabt zu haben, daß an der von ihm befolgten Methode etwas falsch war. […] Moore sprach mit mir darüber [über eine frühere Version der 25 Im Zusammenhang mit der missglückten Überarbeitung und Übersetzung des Brown Book schreibt Wittgenstein am 20. November 1936 aus Norwegen an Moore: »I was glad to get your letter. My work isn’t going badly. I don’t know if I wrote to you that when I came here I began to translate into & rewrite in German the stuff […]. When about a fortnight ago, I read through what I had done so far I found it all, or nearly all, boring & artificial. For having the english version before me had cramped my thinking. I therefore decided to start all over again & not to let my thoughts be guided by anything but themselves.« (GBW, vgl. B 201)
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PU], nachdem ich es 1938 gelesen hatte. Er sagte, der erste Teil scheine ›mit dem Brown Book genau übereinzustimmen‹, der entscheidende Unterschied komme mit der ›ganz neuen‹ Erörterung von ›Einfach‹ und ›Zusammengesetzt‹ (Untersuchungen § 46–64); Wittgenstein, sagte Moore weiter, habe ihm erklärt, er sei im Brown Book der falschen Methode gefolgt, in diesem Manuskript dagegen habe er die richtige Methode angewandt. Moore gab zu, er wisse nicht, was Wittgenstein damit meinte. Auch ich weiß es nicht.« (BB 12 f.) Neben dem gewichtigen Hinweis auf zusätzliche Themenfelder in den Untersuchungen – der Vermutung Moores wird noch nachzugehen sein – ging es Wittgenstein weniger um inhaltliche – hierin herrscht weitgehend Übereinstimmung – denn um einen methodischen Wandel, den weder Rhees noch Moore ihren eigenen Bekundungen nach nachvollziehen können. Gesetzt, es gibt überhaupt so etwas wie einen anderen Weg, den Wittgenstein mit den Untersuchungen seinem Selbstverständnis nach beschritten hat, wie könnte dann diese Zugangsweise näherhin charakterisiert werden? Worin liegen die methodischen Differenzen zwischen dem Braunen Buch oder anderen Schriften in dieser Zeit und den Versionen der Philosophischen Untersuchungen? Wie schon zuvor erwähnt, orientiert sich das Braune Buch an der sukzessiven Entwicklung von primitiveren Sprachspielen zu immer komplexeren. Es war – und dieser Kontext darf nicht vollends ausgeblendet werden – vornehmlich als »Lehrbuch« oder zumindest als Lerngrundlage für seine Studenten konzipiert. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die lineare Genese des Sprachspielverfahrens, die sich durch eine rigide Nummerierung auszeichnet, in den Untersuchungen nicht mehr verfolgt wird. Erst nach dem Ms 115 beginnt Wittgenstein, jede einzelne Bemerkung in die Zählung aufzunehmen, unabhängig davon, ob sie nun ein neues Sprachspiel eröffnet oder nicht (vgl. Pichler 2004, 69). Befreit von diesem hierarchischen Aufbau finden sich in den Untersuchungen, die auf geschlossene Kreisläufe zugunsten unregelmäßiger Bewegungen – die kreuz und quer oder im Zick-Zack-Kurs verlaufen – verzichten, ellipsoide und weit freiere Gedankengänge. Die dort unternommenen Anläufe entheben sich jeder durchgehenden Kohärenz und betonen vielmehr den offenen Charakter der Fragstellungen. So zeugen die darin angeführten Verknotungen weniger für ein vollkommen rigid oder nach einem vorgegebenen Muster geknüpftes Gewebe, denn für ein Netz, das in seiner Grob406
