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German Pages 466 [468] Year 2019
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)
490
Christine Oefele
Evangelienexegese als Partiturlesen Eine Interpretation von Mk 1,1 – 8,22a zwischen Komposition und Performanz
Mohr Siebeck
Christine Oefele, geboren 1968; seit 1990 Berufstätigkeit als Musikerin, Musiklehrerin, Chorleiterin und Dozentin in den Bereichen Kirchenmusik und Theologie; 1992 Abschluss als staatlich geprüfte Musiklehrerin; 2010 Bachelor of Theology, 2012 Master of Theology, 2018 Promotion zur Dr. theol. an der Universität Basel; 2013 – 18 Assistentin für Neues Testament an den Universitäten Bern und Basel; seit September 2018 Lehrbeauftragte für Hymnologie und Liturgik an der Hochschule der Künste Bern; seit Dezember 2018 Beauftragte für Gottesdienst und Musik in der Fachstelle Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und Postdoc am Institut für Neues Testament an der Universität Bern. orcid.org / 0000‑0003‑3066‑4038
ISBN 978‑3‑16‑156468‑0 / eISBN 978‑3‑16‑156469‑7 DOI 10.1628 / 978‑3‑16‑156469‑7 ISSN 0340‑9570 / eISSN 2568‑7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen aus der Times gesetzt und auf alterungs beständiges Werkdruckpapier gedruckt. Es wurde von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift „Seht, was ihr hört!“ (Mk 4,24) Exegese als Partiturlesen – eine Interpretation von Mk 1,1 – 8,22a“, die von der Theologischen Fakultät der Universität Basel im Februar 2018 angenommen wurde. Die Unterstützung anderer hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich die Dissertation erfolgreich abschließen konnte und sie nun im Druck vorliegt. So sei an den Beginn ein großes Dankeschön gestellt – es gilt denjenigen, deren Namen ich im Folgenden erwähne, aber auch den vielen anderen, deren Nennung den Rahmen dieses Vorworts sprengen würde. Mein Doktorvater Moisés Mayordomo ließ sich auf mein Grenzgängertum zwischen Exegese und Musikwissenschaft und auf eine somit eher experimentelle Arbeit mit ungewissem Ausgang ein und gewährte mir freie Hand in der Entwicklung meines hermeneutischen Ansatzes. Zudem stellte er mir als Assistentin, zuerst an der Universität Bern, dann an der Universität Basel, viel Zeit für meine eigene Forschung zur Verfügung. Diese Rahmenbedingungen – gedankliche und zeitliche Freiräume – waren unerlässlich für das Gelingen dieses Projekts. Auch Rainer Hirsch-Luipold, bei dem ich im Übergang von Bern nach Basel Assistentin war, sorgte dafür, dass ich mein Projekt weiterverfolgen konnte. Francis Watson diskutierte mit mir Fragen der Markusexegese und der Oralität der Evangelien und gab mir die Gelegenheit, meine Arbeit im neutestamentlichen Forschungskolloquium an der Universität Durham vorzustellen. Zudem hat er das Zweitgutachten verfasst und sich Zeit für die Reise nach Basel zur Defensio genommen. Im Rahmen des Frauen-Mentoringprogramms der Theologischen Fakultät der Universität Bern und darüber hinaus begleitete mich Annette Merz als Mentorin und unterstützte mich dabei, in der akademischen Welt Fuß zu fassen. Durch die ganze Doktoratszeit hindurch stand mir Kurt Keller als interessierter und kundiger Berater in sämtlichen Fragen zur griechischen Sprache zur Seite und gab wertvolle Literaturtipps. Er hat die zahlreichen griechischen Passagen Korrektur gelesen und darüberhinaus immer wieder bei IT-Problemen geholfen. Daniel Allenbach hat die als Dissertation abgegebene Fassung innerhalb kurzer Zeit genauestens lektoriert und zudem einige inhaltliche Rückmeldungen gegeben. Br. Thomas Dürr und die anderen Christusträger-Brüder gewährten mir oft ihre großzügige Gastfreundschaft. So hatte ich das Privileg, etliche Seiten dieses Buches bei bester Versorgung mit schönster Aussicht auf See und Berge im Gästehaus der Christusträger-Bruderschaft in Ralligen am Thuner See zu schreiben und gleichzeitig an Leib und Seele auftanken zu können.
VI
Vorwort
Viele weitere Weggenossinnen und Weggenossen aus dem akademischen Umfeld, aus Familie und Freundeskreis wären hier noch zu nennen, ohne deren Begleitung und Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre. Exemplarisch für diese vielen seien Ursula Meyer und Nancy Rahn namentlich erwähnt, deren Feuer für ihr je eigenes Dissertationsprojekt und deren Interesse am Austausch über Fachgrenzen hinweg für spannende Diskussionen weit über den neutestamentlichen Horizont hinaus sorgten und meine Begeisterung an „meinem Markus“ auch über Durststrecken hinweg am Leben erhielten. Jörg Frey hat als Herausgeber die Arbeit in die Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II“ aufgenommen und half in der Vorbereitung der Publikation bei inhaltlichen Fragen weiter. Von Seiten des Verlags wurde die Publikation bestens betreut von Katharina Gutekunst, Elena Müller und Rebekka Zech. Druckkostenzuschüsse bekam ich von den Reformierten Kirchen Bern-JuraSolothurn und aus dem Dissertationenfonds der Universität Basel. Zum Gelingen der Arbeit trugen auch die Beiträge des Doktoratsprogramms der theologischen Fakultäten Basel, Bern und Zürich bei, die Kurse vor Ort und die Teilnahme an Fachtagungen ermöglichten, an denen ich Themen aus meinem Forschungsgebiet vorstellen und diskutieren konnte. Last but not least sei „Markus“ selbst genannt, der schöpferische Geist hinter dem gleichnamigen Evangelium. Sein Text hat für mich auch nach Jahren intensiver Auseinandersetzung seine Faszination nicht verloren. Im Gegenteil, er begleitet mich weiterhin – als Ruf in die Nachfolge Jesu, der auch mir gilt, und zugleich als Zusage, dass das kleine Bisschen, was ich vom Evangelium verstanden habe, zum Leben genügt (vgl. S. 354). Bern, im Mai 2019
Christine Oefele
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Zeichenerklärung zu den Grafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I.
Theoretische Grundlagen: Forschungskontext, Hermeneutik, Methodik, Einleitungsfragen . . . . . . . . . . .
5
I.1. Verortung im Forschungsgebiet „Evangelien und antike Oralität“ . . 5 I.2. Vergleich des Markusevangeliums mit musikalischen Kompositionen 13 I.2.1. Vorüberlegungen: Vergleichbarkeit von Musik und Sprache . 13 I.2.2. Das Markusevangelium im Vergleich mit musikalischen Kompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I.2.2.1. Das Markusevangelium als „Werk“ . . . . . . . . . . . . 15 I.2.2.2. Analogien zwischen dem Markusevangelium und musikalischen Kompositionen der abendländischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I.3. Ein hermeneutisches Modell für eine an der akustischen Textgestalt orientierte Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.3.1. Wahrnehmende, auslegende und historische Lektüre: Die „literarische Hermeneutik“ von Hans Robert Jauß . . . . . 21 I.3.2. Adaption der Jauß’schen „Literarischen Hermeneutik“ für die Exegese des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I.3.3. Das Selbstverständnis der Exegetin als professionelle Interpretin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I.4. Methodisch-praktische Fragen, die sich aus diesem hermeneutischen Modell ergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.4.1. Welche „Partitur“ soll als Grundlage dienen? . . . . . . . . . . . . 29 I.4.2. Der Klang der Zeichen: Die Aussprache der Koine im 1. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I.4.3. Anleihen aus der Musikanalyse für die Exegese . . . . . . . . . . 36 I.4.3.1. Sprache ist nicht Musik – die Notwendigkeit herkömmlicher exegetischer Methoden . . . . . . . . . 36
VIII
Inhaltsverzeichnis
I.4.3.2. Das Konzept des Partiturlesens als Zugang zur akustischen Gestalt eines Textes . . . . . . . . . . . . I.4.3.3. Akustische Formgestaltung: Ein Spiel mit Wiederholung, Variation und Neuheit . . . . . . . . . . . I.4.3.4. Repetitionsanalyse als Methode zur Untersuchung der akustischen Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.5. Wahrnehmende, auslegende und historische Interpretation des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.5.1. Grafiken – die Darstellung der akustischen Textgestalt . . . . . I.5.2. Übersetzung – heutiges Verstehen des Textes in der eigenen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.5.3. Kommentar – damaliges Verstehen und Zusammenschau der drei Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.6. Auf der Schwelle zur Auslegung: Einleitungsfragen . . . . . . . . . . . . . I.6.1. Klassifizierung der Einleitungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.6.2. Zum historischen Kommunikationszusammenhang . . . . . . . . I.6.3. Literarische Integrität? Die Frage nach dem Markusschluss .
38
40 42 47 48
48
51 51 52 52 56
II. Die Struktur des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 III.1. Die Ouvertüre: Anfang des Evangeliums (1,1 – 15) . . . . . . . . . . . . . . III.1.1. Die Struktur der Ouvertüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2. Der Anfang des Anfangs: Wie geschrieben steht (1,1 – 4) . . . III.1.3. Taufe I: Ganz Judäa und alle Jerusalemer (1,5 – 8) . . . . . . . . . III.1.4. Taufe II: Jesus aus Nazareth in Galiläa (1,9 – 11) . . . . . . . . . . III.1.5. Das Ende des Anfangs: Auftakt der Verkündigung Jesu in Galiläa (1,12 – 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.6. Zusammenfassung der Exegese zu 1,1 – 15 . . . . . . . . . . . . . . III.2. Erster Hauptteil Galiläa I: Am Meer von Galiläa (1,16 – 3,35) . . . . . . III.2.1. Die Struktur des ersten Hauptteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2. Die Kunde von der Vollmacht Jesu breitet sich aus (1,16 – 2,13a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.1. Simon und Andreas, Jakobus und Johannes: Die ersten Jünger (1,16 – 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.2. Auftakt in Kafarnaum: Wirkmächtige Worte in der Synagoge (1,21 – 29a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.3. Hinausgegangen, um zu verkündigen (1,29 – 45) . . III.2.2.4. Wiederum in Kafarnaum: Wirkmächtige Worte in einem Haus (2,1 – 13a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.5. Zusammenfassung der Exegese zu Mk 1,16 – 2,13a
69 69 73 90 94 101 107 110 110 114 114 120 128 144 160
IX
Inhaltsverzeichnis
III.2.3. Auseinandersetzungen mit den Pharisäern (2,13 – 3,6) . . . . . . III.2.3.1. Levi: Noch ein Jünger? (2,13 f.) . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3.2. Was für Tischgenossen! (Mk 2,15 – 17) . . . . . . . . . . III.2.3.3. Feiern statt fasten (2,18 – 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3.4. Alte Kleider, junger Wein (2,21 f.) . . . . . . . . . . . . . III.2.3.5. Satt werden am Sabbat (2,23 – 28) . . . . . . . . . . . . . . III.2.3.6. Am Sabbat Gutes oder Schlechtes tun? (3,1 – 7a) . . III.2.3.7. Zusammenfassung der Exegese zu 2,13 – 3,7a . . . . III.2.4. Zu wem gehört Jesus? Wer gehört zu Jesus? (3,7 – 35) . . . . . . III.2.4.1. Massen von Menschen und Zwölf, die er wollte (3,7 – 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.4.2. Volksauflauf im Haus (3,20 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.4.3. Auf Gottes Seite (3,22 – 30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.4.4. Draußen stehen, drinnen sitzen (3,31 – 35) . . . . . . . III.2.4.5. Zusammenfassung der Exegese zu 3,7 – 35 . . . . . . . III.3. Das erste Zwischenspiel: Die Gleichnisrede vom Boot aus zum Land hin (4,1 – 36a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1. Die Struktur der Gleichnisrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.2. Einleitende Bemerkungen des Erzählers (4,1 f.) . . . . . . . . . . . III.3.3. Gutes Land und andere Böden (4,3 – 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.4. Intermezzo: Wer versteht das Geheimnis des Reiches Gottes? (4,10 – 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.5. Die Auslegung: Die das Wort hören (4,14 – 20) . . . . . . . . . . . III.3.6. Offenbar und verborgen, Haben und Nichthaben (4,21 – 25) . III.3.7. Es wächst von selbst (4,26 – 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.8. Vom Senfkorn zur Wohnstatt (4,30 – 32) . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.9. Abschließende Bemerkungen des Erzählers (4,33 – 36a) . . . . III.3.10. Zusammenfassung der Exegese zu 4,1 – 36a . . . . . . . . . . . . .
161 161 164 172 177 181 188 196 199 199 213 217 229 236 237 237 239 249
255 265 273 280 284 287 289
IV. Die Fortführung der großen Linien im zweiten Hauptteil (4,35 – 8,22a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 IV.1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3. Wer ist dieser? Die Frage nach der Identität Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.1. Was bisher geschah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.2. Ich bin’s! Die Identität Jesu in den Geschichten von Booten und Broten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.2.1. Dem Wind und Meer gehorchen (4,35 – 5,2a) . . . . . IV.3.2.2. Der auf dem Meer vorübergeht (6,45 – 56) . . . . . . . IV.3.2.3. Ziemlich verzweifelt (8,10 – 22a) . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.2.4. Der das Brot bricht (6,30 – 45; 8,1 – 9) . . . . . . . . . . .
293 294 302 302
303 303 306 308 309
X
Inhaltsverzeichnis
IV.3.3. Irdische Vergleiche – Kontraste und Kontinuitäten . . . . . . . . IV.3.3.1. Irdische Vergleiche I: Herkunft, Mutmaßungen, ein falscher König, Vorgänger und Nachfolger (6,1b – 32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.3.2. Irdische Vergleiche II: Die falschen Lehrer (7,1 – 24a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.4. Heiler, Exorzist und noch viel mehr (5,1 – 6,1a; 7,24 – 37) . . . IV.3.5. Strukturelle Beobachtungen zu Name und Titeln Jesu . . . . . . IV.3.6. Zusammenfassung: Das Porträt Jesu in 4,35 – 8,22a . . . . . . . . IV.4. Wer gehört zu ihm? Die Frage nach den Nachfolgern und Nachfolgerinnen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.1. Was bisher geschah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.2. Wer ist dieser? Vom wachsenden Unverständnis der Jünger in den Geschichten von Booten und Broten . . . . . . . . . . . . . . IV.4.2.1. Furcht oder Ehrfurcht? (4,35 – 5,2a) . . . . . . . . . . . . IV.4.2.2. Ein Gespenst auf dem Meer! (6,45 – 56) . . . . . . . . . IV.4.2.3. Mit (k)einem Brot im Boot (8,10 – 22a) . . . . . . . . . . IV.4.2.4. Und sie aßen und wurden satt (6,30 – 45; 8,1 – 9) . . . IV.4.3. Nicht nur Jesus im Vergleich: Verschiedene In- und Outsider (6,1b – 32; 7,1 – 24a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.4. Geheilte, Befreite, Gläubige (5,1 – 6,1a; 7,24 – 37) . . . . . . . . . IV.4.4.1. Der verständige Gerasener – skeptische Allgemeinheit (5,1 – 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.4.2. Gerettete Töchter (5,21 – 6,1a) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.4.3. Die verständige Syrophönizierin (7,24 – 31a) . . . . . IV.4.4.4. Der passive Taubstumme (7,31 – 37) . . . . . . . . . . . . IV.4.5. Zusammenfassung: Wer gehört nun zu Jesus? . . . . . . . . . . . . IV.5. Die erste Blindenheilung, das Bekenntnis des Petrus und darüber hinaus – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a . . . . . . . . . . . . . . . . . .
318 318
324 326 329 331
335 336
337 337 338 340 342
343 346
347 349 351 354 355
359 362
V. Noch einmal Jauß: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 V.1. Pragmatik der Darstellung Jesu und der In- und Outsider in Mk 1,1 – 8,22a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 V.2. Pragmatik der Ästhetik – Schlussfolgerungen von der Gestalt des Textes auf seine intendierte Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
VI. Polyphonie – ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 VI.1. Verwoben sein und Mitweben – eine Stimme in der Polyphonie der Oralitätsforschung und des performance criticism . . . . . . . . . . . . 411
Inhaltsverzeichnis
XI
VI.2. Die Polyphonie des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 VI.3. Cantus firmus und Kontrapunkt – die Paradoxien der Christologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 VI.4. Weiterweben – ein offener Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 A. Bibelausgaben, Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Online-Faksimiles von Bibelhandschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wissenschaftliche Ausgaben des Bibeltextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deutsche und englische Bibelübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Werke antiker Schriftsteller, Sammlungen antiker Texte . . . . . . . . . 5. Andere Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wörterbücher, Grammatiken und weitere Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . C. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423 423 423 424 424 425 425 426
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
Zeichenerklärung zu den Grafiken
Zusammengehöriger Abschnitt
Ringkomposition / Inclusio
Ringkomposition / Inclusio, bei der das rahmende Element auch in der Mitte erscheint
Ringkomposition / Inclusio mit mehreren Rahmenelementen
Parallelkonstruktion
Überlagerung von Parallelkonstruktion und Ringkomposition
Zeichenerklärung zu den Grafiken A B
Großbuchstaben: Für Wiederholtes auf größerer Ebene
a b
Kleinbuchstaben: Für Wiederholtes auf Perikopen-Ebene
α β
Griech. Kleinbuchstaben: Für Wiederholtes auf engem Raum
var
x x
opp
pos / neg
x
XIII
Variation zu x Gegensatz zu x x mit und ohne Verneinung bzw. positiv / negativ
+
x
x erweitert
–
x
x verkürzt
[x]
x in einer Position, in der es [noch] nicht formbildend ist (oft bei Vorausimitationen)
xx
Klangliche oder rhythmische Auffälligkeiten
A B C
Serifenlose Großbuchstaben (am rechten Seitenrand): Bezeichnung von Formteilen
*
In den Grafiken zu 4,35 – 8,26 (Kap. IV.6): Abweichung vom Wortlaut NA28; Erläuterungen dieser textkritischen Entscheidungen im Anschluss an die Grafiken auf S. 398 f.
Einleitung Grammatice quondam ac musice iunctae fuerunt. Quintilian, Inst 1.10.17
Was denkt jemand, der oder die auf dem Cover einer neutestamentlichen Publika‑ tion „Evangelienexegese als Partiturlesen“ liest? Diese Frage hat mich beim Rin‑ gen um die Formulierung des Titels beschäftigt – schließlich sollte der Titel doch in etwa verraten, worum es in der vorliegenden Studie geht. Aber gleichzeitig sollen die Worte klingen und Assoziationen wecken, sie sollen gefallen, neugierig machen und dazu animieren, das Buch aufzuschlagen und zu lesen. Von „Evangelienexegese“, so meine Überlegung, haben die intendierten Rezi‑ pierenden – zur Hauptsache Bibelwissenschaftler und andere interessierte Theo‑ loginnen – eine ziemlich genaue Vorstellung: Das ist für sie die Auslegung einer bestimmten Gattung neutestamentlicher (evtl. auch anderer frühchristlicher) Texte. Anders liegt der Fall wohl bei „Partiturlesen“, doch ist die Intentio auctri‑ cis durchaus erreicht, wenn dieser Ausdruck im Titel zunächst einfach Assoziati‑ onen in die Richtung „hat mit Musik zu tun“ bei der potentiellen Leserschaft zu wecken vermag. Literatur und Musik zusammenzubringen, das ist keine neue Idee. Sprach- und Tonkunst, so Quintilian, hätten seit jeher miteinander zu tun, einst seien sie gar „vermählt“ (iunctae) gewesen. Mit dem eingangs zitierten Diktum leitet Quin‑ tilian aber nicht einfach einen geschichtlichen Rückblick ein, um dann festzu‑ stellen, dass nun, zu seiner Zeit, alles anders sei, sondern beginnt damit seine Argumentation, warum sich ein Redner in Ausbildung auch mit Musik befassen müsse.1 Wie die Musik sei in der Sprache die Stimme durch ῥυθμός und μέλος bestimmt, also durch die Ordnung der Zeit und durch den Klangstrom der Töne. Deren der jeweiligen Situation und Kommunikationsabsicht angemessene Gestal‑ tung diene auch in einer Rede dazu, das Publikum emotional anzusprechen. Sprache ist also Klangkunst; darin ist sie der Musik vergleichbar und hat damit neben der kognitiven Ebene eine zweite, die sinnlich wahrnehmbare, auf der sie ihr Publikum anspricht. Das gilt auch für literarische Texte – insbesondere, wenn sie nicht wie heutige Romane primär für eine stille Lektüre einzelner gedacht sind, sondern, wie in der Antike für Literatur üblich, für einen Vortrag vor Publikum. 1
Vgl. Quint.Inst I.10.17 – 33, im Folgenden insbes. I.10.22 – 25.
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Einleitung
Diese Doppelbödigkeit von Sprache, von Sprachkompositionen wie dem Mar‑ kusevangelium spielt in der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle: Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die akustische Gestalt des Textes seiner Auslegung zugrunde zu legen. Mein Interesse an der hörbaren Gestalt des Markusevangeli‑ ums erschöpft sich jedoch nicht in der Frage nach der Aussprache des Griechi‑ schen, der Beschreibung von rhetorischen Figuren, Klangspielen oder der viel‑ leicht vorhandenen Metrik. Es richtet sich allgemeiner auf das Evangelium als Komposition, als Werk, das in seiner spezifischen akustischen Gestalt etwas zum Ausdruck bringt, das gehört und verstanden werden wollte und will. Das grundsätzliche Problem ist dabei die Flüchtigkeit akustischer Ereignisse; das Markusevangelium in seiner Klanggestalt, wie es seine ersten Hörerinnen erlebten, ist uns heute nicht mehr zugänglich, sondern nur seine schriftlichen Fixierungen, seien es die antiken Manuskripte oder auch akutelle wissenschaft‑ liche Textausgaben. Hier kommt das aus dem Bereich der Musik entliehene Konzept des Partitur‑ lesens ins Spiel. Während ein heutiger Leser bei seiner Lektüre von „Literatur“ sich kaum aktiv überlegt,2 wie das klingt, was er visuell wahrnimmt, ist es für eine Musikerin selbstverständlich, dass die Zeichen auf den Notenblättern eine Klangkomposition festhalten, die für eine Aufführung bestimmt ist; sie liest die Partitur, um sich ein Stück anzueignen und es dann aufzuführen – oder anders ausgedrückt, zu interpretieren. Das Konzept des Partiturlesens eröffnet auch einen Zugang zur akustischen Gestalt von schriftlich überlieferten Sprachtexten, die ebenfalls für eine Aufführung konzipiert sind. „Evangelienexegese als Partiturlesen“ bringt also eine methodisch-hermeneu‑ tische Herangehensweise auf den Punkt: Das Markusevangelium wird in seiner doppelten Medialität als Komposition wahrgenommen, die für die aurale Rezep‑ tion konzipiert ist und in schriftlich-visueller Fixierung vorliegt. Damit gehört diese Dissertation in den Bereich der orality studies und des performance criti‑ cism; wie die Bezeichnungen der Forschungsfelder schon vermuten lassen, for‑ schen in ihnen vor allem englischsprachige Wissenschaftler und Wissenschaft‑ lerinnen. So beginnt das Kapitel zu den theoretischen Grundlagen mit einer kurzen Beschreibung dieses Forschungskontextes und einer Verortung der eige‑ nen Arbeit (I.1.). Um das von der Musik inspirierte Konzept des Partiturlesens auf literarische Texte anwenden zu können, ist eine Reflexion notwendig, inwie‑ fern sich das Markusevangelium mit musikalischen Kompositionen vergleichen lässt bzw. allgemeiner, worin sich Sprache und Musik gleichen, aber auch, was sie voneinander unterscheidet (I.2.). Von dort aus führt der Weg zur Frage nach einem hermeneutischen Modell, das bei der Interpretation vom Primat der hör‑ baren Gestalt ausgeht, dabei das Werk zugleich in seiner Aussageabsicht und in 2
Unbewusst geschieht das sehr wohl. Beobachtet man sich beim Lesen verschiedensprachi‑ ger Texte, wird man bemerken, dass man sich den Text in der jeweiligen Aussprache vorstellt, also durchaus eine spezifische Klangvorstellung mit den Zeichen auf dem Papier verbindet.
Einleitung
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seinen historischen Bezügen wahrnimmt (I.3.). Auf dieser Basis werden Aspekte der exegetischen Praxis in den Blick genommen und die Repetitionsanalyse vor‑ gestellt, die im Verbund mit bereits etablierten Methoden in der folgenden Aus‑ legung des Markusevangeliums Anwendung findet (I.4.). Kapitel I. schließt mit Erläuterungen zur Applikation des hermeneutischen Zugangs auf die Darstellung der Auslegung (I.5.) und mit einer kurzen Positionierung zu den Einleitungsfra‑ gen des Markusevangeliums (I.6.). Der Untertitel „Eine Interpretation von Mk 1,1 – 8,22a zwischen Komposition und Performanz“ hält zweierlei fest: Zum einen beschränkt sich diese Studie nicht auf theoretische Überlegungen zur Evangelienexegese, sondern möchte einen mate‑ riellen Beitrag zur Auslegung des Markusevangeliums leisten. Zum zweiten ist mit der Lokalisierung zwischen Komposition und Performanz schon angedeutet, wo sich die Exegetin verortet: Sie bleibt der klassischen Exegese treu, indem sie sich mit dem beschäftigt, was geschrieben steht. Sie studiert die „Partitur“ des Evangeliums – unter Anwendung des gewählten hermeneutischen Modells und der entwickelten Methode, aber im Bewusstsein, dass die Komposition, die sie in visuellen Zeichen vor sich hat, für eine Performanz konzipiert ist, also zum Klingen gebracht werden will. Die Auslegung des Markustextes ist in vier Kapitel gegliedert. Am Anfang steht ein Überblick über das ganze Evangelium (II.). Die Exegese zu Mk 1,1 – 4,36a (III.) wurde in der Form eines klassischen Kommentars ausgearbeitet, diejenige zu Mk 4,35 – 8,22a (IV.) legt den Fokus auf die beiden thematischen Hauptlinien, die sich bis zur Gleichnisrede herauskristallisiert haben. Dementsprechend wird hier der Text des Evangeliums nicht fortlaufend kommentiert, sondern entlang der beiden Fragen „Wer ist dieser?“ (IV.3.) und „Wer gehört zu ihm?“ (IV.4.) besprochen. Das letzte exegetische Kapitel bietet einen kurzen Ausblick auf den Fortgang des Evangeliums ab 8,22 (IV.5.). Die Ergebnisse der Exegese werden schließlich aus pragmatischer Perspektive auf die Funktion des Textes in seinem ursprünglichen Kommunikationszusammenhang hin ausgewertet (V.). Die Arbeit endet, wie üblich, mit einem Rück- und Ausblick (VI.). Dem Leser seien noch ein paar technische Hinweise mit auf den Weg gegeben, die ihm das Verständnis erleichtern sollen: Abkürzungen richten sich in den meisten Fällen nach der dritten Auflage von Schwertners IATG. Einige Hilfsmittel sind dort nicht genannt, ebenso wenig die allermeisten der verwendeten Bibelübersetzungen. Auf Bibelkommentare wird in den Anmerkungen durch den Namen des Autors, das Kürzel des kommentierten Buches und allenfalls eine Bandnummer verwiesen (z. B. Luz, Mt I; France, Mk). Bei Autoren gleichen Namens wird in den Anmerkungen zur Unterschei‑ dung der Vorname (wo möglich, abgekürzt) angegeben; eine Ausnahme bildet dabei der vielzierte Markus-Kommentar von A. Collins (dort nur Collins, Mk). Die Abkürzungen von Namen (und Werktiteln, falls aufgeführt) antiker christ‑
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Einleitung
licher und jüdischer Autoren orientieren sich am Abkürzungsverzeichnis der RGG4, jene der anderen antiken Autoren am Abkürzungsverzeichnis des LSJ und wurden, wo Werktitel nicht aufgeführt waren, ebenfalls durch eigene Abkürzun‑ gen ergänzt. In der Bibliografie sind – unabhängig davon, ob aus Verzeichnissen übernommen oder selbst gesetzt – bei Bibelausgaben, Grammatiken und Wörter‑ büchern sowie bei Werken antiker Schriftsteller und Sammlungen antiker Texte die verwendeten Abkürzungen in eckigen Klammern in Kursivdruck angegeben (z. B. [Luther 2017], [BDR], [Plut. glor. Ath.]). Einfache Anführungszeichen dienen zur Kennzeichnung von Übersetzun‑ gen von Texten aus dem Griechischen, Hebräischen und Aramäischen. Wo nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von der Autorin. Einzelne Wör‑ ter oder Satzfragmente aus Bibeltexten, die im laufenden Kommentartext auf deutsch zitiert werden, werden zum einen unabhängig vom Tempus in der Origi‑ nalsprache meistens im Präsens – bei Rückblick auf Perikopen auch im Imperfekt oder Perfekt – wiedergegeben und zum anderen dem grammatikalischen Zusam‑ menhang des Kommentartextes angepasst. Die Zeichenerklärung zu den Grafiken findet sich auf Seite XII f.; in den Kap. III. und IV. wird jeweils mit (Vgl. Abb. X, S. Y) auf die jeweilige Grafik hingewiesen, falls sich diese nicht innerhalb der sie erläuternden Ausführungen befindet. Eine Autorin, der der Klang der Sprache wichtig ist, tut sich schwer mit einer gendergerechten Sprache. Verwendet sie jeweils die maskuline und die feminine Form, wird der Text schwerfällig; kommen noch Nebensätze hinzu, die sich kor‑ rekt auf beide genannten Genera beziehen wollen, wird die Konstruktion so kom‑ pliziert, dass das eigentlich zu Sagende untergeht. Inklusive Schreibweisen wie LeserInnen oder Hörer*innen sind stumm – diese schriftlichen Lösungen haben keine Klangentsprechung. Ich habe mich daher dafür entschieden, maskuline und feminine Formen abzuwechseln, ohne dabei einen strengen Rhythmus ein‑ zuhalten. Mir ist bewusst, dass auch das keine optimale Lösung ist, weil zumin‑ dest mein eigenes Sprachempfinden so geeicht ist, dass ich das jeweils andere Geschlecht nicht automatisch mithöre und es dadurch manchmal zu Irritationen kommt (nein, wenn „Hörerinnen“ steht, ist nicht an ein exklusiv weibliches Pub‑ likum gedacht, und „Leser“ sind nicht zwingend alle männlich). Aber vielleicht lehren solche Irritationen neu sehen, hören und verstehen? Das wäre sicher im Sinne des Markus.
Kapitel I
Theoretische Grundlagen: Forschungskontext, Hermeneutik, Methodik, Einleitungsfragen I.1. Verortung im Forschungsgebiet „Evangelien und antike Oralität“ An den Beginn dieses Kapitels sei ein einfaches historisches Faktum gestellt: Die Evangelien sind wie auch alle anderen Schriften des Neuen Testaments in einer Gesellschaft entstanden, in der der Großteil der Bevölkerung kaum lesen und schreiben konnte.1 Texte aller Art wurden in der Antike primär in akustischer Gestalt vermittelt; sie wurden vorgetragen und von einer Zuhörerschaft über das Ohr rezipiert.2 Bis in unsere Zeit sind natürlich nur solche Texte überliefert, die irgendwann, sei es von vorneherein oder (wie die Homerischen Epen) erst nach einer Zeit rein mündlicher Weitergabe, schriftlich aufgezeichnet wurden. Will man den Evangelien in ihrer Eigenart als gesprochene und gehörte Texte gerecht werden, muss man sich des Unterschiedes zu unserer visuellen Konzeption von „Text“ bzw. „Literatur“ bewusst sein – zu selbstverständlich werden diese Bezeichnungen heute mit Buchstaben auf Papier oder Bildschirmen gleichsetzt, die, wenn sie gelesen werden, nur in den seltensten Fällen zu hören sind.
1 Vgl. aus der Fülle der Literatur zum Thema z. B. Thomas, Literacy; Gamble, Books; Raible, Medien-Kulturgeschichte, 69 – 108. 2 Nach Achtemeier war in der Antike sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Li‑ teratur „predominantly, indeed exclusively, oral“ (Achtemeier, Omne verbum, 12). Wenngleich andere (vgl. z. B. Gilliard, More silent reading; Gavrlilov, Techniques of reading) gegen die Ausschließlichkeit, mit der Achtemeier formuliert, opponieren, so stellen sie doch nicht in Frage, dass der Vortrag von Texten, insbesondere von literarischen Werken, gängige Praxis war. Sie verweisen auf Passagen in antiken literarischen Werken, die zeigen oder die Möglichkeit offen lassen (so die Beispiele aus Bühnenwerken von Euripides und Aristophanes bei Gilliard, More silent reading, 690 f.; Gavrilov, Techniques of reading, 66.68), dass auch leises Lesen praktiziert wurde. Dabei fällt auf, dass die zitierten Beispiele nur das leise Lesen von kürzeren Texten (z. B. Briefe, Dokumente) bezeugen. Zudem ist klar, dass dieser selbständige Zugang zu schriftlich fixierten Texten nur wirtschaftlich besser gestellten und gebildeten Leuten offen‑ stand (vgl. Gavrilov, Techniques of reading, 68 f.). Die Worte aus der Prokatechesis Kyrills von Jerusalem, die Slusser als Beleg für leises Lesen in christlichen Kreisen anführt, sind spät (ca. 350 n. Chr.) und demonstrieren zudem eher die Gültigkeit der darin explizit erwähnten Maxime „Das Weib schweige in der Gemeinde“ als die tatsächliche Praxis leisen Lesens (die Frauen dür‑ fen die Lippen bewegen, aber andere sollen nichts hören; vgl. Slusser, Reading silently, 499).
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
In den 1930er-Jahren fand die akustische bzw. performative Dimension anti‑ ker Literatur in den Arbeiten Milman Parrys zur Aufführungspraxis Homeri‑ scher Epen3 erstmals in der klassischen Philologie Beachtung; schnell weitete sich – schon bei Parry selbst4 – der Horizont: Texte ganz unterschiedlicher geo‑ grafischer und historischer Herkunft wurden seither als Artefakte mündlicher Kommunikation aus den Perspektiven mehrerer Fachrichtungen untersucht. Als Initialzündung zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Oralität der Evan‑ gelien gilt, so der einhellige Tenor der neueren Literatur aus dem Bereich der neutestamentlichen Oralitätsforschung, Werner Kelbers The Oral and the Written Gospel aus dem Jahr 1983.5 Kelber – wenngleich er auch orale Merkmale im schriftlichen Text erkennt – baut seine Argumentation auf dem radikalen Gegen‑ satz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit6 auf und entwickelt in Absetzung von der formgeschichtlichen Schule eine pointierte These: Das Markusevangelium mit seiner Konzentration auf die Vergangenheit, auf Leiden und Tod Jesu, sei nicht in Weiterentwicklung der oralen Tradition, sondern als Gegenform zum mündlichen Evangelium entstanden, in dem die Stimme des lebendigen Auf‑ erstandenen präsent war.7 Dieser schriftliche Text sei ein Zeugnis dafür, dass das christliche Bewusstsein seiner „oralen Infantilität“ entwachsen sei und nun ein voll historisiertes Verständnis von Leben und Tod des Messias gewonnen habe.8 Unbestritten war Kelbers Werk trotz seiner gewagten These9 der Anstoß dafür, dass der Faktor Mündlichkeit in der neutestamentlichen Exegese breitere Beachtung fand, doch war es nicht die erste Studie auf diesem Themengebiet. Kurz zuvor (1980) veröffentlichte Joanna Dewey ihre Dissertation Markan Public Debate10, in der sie die Textstrukturen in Mk 2,1 – 3,6 rhetorisch analysiert und deren Zusammenhang mit der theologischen Intention des Markus untersucht. Basis für ihre Ausrichtung am rhetorical criticism ist – konträr zu Kelbers These des Gegen‑ satzes – ihre Annahme, dass bei populärer Literatur des 1. Jahrhunderts zwischen schriftlicher und mündlicher Kompositionsweise kaum unterschieden werden könne und auf jeden Fall mit Rezeption über das Ohr zu rechnen sei.11
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Parry, Studies I: Homer; Parry, Studies II: Homeric Language. Nach den Arbeiten, die sich auf frühgriechische Texte konzentrierten (vgl. Anm. 3), folgte eine komparative Studie, in der Parry von der aktuellen Praxis des Vortrags südslawischer Hel‑ dengedichte und deren formelhafter Gestaltung Rückschlüsse auf die Homerischen Epen zog (Parry, Whole Formulaic Verses). 5 Kelber, Oral and Written Gospel. 6 A. a. O., 210. 7 A. a. O., 207.209 u. ö. 8 A. a. O., 211. 9 Hurtado z. B. kritisiert Kelbers These und einige damit zusammenhängende Implika‑ tionen, Horsley hingegen hebt die Kontinuität zur späteren Oralitätsforschung hervor (vgl. Hurtado, Greco-Roman Textuality; Horsley, Oral Performance). 10 Dewey, Markan Public Debate. 11 Vgl. a. a. O., 29 f. 4
I.1. Verortung im Forschungsgebiet
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Sieht man von der „Schallanalyse“ der 1920er-Jahre ab, die wohl eher als Kuriosum ein‑ zuordnen ist,12 stammt der, soweit ich sehen kann, früheste Beitrag aus dem Jahr 1961 von Charles H. Lohr. Sein von der späteren Oralitätsforschung zu den Evangelien kaum beachteter Artikel Oral Techniques in the Gospel of Matthew13 steht in seiner Grundhaltung – Beachtung der Einbettung des schriftlichen Textes in ein orales bzw. performatives Setting – wie Deweys Arbeit der aktuellen neutestamentlichen Oralitätsforschung wesentlich näher als Kelber. Lohr knüpft u. a. an die Forschungen von Parry und dessen Schüler und Mitarbeiter Albert B. Lord an, der die Arbeiten seines früh (1935) verstorbenen Lehrers weiterführte, und weist an der mat‑ thäischen Komposition Charakteristika oraler Literatur nach. Insbesondere präsentiert er eine symmetrische Gesamtstruktur des Evangeliums,14 die in ihrer Art der hier für das Markusevan‑ gelium – dieses hält Lohr kurioserweise für unstrukturiert!15 – vorgeschlagenen vergleichbar ist.16 Wie Kelber nimmt auch er auf die Konzeption von Mündlichkeit der formgeschichtlichen Schule Bezug. Anders als dieser, der daran die Nichtbeachtung der unterschiedlichen Mediali‑ tät von Mündlichkeit und Schriftlichkeit kritisiert, sieht Lohr das Manko darin, dass der orale Faktor nur bis zur Ebene der „Kleinliteratur“ berücksichtigt und auf der Ebene der Gesamtkom‑ position zu Unrecht ausgeblendet wird.17
An dieser Stelle soll nun kein umfassender Überblick über die verschiedenen Entwicklungen der neutestamentlichen Oralitätsforschung nach Kelbers The Oral and the Written Gospel gegeben werden; diese notwendige Arbeit ist in jüngerer Zeit schon von anderen – erwähnt seien der Artikel Orality and the Gospels: A Survey of Recent Research von Kelly R. Iverson und die methodengeschichtli‑ chen Kapitel in Bernhard Oestreichs Monografie Performanzkritik der Paulusbriefe18 – geleistet worden. Ich möchte hier nur auf diejenigen Aspekte eingehen, die zur Verortung der vorliegenden Arbeit notwendig sind. In den einschlägigen Publikationen begegnen immer wieder Bezeichnungen wie oral literature, oral traditional literature,19 oral-written texts20 und performance literature.21 Das Konzept, das hinter diesen Fachwörtern steht, durchbricht 12
Die vom Philologen Eduard Sievers entwickelte „Schallanalyse“ geht davon aus, dass in Musikstücken und in Texten unter Anwendung von Sprache und Gesten durch ein komplizier‑ tes, esoterisch anmutendes Verfahren von speziell veranlagten und eingeweihten Fachleuten Stimmen klassifiziert und, z. B. im Falle mehrerer Autoren, voneinander geschieden werden können (vgl. Sievers, Ziele und Wege). Johannes Jeremias und andere Exegeten waren zwar selbst der Methode nicht mächtig (vgl. Joh. Jeremias, Apostolischer Ursprung, 13), übernah‑ men aber Sievers’ Stimmscheidungen in neutestamentlichen Texten, der z. B. im Markusevan‑ gelium – ganz in der Tradition des Papiaszitates – die Stimme des Petrus erkennen will und demzufolge eine „Quelle P“ postuliert (vgl. a. a. O., 29 – 31). Den Hinweis auf diese Episode der Geschichte der Exegese verdanke ich Martin Leutzsch. 13 Lohr, Oral Techniques. 14 Vgl. a. a. O., 427. 15 Vgl. a. a. O., 434 f. 16 Vgl. Kap. II. 17 Vgl. a. a. O., 403 f. 18 Vgl. Iverson, Orality; Oestreich, Performanzkritik, 7 – 86. 19 Beide Ausdrücke z. B. bei Pieter J. J. Botha (Botha, Mark’s Story, 304.307 et passim). 20 Horsley, Oral and Written Aspects, 101. 21 Rhoads, Performance Events, 169.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
das von der formgeschichtlichen Schule etablierte und bis heute noch vielfach unhinterfragte Denkmuster, in dem Mündlichkeit primär als Vorstufe für die Ent‑ stehung der Evangelien als „Schriften“ gilt. „Orale Literatur“ hingegen macht deutlich, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit in diesen Texten viel enger und vielschichtiger miteinander verknüpft sind als in einer zeitlich linearen Abfolge: Die Evangelien sind sozusagen oral-literale Zwitterwesen – schriftlich fixiert, oft nach Diktat kopiert, vorgetragen und gehört. Sie existierten nicht nur als Schrif‑ ten, sondern wurden jeweils neu lebendig in ihrer „Aufführung“ vor Publikum, die von Fall zu Fall – je nach Vortragendem, nach Publikum, nach Örtlichkeit, nach Situation – sehr variieren konnte. Untrennbar gehörte die in der Aufführung erlebbare Gestalt zum Evangelium: Tonfall, Gesten, Mimik, Interaktion des Inter‑ preten mit dem Publikum etc.22 Der Einbezug der Oralitätsforschung in die Exegese eröffnet einen Spielraum für mögliche Szenarien der Produktion, Tradierung und Rezeption der uns heute auf Papier vorliegenden Evangelien: Auch für elaborierte Gesamttexte ist in der Antike eine rein mündliche „Herstellung“ und Tradierung vorstellbar, auf die erst später eine Verschriftlichung folgte; von den neutestamentlichen Texten wird dies von manchen Exegeten für das Markusevangelium in Erwägung gezogen. Die Frage, ob der uns schriftlich überlieferte Text – die Variantenbreite der Lesarten wird dabei meist nicht thematisiert – eine nach vielen wiederholten Vorträgen ausgefeilte Fassung darstellt oder ein Zufallsnotat einer x‑beliebigen Aufführung mit ihren situativ bedingten Eigenheiten ist, wird dabei unterschiedlich beant‑ wortet.23 Andere hingegen halten das Markusevangelium für eine schriftliche Komposition mit deutlichen oralen Zügen, da es für eine rein orale Produktion eine zu hohe innere Konsistenz aufweise.24 Bezüglich der Textentstehung werden also verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, bei denen der Faktor Mündlich‑ keit unterschiedlich gewichtet wird. Unumstritten ist unter den der Oralitätsfor‑ schung zugewandten Neutestamentlerinnen die These, dass die Evangelien für den mündlichen Vortrag und damit für eine Rezeption über das Ohr konzipiert 22
Vgl. zur damaligen Aufführungspraxis die einschlägigen Kapitel „Delivery“ (Shiner, Proclaiming, 77 – 102), „Gesture and Movement“ (a. a. O., 127 – 142) und „The Audience“ (a. a. O., 143 – 152) bei Shiner. Dewey hebt die Bedeutung der Erfahrung und der Partizipa‑ tion an der Aufführung für Interpreten und Publikum hervor (vgl. Dewey, Mark as Oral-Aural Event, 151 – 157). Sehr ähnlich auch Shiells Kapitel „Conventions of Greco-Roman Delivery“ (Shiell, Reading Acts, 34 – 103). Kritisch gegenüber einer Vorstellung eines lebendigen, aus‑ wendigen Vortrags äußert sich hingegen Nässelqvist, der postuliert, dass der Lektor sitzend und mit einem Manuskript in der Hand vorgetragen habe. Deshalb könne er nicht gestisch agiert haben; auch die Mimik habe beim Vortrag keine Rolle gespielt. Zur Interaktion mit dem Publi‑ kum äußert er sich nicht (vgl. Nässelqvist, Public Reading, 117). 23 Whitney Shiner vertritt aufgrund der komplexen Tripelstruktur des Markusevangeli‑ ums die erste Position; ähnlich argumentiert auch Larry W. Hurtado. Pieter J. J. Botha wäre als Vertreter der Zufallsnotat-Hypothese zu nennen (vgl. Shiner, Memory Technology, 164 f.; Hurtado, Greco-Roman Textuality, 307.322; Botha, Mark’s Story, 307). 24 Vgl. Dewey, Oral Methods, 33.43 f.
I.1. Verortung im Forschungsgebiet
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wurden. Das ist schon aufgrund der mangelnden Lesefähigkeit25 des Großteils der Bevölkerung kaum anders anzunehmen und wird durch die Tatsache bestärkt, dass die Texte Charakteristika aufweisen, die sich zeit- und kulturübergreifend in oraler Literatur finden: Episodische Erzählweise, Parallelismen und Ringkompo‑ sitionen, bildliche Sprache, überwiegend parataktische Satzanschlüsse, akusti‑ sche Techniken auf Mikro- und Makrolevel.26 In diesem Zusammenhang wird oft betont, dass das Markusevangelium als Ganzes komponiert und ursprünglich am Stück vorgetragen wurde.27 Historisch betrachtet gibt es für den Gesamtvortrag der einzelnen neutestamentlichen Bücher keine externen Belege. Allerdings fehlen für diese frühe Zeit generell Beschreibungen der Auf‑ führungspraxis. So ist auch die später übliche perikopenweise Lesung im 1. Jahrhundert noch nicht nachweisbar. Im Neuen Testament selbst ist neben dem vielfach präsenten Lesen der „Schriften“ vom Lesen der Briefe die Rede (vgl. z. B. Apg 15,31; 1 Thess 5,27; Kol 4,13); insbesondere bei den echten Briefen ist anzunehmen, dass sie innerhalb eines kurzen Zeitraums ganz – nicht zwingend am Stück – vorgelesen wurden. Zudem findet sich am Anfang der Offenbarung eine Seligpreisung ‚dessen, der vorliest, und derer, die zuhören‘ (μακάριος ὁ ἀναγινώσκων καὶ οἱ ἀκούοντες τοὺς λόγους τῆς προφητείας καὶ τηροῦντες τὰ ἐν αὐτῇ γεγραμμένα, Offb 1,3), die sich offensichtlich – man beachte auch die Inclusio um die Gesamtkomposition, die durch die mehrfache Wiederaufnahme dieses Anfangs am Schluss entsteht (Offb 22,7.9.10.18.19) – auf das ganze Buch bezieht. Eine solche Rahmung, die sich an die Zuhörenden dieser ‚Worte der Weissagungen (dieses Buches)‘ (1,3; 22,18) richtet, passt am besten, will man sie nicht als stili‑ siert im Sinne einer rein fiktiven Kommunikationssituation verstehen, zu einem Setting, in dem die ganze Offenbarung von einem Lector vor Publikum vorgetragen wird. Die früheste Erwähnung einer Evangelienlesung findet sich bei Justin in Apol. I 67.3, der den Sonntagmorgengottesdienst in Rom um 155 beschreibt.28 Dort heißt es, es werde aus den ‚Erinnerungen der Apostel29 und den Aufzeichnungen der Propheten‘ gelesen, ‚solange es mög‑ lich‘ bzw. ‚solange Zeit dafür ist‘ (μέχρις ἐγχωρεῖ). Das klingt zwar nicht nach Lesung nur kur‑ zer Perikopen, aber auch nicht nach einer Gesamtaufführung. Beachtet werden sollte jedoch, dass diese Lesung im Rahmen einer schon recht ausgefeilten Liturgie situiert ist, die so für das 1. Jahrhundert nicht nachzuweisen ist. Ebenso halte ich es nicht für legitim, die in diesem Zitat Justins erkennbare Gleichstellung der Evangelien mit den Prophetenbüchern und damit ihre fak‑ 25 Vgl. z. B. Alikin, Earliest History, 167; Bryan, Preface to Mark, 70; Shiner, Proclai‑ ming, 11; Nässelqvist, Public Reading,116. Rosalind Thomas unterscheidet verschiedene Grade des Lesen-Könnens. Mit „Lesefähigkeit“ ist hier comprehension literacy gemeint, d. h. unbekannte Texte von einer schriftlichen Vorlage lesen und verstehen zu können. Lesefähigkeit auf niedrigerem Level, phonetic literacy – bekannte Texte z. B. von Inschriften „der Spur nach“ wiedererkennen, einzelne Buchstaben entziffern können – war in der Antike v. a. in den Städ‑ ten verbreiteter (vgl. Thomas, Literacy, 9.11; ähnlich auch Nässelqvist, Public Reading, 66). 26 Vgl. z. B. Iverson, Orality, 83 f. 27 Vgl. z. B. Shiner, Proclaiming, 48 f.; Rhoads, Reading Mark, 177; Dewey, Mark as OralAural Event, 145; Botha, Mark’s Story, 307; Malbon, Hearing Mark, 5. Zurückhaltender äu‑ ßert sich Nässelqvist, der eine Gesamtrezitation (insbesondere bei der „Erstveröffentlichung“) für möglich, aber nicht für die Regel hält (vgl. Nässelqvist, Public Reading, 110). 28 Vgl. Hauschild, Lehrbuch I, 104. 29 Kurz zuvor erklärt Justin, dass damit die Evangelien gemeint sind (Just.Apol. I 66.3).
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
tische Anerkennung als „Schriften“ schon für die Entstehungszeit der Evangelien, im konkreten Fall des Markusevangeliums, zu postulieren. Dieses ist zunächst einmal kein normativ aner‑ kannter Text, auch wenn ein solcher Selbstanspruch durchaus erkennbar ist; es muss sich inner‑ halb der Gemeinschaft der Christusgläubigen erst als solcher etablieren. Dementsprechend lässt sich die Praxis einer abschnittweisen Lesung aus den „Schriften“ mit anschließender Ausle‑ gung, die für das 1. Jahrhundert bei synagogalen Versammlungen (dort nur Texte der Tora) z. B. bei Josephus und Philo sichtbar30 und auch im Neuen Testament erwähnt wird (Lk 4,16 – 27; Apg 13,14 – 41), nicht auf den Umgang mit den Evangelien in deren Entstehungszeit übertragen. Im paganen Umfeld der Zeit hatte die öffentliche Lesung ganzer literarischer Werke durch‑ aus ihren Platz.31 Von den dafür üblichen Settings – eine Art elitärer Lesezirkel, Rezitationen an öffentlichen Orten, abendliche Symposien in Privathäusern32 – kommt als Ort für einen Vortrag des Markusevangeliums, das weniger Missionscharakter hat, sondern sich eher an bereits Chris‑ tusgläubige richtet,33 am ehesten das Symposium in Frage, das auch in deren Gemeinschaften regelmäßig abgehalten wurde.34
Das Postulat, das Markusevangelium sei für eine Aufführung am Stück kompo‑ niert worden, zieht die Forderung nach sich, dass die Exegese sich nicht mit der Arbeit an einzelnen Perikopen begnügen darf, sondern stets die Gesamtkomposi‑ tion im Auge behalten muss.35 Dementsprechend wird die Frage nach der (akus‑ tisch wahrnehmbaren) Gestalt des ganzen Markusevangeliums mehrfach thema‑ tisiert und unter dem Gesichtspunkt der Produktion, der Memorierung und der auralen Rezeption dargestellt.36 Diese Arbeiten beschränken sich zumeist auf die Darstellung der Gesamtstruktur(en) und deren technischer Funktion im münd‑ lichen Kommunikationssetting; die Frage nach deren theologischer Bedeutung bleibt im Großen und Ganzen unbeantwortet. Detaillierte Exegesen, die die Cha‑ rakteristika oraler Literatur beachten, beschränken sich wiederum auf Teiltexte; nur einzelne Autoren dieses Genres gehen über das rein Deskriptive hinaus und werten ihren Befund interpretatorisch aus.37 30
Vgl. Alikin, Earliest History, 150 f. Vgl. Alikin, Earliest History, 149; Nässelqvist, Public Reading, 109. 32 Vgl. Nässelqvist, Public Reading, 68 – 71. 33 Vgl. Kap. I.6.2., S. 55 f. 34 Vgl. Nässelqvist, Public Reading, 102; Alikin, Earliest History, 157; Incigneri, The Gospel, 48; Shiell, Reading Acts, 133; Kobel, Dining with John, 295. 35 Vgl. z. B. Dewey, Oral Methods, 33; Bryan, Preface to Mark, 82 – 84; Malbon, Hearing Mark, 5; Rhoads, Performance Events, 176. 36 Whitney Shiner und Joanna Dewey können in doppelter Hinsicht als Beispiele für zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen gelten: Shiner beschreibt anhand von Textsignalen eine ausgefeilte Tripelstruktur des Markusevangeliums und bringt sie mit antiken Mnemotechni‑ ken – und damit mit der Produktions- und Traditionsseite – in Verbindung (Shiner, Memory Technology). Dewey hingegen argumentiert aus Hörersicht und weist die Annahme einer klar erkennbaren Struktur zurück. Vielmehr sei das Markusevangelium ein Gewebe aus sich über‑ lagernden Vor- und Rückbezügen, das sich einer Unterteilung in klar abgrenzbare Einheiten entziehe (Dewey, Mark as Interwoven Tapestry). 37 So z. B. Joanna Dewey in ihrer Dissertation zu Mk 2,1 – 3,6 (Dewey, Markan Public Debate) und Margaret E. Lee und Bernard B. Scott, die zu verschiedenen neutestamentlichen Teiltexten „sound maps“ erstellen und interpretieren (Lee / Scott, Sound mapping). Kristina 31
I.1. Verortung im Forschungsgebiet
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Das Hauptinteresse der neutestamentlichen Oralitätsforschung liegt jedoch nicht in der Exegese konkreter Texte; der überwiegende Teil der Untersuchungen widmet sich der Aufgabe, den Horizont der möglichen Kompositions‑, Perfor‑ manz- und Traditionssettings nachzuzeichnen; manchmal wird dabei eklektisch und beispielhaft auf den Text des Evangeliums zurückgegriffen.38 Evtl. liegt ein Grund für diesen Befund in der Tatsache, dass durch die Ora‑ litätsforschung die Bedeutung der uns heute vorliegenden schriftlichen Text‑ zeugen sehr in Frage gestellt wird: Was haben diese Codices, die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte nach der Entstehung der Evangelien geschrieben wurden, noch mit dem „Original“ zu tun? Und: Müsste nicht von „Originalen“ im Plural – von den vielleicht ganz unterschiedlichen Aufführungen eines bestimmten Evangeliums – gesprochen werden, die je in ihrer Einzigartigkeit zwar heute nicht mehr zugäng‑ lich sind, aber für ihr jeweiliges Publikum die „gültige Fassung“ darstellten? So gesehen ist es verständlich, dass aus dieser Forschungsrichtung bislang kein wis‑ senschaftlicher Kommentar zum Markusevangelium vorliegt.39 An dieser Stelle nun setzt die vorliegende Arbeit ein. Sie möchte das hermeneutische Potential der Oralitätsforschung für die Exegese des Markusevangeli‑ ums ausschöpfen. Sie interessiert sich weniger für die Vorgeschichte des Textes, sondern geht von seiner schriftlichen Fixierung aus – sie ist die Seite des oral-lite‑ ralen „Zwitterwesens“ Markusevangelium, die uns heute noch zugänglich ist. Sie nimmt diesen Text, wie er ist – mit allen Schwierigkeiten, vor die sie die Überlie‑ ferungsgeschichte stellt –, und geht höchstens am Rande auf literar- und redakti‑ onskritische Fragen ein. Sie legt wie andere oben genannte Arbeiten ihr Augen‑ merk auf die in der Schriftlichkeit erkennbaren Spuren der hörbaren Gestalt des Textes und bemüht sich dabei um die Zusammenschau der Gesamtstruktur mit der Detailexegese; schließlich ergeben sich auch die Strukturen auf den höheren Ebenen des Textes – längere Abschnitte bis hin zum ganzen Evangelium – durch Dronsch hingegen beschränkt sich in ihrem Artikel zu Mk 4 darauf, die beschriebenen Textsi‑ gnale einer effektiven mündlichen Kommunikation zuzurechnen (Dronsch, Transmissions). 38 Aus der Fülle der Literatur dieser Art seien exemplarisch die Monografien von Shiner zur Aufführungspraxis des Markusevangeliums und von Botha zu Oralität / Literalität in der frühen Christenheit (Shiner, Proclaiming; Botha, Orality and Literacy), sowie zwei Sammelbände genannt (Horsley / Draper / Foley, Performing the Gospel; Weissenrieder / Coote, Interface of Orality and Writing). 39 Elizabeth Struthers Malbon (Malbon, Hearing Mark) kommentiert das ganze Evange‑ lium für ein Laienpublikum (vgl. a. a. O., ix) in pointierter Kürze, geht dabei aber natürlich nicht ins Detail. Ähnlich kurz und ohne „Tiefenbohrungen“ bleibt Christopher Bryan, der in seiner Monografie zwar sowohl eine Gesamtstruktur präsentiert als auch – auf kurzen vierzig Seiten – alles abschnittweise kommentiert (Bryan, Preface to Mark). Ein vollständiger Kommentar zum Markusevangelium liegt von Bas van Iersel vor – allerdings nicht unter Berücksichtigung der oralen Aspekte des Textes. Dennoch deckt sich seine dem reader-response criticism verpflich‑ tete Arbeitsweise in vielem – insbes. in Bezug auf die Fragen nach der Struktur des Textes und nach seiner Interaktion mit dem Rezipienten – mit den Anliegen der Oralitätsforschung (van Iersel, Mk).
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
(hörbare) einzelne Textsignale, die nachgewiesen werden können. Die genaue Beschreibung der akustischen Textgestalt ist dabei nicht das Ziel, sondern nur eine Zwischenstation. Von ihr aus soll nach der theologischen Bedeutung, nach möglichen Interpretationen des Markusevangeliums als akustischer Komposition gefragt werden. Wenngleich der Umfang der frühen Rezitationen aufgrund feh‑ lender externer historischer Zeugnisse offen bleiben muss, soll, sozusagen als Nebenprodukt der Analyse der akustischen Textgestalt, überlegt werden, ob diese selbst Hinweise auf wahrscheinliche Aufführungspraktiken gibt.40 Wie sind nun aber die ursprünglichen akustischen / performativen Gestalten des Markusevangeliums in der uns schriftlich vorliegenden Form zugänglich? Um diese Frage zu klären, hilft ein Blick über den Zaun: Bei musikalischen Kom‑ positionen – zumindest solchen der europäischen Kunstmusik – ist es bis heute selbstverständlich, dass das Werk zwar in Notenschrift fixiert ist, seine eigentli‑ che Bestimmung jedoch in der Aufführung durch Interpretinnen vor Publikum findet. Musikwissenschaftler sind es gewohnt, bei der Analyse diese Doppelper spektive im Auge bzw. im Ohr zu behalten. Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Notentext und loten dabei die Möglichkeiten der Interpretation aus. Sie lassen sich dabei von unterschiedlichen Aufnahmen inspirieren und spielen oder singen die Stücke zumindest ausschnittweise selbst. Diesen Umgang mit dem Noten‑ text als „Partitur“, als schriftlichem Notat der hörbaren Komposition,41 kann sich die Exegetin in ihrer Auseinandersetzung mit dem „Zwitterwesen“ Evangelium zunutze machen. Tatsächlich wird in Arbeiten aus dem Bereich der Oralitäts‑ forschung – und darüber hinaus auch anderweitig in der Literaturwissenschaft – immer wieder der Vergleich zu musikalischen Kompositionen gezogen, oft sogar der Begriff „Partitur“ für die Schriftform eines Textes verwendet.42 Diese Aus‑ 40
Vgl. Kap. V.2. Diese hier zugrunde liegende Definition von „Partitur“ als musikalischem Fachwort ist nur eine von mehreren, die bei Charlton folgendermaßen lautet: „b) a page, volume, fascicle or other artefact containing a complete copy of a musical work“ (Charlton, Score, 894). Meis‑ tens jedoch bezeichnet „Partitur“ im musikalischen Sprachgebrauch spezifischer die „Art der schriftlichen Aufzeichung ‚mehrstimmiger‘ Ensemblemusik [. . .], bei der die von verschiedenen Ausführenden darzubietenden (‚horizontalen‘) Einzelstimmen des Satzes so ‚untereinander‘ angeordnet sind, dass alles Gleichzeitig-Erklingende exakt ‚vertikal‘ ablesbar ist.“ (Jaschinski, Notation, 168 (Hervorhebung und Anführungszeichen im Original). Vgl. auch die bei Charlton erstgenannte Definition (Charlton, Score, 894). 42 Im Sinne des Vergleichs der Zwittergestalt der Evangelien mit notierten musikalischen Kompositionen z. B. bei Rhoads und Bryan (Rhoads, Performance Events, 177.181; Bryan, Preface to Mark, 82.84). Dewey zitiert Kee, der die Struktur des Markusevangeliums mit einer Fuge vergleicht (Dewey, Mark as Interwoven Tapestry, 222). Christoph Hardmeier, der eine textpragmatische Methode für die alttestamentliche Exegese vorstellt und allgemeiner an der Funktion der Texte in „kommunikativen Handlungsspielen“ interessiert ist, bindet mit dem Be‑ griff „Partitur“ den Sinn eines Textes an seine je neue Realisation in Aufführung und Rezeption (Hardmeier, Textwelten, 27.48.49 et passim). 41
I.2. Vergleich mit musikalischen Kompositionen
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flüge in die Sprache über Musik dienen jedoch nur der Veranschaulichung; die Konsequenz aus dieser Vergleichbarkeit, sich in der Exegese einen musikanaly‑ tischen Zugang zunutze zu machen, wurde meiner Wahrnehmung nach bisher nicht gezogen. Will man sich auf das Terrain der Musikanalyse begeben, muss ausgelotet werden, wo und in welcher Weise sie für die Untersuchung „oraler Literatur“ einen Beitrag leisten kann, aber auch, wo die Grenzen der Übertrag‑ barkeit musikanalytischer Zugänge in der Anwendung auf Sprachtexte zu ziehen sind. Dafür muss zuerst überlegt werden, inwiefern sich das Markusevangelium mit musikalischen Kompositionen vergleichen lässt, was aber auch seine Eigen‑ schaften als sprachliche Komposition ausmacht, die sich aus musikanalytischer Perspektive nicht erfassen lassen.
I.2. Vergleich des Markusevangeliums mit musikalischen Kompositionen I.2.1. Vorüberlegungen: Vergleichbarkeit von Musik und Sprache43 Bevor sich der Fokus auf das Markusevangelium verengt, gilt es grundsätzlicher zu überlegen, was Sprache und Musik verbindet, was sie aber auch voneinander unterscheidet. Beide sind Zeichen- bzw. Kommunikationssysteme. Als solche weisen sie je besondere Eigenheiten auf: Der Charakter ihrer Einzelbestandteile ist verschieden, auch deren Verknüpfung folgt je eigenen Regeln. Sehr vereinfacht dargestellt, liegt einer Sprache ein lexikalischer Bestand zugrunde und eine Grammatik gibt vor, wie die Bauteile auf den verschiedenen Ebenen – von den Morphemen zu den Wörtern, Satzgliedern, Sätzen und Satz‑ verbindungen44 – zusammengesetzt werden. In der Musik hingegen gibt es kein eindeutig benennbares Inventar von unterschiedlich komplexen Bestandteilen; zudem wird mehrdimensional „zusammengebaut“: Einzeltöne ergeben linear anei‑ nandergereiht Melodien, horizontal übereinandergeschichtet Akkorde; die Klang‑ farbe könnte als dritte Dimension bezeichnet werden, die sich aus der jeweiligen 43
Die Vergleichbarkeit von Sprache und Musik wird v. a. in der Musikwissenschaft, weni‑ ger in der Literaturwissenschaft, behandelt. Einen guten (deutlich vom Strukturalismus gepräg‑ ten) Überblick bietet David Lidov (Lidov, Is Language a Music, 1 – 14). Gerhard Schmitt trägt etliche Perspektiven aus der Musikwissenschaft des 19. und 20. Jh. zusammen (Schmitt, Musi‑ kalische Analyse, 89 f.111). Weitere Arbeiten zum Thema: Wellmer, On Music and Language; Ruwet, Langage, musique, poésie. 44 Die Grammatik in heutigem Sinne – anders in der Antike, wo γραμματική bzw. das latini‑ sierte grammatice viel umfassender die Grundlagenwissenschaft von Sprache und Literatur be‑ zeichnet (vgl. Quint. Inst. I.4 – 6) – regelt im Wesentlichen die Verknüpfungen in einer Sprache bis zur Ebene des Satzes und gibt allenfalls noch Hinweise zur Satzverbindung. Auf übergeord‑ neten Ebenen – von Abschnitten eines Textes bis hin zu Großformen wie Brief, Gebrauchsan‑ leitung oder Roman – lassen sich nur bedingt allgemeine Regeln aufstellen; hier kommen z. B. Textpragmatik und Gattungskritik zur Anwendung.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Besetzung mit Instrumenten und Vokalstimmen ergibt. Natürlich gibt es auch hier Kombinationsregeln, z. B. Vorgaben zur Melodiebildung im Kontrapunkt oder die Harmonielehre zur Akkordbildung und ‑verknüpfung. Sie lassen sich jedoch nicht so klar verschiedenen Ebenen zuordnen wie in der Sprache, in der z. B. die Wort‑ bildung bestimmten Regeln folgt, die Satzbildung wieder anderen. In der Verschiedenheit hinsichtlich des Inventars ist eine weitere, die des jeweiligen Bezuges zur Welt, schon angelegt: Ein sprachliches Zeichen verweist auf etwas außerhalb seiner selbst Liegendes. Die Zuordnung eines Zeichens zu einem Gemeinten geschieht dabei willkürlich: Ein Tier auf vier Beinen, das bel‑ len kann, wird beispielsweise mit „Hund“, „chien“, „dog“ oder noch anderen Buchstaben- bzw. Lautkombinationen bezeichnet, ohne dass man sagen könnte, das eine oder andere wäre „treffender“. Einfache musikalische Zeichen – ein‑ zelne Noten bzw. Klänge – hingegen verweisen nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst, sondern sind in erster Linie selbstreferentiell.45 Auch auf den komplexeren Ebenen kann Musik nur dort, wo sie mit Sprache in Verbindung steht, auf etwas Außermusikalisches verweisen; die beiden Bereiche, in denen das ganz offen‑ sichtlich geschieht, sind die Vokal- und die Programmmusik. Ohne das Wissen um den gesungenen Text bzw. das Programm bleibt für den Hörer vage, worum es sich handelt; er kann vielleicht sagen, dass etwas traurig klingt oder dass an anderer Stelle Gewalten toben. Ohne den Text des Tenors „der Vorhang reißt, der Fels zerfällt, die Erde bebt, die Gräber spalten, weil sie den Schöpfer sehn erkal‑ ten“,46 den Titel Battaglia oder den Hinweis auf die St. Johann-Stromschnellen im Programmheft weiß er jedoch nicht, ob er die Naturereignisse beim Kreuzes‑ tod Jesu, Kriegsgetümmel oder das Rauschen der Moldau hört. Musik an sich kann nicht etwas bezeichnen. Sie ist aber nicht einfach bedeutungslos, sondern ihre semantische Kraft ist konnotativer Art; sie liegt in ihrer Fähigkeit, Gefühle, Assoziationen und Erinnerungen hervorzurufen. Ein Spezifikum der Sprache ist also das ihr eigene Potential zur Denotation, das sie allein befähigt, zu beschreiben, zu erzählen und zu argumentieren. Sie teilt darüber hinaus mit der Musik die Fähigkeit der Konnotation, eröffnet im Beschreiben, Erzählen und Argumentieren auch Sinn-Spielräume. Das gilt ins‑ besondere für poetische Sprache, die nicht nur die Vermittlung von Information zum Ziel hat, sondern die dadurch, wie sie etwas sagt, die Suche nach Bedeutung oder Sinn erst in Gang setzt.47 Als die wesentliche Gemeinsamkeit von Sprache und Musik ist beider Gebun‑ denheit an das Medium Schall und darin auch an die Linearität der Zeit zu nen‑ nen; hinsichtlich des Mediums Schrift sind sie sich dort nahe, wo Sprachtexte auch mit ihrer Klanggestalt in Beziehung stehen bzw. wo Musikstücke in Nota‑ 45 Vgl. Schmitt, Musikalische Analyse, 89 f.111. Vgl. dazu auch Gruhn, Musikverstand, 33; Ruwet, Langage, musique, poésie, 12. 46 Aus der Nr. 34 Arioso der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. 47 Vgl. Anderegg, Sprache des Alltags, 374.
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tion festgehalten sind, wie es bei antiker Literatur und europäischer Kunstmu‑ sik48 der Fall ist. Überlegungen zur Anwendung musikanalytischer Zugänge in der Exegese finden folglich weniger in der inneren Struktur der Systeme oder in deren Weltbezug – in anderen Worten: in Syntaktik, Semantik und Pragmatik – Anknüpfungspunkte, sondern in erster Linie in der Vergleichbarkeit der Mediali‑ tät des Markusevangeliums als oraler Literatur mit Kompositionen der abendlän‑ dischen Musikgeschichte in Bezug auf Schall und Schrift. Deren Implikationen ist das nächste Kapitel gewidmet.
I.2.2. Das Markusevangelium im Vergleich mit musikalischen Kompositionen I.2.2.1. Das Markusevangelium als „Werk“ Die Auseinandersetzung mit der gerade erwähnten doppelten Medialität ist gekoppelt an die hermeneutische Entscheidung, das Markusevangelium als „Werk“ oraler Literatur zu verstehen. Umberto Eco definiert ein Kunstwerk als „ein[en] Gegenstand mit bestimmten strukturellen Eigenschaften [. . .], die den Zugang der Interpretationen, die Verschiebung der Perspektiven, zugleich ermög‑ lichen und koordinieren.“49 Ich vermeide den Ausdruck Kunstwerk, weil die Dis‑ kussion darüber, was als Kunst gelten kann und was nicht, zu weit führen würde und im vorliegenden Zusammenhang auch nicht von Bedeutung ist. Ecos Rede vom „Gegenstand“ scheint mir zu offen; „Komposition“ bringt das hier Gemeinte besser auf den Punkt. Mit „Komposition“ wird erstens präzisiert, dass es sich um einen von Menschen gemachten Gegenstand handelt, also auch nach einem Autorwillen, nach einer Kommunikationsabsicht oder allgemeiner nach der Prag‑ matik des „Gemachten“ gefragt werden kann. Zweitens wird hiermit eine Grenze zu spontaner Sprache (z. B. Alltagskommunikation) und Musik (Improvisation) gezogen. Mit dem Begriff des oral-literarischen bzw. des musikalischen „Werkes“ wird im Folgenden eine Sprach- oder Klangkomposition bezeichnet, die durch die individuelle Gesamtheit ihrer internen formalen und inhaltlichen Bezüge in den Vollzügen der Produktion und Rezeption einen Sinn- und damit Interpretations‑ 48 Die Einschränkung auf europäische Kunstmusik ist nötig, weil in anderen Musiktraditi‑ onen schriftliche Aufzeichnungen für die Aufführung von Musikstücken entweder keine Rolle spielen (so z. B. in Indien; vgl. Jaschinski, Notation, 229) oder anderen Konventionen unterlie‑ gen, die nicht dem „imperativen Werktyp“ – schriftliche Fixierung einer Komposition, die nach einer Aufführung verlangt (vgl. Cadenbach, Musikalisches Kunstwerk, 117) – entsprechen. Vielfach dienen Notationen eher als Gedächtnisstütze zu mündlichen Überlieferungen oder als Gerüst für Improvisationen (beides z. B. in chinesischer Musik; vgl. Jaschinski, Notation, 255). Anderenorts entstanden sie erst unter europäischem Einfluss nach jahrhundertelanger mündli‑ cher Tradition, um diese zu konservieren (so z. B. in Java; vgl. a. a. O., 282). 49 Eco, Offenes Kunstwerk, 8.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
spielraum eröffnet. Sie ist in irgendeiner Weise – zumeist schriftlich – fixiert, kann also wiederholt aufgeführt werden und ist nicht (mehr) an eine bestimmte Kommunikationssituation gebunden. Dabei ist zu beachten, dass zum „Werk“ außer dem, was auf dem Papier expressis verbis festgehalten ist, auch im jewei‑ ligen historischen Kontext selbstverständliche Konventionen wie beispiels‑ weise die griechische Aussprache im 1. Jahrhundert n. Chr. oder die national unterschiedlichen Generalbasspraktiken im Hochbarock gehören.50 Wie weit diese Konventionen heute rekonstruierbar sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Im Umgang mit dem Markusevangelium hat dies Konsequenzen: Zum einen rückt die „Werk“-Perspektive die Gesamtkomposition mit ihren spezifischen internen Bezügen ins Zentrum der Betrachtungen. Diese ist jedoch nicht isoliert, sondern in ihrer Geschichtlichkeit – anders ausgedrückt, in ihrer Inter- und Kon‑ textualität – zu begreifen. Zum anderen liegt der Fokus des „Partitur“-Gedankens weniger auf der schriftlichen Fassung als Ergebnis oraler Prozesse,51 sondern als Vorlage für ihre wiederholte orale Realisation. So tritt die Frage nach den möglichen Produktionsszenarien zugunsten der Beschäftigung mit dem material vorliegenden, zur Aufführung bestimmten Text in den Hintergrund. Die varian‑ tenreiche Überlieferung erfordert zudem eine Entscheidung, welche Textfassung interpretiert wird; dies wird im Kapitel I.4.1. diskutiert. I.2.2.2. Analogien zwischen dem Markusevangelium und musikalischen Kompositionen der abendländischen Tradition Die Analogien, die sich vom Markusevangelium zu europäischer Kunstmusik ziehen lassen, nehmen ihren Ausgang bei den generellen Gemeinsamkeiten von Musik und Sprache: bei der Art der Rezeption – primär über das Ohr – und bei der Materialität in Form einer schriftlichen Fixierung. Die akustische Vermittlung eines Textes oder eines Musikstückes weist einige Charakteristika auf, die sich unter den Stichworten Sequentialität, Interpretation und Singularität zusammenfassen lassen. Zum ersten vollzieht sich Vortragen und Hören immer linear; es ist an den Verlauf der Zeit gebunden. Das Publi‑ kum erlebt bei der Rezitation eines Textes oder in einem Konzert das aufgeführte Werk in der Sequenz seiner einzelnen Einheiten. Das beinhaltet, dass Hören eine 50
Ein anschauliches musikalisches Beispiel hierfür sind die Konventionen bzgl. der musica ficta, der Töne, die in den gängigen Skalen in der Musik des 13. – 16. Jh. nicht vorkommen und deswegen eines Vorzeichens bedürfen. Viele dieser Vorzeichen waren anders als heute üblich in „Standardsituationen“ nicht notiert, weil damalige Interpreten wussten, wo sie zu setzen waren. Nur in manchen solchen Fällen gab es mehrere Realisationsmöglichkeiten (vgl. Ka. Berger, Musica ficta, 107 f.). Vgl. allgemein zu Werkbegriff, Fixierung und Konventionen Cadenbach, Musikalisches Kunstwerk, 126. 51 Darauf legen z. B. Shiner und Botha den Fokus (vgl. Shiner, Memory Technology, 164 f.; Botha, Mark’s Story, 317 – 322).
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flüchtige Angelegenheit ist, Schallwellen lassen sich nicht festhalten. Des Wei‑ teren bedingt die Rezeption über das Ohr, dass ein Werk von einem Interpreten aufgeführt wird, dessen Verständnis des Werkes seinem Vortrag eine bestimmte Prägung verleiht.52 Das bedeutet, dass das Hören einer akustischen Komposition immer vermittelte Wahrnehmung ist und somit im für Literatur üblichen Kom‑ munikationsmodell „Autor – Text – Leserin“53 Letztere nicht einfach durch die Hörerin ersetzt werden kann, sondern darüberhinaus zwischen Text und Hörerin die Figur des Interpreten eingefügt werden muss:54 Autor – Text – Interpretin – Hörer
Und schließlich ist jede Aufführung singulär; keine zwei Livekonzerte oder Textrezitationen mit exakt gleichem Programm sind identisch: Kleine Fehler passieren an unterschiedlichen Stellen, an einem Tag gibt die Dirigentin ein schnelleres Tempo vor als beim letzten Mal, Ausdruck und Pausensetzung des Rezitators variieren, die Akustik verschiedener Räume beeinflusst den Klang, jedes Publikum entwickelt eine andere Dynamik, die auf die Vortragenden zurückwirkt. Die Partitur als Niederlegung des Werkes in schriftlichen Zeichen ist in ihrer Visualität und buchstäblichen Greifbarkeit das Gegenstück zu ihrer akustischen Realisation. Mit ihrer Materialität sind die Eigenschaften Dauerhaftigkeit, Verräumlichung und Reduktion verbunden.55 Eine Partitur hält ein Werk fest und ent‑ 52 Das gilt insbesondere in den vielen Fällen, in denen Interpretin und Autor nicht identisch sind. Komplizierter wird es, wenn ein Autor oder eine Komponistin ihr Werk selbst vortragen. Auch wenn hier Urheber und Interpret in einer Person zusammenfallen, ist eine individuelle Interpretation zu hören, die vom je eigenen Verständnis des Werkes geprägt ist. 53 Diese drei Komponenten bilden nur die Grundstruktur. Modelle der Narratologie und des reader response criticism, die in der Exegese Verwendung finden, differenzieren diese Positi‑ onen aus, etwa durch die Unterscheidung von realem und implizitem Autor bzw. Rezipienten oder auch durch den Einbezug der (realen oder repräsentierten) „Welt“ als Faktor des Modells oder auch als Raum, in dem die Kommunikation stattfindet (vgl. z. B. Modelle bei van Iersel, Mk, 17 – 19; Fowler, Let the Reader, 53 – 55; Mayordomo-Marín, Anfang; 187, Ebner / Heininger, Exegese, 64). Arbeiten aus dem Bereich der Oralitätsforschung und des performance criticism widmen dem historischen oder auch dem heutigen Vortragenden gebührende Beach‑ tung, operieren jedoch, soweit ich sehen kann, nicht mit Kommunikationsmodellen (vgl. z. B. Shiner, Performing, 23 – 26; Rhoads, Reading Mark, 176 – 201, insbes. 182 f.186 – 188; Hearon, Implications of Orality, 19 f.; Nässelqvist, Public Reading, 63 – 118). Eco geht zwar in einer Fußnote auf den Unterschied zwischen dem Interpreten „im Sinne eines ‚Ausführenden‘“ und „im Sinne des Kunstkonsumenten“ (Eco, Offenes Kunstwerk, 29, Anm. 1) ein, sieht sie je‑ doch als „unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben interpretativen Einstellung“ (a. a. O.) und beschäftigt sich nicht weiter mit der Funktion des Ausführenden als Vermittler (vgl. z. B. seine Darlegungen zur Rezeption von musikalischen und dramatischen Werken; a. a. O., 27 f.40 et passim). 54 Ausführlicher zu diesem Kommunikationsmodell vgl. Kap. I.3.3. 55 Vgl. zum Folgenden das Kapitel „Notationen“ bei Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 124 – 126.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
zieht es so der Flüchtigkeit des akustischen Mediums. Ein Text oder ein Musik‑ stück lässt sich so „konservieren“ und ist späteren Generationen zugänglich, auch wenn seine mündliche Tradierung längst versiegt ist. Die Leserin eines Sprachoder Notentextes ist nicht der Linearität des Hörens unterworfen; sie kann wie der Betrachter eines Bildes mit den Augen hin und her springen, Dinge mehrmals lesen, anderes auslassen. Text und Musikstück lassen nun wie Räume individuelle Wege ihrer Begehung zu. Die schriftliche Fixierung impliziert zugleich eine Abs‑ trahierung und Reduktion der Klanggestalt, eine Partitur kann diese nicht in allen Einzelheiten darstellen. Die abendländische Notenschrift56 fokussiert primär auf die Parameter Tonhöhe und Tondauer; darüber hinaus kann es dynamische und weitere aufführungspraktische Anweisungen zu Tempo, Artikulation, Instrumen‑ tierung etc. geben. Die frühen Textzeugen des Markusevangeliums sind, wie in antiken griechischen Manuskripten allgemein üblich, in Scriptio continua, einer fortlaufenden Aneinanderreihung von Großbuchstaben, geschrieben. Sie geben nur den Klangstrom wieder, enthalten aber weder Informationen zu seiner pro‑ sodischen Gestaltung noch die Abgrenzung sprachlicher Sinneinheiten.57 Ihnen fehlt die visuelle Gliederung moderner Textausgaben, die durch Abstände zwi‑ schen den Worten, Satzzeichen, Absätze und Überschriften sowie durch Kapitelund Verszahlen die Struktur des Textes verbildlichen und damit leises Lesen erst ermöglichen.58 Das Fehlen dieser Lesehilfen unterscheidet antike Manuskripte von Texten in heutigem Schriftbild, rücken sie aber in die Nähe von musikali‑ schen Partituren: Auch aus unserer Notenschrift erschließt sich die Phrasierung eines Stückes nicht; Taktstriche suggerieren dem Auge zwar eine Gliederung, hal‑ ten aber nur die zeitliche Organisation des Stückes fest und nicht dessen Struktur, die in der Aufführung – bei adäquater Interpretation – hörbar wird. Um aus dem Notentext heraus erkennen zu können, was in einem komplexeren Musikstück zusammengehört und wo Neues anfängt bzw. welche Varianten der Strukturierung möglich sind, ist viel Übung und Erfahrung nötig, über die nur Berufsmusikerinnen und engagierte Laien verfügen. Analoges gilt für die Lese‑ fähigkeit in der Antike: Lesen Können im Sinne der comprehension literacy, das mit dem Level der Berufsmusikerinnen vergleichbar ist, war einer kleinen, wohl‑ habenden Elite vorbehalten. Die Aufgabe des Lesens (und Schreibens) wurde dabei oft an dafür ausgebildete Sklaven delegiert;59 das galt sowohl für geschäft‑ liche Belange als auch für die Textrezitation zur Unterhaltung bei abendlichen Symposien. Manche anderen konnten ihnen bekannte Texte wiedererkennen (vgl. 56
Historisch betrachtet, müsste natürlich von Notenschriften gesprochen werden; dennoch ist durch die ganze Geschichte der abendländischen Notationstradition – lässt man die Anfänge bei den Neumen und manche Phänomene der Neuen Musik außer Acht – die Konzentration auf die Hauptparameter Tonhöhe und Tonlänge zu beobachten. 57 Vgl. Shiell, Reading Acts, 105 f. 58 Vgl. Raible, Medien-Kulturgeschichte, 106. 59 Vgl. Thomas, Literacy, 11; Shiell, Reading Acts, 25 – 27.
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ἀναγιγνώσκειν60 für ‚lesen‘!). Der illiterate Großteil der Bevölkerung kam durch öffentliche Lesungen mit Literatur in Kontakt.61 Demnach ist es nicht verwunderlich, dass das Markusevangelium in seinen frühen Überlieferungen zwar keine visuelle Gliederung, jedoch akustische Text‑ marker aufweist, die den Text strukturieren und so der Hörerschaft das Verständ‑ nis ermöglichen und leiten.62 Als „performance literature“63 ist es von Wiederho‑ lungen geprägt; lange wurde das in der Exegese als schlechter Stil abgetan oder auf mangelnde Griechischkenntnisse des Autors zurückgeführt.64 Wiederholun‑ gen dienen aber dem Hörer, um sich im linearen Strom der Worte bzw. Klänge zu orientieren und um Bezüge zu bereits Gehörtem herzustellen. Das zeigt sich auch in der Musik, in der stilübergreifend Repetition als das grundlegende Mittel zur Generierung von Zusammenhang und Form verwendet wird.65 Zumindest für den Kontext antiker Literatur ist aber nicht nur die Seite der Rezeption, son‑ dern auch der Produktion und der Weitergabe zu berücksichtigen. Einen Text zu schreiben hieß, ihn zuerst schriftlos zu konzipieren und anschließend zu diktie‑ ren.66 Vermutlich stand oft zwischen den beiden Schritten noch die Präsentation des Werkes vor Publikum, sei es in Abschnitten oder auch als Ganzes, bevor eine in mehreren Aufführungen ausgefeilte Fassung niedergeschrieben wurde.67 Klare Strukturen, die durch Wiederholungen generiert werden, halfen auch Autoren bei der mündlichen Konzeption ihrer Werke. Gleiches gilt für das Memorieren von Texten zum Zweck des Vortrags.68
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LSJ s. v. „ἀναγιγνώσκω, later ἀναγινώσκω“ gibt als Erstbedeutungen „I.1. know well, know certainly“ und „I.2. know again, recognize“ an und leitet davon die spätere Bedeutung (ab dem 6. / 5. Jh. v. Chr.) „lesen“ ab: „II. [. . .] of written characters, know them again, and so, read “. Explizit erwähnt wird unter II. auch noch für passivische Formen „books read aloud, hence published “. Langenscheidt s. v. ἀναγι(γ)νώσκω bietet ohne zeitliche Differenzierung „wieder‑ erkennen; anerkennen; (genau) erkennen; (vor)lesen [. . .]“. Bauer s. v. ἀναγι(γ)νώσκω gibt nur die Bedeutungen ‚lesen‘ und ‚vorlesen‘ an. Vgl. auch Lee / Scott, Sound Mapping, 92. 61 Vgl. Shiell, Reading Acts, 30; Nässelqvist, Public Reading, 64 f. 62 Vgl. Lee / Scott, Sound Mapping, 135. 63 Rhoads, Performance Events, 169; vgl. auch Kap. I.1., S. 7 f. 64 Burridge klassifiziert den griechischen Stil des Markus als „rather primitive, full of Ara‑ maisms“, spricht dem Autor also im Grunde ab, die griechische Sprache wirklich zu beherr‑ schen (vgl. Burridge, Gospels and Acts, 512). Mit etwas anderem Fokus, aber kaum höflicher, qualifiziert Kennedy die Redeart des Markus als radikale christliche Rhetorik, die auf Evidenz und logische Argumentation verzichte (vgl. Kennedy, New Testament Interpretation, 104). Tur‑ ner spricht in Bezug auf Markus von „unclassical barbarism of style“ sowie „over-use of stereo‑ typed expressions“ und bescheinigt ihm „poverty of expression“ (Turner, Style, 27). 65 Vgl. z. B. Kühn, Formenlehre, 14; Lidov, Is Language a Music, 10; Wellmer, On Music and Language, 84. 66 Vgl. Shiner, Memory Technology, 153 f.; Kirk, Manuscript Tradition, 224. 67 Thomas, Literacy, 125 f.; Nässelqvist, Public Reading, 68; Shiner, Proclaiming, 38. 68 Zur Frage, ob Evangelien auswendig vortragen oder aus einer schriftlichen Vorlage vor‑ gelesen wurden, vgl. Kap. I.4.3.2., S. 39.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Die oft gestellte Frage, ob Zuhörer Strukturen wie Parallelismen und Ring‑ kompositionen, die sich über größere Abschnitte erstrecken, überhaupt als solche bemerken, muss also nicht zwingend bejaht werden, um die Häufung der Wie‑ derholungen als Charakteristikum oraler Literatur zu behaupten. Es ist zunächst einmal die Aufgabe des Vortragenden, durch das Studium der Partitur die (durch Wiederholungen geprägte) Gestalt eines Werkes zu verstehen und diese in seinem Vortrag so zu präsentieren, dass dem Publikum dessen Gehalt zugänglich wird.69 Ob einer Zuhörerin auffällt, dass Markus in den fünf Hauptteilen seines Werkes je eine Geschichte in Variation dreimal erzählt, ist nebensächlich. Wesentlich ist, dass sie in den erzählerischen Sog, den diese Struktur generiert, hineingenommen wird. Hans-Georg Gadamer definiert den poetologischen Aspekt von Sprache als „Wirkungseinheit von Sinn und Klang“70. Dieser Ausdruck bringt einen letzten, entscheidenden Aspekt auf den Punkt: Bei musikalischen Kompositionen ist ganz offensichtlich, dass ihr Klang nicht von ihrer je eigenen „Aussage“ zu lösen ist; musikalisch lässt sich etwas nicht „anders formulieren“, ohne damit seinen Sinn zu ändern. Das Markusevangelium als oral-sprachliche Komposition, als fürs Hören „Gemachtes“, als in diesem Sinne poetischer Text, ist, so meine These, ihnen darin gleich: Auch bei ihm lassen sich Form und Inhalt, Klanggestalt und Sinngehalt nicht voneinander trennen.71 Diese These fußt nicht allein auf heuti‑ gen hermeneutischen Überlegungen, sondern entspricht der historischen Reali‑ tät des Markusevangeliums als Teil der Literatur der griechischen Antike: „Seit Anbeginn der Verschriftlichung von Dichtung und Prosa stellten diese Texte [i. e. alle altgriechische Literatur im Vergleich zu alltäglicher Kommunikation, Anm. d. Vfn.] sich als reproduktionsfähige Kunstobjekte dar, die sich in einem künst‑ lerischen Vortrag dem Hörer über das Ohr erschlossen.“72 Nicht nur die Poesie, sondern auch Erzählungen und Reden basierten auf der Einheit von Logos, Melos und Rhythmos,73 dies gilt für die untersten Stilstufen der Koine genauso wie für hohe Literatur in klassischem Griechisch.74 Mit dieser „Wirkungseinheit von Sinn und Klang“ ist die konnotative Kraft der Sprache verbunden; hier geht sie 69
Nässelqvist beschreibt dies unter Verweis auf pagane und christliche Quellen explizit auch als Anforderung, die in der Antike an Lectores gestellt wurde (vgl. Nässelqvist, Public Reading, 86 – 88). 70 Gadamer, Hören – Sehen – Lesen, 278. 71 Eco spricht in linguistischer Ausdrucksweise von der „Gleichsetzung von Signifikat und Signifikant, von ‚Vehikel‘ und ‚Sinn‘“ in dichterischer Sprache und leitet von dort deren Mehr‑ deutigkeit ab (vgl. Eco, Offenes Kunstwerk, 79 f.). 72 Eideneier, Rhapsodie, 22. Kulturübergreifend auf Texte mit Ringkompositionen bezogen spricht Douglas von der bedeutungsgenerierenden Funktion einer Ringkomposition: „It controls meaning, it restricts what is said, and in doing so it expands meanings along channels it has dug.“ (Douglas, Thinking in circles, 13). 73 Vgl. Eideneier, Rhapsodie, 35. 74 Vgl. a. a. O., 53. Anders hingegen Pesch, der dem Markusevangelium eine „unliterari‑ sche[.] Schriftlichkeit“ bescheinigt, „die kaum von einer durchgreifenden Kompositionsabsicht beherrscht ist.“ (Pesch, Mk I, 15).