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maschigkeit nicht alle Einzelfälle zu subsumieren gedenkt, sondern in vielfältiger Weise weiter geknüpft werden kann. Doch wie zeigt sich diese Offenheit? Anstelle von thetischen Behauptungen operiert der Text der Untersuchungen beispielsweise weit stärker mit einer Reihe von Bildern. Diese fungieren nicht nur und ausschließlich als figürliche Verdeutlichung mit hohem Anschauungscharakter, wie etwa die verwinkelte Stadt (PU 18), der reichhaltige Werkzeugkoffer (PU 11 und 14) oder die Armaturen einer Lokomotive (PU 12), sondern stürzen jedes synthetisierende Denken immer mehr in eine aporetische Verlegenheit, die von keiner allumfassenden theoretischen Ausdeutung mehr einzuholen ist. So gewinnt die spezifische Begrifflichkeit dieses Textes seine entscheidenden Impulse aus der kontextuellen und heterogenen Praxis der einzelnen Beispiele (und nicht etwa umgekehrt), wie es etwa die Analogien zum Spiel (PU 66) oder zu den Familienähnlichkeiten (PU 67) in Hinblick auf das Verständnis der Sprachspiele, das nicht durchreglementierbare Tennisspiel (PU 68) im Zusammenhang mit dem Regelfolgen oder das Beispiel mit den Nüssen (PU 28) in Anbetracht der hinweisenden Definition zeigen. Die einzelnen Bilder besitzen aber keinen absoluten Status, sondern fungieren stets als ein Exempel, zu dem immer weitere, d. h. auch gegenläufige oder anders ausgerichtete Beispiele denkbar sind. So ist es nahezu charakteristisch, dass in den Untersuchungen selten ein Bild allein auftritt: es werden immer mehrere angeführt, geradezu als ob das Denken nicht bei einem Bild stehen bleiben dürfte, sondern die Vielfältigkeit des einzelnen Bildes oder Beispiels sogleich durch ein weiteres erweitert, konterkariert oder supplementiert werden müsste. Das Braune Buch hingegen verzichtet weitgehend auf diese Exempla. Trotz der weitgehenden Übereinstimmung in den einzelnen Themengebieten kommen die zuvor erwähnten Bilder allesamt nicht vor. 26 Dieser Text besitzt nicht die schillernde Sprengkraft wie die Untersuchungen, die zeitlich nicht weit auseinanderliegen. So findet sich zwar im Braunen Buch die Zurückweisung der ostensiven Definition als eindeutige Erklärung, da sie immer in mehrfacher Hinsicht verstanden werden kann und zur rechten Auslegung gerade einer sprachlichen
26 Das trifft in besonderer Weise auf das Braune Buch zu; in dem zuvor diktierten Blauen Buch finden sich jedoch eine Reihe von Beispielen.
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Einbettung bedarf: »Die Worte ›das heißt …‹ mit der hinweisenden Gebärde nennen wir ›hinweisende Erklärung‹ oder ›hinweisende Definition‹. In (7) wird ein Gattungsname, der Name einer Form, erklärt; aber analog kann nach dem Eigennamen eines Dinges, dem Namen einer Farbe, einer Zahl, einer Himmelsrichtung gefragt werden.« (BB 122) In den Philosophischen Untersuchungen hingegen wird ein Beispiel angeführt, das sich einer definitorischen Behauptung entzieht und ganz für sich allein spricht. Die Unangemessenheit dieser Spracherklärung wird anhand eines Beispiels vorgeführt: »Die Definition der Zahl Zwei ›Das heißt zwei‹ – wobei man auf zwei Nüsse zeigt – ist vollkommen exakt. – Aber wie kann man denn die Zwei so definieren? Der, dem man die Definition gibt, weiß ja dann nicht, was man mit ›zwei‹ benennen will; er wird annehmen, daß du diese Gruppe von Nüssen ›zwei‹ nennst! Er kann dies annehmen; vielleicht aber auch, umgekehrt, wenn ich dieser Gruppe von Nüssen einen Namen beilegen will, ihn als Zahlennamen mißverstehen. Und ebensogut, wenn ich einen Personennamen hinweisend erkläre, diesen als Farbnamen, als Bezeichnung der Rasse, ja als Namen einer Himmelsrichtung auffassen. Das heißt, die hinweisende Definition kann in jedem Fall so oder anders gedeutet werden.