I.3. Ein hermeneutisches Modell
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über die reine Vermittlung von Information hinaus, hier eröffnen sich im Sinne der Definition des oral-sprachlichen Werkes zu Beginn des Kapitels Sinn- und Interpretationsspielräume. Deshalb ist für die Interpretation des Textinhalts die Untersuchung seiner akustisch wahrnehmbaren Gestalt relevant.75 So stellt sich die Frage nach einem angemessenen hermeneutischen Modell und nach einer angemessenen Methode für eine Exegese, die den schriftlich vor‑ liegenden Text als „Partitur“ liest und dessen akustisch wahrnehmbare Gestalt analysieren und interpretieren will.
I.3. Ein hermeneutisches Modell für eine an der akustischen Textgestalt orientierte Exegese I.3.1. Wahrnehmende, auslegende und historische Lektüre: Die „literarische Hermeneutik“ von Hans Robert Jauß „Der Text als ‚Partitur‘“76 – diese Sichtweise liegt auch Hans Robert Jauß’ her‑ meneutischem Modell zur Interpretation poetischer Texte77 zugrunde, die er im letzten Teil seines 1981 veröffentlichten Artikels „Zur Abgrenzung und Bestim‑ mung einer literarischen Hermeneutik“ auf wenigen Seiten entfaltet. Ihn leitet dabei das „Interesse, den ästhetischen Charakter des poetischen Textes einmal ausdrücklich und demonstrativ zur Prämisse seiner Interpretation zu machen.“78 Hier ist zwar nicht ausdrücklich von der Klanggestalt eines Textes die Rede, und insbesondere in Bezug auf Lyrik ist die visuelle Darstellung (z. B. Gliederung in Verszeilen) sicher mitgemeint, doch stellt die akustisch wahrnehmbare Gestalt eines Werkes oraler Literatur nichts anderes dar als eine mögliche Konkretion des allgemein formulierten „ästhetischen Charakters des poetischen Textes“. 75
Hier widerspreche ich Pieter J. J. Botha, der diesen Zusammenhang verneint: „The re‑ petitions and thematic procedures have no overt theological or ideological basis. Many textual characteristics are simply involvement of oral mnemonics.“ (Botha, Mark’s Story, 224). 76 Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 474. 77 Jauß definiert in seinem Artikel nicht, was er unter einem „poetischen“ bzw. „ästheti‑ schen“ Text versteht, zieht jedoch Grenzen zu anderen Textarten (die auch nicht näher bestimmt werden). Er unterscheidet ihn von einem „theologischen, juristischen oder auch philosophi‑ schen“ (a. a. O., 474), ebenso von einem „narrativen“ Text (a. a. O., 476). Die Ausführungen zur Differenz zwischen narrativen und „lyrischen“ Texten lassen vermuten, dass Jauß unter einem poetischen Text in erster Linie Lyrik versteht. Auch bei einem weiteren zentralen Begriff – „Horizont“ – geht Jauß offensichtlich von einer Leserschaft aus, der Vokabular und Diskurse der Rezeptionsästhetik vertraut sind. Weitere Formulierungen wie „ästhetische Wahrnehmung“ (a. a. O., 474 u. ö.; eigentlich ein „weißer Schimmel“) müssten geklärt werden. Hier in die Tiefe zu gehen, sprengt den Rahmen dieser Arbeit. In dieser Darstellung bediene ich mich weitgehend des Jauß’schen Vokabulars und riskiere begriffliche Unschärfen; bei der folgenden Applikation und Modifizierung des Modells sollen, soweit nötig, Begrifflichkeiten geklärt werden. 78 A. a. O., 474.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Mit Jauß’ Modell lassen sich die hermeneutischen Grundlagen benennen, auf denen eine an der akustisch wahrnehmbaren Textgestalt orientierte Exegese fußt. Bevor dies in einem nächsten Schritt geschieht, sei Jauß’ „literarische Hermeneu‑ tik“ in ihren Grundzügen dargestellt. Jauß hebt drei Lektüregänge voneinander ab: die „ästhetische Wahrnehmung“79, den „sekundären Akt des auslegenden Verstehens“80 und schließlich die „histo‑ risch rekonstruierende[.] Lektüre“81. Ausgangspunkt für die Interpretation eines poetischen Textes ist die „Ermitt‑ lung des ästhetischen Charakters“82. So gilt es zunächst, als Leser bzw. Hörerin die „ästhetische Wirkung eines Textes [. . .] in der Folge der Rezeptionsvorga‑ ben zu untersuchen, die den Vorgang der ästhetischen Wahrnehmung steuern“83. Diese erste Lektüre widmet sich also den Textsignalen, die in ihrer Sequenzialität die Form des Textes generieren. Diese Rezeptionsvorgaben in ihrer Beziehung zueinander und in ihrer Bedeutungsfülle zuerst einmal „nur“ wahrzunehmen bedarf, so betont Jauß, zumeist wiederholten Lesens84 – das ist, so sei im Vorgriff auf spätere Kapitel hier schon angemerkt, für Musiker beim Einüben eines neuen Stückes selbstverständlich. Diese Wahrnehmung der Textgestalt, die immer auch schon eine Art des Verstehens ist, bildet das Fundament – in Jauß’scher Diktion auch den „Hori‑ zont“ – der zweiten, auslegenden Lektüre und gibt dieser damit einen Raum vor, in dem sie sich bewegen kann:85 Was von hier aus erkennbar ist, kann nun auf seine Bedeutung hin befragt werden. Das auslegende Verstehen unterscheidet sich vom unmittelbar wahrnehmenden durch seine Reflexivität und zielt auf das „Sinnganze“86 des Textes. Aufgrund der Bedeutungsfülle eines poetischen Tex‑ tes handelt es sich dabei nicht um einen vor‑, sondern um einen aufgegebenen Sinn. Innerhalb des durch die Form begrenzten Spielraums kann eine bestimmte Interpretation „nur eine unter anderen möglichen Bedeutungen [. . .] konkretisie‑ ren“87. Mit dieser Partialität der Interpretation ist zugleich die Frage nach dem „geschichtlichen Horizont“88 gestellt, in dem ein Werk entstand und erstmals rezipiert wurde. Auch dieser Horizont erlaubt zum einen eine Vielfalt an Ausle‑ gungen, setzt aber zugleich der Willkür der Interpretation Grenzen. So dient die dritte, historische Lektüre dazu, einen poetischen Text aus einer früheren Zeit 79
A. a. O., 475. A. a. O., 475. 81 A. a. O., 478. 82 A. a. O., 474. 83 A. a. O., 474. 84 Vgl. a. a. O., 474. 85 Vgl. a. a. O., 475. 86 A. a. O., 477. 87 A. a. O., 477 f. 88 A. a. O., 478. 80
I.3. Ein hermeneutisches Modell
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„in seiner Alterität ansichtig zu machen“89 und so zu gewährleisten, dass er von gegenwärtigen Leserinnen nicht in einer „naiven Horizontverschmelzung“90 ver‑ einnahmt wird. Dies geschieht, indem rekonstruiert wird, worauf der Text in sei‑ ner Zeit eine Antwort gegeben haben könnte – und zwar sowohl auf Erwartungen hinsichtlich seiner Form, die durch damalige literarische Konventionen geprägt waren, als auch auf mögliche Sinnfragen seiner ersten Rezipienten.91 Die Priorität der „ästhetischen Wahrnehmung“ ist in diesem Modell nicht zwingend zeitlich gedacht; so kann z. B. zur Wahrnehmung einer nicht mehr üblichen Textgestalt historisches Wissen Voraussetzung sein. Der Vorrang ist vielmehr grundsätzlicher Art: Die Ästhetik eines Textes gibt den Spielraum vor, innerhalb dessen verschiedene angemessene Auslegungen möglich sind. Sie ist jedoch „kein universaler Kode von zeitloser Geltung“92, sondern bestimmt in ihrer je konkreten Geschichtlichkeit sowohl die Produktion als auch die Rezep‑ tion poetischer Texte. Textinterpretation im Sinne der Jauß’schen literarischen Hermeneutik ist demnach nicht einfach ein lineares Nacheinander der drei skiz‑ zierten Lektüren, sondern ihr fruchtbares Wechselspiel, dessen „fundamentum in re [. . .] im ästhetischen Charakter der Texte liegt.“93
I.3.2. Adaption der Jauß’schen „Literarischen Hermeneutik“ für die Exegese des Markusevangeliums Auf eine Exegese angewandt, die das hermeneutische Potential der Oralitätsfor‑ schung nutzen will, ist die Wahrnehmung der hörbaren Textgestalt des Markus evangeliums das Fundamentum in re, auf das alle analytische und interpretatori‑ sche Arbeit am Text aufbaut. Das Jauß’sche Modell geht von einer unmittelbaren Rezeption aus und kommt ohne die oben erwähnte94 Figur des Interpreten aus. Bei der Adaption der „Literarischen Hermeneutik“ auf orale Literatur findet das erweiterte Kommunikationsmodell Autor – Text – Interpretin – Hörer Anwen‑ dung. Dabei ist danach zu fragen, in welcher Rolle sich die Exegetin sieht. Diese grundlegende Frage wird für den Moment zurückgestellt; ihr ist das nächste Unterkapitel (I.3.3) gewidmet. Jauß betont, dass die erste, dem ästhetischen Charakter des Textes gewidmete Lektüre zwar auf ihre Art auch ein Verstehen sei, weist die Arbeit der Reflexion und Interpretation aber dem „sekundären Akt des auslegenden Verstehens“95 zu. Das könnte dahingehend missverstanden werden, dass das Wahrnehmen der Text‑ gestalt vom Wahrnehmenden unabhängig und damit in gewisser Weise objektiv 89
A. a. O., 478. A. a. O., 479. 91 Vgl. a. a. O., 478. 92 A. a. O., 480. 93 A. a. O., 480. 94 Vgl. Kap. I.2.2.2., S. 17. 95 Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 475. 90
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
wäre. (Zugegeben, die meisten Wiederholungen lassen sich an einer Textvorlage entweder nachweisen oder nicht; fraglich ist allenfalls, wie groß bei einer Variation eines Textbausteins Abweichungen von seinem erstmaligen Auftreten sein dürfen, damit sie noch als dessen Wiederholung erkannt werden kann.) Doch die Frage, welche Muster sich aus den wiederholten Elementen ergeben, ist oft nicht eindeu‑ tig zu beantworten; oft überlagern sich verschiedene Strukturen und es ist Sache der Exegetin, welche sie – ob bewusst oder unbewusst – in den Vordergrund stellt. Kognitionspsychologische Studien zur visuellen und akustischen Wahrnehmung zeigen,96 dass beim Sehen und Hören das Gehirn Informationen nicht ungefiltert aufnimmt, sondern immer schon selektiert, analysiert und gruppiert. Zum einen wird dieser Prozess von den Vorerfah‑ rungen des Wahrnehmenden beeinflusst. Sie dienen als „Vorlage“ dafür, wie neue einzelne Daten ausgewählt, in Beziehung zueinander gesetzt und zu einem strukturierten Datenbündel geformt werden. Zum anderen lassen sich verallgemeinerbare Prinzipien erkennen, denen die‑ ser Strukturierungsprozess folgt. Sie wurden in den 1920er-Jahren von Max Wertheimer erst‑ mals als „Gestaltgesetze“ formuliert97 und sind primär auf die visuelle Wahrnehmung bezo‑ gen, aber größtenteils auf die akustische übertragbar. Das grundlegende Gestaltgesetz besagt, dass eine Figur von einem Grund abgehoben wird;98 so z. B. eine einheitliche Farbfläche auf einem Bild oder Musik in einem Kaufhaus, deren gebündelte Einzeldaten von den vielen ande‑ ren Geräuschen unterschieden und als „Musik“ erkannt werden. Gleiches oder Ähnliches wird als zusammengehörig empfunden (Gesetz der Nähe, der Ähnlichkeit); im akustischen Bereich spielen daher Wiederholungen eine wichtige Rolle. Wo möglich, werden Daten zu einfachen, geschlossenen Formen (z. B. Quadrat, Tonleiter) zusammengesetzt (Gesetz der Prägnanz).99 Dabei werden eher Lücken geschlossen (z. B. nicht ganz durchgezogene Striche eines Quadra‑ tes automatisch mitgedacht) oder Fehler korrigiert (z. B. ein falscher Ton „zurechtgehört“), als komplizierte Formen gebildet. Die Gestaltgesetze wurden in der Folge vielfach aufgenommen, weiterentwickelt, zum Teil holzschnittartig vereinfacht oder ideologisch missbraucht und auch in Frage gestellt.100 In empirischen Untersuchungen lässt sich die Orientierung der Wahrneh‑ mung an Gestaltgesetzen nachweisen, aber ebenso, dass Wahrnehmung wesentlich komplexer ist als eine reine „Musterbildung“ im Gesehenen oder Gehörten. Akustische Reize werden im Gehirn auch mit Bildern verknüpft, mit Emotionen und Assoziationen101 – hier zeigt sich die oben angedeutete subjektive Komponente aller Wahrnehmung. Wahrnehmung, so lässt sich zusammenfassen, ist also eine aktive Konstruktionsleistung, die das Wahrgenommene so strukturiert, dass es für den Wahrnehmenden verstehbar wird. Offen bleibt dabei – und das spielt für das Erkennen von Form und Gestalt in Texten, wie es hier geschehen soll, eine entscheidende Rolle –, ob sie tatsächlich das wiedergibt, „was ist“. Dies lässt sich nicht beweisen – doch ist festzustellen, dass unsere Wahrnehmung ganz offensicht‑ lich so funktioniert, dass wir uns in dieser Welt zurechtfinden.102 Deshalb gehen die meisten 96 Vgl. zum Folgenden Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 150 – 152; Gruhn, Mu‑ sikverstand, 13 f.22 – 31; Davies, Musikalisches Verstehen, 41; de la Motte-Haber, Herme‑ neutik und Psychologie (I). 97 Vgl. Buchwald, Gestalt, 845. 98 Vgl. a. a. O., 858. 99 Vgl. a. a. O., 846. 100 Vgl. zur wechselvollen Geschichte der Gestaltgesetze a. a. O., 846.852.856 – 858. 101 Vgl. Gruhn, Musikverstand, 13. 102 Vgl. Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 154 f. Das gilt auch für das Verstehen von Musik (vgl. Davies, Musikalisches Verstehen, 41).
I.3. Ein hermeneutisches Modell
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Gestalttheorien von Isomorphie,103 von einer „strukturellen Koppelung“104 zwischen Umwelt und wahrgenommener Wirklichkeit aus: Was wir wahrnehmen, hat in irgendeiner Weise eine Entsprechung im Gegenstand der Wahrnehmung und ist deshalb dem Gegenstand angemessen.
Die erste Lektüre geschieht folglich in dem Bewusstsein, dass schon hier die Sub‑ jektivität der Exegetin eine Rolle spielt; ihre persönlichen Erfahrungen und auch ihr Wissen beeinflussen, wie sie selektiert, analysiert und Muster bildet. Aufgrund des Isomorphie-Prinzips ist dennoch davon auszugehen, dass, wenn die erkannte hörbare Gestalt aus der vorliegenden Partitur aufgrund konkreter Textmerkmale plausibel gemacht werden kann, diese subjektive Wahrnehmung eine angemes‑ sene Interpretation der Textgestalt darstellt.105 Eine zweite Lektüre basiert auf dieser ersten und fragt nach der Bedeutung der erkannten Textgestalt und nach derjenigen der sie generierenden Einzelheiten und kleineren Einheiten. Die Frage nach Bedeutung wird zum einen vom subjektiven Standpunkt der Exegetin aus gestellt und kommt zum anderen nicht ohne Infor‑ mationen über die vielfältigen Kontexte des Textes aus,106 bezieht also den bei Jauß separat als dritte Lektüre genannten geschichtlichen Aspekt der Exegese mit ein. Diese historische Lektüre ist so eng mit der Frage nach der Interpretation im Hier und Jetzt verknüpft, dass sie sich in der Praxis kaum von der zweiten tren‑ nen lässt. Die Unterscheidung auf der Ebene des hermeneutischen Modells ist dennoch sinnvoll, weil so gewährleistet wird, dass die Interpretation nicht enger mit dem historischen Kontext eines Werkes als mit der heute wahrgenommenen Textgestalt verknüpft und damit das eigentliche Anliegen des Modells ausgehe‑ belt wird: die Orientierung am ästhetischen Charakter des Textes, der als „herme‑ neutische Brücke“107 über den Zeitenabstand hinweg dient. Während sich die erste Lektüre auf die Strukturen des Textes, auf sein „Gewo‑ bensein“ (vgl. lat. texere) konzentriert, löst die zweite mit ihrem Fokus auf die 103
Vgl. Buchwald, Gestalt, 821. Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 154. 105 Auch Eco stellt in „Das offene Kunstwerk“ den interpretativen Charakter der Wahr‑ nehmung eines Kunstwerks heraus und stellt ihr die Intentio auctoris bzw. operis gegenüber: „In diesem Sinne produziert der Künstler eine in sich geschlossene Form und möchte, daß diese Form, so wie er sie hervorgebracht hat, verstanden und genossen werde; andererseits bringt jeder Konsument bei der Reaktion auf das Gewebe der Reize und dem Verstehen ihrer Beziehungen eine konkrete existentielle Situation mit [. . .], dergestalt, daß das Verstehen der Form gemäß einer bestimmten individuellen Perspektive erfolgt [. . .]. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.“ (Eco, Offenes Kunstwerk, 30; Hervorhebungen im Original). Später unterscheidet Eco zwischen der Interpretation eines Textes, die sich an dessen Kongruenz zu bewähren hat, also die Intentio operis zum Kriterium für ihre Angemessenheit hat, und dessen bloßer Benutzung (vgl. Eco, Grenzen der Interpretation, 49 f.; ähnlich auch Hardmeier, der zwischen Interpretation eines Werks und Improvisation über dasselbe unterscheidet; vgl. Hardmeier, Textwelten, 27). 106 Vgl. Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 158. 107 Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 478. 104
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Bedeutung die Frage nach der Verwebung des Textes in seine Kon-Texte aus. Geschichtlichkeit ist hier auf beiden Seiten im Spiel: Nicht nur beim Text, son‑ dern auch bei der Exegetin, weil ihre Erfahrungen und ihre Kon-Textualität mit‑ bestimmen, welche Verwebungen in den Blick geraten und welche im toten Win‑ kel verschwinden, welche sie bewusst hervorhebt und welche sie übergeht. Wie bei Jauß sind auch bei dieser Adaption seines Modells die drei Lektüren nicht als einmalige Folge gedacht, sondern in mehrmaliger Abwechslung und gegenseitiger Präzisierung. Dennoch sei hier die Bezeichnung „erste Lektüre“ für die Wahrnehmung der hörbaren Textgestalt auch als zeitlich gesehen erste Ausei‑ nandersetzung mit dem Text (statt z. B. einer ersten Annäherung durch Kommen‑ tare) verstanden. Im Dialog mit dem Text soll zuerst er selbst zu Wort kommen, bevor sich andere Stimmen einmischen.
I.3.3. Das Selbstverständnis der Exegetin als professionelle Interpretin Die folgenden Überlegungen zum Selbstverständnis der Exegetin basieren auf dem Fundament der drei Lektüren der Jauß’schen „Literarischen Hermeneutik“ und auf dem erweiterten Kommunikationsmodell Autor – Text – Interpretin – Hörer. Mit Jauß ist zum einen die Geschichtlichkeit aller Beteiligten benannt, zum anderen bietet sein Entwurf die Ästhetik als Brücke an, über die ein Zugang zu einem Text aus einem anderen historischen Kontext möglich wird. Das vierglied‑ rige Kommunikationsmodell stellt die Exegetin vor die Frage, wo sie sich in die‑ sem Modell verorten will. Meiner Entscheidung liegt ganz simpel das zugrunde, was eine Exegetin klassischerweise tut: Sie liest die „Partitur“, legt sie aus, ihre Auslegung wird von anderen rezipiert. Sie fungiert also als Interpretin. Mit dem gewählten Fokus rückt ins Bild, was bei klassischen rezeptionsästhetischen Ansät‑ zen108 weitgehend unbeachtet bleibt: Die akustische Rezeption eines schriftlich vorliegenden Textes ist immer vermittelte Rezeption. Durch die Verortung auf der Position der Interpretin wird deutlich, dass die Exegetin den Text beim Lesen visuell wahrnimmt – im Bewusstsein, dass es eine akustische Komposition ist, die sie in schriftlicher Fixierung vor sich hat.109 Im Zentrum meiner Exegese steht also die Relation zwischen Text und Interpretin, die von der Wahrnehmung der ästhetischen Form her aufgebaut wird. Autor und Hörerin kommen sekundär in den Blick, insbesondere am Ende der Exegese, wo der Jauß’schen Frage, worauf der Text zu seiner Zeit Antwort gegeben haben mag,110 nachgegangen wird – oder anders formuliert, wenn die Pragmatik des Textes thematisiert wird.111 Interpretieren hat in der Musik zwei Hauptbedeutungen: Ein Interpret wird genannt, wer auf der Bühne steht und ein Musikstück vor Publikum spielt oder 108 Für Beispiele, v. a. aus dem Gebiet der Bibelwissenschaften, vgl.Kap. I.2.2.2., S. 17, Anm. 53. 109 Zu den Charakteristika des Partiturlesens im Unterschied zur Lektüre „stiller Literatur“ wie z. B. heutigen Romanen vgl. Kap. I.2.2.2., S. 18.
I.3. Ein hermeneutisches Modell
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singt. Doch auch von einem Musikwissenschaftler, der sich an seinem Schreib‑ tisch mit einer Komposition beschäftigt, wird gesagt, er interpretiere Musik. Beide sorgen auf ihre Weise dafür, dass ein Musikstück in seiner Eigenart einem heutigen Publikum zugänglich wird. Interpretation ist also eine Art Fährdienst – vom Ufer des Werkes zum Ufer des Publikums bzw. der Leserschaft. Aus dem Markusevangelium wissen wir, dass Bootsfahrten keine harmlose Angelegenheit sind und der angesteuerte Hafen nicht immer im ersten Anlauf erreicht wird.112 Beide Positionen gibt es auch in Bezug auf orale Literatur im Allgemeinen und im Speziellen im Umgang mit den Evangelien: Auch sie werden zum einen von Lektoren vorgetragen – seien es die lectores in der Antike113 oder heutige Pfarrerinnen oder Gemeindeglieder – und zum anderen von Wissenschaftlerin‑ nen untersucht. Demnach besteht auch die Aufgabe der Exegetin im waghalsi‑ gen Unternehmen des „Über-Setzens“: Sie soll einen Bibeltext so zur Sprache bringen, dass er in oder auch trotz seiner Eigenheiten für heutige Ohren zugäng‑ lich wird. Wenngleich sie wie der Musikwissenschaftler vor allem am Schreib‑ tisch sitzt, schadet es nicht, sich auch vom Tun der Instrumentalisten inspirieren zu lassen: Sie müssen üben, bis sie ein Stück konzertreif beherrschen: Zunächst einzelne Abschnitte in den Griff bekommen, Interpretationsvarianten ausprobie‑ ren, bei schwierigen Passagen herausfinden, wo das technische Problem liegt und Lösungsstrategien finden, immer wieder von vorne alles durchspielen und schauen, ob und wie sich die Teile zusammenfügen und zu einem Ganzen wer‑ den. Ganz nebenbei geht ihnen dabei das Geübte in Fleisch und Blut über; sie werden unabhängiger vom Notentext, können große Strecken, manchmal das ganze Stück auswendig. Und sie müssen damit leben, dass es Aspekte gibt, die ihnen fremd bleiben, für die sie keine schlüssige Interpretation finden, dass man‑ che Passage trotz langen Übens kaum zu bewältigen ist. Für alle diese Aspekte lassen sich Entsprechungen im exegetischen Arbeitspro‑ zess finden. Ausdrücklich erwähnen möchte ich, dass ich es für notwendig halte, dass die Exegetin übt, den griechischen Text laut zu lesen, wenn sie der akustischen Textgestalt auf die Spur kommen will. Um das in adäquater Weise tun zu können, muss sie sich damit auseinandersetzen, wie das Griechische damals ausgesprochen wurde.114 Anders als ein Musiker wird sie das „Stück“ kaum vor Publikum vortra‑ 110
Vgl. Kap. I.3.1., S. 22 f. Vgl. Kap. V. 112 Auf der zweiten Bootsfahrt der Jünger wird Betsaida als Ziel genannt, sie landen jedoch in Genezaret. Nach Betsaida kommen sie nach der dritten Bootsfahrt (vgl. Mk 6,45.53; 8,22). 113 Vgl. ausführlich zu deren Status, Ausbildung und Funktion Nässelqvist, Public Rea‑ ding, 78 – 93. 114 Vgl. dazu Kap. I.4.2. Lee und Scott, die mit dem Erstellen und Interpretieren von „sound maps“ neutestamentlicher Texte einen sehr ähnlichen Ansatz wie den hier vertretenen verfolgen, verzichten explizit auf den Versuch einer in Bezug auf die Aussprache historisch informierten Aufführungspraxis (vgl. Lee / Scott, Sound Mapping, 1 f.81). Das hat zur Folge, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach klanglich gleich realisierte Zeichen wie z. B. ε und αι als verschiedene Klänge behandeln (vgl. z. B. a. a. O., 213). 111
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
gen; sowohl ihre mangelhafte Aussprache als auch die fehlenden Griechischkennt‑ nisse der heutigen Hörerschaft sprechen dagegen. Der Exegetin dient das laute Lesen zur Annäherung an die Klanggestalt und – wie schon in der Antike115 – dazu, sich über das Ohr die Struktur und damit den Sinn des Textes zu erschließen. Die Exegetin ist eine professionelle Interpretin. Im Unterschied zu Laien hat sie das Handwerk gelernt und verfügt über einen besser ausgestatteten Werk‑ zeugkasten. Ein Berufsmusiker hört analytischer als ein Laie und ist zudem in der Lage, Theoriewissen auf beobachtete Phänomene zu übertragen und diese in theoretischen Kategorien zu beschreiben; ihm ist deshalb ein umfassenderes Verstehen möglich116 – auch das gilt analog für die Exegetin. Zudem hat sie wie der Spezialist für Alte Musik Übung im interpretatorischen Umgang mit den alten Werken, weiß um deren historischen Hintergrund und ist sich ihrer Rolle zwi‑ schen Text und Publikum bewusst. Obwohl das Partiturlesen der Exegetin einiges mit demjenigen des Musikers gemeinsam hat und beider Ziel zunächst einmal ist, das Werk selbst zu verstehen, gehen sie beim „Über-Setzen“ doch verschiedene Wege: Eine Musikerin und auch ein Rezitator bleiben beim vorgegebenen Text, den sie mit klanglichen, allenfalls auch gestischen und szenischen Mitteln interpretieren und so überhaupt hör- und verstehbar machen.117 Während bei ihnen die Werkanalyse und die Beschaffung (historischer) Hintergrundinformationen zwar die Basis der Interpretation bilden und diese maßgeblich mitprägen, sind sie für das Publikum – sofern sie nicht im Programmheft sozusagen auf einem anderen Kanal angeboten werden – durch die Aufführung selbst nicht explizit zugänglich. Anders hingegen die wissenschaft‑ liche Interpretation der Exegetin und des Musikwissenschaftlers: Sie schreiben einen Metatext über ein Werk. Ihr Medium der Interpretation ist in jedem Fall die Sprache, genauer die eigenen Worte, die in vielen Fällen durch Bilder oder andere grafische Darstellungen ergänzt werden. In der wissenschaftlichen Interpretation werden – in Jauß’scher Diktion – die Ergebnisse aller drei Lektüren offengelegt, um einer Leserschaft durch primär intellektuellen Nachvollzug dieser Schritte das Verstehen des Werkes zu ermöglichen. Das Werk erklingt also in einer solchen Interpretation nicht selbst, doch im besten Fall führt diese zu einem eigenständi‑ gen Dialog der Leserschaft mit dem Werk. In dieser Linie versteht sich auch die hier präsentierte Auslegung. Die Exegetin beschreibt im Großen und im Detail die im Schriftlichen erkenn‑ baren akustischen Strukturen des Evangeliums, legt dar, wie diese den erzählten Stoff formen und wie sie auf dieser Basis die Aussage des Textes – Informatio‑ nen, Appelle, Zusagen etc. – für das intendierte Publikum versteht. So werden 115
Vgl. Lee / Scott, Sound Mapping, 96. Vgl. Davies, Musikalisches Verstehen, 45 f.51. 117 Auch in der Antike wurde von den lectores verlangt, dass sie den Text zuerst für sich studierten, um ihn zu verstehen, einzuüben und ihn in angemessener Diktion und Phrasierung verständlich vortragen zu können (vgl. Nässelqvist, Public Reading, 86 f.). 116
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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z. B. im Kapitel über Mk 1,16 – 2,13a (III.2.2.) alle formalen Elemente der Kom‑ position beschrieben, die zum Eindruck eines hohen Tempos beitragen – häufiges εὐθύς, Phrasenverschränkungen, im Mittelteil sehr kurze Erzählsequenzen – und in Zusammenschau mit dem Inhalt des Erzählten dahingehend interpretiert, dass Jesus gleich zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit durch seine Worte und v. a. seine Taten schnell in der ganzen Gegend bekannt wird. Mit welchen Mit‑ teln – z. B. hohes Sprechtempo, gehetzte oder euphorische Stimmfärbung, Ver‑ meidung von Sprechpausen – das bei einer Aufführung akustisch umsetzbar wäre, ist höchstens am Rande ihr Thema. Das ist vielmehr die Aufgabe des Rezitators, der sich überlegen muss, wie er die erkannten Strukturen durch Phrasierung, Pau‑ sen verschiedener Länge, Wechsel von Stimmlage und Tempo etc. so umsetzt, dass die Botschaft des Textes zur Geltung kommt.118
I.4. Methodisch-praktische Fragen, die sich aus diesem hermeneutischen Modell ergeben I.4.1. Welche „Partitur“ soll als Grundlage dienen? Die „Partitur“ als Notat der Klanggestalt spielt für eine Exegese, die sich an der akustisch wahrnehmbaren Form des Evangeliums orientiert, eine zentrale Rolle. Antike Textzeugen in Scriptio continua weisen ein völlig anderes Layout auf als eine moderne wissenschaftliche Ausgabe. Erstere konservieren nur den kontinu‑ ierlichen Klangstrom.119 Letztere enthält grafische Signale wie Wortabstände und Satzzeichen als Lesehilfen, so dass die Sinneinheiten visuell erkennbar (damit aber auch vorgegeben!) sind, die sich ein Leser in der Scriptio continua erst durch den Klang beim lauten Lesen erschließen muss. Auch spätere Gliederungseinhei‑ ten wie Kapitel- und Verszahlen sind interpretatorische Vorentscheidungen, die rezeptionsleitend wirken. Darum ist für eine Exegese, die dem Verhältnis von visueller und akustischer Textgestalt eine wesentliche Rolle einräumt, die Beach‑ tung des Schriftbildes einer frühen Partitur unabdingbar; ideal wäre die Arbeit mit einem bestimmten Manuskript. Die Exegetin steht hier vor einem Problem: 𝔓45, ein Papyrus aus dem 3. Jahrhundert, überliefert als frühester Textzeuge des Mar‑ kusevangeliums etliche zusammenhängende Passagen; große Teile aber – u. a. die kompletten Kap. 1 – 3 und 12 – 16 – fehlen. Nach Larry Hurtado bietet 𝔓45 zudem einen Text, der sich nicht eindeutig einer der großen Textfamilien zuord‑ nen lässt,120 sondern nur dem Codex Washingtonensis (W, 4. / 5. Jh.) so ähnlich ist, dass von einem gemeinsamen Texttypus gesprochen werden kann,121 dem 118
Vgl. Quint. Inst. I.8.1. und auch Kap. I.2.2.2., S. 20. Zur Nähe der antiken Textzeugen zu musikalischen Partituren vgl. Kap. I.2.2.2., S. 18. 120 Vgl. Hurtado, P45 and Textual History, 136. 121 Vgl. a. a. O., 145 f. 119
30
Kapitel I: Theoretische Grundlagen
jedoch etliche Sonderlesarten eignen. Die bis heute erhaltenen ältesten Manu‑ skripte mit dem vollständigen Text stammen aus dem 4. Jahrhundert, sind also mindestens 250 Jahre jünger als der Text selbst. Sie repräsentieren, u. a. geprägt durch die Etablierung des Christentums als Staatsreligion zu Beginn des 4. Jahr‑ hundert, eine ganz andere Epoche als die vom jüdischen Krieg geprägte Situation um 70 n. Chr., in der das Markusevangelium entstand und erstmals gehört wurde. Das ist bezüglich des zeitlichen Abstands in etwa damit vergleichbar, wenn heutige Ausgaben von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ die ältesten verfügbaren wären. Zur Ungewissheit über die frühe Textüberlieferung kommt ihre Variantenbreite: Wie soll bei dieser Quellenlage die Entscheidung für eine bestimmte der frühen „Partituren“ getroffen werden? Oder noch grundsätzlicher: Ist das Markusevangelium als „Werk“ überhaupt noch zugänglich oder nur ver‑ schiedene Bearbeitungen späterer Zeiten? Um hier nicht zu verzweifeln, lohnt sich ein Blick in die Musikgeschichte: Auch bei einigen musikalischen Kompositionen lässt sich nicht sagen, welches die „richtige“ Fassung wäre. Pro‑ minentes Beispiel ist die Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Zwar sind von ihr Manu‑ skripte aus der Entstehungszeit erhalten, doch wurde sie von Bach selbst zwischen 1724 und 1749 vier Mal in z. T. sehr verschiedenen Fassungen in Leipzig aufgeführt. Über die Gründe der Änderungen kann nur spekuliert werden122 – sie könnten theologischer, musikalischer oder liturgischer Art, von Bach selbst gewollt oder von der Obrigkeit angeordnet worden sein. Auch die banale Tatsache, dass manche Instrumentalisten gerade nicht zur Verfügung standen, konnte Anpassungen erfordern.123 Das Notenmaterial ist nicht von allen Aufführungen vollständig erhalten, zudem gibt es noch eine Partitur in Reinschrift, die von Bach selbst begonnen und von einem Kopisten nach der letzten Fassung ergänzt wurde, die aber als Ganze keiner der vier Aufführungen entsprach und zu Bachs Zeiten mit großer Sicherheit nicht erklang. Heutige Chorleiter müssen sich also entscheiden, welche Johannespassion sie aufführen. Meistens wird als Partitur die Fassung der neuen Bachausgabe von 1975 verwendet, die die Texte der Aufführungen von 1724, 1749 und der Reinschrift synchronisiert. Der Herausgeber legt in einem dem textkritischen Apparat der wissenschaftlichen Ausgaben des Neuen Testa‑ mentes vergleichbaren Kommentar Rechenschaft über die Rekonstruktion ab.124 Die zweite Version von 1725 weicht so stark von den anderen ab, dass sie darin nicht integrierbar ist und die vielen nur für sie komponierten Sätze als Anhang präsentiert werden. Für die dritte Auffüh‑ rung 1730 wurde das bereits vorhandene Notenmaterial bearbeitet; die dafür neu geschriebenen Sätze sind verschollen. Im Zuge der Etablierung der historisch informierten Aufführungspraxis erklingen heute auch wieder die beiden Fassungen von 1725 und 1749, von denen das Noten‑ material vollständig erhalten ist. Die Aufgabe der Musiker ist unabhängig von der Wahl der Fassung: Sie müssen das Werk, so wie es ihnen konkret in der jeweiligen Partitur vorliegt, zum Klingen bringen.
Eine Antwort auf die vorhin gestellte Frage bietet dieser Exkurs in die Musik zwar nicht, doch zeigt die musikalische Praxis, wie mit dem Problem der späten 122
Vgl. Gassmann, Fassungen der Johannes-Passion, 60. Vgl. a. a. O., 61. 124 Zur wissenschaftlichen Ausgabe und zur Quellenlage der Bach’schen Johannespassion vgl. Bach, Johannespassion, VII f. 123
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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und variantenreichen Überlieferung des Markusevangeliums pragmatisch umge‑ gangen werden kann. Die Frage nach dem „Original“ und den „Bearbeitungen“ lässt sich zwar nicht lösen, sie ist aber gerade auch unter Berücksichtigung der Oralitätsforschung nicht als vordringlich, ja eher als unangemessen zu betrach‑ ten: Jede der Aufführungen des Markusevangeliums war individuell; auch schon für seine Anfänge ist eine gewisse Variantenbreite, ob nur im mündlichen Vortrag oder auch in seinen Aufzeichnungen, eine realistische Annahme.125 Daher scheint es mir legitim, die verschiedenen Wortlaute nicht als (einem verschollenen Ori‑ ginal gegenüber minderwertige) Bearbeitungen, sondern als verschiedene gültige Fassungen eines Werkes zu verstehen, die je für sich nach einer angemessenen Interpretation verlangen. Aufgrund der geschilderten Quellenlage – die frühesten vollständigen „Parti‑ turen“ des Markusevangeliums stammen aus einem historisch anderen Kontext als das Werk selbst – habe ich mich für folgendes Vorgehen entschieden: Als „Partitur“ liegt dieser Arbeit der Text von NA28 zugrunde. Wie die Johannespas‑ sion nach der neuen Bachausgabe kann auch er als „gültige“ Fassung gelten – trotz aller kritischen Fragen, die sich mit der wissenschaftlichen (Re‑)Konstruk‑ tion eines alten Werkes verbinden. „Gültig“ ist dieser Text insbesondere insofern, als er für die heutige „Aufführungspraxis“ in Kirche und Wissenschaft die Refe‑ renz darstellt. Für die Exegese wird der Text von NA28 so vorbereitet, dass struk‑ turelle Markierungen späterer Zeiten entfernt werden: Die Einteilung in Kapitel und Verse wird vom Text separiert, die Formatierung in Abschnitte herausge‑ nommen und die Satzzeichen entfernt.126 Zudem ist bei der Lektüre im Auge zu behalten, dass eventuell Wortabstände anders gesetzt werden könnten. Um die visuelle Darstellungsart antiker Manuskripte bei der Arbeit mit der modernen wissenschaftlichen Ausgabe präsent zu haben, wird die Exegese vom Blick in Faksimileausgaben einiger der wichtigsten frühen Textzeugen – in erster Linie ℵ, A, B, D, W127 – begleitet. 𝔓45 wäre natürlich aufgrund seines Alters auch von großem Belang, ist jedoch so fragmentarisch, dass der Blick darauf zwar einen Eindruck von der Schrift und der grundsätzlichen Beschaffenheit des Dokuments ermöglicht, aber kaum Text am Stück nachvollzogen werden kann. Wie bei jeder Arbeit an der Partitur liegt es im Ermessen der Interpretin, vom vorgegebenen Text dort abzuweichen, wo sie begründet einen Fehler oder, bei Verwendung einer wissenschaftlichen Ausgabe, eine plausiblere Variante vermu‑ tet; die Aufgabe der Textkritik ist mit der Entscheidung für NA28 als Partitur also nicht erledigt.
125
Vgl. Diskusssion in Kap. I.1., S. 8. Ähnlich gehen auch Lee und Scott bei der Erarbeitung von „sound maps“ neutestament‑ licher Texte vor, behalten aber die Interpunktion bei (vgl. Lee / Scott, Sound Mapping, 168). 127 Angaben zu den verwendeten online verfügbaren Faksimiles dieser und anderer Manu‑ skripte finden sich in der Bibliografie unter A.1. 126
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
I.4.2. Der Klang der Zeichen: Die Aussprache der Koine im 1. Jahrhundert Wie die Buchstaben, die den Text schriftlich fixieren, ausgesprochen werden, gehört zu den Konventionen, die bei den Lesern als bekannt vorausgesetzt wer‑ den; das kann also nicht aus der „Partitur“ selbst erschlossen werden.128 Wie aber klang das Markusevangelium aus dem Mund seiner ersten Interpreten? Auf jeden Fall nicht so, wie es die Exegetin in ihrem Griechischunterricht gelernt hat. Die heute übliche „erasmische“ Aussprache ist insofern für das Verstehen der Texte sehr hilfreich, als sie den verschiedenen Zeichen bzw. Zeichenkombinationen wie Doppelvokalen je einen distinkten Laut zuordnet. Diese heutige Praxis kann einer Auslegung, in der die Klanggestalt des Evangeliums eine wichtige Rolle spielt, nicht zugrunde gelegt werden. Jedoch ist bei der Suche nach der ursprünglichen Aussprache noch offensichtlicher als bei der Wahl der „richtigen“ Partitur (I.4.1.), dass das Gesuchte nicht mehr zugänglich ist – Klang ist flüchtig, Aufnahmetech‑ niken wurden erst viel später erfunden und damit ist auch die damals hörbare Gestalt des Markusevangeliums verklungen. Mittels komparativer Studien ist es dennoch möglich, Lautwerte alter Sprachen und auch deren Veränderungen zu rekonstruieren.129 So wird dank der umfangreichen Forschung130 auf dem Gebiet der Entwicklung der griechischen Sprache zwar nicht der Originalsound hörbar, aber zumindest ist eine „historisch informierte“ Aufführungspraxis möglich. Das Markusevangelium ist in der literarischen Koine der untersten Stilstufe verfasst. Diese kommt der Umgangssprache nahe,131 ist jedoch nicht mit ihr zu verwechseln. Griechische Texte, die für den Vortrag komponiert sind, weisen auf allen Stilstufen zumindest „eine ‚Grundausstattung‘ in rhythmischer Prosa“132 auf, sodass von einer „Kunstsprache des Evangeliums“133 gesprochen werden kann. Mit „Oralität des Markusevangeliums“ ist also primär nicht seine Nähe zur alltäglichen Kommunikation gemeint, sondern die für alle antike griechische Literatur charakteristische Bedeutung des Wortklangs, der im Vortrag des schrift‑ lich fixierten Werks zur Geltung kommt. Dies ist für die Aussprache relevant, da deshalb auch die Art der Metrik – rhythmisiert nach klassischem Vorbild durch die Quantität (Länge oder Kürze) der Silben oder nach späterer Art durch die stärkere Betonung mancher Vokale – geklärt werden muss, die für die Umgangs‑ sprache und für Texte, die nicht für den Vortrag geschrieben wurden (z. B. Rech‑ nungen und Quittungen), nicht von Bedeutung war.134 128
Vgl. Kap. I.2.2.1., S. 15 f. Vgl. Gignac, Grammar, 58. 130 Ich beziehe mich auf die in der Bibliografie genannten Arbeiten von W. Sidney Allen, Hans Eideneier, Francis T. Gignac, Geoffrey Horrocks, Michel Lejeune, Sven Tage Teodorsson und Martin L. West. 131 Vgl. Horrocks, Greek, 220. 132 Eideneier, Rhapsodie, 53. Vgl. auch Reiser, Syntax und Stil, 11. 133 Eideneier, Rhetorik und Stil, 9. 134 Vgl. Eideneier, Rhapsodie, 26.43. 129
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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Die Koine entwickelte sich in der hellenistischen Zeit aus dem Attischen, brei‑ tete sich als Nationalsprache des griechisch-mazedonischen Großreiches weit über die griechischen Siedlungsgebiete hinaus aus135 und blieb auch in römischer Zeit Lingua franca im gesamten Osten des Reiches.136 In Bezug auf die Ausspra‑ che ist zu beachten, dass sie sich in der Standardsprache schneller veränderte137 als auf dem gehobenen Sprachniveau aristokratischer Kreise, in denen konser‑ vative Tendenzen zu beobachten sind.138 Die niedrige Stilstufe des Neuen Testa‑ ments, seine Nähe zur gesprochenen Sprache wie auch die Dominanz von Unter‑ schichtgruppen in den frühen christlichen Gemeinden139 sprechen dafür, sich in Bezug auf das Markusevangelium an der Standardsprache zu orientieren. Neben dem Wandel der Aussprache mancher Konsonanten vollzog sich eine Reduzie‑ rung der Lautvielfalt der Vokale. Manches, was unterschiedlich geschrieben wurde, klang nun gleich. Dabei hatte der Verlust von Längenunterschieden140 – z. B. wurden ο und ω mit der Zeit gleich ausgesprochen – Auswirkungen auf die Metrik. Statt der auf Längen und Kürzen basierenden Rhythmisierung orientierte sich das Metrum nun an Betonungen.141 Recht unsicher scheint die zeitliche Ein‑ ordnung des Verlusts der Aspiration bei Vokalen am Wortanfang zu sein. Vermut‑ lich war dieser Veränderungsprozess zur Zeit der Entstehung des Markusevange‑ liums noch nicht abgeschlossen.142 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Aussprache der Koine – als Lingua franca natürlich mit regionalen Nuancen143 – im 1. Jahrhundert dem Klang des Neugriechischen wesentlich näher stand als dem des klassischen Attischen.144 Die umfangreichen vergleichenden Detailstudien zur altgriechischen Phono‑ logie bestehen hauptsächlich aus der Untersuchung von Papyri und Inschriften 135
Vgl. Horrocks, Greek, 80. Vgl. a. a. O., 125 f. 137 Teodorsson spricht von einem Wandel von einer „‚Standard Attic‘ pronunciation“ hin zu einem „new standard used by the majority of the literate population“ (Teodorsson, Phonology, 257). Horrocks stellt dem „conservative system retained by the aristocracy“ ein „innovative sys‑ tem representing the speech of the moderately educated“ gegenüber (Horrocks, Greek, 164). 138 Vgl. Horrocks, Greek, 164 – 166. 139 Vgl. Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 201 f.261.271. 140 Vgl. Gignac, Grammar, 43.277; Horrocks, Greek, 160.165.167 et passim. 141 Vgl. Gignac, Grammar, 325; Horrocks, Greek, 169. Lejeune sieht zur Entstehungs‑ zeit des Markusevangeliums den Umbruch vom musikalischen zum Betonungsakzent noch im Gange (vgl. Lejeune, Phonétique historique, 128; ähnlich auch West, Greek Metre, 162 – 164). Allen, dessen Untersuchung auf „Classical Greek“ fokussiert, setzt ihn deutlich nach dem 1. Jh. an (vgl. Allen, Vox Graeca, viii.119). 142 Vgl. Lejeune, Phonétique historique, 280; Gignac, Grammar, 138; Horrocks, Greek, 179. 143 Z. B. führt Gignac Auffälligkeiten in der ägyptischen Aussprache der Koine auf Inter‑ ferenzen mit dem Koptischen zurück, das bestimmte Lautunterschiede des Griechischen nicht kennt (vgl. Gignac, Grammar, 46). 144 Vgl. Gignac, Grammar, 43; Übersichten zur Aussprache der Vokale im Attischen vgl. Allen, Vox Graeca, 59.74. 136
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
auf Orthografiefehler, die erkennen lassen, welche Buchstaben oder Vokalkom‑ binationen mit der Zeit offensichtlich gleich klangen und deshalb verwechselt wurden. Ohne auf sie näher eingehen zu können, werde ich im Folgenden Aus‑ spracheregeln145 zusammenstellen, die sich daraus für die frühe römische Kaiser‑ zeit ergeben. Dabei ist die Tatsache, dass heute das Markusevangelium auch bei Einhaltung dieser Regeln aus dem Munde einer Italienerin anders klingen wird als bei einem Franzosen, einer Deutschen oder einer Engländerin, kein Problem, sondern vielmehr entlastend, da sie in Ansätzen die Bandbreite erahnen lässt, in der das Evangelium auch schon in der Antike erklungen sein wird.146 Der Stand der Entwicklung der Vereinfachung der Vokallautwerte durch Weg‑ fall von Längenunterschieden und Monophthongierung ergibt für die fragliche Epoche folgendes Bild:147
/ i / / e / / ε / / a / / o / / u / / y /
ι, ει η ε, αι α ο, ω ου υ, οι
Der Verlust der Längenunterschiede zieht bezüglich der Metrik eine Orientierung an den Betonungen nach sich; ich richte mich also nach den Akzenten. Bei den Diphtongen αυ, ηυ und ευ ist eine Veränderung der Aussprache des υ von einer vokalischen hin zu einer konsonantischen zu beobachten, die dem deutschen w ähnelt. Ob dieses stimmhaft oder stimmlos (wie deutsches f) klang, labiovelar, bilabial oder dentolabial gebildet wurde, lässt sich nicht exakt bestim‑ men148 und hing vermutlich auch vom einzelnen Sprecher bzw. von regionalen Gewohnheiten ab. In Bezug auf die Aussprache der Konsonanten orientiere ich mich in der Hauptsache an der Zusammenfassung, die Horrocks im Kapitel „The Develop‑ ment of the Consonant System“ bietet:149 Nasale (μ, ν) und Liquide (ρ, λ) werden von Horrocks (und Buth) nicht thema‑ tisiert. Ich gehe dementsprechend davon aus, dass bei ihnen keine Besonderheiten zu berücksichtigen sind.150 Hierbei wird allerdings deutlich, wie unterschiedlich 145 Sie entsprechen zu großen Teilen denen, die Buth in seinem Lehrbuch zusammenstellt (vgl. Buth, Living Koiné, 217 – 230). 146 Vgl. Horrocks, Greek, 110 f.114. 147 Vgl. Buth, Living Koiné, 230, Gignac, Grammar, 43, Horrocks, Greek, 162 f. 148 Vgl. Buth, Living Koiné, 222; Horrocks, Greek, 167. 149 Vgl. Horrocks, Greek, 170 – 172. 150 Gignac weist für die äyptischen Papyri, insbesondere für eine bestimmte Sprachregion, häufige Verwechslungen von ρ und λ nach. Diese scheinen jedoch durch Interferenzen mit den Regionalsprachen verursacht zu sein und nicht die generelle Entwicklung der Koine zu spiegeln (vgl. Gignac, Grammar, 102 – 107).