« (PU 28) Das Bild der Nüsse dient hier nicht als nachträgliche Illustration einer theoretischen Aussage, sondern in ihm zeigt sich mehr, als in einer thetischen Setzung zum Ausdruck gebracht werden kann. Hierin manifestiert sich die Abgründigkeit der spezifisch Wittgenstein’schen Beispielgebung selbst. Es wird nicht etwas behauptet, sondern das philosophische Argument zeigt sich im Bild. Doch nicht nur die pointierte Verwendung von Beispielen zeichnet diese Passage aus, sondern auch eine dialogische Struktur, in der viele Bemerkungen verfasst sind, die jedoch nicht auf zwei Stimmen – etwa die Figur eines Lehrers und die eines Schülers – reduziert werden kann. 27 Wittgenstein hatte sich mit seiner Rückkehr nach Cambridge 27 So hat etwa Cavell (1966) in seinem einflussreichen Aufsatz The Availability of Wittgenstein’s Later Philosophy die Wittgenstein’sche Stimmenvielfalt auf die Stimme der Versuchung (»voice of temptation«), die den Leser zum Theoretisieren verführen will, und eine Stimme der Berichtigung (»voice of correctness«), die immer wieder die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele einklagt, reduziert (vgl. Stern 1996). Zu Recht hat Pichler diese Gegenüberstellung zwischen Wittgenstein einerseits und seinem metaphysischen Gegenpart andererseits in Frage gestellt, »denn die Gesprächsstruktur der Untersuchungen ist eine polyphone Struktur, die über zwei Stimmen hinausgeht« (Pichler 2004, 19).
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allmählich einen Dialogstil angeeignet. 28 Doch mit den Philosophischen Untersuchungen fungiert keine der Stimmen – die nicht immer genau abzählbar und zuordenbar sind – mehr (wie es z. B. noch im Braunen Buch der Fall war) als klar angebbare und letztgültige Instanz, die andere Ansichten in einem didaktischen Tonfall korrigiert, hinsichtlich der »richtigen« Ansicht maßregelt oder die Dialogpartner mit ihren vernachlässigbaren Beiträgen gänzlich übertönt. Es wird beinahe unmöglich, eine Stimme mit der Wittgensteins zu identifizieren, da immer stärker auf eine auktoriale Erzählfigur und auf dogmatische Aussagen verzichtet wird. 29 So behauptet in den Untersuchungen weniger Wittgenstein als Autor etwas, sondern vielmehr gibt der Text in seinen polyphonen Ausführungen etwas zu bedenken, indem er Beispiele und Gegenbeispiele anführt, Fragen aufwirft und sich dadurch jedem eindimensionalen Aussagegehalt entzieht. Auch wenn Gegenstimmen ausmachbar sind, werden diese kaum als bloß zu überwindende Ansichten karikiert, sondern in ihren Anliegen ernst genommen. In diesen fingierten Dialogen – die Wittgenstein selbst einmal als »Selbstgespräche« 30 bezeichnet hat – erscheinen die Gesprächsteilnehmer weit mehr gleichberechtigt, als in den Schriften unmittelbar zuvor. Bei diesen Selbstgesprächen ist es auch nicht mehr zulässig, von einer nachträglichen Inszenierung zu sprechen, wie es beispielsweise Pichler (vgl. Pichler 2004, 18) tut, als ob Wittgenstein einen Monolog in einem