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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die Aussprache sein kann – man denke z. B. an die Vielfalt an r‑Lauten im Fran‑ zösischen, Englischen und Deutschen oder die verschiedenen l‑Laute in deut‑ schen Dialekten –, ohne an Eindeutigkeit zu verlieren. Auch ψ und ξ können als / ps / und / ks / aus der erasmischen Aussprache über‑ nommen werden.151 Ζ stand ursprünglich für / dz / oder auch / zd /, verlor aber den Anlaut und wurde zum stimmhaften s (/ z /; so auch im Neugriechischen).152 Das stimmlose s (/ s /) wird durch σ repräsentiert. Π, τ und κ bleiben stimmlose Plosive (/ p,t,k /). Ihre stimmhaften Pendants β, δ und γ hingegen werden allmählich zu stimmhaften Frikativen; für β und γ ist dies schon im 1. Jahrhundert üblich und wird deshalb übernommen, für δ ver‑ mutlich erst später,153 weshalb es als / d / beibehalten wird. Nach Nasalen unter‑ scheiden sich π / β, τ / δ und κ / γ jeweils kaum mehr; sie werden unterschiedslos stimmhaft plosiv ausgesprochen. Die dritte mit diesen beiden verwandte Reihe (φ, θ, χ) waren im klassischen Griechisch Plosive, die aspiriert wurden, bei ihnen folgte also, wie im Deutschen bei den Konsonanten p, t und k Praxis, jeweils ein h dem eigentlichen Laut. Sie wurden in der Koine zu Frikativen, wobei aufgrund regionaler Unterschiede154 die Wahl für das hier zu erstellende Regelsystem nur willkürlich sein kann. Ich entscheide mich für die frikative Aussprache aller drei Konsonanten (/ f, θ, x /). Schließlich muss noch eine Entscheidung hinsichtlich der Aspiration am Wort‑ beginn getroffen werden, die aufgrund der Quellenlage für den fraglichen Zeit‑ raum nicht eindeutig zu bestimmen ist. Ich entscheide mich dafür, die Unter‑ scheidung zwischen Aspiration (/ h /) und direktem vokalischen Einsatz akustisch kenntlich zu machen. α / a / / β / β γ / j / / d / δ ε / ε / / z / ζ η / e / / θ / θ / i / ι / k / κ / l / λ
/ b / nach Nasalen / g / nach Nasalen / ŋ / vor γ, κ, χ, ξ
/ g / nach Nasalen
151 Auch diese Konsonantencluster werden weder von Horrocks noch von Buth bespro‑ chen. Gignac weist keine Verwechslungen nach, die auf eine veränderte Aussprache schließen lassen, sondern nur Darstellungen durch die Doppelzeichen πσ und κσ (vgl. Gignac, Grammar, 139 – 142). 152 Horrocks gibt dafür keine zeitliche Einordnung (Horrocks, Greek, 171). Vgl. aber Gignac, Grammar, 120 – 124; Lejeune, Phonétique historique, 116. 153 Vgl. Gignac, Grammar, 75 f. 154 Vgl. Horrocks, Greek, 170 f.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen μ ν ξ ο π ρ σ τ υ φ χ ψ ω ἀ ἁ
/ m / / n / / ks / / o / / p / / b / nach Nasalen / r / / s / / t / / d / nach Nasalen / y / / w / (/ β /, / f /) nach α, ε, η / f / / x / / ps / / o / Vokaleinsatz / h /
I.4.3. Anleihen aus der Musikanalyse für die Exegese I.4.3.1. Sprache ist nicht Musik – die Notwendigkeit herkömmlicher exegetischer Methoden „Is Language a Music?“ – so der Titel eines Buches des Komponisten und Musik‑ theoretikers David Lidov.155 Während Lidov sich vor allem mit dem Zusammen‑ hang von musikalischer Form und Bedeutung beschäftigt und diese Frage dann gar nicht behandelt, kann die Exegetin ihr nicht ausweichen, wenn sie herausfin‑ den will, inwiefern sich Sprachtexte in musikalischen bzw. musikwissenschaftli‑ chen Kategorien analysieren lassen. Die Vergleichbarkeit von Sprache und Musik wurde im Kapitel I.2. behandelt, sodass sich hier zusammenfassend eine kurze Antwort geben lässt: Nein, Sprache ist nicht Musik. Sie ist zwar wie sie ein Zeichen- und Kommunikationssystem und hat mit ihr – insbesondere im Vergleich des Markusevangeliums mit musi‑ kalischen Kompositionen abendländischer Tradition – die doppelte Medialität in Schall und Schrift gemeinsam. Sie unterscheidet sich jedoch von ihr hinsichtlich des Charakters ihrer Einzelbestandteile, der Regeln zu deren Verknüpfung und ihres Weltbezuges. Will die Exegetin dem Markusevangelium in seiner Eigenart als Sprachtext gerecht werden, kann sie sich nicht einfach auf musikalische Analysekategorien beschränken. Für die sprachspezifischen Aspekte Syntaktik und Semantik werde ich die in der Exegese üblichen sprachanalytischen Methoden anwenden. Der Blick auf das Evangelium als Gesamtkomposition und als linear rezipierte Erzäh‑ lung ist auch der Narratologie und der klassischen Rezeptionsästhetik eigen. So werden auch manche ihrer Fragen an den Text gestellt werden, wenngleich die vorliegende Arbeit nicht zum Ziel hat, eine konsequente narratologische bzw. rezeptionsästhetische Auslegung zu bieten. 155
Lidov, Is Language a Music.
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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Auch Methoden der historisch-kritischen Bibelauslegung kommen zum Ein‑ satz, jedoch nicht alle in gleicher Weise. Die Gewichtung ergibt sich aus der zugrundeliegenden Hermeneutik: Der Fokus liegt auf der Endgestalt des Textes; die Hauptarbeit besteht im Studium des schriftlichen Textes als „Partitur“, als Fixierung eines für die Aufführung komponierten sprachlichen Werkes. Dement‑ sprechend sind textkritische Fragen von Bedeutung – will man einen Text vortra‑ gen, muss man sich ja für eine Lesart entscheiden. Im Vergleich zur klassischen Textkritik ist die Fragestellung jedoch eine leicht andere: Das Ziel, möglichst zu einem Ausgangstext zurückzufinden, wird zwar nicht negiert, aber zugunsten der ganz pragmatischen Notwendigkeit relativiert, einen Text zu erstellen, der aufführbar ist. So kann es Fälle geben, in denen eine sprachlich korrekte Lesart einer besser bezeugten Lectio difficilior vorgezogen wird.156 Zudem dient die textkritische Arbeit zur Schärfung des Bewusstseins der Interpretin für die Vari‑ antenvielfalt der Überlieferung und für die Bedeutung der einzelnen Manuskripte als Zeugen ihres jeweiligen Kontextes. Gattungskritik ist insofern von Belang, als sie nach zugrundeliegenden Formmodellen und deren Variationen fragt. Die ursprünglich damit verknüpfte Frage nach dem Sitz im Leben der Einzeltexte ist hier nicht von Interesse. Wie Literar- und Redaktionskritik sowie die Frage nach dem historischen Jesus tritt sie in den Hintergrund, da sie wie diese auf die Vorstufen der Komposition bzw. auf deren Entstehungsgeschichte fokussiert ist. Natürlich sind begriffs‑, traditions‑, motiv- und weitere geschichtliche Untersu‑ chungen nötig, um die historische Einbettung des Markusevangeliums, seines Autors und seiner Hörerschaft zu erhellen. Dennoch sei in diesem Zusammen‑ hang nochmals betont, dass der Beitrag der vorliegenden Arbeit zur historischen Einbettung des Evangeliums darin liegt, seine Eigenart als literarisches Werk sei‑ ner Zeit und demzufolge als ein Werk oraler Literatur mitsamt dessen Charakte‑ ristika zu untersuchen. In einem Graubereich sind zwei Aspekte angesiedelt, bei denen es sich zwar nicht um eine direkte Anwendung musikanalytischer Methoden handelt, in denen sich die Exegese aber dennoch von der Musikwissenschaft inspirieren lassen kann: Zum Ersten bekommen manche Phänomene, die den Bibeltext betreffen, an Beispielen aus der Musikgeschichte – wie in Kap. I.4.1. das der Johannespas‑ sion in Bezug auf die Frage nach dem „Original“ – deutlichere Konturen, weil durch den geringeren Zeitenabstand mehr Informationen über die historischen Umstände vorhanden sind. Dabei zeigt sich dass es sich bei etlichen Problemen nicht um spezifisch biblisch-exegetische handelt, sodass sich die Suche nach Lösungsansätzen auf anderen Fachgebieten lohnt. Zum Zweiten bietet die musi‑ kalische Fachsprache ein Vokabular, das sich in der Beschreibung von Texten metaphorisch nutzen lässt – „Partitur“ ist ein anschauliches Beispiel dafür. Dabei ist allerdings Augenmaß gefragt, um den Bedeutungsspielraum dieses Wortschat‑ 156 Vgl. z. B. Textkritik zu 1,4.21 (Kap. III.1.2., S. 74; Kap. III.2.2.2.; S. 120 – 122) und zu 6,22 (Kap. IV.6., S. 398).
38
Kapitel I: Theoretische Grundlagen
zes nicht zu überdehnen und zudem im neutestamentlichen Kontext verständlich zu bleiben. Das Potential musikanalytischer Zugänge lässt sich in der Exegese bei der Untersuchung der Seite nutzen, die der Bibeltext mit musikalischen Kompositio‑ nen teilt: Die Klanggestalt des Markusevangeliums, wie sie in der „Partitur“ fest‑ gehalten ist. Das heißt, sich die Sicht der Musikanalyse auf das schriftliche Notat als Fixierung einer Klanggestalt und deren Konsequenzen für den Umgang mit dem Text anzueignen (I.4.3.2.) und auszuloten, welche Ansätze die Musikanalyse für die Erfassung und Untersuchung der Klanggestalt bietet (I.4.3.3. und I.4.3.4.). I.4.3.2. Das Konzept des Partiturlesens als Zugang zur akustischen Gestalt eines Textes Generell gilt: Die „Partituren“, in besonderem Maße die frühen, geben längst nicht alles wieder, was zum literarischen bzw. musikalischen Werk in seiner akus‑ tischen Gestalt gehört.157 Die Schrift fixiert nur bestimmte Parameter; eine einfa‑ che Notation konzentriert sich z. B. auf Tonhöhe und ‑dauer, die Scriptio continua hält in ihren aneinandergereihten Buchstaben nur den Klangstrom fest.158 Parti‑ turen sind mehr oder weniger präzise Landkarten, die eine reale Klanglandschaft skizzieren.159 Auf einer Landkarte lassen sich Dinge entdecken, die sich auf einem Spaziergang nicht erschließen: Die Lage von Orten zueinander, das Dorf, dass sich noch hinter dem nächsten Berg verbirgt, die Distanz zwischen zwei Punkten. Verschiedene Routen durchs Gelände können geplant werden, auf denen sich dann in natura völlig andere Blickwinkel aufs Umland ergeben. Wesentlich am Blick auf die Karte ist die Tatsache, nicht an den momentanen Standpunkt in der Landschaft gebunden zu sein, sondern sich einen Überblick verschaffen zu können. Das Lesen der Landkarte ersetzt in keiner Weise das Wahrnehmen und Erleben der Gegend auf einer Wanderung, so auch nicht das Studieren der Partitur das Erlebnis von Musik oder des Textvortrags. Dennoch ist die Partitur ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Orientierung sowohl im Großen als auch im Detail – und im Fall der Evangelien wie dem vieler musikalischer Kompositionen das Fenster, durch das wir in vergangene Klanglandschaften blicken können, und die Vorlage für Interpreten, um sie heute neu zum Klingen zu bringen. Am gerade Gesagten werden zwei Dinge deutlich, die mit der doppelten Medi‑ alität musikalischer und oral-literarischer Werke und der damit zusammenhän‑ 157
Beim Vergleich des schriftlichen Textes des Markusevangeliums mit musikalischen Par‑ tituren wurde bereits die Besonderheit der „Notation“ in Scriptio continua besprochen (vgl. Kap. I.2.2.2., S. 18). 158 Vgl. Shiell, Reading Acts, 105. 159 Hearon spricht im Anschluss an Lee und Scott (Lee / Scott, Sound mapping) von „sound maps“, die in einer rhetorischen Kultur, die die Überzeugungskraft des gesprochenen Wortes betont, gehört werden wollen (Hearon, Implications of Orality, 3). Williams verwendet das Bild der Landkarte („map“) für seine Gliederung des Markusevangeliums (Williams, Mark’s Gospel, 522).
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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genden Erweiterung des Kommunikationsmodells um die Person des Interpreten zusammenhängen: Zum Ersten ist die Auseinandersetzung mit dem Werk in sei‑ ner schriftlichen Fixierung in aller Regel nicht Sache der „Endverbraucher“, also der Hörerinnen, sondern nur die der meist professionellen Interpreten, seien es die Musikerin oder der lector, der Musikwissenschaftler oder die Exegetin. Zum Zweiten steht deren Lektüre immer im Dienst der Aufführung bzw., im Fall der wissenschaftlichen Interpretation, der Veröffentlichung. Partiturlesen unterscheidet sich vom heutigen Lesen eines literarischen Wer‑ kes. Es findet vor allem in der Vorbereitungsphase statt, ist selten linear, sondern, dem Landkartencharakter seines Untersuchungsgegenstandes entsprechend, ein Studieren und Analysieren, das sich frei von der Zeitbindung einer Aufführung durch das Werk bewegt. Ziel des Interpreten ist es dabei, das Werk in Gestalt und Gehalt zu verstehen, es sich durch Reflexion und Üben anzueignen und zu einer schlüssigen Interpretation zu kommen. Die intensive Auseinandersetzung und die vielfache Wiederholung während der Vorbereitungsphase bringt es oft mit sich, dass Interpreten sich ein Werk so zu eigen gemacht haben, dass sie es auswen‑ dig können.160 Ob sie die Partitur während der Aufführung (trotzdem) benutzen oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab, z. B. den Fähigkeiten und dem Mut des Vortragenden, der Vertrautheit mit dem Werk, dem Wunsch, gestisch agieren zu können, aber auch von Aufführungskonventionen in bestimmten Kontexten. Für den Vortrag des Markusevangeliums in den frühen Gemeinden hält Shiner beides für möglich,161 Nässelqvist hingegen kämpft unter Bezugnahme auf die Beschreibung einer Lesung bei Plinius dem Jüngeren gegen die im Anschluss an Shiner unter Exegeten des performance criticism verbreitete Annahme, dass die Rezitation eines Evangeliums ohne Manuskript denkbar, wenn nicht sogar die Regel sei.162 Für die hier gewählte exegetische Perspektive muss diese Frage nicht geklärt werden. Das Verhältnis einer Klangkomposition zu ihrer schriftlichen Niederlegung in der Partitur kann in zwei Richtungen betrachtet werden: Die in einer konkreten Aufführung präsente Klanggestalt beinhaltet insofern mehr als die Partitur, als in ihr das Werk in seiner Ganzheitlichkeit und nicht nur in ausgewählten Parametern realisiert wird. Andererseits enthält eine Partitur in ihrer Reduktion die Fülle an unterschiedlichen akustischen Realisationen und ist nicht nur auf eine bestimmte 160
Bitzan spricht in Bezug auf diese beiläufige Art des Auswendiglernens von „natürliche[r] Strategielosigkeit“ (Bitzan, Auswendig lernen, 69). 161 Vgl. Shiner, Performing, 104. Ähnlich auch Alikin, der auf eine Stelle in Plutarchs Quaestiones convivales (Plut. Quaest. conv. 7.711c) verweist, an der beschrieben wird, wie Skla‑ ven bei einem Symposion manche von Platos Dialogen – allerdings solche, die als „dramatisch“ (vgl. Anm. 162) eingestuft werden – auswendig und mit lebendiger, durch Gesten untermalter Textgestaltung vortrugen (vgl. Alikin, Earliest History, 148 f.). 162 Diese Meinung vertreten z. B. Rhoads / Dewey / Michie, Mark as Story, xi f. Nässelqvist hingegen postuliert eine Unterscheidung nach Textgattungen: Literatur wäre mit dem Manu‑ skript in den Händen sitzend vorgelesen worden, Reden und dramatische Texte hingegen wären stehend bzw. agierend auswendig rezitiert worden (vgl. Nässelqvist, Public Reading, 73 – 77).
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
beschränkt. In der Exegese, die keine konkrete Aufführung, sondern nur die „Par‑ titur“ des Markusevangeliums vorliegen hat, ist zu beachten, dass diese schriftli‑ che Gestalt unzählige Klanggestalten in sich birgt. Was kann unter diesen Voraussetzungen an einer Partitur untersucht werden? Zunächst ganz simpel: Das schriftlich Festgehaltene – im Wissen um die Perfor‑ manz, auf Hinweise auf die Performanz hin – nicht aber die Performanz an sich und die allein in ihr sich realisierenden Parameter (Prosodie, Sprechtempo, Dyna‑ mik, Mimik, Gestik, Reaktionen des Publikums etc.). Die Exegetin wird aller‑ dings wie die Musikerin feststellen, dass vielerorts die Partitur selbst Hinweise gibt, welche Art der Präsentation sich anbietet. Exemplarisch für implizite dyna‑ mische Vorgaben seien die gegensätzlichen Geräuschkulissen der beiden markini‑ schen Blindenheilungen genannt (Mk 8,22 – 26; 10,46 – 52); die erste ereignet sich abseits unter vier Augen vor allem durch Gesten, die zweite in aller Öffentlich‑ keit und erst nach lauter Debatte. Für Markus typisch – man vergleiche die unten genannten Beispiele mit den Parallelstellen bei Matthäus und Lukas – ist eine Erzählweise, die sich wiederholende Ereignisse zuerst detailliert und dann immer knapper berichtet; sie entsprechen einem auskomponierten accelerando. Beispiele dafür sind die Geschichte der Sadduzäer, in der sieben Brüder nacheinander die gleiche Frau heiraten und dann sterben (Mk 12,18 – 27), und die Aussendung von einem Knecht nach dem anderen im Weinberg-Gleichnis (Mk 12,1 – 12). Solche impliziten „Vortragsbezeichnungen“ sind Bestandteil der Partitur, können also auch beschrieben werden. I.4.3.3. Akustische Formgestaltung: Ein Spiel mit Wiederholung, Variation und Neuheit Auf die Wiederholung als das Mittel zur Formgestaltung in oraler Literatur habe ich in den vergangenen Kapiteln mehrfach hingewiesen; im Exkurs zur Kogniti‑ onspsychologie in Kap. I.3.2. wurde deutlich, dass Wiederholung dem Hörer hilft, sich im akustisch Wahrgenommenen zu orientieren. Gehörtes wird als bekannt, variiert oder neu klassifiziert und so Wahrgenommenes strukturiert und versteh‑ bar macht. Deshalb verwundert es nicht, dass auch in Bezug auf Musik stilüber‑ greifend festzustellen ist: „[T]he sheer quantity of repetition in music is a funda‑ mental and striking fact.“163 Dementsprechend finden sich auch quer durch die musikanalytische Literatur Hinweise auf das Spiel mit Wiederholung, Variation und Neuheit, das jegliche konkrete musikalische Form entstehen lässt. Es ist also das Gebiet der musikalischen Formenlehre, auf dem nach Impul‑ sen für die Exegese zu suchen ist. Formenlehre lässt sich nicht eindeutig einem der bibelwissenschaftlichen Methodenschritte als Pendant zuordnen; sie umfasst alle Ebenen der musikalischen Formgestaltung vom kleinen Motiv bis hin zum Gesamtwerk. Sie beinhaltet also, übertragen gesprochen, sowohl Aspekte der 163
Lidov, Is Language a Music, 25.
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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syntaktischen Analyse als auch der Gattungs- und der Kompositionskritik. Im Blick auf die Anwendbarkeit in der Exegese gilt auch hier wieder: Sprache ist nicht Musik. Es geht nicht darum, musikalische und zudem historisch gebundene Formmodelle wie Arie und Sonate oder musikspezifische Arten der Formgene‑ rierung wie Fugierung, Wechsel von Tutti und Solo etc. im Markusevangelium zu suchen – solche Bezeichnungen können höchstens als Metaphern dienen. Die musikalische Formenlehre bietet vielmehr dort ein Potential für die Exegese, wo sie sich mit dem Grundmechanismus der Formgestaltung, dem, wie Albrecht Wellmer es nennt, „play of identity and difference“164 befasst. Dieser Grundme‑ chanismus wird in anderer Begrifflichkeit auch von anderen Autoren beschrie‑ ben: Ursula Brandstätter bezeichnet „Varianz, Invarianz, Ähnlichkeit, Kontrast, Verschiedenheit“ als „abstrahierte Ordnungsprinzipien der Wahrnehmung“,165 Clemens Kühn nennt „Wiederholung“, „Variante“, „Verschiedenheit“, „Kon trast“ und „Beziehungslosigkeit“ „formgebende Mittel“.166 David Lidov betont die Konkretheit und Stilunabhängigkeit der Wiederholung und setzt sie daher von anderen formalen Mitteln ab, die auf musikalischen Konventionen eines bestimmten historischen Kontextes beruhen. Die Variation beschreibt er als ver‑ dunkelte Unterform der Wiederholung, die oft schon Stilkenntnisse erfordere, um erkannt zu werden.167 Die unterschiedlichen Darstellungen lassen sich auf einen Nenner bringen: Die äußere Form eines Werkes entsteht im Spiel mit Wiederholung, Variation und Neuheit. Entweder wird etwas als schon einmal Gehörtes wiedererkannt, ist also eine Wiederholung, oder es wird als etwas Neues registriert. Dazwischen gibt es Abstufungen: Variation vereint beides miteinander, wobei die Skala von „prak‑ tisch identisch“ bis zu „fast nicht mehr wiederzuerkennen“ reicht. Neues kann in unterschiedlichen Verhältnissen zum Bekannten stehen. Ist in ihm Bekanntes wiederzuerkennen, sollte es als Variation bezeichnet werden. Es kann keinerlei Bezug zum Bisherigen aufweisen und damit einfach anders sein. Ein Kontrast zu etwas schon Dagewesenem ist nicht etwa eine Steigerung der Beziehungslosigkeit; er entsteht nur, wenn Elemente des Bisherigen aufgenom‑ men und ins Gegenteil verkehrt werden. Ein Kontrast kann daher als Wiederho‑ lung unter negativen Vorzeichen verstanden werden. Der Fokus auf die beiden Pole Bekannt – Neu und damit auf das Faktum der Wiederholung lässt die Frage aufkommen, ob denn damit nicht andere Aspekte der akustischen Formgebung wie die Dauer von Klängen, Klangfarbe, Tonhöhe, Rhythmus etc. aus dem Blick geraten. Nein, denn diese werden dann formge‑ bend, wenn sie entweder als Einzelphänomene aus dem Kontext herausragen, also durch Nichtwiederholung auffallen, oder weil sie in spezifischer Weise 164
Wellmer, On Music and Language, 84. Beide Zitate in Brandstätter, Bildende Kunst und Musik, 186. 166 Alle Zitate in Kühn, Formenlehre, 13. 167 Vgl. Lidov, Is Language a Music, 26. 165
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
immer wieder auftauchen. Deshalb kann sich die Untersuchung der Klanggestalt eines vorzutragenden Textes auf die Wiederholungen konzentrieren. Dieses Ver‑ fahren nenne ich Repetitionsanalyse. I.4.3.4. Repetitionsanalyse als Methode zur Untersuchung der akustischen Textgestalt Dieses Spiel mit Wiederholung, Variation und Neuheit lässt sich also auf zwei Weisen befragen: 1. Was wird wiederholt? 2. Wie wird wiederholt? Die erste Frage ist einfach zu beantworten: Alles kann wiederholt oder vari‑ iert werden, was als Element von Musik oder Sprache eine Einheit für sich bildet:168 In der Musik sind das Einzeltöne, Motive, Themen, Rhythmen, har‑ monische Abläufe, Besetzungen, Formteile etc., in der Sprache Laute, Silben, Lexeme, Wortgruppen, Verbformen, Gattungsspezifika, Satzbau etc. Während in der Musik auch die Wiederholung von stilspezifischen Elementen zumindest the‑ oretisch auch von nichtstilkundigen Hörern erkannt werden kann, lassen sich in Sprachtexten rein akustisch wahrnehmbare Phänomene wie Häufung einer Vokal‑ farbe, Alliterationen, Metrisierungen von Wiederholungen und v. a. von Varia‑ tionen unterscheiden, die nur von Hörern bemerkt werden, die die verwendete Sprache beherrschen. In diese Kategorie gehören etwa Synonyme oder die mehr‑ malige Verwendung des gleichen Satzbaus. Sowohl das eine wie das andere trägt zur Strukturierung einer Sprachkomposition bei. Zudem geschieht im Akt des Hörens keine bewusste Trennung zwischen der Wahrnehmung von Wiederholun‑ gen rein klanglicher Art und solchen, bei denen ein Sprachwissen vonnöten ist. Deshalb werden hier beide berücksichtigt. Die Frage nach dem Wie der Wiederholung weist mehrere Aspekte auf; auf die Unterscheidung von wortwörtlicher Wiederholung und den verschiedenen Gra‑ den an Variation einschließlich des Kontrastes wurde in diesem Kapitel bereits hingewiesen. Zudem macht es einen Unterschied, ob direkt hintereinander etwas Gleiches gesagt wird oder in größeren Abständen, und auch, wie oft etwas wie‑ derkehrt. Für die Arbeit an musikalischen oder sprachlichen Partituren ist es hilfreich, Wiederholungen ihrer Art und Funktion nach zu unterscheiden, wenngleich es sicher einige Fälle gibt, die durch diese Klassifizierung nicht erfasst werden oder in denen eine eindeutige Zuordnung schwer fällt. Joanna Dewey bietet in ihrer Dissertation zu Mk 2,1 – 3,6 im Rahmen ihrer Einführung in den rhetorical criticism eine solche Klassifizierung und benennt verschiedene Arten der Wieder‑ holung. Sie vermischt dabei allerdings die Fragen nach dem Was und nach dem Wie,169 die meines Erachtens sinnvollerweise zu trennen sind. Zudem unterschei‑ 168
Vgl. a. a. O., 27. Dewey unterscheidet z. B. inclusio als Wiederholung von Worten oder ganzen Sätzen von ring composition, die eher von inhaltlicher als von wörtlicher Wiederholung geprägt sei (vgl. Dewey, Markan Public Debate, 31.33). 169
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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det sie mit den Begriffen inclusio, chiasm, ring composition, extended concentric structure, interposition und frame mehrere Arten von Ringkompositionen, weist sie zum Teil verschiedenen Textebenen zu, sodass der Eindruck entsteht, es handle sich um verschiedene Phänomene. In den Begriffsdefinitionen zeigt sich durch viele Überschneidungen, dass diese Einteilung kaum durchzuhalten ist.170 Einleuchtender ist Mary Douglas’ Erklärung, dass alle diese Begriffe das Faktum einer Ringkomposition bezeichnen, dabei aber unterschiedliche Aspekte hervor‑ heben; Inclusio etwa betont die Klammer um einen Abschnitt, Chiasmus dagegen die Umkehrung der Wortreihenfolge.171 Auf musikanalytischem Gebiet legt David Lidov eine Klassifizierung vor,172 die sich auf Art und Funktion von Wiederholungen konzentriert. Diese lässt sich für die Exegese fruchtbar machen, auch wenn sich nicht jede Art der musikalischen Wiederholung gleichermaßen in Sprachtexten findet. Lidov unterscheidet forma‑ tive, fokale und strukturelle Arten der Wiederholung. Aufgrund des Befundes im Markusevangelium ergänze ich die drei von ihm genannten Klassen um zwei weitere, die meiner Beobachtung nach genauso wie die Lidov’schen in oraler Literatur und musikalischen Kompositionen zu finden sind; ich nenne sie moti‑ vische Wiederholung und intertextuelles Zitat. Die Kategorie des intertextuellen Zitates ist natürlich nicht an das Medium Schall gebunden; mit ihr spielen auch rein schriftliche Texte. Formativ nennt Lidov Wiederholungen, die syntaktische Funktion haben;173 sie definieren Einheiten eines Werkes und ordnen sie in die Hierarchie größerer und kleinerer Abschnitte ein. Die Aufmerksamkeit wird dabei auf das Wiederholte und nicht auf die Tatsache der Wiederholung gelenkt. Diese Kategorie ist typisch für sämtliche orale Literatur; Wiederholungen generieren auf allen Ebenen – vom einzelnen Satz über Perikopen und größere Abschnitte hin zur Gesamtgestalt – Struktur, zumeist in Form von Parallelismen oder Ringkompositionen. Diese finden sich zuhauf auch im Markusevangelium. Eines seiner Charakteristika ist zudem die Tripelstruktur aller fünf Hauptteile. Pro Hauptteil wird eine Episode in Variation jeweils dreimal erzählt; auch diese „Tripelepisoden“174 haben formative Funktion. Mit fokaler Wiederholung meint Lidov zweierlei: Zum einen eine mehrfache unmittelbare Wiederholung und zum anderen eine einfache Wiederholung, die die Grenzen größerer Abschnitte überschreitet.175 Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Durch mehrfache unmittelbare Wie‑ derholung entstehen in Sprachtexten die meisten Klangspiele (z. B. Alliterationen 170
Vgl. a. a. O., 31 – 34. Vgl. Douglas, Thinking in circles, 2. 172 Vgl. Lidov, Is Language a Music, 29 – 37. 173 Vgl. a. a. O., 30. 174 Vgl. Kap. II., S. 61. 175 Vgl. Lidov, Is Language a Music, 33. 171
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
oder Homoioteleuta); auch mehrfach repetierte Lexeme, z. B. bei einer Akklama‑ tion,176 gehören in diese Kategorie. Im Markusevangelium fallen Wiederholun‑ gen von einzelnen Worten auf engstem Raum nach Zäsuren auf. Inhaltlich wären sie nicht nötig, doch fungieren sie offensichtlich als „Zaunpfähle“, mit denen der Autor winkt, um auf ein Spezifikum des neuen Abschnitts aufmerksam zu machen.177 Die zweite Art der fokalen Wiederholung, die grenzüberschreitende einfache Wiederholung, ist als Stichwortverbindung – Dewey spricht von hook words178 – im Markusevangelium allpräsent. Die Wiederaufnahme eines inhalt‑ lich oft nicht wichtigen Wortes aus dem vorhergehenden Abschnitt im nächsten entspricht der genannten Definition sowohl in Bezug auf Grenzüberschreitung als auch auf die Selbstreferenzialität. Nicht übertragbar und auch in Bezug auf Musik eher nur für die mehrfache unmittelbare Wiederholung zutreffend scheint mir jedoch Lidovs These zu sein, eine fokale Wiederholung rufe bestimmte Assozia‑ tionen und Gefühle hervor, die mit von Wiederholung geprägten Situationen wie monotoner Arbeit, Ritualen, In-etwas-Feststecken verbunden sind.179 Als dritte Klasse benennt Lidov mit dem Stichwort strukturelle Wiederholung die kontinuierliche Wiederholung einer Idee, an die sich ein Hörer so gewöhnt, dass sie in den Hintergrund tritt und primär andere Elemente wahrgenommen werden.180 Typisches musikalisches Beispiel dafür ist eine Begleitstimme für Klavier oder Gitarre, die in regelmäßigen Akkordbrechungen einen Teppich legt, auf dem dann die Melodie der Gesangsstimme als die Hauptsache erscheint. Sprachtexte sind generell einstimmig. Ihnen fehlt auf der rein akustischen Ebene die Möglichkeit zur Doppelbödigkeit von Melodie und Begleitung, sodass dieses Phänomen in ihnen – abgesehen von Spezialformen wie z. B. für Chöre kompo‑ nierte Sprechmotetten, in denen mehrere Stimmen gleichzeitig agieren – nicht in dieser Weise zu finden ist. Von Lidov nicht erwähnt, aber auf einer abstrakteren Ebene auch als strukturelle Wiederholung klassifizierbar sind gleichbleibende Grundparameter wie Metrum oder Klangfarbe, die zwar den Charakter eines Werkes bestimmen, aber beim Hören genauso wie eine regelmäßige Begleitung in den Hintergrund treten. In der Anwendung auf Sprachtexte ließe sich z. B. das Versmaß in der antiken griechischen Epik als ein solcher Grundparameter verstehen. Im Bezug auf das Markusevangelium eignet sich diese Kategorie zur Beschreibung des Phänomens, dass die weit überwiegende Mehrheit der Sätze mit καί beginnt und nur in Ausnahmefällen andere Arten der Satzverbindung zu hören sind. Dieser „καί-Teppich“ fällt mit der Zeit kaum mehr auf – aber man kommt dort ins Stolpern, wo er Löcher hat. 176
Z. B. κύριε κύριε in Mt 7,21. Vgl. z. B. das dreifache διδάσκειν / διδαχή am Anfang der Gleichnisrede (4,1 f.) oder das vierfache πλοῖον zu Beginn der ersten Bootsfahrt (4,36 f.). 178 Vgl. Dewey, Markan Public Debate, 31. 179 Vgl. Lidov, Is Language a Music, 34. 180 A. a. O., 35 f. 177
I.4. Methodisch-praktische Fragen
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Eine eigene Klasse stellt in der hier präsentierten Klassifikation die motivische Wiederholung dar; Lidov würde sie vermutlich der formativen unterordnen. Als motivisch bezeichne ich Wiederholungen, die nicht primär die Form eines Werkes und dessen Unterteilung in Einheiten bestimmen, sondern solche, die mit einem „Motiv“ – in der Musik z. B. ein rhythmisches Pattern oder eine melodische Flos‑ kel,181 in Sprachtexten einzelne Wörter oder feststehende Wendungen – eine Idee verbinden, die jeweils mit der Wiederholung eines solchen „Motivs“ anklingt und durch die Einbettung in immer neue Kontexte im Laufe eines Werkes auch ganz verschiedene Facetten aufleuchten lässt, Veränderung und Sinnanreicherung erfährt. Als markantes musikalisches Beispiel ist hier die romantische Leitmoti‑ vik zu nennen, die insbesondere das Opernschaffen Richard Wagners prägt. Ein „Leitmotiv“ symbolisiert eine Person – bekannt ist z. B. der „Tristan-Akkord“ –, einen Ort, eine übernatürliche Kraft, eine Vorstellung etc. und lässt diese bei jedem Erklingen gegenwärtig werden.182 Auch im Markusevangelium leisten einzelne Lexeme oder feststehende Ausdrücke, die im Laufe ihres wiederholten Erscheinens in verschiedenen Situationen neue Aspekte erkennen lassen und so mit Bedeutung angereichert werden, einen wichtigen Beitrag zur Darstellung und Entwicklung seiner großen Themen. Joanna Dewey spricht in diesem Zusam‑ menhang von „key words“ (‚Schlüsselwörter‘).183 Ich übernehme diese Nomen‑ klatur, verwende aber parallel dazu die in der Musikanalyse übliche Bezeichnung „Motiv“,184 wenngleich dieses Fachwort in der Exegese schon mehrfach – z. B. gattungskritisch, narratologisch, traditionsgeschichtlich – anderweitig besetzt ist. Wesentlich für die hier verwendete Definition ist die Bindung an eine spezifische hörbare Gestalt in Form eines Lexems oder einer festen Wortverbindung. Exem‑ plarisch seien als Motive in diesem Sinne der Titel κύριος und das Wort ἄρτος (Brot) genannt, die in ganz spezifischer Weise in verschiedenen Kontexten ver‑ wendet und mit denen Grundthemen des Markusevangeliums durchgespielt und entfaltet werden. Manche Schlüsselwörter haben zugleich formative Funktion wie z. B. die Bezeichnung ‚Gottessohn‘, die prominent am Anfang, in der Mitte und am Ende des Evangeliums erscheint.185 181
Vgl. Kühn, Analyse, 75. Vgl. Whittall, Leitmotif, 527. 183 Dewey vergleicht key words explizit mit Leitmotiven (vgl. Dewey, Markan Public De‑ bate, 32). 184 In der exegetischen Literatur begegnet des Öfteren auch die Bezeichnung „Leitmotiv“. Beispielsweise spricht Lührmann vom Hören als Leitmotiv der Gleichnisrede (vgl. Lührmann, Mk, 81) oder nennt Scholtissek im Untertitel seines Buches zur Vollmacht Jesu (Scholtissek, Vollmacht Jesu) diese „Leitmotiv markinischer Theologie“. Ich verwende „Leitmotiv“ nur in ganz spezifischen Fällen (vgl. Kap. II., S. 61), da es als musikalischer Fachausdruck in einen sehr begrenzten stilistischen und gattungsspezifischen Raum gehört und von der Literaturwis‑ senschaft zwar übernommen, aber mit sehr verschiedenen Definitionen belegt wurde (vgl. Lorenz, Leitmotiv, 400). 185 Mk 1,1.11; 9,7; 15,39. 182
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Die vier bisher vorgestellten Kategorien betreffen allesamt werkinterne Wie‑ derholungen, die die Textur einer Komposition generieren. Mit der fünften Klasse des intertextuellen Zitates wird der Rahmen des Werkes überschritten. Hier han‑ delt es sich um Textbausteine, die aus anderen Texten, auch alltagssprachlichen, übernommen wurden. Sie verbinden einen Text mit seinen Kontexten, tragen einiges an Bedeutung aus ihrer ursprünglichen Umgebung in ihn hinein, bilden mit den anderen Fäden des neuen Gewandes aber auch andere Muster und bieten so Raum für Neuinterpretationen. Auch beim Zitieren reicht die Palette der Vari‑ ation von der fast wortwörtlichen Wiedergabe über Abwandlungen des Originals bis hin zu Anspielungen, durch die ein anderer Text nur in Erinnerung gerufen wird. Die Technik des Zitierens ist sowohl in der Sprache als auch in der Musik üblich; für letztere kann exemplarisch die Mode der „L’homme armé“-Messe genannt werden. Die Melodie des gleichnamigen Soldatenliedes lag im 15. und 16. Jahrhundert unzähligen Messkompositionen als Cantus firmus zugrunde.186 Als Hauptquelle für Zitate des Markusevangeliums dient die Septuaginta – Mar‑ kus selbst verweist immer wieder auf das, was ‚geschrieben steht‘ (γέγραπται, 1,2; 7,6; 9,12 f.; 11,17; 14,21.27). Darüber hinaus sind auch Resonanzen zu ande‑ ren Texten bzw. Sprachwelten – z. B. zu der des Kaiserkults – seiner Zeit zu hören, die der Autor aber nicht explizit deklariert. Anders als die vier ersten Kate‑ gorien, die vor allem aufmerksames Hören und in einigen Fällen auch Sprach‑ kenntnisse voraussetzen, können Zitate aus anderen Texten nur auf der Basis von extratextuellem Wissen als Wiederholung erkannt werden. In dieser fünften Kate‑ gorie der Wiederholung schlägt sich also in besonderem Maße die historische Verankerung eines Textes nieder. In der Anwendung der Repetitionsanalyse auf die Exegese des Markusevange‑ liums lassen sich drei wesentliche Punkte festhalten: a) Das Modell der beiden Pole Bekannt – Neu, zwischen denen sich das ganze Spektrum an möglichen Schattierungen aufspannt, bietet einen Rahmen für die Einordnung sämtlicher akustisch wahrnehmbaren, in der Partitur schriftlich fest‑ gehaltenen Textmerkmale. Die Untersuchung der Klanggestalt kann sich auf die Wahrnehmung von Wiederholungen konzentrieren. b) Die Unterscheidung, was und wie wiederholt wird, erlaubt eine präzisere Beschreibung der Phänomene. Die Frage nach der Art des Wiederholten macht deutlich, dass es rein klangliche Textmerkmale gibt, die im Prinzip jeder Hörer erkennen kann, und andere, für die Vorwissen, in erster Linie Sprachkenntnisse, nötig ist. Schon hier zeigt sich, dass die Klanggestalt des Textes nicht losgelöst von seinem historischen Kontext betrachtet werden kann und die Frage nach Sinn und Bedeutung immer im Spiel ist. Diese Kontextualität und Bedeutungshaltig‑ keit eines Textes äußert sich zudem in den intertextuellen Zitaten, deren Erkennen entsprechendes Vorwissen voraussetzt. 186
Vgl. Fallows, L’homme armé, 627.