28 Frank (1989, 50) und Nyri (1998, 201) verorten den Durchbruch zu einem dialogischen Stil Ende Juli 1930; Pichler (2004, 98) hingegen setzt die gezielte Verwendung der Form von fiktiven Gesprächen bereits mit Ms 108 und 109 – und damit um rund ein Jahr früher – an. 29 Hier drängen sich Parallelen zu Bachtins Dostojewski-Lektüre auf: »Sein [Dostojewski – respektive Wittgenstein, M. F.] gesamter Text könnte [jeweils] im Grunde mit Anführungszeichen übersät sein, wodurch die kleinen Inseln der verstreuten direkten und reinen Autorenrede hervorgehoben würden, die von allen Seiten von den Wellen der Redevielfalt umspült werden. Aber dies zu tun wäre unmöglich, weil ein und dasselbe Wort […] oft gleichzeitig in die fremden Reden und in die Autorenrede eingeht. Die fremde Rede, die […] bald in kompakten Massen angeordnete, bald sporadisch verstreute, meist unpersönliche Rede ist nirgendwo deutlich von der Autorenrede abgegrenzt: die Grenzen sind absichtlich fließend und zweideutig gehalten, oft verlaufen sie durch ein syntaktisches Ganzes, oft durch einen Satz, manchmal jedoch zertrennen sie die Hauptglieder eines Satzes.« (Bachtin 1979, 198) Auf biographische Parallelen zwischen Wittgenstein und Michail Bachtin weist Seekircher (2001) hin. 30 »Ich schreibe beinahe immer Selbstgespräche mit mir selbst. Sachen, die ich mir unter vier [!] Augen sage.« (VB 560)
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zweiten Schritt in eine dialogische Form gegossen hätte. 31 Bei Gesprächen, die man mit sich selbst führt, weiß man nicht im Vorhinein, ob und zu welchem Ergebnis man kommen wird; dann wären die Bewegung des Gesprächs, ja der Weg und somit es selbst unwesentlich. In diesem Falle hätte Wittgenstein seine »Ergebnisse« ja nur in definitorischen Sätzen festhalten müssen. Doch im Anführen des mannigfachen Für und Wider, ohne apodiktisch auf ein Urteil zu beharren, eröffnet sich ein ganz anderes Verständnis des Philosophierens und des Schreibens von Texten. Sie bilden keine abgeschlossenen und statischen Einheiten mehr, sondern sind unentwegt im Fluss. Keine der Stimmen behält in einem dogmatischen Sinne Recht. Ihr Geltungsbereich ergibt sich immer wieder aus dem Kontext und aus den diversen Beispielen. Diese Ebenbürtigkeit der Stimmen, bei all den unterschiedlichen Auffassungen, die sie vertreten, wird zusätzlich dadurch untermauert, dass häufig die Anführungszeichen ausbleiben und gänzlich auf Figurenangaben verzichtet wird, wie es bei herkömmlichen dramatischen Konstellationen der Fall ist, sodass eine klare Trennung der einzelnen Stimmen kaum vorzunehmen ist. Wer wann und wie lange spricht, ist manchmal alles andere als eindeutig anzugeben. So werden mitunter auch Widersprüche stehen gelassen, die keine dialektische Versöhnung erfahren. In diesem Polylog werden vielmehr Bruchlinien aufgezeigt, ohne dass sie gekittet werden, wodurch den Lesenden oft mit einem nicht integrierbaren Rest, mit einem Zuviel oder Zuwenig an Informationen, eine kohärente und äquilibristische Lektüre versagt bleibt. Konsequenterweise müsste die Diktion dieser Arbeit in den vorhergehenden Kapiteln immer dahingehend modifiziert werden, dass nicht Wittgenstein etwas behauptet, sondern eine Stimme die Überlegung ins Treffen führt, die von mir als Leser in der oder der Weise gedeutet wird. Die Stärke der Wittgenstein’schen Texte beruht darauf, dass nicht Lehransichten vertreten werden, sondern dass der Leser selbst mit diesem Überschuss und diesem Defizit umzugehen lernen muss. Der Autor erspart einem nicht, wie er es schon im Vorwort betont hat, den eigenen Nachvollzug des Gedachten. Immer wieder wird so der Ball Werkgeschichtlich kann das mitunter zutreffen, wie Pichler anhand einer Textstelle eindrucksvoll belegt (Pichler 2004, 99). Dennoch bleibt die Passage weder stilistisch noch inhaltlich dieselbe, sondern gewinnt eine vollkommen andere Dimension, sodass nicht mehr von einem stufenweisen Aufbau gesprochen werden kann.
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zu den Lesenden zurückgespielt, die damit gezwungen sind, sich aktiv in den Text einzuschreiben. Die Dialoge gewinnen nicht nur durch direkte Ansprache mittels Personalpronomen einen Gestus der intraund intertextuellen Kommunikation, sondern darüber hinaus sind die Lesenden durch den Entzug einer Autorinstanz gefordert, selbst in der Vielstimmigkeit Stellung zu beziehen. So schreibt Wittgenstein in den Vermischten Bemerkungen: »Die Sprache der Philosophen ist schon eine gleichsam durch zu enge Schuhe deformierte. Die Personen eines Dramas erregen unsere Teilnahme, sie sind uns wie Bekannte, oft wie Menschen, die wir lieben oder hassen […].« (VB 507) Diese dramenanaloge Stimmenvielfalt lässt sich an verschiedensten Themenkomplexen der Untersuchungen ablesen. 32 Um dies an einer Passage nachzuzeichnen, soll Moores zuvor angeführtem Hinweis, dass im Gegensatz zum Brown Book der Abschnitt über das Einfache und Zusammengesetzte in das philosophische Album Eingang gefunden hat, nachgegangen werden. Gemeinhin wird Wittgensteins Spätphilosophie immer wieder mit der Zurückweisung des logischen Atomismus in Verbindung gebracht (vgl. Stegmüller 1987, 564 ff.), was sicherlich auch zutreffend ist. Doch Wittgenstein wendet sich nicht einfachhin gegen die Zerlegung des Komplexen – wie es der Atomismus propagiert – und behauptet damit auch nicht thetisch, dass wir immer vom Zusammengesetztsein auszugehen haben. Normalerweise wird bei der dichotomischen Gegenüberstellung von zwei Optionen eine eindeutige Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten gefordert: entweder ist die analytische oder die synthetische Form korrekt – tertium non datur. In einer weit subtileren Weise wird dieses Problemfeld anhand von Beispielen und von mehreren Stimmen erörtert, wobei es nicht darum geht, einen Pluralismus dogmatisch zu vertreten 32 In einer beeindruckenden, aber nicht gänzlich unproblematischen Weise hat Pichler (2004, 143–157) diese Polyphonie anhand des Abschnitts über das Lesen (PU 156–178) nachgezeichnet und dabei zumindest drei Sprecher gefunden. Ebenso betont er, dass die Auseinandersetzung mit dem augustinischen Sprachverständnis sich auch aus mehreren Stimmen konstituiert: »die Stimme des Zitats (die nicht die Stimme des Philosophen Augustinus ist); die Stimme der Übersetzung (die das Zitat ›tendenziös‹ wiedergibt); die Stimme der verstellenden philosophischen Interpretation des Zitats in § 1c (die erst bei der Entstehung der Untersuchungen im November 1936 hereingekommen ist); die nicht mehr konziliante Stimme von § 1d (welche nicht ausschließt, dass Augustinus sich der begrenzten Gültigkeit seiner Beschreibung bewusst war) usw. bis zur Stimme von § 4 (welche sich, falls wir es bis dahin gelernt haben, dass die in § 1c vorgestellten ›Bild‹ und ›Idee‹ falsch sind, an dieser Auffassung wieder reibt).« (Pichler 2004, 219 f.)
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und die Rückführung auf den Alltagsgebrauch als vordergründig anzusehen, sondern es lässt sich der Versuch ausmachen, den Text selbst in Bewegung zu halten, indem er nicht mehr auf den propositionalen Aussagegehalt einer Ansicht Wittgensteins reduziert werden kann: »Wenn ich nun sage: ›Mein Besen steht in der Ecke‹, – ist dies eigentlich eine Aussage über den Besenstil und die Bürste des Besens? Jedenfalls könnte man doch die Aussage ersetzen durch eine, die die Lage des Stiels und die Lage der Bürste angibt. Und diese Aussage ist doch nun wie eine weiter analysierte Form der ersten. – Warum nenne ich sie ›weiter analysiert‹ ?