I.5. Wahrnehmende, auslegende und historische Interpretation
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c) Die Klassifizierung der Wiederholungen in Fortführung von Lidovs System erlaubt, den spezifischen Beitrag der textinternen Wiederholungen zur Klangge‑ stalt zu benennen. Sie sei hier nochmals tabellarisch dargestellt: Kategorie Funktion Phänomene im Markusevangelium Formale Wiederholung
Strukturierung der Komposition
Parallelismen und Ringkompositionen, Tripelepisoden
Fokale Wiederholung
a) Lenkung der Aufmerk- a) Klangspiele, Wortrepetition samkeit auf Einzelheiten auf engem Raum b) Verbindung von Formteilen b) Stichwortverbindungen
Strukturelle Wiederholung
Hintergrund für das eigentliche Geschehen
Καί-Teppich
Motivische Wiederholung
Beitrag zur Darstellung und Entwicklung von Themen
Schlüsselwörter, Motive
Intertextuelles Zitat
Selektiver Import und Bear- beitung von Vorstellungen aus Kon-Texten
Zitate und Anspielungen insbes. aus der Septuaginta
I.5. Wahrnehmende, auslegende und historische Interpretation des Markusevangeliums Am Ende des exegetischen Prozesses steht eine Interpretation, die hier in Form von Grafiken der akustischen Textgestalt, einer Übersetzung und eines Kom‑ mentars vorgelegt wird. Die drei Darstellungsarten sind in Wechselwirkung zueinander entstanden und lassen sich den drei Jauß’schen Lektüren – einer ersten wahrnehmenden, einer zweiten auslegenden und einer dritten histo‑ rischen – zuordnen. Die Entscheidung für dieses hermeneutische Modell hat zur Konsequenz, dass bei der Interpretation die Ästhetik am Beginn steht, auf die sich inhaltliches Verstehen und die Einordnung in den historischen Kontext beziehen. Alle drei Interpretationen können und sollen parallel gelesen werden. In Kap. III zu Mk 1,1 – 4,36a stehen Grafik und Übersetzung jeweils vor dem Kom‑ mentar zu einem Textabschnitt; in Kap. IV, in dem die großen thematischen Linien von Mk 4,35 – 8,22a verfolgt werden, gesammelt am Ende. Der Kommen‑ tar greift vielfach auf die Grafiken zurück, Details der Grafiken erschließen sich durch den Kommentar. Die deutsche Übersetzung spiegelt einerseits das Ringen der Autorin mit den Schwierigkeiten, die sich bei der Wiedergabe von Textgestalt und ‑inhalt im Deutschen ergeben, sie könnte andererseits aber auch als Partitur für eine Aufführung des Evangeliums vor Publikum im Hier und Heute oder für Bibelarbeiten mit Laien dienen. Vielleicht ließe sich an deren Reaktion ablesen,
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
ob der Autorin ihr oben formuliertes Vorhaben187 gelingt, eine Interpretation vor‑ zulegen, die die alten eigen-sinnigen Texte für heutige Ohren „hörbar“ macht.
I.5.1. Grafiken – die Darstellung der akustischen Textgestalt Diese erste Art der Interpretation – es sei daran erinnert, dass die ästhetische Wahrnehmung die deutende Gruppierung von Textsignalen ist188 – ist kein Meta‑ text, sondern eine Transformation des in der Partitur vorliegenden Textes bzw. der Partitur selbst. Es handelt sich dabei um das Experiment, die akustische Gestalt, wie sie mit Hilfe der Repetitionsanalyse aus der schriftlichen Vorlage erarbeitet wurde, in eine visuelle zu „übersetzen“.189 Dies geschieht im Prinzip auch bei Nestle-Aland, wenn der Text mit Lesehilfen – Abstände, Satzzeichen, Akzente, Absätze, Kapitel- und Verszählung – dargeboten wird, beschränkt sich aber auf die innere Struktur von Sprache, auf Grammatik und inhaltliche Zusammen‑ hänge, die zwar für die Gestaltung des Textvortrags eine wichtige Rolle spielt, sich aber auch beim leisen Lesen erfassen lässt.190 Die hier präsentierten Grafiken wollen hingegen die hörbare Textgestalt sichtbar machen, die Inneres und Äuße‑ res, Inhaltliches und Klangliches in sich vereint.
I.5.2. Übersetzung – heutiges Verstehen des Textes in der eigenen Sprache Wie bereits erwähnt,191 lassen sich in der exegetischen Praxis die zweite und dritte Lektüre kaum voneinander trennen. Das zeigt sich auch bei der Überset‑ zung. Es handelt sich dabei um eine Wiedergabe eines antiken griechischen Tex‑ tes im Medium der im Hier und Heute der Exegetin verwendeten deutschen Spra‑ che und damit wie bei den Grafiken um eine transformative Interpretation. Sie fußt auf der Wahrnehmung der ästhetischen Gestalt und soll – deshalb auch die leicht lesbare Seitengestaltung mit kurzen Sinnzeilen und vielen Absätzen – als Partitur für eine heutige Rezitation dienen. Ziel der Übersetzung ist, möglichst viel von der dem griechischen Markusevangelium eigenen hörbaren Gestalt im Deutschen zugänglich zu machen. 187
Vgl. Kap. I.3.3., S. 27 – 29. Vgl. Kap. I.3.2. 189 Sehr ähnlich und doch von anderen Grundüberlegungen ausgehend – kolometrische Gliederung des Textes, Fokus auf einzelne Laute und kürzere Zusammenhänge – arbeiten Näs‑ selqvist und Lee und Scott. Nässelqvist bietet eine grafische Darstellung von Joh 1 – 4, allerdings in kleinen Abschnitten über vier Kapitel verteilt (Nàsselqvist, Public Reading, 181 – 320), Lee und Scott von Mk 15,25 – 41, Phlm, Joh 20, Lk 2,1 – 20, Mt 5 – 7 (Lee / Scott, Sound mapping, 219 f.; 239 f.; 269 – 273; 299 f.; 327 – 336). Einzelne grafische Darstellungen finden sich zudem bei Autoren, die das Interesse an der äußeren Textgestalt teilen (z. B. van Iersel, Mk; Gelardini, Verhärtet eure Herzen nicht; Wick, Philipperbrief; Milgrom, Lev I). 190 Vgl. Lee / Scott, Sound mapping, 135. 191 Vgl. Kap. I.3.2., S. 25. 188
I.5. Wahrnehmende, auslegende und historische Interpretation
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Angestrebt wird, wie meist bei wissenschaftlichen Arbeiten, eine möglichst große formale Äquivalenz192 mit dem Ausgangstext, wobei der besondere Fokus auf der Nähe des deutschen Textes zur griechischen Vorlage in Bezug auf die akustischen Parameter und Textstrukturen liegt. Zugespitzt formuliert könnte man von „ästhetischer Äquivalenz“ sprechen, auf die hier bei der Übersetzung besonderer Wert gelegt wird. Mir ist bewusst, dass dies vor allem wegen der im Deutschen im Vergleich zum Altgriechischen viel regelhafteren Satzstellung eine Gratwanderung zwischen ästhetischer Nähe zum Original und korrekter deut‑ scher Sprache bedeutet. Zudem gilt für praktisch alle Klangphänomene, dass sie nicht von einer Sprache in die andere übertragbar sind. Dennoch sollen auch sie nicht ganz ignoriert werden. Um bei dieser Gratwanderung zwischen ästhetischer Nähe zum griechischen Original und korrektem Deutsch die Absturzgefahr zu verringern, halte ich mich an Regeln,193 die im Folgenden kurz erläutert seien. Gleiche Wörter im Griechischen werden, wenn immer möglich, durch gleiche Wörter im Deutschen übersetzt. Wenn Wortwiederholungen als solche erkenn‑ bar sein sollen, ist darauf zu achten, dass ein Lemma oder auch eine Wortfami‑ lie konsistent wiedergegeben werden. So werden etwa ἡ ἔρημος (1,3.4.12.13), ἔρημος τόπος (1,35.45; 6,31.32), ἔρημος (6,35) und ἡ ἐρημία (8,14) mit ‚Ein‑ öde‘, ‚einsamer Ort‘, ‚öde‘ und ‚Einöde‘ übersetzt, um diesen Gleichklang in etwa abzubilden. Σπόριμοι werden zu ‚Saaten‘ und nicht zu ‚Kornfeldern‘ (Luther 2017, Zürcher, Menge), damit der Zusammenhang mit ‚Säen‘ (σπείρειν, 4,3.4.14.15.16.18.20.31.32) und ‚Same‘ (σπόρος, σπέρμα, 4,26.27.31) gewahrt bleibt. Nicht immer ist diese Regel in aller Konsequenz anwendbar. So müs‑ sen z. B. beim so häufig zu Beginn und am Ende eines Abschnittes gesetzten ἔρχεσθαι im Deutschen die unterschiedlichen Perspektiven von ‚kommen‘ und ‚gehen‘ berücksichtigt werden. Satzkonstruktionen, die im Griechischen Brüche aufweisen, werden bei der Übersetzung nicht geglättet. Leise gelesen, werden Konstruktionen wie ‚und es kommt seine Mutter und seine Geschwister‘ (3,31) zu grammatikalisch falschen Gebilden. Im lauten Vortrag lässt sich dieser Satz aber so gestalten (z. B. indem durch eine Pause nach ‚Mutter‘ deutlich gemacht wird, dass die ‚Geschwister‘ nachträglich erwähnt werden), dass er problemlos verstanden werden kann und der Singular der Verbform auch nicht als Fehler wahrgenommen wird (vgl. z. B. auch 1,7; οἶδά σε τίς εἶ in 1,24 und 6,22a). Gleiches gilt für nicht vollendete Sätze wie z. B. in 7,2 (eine Partizipialkonstruktion, die von einem Hauptsatz abhängen müsste, der aber nicht folgt). Beim Vortrag ist es gut möglich, hier mit einem 192
Vgl. zu den verschiedenen Übersetzungstypen Egger / Wick, Methodenlehre, 92 – 95. Sehr ähnlich, wenn auch nicht ganz deckungsgleich, sind die Leitlinien, die sich Mary Phil Korsak und auch David Rhoads, Joanna Dewey und Donald Michie für ihre Übersetzun‑ gen des Markusevangeliums ins Englische gegeben haben (vgl. Korsak, Glad News, 129 – 132; Rhoads / Dewey / Michie, Mark as Story, 2 f.). 193
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
Nebensatz zu beginnen und diesen für die Erklärung 7,3 f. abzubrechen und in 7,5 neu einzusetzen (vgl. z. B. auch 3,3; 5,23). Gedankenstriche kennzeichnen solche Stellen und sollen dem Vortragenden als Signal dienen, dass hier bei der Interpretation besondere Aufmerksamkeit gefordert ist, um dem Publikum Ver‑ stehen zu ermöglichen. Ein wesentliches Charakteristikum des Textes sind die vielen Verben mit implizitem Subjekt und Personalpronomen ohne eindeutigen Bezug auf eine Person bzw. auf eine Personengruppe, so dass in etlichen Fällen nicht auf Anhieb klar ist, von wem die Rede ist (vgl. z. B. der nicht explizite Subjektwechsel in 1,45 oder die Frage danach, um wessen Haus es sich in 2,15 handelt). Diese Vagheit wird belassen und nicht versucht, wie in den gängigen Übersetzungen oft zu beobach‑ ten,194 durch explizite Benennung von Personen klare Verhältnisse zu schaffen. Klangspiele und rhythmische Besonderheiten sind Textphänomene, die der Musik am nächsten kommen. Sie lassen sich naturgemäss nicht „übersetzen“, allenfalls kann versucht werden, in der Zielsprache bestimmte Passagen mit den dort vorhandenen Mitteln klanglich hervorzuheben. Beispiele dafür sind 1,1, wo durch die Formulierung (z. B. ‚von Jesus Christus‘ statt ‚Jesu Christi‘) eine Häu‑ fung von Endungen auf ‑s erreicht wird (im Griechischen Häufung auf ‑ου) oder auch die Aneinanderreihung von Relativsätzen zur Vorstellung der blutflüssigen Frau (5,25 – 27, im Griechischen Aufzählungscharakter und Häufung der femini‑ nen Partizip-Endung ‑ου[σα]σα). Eine schwierige Frage ist die nach dem Umgang mit den griechischen Tempora. Zum einen ist über die Wiedergabe des historischen Präsens zu entschei‑ den. Zwar kennt auch das Deutsche bei Erzählungen die Verwendung des Prä‑ sens, doch wird es anders eingesetzt als im Griechischen. Im Deutschen dient es normalerweise dazu, bestimmten Ereignissen Unmittelbarkeit zu verleihen. Wenn das Tempus innerhalb einer Erzählung wechselt, wird eine ganze Passage im Präsens erzählt. Im Markusevangelium dient es hingegen primär als Aufmerk‑ samkeitsmarker195 und dementsprechend sind es zumeist nur einzelne Sätze, in Einzelfällen sogar nur Halbsätze,196 in denen Präsens- statt Vergangenheitsfor‑ men verwendet werden. Im Deutschen akkurat wiedergegeben, stiften diese Tem‑ puswechsel Verwirrung. Korsak benutzt in ihrer Übersetzung konsequent Prä‑ sens, Rhoads, Dewey und Michie konsequent Vergangenheitsformen. Obwohl ich Ersteres in seiner Wirkung – Lebendigkeit und Tempo des Markusevange liums kommen noch mehr zur Geltung – sehr überzeugend finde, habe ich mich für die konventionellere zweite Variante entschieden, da im Griechischen in den erzählerischen Anteilen doch zum größten Teil Vergangenheitsformen vorherr‑ schen. Zum zweiten steht eine Übersetzerin eines altgriechischen Textes immer vor dem Problem, dass die griechischen Verbformen nicht nur temporale, sondern 194
Vgl. z. B. die Übersetzung von Mk 1,45 in Luther 2017, Zürcher, Menge. Vgl. Siebenthal, § 197d; Runge, Discourse Grammar, 133 – 137. 196 Vgl. z. B. 2,16; 3,32. 195
I.6. Einleitungsfragen
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auch aspektbezogene Bedeutung haben. Letztere kann im Deutschen meistens nur durch umschreibende Zusätze („fing an zu . . .“, „einmalig“, „wiederholt“, „anhaltend“, „generell“ etc.) wiedergegeben werden. Um zu vermeiden, dass der Text schwerfällig wird, werde ich, im Bewusstsein des Verlusts einer Bedeu‑ tungsebene, auf solche Zusätze verzichten.
I.5.3. Kommentar – damaliges Verstehen und Zusammenschau der drei Lektüren Ein Kommentar, ein erläuternder Metatext, ist die klassische Form der Interpre‑ tation von biblischen Büchern. In dieser Tradition steht auch die vorliegende Arbeit; sie untersucht auf der Basis der Grafiken den Text als Werk, das in einem bestimmten historischen Kontext entstand und seine ersten Rezipientinnen fand. Der Fokus liegt dabei auf Analyse und Interpretation der oral / auralen Textge‑ stalt und deren besonderen strukturellen und klanglichen Eigenheiten. Dabei kommen drei verschiedene Einstellungen zur Anwendung: Die Auslegung zu Mk 1,1 – 4,36a wird, sozusagen durchs Teleobjektiv, in herkömmlicher detaillier‑ ter Kommentarform geboten (Kap. III). Diejenige zu Mk 4,35 – 8,22a (Kap. IV) nimmt den Text aus mittlerer Distanz wahr und konzentriert sich darauf, die bei‑ den großen thematischen Linien weiterzuverfolgen, die in sich in der Exegese von 1,1 – 4,36a herauskristallisierten. Beidem voran steht ein Überblick über das ganze Evangelium in Weitwinkelperspektive (Kap. II). Die Interpretation in Kommentarform wird abgerundet durch ein Kapitel (Kap. V.), in dem die Ergeb‑ nisse der Exegese im Sinne der Jauß’schen historischen Lektüre daraufhin befragt werden, welche Rolle der Text in seiner ursprünglichen Kommunikationssitu‑ ation gespielt haben könnte, welchen formalen Konventionen er folgt, um auf Sinnfragen seiner ersten Hörer eine bestimmte Antwort zu geben.197 Nicht zuletzt kommt im Metatext „Kommentar“ die Synthese der drei ja nicht einfach chronologisch aufeinander folgenden, sondern in Wechselwirkung zuei‑ nander stehenden drei Interpretationsformen198 zur Geltung, indem ästhetische, semantische und historische Perspektive aufeinander bezogen werden und ihr Zusammenspiel beschrieben und interpretiert wird.
I.6. Auf der Schwelle zur Auslegung: Einleitungsfragen Zu den theoretischen Grundlagen ist nun eigentlich alles gesagt, um mit der Exe‑ gese beginnen zu können. Es gilt jedoch noch einen Bereich zu erwähnen, der weder recht zum ersten noch zum zweiten großen Kapitel gehört, sondern sich in einer Art Niemandsland dazwischen befindet. Dieses strukturelle Phänomen 197 198
Vgl. Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 478. Vgl. Kap. I.3.1., S. 23.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
findet sich auch im Markusevangelium, dort werde ich solche Passagen „Schar‑ niere“ nennen.199 Während bei Markus die „Scharniere“ für den inhaltlichen Fort‑ gang entscheidend und kunstvoll mit den Hauptteilen verwoben sind, möchte ich hier, auf der Schwelle zur Auslegung, lediglich noch Rechenschaft über meine Positionierung bezüglich der Einleitungsfragen zum Markusevangelium ablegen.
I.6.1. Klassifizierung der Einleitungsfragen Das, was klassischerweise unter Einleitungsfragen verhandelt wird, lässt sich grob in drei Bereiche teilen: Es sind zum Ersten die Fragen nach dem histori‑ schen Kommunikationszusammenhang eines bestimmten Textes, also die Fragen nach dem Autor und den Empfängern oder auch der „Trägerschaft“, nach Ort und Zeit der Abfassung bzw. der Erstrezeption. Zum Zweiten sind dies Fragen nach der Textüberlieferung und damit verbunden nach der literarischen Integrität des Textes. Schließlich gehören auch noch die Charakteristika eines bestimmten Textes zu den Einleitungsfragen, also die Fragen nach seiner Gliederung, seinem Stil, seiner Christologie und Theologie, in weiterem Sinne auch nach seiner Anth‑ ropologie und Weltsicht. Die Fragen nach dem historischen Kommunikationszusammenhang im oben genannten klassischen Sinne interessieren aus der gewählten Perspektive vor allem hinsichtlich der Pragmatik des Textes (I.6.2). Zur materialen Textüberlieferung wurde bereits im Kapitel I.4.1. das Wesentli‑ che gesagt; offen ist noch deren Auswertung für die Beurteilung der literarischen Integrität des Markusevangeliums, die in Bezug auf seinen Schluss zu diskutieren ist (I.6.3.). Die zur dritten Gruppe von Einleitungsfragen zusammengefassten Charakte‑ ristika des Markusevangeliums sind zentrale Aspekte der vorliegenden Arbeit. Der Gliederung des Evangeliums ist zu Beginn des Kommentars ein eigenes Kapitel gewidmet (II.); die Stilfrage wurde bereits angesprochen (I.2.2.2.; I.4.2.); sie durchzieht zudem die ganze Exegese. Letzteres gilt auch für die inhaltlichen Hauptlinien Christologie und Nachfolge; sie werden gegen Ende des Kommen‑ tars zusammengefasst (IV.3.6.; IV.4.5.), auf ihre Funktion im ursprünglichen Kommunikationszusammenhang hin befragt (V.) und ganz am Schluss (VI.3.) nochmals aufgenommen.
I.6.2. Zum historischen Kommunikationszusammenhang Es ist üblich, dass exegetische Arbeiten, insbesondere Kommentare, eine real-his‑ torische Verortung des untersuchten Textes bieten. Aus der gewählten Perspektive auf das Markusevangelium als „Werk“ ist jedoch zu fragen, inwiefern – ja immer nur hypothetisch konstruierbare – konkrete Daten nötig sind für die Interpretation 199
Vgl. Kap. II., S. 60.
I.6. Einleitungsfragen
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und das Verständnis des Werkes. Komme ich zu anderen Schlüssen hinsichtlich der Theologie, der Christologie oder auch des Jüngerbildes, wenn ich von einer Abfassung in Syrien statt in Rom, vor statt nach der Tempelzerstörung ausgehe? Ich denke nicht.200 Natürlich ist eine grobe Einordnung in den historischen Kon‑ text wichtig, um einen Text angemessen verstehen zu können. Für eine solche orientiere ich mich an dem, worüber mehr oder weniger Konsens besteht; dieser sei in aller Kürze skizziert: Die Identifikation des Verfassers mit einer bestimmten historischen Person, ver‑ mutlich namens Markus, ist nicht möglich;201 die altkirchliche Tradition, die den Evangelisten Markus mit Petrus verbindet, wird meistens nicht als historisch ver‑ lässlich eingeschätzt, sondern als Versuch, dem Werk durch die Rückführung auf Petrus Autorität zu verleihen.202 Aus der Perspektive der Oralitätsforschung sind diese Darstellungen der Entstehung des Markusevangeliums dennoch interessant, da sie Hinweise darauf geben, welche oralen Prozesse in der Antike vorstellbar waren. Exemplarisch sei dafür der früheste Beleg genannt, die von Euseb überlieferte „Papias-Notiz“, die vermutlich an den Anfang des 2. Jahrhunderts zu datieren ist.203 Dort wird Markus in Anknüpfung an 1 Petr 5,13204 als ‚Übersetzer‘ des Apostels porträtiert: Καὶ τοῦτο ὁ πρεσβύτερος ἔλεγε· Μάρκος μὲν ἑρμηνευτὴς Πέτρου γενόμενος, ὅσα ἐμνημόνευ‑ σεν, ἀκριβῶς ἔγραψεν, οὐ μέντοι τάξει τὰ ὑπὸ τοῦ Χριστοῦ ἢ λεχθέντα ἢ πραχθέντα· οὔτε γὰρ ἤκουσε τοῦ Κυρίου, οὔτε παρηκολούθησεν αὐτῷ, ὕστερον δέ, ὡς ἔφην, Πέτρῳ, ὃς πρὸς τὰς χρείας ἐποιεῖτο τὰς διδασκαλίας, ἀλλ’ οὐχ ὥσπερ σύνταξιν τῶν κυριακῶν ποιούμενος λογίων· ὥστε οὐδὲν ἥμαρτε Μάρκος, οὕτως ἔνια γράψας ὡς απεμνημόνευσεν. Ἑνὸς γὰρ ἐποιήσατο πρόνοιαν, τοῦ μηδὲν ὧν ἤκουσε παραλιπεῖν, ἢ ψεύσασθαί τι ἐν αὐτοῖς. (Eus. h. e. 3.39.15) ‚Und dies sagte der Presbyter: Markus, der der Übersetzer des Petrus geworden war, schrieb (alle) Worte und Taten Christi, an die er sich erinnerte, genau auf, wenngleich nicht der Reihe nach. Er hatte weder den Herrn (selbst) gehört noch war er ihm nachgefolgt, sondern später, wie ich sagte, dem Petrus, der die Lehrvorträge unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten hielt, also nicht wie im Zusammenhang der Worte des Herrn205. Daher hat Markus nicht gesündigt, 200 Ähnlich z. B. auch France, Mk, 35; Guelich, Mk I, xxxii; Hübenthal, Markusevan‑ gelium, 72. Bauckham postuliert, die genaue Verortung in einer „evangelist’s community“, die aufgrund der Quellenlage sowieso nicht möglich sei, sei „of no hermeneutical value“ (Bauckham, For whom, 45). Der historische Kontext der Evangelien sei adäquat beschrieben mit „the early Christian movement in the late first century.“ (a. a. O., 46). 201 Vgl. z. B. France, Mk, 35; Pesch, Mk I, 11; van Iersel, Mk, 30; Gnilka, Mk I, 32; Schweizer, Mk, 8; Marcus, Mk, 24; Schnelle, Einleitung, 241. 202 Vgl. Lührmann, Mk, 5; van Iersel, Mk, 31; Collins, Mk, 4; Gnilka, Mk I, 32; Marcus, Mk I, 22; Fowler, Let the reader, 63. Anders Gundry, der von der Zuverlässigkeit der Papias-Notiz ausgeht (vgl. Gundry, Mk, 1034) und zudem den dort erwähnten Markus, „Peter’s ‚interpreter‘“, mit Johannes Markus aus der Apostelgeschichte (Apg 12,12.25; 13,13; 15,37.39) identifiziert, der auch an allen anderen Stellen gemeint sei, an denen im Neuen Testament der Name Markus erwähnt wird (Phil 24; Kol 4,10; 2 Tim 4,11; 1 Petr 5,13). 203 Vgl. Körtner, Papias, 641. 204 Vgl. Eus. h. e. 2.15.2. 205 Was mit den λόγια κυριακά gemeint ist – z. B. Worte Jesu, bestimmte seiner Reden, die aus anderen Evangelien bekannt sind, im Markusevangelium aber fehlen, oder auch Erzählun‑ gen über Jesus –, muss offen bleiben.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
als er einiges aufschrieb, wie er sich erinnerte. Er gab nämlich auf eines acht: nichts auszulassen von dem, was er gehört hatte, und davon nichts falsch wiederzugeben.‘ Das Markusevangelium wird von Papias als Text dargestellt, der zuerst als mündlicher Vortrag konzipiert und gehalten und erst sekundär schriftlich fixiert wurde. Ob man es damals für realis‑ tisch hielt, dass ein Zuhörer nach einem langen Vortrag alles wortwörtlich aufschreiben konnte, sei dahin gestellt. Vermutlich aber widersprachen kleinere Abweichungen vom Wortlaut einer damaligen Vorstellung von einer „genauen Wiedergabe“ nicht,206 solange sie inhaltlich verläss‑ lich war und nicht ‚gelogen‘ (ψεύσασθαι) wurde. Interpretationsspielraum bietet die Aussage, Petrus habe seine Vorträge unter Berücksichtigung der ‚Notwendigkeiten‘ gehalten und daher die Herrenworte (und ‑taten) nicht im richtigen Zusammenhang wiedergegeben. Dies könnte in apologetischer Absicht gesagt sein, um die im Vergleich mit anderen Evangelien „falsche“ Reihenfolge oder auch mangelnde Vollständigkeit zu rechtfertigen.207 Vorstellbar ist aber auch, dass Petrus gar nicht alles am Stück vorgetragen hatte (‚nicht im Zusammenhang der Worte des Herrn‘), sondern erst Markus die einzelnen Predigten (διδασκαλίαι, Pl.) des Petrus zu einem Ganzen zusammengefügt hatte.208 Bemerkenswert ist jedoch insbesondere, dass die Anpassun‑ gen mit ‚Notwendigkeiten‘ begründet werden. Hier liegt die Annahme nahe, dass es sich um die Beachtung der Rahmenbedingungen des mündlichen Vortrags handelt: Manches muss um der Verständlichkeit willen vereinfacht werden, insgesamt darf der Vortrag nicht zu lang werden, trotzdem wird vielleicht manches besonders anschaulich erzählt – damit wären wichtige Cha‑ rakteristika des Markusevangeliums schon benannt.
In meiner Exegese werde ich den Namen „Markus“ zur Bezeichnung der Autor‑ schaft des Evangeliums verwenden. Eine Aussage über die Identität des Autors oder allenfalls auch der Autorin ist damit nicht gemacht, sondern nur, dass im Text eine gestaltende, aussagewillige Kraft erkennbar ist, die dieses Werk her‑ vorgebracht hat, sei es eine Einzelperson oder auch ein Kollektiv im Sinne einer „Gedächtnisgemeinschaft“209, bei der sich die Seiten der Produktion und Rezep‑ tion des Textes kaum auseinanderdividieren lassen. Zur Datierung (und zum Teil auch zur Verortung) des Evangeliums werden hauptsächlich die in der Endzeitrede geschilderten Kriegs- bzw. Verfolgungsszena‑ rien (13,6 – 22)210 sowie die von Jesus angekündigte Zerstörung des Tempels (13,2) herangezogen. Die Vorschläge hinsichtlich des Zeitpunkts der Entstehung bewe‑ gen sich überwiegend in der Spanne von Mitte der sechziger211 bis Anfang der siebziger Jahre des 1. Jahrhunderts n. Chr., umfassen also die Zeit Neros in Rom bis zum Ende des Jüdischen Krieges. Je nachdem, wie die in Kap. 13 dargestellten Ereignisse interpretiert werden, ergibt sich ein Datum vor oder nach der Tempel‑ 206
Vgl. Thomas, Literacy, 160.162. Vgl. Pesch, Mk I, 5 f. 208 Auch diese Lesart liegt im Interpretationsspielraum des Euseb-Textes. 209 Hübenthal, Markusevangelium, 72; an anderer Stelle auch „Erzählgemeinschaft“ (a. a. O., 165.226 et passim). 210 Bedrängnis und Verfolgung werden auch schon in der Gleichnisrede angesprochen (4,17). 211 Wie schon mit seiner These zur Autorschaft, so vertritt Gundry durch seine konsequente Orientierung an der Papias-Notiz auch mit seiner Frühdatierung des Markusevangeliums auf 60 – 62 n. Chr. eine dezidiert eigene Meinung (vgl. Gundry, Mk, 1042). 207
I.6. Einleitungsfragen
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zerstörung im Jahr 70.212 Weitgehende Einigkeit besteht jedenfalls bezüglich der groben zeitlichen Einordnung und auch darüber, dass die im Text erwähnten Not‑ situationen die Erfahrungen derer widerspiegeln, für die er geschrieben wurde.213 Als mögliche Orte der Abfassung bzw. der Erstrezeption werden v. a. Rom oder östliche Provinzen des römischen Reiches genannt, letztere entweder ohne konkrete Spezifizierung214 oder unter Festlegung z. B. auf Syrien,215 Galiläa,216 die Dekapolis oder auch Kleinasien.217 Rom, von der altkirchlichen Tradition fast einmütig218 als Abfassungsort des Markusevangeliums genannt,219 wird auch heute vielfach als solcher postuliert.220 Oft werden die vielen Latinismen – Über‑ nahme von Vokabular und manchen Formulierungen, grammatikalische Ein‑ flüsse – im markinischen Griechisch als ein wichtiges Argument für eine römi‑ sche Herkunft genannt,221 doch wurden diese im Laufe der Kaiserzeit im ganzen Gebiet des römischen Reiches in der Koine üblich, weisen also nicht auf eine nur im Westen gepflegte sprachliche Besonderheit.222 Daher folge ich in diesem Punkt Schweizer: „So können wir nur mit Sicherheit sagen, daß das Evangelium irgendwo im römischen Imperium [. . .] geschrieben wurde [. . .].“223 Genauso wenig ist eine Entscheidung darüber möglich, wo das Evangelium zum ersten Mal gehört wurde. Zudem kann mit Bauckham gefragt werden, ob die Evange‑ lien überhaupt für bestimmte Gemeinden konzipiert wurden oder nicht eher für einen weiteren Hörerkreis – „the members of any and every Christian community of the late first century to which [a] Gospel might circulate“224 – gedacht waren. Der Text selbst gibt einige Hinweise auf seine intendierten Hörer, deren Eigen‑ schaften und auch deren Situation mit den realen Ersthörerinnen etwas zu tun 212
Eine Auflistung der Vertreter der beiden etwa gleich starken Lager bezüglich der Datie‑ rung bietet van Iersel, 46, Anm. 44. Marcus hält es nicht für möglich, sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden (vgl. Marcus, Mk I, 38 f.; ähnlich auch Lührmann, Mk, 6). 213 Vgl. Collins, Mk, 102; van Iersel, Mk, 40 f.; Marcus, Mk I, 28 f; Guelich, Mk I, xIiii; Dschulnigg, Mk, 56. 214 So etwa Collins, Mk, 10. 215 So z. B. Marcus, Mk I, 36, und, in vorsichtiger Formulierung der genaueren Ortsan‑ gabe, Lührmann, Mk, 7. 216 Nur selten wird Galiläa als Entstehungs- und Rezeptionsort vorgeschlagen (eine Zusam‑ menstellung der Vertreterinnen und Vertreter dieser These und ihrer Argumente bietet Winn, Purpose of Mark’s Gospel, 83 – 86). 217 Schnelle selbst favorisiert Kleinasien (vgl. Schnelle, Einleitung, 243) und bie‑ tet zudem eine Übersicht über die Vertreter der anderen Lokalisierungen (vgl. a. a. O., 242, Anm. 190 – 193). 218 Johannes Chrysostomos nennt Ägypten (Chrys hom. in Mt 1,3). 219 Vgl. z. B. Lührmann, Mk, 5; van Iersel, Mk, 31. 220 Vgl. z. B. Gundry, Mk, 1043 – 1045; Pesch, Mk I, 12 f.; van Iersel, Mk, 33 – 43. 221 Vgl. z. B. van Iersel, Mk, 33 – 35; Gnilka, Mk I, 34. 222 Vgl. Horrocks, Greek, 126 – 132. Horrocks verweist u. a. darauf, dass nicht nur in den Bereichen Militär, Verwaltung und Handel Vokabular lateinischen Ursprungs im Griechischen übernommen wurde (vgl. a. a. O., 127 f.). 223 Schweizer, Mk, 9. 224 Bauckham, For whom, 10.
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Kapitel I: Theoretische Grundlagen
haben müssen, wenn die Kommunikation gelingen soll. Diese pragmatischen Aspekte – wie holt der Text seine Hörerinnen ab, welche Identifikationsangebote macht er, welche Themen oder auch Probleme werden angesprochen, welche Handlungsanweisungen sind erkennbar etc. – werden im Laufe der Exegese immer wieder angesprochen; gegen Ende ist ihnen ein eigenes Kapitel (V.) gewidmet. Hier seien nur erste Eckpunkte zur Orientierung genannt: Der Anfang des Markusevangeliums mit seiner selbstverständlichen Verwendung einer Insider‑ sprache225 legt nahe, dass primär an ein Publikum gedacht ist, das bereits der Bewegung der Christusgläubigen angehört, und weniger an Menschen, die erst dafür gewonnen werden sollen.226 Die prominenten Rollen, die immer wieder heidnischen Figuren227 zugewiesen werden, und die Tatsache, dass jüdische Bräuche erklärt228 und hebräische und aramäische Floskeln übersetzt229 werden, sprechen für ein überwiegend heidenchristliches Publikum.230 Die oben erwähnte Notsituation stellt den Glauben in Frage. Für Christusgläubige scheinbar Selbst‑ verständliches muss unter diesen Voraussetzungen (neu) durchbuchstabiert wer‑ den:231 Wer ist dieser Jesus Christus? Was heißt es, ihm nachzufolgen – oder grundsätzlicher: Wer kann ihm überhaupt nachfolgen? Diese beiden Grundfragen bestimmen das Markusevangelium.
I.6.3. Literarische Integrität? Die Frage nach dem Markusschluss In der neutestamentlichen Wissenschaft besteht ein weitgehender Konsens,232 dass der ursprüngliche Text mit dem ἐφοβοῦντο γάρ in 16,8 endet und sowohl die breit bezeugten und kanonisch gewordenen V. 16,9 – 20 als auch andere im Anhang an 16,8 überlieferte Schlüsse sekundäre Hinzufügungen sind.233 Der sogenannte „lange Schluss“ erweist sich als Kompilation von Elementen aus den anderen drei Evangelien und der Apostelgeschichte, durch die der Markustext mit Begegnungen mit dem Auferstandenen, einem Missionsbefehl (inkl. dessen Umsetzung) und der Himmelfahrt Jesu an jene angeglichen wurde. 225
Vgl. Kap. III.1.2., S. 78.80 et passim. Vgl. Guelich, Mk I, xIiii; Hübenthal, Markusevangelium, 68; Shiner, Performing, 51. Anders z. B. Gundry: „Mark’s taking for granted little if any knowledge of Jesus [. . .] favors that Mark writes apologetically [. . .] to convert non-Christians despite of the Cross [. . .].“ (Gundry, Mk, 1026). 227 Z. B. der Besessene von Gerasa (5,1 – 21), die Syrophönizierin (7,24 – 31a), der Haupt‑ mann unter dem Kreuz (15,39). 228 Vgl. 7,2 – 4; 14,21; 15,42. 229 Vgl. 5,41; 7,11.34. 230 Vgl. Schnelle, Einleitung, 244; van Iersel, Mk, 50; Gnilka, Mk I, 34; Schweizer, Mk, 9. 231 So auch Luz, Hermeneutik, 423. 232 Vgl. z. B. Collins, Mk, 781; France, Mk, 685; Lührmann, Mk, 268; Pesch, Mk I, 40; van Iersel, Mk, 507; Guelich, Mk I, xxxvii. 233 Eine Übersicht über die verschiedenen Schlüsse bietet Pesch, Mk I, 41 – 43. 226
I.6. Einleitungsfragen
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Ebenso konnten sich die Thesen, ein ursprünglicher Schluss sei verloren gegangen oder der Autor hätte sein Werk nicht vollenden können, nicht durch‑ setzen.234 Wichtigstes Argument für ein Ende mit 16,8 ist der textkritische Befund; die beiden ältesten Zeugen mit dem vollständigen Text des Markusevangeliums, die Codices Vaticanus und Sinaiticus (4. Jh.), bieten den Text in dieser Weise, ebenso verschiedene frühe Übersetzungen und die Kirchenväter Hieronymus und Euseb. Die Minuskel 304 aus dem 12. Jahrhundert zeigt, dass diese Lesart über Jahrhun‑ derte hinweg tradiert wurde. Zudem spricht die Einheitlichkeit der Textüberlie‑ ferung bis 16,8 und die Existenz sehr unterschiedlicher Varianten im Anschluss daran für ein ursprüngliches Ende mit dem Ende des einheitlich überlieferten Textes. Die unterschiedlichen Fortschreibungen lassen sich als wiederholter Versuch plausibilisieren, dem – insbesondere seitdem die anderen Evangelien bekannt waren – als defizitär empfundenen Markusschluss ein adäquates Ende zu verleihen. Für die These, eine bestimmte der Varianten sei ursprünglich, wurde von manchen weggelassen und von anderen in unterschiedlicher Weise ersetzt, lässt sich hingegen kaum eine einleuchtende Begründung finden. Der Text endet zwar offen und mit dem ἐφοβοῦντο γάρ auch abrupt, ist aber als Erzählung des ‚Anfangs des Evangeliums‘ (1,1)235 in sich schlüssig.236 Ein auffälliges Merk‑ mal verbindet zudem die Coda mit der Ouvertüre: Sowohl der Anfang als auch der Schluss des Evangeliums zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen, mit denen Jesus im Rest des Evangeliums interagiert, nicht auftreten: die Jünger, die ‚Leute‘ (ὁ ὄχλος) und die Gegner Jesu.237 In der Coda werden stattdessen neue Personen eingeführt. Auf der Grundlage des Jauß’schen hermeneutischen Modells gibt es ein weite‑ res Argument, das über die in der Textkritik üblichen hinausgeht: das der „erfüll‑ ten Form“.238 Die Struktur des Markusevangeliums, wie sie im nächsten Kapi‑ tel (II.) dargestellt wird, kann als „erfüllt“ bezeichnet werden. Sowohl das Ganze in seiner Symmetrie239 – die Coda bildet dabei bzgl. ihres Umfangs ein ausgewo‑ genes Pendant zur Ouvertüre und ist wie sie vom Hauptkorpus des Werkes abge‑ setzt – als auch die interne Struktur der Coda sind nicht von fragmentarischem Charakter, sondern erschließen sich der ästhetischen Wahrnehmung als formal verständliche Einheiten.240 234 Vgl. Pesch, Mk I, 44. Gundry hingegen ist davon überzeugt, dass der ursprüngliche Schluss verloren ging (vgl. Gundry, Mk, 1009 – 1021). Schnelle formuliert etwas vorsichtiger, es müsse „ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass der ursprüngliche Markus‑ schluss verlorenging“ (Schnelle, Einleitung, 249; ähnlich auch Schweizer, Mk, 203). 235 Vgl. Erläuterungen zu ἀρχή in 1,1 (Kap. III.1.2., S. 77 f.). 236 Vgl. zu 15,40 – 16,8 Kap. II., S. 67. 237 Zum Befund in der Ouvertüre vgl. Kap. III.1.6., S. 109. 238 Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 477. 239 Vgl. Abb. 1, S. 62. 240 Vgl. Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 475.
Kapitel II
Die Struktur des Markusevangeliums Unzählige Versuche wurden bereits unternommen, das Markusevangelium zu gliedern.1 In der Kommentar- und Einleitungsliteratur werden einige markante Einschnitte von vielen in ähnlicher Weise wahrgenommen,2 z. B. bei 8,27 mit dem folgenden Christusbekenntnis des Petrus, bei 11,1 mit dem Einzug in Jeru‑ salem oder auch bei 14,1 mit dem Beginn der Passionsgeschichte. Darüber hinaus aber – insbesondere in Bezug auf die Gliederung der in diesem Band zu kom‑ mentierenden Kapitel 1,1 – 8,22a – divergieren die Ansichten so sehr, dass manch einer sich fragt, ob der Autor des Markusevangeliums seinem Text überhaupt eine Struktur verliehen hat.3 Wie Larsen zeigt, resultiert die Fülle an unterschiedlichen Ergebnissen zu wesentlichen Teilen aus der Tatsache, dass in der Forschung kein Konsens darüber besteht, nach welchen Kriterien – nach theologischen Themen, Orts- und Zeitwechseln, narrativen Einheiten, formalen Textsignalen etc. – gegliedert wer‑ den soll.4 Dieses Dilemma kann auch der vorliegende Kommentar nicht lösen, da auch er einen bestimmten Schwerpunkt setzt, indem er die hörbare Textgestalt zum Ausgangspunkt nimmt. Etwas enttäuschend ist es zunächst, dass sich offensichtlich auch bei der Kon‑ zentration auf bestimmte Kriterien nicht automatisch ähnliche Ergebnisse ein‑ stellen. Auf dem Gebiet der Oralitätsforschung sind zur Gliederung des Markus evangeliums zwei Vorschläge gemacht worden, die sich auf den ersten Blick diametral entgegenstehen: Dewey behauptet, das Markusevangelium entziehe sich einer Gliederung und ähnle aufgrund seiner vielfältigen sich überschneiden‑ den internen Bezüge dem verschlungenen Muster auf einem orientalischen Tep‑ pich oder einer Fuge. Sie führt dies auf orale Kompositionstechniken zurück.5 Shiner hingegen postuliert mit der gleichen Begründung ein klares symmetri‑ sches Grundgerüst mit einer weiteren Unterteilung der großen Abschnitte jeweils in Dreiergruppen.6 Dass sich das strenge musikalische Kompositionsprinzip der 1
Einen guten Überblick bietet Larsen, Structure. Vgl. a. a. O., 144. 3 Vgl. a. a. O., 144. Beides – die mehrheitliche Übereinstimmung bei den genannten mar‑ kanten Einschnitten und die Verschiedenheit darüber hinaus – lässt sich auch in den Kommen‑ taren beobachten. 4 Vgl. a. a. O., 144, 158. 5 Vgl. Dewey, Mark as Interwoven Tapestry, 234. 6 Shiner, Memory Technology, insbes. 158 f. 2
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Kapitel II: Die Struktur des Markusevangeliums
Fuge7 mit seiner Konzentration auf ein gleichbleibendes Thema und mit seinen klar erkennbaren Formteilen tatsächlich eignet, um das von Dewey intendierte Bild des Markusevangeliums zu zeichnen, bezweifle ich. Dennoch, Dewey arbei‑ tet ein wesentliches Merkmal des Markusevangeliums heraus: Die textinternen Bezüge sind mannigfaltig und folgen nicht einem einfachen linearen Prinzip. Gleichzeitig sind für mich die von Shiner beschriebenen Grundstrukturen offen‑ sichtlich; meine eigene Gliederung unterscheidet sich von der seinen nur in weni‑ gen Punkten. Die beiden so gegensätzlich anmutenden Darstellungen von Dewey und Shiner sind jedoch nicht unvereinbar, sondern ergänzen sich und lassen sich von der Oralität her verstehen: Nicht nur beim Komponieren und Memorieren,8 sondern auch beim Hören ist ein klares Raster eine große Hilfe, um sich in einem Werk zurechtzufinden. Gehalten von einem solchen Gerüst ist eine Hörerin in der Lage, die Vielfalt der weiteren Bezüge wahrzunehmen, ohne den Zusam‑ menhang zu verlieren. Zudem gibt es auch im Gerüst „Scharniere“ – Passagen zwischen den Hauptteilen, die diese miteinander verbinden, indem sie Elemente vom Vorhergehenden und vom Folgenden beinhalten. Die Idee der Scharniere (engl. ‚hinges‘) habe ich von van Iersel übernommen, dessen Grobgliederung der meinen ebenfalls sehr nahe steht.9 Er verwendet diese Bezeichnung nur für zwei ganz kurze Übergänge,10 ich hingegen generell für Passagen, deren Funktion es ist, Abschnitte miteinander zu verbinden. Ein Phänomen, für das die musikali‑ sche Formenlehre den Fachausdruck „Phrasenverschränkung“11 kennt, ist auch schon auf der Ebene der Gesamtstruktur zu beobachten: Kurze Passagen schlie‑ ßen einen Abschnitt ab und fungieren zugleich als Anfang des nächsten.12 Die Phrasenverschränkung ist mit dem Scharnier verwandt. Die beiden unterscheidet, dass erstere keine eigenständige Einheit bildet, letzteres hingegen schon. Die hier präsentierte Gliederung (Abb. 1) basiert auf den in der „Partitur“ erkennbaren akustischen Textsignalen, in erster Linie auf formativen Wiederho‑ lungen. Wie Dewey an anderer Stelle erläutert, werden Wiederholungen dann signifikant und damit zu Bedeutungsträgern, wenn sie sich gleichzeitig auf meh‑ rere Parameter – Ort, Personen, Thema, Wortwiederholungen Gattung etc. – beziehen.13 Durch eine solche Kumulation werden Wiederholungen auch über größere zeitliche Distanzen hinweg erkennbar. Im Markusevangelium schaffen 7
Vgl. z. B. den Abschnitt zur Fuge bei Küng, Formenlehre, 115 – 124. Shiner führt die Strukturen auf Memoriertechniken im mündlichen Kompositionsprozess zurück, beurteilt ihre Funktion für das zuhörende Publikum jedoch sehr zurückhaltend; vgl. Shiner, Memory Technology, 164. 9 Abgesehen vom Detail der unterschiedlichen Zuordnung von 4,1 unterscheidet sich van Iersels Vorschlag von dem im Folgenden präsentierten nur durch die Separierung zweier ‚hin‑ ges‘ vom Ende der Einleitung (1,14 f.) und vom Anfang des Schlusses (15,40 f.). Vgl. van Iersel, Mk, 84. 10 Vgl. a. a. O., 83. 11 Kühn, Formenlehre, 72. 12 Auf der Ebene der Gesamtstruktur haben 8,22a und 13,1 – 3 diese Doppelfunktion und werden daher jeweils beiden Formteilen zugeordnet. 8
Kapitel II: Die Struktur des Markusevangeliums
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solche kumulierten Wiederholungen die Gesamtgestalt: Das ganze Werk ist von einer Tripelstruktur durchzogen, die fünf in etwa gleich lange Hauptteile gene‑ riert:14 Zwei Hauptteile spielen in und um Galiläa, einer „auf dem Weg“ vom nördlichsten Punkt Cäsarea Philippi nach Jerusalem, die letzten beiden dann in Jerusalem. Eine Ouvertüre und eine Coda15 rahmen das Ganze ein. Pro Hauptteil erscheint eine Episode dreimal in je unterschiedlicher Ausgestaltung; dabei ist jeweils eine Entwicklung von Mal zu Mal zu erkennen. Das Paradebeispiel hier‑ für sind die drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen, die von praktisch allen Kommentaren und Bibelkunden als den Mittelteil (8,27 – 10,45) prägend wahrgenommen werden. Wiederkehrende Themen, die gleichen Personen bzw. Personengruppen und gleiche Orte, immer verbunden mit Wortwiederholungen, heben auch in den anderen Hauptteilen die drei jeweils prägenden Abschnitte als Variationen einer Episode hervor. Einzelheiten zu den, wie ich sie nenne, „Tripe‑ lepisoden“ sind in der Detailexegese zu finden; auch die Benennung der Themen der Hauptteile findet ihre ausführliche Begründung erst dort. Im Folgenden wird nur das Wichtigste genannt, um dem Leser einen ersten Überblick über Struktur und Inhalt des Evangeliums zu verschaffen. 1,1 – 15 spricht vom ‚Anfang des Evangeliums‘ (1,1) und schlägt den Bogen von Schriftzitaten über das Auftreten Johannes des Täufers und der Taufe Jesu hin zum Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa. Formal wird dieser Abschnitt zusam‑ mengehalten von einer Ringkomposition. Wie in einer romantischen Opernou‑ vertüre16 klingen alle wichtigen Themen und Leitmotive in diesen Versen an: Die Spielorte Galiläa, Jerusalem und ‚auf dem Weg‘, das Hören und Sehen und nicht zuletzt die Jesustitel Christus, Herr, Sohn Gottes. 1,16 – 3,35 handelt von der Ausbreitung der Kunde über Jesu Vollmacht; die Leute geraten außer sich, Pharisäer, Schriftgelehrte und Herodianer nehmen Jesus hingegen als ernstzunehmende Gefahr wahr. Dieser Teil spielt in Galiläa, am See Genezareth, und ist gegliedert durch drei Berufungserzählungen (1,16 – 20; 2,13 f.; 3,7 – 19). Jede dieser Episoden beginnt ‚am Meer‘ (παρὰ / πρὸς τὴν θάλασ‑ σαν, 1,16; 2,13; 3,7). Die von Jesus Berufenen werden mit Namen, zum Teil auch mit Vaternamen, genannt, sie folgen Jesus nach (ἀκολουθεῖν αὐτῷ, 1,17.18; 2,14) oder gehen von einem Ort weg (ἀπελθεῖν) hinter ihm her (ὀπίσω αὐτοῦ, 1,20) bzw. zu ihm hin (πρὸς αὐτόν, 3,13). Außer Jesus und den Berufenen spielen ‚die
13
Vgl. Dewey, Markan Public Debate,135. So auch bei Shiner, der allerdings für die Passionsgeschichte keine Tripelstruktur nach‑ weist und auch keinen Schluss davon absetzt, sondern 14,1 – 16,8 als „passion narrative“ be‑ zeichnet (vgl. Shiner, Memory Technology, 158 f.). 15 „The last part of a piece or melody, the implication being of some addition being made to a standard form or design.“ (Bullivant / Webster, Coda, 82). 16 Vgl. Temperley, Overture, 825. Auch Boring vergleicht aus diesem Grund Mk 1,1 – 15 mit „the overture of an opera“ (Boring, Mark 1,1 – 15, 63). 14
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Kapitel II: Die Struktur des Markusevangeliums 1,1–15 Ouvertüre: Anfang des Evangeliums
1,16–3,35 Galiläa I: Am Meer von Galiläa Ausbreitung der Kunde über Jesu Vollmacht, erste Reaktionen (pro und contra) 1,16–20 Berufung I: Simon und Andreas, Jakobus und Johannes 2,13f. Berufung II: Levi 3,7–19 Berufung III: Massen von Menschen und Zwölf, die er wollte 4,1–36a Gleichnisrede vom Boot aus zum Land hin 4,35–8,22a Galiläa II: Rings herum und auf dem Meer von Galiläa Wer ist dieser Jesus? Wer gehört zu ihm? 4,35–5,2a Bootsfahrt I: Furcht oder Ehrfurcht? 6,45–56 Bootsfahrt II: Ein Gespenst auf dem Meer! 8,10–22a: Bootsfahrt III: Mit (k)einem Brot im Boot 8,22–26 Blindenheilung I: Anonymus; Vorbereitung der Erkenntnis des Petrus 8,27–10,45 Auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem Ankündigung des Leidens – was heißt es, diesem Christus nachzufolgen? 8,27–33 Leidens- und Auferstehungsankündigung I: Start im Norden: mit Petrusbekenntnis und -unverständnis 9,30–32 Leidens- und Auferstehungsankündigung II: Durch Galiläa hindurch: mit Jüngerunverständnis und -furcht 10,32–34 Leidens- und Auferstehungsankündigung III: Nach Jerusalem hinauf: mit Unverständnis und Furcht aller Weggenossen 10,46–52 Blindenheilung II: Bartimäus; wahre Erkenntnis nur durch Nachfolge 11,1–12,44 Jerusalem I: Im Tempel Erweis der Vollmacht Jesu am Ort der Mächtigen Jerusalems 11,1–11 Tempelgang I: Jesus sieht sich im Tempel um 11,12–19 Tempelgang II: Aktion und Lehre im Tempel contra „Räuberhöhle“ 11,20–13,3 Tempelgang III: Jesus als Lehrer im Tempel 13,1–37 Endzeitrede auf dem Ölberg gegenüber vom Tempel 14,1–15,39 Jerusalem II: Passion und Tod Jesu Das Kreuz als Ort der Erniedrigung und der Erkenntnis Jesu als Sohn Gottes 14,1–2 Tötungsbeschluss I: Sie suchen ihn zu ergreifen. 14,53–55 Tötungsbeschluss II: Sie suchen ein Zeugnis gegen ihn. 15,1 Tötungsbeschluss III: Sie liefern ihn an Pilatus aus. 15,40–16,8 Coda und da capo: Rund ums Grab Jesu – Auferstehung
Abb. 1: Struktur des Markusevangeliums
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Leute‘ (ὁ ὄχλος)17 eine immer größere Rolle: In 1,16 – 20 kommen sie überhaupt nicht vor, in 2,13 f. werden ‚alle Leute‘ in einem Satz erwähnt, in 3,7 – 20 – ins‑ gesamt die längste der drei Episoden – werden ‚die Leute‘ zu ‚Massen von Men‑ schen‘ (πλῆθος πολύ) aus allen möglichen Gegenden; die Ausbreitung der Kunde über Jesu Vollmacht schlägt sich so auch in den Berufungsgeschichten nieder. ‚Die Leute‘ werden nicht explizit berufen, kommen aber wie die Berufenen zu Jesus (ἐλθεῖν πρὸς αὐτόν, 2,13; 3,8). Wer gehört zu Jesus? Nur die Jünger? Auch die vielen Leute? Diese Diskussion beginnt schon im ersten Hauptteil. 4,1 – 34 ist eine der beiden längeren Reden Jesu im Markusevangelium; Jesus lehrt in Gleichnissen, von denen sich die meisten um das Säen, Aufgehen, Wach‑ sen und Fruchttragen drehen. Ein Hauptthema ist das (rechte) Hören, auf das hin das erste Gleichnis ausgelegt wird (4,14 – 20; viermal ἀκούειν) und zu dem Jesus wiederholt aufruft (4,3.9.23.24). Diese sogenannte „Gleichnisrede“ fungiert als Scharnier zwischen den beiden Hauptteilen, die in Galiläa spielen: Sie beginnt wieder ‚am Meer‘, bringt aber nun den Übergang zu den Bootsgeschichten, indem etwas umständlich berichtet wird, dass Jesus in ein Boot steigt und ‚im Meer‘ sit‑ zend zu den Leuten ‚am Meer auf dem Land‘ spricht (4,1). Zwischen den Gleich‑ nissen wird ein Faden von vorhin – Wer gehört zu Jesus? – wieder aufgenom‑ men und weitergesponnen: In fast anstößiger Weise wird die Privilegierung von Vertrauten hervorgehoben, denen ‚das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben‘ ist (4,11). Sie werden mit ‚denen draußen‘ (οἱ ἔξω) kontrastiert, zu denen Jesus nur in Gleichnissen spricht, sodass sie zwar sehen und hören, aber nicht verste‑ hen, ,damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde‘ (4,12). Doch praktisch im gleichen Atemzug stellt Jesus fest, dass es mit dem Verstehen der ihm Nahestehenden nicht sehr weit her ist (4,13). 4,35 – 8,22a erweitert den Aktionsradius Jesu: Der zweite Hauptteil spielt in den Gegenden rings um den See Genezareth, wobei auch weiter entfernte und heid‑ nische Gebiete wie Tyrus und ‚mitten in der Dekapolis‘ als Stationen erwähnt werden; eine sinnvolle Reiseroute ist nicht zu erkennen, nicht immer wird das gesetzte Ziel auf Anhieb erreicht (6,45.53; 8,22a). Der Weg führt dabei auch kreuz und quer über den See. Die Frage ‚Wer ist dieser?‘ (4,41) wird nun erstmals ausgesprochen und im weiteren Verlauf auf ganz verschiedene Weise direkt oder indirekt beantwortet. Damit verknüpft wird die Frage danach, wer erkennt, wer Jesus ist. Im Laufe dieser Kapitel wird die Zuordnung aus der Gleichnisrede auf den Kopf gestellt: Die Jünger verstehen immer weniger, mit wem sie unterwegs sind, obwohl sie den engsten Kontakt zu ihm haben, Sonderbelehrungen erhalten (z. B. 7,17 – 23) und etliche Wunder am eigenen Leib (z. B. die Sturmstillung) oder aus nächster Nähe (die Auferweckung der Tochter des Jaïrus) miterleben, ja sogar selbst durch seine Beauftragung Wunder vollbringen (6,13). Dagegen sind es immer wieder Menschen, die ‚draußen‘ sind, die verstehen, wer dieser ist, insbe‑ 17
Zur Übersetzung von ὁ ὄχλος mit ‚die Leute‘ vgl. Kap. III.2.2.4., S. 150 f.
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sondere die Syrophönizierin in Tyrus, die bei keiner der großen Speisungen dabei ist und trotzdem weiß, dass die Krümel, die vom Tisch fallen, wenn die Kinder essen, genügen, um satt zu werden. Formal ist dieser Abschnitt von drei Boots‑ geschichten geprägt, in denen Jesus und die Jünger auf dem See unterwegs sind (4,35 – 5,2a; 6,45 – 6,54a; 8,9b – 22a). Sie markieren den Anfang, die Mitte und das Ende dieses Hauptteils. Zu Beginn der Seefahrten werden jeweils die Leute entlassen (ἀφιέναι / ἀπολύειν τὸν ὄχλον / αὐτούς, 4,36; 6,45; 8,9.13), den Rahmen bildet das Ein- und Aussteigen aus dem Boot18 (ἐμβαίνειν εἰς τὸ πλοῖον / ἐξέρχε‑ σθαι ἐκ τοῦ πλοίου, 5,2; 6,45.54; 8,10.13), als Ziel wird jeweils ‚das Jenseitige‘ (εἰς τὸ πέραν, 4,35; 6,45; 8,13) angesteuert. Jedes Mal wird der Ort erwähnt, an dem das Boot landet. Auch hier ist eine Entwicklung zu beobachten: Die reale Gefahr nimmt von Fahrt zu Fahrt ab: Wird der Sturm in der ersten Bootsfahrt als lebensbedrohlich geschildert, ist er beim zweiten Mal nur so stark, dass es anstrengend ist zu rudern; die Jünger erschrecken hier über das ‚Gespenst‘, für das sie Jesus halten, als er ihnen zu Fuß auf dem See entgegenkommt. Beim drit‑ ten Mal beschränkt sich die „Gefahr“ darauf, dass sie – notabene bei einer Fahrt von wenigen Kilometern und nach der zweiten großen Speisung – nur ein Brot für alle dabei haben. Umgekehrt proportional zur Abnahme der Gefahr nimmt das Unverständnis der Jünger immer mehr Raum ein: Auf der ersten Bootsfahrt nennt Jesus sie ‚feige‘, auf der zweiten heißt es, sie seien ‚trotz der Brote‘ nicht zur Erkenntnis gekommen (5,62), in der letzten fragt Jesus dreimal, ob sie denn noch immer nicht verstünden. Der Tiefpunkt wird erreicht, als er den Jüngern mit den Worten, die in der Gleichnisrede auf ‚die draußen‘ gemünzt waren, vorwirft, sie würden sehenden Auges und hörenden Ohres nicht verstehen (8,18). 8,22 – 26, die erste Blindenheilung des Markusevangeliums, verbindet als Schar‑ nier die Geschehnisse in Galiläa mit dem Mittelteil ‚auf dem Weg‘. Sie steht zwischen der Konstatierung der Blindheit der Jünger auf der letzten Bootsfahrt und der Erkenntnis des Petrus, die in seinem Christusbekenntnis Ausdruck findet. Die gefährlichen Bootsfahrten sind zu Ende; nachdem sie in Betsaida an Land gehen (8,22), werden im ganzen restlichen Evangelium Boote nicht einmal mehr erwähnt. In ihrer Anonymität – kein Name, keine expliziten Subjekte, keine Per‑ sonengruppe wird erwähnt – nimmt diese Wundergeschichte die Verwirrung der vorangegangenen Erzählungen über die Identität Jesu und die Identität derer auf, die ihn erkennen. Es ist eine komplizierte, zweistufige Heilung, die Jesus an einem völlig passiven Blinden vornimmt – offensichtlich handelt es sich um einen schweren Fall. Doch nun sieht der von Jesus Behandelte alles deutlich. 8,27 – 10,45 Nun sehen auch die Jünger klar; zu Beginn ist endlich eine erste Antwort aus dem Jüngerkreis auf die Frage zu hören, wer Jesus ist: ‚Du bist der 18 Zwei Ausnahmen gibt es ganz am Anfang dieses Hauptteiles und ganz am Schluss: Jesus sitzt bereits seit 4,1 im Boot (und mit ihm vermutlich auch die Jünger, die das Boot für ihn be‑ reitgestellt haben), deshalb fehlt in der ersten Bootsgeschichte ἐμβαίνειν bzw. ist es nach 4,1 vorgezogen. Bei der letzten Bootsfahrt wird das Aussteigen aus dem Boot nicht erwähnt.
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Christus!‘ (8,29) Auf der Basis dieser Erkenntnis kann Jesus die andere Seite seiner Identität thematisieren: Er tritt seine Herrschaft nicht als siegreicher Held an, sondern sein Weg wird durch die Ohnmacht am Kreuz führen. Ganz scheint die Blindheit der Jünger noch nicht geheilt zu sein; denn das verstehen sie nicht. Dieser Christus ist ‚nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu die‑ nen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele‘ (10,45). Was bedeutet es dann, ihm nachzufolgen? Wieder wird die Frage nach Jesus – hier die nach sei‑ nem Weg – mit derjenigen nach denen verbunden, die zu ihm gehören. Formal sind, wie bereits erwähnt, drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen prä‑ gend (8,27 – 33; 9,30 – 33a; 10,32 – 34). Immer ist es Jesus selbst, der seinen Jün‑ gern den Weg des ‚Menschensohnes‘ (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, 8,31; 9,31; 10,33) voraussagt. Das Leiden wird unterschiedlich formuliert; allen dreien gleich ist die Ankündigung, dass er getötet werden und nach drei Tagen auferstehen wird (ἀποκτείνεσθαι, μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀνιστάναι, 8,31; 9,31; 10,34). Man ist ‚auf dem Weg‘ (ἐν τῇ ὁδῷ, 8,27; beim zweiten Mal erst am Anfang der nächsten Peri‑ kope in 9,33.34; 10,32). Die Beschreibung der Erniedrigungen, die Jesus vor sei‑ nem Tod erleiden muss, ist beim dritten Mal am ausführlichsten; der entschei‑ dende „Fortschritt“ geschieht ‚auf dem Weg‘, der nun Richtung und Ziel hat, aber im wörtlichen Sinne: Er beginnt am nördlichsten Punkt, den Markus überhaupt erwähnt, in Cäsarea Philippi (8,27), führt ‚durch Galiläa‘ (9,30) ‚nach Jerusalem‘ (10,32.33), wo die hier angekündigte Passion Jesu stattfinden wird. 10,46 – 52 fungiert als Scharnier zwischen dem Mittelteil ‚auf dem Weg‘ und dem vierten Hauptteil, in dem das Ziel Jerusalem erreicht wird. Bartimäus ist der letzte, der im Markusevangelium geheilt wird. Anders als in der ersten Blindenheilung sind die Hauptpersonen nicht anonym; Name, Vatername und Tätigkeit des Blin‑ den sowie der Name Jesu und verschiedene Titel (Nazarener, Sohn Davids, Rab‑ buni) werden genannt – die Identitäten sind klar. Der Blinde sucht aktiv den Kon‑ takt zu Jesus, sogar gegen Widerstand von außen. Die Pointe ist etwas anders als in Betsaida: Bartimäus, der zunächst ‚am Weg sitzt‘ (ἐκάθητο παρὰ τὴν ὁδόν, 10,46), als Jesus und seine Nachfolger Richtung Jerusalem an ihm vorbeiziehen, wird dadurch, dass er wieder sieht, in die Lage versetzt, ‚ihm auf dem Weg nach‑ zufolgen‘ (ἠκολούθει αὐτῷ ἐν τῇ ὁδῷ, 10,46), der nach Jerusalem führt. 11,1 – 13,3 ist anders strukturiert als die vorhergehenden Hauptteile: Die drei Tempelgänge Jesu sind nicht zwischen andere Perikopen eingebaut, sondern neh‑ men den ganzen Raum ein; ein Tempelgang reiht sich an den anderen (11,1 – 11; 11,12 – 19; 11,20 – 13,3). Dreimal nehmen Jesus und die Jünger „Anlauf“ vom Ölberg her, kommen nach Jerusalem, wo Jesus in den Tempel geht ([εἰσ‑]έρχε‑ σθαι εἰς Ἱεροσόλυμα, εἰς τὸ ἱερὸν / ἐν τῷ ἱερῷ, 11,11; 11,15; 11,27). Nach ver‑ schiedenen Ereignissen dort wird auch wieder das Herausgehen berichtet (11,11; 11,19; 13,1). Die Jünger kommen jeweils nur auf der Strecke Ölberg – Jerusalem vor und spielen im Tempel keine Rolle. Der Fokus liegt nun ganz auf der Voll‑ macht Jesu: Im Tempel, dem Ort der Mächtigen Jerusalems, den diese zur ‚Räu‑
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berhöhle‘ umfunktioniert haben (11,17), erweist sich Jesus in der Auseinander‑ setzung mit ihnen als vollmächtiger Herr, als κύριος (11,3.9; 12,9.11.29.30.36.37; sonst nur noch sechsmal in ganz Mk). Beim ersten Gang schaut er sich nur um, beim zweiten wird er aktiv, greift in den Tempelbetrieb ein und klagt die Priester und Schriftgelehrten wegen ihres unrechten Handelns an. Der dritte zeigt Jesus als den Lehrer, der sich im Tempel etabliert hat, in Streitgesprächen mit Geg‑ nern die Oberhand behält und Lehrreden hält. Dass Jesus sich im Tempel „breit macht“, zeigt sich auch an der exponentiell steigenden Länge der Tempelgänge: Der zweite ist fünf‑, der dritte fünfzig Mal so lang wie der erste. 13,1 – 37, die sogenannte „Endzeitrede“, folgt auf die Tempelgänge und bereitet die Passionsgeschichte vor. Jesus geht mit seinen Jüngern wieder zurück zum Ölberg und hält diese Rede ‚gegenüber vom Tempel‘ (κατέναντι τοῦ ἱεροῦ, 13,3). Vor der eigentlichen Rede steht beim Anblick der mächtigen Tempelbauten als Auftakt die Ankündigung, dass hier ‚kein Stein auf dem anderen bleiben wird‘ (13,2). Der lange Monolog Jesu (13,5 – 37) ist die Antwort auf die Frage der Jün‑ ger, wann dies geschehen wird und welche Zeichen darauf hindeuten werden (13,4). War die erste große Rede in Kap. 4 vom Hören (ἀκούειν) und Verstehen geprägt, steht nun das Sehen und Erkennen im Vordergrund. Der Aufruf βλέπετε (13,5.9.23.33) strukturiert die Rede; Höhepunkt der endzeitlichen Geschehnisse ist die Wiederkunft des Menschensohnes: ‚und dann wird man den Menschen‑ sohn kommen sehen‘ (τότε ὄψονται, 13,26). 14,1 – 15,39 umfasst die Passion Jesu, die bereits angekündigten Ereignisse von seiner Festnahme über Prozess und Kreuzigung zum Tod des Vollmächtigen in Erniedrigung und Ohnmacht. Auch im letzten Hauptteil sind wie im ersten und dritten drei Bögen zu erkennen, die jeweils mit Variationen der gleichen Episode beginnen.19 Die Episode unterscheidet sich in zwei wesentlichen Merkmalen von den bisherigen: Erstens ist hier nicht mehr Jesus der Agierende oder Sprechende, sondern seine Gegner. Jedes Mal genannt werden die Hohenpriester, die Schrift‑ gelehrten (ἀρχιερεῖς, γραμματεῖς, 14,1; 14,53.55; 15,1), beim zweiten und dritten Mal auch die Ältesten (πρεσβύτεροι, 14,53; 15,1) bzw. das ganze Synhedrium (ὅλον τὸ συνέδριον, 14,55; 15,1). Zweitens wurde das, was in diesen drei Pas‑ sagen geschieht, schon vorher dreimal in sehr ähnlicher Weise erzählt: Schon in 3,6,20 11,18 und 12,12 beraten die Gegner Jesu, wie sie ihn ‚vernichten‘ (ἀπολλύ‑ ναι; 3,6; 11,18) könnten; in der Passionsgeschichte ist nun explizit vom ‚Töten‘ (ἀποκτείνειν, 14,1; θανατοῦν, 14,55) die Rede. Abgesehen davon kommen die Hohenpriester (jeweils zusammen mit den Schriftgelehrten) vor 14,1 nur noch im Mittelteil ‚auf dem Weg‘ in der ersten und dritten Leidensankündigung vor, also 19 Hier weiche ich von Shiner ab, der für die Passionsgeschichte keine Tripelstruktur nach‑ weist und auch keine Coda davon abtrennt (vgl. Shiner, Memory Technology, 160). 20 Dort sind es zum einzigen Mal Pharisäer und Herodianer, sonst wie in Kap. 14 und 15 die Hohenpriester und Schriftgelehrten (und Ältesten in 12,12).
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in Prolepsen der Passion Jesu. Auch in der Passionserzählung ist in den Tripelepi‑ soden eine Entwicklung zu erkennen: In 14,1 f. ‚suchen‘ (ζητεῖν, so auch in 11,18; 12,12; 14,55) die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesus zu ergreifen (κρατέω, so auch in 12,12). Dieser Bogen führt über eine ausführliche Schilderung des letz‑ ten Zusammenseins Jesu mit seinen Jüngern, bei dem er diesen die kommenden Ereignisse – sowohl seinen eigenen Weg ‚wie er geschrieben steht‘ (14,21), als auch Verrat und Verleugnung durch seine Jünger – vorhersagt, hin zum Verrat des Judas, sodass die Gegner Jesu ihn tatsächlich ergreifen (κρατεῖν, 14,44.46.49). In 14,53.55 suchen sie ein Zeugnis gegen ihn, um ihn töten zu können. Ein sol‑ ches wird zwar nicht gefunden, aber Jesu eigenes ‚Ich bin es‘ auf die Frage, ob er der Christus, der Sohn des Gepriesenen sei, genügt dem Gremium, um ihn des Todes schuldig zu sprechen (14,64). Der dritte und letzte Bogen beginnt mit der Entscheidung, Jesus an Pilatus auszuliefern (15,1), und nimmt formal den ersten Todesbeschluss aus 3,6 auf (συμβούλιον ποιεῖν) auf. Nun führt er zum Ziel, zum Tod Jesu am Kreuz – und angesichts dessen auch zur Erkenntnis des Hauptman‑ nes: ‚Dieser Mensch war wirklich Gottes Sohn.‘ (15,39). 15,40 – 16,821 ist als kurze Coda angehängt und erzählt von der Grablegung und dem leeren Grab Jesu (μνημεῖον, 15,46 (2x); 16,2.3.5.8). Formal sind drei Frau‑ ennamen prägend, die im ganzen Evangelium noch nicht genannt wurden: Maria Magdalena, Maria, die Mutter des Jakobus und des Joses und Salome22 (15,40.47; 16,1). Sie beobachten den Tod Jesu (15,40) und die Grablegung (15,47) und zie‑ hen am frühen Morgen aus, um den Leichnam zu salben (16,1 f.). Vieles aus dem gesamten Evangelium klingt in diesen letzten Versen nochmals an, insbesondere auch die beiden Hauptspielorte Galiläa und Jerusalem (15,41). Das Neue, die Auferstehung, wurde im Verlauf der Erzählung schon mehrfach angekündigt. Der Schluss ist offen – die Frauen rennen entsetzt davon und sagen niemandem etwas (16,8), statt ihren Auftrag zu erfüllen, die Botschaft der Auferstehung weiterzusa‑ gen (16,7). Diese Offenheit ist mehrdeutig. Sie kann nach vorne weisen – z. B. als Aufforderung an die Hörerinnen, anstelle der Frauen den Auftrag der Verkündi‑ gung der Auferstehung zu übernehmen. Durch den Verweis auf Galiläa, wo man ‚ihn sehen wird‘ (16,7), lässt sich im Schluss auch ein „da capo“ heraushören, eine Aufforderung zur Relektüre bzw. zum wiederholten Hören des Evangeliums im Wissen um die ganze Geschichte – sozusagen nun mit sehenden Augen und hörenden Ohren.23 21
Zum Markusschluss (Ende mit 16,8) vgl. Kap. I.6.3. Salome fehlt in 14,47. 23 Fowler meint offensichtlich das Gleiche, verwendet aber mit „coda“ den falschen Fach‑ begriff: „Could not the very last word of the Gospel (the awkwardly placed conjunction gar) be analogous to the musical notation of a coda, which signals the musician to return to a marked passage to keep on playing? Thus the awkward gar at Mark 16,8, coupled with the ambiguous allusion to Galilee in 16,7, signals the reader to return to the beginning of the Gospel, to begin reading all over again.“ (Fowler, Let the Reader, 262). 22
Kapitel III
Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a III.1. Die Ouvertüre: Anfang des Evangeliums (1,1 – 15) III.1.1. Die Struktur der Ouvertüre Die hier als „Ouvertüre“ bezeichneten einleitenden Verse des Markusevangeliums eignen sich hervorragend, um die Anwendung der verschiedenen Kategorien von Wiederholungen in der exegetischen Praxis zu demonstrieren. Wie nirgends sonst im Evangelium verdichten sich an diesem ‚Anfang‘ perikopeninterne, auf den ganzen Text vorausweisende und externe Bezüge. Schon die textkritische Prä‑ parierung der Partitur verlangt einige Entscheidungen, die sich auf die hörbaren Textstrukturen auswirken. Was ist der ‚Anfang des Evangeliums‘ (ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου, V. 1)? Diese Frage wird später noch in strengerem Sinne exegetisch behandelt werden; zunächst einmal stellt sie sich angesichts der vielen Vorschläge, die bisher schon in der neutestamentliche Exegese hinsichtlich der Abgrenzung eines „Prologs“ im Markusevangelium gemacht wurden: Beginnt „die eigentliche Geschichte“ mit dem Auftreten Johannes des Täufers (V. 4),1 mit dem Auftreten Jesu (V. 9),2 mit dem Beginn seiner Verkündigung (V. 13)3 oder erst mit der Berufung der ersten Jünger (V. 16)?4 Zudem stellt sich die Frage, ob V. 1 wie eine Überschrift fun‑ giert5 oder auch zum Prolog zu rechnen ist.6 Wie schon im Kapitel „Struktur des Markusevangeliums“ (II.1.) kurz erwähnt, plädiere ich aufgrund der Analyse der Wiederholungen dafür, V. 1 – 15 als „Ouvertüre“ des Evangeliums zu verstehen. 1 So E.‑M. Becker, die zudem die Bezeichnung „Prolog“ problematisiert und deshalb von 1,1 – 3 als „introductory part“ spricht (E.‑M. Becker, Mk 1:1, 95 – 97). Von Mk 1,1 – 3 als einem „Prolog im Himmel“ sprechen Kampling, Israel, 40, und Zenger, Anfang des Evangeliums, 179. 2 So z. B. Gundry, Mk, 29.31 und Bryan, Preface, 83. 3 So z. B. France, Mk, 13; Schweizer, Mk, 214. Van Iersel nimmt eine Zwischenposition ein, indem er 1,1 – 13 als Prolog bezeichnet, 1,14 f. als „hinge“ zwischen Prolog und erstem Hauptteil (van Iersel, Mk, 84). 4 So z. B. Gnilka, Mk I, 39; Pesch, Mk I, 71; Collins, Mk, 88; Lührmann, Mk, 31 f.; Klauck, Vorspiel, 22 f.34. Außer Gnilka betonen alle Genannten den transitorischen Charakter von 1,14 f., stehen also van Iersel nahe. 5 So z. B. France, Mk, 49; van Iersel, Mk, 84; Collins, Mk, 130. Pesch und Lührmann sprechen zwar von einer Überschrift, rechnen diese aber trotzdem zum Prolog (Pesch, Mk I, 74; Lührmann, Mk, 33). Guelich bezeichnet V. 1 – 3 als Überschrift (Guelich, Mk, 11). 6 So z. B. Schweizer, Mk, 10 f.; Gundry, Mk, 30; Bryan, Preface, 85 f.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 1:1
A B C
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1:2
1:3
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∆Ihsouvß ei˙ß th\n Galilai÷an ckhru/sswn Ato\ eujagge÷lion Ctouv qeouv kai« le÷gwn q1 o¢ti peplh/rwtai oJ kairo\ß q2 kai« h¡ggiken hJ basilei÷a touv qeouv 1 i metanoei√te 2 i kai« pisteu/ete e˙n twˆ◊ eujaggeli÷wˆ
Abb. 2: Mk 1,1 – 15
A
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15) 1:1 1:2
Anfang des Evangeliums von Jesus Christus Sohn Gottes wie geschrieben steht bei Jesaja dem Propheten
1:3
siehe ich sende meinen Engel vor Dir her der bereitmachen wird deinen Weg Stimme eines Rufenden in der Einöde ebnet den Weg des Herrn macht gerade seine Pfade
1:4
so trat Johannes der Täufer auf in der Einöde verkündete die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden
1:5
Und es lief zu ihm hinaus ganz Judäa und alle Jerusalemer. Und sie wurden von ihm getauft im Fluss Jordan, wobei sie ihre Sünden bekannten.
1:6
Und Johannes war angezogen mit Kamelhaar und mit einem Ledergürtel um seine Hüften und er aß Heuschrecken und wilden Honig.
1:7 1:8
Und er verkündete und sagte: Nach mir kommt, der stärker ist als ich; seiner bin ich nicht würdig – mich zu bücken, um die Riemen seiner Sandalen zu lösen. Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch im Heiligen Geist taufen.
1:9
Und es geschah in jenen Tagen: Es kam Jesus aus Nazareth in Galiläa. Und er wurde im Jordan von Johannes getauft.
1:10 1:11
Und sogleich, als er aus dem Wasser herausstieg, sah er die Himmel zerreißen und den Geist wie eine Taube auf sich herabsteigen. Und eine Stimme aus den Himmeln: Du bist mein geliebter Sohn! An dir habe ich Wohlgefallen.
1:12 1:13
Und sogleich trieb ihn der Geist hinaus in die Einöde. Und er war in der Einöde vierzig Tage und wurde vom Satan versucht. Und er war unter wilden Tieren. Und die Engel dienten ihm.
1:14 1:15
Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, kam Jesus nach Galiläa, verkündete das Evangelium Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen das Reich Gottes! Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Übersetzung zu Abb. 2
71
72
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Sie zeichnet sich aus durch eine besonders kunstvolle Struktur mit mannigfalti‑ gen internen Bezügen. Zudem werden in ihr viele Schlüsselwörter vorgestellt, die den weiteren Verlauf des Evangeliums prägen. Die Ouvertüre wird von einer starken Inclusio zusammengehalten; nicht nur ein Ausdruck vom Anfang wird am Ende wiederholt, sondern gleich mehrere Stich‑ wörter in den ersten (V. 1 – 4) und letzten Versen (V. 12 – 15) bilden einen Rah‑ men. Dieser hat zum einen die Form einer Ringkomposition: Εὐαγγέλιον (A), Ἰησοῦς (B) und θεός (C) aus V. 1 werden in V. 14 f. wiederholt, zum Teil sogar zweimal. Innerhalb dieses äußeren Rings finden sich zwei weitere: Das Stichwort ἄγγελος (D, V. 2, V. 13c) bildet den mittleren, die jeweils doppelte Ortsangabe ἐν τῇ ἐρήμῳ bzw. εἰς τὴν ἔρημον (E, V. 3.4, V. 12.13) den innersten Ring. Dieser schon fast monumentale Rahmen, der die Ouvertüre zusammenhält, wird durch parallele Strukturen noch verstärkt: Sowohl V. 1 – 4 als auch V. 12 – 15 weisen gegen Ende in der gleichen Reihenfolge die Textsignale Ἰωάννης (J), κηρύσ‑ σων (c) und μετάνοια / μετανοεῖν (d) auf. Innerhalb des Rahmens wird von der Tauftätigkeit Johannes des Täufers erzählt; als Ort ist nun ‚im Jordan‘ angegeben. Auch hier sind deutliche Textsi‑ gnale zu erkennen, die V. 5 – 11 in zwei Abschnitte unterteilen: die Taufe ‚aller‘ (V. 5 – 8) und die Taufe Jesu (V. 9 – 11). Beide Abschnitte beginnen mit sehr ähn‑ lich formulierten Sätzen: Zuerst gehen alle aus Judäa und Jerusalem hinaus und lassen sich von Johannes im Jordan taufen (F, V. 5), dann kommt Jesus aus Naza‑ reth in Galiläa und lässt sich von Johannes im Jordan taufen (Fopp, V. 9). Folgende Grobgliederung der Ouvertüre ist demnach zu erkennen:7 A 1 – 4 B B
5 – 8 9 – 11
12 – 15 A
Der Anfang des Anfangs: Verkündigung Johannes des Täufers ‚wie geschrieben‘ Taufe I: Ganz Judäa und alle Jerusalemer Taufe II: Jesus aus Nazareth in Galiläa Das Ende des Anfangs: Auftakt der Verkündigung Jesu in Galiläa
Festzuhalten ist schließlich noch, dass der Name des Johannes in allen vier Abschnitten je einmal genannt wird. 7 Alle mir bekannten Kommentare sehen keine Zäsur zwischen V. 4 und V. 5. Eine Gliede‑ rung, die mit der hier präsentierten fast identisch ist, findet sich bei Michaels im Zusammenhang mit Überlegungen zur „Versuchung Jesu“ im Markusevangelium. Michaels fokussiert auf die Ringkomposition und geht nicht auf die parallelen Strukturen ein, die zwischen V. 1 – 4 und V. 12 – 15 durch die Textsignale Ἰωάννης (J), κηρύσσων (c) und μετάνοια / μετανοεῖν (d) entste‑ hen. Dementsprechend unterteilt er zusätzlich den ersten und vierten Abschnitt in „the gospel of Jesus Christ“ (V. 1) und „John the Baptist in the desert, in fulfillment of Scripture“ (V. 2 – 4) bzw. „Jesus in the desert“ (V. 12 f.) und „the gospel of God“ (V. 14 f.). Die Parallelisierung der Verkündigung Jesu mit der des Täufers bleibt so unbeachtet (vgl. Michaels, Servant and Son, 44; Hervorhebungen im Original).