« (PU 60) Es wird hier nach der Explikation der Zerlegung in die scheinbar einfachen Elemente des Besens in Stiel und Bürste die Frage gestellt, was »analysiert« heißt. Ist diese Trennung tatsächlich, wie gemeinhin angenommen, ein Schritt zu den elementareren Bausteinen? Das polyphone Selbstgespräch geht aber weiter: »Wenn wir jemand fragten, ob er das meint, würde er wohl sagen, daß er garnicht an den Besenstiel besonders, oder an die Bürste besonders, gedacht habe. Und das wäre die richtige Antwort, denn er wollte weder vom Besenstiel, noch von der Bürste besonders reden.« (PU 60) Hier wird mittels einer hypothetischen Überlegung im Konjunktiv die Unwahrscheinlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass es sich im Rahmen dieses Beispiels tatsächlich um eine in der Praxis vorgenommene Zergliederung in Einzelbestandteile handelt. Die Analyse wirkt weit umständlicher als die Zusammensetzung, sodass sich hier die Einteilungskriterien von einfach und zusammengesetzt zu verschieben beginnen. In der anschließenden lebensweltlichen Verankerung scheint diese Dichotomie vollends unterlaufen zu werden: »Denke, du sagtest jemandem statt ›Bring mir den Besen!‹ – ›Bring mir den Besenstiel und die Bürste, die an ihm steckt!‹ Ist die Antwort darauf nicht: ›Willst du den Besen haben? Und warum drückst du das so sonderbar aus?‹« (PU 60) Der Text trägt die mögliche Unhaltbarkeit dieser sterilen Einteilung nicht nur anhand eines aus den alltäglichen Begebenheiten nachvollziehbaren Beispiels vor, sondern enthält sich auch jeder konstativen Aussage; er stellt nur in Frage, ob die Analyse in diesem spezifischen Kontext auch tatsächlich das Einfachere darstellt: »Dieser Satz, könnte man sagen, leistet dasselbe, wie der gewöhnliche, aber auf einem umständlicheren Wege.« (PU 60) Wieder wird hier der Konjunktiv verwendet, nicht aber, um eine der beiden Formen eindeutig überzuprivilegieren, sondern um sie gleichzustellen, allerdings mit der Anmerkung, dass die Analysis hier die weitschweifigere und damit 412
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komplexere Möglichkeit darstellt. Es geht hier nicht mehr so sehr darum, eine Wertung vorzunehmen, sondern es wird die Frage gestellt, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, vom Analysierten als Einfacherem und vom Synthetischen als Komplexerem zu sprechen, da das Beispiel dieser Opposition zu widersprechen scheint. Im Text wird, um die aporetische Situation dieser Gegenüberstellung vors Auge zu führen, ein Sprachspiel entworfen, das darin besteht, auf Befehle hin mehrteilige Dinge zu bringen. Dabei wird einerseits (a) die Variante ins Treffen geführt, die mit den Namen der zusammengesetzten Sachen zu tun hat (Besen; Stuhl; Tisch etc.), andererseits (b) die Version verfolgt, dass lediglich mittels der Namen der Teile das Ganze (Bürste und Stiel; Beine, Fläche und Lehne; Beine und Platte etc.) beschrieben werden kann. Beide Befehlsformen können unter diesen Umständen durchaus dasselbe leisten, ja erfüllen denselben Zweck und haben denselben Sinn. Lässt sich dann noch diese Unterscheidung von einfach und zusammengesetzt aufrechterhalten? Nun wird aber eingewendet: »Aber damit ist nicht gesagt, daß wir uns über die Verwendung des Ausdrucks ›den gleichen Sinn haben‹, oder ›dasselbe leisten‹ im Allgemeinen verständigt haben.« (PU 61) Es wird also die Möglichkeit in Zweifel gezogen, von dem fingierten Sprachspiel aus auf alle weiteren Optionen zu schließen. Was hier zwar zutrifft, muss dort nicht unbedingt gegeben sein und kann erst recht nicht für sämtliche Fälle in Anspruch genommen werden. Wieder verkompliziert der Text durch ein weiteres Beispiel den Hang zur eindeutigen Klassifikation: »Denke etwa, der, dem die Befehle in (a) und (b) gegeben werden, habe in einer Tabelle, welche Namen und Bilder einander zuordnet, nachzusehen, eher er das Verlangte bringt. Tut er nun dasselbe, wenn er einen Befehl in (a) und den entsprechenden in (b) ausführt? – Ja und nein. Du kannst sagen: ›Der Witz der beiden Befehle ist der gleiche‹. Ich würde hier [aber vielleicht nur hier, M. F.] dasselbe sagen. – Aber es ist nicht überall klar, was man den ›Witz‹ des Befehls nennen soll.