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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III.1.2. Der Anfang des Anfangs: Wie geschrieben steht (1,1 – 4) (Vgl. Abb. 2, S. 70) Gleich zu Beginn stellt der Text des Markusevangeliums die Exegetin vor eine schwierige textkritische Frage: Heißt es in V. 1 ‚Anfang des Evangeliums Jesu Christi‘ oder ‚Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes‘? Kommentare, die für die kürzere Ver‑ sion plädieren, verweisen zumeist auf die Regel Lectio brevior potior – gerade bei Überschriften8 seien Erweiterungen üblich gewesen – und halten es für unwahrscheinlich, dass einem Schreiber schon am Anfang eines Textes gravierende Auslassungen unterlaufen.9 Nachdem der Titel υἱὸς θεοῦ im Evangelium eine tragende Rolle spiele, sei er nachträglich in die Überschrift eingefügt worden, um dies schon hier zur Geltung zu bringen. Für die längere Version wird inhaltlich oft genau umgekehrt argumentiert – wegen seiner Bedeutung für die Christologie des Markusevange‑ liums sei υἱὸς θεοῦ in 1,1 als ursprünglich anzusehen.10 Zudem werden die vielen aufeinanderfol‑ genden Endungen mit ‑ου als Grund für eine versehentliche Auslassung von υἱοῦ θεοῦ bzw. des Nomen sacrum ΥΥ ΘΥ angeführt.11 Innere Kriterien helfen also kaum weiter. Die Quellenlage spricht auf den ersten Blick dafür, die kürzere Lesart trotz ihrer seltenen Bezeugung ernsthaft als die frühere in Erwägung zu ziehen: Als höchster Trumpf hat dabei sicher ℵ zu gelten, in des‑ sen ursprünglicher Fassung der Zusatz υἱοῦ θεοῦ bzw. ΥΥ ΘΥ fehlt, wie auch in Θ (9. Jh.) und 28 (11. Jh.), in einem Lektionar aus dem 10. Jh. und bei Origenes.12 Der zweite Blick offenbart jedoch, dass ℵ kaum als belastbarer Zeuge für die kürzere Lesart herangezogen werden kann: Die Einfügung ΥΥ ΘΥ geht neueren Forschungen zufolge auf die selbe Hand zurück, die den Text 8
Zur Klassifikation von Mk 1,1 als Überschrift vgl. S. 76 – 78. Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 74; Collins, Mk, 130. 10 Vgl. z. B. Gundry, Mk, 33; Guelich, Mk I, 6; ähnlich auch Gnilka, Mk I, 43. Lührmann nennt als Argument für eine sekundäre Kürzung den „Einfluß [sic] des vor allem aus Paulus vertrauten Sprachgebrauchs“ (Lührmann, Mk, 33). 11 Vgl. France, Mk, 49; Wasserman, Son of God, 45. 12 Der Apparat in NA28 nennt darüber hinaus Irenäus (2. Jh.) und Epiphanius (4. Jh.) als Zeugen für die kürzere Lesart. In diesen Quellen findet sich aber nur ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου, Ἰησοῦ Χριστοῦ fehlt. Beiden Kirchenvätern geht es an den nämlichen Stellen darum, die Be‑ sonderheit des Markusevangeliums im Vergleich mit den anderen Evangelien herauszustellen. Irenäus legt in AdvHaer 3.11.8 den Schwerpunkt auf den Beginn bei den Propheten. Epiphanius streicht in Pan. 51.6.4 heraus, dass Markus keine Kindheitsgeschichte erzählt, sondern mit dem Täufer anfängt, und bietet daher eine Kurzform nicht nur von Mk 1,1, sondern fasst V. 1 – 3 zu‑ sammen zu „ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου, ὡς γέγραπται ἐν Ἠσαΐα τῷ προφήτῃ, φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ“. Beide sind also an den nämlichen Stellen nicht an Titeln Jesu interessiert, sodass an diesen Stellen vermutlich eine Abkürzung eines längeren Ausdrucks (welches Wortlauts auch immer) vorliegt und sie kaum als Zeugen für die kürzere Lesart (mit Ἰησοῦ Χριστοῦ) bemüht werden können. Wasserman diskutiert ausführlich etliche weitere patristische Belege für die kürzere Lesart, die nicht im Apparat von NA28 ausgewiesen sind (vgl. Wasserman, Son of God, 26 – 34). Er beobachtet bei den Kirchenvätern insgesamt die Tendenz, den zitierten Bibeltext ab‑ zukürzen, wenn Teile davon für ihre Argumentation nicht nötig sind (vgl. a. a. O., 34). 13 Den Hinweis auf die Möglichkeit einer Korrektur noch vor Fertigstellung des Codex ver‑ danke ich France, Mk, 49. Auf der Website des Codex Sinaiticus Project ist die Ergänzung ΥΥ ΘΥ ausgewiesen als „a correction made in the production process, as part of the revision of the text after it had been copied, or a correction by the scribe in the copying process. These cannot always be distinguished.“ (vgl. Abschnitt „Production of the manuscript“ auf http://codexsinai‑ ticus.org / en / project / transcription_detailed.aspx, Zugriff: 14.08.2015). Auch Keith Elliott ist der Meinung, dass die Einfügung ΥΥ ΘΥ der gleichen Hand wie der Text selbst zuzuordnen ist (Gespräch vom 11.11.2017). 9
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
geschrieben hat.13 Offen bleiben muss jedoch, ob es sich um eine Korrektur einer versehentlichen Auslassung oder um eine Angleichung an eine andere im Skriptorium vorhandene Vorlage han‑ delt.14 Der Befund in ℵ spricht folglich weder für noch gegen die Ursprünglichkeit der kürzeren Lesart. In der Hand der Gegenseite befinden sich einige „hohe Karten“ (B, D, W), dazu auch die späteren Codices L und Γ sowie die gesamte lateinische, syrische und koptische Überlieferung.15 Die bisher nicht genannte Mehrheit der Textzeugen, darunter A, Δ, f1, f13 und 33, bietet ebenfalls die längere Fassung und schiebt noch einen Artikel ein (υἱοῦ τοῦ θεοῦ). Die Quellenlage spricht also klar für die Langversion, sei sie mit oder ohne Artikel.16 So fällt die Entscheidung für die am besten bezeugte Lesart υἱὸς θεοῦ. In V. 2 ist ‚beim Propheten Jesaja‘ so gut bezeugt, dass die Lesart ‚bei den Propheten‘ als sekundär gelten kann. Dafür spricht auch, dass sich letztere als Korrektur – das fol‑ gende Mischzitat bezieht nicht nur Jesajatexte ein – verstehen lässt. Am Beginn des Zitates (Ex 23,20a) ist ἐγώ etwa gleich gut bezeugt wie dessen Auslassung. Da die Septuaginta an dieser Stelle das Personalpronomen setzt, ist vermutlich die Lesart ohne ἐγώ die frühere, denn dessen nachträgliche Ergänzung lässt sich als Angleichung an den zitierten Text erklären. Am Ende von V. 2 ist ἔμπροσθέν σου als sekundäre Ergänzung in Angleichung an die Parallel‑ stelle Mt 11,10 zu betrachten; auch die Bezeugung spricht eindeutig für die Lesart ohne diesen Zusatz. In V. 4 liegen zwei textkritische Probleme vor, von denen das erste keinen Eingang in den Apparat von NA28 fand. Abweichend von der großen Mehrheit der Textzeugen beginnt V. 4 in ℵ und W nicht asyndetisch, sondern mit καί.17 Das ist insofern bemerkenswert, als diese Les‑ art die Offenheit der grammatikalischen Bezüge innerhalb von V. 1 – 4 einschränkt, weil mit καί V. 4 nicht mehr von καθὼς γέγραπτει in V. 2 abhängig sein kann, sondern eindeutig einen selbstständigen Satz darstellt. Die Bezeugung der Lesart ohne καί ist jedoch so gut, dass deren Bevorzugung nicht in Frage steht. Auch die zweite Stelle ist von formalem und inhaltlichem Belang: Zur hier gewählten Lesart ἐγένετο Ἰωάννης ὁ βαπτίζων ἐν τῇ ἐρήμῳ κηρύσσων (so nur in B und 33, ein paar bohairischen Manuskripten liegt diese Lesart zugrunde) gibt es etliche Varianten: In den meisten Manuskripten fehlt der Artikel ὁ und steht vor κηρύσσων ein καί, wenige (D, Θ, 28, 700) stellen dabei ἐν τῇ ἐρήμῳ vor βαπτίζων. Für die Beibehaltung des Arti‑ kels spricht die Bezeugung in den beiden ältesten Textzeugen ℵ und B (darüber hinaus auch in L, Δ, 33 und der gesamten bohairischen Überlieferung). Auch aus inhaltlicher Perspektive ist der Artikel zu plausibilisieren: Ὁ βαπτίζων dient auch später im Text dazu, den Mann mit dem häufigen Namen Johannes als ‚den Täufer‘ zu identifizieren (vgl. 6,14.24) – es ist wahrschein‑ lich, dass das auch schon bei seinem ersten Auftreten der Fall ist, auch, um ihn von Johannes, dem Sohn des Zebedäus zu unterscheiden, der kurz darauf erwähnt wird (1,18). Καί vor κηρύσ‑ σων ist nur dann sinnvoll, wenn der Artikel vor βαπτίζων fehlt und zwei Partizipien auf gleicher Ebene miteinander verbunden werden, Johannes also ‚taufend und verkündend‘ in der Einöde auftritt. Die in NA28 übernommene Lesart kombiniert die beiden Varianten: Ἐγένετο Ἰωάννης ὁ βαπτίζων ἐν τῇ ἐρήμῳ καὶ κηρύσσων (so in ℵ, L, Δ und der Mehrheit der bohairischen Zeugen), was zu grammatikalischen Unebenheiten führt. Um der Exegese eine interpretierbare Fassung zugrunde zu legen, fällt die Entscheidung für die etwas schwächer bezeugte (B, 33, wenige bohairische Manuskripte), aber in sich stimmige Lesart ἐγένετο Ἰωάννης ὁ βαπτίζων ἐν τῇ ἐρήμῳ κηρύσσων. 14
Vgl. Wasserman, Son of God, 46. So laut Apparat NA28. Wasserman nennt jedoch ein sahidisches Lektionar, das die Kurz‑ fassung bietet (vgl. a. a. O., 37). 16 Vgl. a. a. O., 50. 17 Vgl. Swanson, Manuscripts, 8. 15
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Der obere Teil des Rahmens weist in sich keine Wiederholungen auf, die als formal gedeutet werden könnten. Am auffälligsten sind die vielen Endungen in V. 1 – 3 auf ‑ου, die einen besonderen klanglichen Effekt erzeugen, also in die fokale Kategorie gehören. In V. 1 prägt dieser dunkle Endvokal mit Ausnahme des anfänglichen ἀρχή alle von diesem abhängigen Genitive, auch noch in der ersten Zeile des Mischzitats (V. 2 f.) häufen sich Wörter, die auf ‑ου enden; über das ganze Mischzitat hinweg entsteht durch sie ein Endreim der Sinneinhei‑ ten. In V. 4 ist ein dreifaches Ende auf ‑ων zu beobachten, das den Satz über Johannes den Täufer zusammenhält. Darüber hinaus sind manche Wörter bzw. Ausdrücke wiederholt: ἡ ὁδός (beide Male im Akkusativ), ἐν τῇ ἐρήμῳ und βαπτίζων / βάπτισμα. Diese Wiederholungen eindeutig einer Kategorie zuzu‑ ordnen, ist schwierig; innerhalb von V. 2 – 4 dienen sie dazu, die sonst formal nicht gebundenen Verse wie Kettenglieder ineinandergreifend zusammenzuhal‑ ten: ἡ ὁδός – ἐν τῇ ἐρήμῳ – ἡ ὁδός – βαπτίζων – ἐν τῇ ἐρήμῳ – βάπτισμα. Sie fungieren auf Satzebene ähnlich wie Stichwortverbindungen auf der Ebene von Perikopen. Der Beginn des Evangeliums fällt zudem durch satzbauliche Besonderheiten auf: Zwei der Hauptsätze haben kein Verb (V. 1; V. 3a), und das sonst bei Markus allpräsente καί wie auch andere satzverbindende Partikel sind nirgends zu hören. Dementsprechend bieten diese Verse verschiedene Möglichkeiten, wie sie aufei‑ nander bezogen werden können. Insbesondere der in V. 2 mit καθώς beginnende Nebensatz wird so zum flexiblen „Bauteil“: Er kann als Ausführung zu V. 1 ver‑ standen werden: ‚Anfang des Evangeliums [. . .], wie er beim Propheten Jesaja geschrieben steht.‘18 So werden V. 1 – 3 zu einer Einheit und V. 4, in dem Johan‑ nes der Täufer auftritt, zum eigenständigen Satz, der asyndetisch beginnt. Diese Strukturierung findet sich, wie schon angesprochen, im Codex Vaticanus, der durch eine Lücke in der Scriptio continua vor ἐγένετο am Beginn von V. 4 diesen sogar als Neuanfang eines Abschnittes sichtbar macht. In den alten Manuskripten ist generell zu beobachten, dass der Beginn von V. 2 nicht explizit hervorgehoben wird und damit V. 1 zumindest nicht auf den ersten Blick für die heutige Leserin als Überschrift erkennbar ist. Kαθώς wird so visuell eher als Fortsetzung von V. 1 wahrgenommen. Vertreter dieser Interpretation des Textgefüges verweisen zudem darauf, dass ein Satzbeginn mit καθώς im ganzen Neuen Testament nicht gebräuchlich sei und insbesondere ‚wie geschrieben steht‘ (καθὼς γέγραπται) immer den Zusammenhang zum Vorhergehenden herstelle.19 Beispiele für asyn‑ detische Satzanfänge mit ἐγένετο finden sich hingegen auch in den Anfängen des Lukas- (1,5) und des Johannesevangeliums (1,6), bei Letzterem leitet es wie bei Markus das Auftreten des Täufers ein. Grammatikalisch ist es jedoch genauso möglich, in καθώς einen Satzanfang zu sehen und diesen Nebensatz auf V. 4 zu beziehen: ‚Wie [. . .] geschrieben steht, 18 19
Vgl. France, Mk, 61; Guelich, Mk I, 7; Schweizer, Mk, 10; Klauck, Vorspiel, 22. Vgl. France, Mk, 50; Guelich, Mk I, 7; Klauck, Vorspiel, 27 f.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
(so) trat Johannes auf.‘20 So wird V. 1 zur Überschrift und V. 2 f. zum Schriftbe‑ leg für das Auftreten des Täufers in der Einöde.21 Für diese Interpretation kann ins Feld geführt werden, dass sie der Interpunktion in NA28 folgt. Schon Mat‑ thäus und Lukas haben Markus (oder je nach Theorie auch eine allen gemein‑ same Quelle) so verstanden, sich aber konventioneller ausgedrückt, indem sie die Aussage über Johannes voranstellen und das Zitat22 anhängen. Lukas verwendet dazu wie Markus ὡς γέγραπται, Matthäus eine andere Formulierung (Mt 3,1 – 3; Lk 3,3 f.).23 Zusammenfassend ist also ein Unentschieden festzuhalten: Das Klangspiel mit den Endungen auf ‑ου spricht für die Zusammengehörigkeit von V. 1 – 3, die Stichwortkette ἡ ὁδός – ἐν τῇ ἐρήμῳ – βαπτίζων / βάπτισμα für die von V. 2 – 4. Auch grammatikalisch ist beides möglich.24 Im Griechischen kann diese Offen‑ heit problemlos stehen bleiben und dem Ermessen des Vortragenden überlassen werden. Im Deutschen wird es schwieriger, da die Satzstellung in V. 4, wenn der Satz an V. 2 f. anschließt, eine andere ist, als wenn der Satz hier neu beginnt. Die hier gebotene Übersetzung mit ‚so‘ zu Beginn von V. 4, visuell in Anleh‑ nung an die schriftliche Form von Michael Fehrs „Simeliberg“25 gestaltet, sei als Lösungsversuch verstanden, den Besonderheiten dieser einleitenden Verse im Deutschen gerecht zu werden. 1 ‚Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes‘ – diesen Worten eignet der Charakter einer Überschrift. Sie sind als Metatext erkennbar, der der direkten Kommunikation zwischen Autor und Rezipierenden dient und nicht Teil der Erzählung ist. Wie in den ersten Sätzen etlicher biblischer Bücher – in der Septuaginta z. B. in vielen prophetischen Schriften, im Neuen Testament im Mat‑ thäusevangelium und in der Offenbarung – fehlt ein Prädikat. Die ersten Verse der Sprüche Salomos (Spr 1,1 – 4) zeigen, dass eine solche Überschrift auch mit dem Folgenden verbunden sein kann.26 So widerspricht sich auch in Bezug auf das Markusevangelium die Wahrnehmung von V. 1 als Titel nicht mit den zuvor diskutierten vielfältigen Beziehungen innerhalb der ersten vier Verse. 20 Vgl. Pesch, Mk I, 74.77; Lührmann, Mk, 33 f.; van Iersel, 91 – 93; Collins, Mk, 133.135. 21 Zur Übersetzung von ἡ ἔρημος mit ‚Einöde‘ Kap. I.5.2., S. 49. 22 Beide zitieren an dieser Stelle „richtigerweise“ nur aus Jesaja. Mt beschränkt sich auf Jes 40,3; Lk erweitert um V. 4 f. 23 Vgl. auch Joh 1,23 f. 24 Vgl. Wischmeyer, Romans 1:1 – 7 and Mark 1:1 – 3, 25. Wischmeyer bietet zudem einen Überblick über die in der Sekundärliteratur vertretenen syntaktischen Lesarten von 1,1 – 4 (a. a. O., 24 f.). 25 Der stark sehbehinderte Autor verfasst seine Werke mündlich, indem er statt zu schreiben spricht und sich dabei aufnimmt. Die Veröffentlichung seiner Kriminalgeschichte „Simeliberg“ in Buchform erinnert, obschon ein Prosatext, im Layout – kurze, manchmal nur ein Wort lange Zeilen, keine Satzzeichen – an Lyrik (Fehr, Simeliberg). 26 Vgl. in Bezug auf Mk 1,1 E.‑M. Becker, Mk 1:1, 100.
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Die Eröffnung mit ἀρχή erinnert an andere biblische Buchanfänge, zualler‑ erst an ἐν άρχῄ, den Beginn der Tora (Gen 1,1LXX), den das Johannesevangelium übernimmt (Joh 1,1). Die Parallele beschränkt sich hier allerdings auf das Lemma an sich; sowohl in Genesis als auch im Johannesevangelium ist die Rede davon, was ‚im‘ oder auch ‚am‘ Anfang geschah. Hos 1,2aLXX – Ἀρχὴ λόγου κυρίου πρὸς Ωσηε – steht in Bezug auf die Formulierung und den Inhalt den ersten Wor‑ ten des Markusevangeliums näher; λόγος wird im Markusevangelium zumeist synonym zu Evangelium verwendet und Jesus, so auch gleich in V. 3, als κύριος bezeichnet. Dennoch zeigen sich auch hier markante Unterschiede. Zum einen ist im Prophetenbuch das ‚Wort des Herrn‘ an einen konkreten einzelnen Empfän‑ ger gerichtet. Zum anderen folgen die zitierten Worte erst auf einen Vers, der als Überschrift fungiert (Λόγος κυρίου ἐγενήθη πρὸς Ωσηε [. . .], Hos 1,1LXX). Das ganze Prophetenbuch ist also als ‚Wort des Herrn an Hosea [. . .]‘ überschrieben, sodass ἀρχή in V. 2 keine Überschrift ist, sondern markiert, was JHWH zuerst zu Hosea sagt.27 Damit beschränkt sich das Bedeutungsspektrum von ἀρχή mehr oder weniger auf ‚die ersten Worte von den vielen, die in diesem Buch niederge‑ schrieben sind‘. Anders präsentiert sich die Situation in Mk 1,1; dort stellt sich zunächst die Frage, worin der ‚Anfang‘ besteht: Bezieht man καθώς aus V. 2 auf V. 1, dann liegt der ‚Anfang des Evangeliums‘ weit in der Vergangenheit – in der Verkündigung der Propheten. Genauso erlaubt das Textgefüge von V. 1 – 4, ihn im Auftreten des Täufers zu erkennen, in dem sich die Verheißungen der Schrift realisieren. Eine dritte Möglichkeit, die sich aufgrund des oben beschriebenen monumentalen Rahmens mit den starken Bezügen zwischen V. 1 und V. 14 f. nahelegt, ist, den Abschluss des ‚Anfangs des Evangeliums von Jesus Christus, Sohn Gottes‘ im ersten Auftreten Jesu zu verorten, wenn er beginnt, das ‚Evan‑ gelium Gottes‘ (V. 14) zu verkünden. Und schließlich liegt auch die Interpreta‑ tion von V. 1 als Überschrift über das ganze Markusevangelium im Spielraum, den der Text bietet: Er erzählt die ganze Geschichte dieses Jesus Christus auf Erden, der sich als Sohn Gottes erweisen wird – die Anfänge dessen, worauf die Verkündigung eines Paulus und der Glaube der frühen Gemeinden beruht, oder anders gesagt, den ‚Ursprung‘28 des Evangeliums. Außerdem ist es möglich, ἀρχή hier als ‚Anfang des Buches‘ zu verstehen.29 Diese Interpretation ist jedoch nur als Hinweis auf den Beginn eines neuen Buches in einer Sammlung wie einer Evangelienhandschrift sinnvoll, bedingt also, wie konsequenterweise von Koes‑ ter vertreten, die Deklaration von 1,1 als sekundäre Ergänzung. Abgesehen von der Bezeugung – es sind keine Textzeugen bekannt, die mit V. 2 oder noch spä‑ 27 Im masoretischen Text wird dies auch dadurch deutlich, dass in V. 1 das Nomen דברsteht, in V. 2 hingegen das Verb des gleichen Stammes. 28 Bauer s. v. ἀρχή 2. 29 Vgl. Koester, Ancient Christian Gospels, 12 f. Auch E.‑M. Becker führt ‚Anfang des Buches‘ als eine von mehreren Optionen auf, wie ἀρχή hier verstanden werden kann (vgl. E.‑M. Becker, Mk 1:1, 101).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
ter beginnen – spricht auch die hier beschriebene Ringkomposition über 1,1 – 15 gegen den sekundären Charakter von 1,1. Markus verwendet gewichtige Worte, um zu deklarieren, wovon sein Werk handelt: ‚das Evangelium‘ (τὸ εὐαγγέλιον), ‚Jesus Christus‘ (Ἰησοῦς Χριστός), ‚Sohn Gottes‘ (υἱὸς θεοῦ). Sie sind hier wohl primär im Rahmen eines Soziolek‑ tes zu verstehen, den die frühen christusgläubigen Gemeinschaften wie andere religiöse, politische oder andere soziale Gruppen entwickelten. Dafür spricht, dass auch etliche weitere in der Ouvertüre zu hörende Ausdrücke – κύριος, βάπτισμα, ἄφεσις ἁμαρτιῶν, μετάνοια, πνεῦμα ἅγιον und βασιλεία τοῦ θεοῦ – zu diesem Insidervokabular gehören. Eine solche gruppenspezifische Sprache steht in enger Wechselwirkung mit den gemeinsamen Überzeugungen und ist Ausdruck einer gemeinsamen Identität.30 Wörter oder auch feste Ausdrücke wer‑ den natürlich nicht einfach neu erfunden, sondern entwickeln sich aus dem vor‑ handenen Fundus, werden zum Teil neu kombiniert (z. B. ἄφεσις ἁμαρτιῶν31), zum Teil neu geschaffen (z. B. das Nomen βάπτισμα aus dem Verb βαπτίζειν), vielfach aber auch einfach übernommen und – in Resonanz mit dem bisherigen Sprachgebrauch – mit spezifischen neuen Bedeutungen belegt (z. B. εὐαγγέλιον und υἱὸς θεοῦ). Markus rechnet offensichtlich damit, dass diese Ausdrücke seiner Hörerschaft „ein Begriff sind“. Welchen Begriff bzw. welche Begriffe er selbst sich davon macht, wird sich erst im Laufe seines heute so genannten Evangeliums erwei‑ sen. Die erwähnten Resonanzen klingen auch im Insidervokabular noch mit. Wie bewusst der Autor auf sie rekurriert und welche Obertöne sein Publikum wahr‑ nimmt, lässt sich nicht sagen. Dennoch soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die Klangräume gegeben werden, die die drei gewichtigen Worte aus der Überschrift als externe Wiederholungen eröffnen. Εὐαγγέλιον ist trotz seiner prominenten Stellung am Buchanfang nicht in unse‑ rem heutigen Sinne als Gattungsbezeichnung zu verstehen, sondern als primär mündlich verkündigte ‚gute Botschaft‘, die immer in irgendeiner Weise Gottes Handeln an den Menschen in Jesus Christus meint.32 Zur Zeit der Abfassung des Markusevangeliums war εὐαγγέλιον in diesem engeren Sinne schon längst im Vokabular der christusgläubigen Gemeinden verankert; schon Paulus konnte dies bei seinen Adressaten und Adressatinnen voraussetzen.33
30
Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 50. Die TLG-Lemma-Suche „ἄφεσις (alle Kasus) and ἁμαρτιῶν (nur Gen. Pl.) within 3 words“ (Zugriff: 08.03.2017) ergab als früheste Vorkommen die des Neuen Testamentes, wo‑ runter sich keine aus den echten Paulusbriefen befinden. 32 Vgl. Bauer s. v. εὐαγγέλιον: „in uns[erer] Lit[eratur] nur im spez[iellen] Sinn d[ie] frohe Botschaft Gottes an d[en / ie] Menschen, d[as] Evangelium“ (Hervorhebungen im Original). 33 Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 11.22.49; Lindemann, Evangelium bei Paulus, 327.339.342 f.; Pokorný, From the Gospel, 45. 31
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
79
Vermutlich wurde der spezifisch christliche Begriff τὸ εὐαγγέλιον im jüdisch-hellenistischen Urchristentum geprägt,34 wobei zum einen der Sprachgebrauch der Septuaginta, zum anderen der allgemeine zeitgenössische Gebrauch und schließlich die Verwendung des Plurals εὐαγγέλια im Kontext der Propaganda und der Ideologie des Kaiserkultes für gute Nachrichten aus dem Herrscherhaus den Boden bildeten, auf dem er entstehen und gedeihen konnte.35 In der Septuaginta finden sich nur sechs Belege für τὸ εὐαγγέλιον bzw. für ἡ εὐαγγελία,36 die allesamt nicht theologisch aufgeladen sind, sondern in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Gebrauch eine ‚gute Nachricht‘ bzw. den ‚Botenlohn für eine gute Nachricht‘37 bezeichnen. Das Verb εὐαγγελίζειν bzw. εὐαγγελίζεσθαι hingegen ist häufiger und bekommt in manchen Kontex‑ ten, insbesondere in Deuterojesaja38 „a strong eschatological and universal note“39. Freudenbo‑ ten (εὐαγγελιζόμενοι) kündigen das Kommen Gottes (κύριος μετὰ ἰσχύος ἔρχεται, Jes 40,10), seine Herrschaft als König (βασιλεύσει, Jes 52,7) an, verkündigen, dass gerettet wird, wer den Namen des Herrn anruft (πᾶς ὃς ἂν ἐπικαλέσηται τὸ ὄνομα κυρίου σωθήσεται, Joel 3,5); man wird das Heil des Herrn verkündigen (τὸ σωτήριον κυρίου εὐαγγελιοῦνται, Jes 60,6), das für die Elenden ganz konkrete Formen annehmen wird – zerbrochene Herzen werden geheilt, G efangene kommen frei, Blinde sehen (εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς ἀπέσταλκέν με ἰάσασθαι τοὺς συντετριμμένους τῇ καρδίᾳ κηρύξαι αἰχμαλώτοις ἄφεσιν καὶ τυφλοῖς ἀνάβλεψιν, Jes 61,1). Diese theologisch-eschatologischen Konnotationen und auch die Verbindung mit dem hier ver‑ wendeten Vokabular sind auch für das neutestamentliche Lemma εὐαγγέλιον charakteristisch. Im Rahmen des allgemeinen Sprachgebrauchs etablierte sich in der Rhetorik des hellenisti‑ schen Herrscherkultes der Plural εὐαγγέλια für gute Nachrichten aus dem Herrscherhaus, z. B. militärische Erfolge, Geburten, Thronbesteigungen oder auch Wohltaten des Herrschers. Zudem wurden auch Opfer, die aus Anlass der ‚guten Nachrichten‘ dargebracht wurden, als εὐαγγέλια bezeichnet.40 Dieser Sprachgebrauch findet sich auch im Kaiserkult des Römischen Reiches wieder, der jedoch durch seinen Universalitätsanspruch weit über die lokalen Herrscherkulte hinausging.41 Als wichtigster Beleg42 für die Verwendung von εὐαγγέλια in diesem Kontext gilt die sogenannte Kalenderinschrift aus Priene, die ungefähr ins Jahr 9 v. Chr. zu datieren ist und auch in anderen kleinasiatischen Städten entdeckt wurde. In dieser Inschrift wird Augustus – noch zu seinen Lebzeiten – als Gott bezeichnet, dessen Geburtstag der ‚Anfang aller Dinge‘ (ἡ τῶν πάντων ἀρχή43) sei bzw. dass „mit dem Geburtstag dieses Gottes für die Welt die guten 34
Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 23; Theissen, Evangelium, 65. Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 11; sehr ähnlich auch Theißen und Pokorný, die den allgemeinen Sprachgebrauch aber nicht explizit erwähnen (vgl. Theissen, Evangelium, 63; Pokorný, From the Gospel, 47). 36 Die frühesten Belege für ἡ εὐαγγελία finden sich in der Septuaginta (vgl. TLG-Suche „εὐαγγελία“, Zugriff: 09.03.2017). Auch bei akzentloser Schreibung ist in 2 Sam 18,20.27 und 2 Kön 7,9 eindeutig die feminine Form zu erkennen; in 2 Sam 4,10 und 2 Sam 18,22.25 liegt entweder der feminine Singular oder der neutrische Plural vor, wobei es insbesondere bei den fraglichen Stellen in 2 Sam 18, die von zwei eindeutigen Belegen von ἡ εὐαγγελία gerahmt wer‑ den, naheliegt, dass auch hier das Femininum gemeint ist. 37 So in 2 Sam 4,10, evtl. auch in 2 Sam 18,22; vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 13. 38 Jes 40,9; 52,7; 60,6; 61,1. So auch an den thematisch verwandten Stellen Ps 95,2LXX; Joel 3,5; Nah 2,1. 39 Stanton, Jesus and Gospel, 13. 40 Vgl. a. a. O., 27.33; Theissen, Evangelium, 63. 41 Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 27. 42 Vgl. Lindemann, Evangelium bei Paulus, 316. 43 OGIS II 458, 50,5. 35
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Nachrichten [. . .], die von ihm ausgehen, ihren Anfang nahmen.“44 (ἦρξεν δὲ τῶι κόσμωι τῶν δι’ αὐτὸν εὐανγελί[ων {sic} ἡ γενέθλιος ἡμέ]ρα τοῦ θεοῦ45). Auch hier ist es nicht nur das Lemma εὐαγγέλιον, sondern sind es auch weitere Vokabeln, mit denen die Göttlichkeit, der universale Herrschaftsanspruch und die Bedeutung des Kaisers für die Welt – sein Sein und Handeln ist ‚zum Heil‘ (ἐπὶ σωτηρίᾳ46) der Menschen – umschrieben wurden, die für die Bildung des christ‑ lich gefüllten Evangeliumsbegriffs wichtig waren. Auffällig ist, dass sich im frühchristlichen Kontext der oft absolute Gebrauch des Singu‑ lars τὸ εὐαγγέλιον durchgesetzt hat. Die genannten Nährböden hingegen kennen entweder die Verwendung des Verbs oder die Pluralform des Nomens.47 Der Singular wurde vermutlich in bewusster Absetzung der einen, ein für allemal gültigen guten Nachricht von Gottes Handeln in Jesus Christus gegen die vielen guten Nachrichten von etlichen Kaisern gewählt.48 Der ‚Anfang aller Dinge‘ ist nicht die Geburt oder die Thronbesteigung eines neuen Kaisers, sondern Tod und Auferstehung Jesu Christi.49 In diesen Ereignissen liegt der Anfang der Verwirklichung der eschatologischen Hoffnungen, die in der Septuaginta unter Verwendung des Verbs εὐαγγελίζε‑ σθαι angekündigt werden.50
Mit τὸ εὐαγγέλιον war eine kompakte Floskel gefunden, die, soweit sie bei Pau‑ lus greifbar ist, zunächst auf die rettende Wirkung von Tod und Auferstehung Jesu Christi fokussiert.51 Die Begegnungen mit dem Auferstandenen, die Pau‑ lus erwähnt (1 Kor 15,5 – 7), bestätigen diese zentralen Ereignisse; deren Vorge‑ schichte ist aus seinen Briefen nicht zu erfahren. Da Markus mit seiner Schrift diese Vorgeschichte der Worte, Taten und des Leidens Jesu nachliefert, lässt sich die oben erwähnte, auf das ganze Markusevangelium bezogene Interpretation von ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου als ‚Anfang des Evangeliums von Tod und Auferstehung Jesu Christi‘ präzisieren. Aufgrund der Verwendung von εὐαγγέλιον im römi‑ schen-imperialen Kontext lässt sich auch fragen, ob – von Markus intendiert oder 44
Übersetzung übernommen aus Schröter / Zangenberg, Texte zur Umwelt, 406. OGIS II 458, 55,40 f. 46 OGIS II 458, 56,50. 47 Für den Singular finden sich vor der Prägung von τὸ εὐαγγέλιον als christlichem Ter‑ minus technicus kaum Belege. Eine TLG-Lemma-Suche „εὐαγγέλιον [nur Singularformen]“ erbrachte für die vorneutestamentliche Zeit nur zwei Stellen in Homers Odyssee; weitere aus nichtchristlichem Kontext finden sich erst bei Josephus (Flav. Jos. Bell. 2.420.2; diskutiert bei Stanton, Jesus and Gospel, 29: Lindemann, Evangelium bei Paulus, 320) und Plutarch (Plut. Ages. 33.5.2; Plut. Demetr. 17.6.7; Plut. glor. Ath. 347.D.9 und 347.D.12). 48 Vgl. Friedrich, εὐαγγελίζομαι, εὐαγγέλιον, 722. 49 Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 34. Soweit bei Paulus greifbar, ist das rettende Handeln Gottes in Tod und Auferstehung Jesu der Kern des ‚Evangeliums‘, zu dem weitere Topoi hin‑ zutreten können. 50 Vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 11. Eine Gegenposition – ein Einfluss der Septuaginta und der Rhetorik des Kaiserkultes sei nicht anzunehmen – vertritt Lindemann. Auch wenn man ihm hierin nicht folgen muss, weist er doch zu Recht darauf hin, dass sich das Bedeutungsspekt‑ rum von τὸ εὐαγγέλιον aus seiner Verwendung in den verschiedenen neutestamentlichen Texten erschließt (vgl. Lindemann, Evangelium bei Paulus, 322). 51 Z. B. 1 Kor 15,1.3b – 5; Pokorný nennt 1 Kor 15,1.3b – 5 „the most influential formula of the gospel“, der er eine Schlüsselrolle für die Entstehung der literarischen Evangelien zuschreibt (Pokorný, From the Gospel, 47). Vgl. auch Theissen, Evangelium, 71. 45
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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nicht – der eine oder die andere im Publikum diesen markanten Anfang als Kon‑ trapunkt zum ‚Anfang der guten Nachrichten‘ mit der Geburt des Kaisers Augus‑ tus oder, genereller, zum Kaiserkult insgesamt wahrnahm.52 Nur hier in V. 1 und am Ende der Ouvertüre spezifiziert Markus εὐαγγέλιον durch Genitive – hier ist es das ‚Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes‘, in V. 14 das ‚Evangelium Gottes‘. In V. 1 kann Ἰησοῦ Χριστοῦ als objektiver oder als subjektiver Genitiv verstanden werden. Die Kombination εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ ist einmalig im ganzen Neuen Testament. Damalige Ersthörer werden dennoch intuitiv vom gängigen Verständnis von εὐαγγέλιον Χριστοῦ53 als die gerade skizzierte heilbringende Nachricht von Tod und Auferstehung aus‑ gegangen sein.54 Doch wer das ganze Markusevangelium schon kannte, hörte zwei weitere Dimensionen mit: Zum einen ist nun das Evangelium auch die gute Nachricht von Jesu Taten und Worten (Gen. obj.), in denen sich nochmals auf andere Weise die eschatologischen Hoffnungen insbesondere aus Jes 61,1 kon‑ kretisieren. Zudem ist es auch, wie am Ende der Ouvertüre zu erfahren ist, das Evangelium Gottes, das Jesus selbst verkündigt (Gen. subj. in V. 1, κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ, V. 14). Im Markusevangelium wird diese Weitung des Evangeliumsbegriffs erstmals greifbar. Auch bei Ἰησοῦς Χριστός und υἱὸς τοῦ θεοῦ ist davon auszugehen, dass sie primär als Floskeln des frühchristlichen Soziolekts gehört wurden. Χριστός ist hier Bestandteil des Namens Jesu, wie er sich, dem Gebrauch im Neuen Testa‑ ment nach zu schließen, unter den frühen Christusgläubigen eingebürgert hat. Wie bei εὐαγγέλιον ist auch bei χριστός zu beobachten, dass schon Paulus von seinem vermut‑ lich ersten Brief an, dem ersten Thessalonicher, davon ausgeht, dass dieses Epitheton von seiner Adressatenschaft verstanden wird und er es nicht erklären muss.55 In den Paulusbriefen scheint die Reihenfolge noch nicht fixiert gewesen zu sein; sowohl Ἰησοῦς Χριστός als auch Χριστὸς Ἰησοῦς sind zu finden.56 In der Septuaginta dient χριστός durchgehend als Übersetzung für das Adjektiv משיח ‚gesalbt‘, das sich auf Könige, Priester und Propheten beziehen kann57 und für deren besondere Nähe zu Gott steht.58 In Passagen der Prophetenbücher, die die Wiedererrichtung des König‑ tums in Israel durch einen heilbringenden König aus dem Haus Davids ankündigen59 und später 52
Vgl. a. a. O., 77. So mehrfach bei Paulus (aber nicht in anderen neutestamentlichen Schriften): Röm 15,19; 1 Kor 9,12; 2 Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1 Thess 3,2; ähnlich nur noch 2 Thess 1,8 (εὐαγγέλιον τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ). 54 Vgl. Lindemann, Evangelium bei Paulus, 346. 55 Vgl. A. Collins, Jesus as Messiah, 102.106.108.113. 56 Wie sich erklären lässt, dass die Reihenfolge auch in den Deuteropaulinen variabel bleibt, in allen anderen Schriften des Neuen Testaments aber konsequent Ἰησοῦς Χριστός verwendet wird, kann in einer Arbeit zum Markusevangelium nicht behandelt werden. Grundmann nimmt offensichtlich nicht wahr, dass Χριστός Ἰησοῦς nur in den Paulinen und Deuteropaulinen ver‑ wendet wird (Vgl. Grundmann, χρίω, χριστός, 519). 57 Vgl. Schreiber, Anfänge, 13. 58 A. a. O., 14. 59 Z. B. Jes 9,1 – 6; 11,1 – 11; Mich 5,1 – 5; Sach 9,9 f. 53
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
als ‚messianische Verheißungen‘ gedeutet wurden, taucht χριστός allerdings nicht auf.60 Diese Verbindung – χριστός in titularer Verwendung für eine verheißene, erhoffte königliche Retter‑ gestalt – wird erst ab der hasmonäischen Zeit greifbar.61 Schriften aus Qumran, die Psalmen Salomos, apokalyptische Literatur und auch Geschichtswerke von Flavius Josephus bieten einen Einblick in die Fülle von Konzeptionen und Erwartungen, die in den beiden Jahrhunder‑ ten um die Zeitenwende mit einem solchen Messias verbunden wurden.62 Das Spektrum reicht von der Erwartung eines realhistorischen Königs, der Israel von fremden Herrschern befreit und zu neuer Blüte führt, von der Entfaltung der Idee zweier Messiasfiguren (Sach 4,14) in Qumran‑ texten63 bis hin zu eschatologischen Vorstellungen von einer endzeitlichen Königs- und Rich‑ terfigur, die in einer Zwischenzeit nach Abbruch der Geschichte den Beginn einer dauerhaften, von Gott selbst geschaffenen Heilszeit vorbereitet.64 In diesen Texten wird deutlich, wie sehr hier verschiedene Vorstellungen ineinanderfließen. Das schlägt sich auch im Vokabular nieder, insbesondere auch in den Epitheta, die der Messiasfigur beigelegt werden. Mit χριστός, υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου65 und υἱὸς τοῦ θεοῦ66 seien nur die drei wichtigsten genannt, die zudem zentral für das Bild sind, das Markus von Jesus zeichnet. Trotz aller Unterschiedlichkeit der Messiaskon‑ zeptionen des 1. Jahrhunderts lassen sich manche Gemeinsamkeiten erkennen: Der Messias ist ein königlicher Herrscher aus dem Haus Davids, der als Repräsentant Gottes von diesem beauf‑ tragt und bevollmächtigt ist. Das Kommen des Messias gilt als Erfüllung biblischer Verheißun‑ gen und ist somit von heilsgeschichtlicher Bedeutung.67 Die Anwendung des Epithets χριστός auf Jesus greift die im historischen Kontext damit verbundenen Konnotationen auf, fügt aber ein neues Element ein, das den zeitgenössischen Messiaskonzeptionen fremd war: Die Messianität Jesu ist untrennbar mit seinem Tod und seiner Auferstehung verbunden.68 Die offensichtlich schon früh sich etablierende Verbindung mit dem Namen Jesu lässt den Anspruch der Exklusivität erkennen; dieser Jesus ist der Repräsentant Gottes schlechthin.
In den Evangelien, die ja die Vorgeschichte, den ‚Anfang‘ davon erzählen, wie der Mensch Jesus zu ‚Jesus Christus‘ bzw. als der Christus offenbar wurde, ist Christus als Beiname zu Jesus äußerst rar. Lukas verwendet ihn anders als in der Apostelgeschichte in seinem Evangelium gar nicht, Matthäus wie Markus nur zu Beginn seines Evangeliums in Metatexten (vgl. Mt 1,1.18). Mit diesem Gebrauch ist auch Joh 1,17 vergleichbar; in Joh 17,3 erklingt er ein einziges Mal an anderer Stelle, sozusagen unzeitgemäß, aus dem Munde Jesu. Markus verwendet χριστός 60
Vgl. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 136. Vgl. J. Collins, Kingship, 46. 62 Vgl. Schreiber, Anfänge, 63 – 65. 63 Vgl. a. a. O., 20; Hahn, Christologische Hoheitstitel, 146. 64 Vgl. Schreiber, Anfänge, 28 f.31. 65 Insbesondere in den apokalyptischen Texten der Zeit ist für die Konzeption des Messias die Figur des ‚Menschensohnes‘ aus Daniel 7 prägend (vgl. J. Collins, Messiah and Son of God, 90.96; Schreiber, Anfänge, 29; Hahn, Christologische Hoheitstitel, 158). 66 Die Verbindung von χριστός und υἱὸς τοῦ θεοῦ ist schon in der Königstheologie alttes‑ tamentlicher Texte angelegt (vgl. z. B. Ps 2). In 4 Es 7,28 könnte im Rahmen einer vom ‚Men‑ schensohn‘ geprägten apokalyptischen Messiasvorstellung zudem eine Identifikation des ‚Mes‑ sias‘ mit dem ‚Sohn Gottes‘ vorliegen (so J. Collins, Messiah and Son of God, 96; aufgrund von Übersetzungsfragen etwas zurückhaltender Schreiber, Anfänge, 28). 67 Vgl. Schreiber, Anfänge, 30; Hesse, χρίω, χριστός, 495 – 500. 68 Vgl. Schreiber, Anfänge, 66; Grundmann, χρίω, χριστός, 539 f. 61
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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in seiner Erzählung erst ab dem Petrusbekenntnis (8,29), mit einer Ausnahme (9,41) immer mit Artikel, also in titularer Funktion. Bezeichnenderweise wird unmittelbar anschließend (8,31) zum ersten Mal Leiden, Tod und Auferstehung Jesu thematisiert, also genau das angesprochen, was diesen wahren Christus von falschen (ψευδόχριστοι, 13,22) unterscheidet. ‚Sohn Gottes‘ ist der Titel, mit dem Markus einen Bogen über sein ganzes Evangelium spannt und der für ihn offensichtlich am engsten mit der „wahren“ Identität Jesu verbunden ist. Anders als χριστός ist dieses Epithet nicht nur im jüdischen Kontext, sondern auch in der paga‑ nen Umwelt, insbesondere im Kaiserkult, beheimatet. Die hebräische Bibel kennt im Rahmen einer Königstheologie die Rede vom davidischen Herrscher als ‚Sohn Gottes‘; schon hier sind Resonanzen mit altorientalischen, insbesondere ägyptischen Konzepten von der Gottessohnschaft des Pharaos wahrscheinlich.69 Wenngleich z. T. wie in ägyptischen Texten von der ‚Zeugung‘ des Königs durch Gott gesprochen wird (Ps 2,6, 110,3), gibt es in der Bibel keine Anhaltspunkte für ein ontologisches Verständnis von der Gottessohnschaft des Königs; ‚Zeugung‘ wurde im Rahmen eines Inthronisationsrituals metaphorisch verwendet, in dem Gott den König – auch das ist metaphorische Rede – adoptiert (vgl. Ps 89,27 f.). Dieses Bild einer Vater-Sohn-Beziehung steht für eine besondere Verbindung des Königs zu Gott, der den irdischen Herrscher legitimiert und unterstützt, aber nicht für eine Gleichsetzung der beiden.70 Wie schon erwähnt, verbindet sich die Vorstellung der Gottessohn‑ schaft schon vor der Zeit Jesu mit Messiasvorstellungen; so ist es nicht erstaunlich, dass auch der ‚Christus Jesus‘ ‚Sohn Gottes‘ genannt wurde.71 In der Rhetorik des hellenistischen Herrscherkultes findet sich in Kontinuität zum altorienta‑ lischen Sprachgebrauch neben den für den Beginn des Markusevangeliums ebenfalls relevanten εὐaγγέλια auch die Gottessohn-Bezeichnung für Herrscher, die im griechisch-römischen Kon‑ text darüber hinaus auch anderen herausragenden Männern beigelegt wurde.72 Im unmittelbaren historischen Kontext der Zeit Jesu ist es der römische Kaiser, der exklusiv als (oft adoptierter) Sohn seines post mortem divinisierten Vorgängers als divi filius (auf griechisch θεοῦ υἰός73) bezeichnet wurde.74
Nur zweimal in der ganzen Erzählung ist Gottes Stimme direkt zu hören – beide Male nennt er Jesus dabei ‚meinen geliebten Sohn‘ (ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός). Noch in der Ouvertüre meldet sich Gott selbst zu Wort und spricht Jesus zu, sein ‚geliebter Sohn‘ zu sein (V. 11). In der Mitte des Evangeliums offenbart er drei ausgewählten Jüngern die wahre Identität Jesu (9,7). Zuvor, in den beiden Hauptteilen, die in Galiläa spielen, wissen auf narrativer Ebene nur die Dämonen davon (3,11; 5,7); Jesus verbietet ihnen, es bekannt zu machen. Im Gleichnis von den bösen Weinbauern sendet der ‚Herr des Weinbergs‘ nach vielen ande‑ ren Knechten zuletzt seinen ‚geliebten Sohn‘ (12,6) zu den Weinbauern; indem 69
Vgl. J. Collins, King as Son of God, 13. Vgl. J. Collins, King as Son of God, 22; Schreiber, Anfänge, 68; Hahn, Christologische Hoheitstitel, 284, Anm. 2. 71 Vgl. auch Schreiber, Anfänge, 68; Hahn, Christologische Hoheitstitel, 287. 72 Vgl. Schreiber, Anfänge, 69. 73 Vgl. Wülfing von Maritz, υἱός, 336. 74 Vgl. Schreiber, Anfänge, 69. 70
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sie ihn töten, besiegeln sie ihr eigenes Schicksal. Ein römischer Hauptmann als Augenzeuge des Todes Jesu ist es schließlich, der erkennt, dass ‚dieser Mensch Sohn Gottes war.‘ (15,39) – erst unter dem Kreuz ist dieser Titel aus dem Mund eines Menschen zu hören. So macht Markus auch bei ‚Sohn Gottes‘ klar, dass diese Zuschreibung wie der Christustitel nicht ohne Passion und Tod denkbar ist. Wird die Gottessohnschaft Jesu erst im Laufe der Geschehnisse für die Personen in der Geschichte offenbar, weiht Markus sein Publikum von Anfang an ein – dieser Jesus Christus ist der ‚Sohn Gottes‘ – was auch immer damit genau gesagt sein will und gehört wird. Wie schon Paulus75 setzt auch Markus voraus, dass seiner Hörerschaft diese Floskel bekannt ist; er erklärt sie nicht, expliziert aber sein Verständnis davon durch deren markante Verwendung an wichtigen Punkten im Spannungsbogen seiner Erzählung. 2 f. Nun wird ausdrücklich – das einzige Mal im ganzen Markusevangelium, dass der Erzähler dies tut – aus der Schrift zitiert: ‚wie geschrieben steht‘ (καθὼς γέγραπται). Durch die Berufung auf diese Autorität wird gleich zu Beginn deutlich, dass die Geschichte, die hier ihren Lauf nimmt, ihre Wurzeln in der Geschichte Gottes mit seinem Volk hat. Schon die Propheten haben angekündigt, was jetzt geschieht. Die Angabe ‚bei Jesaja dem Propheten‘ (ἐν τῷ Ἠσαΐᾳ τῷ προφήτῃ) ist allerdings nur zum Teil richtig:76 Nur V. 3 ist im Buch des Jesaja zu finden. Durch die ‚Stimme eines Rufers in der Einöde‘ ergeht ein zweifacher Appell zur Wegbereitung in der Form eines Parallelismus membrorum. Markus zitiert Jes 40,3LXX wortwörtlich mit Ausnahme der letzten Wendung; Jesajas ‚unseres Gottes‘ (τοῦ θεοῦ ἡμῶν) ersetzt Markus durch das Personalpronomen ‚seine‘ (αὐτοῦ) und zieht damit sozusagen einen doppelten Boden ein: Forderte der Rufer in der Einöde nach JesajaLXX eindeutig auf, ‚dem Herrn, unserem Gott‘ den Weg zu bereiten, ergibt sich aus dem markinischen Kontext, dass dieser kom‑ mende Herr nun der ‚Herr Jesus Christus‘ ist, von dem schon bei Paulus und auch in späteren Briefen des Neuen Testamentes unzählige Male die Rede ist. Mit κύριος gibt die Septuaginta, so auch im vorliegenden Jesaja-Zitat, den hebräischen Gottesnamen wieder. Markus verwendet nach εὐαγγέλιον, Ἰησοῦς Χριστός und υἱὸς θεοῦ also nicht einfach unkommentiert eine weitere Vokabel des frühchristlichen Soziolekts77 und überlässt die Interpretation zunächst wie‑ der seinem Publikum, sondern gibt hier von Anfang an die Verstehensrichtung vor: Die Identität Jesu definiert sich durch die Identität Gottes; der Name Gottes ist auch auf ihn anwendbar.78 Markus führt damit allerdings keinen völlig neuen 75
Vgl. A. Collins, Jesus as Messiah, 116. Vgl. auch Textkritik zu V. 2, S. 74. 77 Zur Verwendung von κύριος für Jesus und den damit verbundenen traditionsgeschicht‑ lichen Hintergründen vgl. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 67 – 132.461 – 466; Schreiber, Anfänge, 71; Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 183 – 185; Fitzmyer, Semitic Background; A. Collins, Jesus as Messiah. 78 Diese These zum markinischen Gebrauch von κύριος vertritt auch Johansson: „[T]he ambigous use of κύριος is intentional and serves the purpose of linking Jesus to the God of 76
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Gedanken ein; schon Paulus praktiziert die Übertragung des alttestamentlichen Gottesnamens auf Jesus in Zitaten aus der Septuaginta (z. B. Röm 10,9 – 14).79 Mit κύριος erklingt ein weiteres Schlüsselwort, das Markus verwendet, um seine differenzierte Antwort auf die Frage ‚Wer ist dieser?‘ (4,41) zu geben. Er setzt diesen Titel wesentlich sparsamer und gezielter ein als alle anderen Evangelisten und bezieht ihn immer auf Gott und / oder Jesus, darunter zweimal bildhaft in Gleichnissen (12,9; 13,35).80 In den Hauptteilen, in denen Passion und Tod the‑ matisiert werden und Jesu Machtlosigkeit bzw. Machtverzicht im Vordergrund steht, ist κύριος nicht zu hören (8,27 – 10,52; 14,1 – 16,8). Nur einer einzigen Person, der syrophönizischen Frau, erlaubt er es, Jesus mit κύριε anzusprechen (7,28).81 Schon hier, bei der Vorstellung des Motivs, zeigt es eine Eigenschaft, die es bis zum Ende behalten wird: Es changiert zwischen κύριος ὁ θεός82 und κύριος [ἡμῶν] Ἰησοῦς Χριστός – je nach Stelle und Blickwinkel tritt die eine oder die andere Zuschreibung stärker in den Vordergrund; das Bild lässt sich nicht fixieren. Mit Kapitel 40 setzt im Jesajabuch die Verkündigung umfassenden Heils ein,83 das im Laufe der Fortschreibung des Buches über die Jahrhunderte escha‑ tologische Dimensionen bis hin zur Neuschöpfung von Himmel und Erde und der Schaffung eines Friedensreichs unter der Herrschaft Gottes (Jes 65,17 – 25) annimmt.84 Der Aufruf, dem ‚Herrn‘ den Weg zu bereiten, stammt aus der „ZionJerusalem-Ouvertüre“85 (Jes 40) eines „Oratoriums der Hoffnung“86 (Jes 40 – 55) und ist eingebettet in die Zusage, dass Israels ‚Schuld aufgelöst ist‘ (λέλυται Israel, so that both share the identity as κύριος.“ (Johansson, Kyrios, 102 f.; Hervorhebungen im Original). Vgl. zu Mk 1,2 f. auch Stegemann, Jesus, 29; Watts, Mk, 113.119.120. Allgemei‑ ner vertritt Fitzmyer die Ansicht, die Anwendung des κύριος-Titels auf Jesus lege nahe, „that early Christians regarded Jesus as sharing in some sense in the transcendence of Yahweh, that he was somehow on a par with him“; betont dabei aber zu Recht, dass diese „Gleichsetzung“ im Neuen Testament noch nicht in der Klarheit formuliert wird wie später auf den Konzilen in Nizäa und Chalcedon (Fitzmyer, Semitic Background, 130). 79 Schreiner, New Testament Theology, 331. 80 16 Vorkommen in Mk, 80 in Mt, 104 in Lk, 52 in Joh. 81 Auch hier ist der Unterschied zu den anderen Evangelien frappierend: In Mt findet sich κύριε an 34 Stellen, in Lk an 27 und in Joh an 33. 82 So übersetzt die Septuaginta sowohl יהוה אלהיםals auch oft יהוה. Im Neuen Testament fin‑ det es sich in Mt, Lk und Apg in Zitaten aus der Septuaginta (so auch in Mk 12,29.30) als auch in den lukanischen Cantica (1,32.68, dazu in der einem Hymnus ähnlichen Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel in Lk 1,16), in Apg 2,39, sowie in Offb als gängige Gottesanrede. Bei Paulus (und auch in den anderen Briefen) hingegen findet sich diese Bezeichnung nicht; wenn in seinen Briefen κύριος und θεός nahe beieinander stehen, wird zumeist zwischen ‚Gott [, dem Vater]‘ und ‚dem Herrn Jesus [Christus]‘ unterschieden (vgl. z. B. Briefanfänge und ‑schlüsse: Röm 16,20; 1 Kor 1,2 f.; 2 Kor 1,3; 13,13; Gal 1,3; 6,23; Phil 1,2; 1 Thess 1,1; 5,23). 83 Vgl. Berges, Jes 40 – 48, 81. 84 Vgl. Schmid, Hintere Propheten, 319. 85 Berges, Jes 40 – 48, 72. 86 A. a. O., 42.