« (PU 62) Es scheint ohne Berücksichtigung des Kontextes unentscheidbar zu sein, so etwas wie den Witz einer Sache zu bestimmen. Doch auch der Kontext ist nichts invariant vorgegebenes, sondern manifestiert sich immer wieder unterschiedlich. Keiner der Möglichkeiten wird in allgemeiner Form somit ein absoluter Vorrang zugebilligt, keine der Varianten kann für sich die fundamentalere Form beanspruchen, womit auch die hierarchische Gegenüberstellung von »einfach« und »zusammengesetzt« ad absurdum geführt wird. Sie beA
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sitzen ihre Berechtigung, beide lassen vielleicht etwas sehen, was je nach Hinsicht in der anderen Modalität nicht zum Vorschein kommt. Zurückgewiesen wird somit nicht nur die Privilegierung der analysiert-theoretischen Form, sondern auch der unbedingte Vorrang der synthetisch-lebensweltlichen Weise: »Wir denken etwa: Wer nur die unanalysierte Form besitzt, dem geht die Analyse ab; wer aber die analysierte Form kennt, der besitze damit alles. – Aber kann ich nicht sagen, daß diesem ein Aspekt der Sache verloren geht, so wie jenem?« (PU 63) In jedem Fall können Facetten sichtbar werden, die in den jeweils anderen Optionen so nicht zum Vorschein kommen. Das letzte Wort, auf diese aufmerksam zu machen, gehört hier keiner thetischen Setzung oder einem Plädoyer für eine der beiden Formen, sondern der Text schließt vielmehr mit einer Frage, die sich einer Antwort in Hinblick auf eine absolute Wertigkeit entzieht, die aber auch als ein Rückpass zur Leserschaft verstanden werden kann, die nun selbst die Bälle – oder was auch immer – in ihrer Beweglichkeit weiter am Laufen halten kann, um die offene Weite der Spielfelder zu erkunden. Oder wie es Wittgenstein an anderer Stelle formuliert: »Was der Leser auch kann, das überlaß dem Leser.« (VB 560)
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Literaturverzeichnis
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Primärliteratur Heidegger
Martin Heidegger wird soweit als möglich nach der bei Klostermann (Frankfurt am Main) erscheinenden Gesamtausgabe (»GA«) mit Band- und Seitenzahl zitiert: I. Abteilung: Vero¨ffentlichte Schriften (1910–1976) 1. Frühe Schriften (1912–1916). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 1978. 2. Sein und Zeit (1927). Hg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann 1977. 3. Kant und das Problem der Metaphysik (1929). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 1991. 4. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1936–1968). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 2. Auflage 1996. 5. Holzwege (1935–1946). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Hermann. 2. Auflage 2003. 6.1 Nietzsche I (1936–1939). Hg. v. Brigitte Schillbach 1996. 6.2 Nietzsche II (1939–1946). Hg. v. Brigitte Schillbach 1997. 7. Vorträge und Aufsätze (1936–1953). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 2000. 8. Was heißt Denken? (1951–1952). Hg. v. Paola-Ludovika Coriando 2002. 9. Wegmarken (1919–1961). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 2., durchgesehene Auflage 1996. 10. Der Satz vom Grund (1955–1956). Hg. v. Petra Jaeger 1997. 11. Identität und Differenz (1955–1957). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 2006. 12. Unterwegs zur Sprache (1950–1959). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 1985. 13. Aus der Erfahrung des Denkens (1910–1976). Hg. v. Hermann Heidegger. 2., durchgesehene Auflage 2002. 14. Zur Sache des Denkens (1962–1968). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 2007. 15. Seminare (1951–1973). Hg. v. Curd Ochwadt 1986. 16. Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910–1976). Hg. v. Hermann Heidegger 2000.
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Literaturverzeichnis II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944 A. Marburger Vorlesungen 1923–1928 17. Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1923/24). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann 1994. 18. Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Sommersemester 1924). Hg. v. Mark Michalski 2002. 19. Platon: Sophistes (Wintersemester 1924/25). Hg. v. Ingeborg Schüßler 1992. 20. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925). Hg. v. Petra Jaeger. 3., durchgesehene Auflage 1994. 21. Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Wintersemester 1925/26). Hg. v. Walter Biemel. 2., durchgesehene Auflage 1995. 22. Die Grundbegriffe der antiken Philosophie (Sommersemester 1926). Hg. v. Franz-Karl Blust. 2. Auflage 2004. 23. Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant (Wintersemester 1926/27). Hg. v. Helmuth Vetter 2006. 24. Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 3. Auflage 1997. 25. Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28). Hg. v. Ingtraud Görland. 3. Auflage 1995. 26. Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Sommersemester 1928). Hg. v. Klaus Held. 2., durchgesehene Auflage 1990. B. Freiburger Vorlesungen 1928–1944 27. Einleitung in die Philosophie (Wintersemester 1928/29). Hg. v. Otto Saame und Ina Saame-Speidel. 2., durchgesehene Auflage 2001. 28. Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (Sommersemester 1929). Hg. v. Claudius Strube 1997. 29./30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Wintersemester 1929/30). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 3. Auflage 2004. 31. Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (Sommersemester 1930). Hg. v. Hartmut Tietjen. 2., durchgesehene Auflage 1994. 32. Hegels Phänomenologie des Geistes (Wintersemester 1930/31). Hg. v. Ingtraud Görland. 3. Auflage 1997. 33. Aristoteles, Metaphysik Theta 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Sommersemester 1931). Hg. v. Heinrich Hüni. 2., durchgesehene Auflage 1990. 34. Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Wintersemester 1931/32). Hg. v. Hermann Mörchen. 2., durchgesehene Auflage 1997. 36./37. Sein und Wahrheit. 1. Die Grundfrage der Philosophie (Sommersemester 1933). 2. Vom Wesen der Wahrheit (Wintersemester 1933/34). Hg. v. Hartmut Tietjen 2001.
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Primärliteratur Heidegger lesung, geschrieben vermutlich Sommer/Herbst 1942. Hg. v. Ingeborg Schüßler 2010. 79. Bremer und Freiburger Vorträge. Hg. v. Petra Jaeger 1994. 81. Gedachtes I. Frühe Gedichte II. Aus der Erfahrung des Denkens III. Gedachtes für das Vermächtnis eines Denkens IV. Vereinzeltes. Hg. v. Paola-Ludovika Coriando 2007. IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen 85. Seminar: Vom Wesen der Sprache Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache«. Hg. v. Ingrid Schüßler 1999. 87. Nietzsche: Seminare 1937 und 1944. 1. Nietzsches metaphysische Grundstellung (Sein und Schein) 2. Skizzen zu Grundbegriffe des Denkens. Hg. v. Peter von Ruckteschell 2004. 88. Seminare: 1. Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens 2. Einübung in das philosophische Denken. Hg. v. Alfred Denker 2008. 90. Zu Ernst Jünger. Hg. v. Peter Trawny 2004. Die nicht in der Heidegger-Gesamtausgabe erschienen Texte wurde nach Siglen zitiert. A Heidegger, Martin: »Die Armut« [19. Juli 1945], in: Heidegger Studies. Nr. 10 (1994), 5–11. BW H / B Heidegger, Martin / Bauch, Kurt: Briefwechsel. 1932–1975. Hg. v. Almuth Heidegger. Freiburg/München: Alber 2010. BW H / F Heidegger, Martin / Ficker, Ludwig von: Briefwechsel 1952–1967. Hg. und komm. v. Matthias Flatscher. Stuttgart: Klett-Cotta 2004. BW H / HF Heidegger, Martin: »Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und dem Freiburger Romanisten Hugo Friedrich«, in: Denker, Alfred / Zaborowski, Holger (Hg.): Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente. Heidegger-Jahrbuch 4. Freiburg/München: Alber 2010, 89–139. BW H / J Heidegger, Martin / Jaspers, Karl: Briefwechsel 1920–1963. Hg. v. Walter Biemel und Hans Saner. München: Piper 1990. BW H / S Heidegger, Martin / Stenzel, Julius: »Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928–1932).« Hg. v. Hans Christian Günther, in: Heidegger-Studies, Nr. 16 (2000), 11–33. MlS Heidegger, Martin: ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride. 1915–1970. Hg. und komm. v. Gertrud Heidegger. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005. Sch Heidegger, Martin: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Hg. von Ulrich von Bülow. Mit einem Essay von Odo Marquard. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2005.
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