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αὐτῆς ἡ ἁμαρτία, 40,2LXX) und ‚der Herr mit Stärke kommt‘ (κύριος μετὰ ἰσχύος ἔρχεται, 40,10LXX). Sehr Ähnliches wird auch das Publikum des Markus gleich hören: Der Täufer Johannes verkündigt eine ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ (βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, V. 4) und verheißt, dass ‚der, der stärker ist als ich, kommt‘ (ἔρχεται ὁ ἰσχυρότερός μου, V. 7). Diese Anklänge verleihen der an sich schon starken Überblendung des alttestamentli‑ chen κύριος mit dem Protagonisten des Evangeliums Nachdruck. Sie bilden das Fundament für die markinische Darstellung der Göttlichkeit Jesu, die der Autor, so wird sich im Laufe der Erzählung zeigen, in Paradoxie zur Menschlichkeit des Nazareners zeichnet. Dem Jesaja-Zitat sind Worte vorangestellt, in denen gleich zwei Schriftstellen anklingen. Die Kontexte, aus denen diese stammen, sind sehr unterschiedlich; dementsprechend groß ist die Bandbreite an Assoziationen, die sie hervorrufen können. Auch dieser Vers ist (nach den einleitenden Worten) zweiteilig, jedoch abgesehen vom Endreim auf ‑ου nicht in der Form eines Parallelismus. Es ist insbesondere die erste Hälfte, der Hauptsatz, der erkennbar auf Vorlagen aus der Septuaginta zurückgeht; der anschließende Relativsatz übernimmt aus diesen nur den ‚Weg‘ (ὁδός). In Ex 23,20a ist fast das Gleiche zu lesen wie bei Markus: Καὶ ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου – nur καί und ἐγώ fehlen bei Markus. Die unmittelbare Fortsetzung (ἵνα φυλάξῃ σε ἐν τῇ ὁδῷ, V. 20b) enthält das Stichwort ὁδός. Sehr ähnlich ist auch Mal 3,1a: Ἰδοὺ ἐγὼ ἐξαποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου, καὶ ἐπιβλέψεται ὁδὸν πρὸ προσώπου μου. Der Mar‑ kustext steht der Formulierung in Exodus näher als der in Maleachi. Der gravie‑ rendste Unterschied liegt dabei darin, dass der Sprecher – in beiden Kontexten ist es Gott – bei letzterem den Boten ‚vor mir her‘, bei den anderen beiden ‚vor dir her‘ sendet. Am Personalpronomen entscheidet sich, welche Interpretations‑ spielräume sich für die Hörer des Markus öffnen: Die Worte Gottes, die Mose am Berg Sinai hört, sind an das Volk Israel gerichtet; ihm spricht Gott zu, einen Boten vor ihm her zu schicken, der es auf dem Weg ins gelobte Land behüten soll. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich eine Hörerin, die sich zum ‚Volk Gottes‘ zählt, selbst angesprochen fühlt – ‚vor dir sende ich meinen Engel her‘! Wenn sie etwas distanzierter zuhört, versteht sie vielleicht im Laufe der Ouver‑ türe, dass Johannes den Leuten aus ‚Judäa und Jerusalem‘ (V. 5) als Wegbereiter vorausgesandt ist. Womöglich hat sie am Ende der Ouvertüre noch das Bild vom gelobten Land im Kopf, wenn sie in Jesu Verkündigung vom ‚Reich Gottes‘ hört. Andere Perspektiven ergeben sich durch die Maleachi-Stelle; hier ist Ähnliches wie beim Jesaja-Zitat in V. 3 zu beobachten: Durch die Änderung von ‚vor mir her‘ zu ‚vor dir her‘ wird es möglich, dieses Wort Gottes als an Jesus gerichtet zu verstehen. So wird es zur Folie, auf der sich die folgenden Geschehnisse deuten lassen: Bei Maleachi wird das Kommen Gottes ‚am Tag des Herrn‘ angekündigt, der als Tag des Gerichts geschildert wird (Mal 3,2 f.5). Als ‚Engel‘, so klärt sich in Mal 3,23, sendet er den Propheten Elia voraus, um die Menschen vorher zur Umkehr zu bewegen. Nun sendet Gott Johannes als Verkünder einer ‚Taufe der
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Umkehr‘ voraus, um dem kommenden Jesus den Weg zu bereiten – dessen Kom‑ men auch Gottes Kommen ist. Die zweite Hälfte des Verses, der Relativsatz ‚der bereitmachen wird deinen Weg‘ (ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου), hat außer dem Stichwort ὁδός wenig gemein mit den Vorlagen in der Fassung der Septuaginta; der Engel in Ex 23,20LXX wird ausgesandt, das Volk auf dem Weg zu behüten, der in Maleachi soll genau auf den Weg schauen. Der Markustext ist jedoch nahe am masoreti‑ schen Text von Mal 3,187, auch dort bereitet der Engel den Weg ()ופנה־דרך לפני. Betrachtet man nun das ganze Mischzitat, wie Markus es in V. 2 f. präsen‑ tiert, zeigt sich eine zweiteilige Komposition: Beide Hälften beginnen mit einem Appell an die Aufmerksamkeit: ἰδού (a) fordert auf, hinzusehen, die ‚Stimme des Rufers‘ (avar) will gehört werden. Sehen und Hören, zwei Weisen der konkreten sinnlichen Wahrnehmung, durchziehen das ganze Markusevangelium. Mit ihnen lotet Markus die ganze Bandbreite vom rechten Verstehen bis hin zum absoluten Unverständnis (insbes. 4,12; 8,17 f.) aus. Wie Jesus so manches Mal seine Zuhö‑ rer zum rechten Hören und Sehen auffordert,88 so auch Markus sein Publikum. Es gilt, den Auftritt des Johannes und das Kommen Jesu auf dem Hintergrund der Schrift recht zu verstehen. Die beiden Hälften des Mischzitats sind durch diese Aufmerksamkeit heischenden Einleitungen und auch durch die Personenkon stellation klar voneinander getrennt. In V. 2 verheißt der Sprecher (Gott) einem Adressaten (Singular), dass sein Weg bereitet werden wird; die verschiedenen Möglichkeiten der Identifikation des Du wurden bereits dargelegt. In V. 3 hinge‑ gen ruft die Stimme des Rufers mehrere Adressaten (Plural) auf, ‚den Weg des Herrn‘ zu bereiten. Wer ist hier angesprochen? Das Publikum des Markus? Die‑ jenigen, die Johannes erreichen will? Wie sollen die einen wie die anderen ‚den Weg bereiten‘? Der volle, flirrende Klang dieser Zitatkomposition entzieht sich im Erlebnis des ersten Hörens zunächst einmal einer eindeutigen Einordnung. Deutlich vernehmbar ist ‚der Weg‘ – zweimal ist ὁδός zu hören, einmal die Vari‑ ation τρίβος. ‚Der Weg‘ ist ein weiteres Motiv, das insbesondere den mittleren Hauptteil prägen wird, wo Jesus mit seinen Jüngern ‚auf dem Weg‘ (ἐν τῇ ὁδῷ, 8,3.27; 9,33.34; 10,32; noch einmal 10,52) Richtung Jerusalem unterwegs ist. Die Hauptlinie, die sich in den folgenden Versen aus der Mehrstimmigkeit herauskris‑ tallisiert, ist die Bereitung des Weges Jesu durch Johannes. 4 Der Auftritt des Johannes ist so gestaltet, dass – egal, ob hier der Satz von V. 2 zu Ende geführt wird oder ein neuer beginnt – beim ersten Hören klar wird, dass er der ‚Rufende‘ sein muss: Auch er tritt in der Einöde (ἐν τῇ ἐρήμῳ) auf und sein Verkündigen ist als Variation zum Rufen zu erkennen: κηρύσσων und βο87
In Ex 23,20 ist inhaltlich kein Unterschied zwischen MT und LXX. Beispiele sind durch den ganzen Text hinweg zu finden; in den beiden großen Reden sind Hören und Sehen besonders präsent: In der Gleichnisrede in Kap. 4 dominiert das Verb ἀκούειν (dreizehn Mal in 4,1 – 34), die Endzeitrede in Kap. 13 wird durch den Aufruf βλέπετε strukturiert (13,5.9.23.33). 88
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ῶντος, beide abgesehen vom Kasus gleiche Partizipformen, sind hier synonym; der ‚Rufende‘ (βοῶν) von Imperativen wendet sich wie der ‚Verkündigende‘ (κηρύσσων) auch an Adressaten und umgekehrt hat die Verkündigung einer ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ auch Aufforderungscharakter. Johannes, so geben diese Parallelen zwischen V. 3 und 4 zu verstehen, ist der, der ‚wie geschrieben steht‘ zur Wegbereitung für den kommenden ‚Herrn‘ auf‑ ruft. Zieht man die Linien weiter aus, so scheint sich in der Umkehr, die mit der Taufe verbunden ist, die Wegbereitung zu realisieren. Dennoch bleibt die Szene unwirklich: Wo befindet sich Johannes überhaupt? Eine genauere Ortsbezeich‑ nung fehlt.89 Und wer sollte die Stimme des Johannes ‚in der Einöde‘ hören? Ein‑ same Orte (ἔρημοι τόποι) eignen sich zum ungestörten Gespräch mit Gott oder zum Rückzug vor der Menge (vgl. 1,35.45; 6,31),90 doch um eine Botschaft unter die Leute zu bringen, wäre es effektiver, sich auf einen Marktplatz zu stellen. Hier geht es offensichtlich weniger um ein in Raum und Zeit verortetes Gesche‑ hen, sondern um die Identifikation der Person. Dass Johannes nicht nur der Rufer, sondern auch der Wegbereiter ist, von dem das Mischzitat in V. 2 spricht, zeigt sich anschließend in seiner Verkündigung des ‚Starken, der nach mir kommt‘ (V. 7; vgl. Jes 40,10) und im weiteren Verlauf der Ouvertüre, an deren Ende die Ablösung des Johannes als Verkündiger durch Jesus steht (V. 14 f.). Ganz selbst‑ verständlich wird Johannes als ‚der Täufer‘ eingeführt, zudem mutet Markus seiner Hörerschaft mit ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ (βάπτι‑ σμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) eine nächste geballte Ladung theologisch aufgeladener Begriffe aus dem Wortschatz der Christusgläubigen zu, ohne sie weiter zu erläutern. Der Faden ‚Taufe‘ wird in den unmittelbar folgenden Versen fortgesponnen, die in der Taufe Jesu gipfeln. Dass Johannes ‚der Täufer‘ – wie hier ὁ βαπτίζων oder auch ὁ βαπτιστής – ist, wird im Bericht über sein Ende (6,[14 – 16.]17 – 29) noch ein paar Mal erwähnt;91 die Johannestaufe wird zudem Gegenstand eines Streitgesprächs (11,30), aus dem zu erfahren ist, dass die Leute Johannes für einen Propheten hielten (11,32). Darüber hinaus verwendet Jesus ‚Taufe‘ als Metapher für seinen eigenen Tod und den der Zebedaiden (10,38 f.). Sünde bzw. Sündenvergebung wird vor allem im ersten Hauptteil themati‑ siert, insbesondere in der Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern.92 Von 89 Vielfach wird ‚die Wüste / Einöde‘ aufgrund der nachfolgenden Erwähnung des Jordans (1,5.9) als untere Jordansenke identifiziert (vgl. France, Mk, 65; van Iersel, Mk, 96; Klauck, Vorspiel, 51). Pesch weist zudem darauf hin, dass schon ערבהin Jes 40,3MT diese Region bezeich‑ net (Pesch, Mk I, 79). Die Tatsache, dass der Geist Jesus nach seiner Taufe ‚in die Einöde hinaus treibt‘ (V. 12), macht jedoch deutlich, dass in narratologischer Hinsicht ein Ortswechsel vorliegt. 90 Markus berichtet allerdings an allen genannten Stellen davon, dass Jesus bzw. seine Jünger an den einsamen Orten von Menschen aufgesucht werden; in 6,34 wird explizit davon berichtet, dass Jesus die Menge lehrt – eine gewisse Parallele zur Verkündigung des Johannes in 1,4. 91 Zudem Johannes als ‚Täufer‘ noch einmal in 8,30 bei der Wiederaufnahme von 6,14. 92 Zur Sprache kommen zuerst der Anspruch Jesu auf Vollmacht zur Sündenvergebung (2,1 – 13a) und seine Tischgemeinschaft mit den ‚Zöllnern und Sündern‘ (2,15 – 17). In der Aus‑ einandersetzung mit den Schriftgelehrten, die ihm vorwerfen, mit dem ‚Beelzebul‘ im Bunde
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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‚Umkehr‘ (μετάνοια / μετανοεῖν) ist im ganzen Evangelium nur dreimal die Rede; bezeichnenderweise ist sie immer Inhalt des ‚Verkündigens‘ (κηρύσσειν); hier der Verkündigung des Johannes, am Ende des Prologs der Verkündigung Jesu (1,15), später der der Jünger (6,12).93 Mit Johannes beginnt diese Staffel des Aus‑ rufens; er übergibt den Stab an Jesus, dieser wiederum an seine Jünger. Der Anfang des Anfangs ist gesetzt: Das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes, beginnt mit dem Auftreten Johannes’ des Täufers. Er ist, so wird aus den Schriftstellen deutlich, der Wegbereiter, den Gott selbst ankündigt (V. 2) und der andere zur Wegbereitung aufruft (V. 3). Mit den Anklängen an Exodus 23,20 ist die Hoffnung auf ein verheißenes Land verbunden, mit denen an Jes 40,3 und Mal 3,1 eschatologische Vorstellungen von der Wiederkunft Gottes am Ende der Zeiten,wobei entweder der Gedanke an ein Gericht (Mal) oder an umfassendes Heil (DtoJes) dominiert. Die Zitate weisen im Vergleich mit ihren Vorlagen kleine Änderungen auf, die den Texten eine entscheidende Wendung geben: Im marki‑ nischen Kontext wird aus dem κύριος der Septuaginta ‚der Herr Jesus Christus‘ (V. 3), der Bote in V. 2 bereitet nun statt wie in Maleachi Gott selbst einem Du den Weg, das im Kontext nur Jesus meinen kann. Im Spiel mit dem alttestamentlichen Gottesnamen und dem von den Anfängen nachösterlicher Glaubensaussagen über Jesus an gebräuchlichen κύριος-Titel94 überlagern sich die Identität Jesu und die Identität Gottes, ohne dass plump gesagt würde, Jesus sei Gott; dies bleibt, wie im ganzen Markusevangelium, unaussprechlich. Für die unorthodoxe95 Entscheidung, nach V. 4 eine Zäsur zu setzen, spricht außer der Gesamtstruktur der Ouvertüre, den erwähnten sprachlichen Besonder‑ heiten der ersten vier Verse und dem Ortswechsel von der Einöde zum Jordan96 auch das Schriftbild des Codex Sinaiticus, in dem anders als im Codex Vatica‑ nus97 mit V. 5 ein neuer Absatz beginnt. Als inhaltliches Argument ist der irreale Charakter des Auftretens des Täufers in V. 4 ins Feld zu führen. Die eigentliche, in Raum und Zeit verortete Erzählung über Johannes beginnt in V. 5. Ein vergleich‑ bares Phänomen begegnet am Ende der Ouvertüre (V. 14 f.): Dort beginnt Jesu öffentliche Verkündigung. Mit Galiläa ist zwar eine Ortsbezeichnung genannt, doch ist diese ähnlich vage wie ‚in der Einöde‘. Wie bei Johannes sind keine zu stehen, unterscheidet Jesus zwischen den vergebbaren Sünden und der Lästerung gegen den Heiligen Geist, die ‚ewige Sünde‘ nach sich ziehen wird (3,28 f.). 93 4,12 bietet mit ἐπιστρέφειν ein Synonym zu μετανοεῖν in Kombination mit ἀφιέναι, greift also im Rahmen der Gleichnisrede auch nochmals das Thema ‚Umkehr und Vergebung‘ aus 1,4 auf. 94 Vgl. Schreiber, Anfänge, 71; Hahn, Christologische Hoheitstitel, 81 f.; Foerster, κύ‑ ριος, 1093 f. 95 Alle mir bekannten Kommentare bzw. Sekundärliteratur zum Markusprolog (mit Aus‑ nahme des oben erwähnten Michaels, Servant and Son, 44) rechnen V. 4 und V. 5 trotz unter‑ schiedlicher Strukturierungen zum gleichen Abschnitt. 96 Vgl. S. 88, Anm. 89. 97 Vgl. S. 75.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Zuhörer erwähnt. Auch das erste Auftreten Jesu in Galiläa hat grundsätzlichen, programmatischen Charakter – dort scheint es für viele Exegeten und Exegetin‑ nen kein Problem zu sein, danach eine Zäsur zu setzen.
III.1.3. Taufe I: Ganz Judäa und alle Jerusalemer (1,5 – 8) (Vgl. Abb. 2, S. 70) In V. 5 zeigt sich erstmals eine im Markusevangelium mehrmals anzutref‑ fende grammatikalische Eigenheit:98 Bei zwei mit καί verbundenen Subjekten, von denen das erste im Singular steht, das zweite im Plural, steht das auf beide bezogene Verb im Singular. ‚Es geht ganz Judäa und alle Jerusalemer zu ihm hinaus‘. Wie hier korrigieren an diesen Stellen viele Manuskripte und setzen das Verb in den Plural. Da diese grammatikalische Besonderheit in der Mündlichkeit gut als Hinzufügung – ‚Ganz Judäa geht zu ihm hinaus – und alle Jerusa‑ lemer‘ – realisierbar und jeweils die Singularform besser bezeugt ist, behalte ich sie an allen diesen Stellen bei. Der Mehrheitstext und mit ihm auch einige relevante Textzeugen (u. a. A, W, f1, f13) bieten πάντες an einer anderen Stelle (‚alle lassen sich taufen‘) als die sehr gut bezeugte in NA28 übernommene Lesart, in der es zu Ἱεροσολυμῖται gehört. In V. 8 ist die Überlieferung von ‚mit / im Wasser‘ und ‚mit / im Geist‘ uneinheitlich; teils stehen nur die Dative ὕδατι und πνεύματι, teils geht ihnen die Präposition ἐν voran. Die in NA28 übernommene Lesart (ὕδατι und ἐν πνεύματι) lässt sich mit der Quellenlage begründen.
Der erste der beiden Mittelteile konkretisiert das Wirken des Johannes; nun steht er nicht mehr in der Einöde, sondern am Jordan. Zumindest in narratologischer Hinsicht handelt es sich um einen Ortswechsel;99 das zeigt sich spätestens im Rückblick von V. 12 her, wo die umgekehrte Bewegung vom Jordan zurück in die Einöde eindeutig zu erkennen ist.100 Eine – eher schwache – Inclusio ergibt sich durch das Verb βαπτίζειν: Am Anfang (V. 5) lassen sich die Leute, die in Scharen zu ihm kommen, von ihm taufen, am Ende (V. 8) kontrastiert er in seiner Verkündigung seine eigene Art zu taufen (mit Wasser) mit derjenigen Jesu (mit dem Heiligen Geist). Formal fallen des Weiteren in V. 5a ein Chiasmus und der strenge Parallelismus in V. 8 auf. Drei Abschnitte lassen sich erkennen: 5 6 7 f.
Johannes tauft Johannes wird beschrieben Johannes verkündigt
5 Nun legt Markus seinen „καί-Teppich“ aus: Mit der für den Erzählstil der Koine generell101 und für Markus im Speziellen102 typischen Satzverbindung kommt die Geschichte ins Laufen; von jetzt an reiht der Erzähler mit diesem ‚und dann‘ Ereig‑ nis an Ereignis.103 Er berichtet nun von den Scharen von Menschen, die zu Johan‑ 98
Vgl. z. B. 3,31.33; 10,46. Vgl. zu ἐν τῇ ἐρήμῳ in V. 4 Kap. III.1.2., S. 88, Anm. 89. 100 Vgl. Boring, Mark 1,1 – 15, 57. 101 Vgl. Reiser, Sprache, 20. 102 Vgl. a. a. O., 58. 103 Dass es vom damaligen Sprachgefühl her durchaus möglich gewesen wäre, auch schon V. 4 mit καί anzufangen, zeigt der textkritische Befund (vgl. Kap. III.1.2., S. 74). 99
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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nes ‚hinauslaufen‘ (ἐξεπορεύετο) – seine Verkündigung trägt trotz der eingebrach‑ ten Bedenken ganz offensichtlich Früchte. Sein Name, der von V. 4 her erschlossen werden kann, wird hier nicht erwähnt; sie kommen ‚zu ihm‘ (πρὸς αὐτόν) – ein Ausdruck, der später vielfach zu hören und immer auf Jesus bezogen ist.104 Die Menge von Leuten wird durch den Chiasmus unterstrichen, der mit ‚ganz / alle‘ (πᾶσα / πάντες, α, α) beginnt und endet. Zudem werden nach der Region Judäa (β) die Jerusalemer (βvar) explizit erwähnt, die ja im ersten Begriff mitgemeint sein müssten; hier setzt also ein σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος105 einen weiteren Akzent. Nach dem ‚Weg‘, der für den Mittelteil bestimmend ist, wird nun mit Jerusalem der Ort eingeführt, an dem die beiden letzten Hauptteile und der Epilog spielen. Schon in den ersten Kapiteln des Evangeliums wird deutlich, dass von dort die Gegner Jesu kommen (3,22; 7,1); ‚auf dem Weg‘ zeichnet sich ab, dass diese Stadt zum Ort des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu wird (10,32 f.). In V. 5b wird zum einen mit ‚im Jordan‘ (ἐν τῷ Ἰορδάνῃ ποταμῷ) der Ort genannt, an dem diese und die nächste Episode spielen, zum anderen mit βαπτίζειν und ἁμαρτίαι zwei wichtige Stichwörter aus V. 4 übernommen und mit dieser fokalen Wiederholung die Ver‑ bindung zum vorhergehenden Abschnitt geschaffen. Nun tauft Johannes; dennoch ist kaum etwas über seine Taufpraxis und die Bedeutung seiner Taufe zu erfahren; einzig die Tatsache, dass die Täuflinge ihre Sünden bekannten, wird mitgeteilt. 6 In diesem Vers wird Johannes genauer beschrieben; durch eigentlich äußerli‑ che Merkmale wie Kleidung und Essgewohnheiten gewinnt seine Person an Profil. Sehr unauffällig, nur für Ohren erkennbar, die das Markusevangelium schon gehört haben, wird hier das Motiv ἐσθίειν eingeführt, mit dem in Verbindung mit ‚sattwerden‘ (χορτασθῆναι) und insbesondere mit ‚Brot‘ (ἄρτος) im zweiten Hauptteil (4,35 – 8,22a) und in der Szene mit dem letzten Mahl Jesu (14,17 – 25) wichtige Themen durchgespielt werden.106 Hier, wo seine Identität näher bestimmt wird, fällt auch wieder sein Name. Während seine Nahrung aus ‚Heuschrecken und wildem Honig‘ allgemein auf die Lebensweise eines Nomaden in der Wüste oder auf Asketismus deutet,107 liefert die Beschreibung seiner Kleidung nach den Anklängen an Maleachi in V. 2 weitere Hinweise darauf, dass Markus ihn als Elia 104 1,32.40.45; 2,3.13; 3,8.13.(31); 4,1; 7,1; 9,20; 10,1; 11,27; 12,13.18. Alle diese Stellen mit Ausnahme von 3,31 treten in Kombination eines Verbes auf, das ein Gehen impliziert. In 3,31 lassen die Verwandten Jesu, die vor dem Haus stehen, ‚zu ihm‘ senden, um ihm etwas aus‑ zurichten – auch da ist indirekt jemand unterwegs ‚zu ihm‘. 105 Vgl. Siebenthal, § 294w. 106 Schon in 2,16.26 wird ἐσθίειν bei den Auseinandersetzungen mit den Pharisäern erwähnt. Zur Rolle des Essens im zweiten Hauptteil vgl. Kap. IV.2., S. 294 f.; Kap. IV.3.6., S. 333 f.; Kap. IV.4.2.3., S. 352 – 354; Kap. IV.4.4.3., S. 352 f. 107 Dies sind die beiden Alternativen, die in der Sekundärliteratur erwähnt werden (vgl. z. B.: Pesch, Mk I, 81; van Iersel, Mk, 97; Lührmann, Mk, 35; France, Mk, 69). Aus dem Alten Testament ist nur zu erfahren, dass Heuschrecken zu den reinen Tieren zählen (vgl. Lev 11,22); Honig wird zwar oft als wertvolles Nahrungsmittel gepriesen, doch von ‚wildem Honig‘ ist nirgends die Rede; in die Nähe kommt ‚Honig aus dem Felsen‘ als Nahrung, die Gott (in der Wüste) zur Verfügung stellt (Dt 32,13; Ps 81,17; Hinweis darauf bei Collins, Mk, 145 f.).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
redivivus sieht.108 Johannes ist ‚bekleidet mit Kamelhaar‘ (ἐνδεδυμένος τρίχας καμήλου); ein ‚haariger Mantel‘ ist in Sach 13,4 die Kleidung der Propheten gene‑ rell.109 Der ‚Ledergürtel um seine Hüften‘ ([ἐνδεδυμένος] ζώνην δερματίνην περὶ τὴν ὀσφὺν αὐτοῦ) verweist expliziter auf Elia, der auch einen solchen trägt (ζώνην δερματίνην περιζωμένος τὴν ὀσφὺν αὐτοῦ, 2 Kön 1,8LXX). Elia wird im gleichen Atemzug als ‚haarig‘ (δασύς) bzw. im masoretischen Text als ‚haariger Mann‘110 ( )בעל שערbezeichnet, was in manchen Übersetzungen111 ebenfalls als ‚Fellmantel‘ wiedergegeben wird. Nach diesem zweiten doch recht deutlichen Fingerzeig auf die Identifikation des Johannes mit Elia, der als Zeichen des bevorstehenden Kom‑ mens Gottes am Ende der Zeiten auftritt (Mal 3,23), lässt sich rückblickend auch ‚am Jordan‘ als Detail dieses Bildes verstehen: Wo Elia entrückt wurde und wo Elisa seine Nachfolge antrat (2 Kön 2,6 – 15a), tritt nun Johannes auf – und kün‑ digt, als echter Prophet ausgewiesen, den an, der ‚nach ihm kommt‘ (V. 7). 7 f. Wiederum ist von der Verkündigung (ἐκήρυσσεν, c) des Johannes zu hören. Nachdem er in der Einöde die ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sün‑ den‘ ausrief (V. 4) und sich so als der ‚Rufer‘ in der Einöde erwies (V. 3), zeigt sich in dem, was er jetzt zu sagen hat, dass er der Wegbereiter dessen ist, der da kommt (V. 2). Seine Verkündigung hat nun den Kommenden zum Inhalt, den er zu sich selbst ins Verhältnis setzt: ‚Es kommt der, der stärker ist als ich, nach mir‘ (ἔρχεται ὁ ἰσχυρότερός μου ὀπίσω μου). Noch mehr als ἐσθίειν ist ἔρχεσθαι ein Allerweltswort, das zunächst nicht den Anschein macht, als Motiv fungieren zu können. Dies tut es nur, weil es wie schon in der Ouvertüre auch im weiteren Verlauf des Evangeliums in Kombination mit anderen Motiven dazu dient, das ‚Kommen Jesu‘ aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In der Ouvertüre fällt auf, dass ἔρχεσθαι exklusiv für Jesus verwendet wird (V. 7.9.14): Beim Auf‑ tritt des Johannes ist γίνεσθαι (V. 4) zu hören, bei dem der Judäer ἐξεπορεύεσθαι (V. 5). Zusammen mit ἔρχεσθαι klingt ὀπίσω μου an; das nächste Motiv, das spä‑ ter, immer aus dem Munde Jesu, an markanten Punkten (1,17.20; 8,33.34) die Nachfolge der Jesusanhänger bezeichnet. Auch bei Johannes mag, denkt man an die Ablösung des Elia durch Elisa, eine Jünger-Meister-Beziehung anklingen,112 108
Vgl. auch Öhler, Elia, Abschnitt 3.1.2. Etwas verwirrend ist hier allerdings die Diskrepanz zwischen dem masoretischen Text und der Fassung der Septuaginta: Während im Hebräischen ‚sie [i. e. die falschen Propheten] sich nicht (mehr) mit dem haarigen Mantel bekleiden werden, um etwas [i. e. das Propheten‑ sein] vorzutäuschen‘, findet sich in der Septuaginta praktisch das Gegenteil: ‚sie werden einen haarigen Ledermantel anziehen, weil sie gelogen haben.‘ (Übersetzung der LXX Deutsch; Her‑ vorhebungen im Original). Nur der hebräische Text eignet sich als Vorlage für Markus, wenn Johannes mit diesen Anspielungen als Prophet dargestellt werden soll. 110 So übersetzen Buber / Rosenzweig. 111 Vgl. Zürcher, ähnlich auch Menge (‚haariger Mantel‘), EÜ (‚Mantel aus Ziegenhaar‘), ESV (‚garment of hair‘). 112 France konstatiert hier „a delicate ambiguity about the phrase ὀπίσω μου“, weil es nach neutestamentlichem Sprachgebrauch Jesus als Jünger des Johannes kennzeichne, der aber sich dann aber als der ‚Stärkere‘ erweise (France, Mk, 70). 109
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
93
dennoch steht die chronologische Abfolge – Elia als der Vorläufer des ‚Herrn‘ bei Maleachi – im Vordergrund. Dies bestätigen die nachfolgenden Ereignisse: Jesu öffentliches Wirken beginnt ‚nach der Auslieferung des Johannes‘ (Μετὰ δὲ τὸ παραδοθῆναι τὸν Ἰωνάννην ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς, V. 14), und auf ihn kommt nicht der Geist des Meisters (vgl. 2 Kön 2,15), sondern der Geist aus dem Himmel, der Heilige Geist, herab (V. 10). Auch die Fortsetzung der Rede des Johannes macht eindrucksvoll deutlich, dass dieser ‚Stärkere‘ einer ganz anderen Kategorie ange‑ hört als er selbst: In einem etwas umständlichen Satz legt er dar, dass er [Johan‑ nes] ‚seiner [des Kommenden] nicht würdig‘ sei, ja nicht einmal würdig ‚sich zu beugen und die Riemen seiner Sandalen zu lösen‘ (κύψας λῦσαι τὸν ἱμάντα τῶν ὑποδημάτων αὐτοῦ). Κύπτειν, im ganzen Neuen Testament nur hier und in der sekundären Perikope der Ehebrecherin im Johannesevangelium (Joh 8,6) zu finden, wird in der Septuaginta mit wenigen Ausnahmen113 in Kombination mit προσκυνεῖν als ‚Niederwerfung‘ vor einer Autorität gebraucht. Das Auszie‑ hen der Sandalen war vermutlich Sklavenarbeit.114 Inwieweit das Publikum des Markus diese Untertöne mithört oder sich auch an das erwähnte Prophetenwort vom ‚Kommen des Herrn mit Stärke‘ (κύριος μετὰ ἰσχύος ἔρχεται, Jes 40,10LXX) erinnert, bleibt offen. Doch schon allein das Bild des großen Verkündigers und Täufers, der sich vor einem anderen bückt und kaum wagt, ihm einen geringen Dienst zu tun, spricht Bände. Um wie viel stärker als Johannes muss der Kom‑ mende sein! Auch im zweiten Teil seiner Verkündigung vergleicht sich Johannes mit dem, der nach ihm kommt, bezieht nun aber seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit ein: ‚Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch im Heiligen Geist taufen.‘ Der strenge Parallelismus, in dem er den Vergleich vorträgt, bringt die Unter‑ schiede deutlich zutage: Die unaussprechliche Überlegenheit des Kommenden hat mit dem Heiligen Geist zu tun. Der disparate Textbefund legt dabei nahe, dem Unterschied zwischen einem bloßen Dativ (ὕδατι) und der Formulierung mit Präposition (ἐν πνεύματι ἁγίῳ) keine Bedeutung beizumessen. ‚Heiliger Geist‘ ist ein weiteres theologisch aufgeladenes Schlagwort, das Markus ohne weitere Erklärung seinem Publikum zumutet. Zudem liefert er auch im Weiteren keine Erläuterung, was unter ‚taufen mit dem Heiligen Geist‘ zu verstehen ist – Jesus tauft im ganzen Evangelium nicht. Er lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass Jesus in der Kraft dieses Geistes handelt (vgl. 3,28 f.), der unmittelbar nach sei‑ ner eigenen Taufe aus dem Himmel auf ihn herabkommt (V. 10). Das Taufen des Johannes liegt – zumindest bei denen, die er hier anspricht – in der Vergangenheit (ἐβάπτισα), das ‚Taufen‘ des Kommenden in der Zukunft (βαπτίσει); auch das spricht für ein zeitliches Verständnis von ὀπίσω μου. Erwähnenswert ist schließ‑ lich auch, was nicht steht: Matthäus und Lukas ergänzen bei Jesu Taufen den Hei‑ 113
Insgesamt achtzehn Vorkommen, davon nur viermal (1 Kön 18,42; Ps 9,31LXX, Jes 2,9; 51,23) ohne προσκυνεῖν. 114 Keine Hinweise in der Septuaginta; vgl. aber Luc. Herod. 5, in Neuer Wettstein (Mk), 13.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
ligen Geist durch Feuer und fügen eine Gerichtsankündigung an (vgl. Mt 3,11 f.; Lk 3,15 – 17). Auch Maleachi verwendet das Bild des Feuers; auch bei ihm ist das Kommen Gottes am ‚Tag des Herrn‘ ein Kommen zum Gericht. Markus jedoch geht nicht auf diesen Aspekt ein; Johannes ist bei ihm kein Gerichtsprediger, son‑ dern konzentriert sich auf die Aufgabe des Wegbereiters. Nach dem ersten programmatischen Auftritt des Johannes in der Einöde (V. 4) berichtet Markus vom enormen Zulauf, den er hat; alle aus Juda und Jerusalem lassen sich im Jordan taufen. Das Bild des Täufers als Prophet und insbesondere als Elia redivivus, als Verkündiger göttlicher Wahrheit und als eschatologischer Wegbereiter des ‚kommenden Herrn‘, bekommt durch seine äußerliche Beschrei‑ bung schärfere Konturen. Um wie viel ‚stärker‘ als Johannes der Kommende ist, davon bekommen die gerade getauften Zuhörer des Johannes (und das Publikum des Markus) eine Ahnung durch die Bilder von der Proskynese und des Sklaven‑ dienstes und nicht zuletzt durch die Gegenüberstellung von Wasser und Heiligem Geist.
III.1.4. Taufe II: Jesus aus Nazareth in Galiläa (1,9 – 11) (Vgl. Abb. 2, S. 70) In V. 9 ist zu erwähnen, dass B als einziges Manuskript das καί zu Beginn weglässt – in B ergäbe sich also eine enge Relation zu V. 4, der dort auch mit einem asyndeti‑ schen ἐγένετο beginnt. Das Schriftbild des Codex Vaticanus hebt dies noch hervor, indem genau vor diesen beiden Malen ἐγένετο die einzigen Leerräume in der ersten Kolumne zu sehen sind und so Neueinsätze suggeriert werden. Beide textkritischen Probleme in V. 10 lassen sich durch Angleichung an Parallelstellen in anderen neutestamentlichen Schriften erklären: ℵ, W, 33, lateinische und bohairische Überset‑ zungen ergänzen beim Herabkommen des Geistes, dieser ‚bleibe‘ (καὶ μένον) auf Jesus. Von den anderen Evangelisten spricht im Zusammenhang mit der Taufe Jesu nur Johannes vom ‚Bleiben‘ des Geistes (1,32), sodass angenommen werden kann dass es von dort her den Schrei‑ bern im Kopf war und im Markustext ergänzt wurde.115 An der zweiten Stelle geht es um eine Präposition: Nur wenige Manuskripte lesen εἰς αὐτόν (B, D, f13), alle übrigen wie die drei anderen Evangelisten an den Parallelstellen ἐπ’ αὐτόν (Mt 3,16; Lk 3,22; Joh 1,32). Die beiden Präpositionen ἐπί und εἰς, mit denen beschrieben wird, dass der Geist ‚auf‘ Jesus herabkommt, sind inhaltlich sehr ähnlich, aber doch nicht ganz gleich. Ἐπί ist deutlich äußerlich, εἰς enthält sowohl den Aspekt ‚zu Jesus hin‘ als auch ‚in ihn hinein‘.116 Ich folge den Entscheidungen der Herausgeber von NA28 und übernehme im ersten Fall die Lesart der Mehrheit ohne καὶ μένον, im zweiten das seltene, aber in diesem Zusammenhang nur in Markustexten117 überlieferte εἰς. In manchen Textzeugen fehlt in V. 11 in der Einleitung zur direkten Rede das Verb ἐγένετο. Diese Lesart ist insofern bedenkenswert, weil sich dadurch kompositorisch andere Strukturen ergeben: Ἐγένετο bleibt so im Prolog auf das Auftreten des Täufers (V. 4) und das Auftreten Jesu (V. 9) beschränkt. Zudem ergibt sich eine Parallele zur prädikatlosen Einleitung der münd‑ 115
Allerdings könnte man sich in Anwendung dieser in der neutestamentlichen Textkritik üblichen Denkfigur fragen, warum die Schreiber es dann bei Markus einfügten, bei den beiden anderen Synoptikern aber nicht. 116 Vgl. Siebenthal, § 184 g. j. 117 Eine Ausnahme bildet die Lukasstelle in D, die auch εἰς liest.
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
95
lichen Rede in V. 3; dort ist ‚die Stimme eines Rufers in der Einöde‘ zu hören, hier nun ‚die Stimme aus den Himmeln‘. Unter Berücksichtigung dieser strukturellen Aspekte lässt sich die kürzere Lesart als die frühere plausibilisieren: Die „Unvollständigkeit“ des Satzes ist gewollt, wird aber von Schreibern geglättet in Angleichung an die zweite Stelle im Evangelium, in der die Stimme aus dem Himmel zu hören ist (9,7). Die Bezeugung der kürzeren Lesart ist gut: Sie ist mit ℵ* und D in zwei der frühesten Textzeugen aus unterschiedlichen Textfamilien belegt, taucht später auch in einem Codex auf, der den byzantinischen Text bietet (S, 10. Jh.), und hat zudem in zwei frühe altlateinische Manuskripte (ff2, t; 5. / 6. Jh.) Eingang gefunden. Im Wissen darum, dass auch die längere Lesart gut bezeugt ist und dass meine These genauso unbeweisbar ist wie die gängige, ἐγένετο sei ursprünglich und in diesen Textzeugen unabsichtlich vergessen worden, entscheide ich mich hier gegen die Lesart von NA28 und lege meiner Exegese die prä‑ dikatlose Fassung zugrunde.
Nun tritt Jesus erstmals auf; in der Mitte der Ouvertüre wird nochmals sein Name erwähnt (B). Mit seiner Taufe bzw. mit den Geschehnissen danach ist das Kern‑ stück der Ouvertüre erreicht: Der Himmel öffnet sich, der Geist kommt auf Jesus herab und Gott selbst identifiziert ihn als ‚mein geliebter Sohn‘. Waren schon die bisherigen Verse randvoll mit Zitaten und Anspielungen, die alle möglichen und unmöglichen Assoziationen hervorriefen, so macht der Blick in die Sekun‑ därliteratur zu diesen Versen deutlich, dass sich hier aus der Fülle an Bezügen zu anderen Texten samt ihrer erdenklichen Interpretationen kaum die eine Linie her‑ auskristallisieren lässt, die am wahrscheinlichsten ist – zu vielstimmig und farbig ist der Klang; er lässt sich nicht in sachlichen Worten dingfest machen. Auch intratextuell sind die Geschehnisse nach der Taufe Jesu nicht auf das oberflächliche ‚und dann‘ zu reduzieren. Vieles aus den ersten beiden Abschnitten wird wiederholt; zudem überschneiden sich – ähnlich wie in V. 1 – 4 – zwei for‑ male Phänomene: V. 10 ist als Chiasmus zu erkennen, der die beiden Stichworte ‚Wasser‘ und ‚Geist‘ aus V. 8 wieder aufnimmt, und V. 10b.11 entpuppt sich als die Wiederholung des Schemas ‚etwas sehen‘ – eine Stimme [hören]‘ (a – avar) aus V. 2 f. Wie schon am „Anfang des Anfangs“ sorgt die Überschneidung von Strukturen dafür, dass die einzelnen Ereignisse als zusammengehörig erkennbar werden. 9 Peschs Einschätzung des Beginns mit ‚Und es geschah in jenen Tagen‘ (καὶ ἐγένετο ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις) als „feierlich-biblizistische Eingangswen‑ dung“118 ist zutreffend; weniger einleuchtend ist die Rede von der „Parallelisie‑ rung“119 des Auftretens Jesu mit dem des Johannes durch ἐγένετο in V. 4a und V. 9a. Abgesehen davon, dass V. 4a kein eindeutiger Satzanfang ist,120 spricht vor allem die Verschiedenheit der Satzkonstruktionen dagegen: In V. 4 ist Johannes Subjekt von ἐγένετο – er ‚tritt auf‘ bzw. ‚er ist‘ in der Einöde; was er dort tut, wird in einer Partizipialkonstruktion dargeboten. In V. 9 hingegen ist ἐγένετο Teil 118
Pesch, Mk I, 89; ähnlich auch France, Mk, 75, und Marcus, Mk I, 163. Vgl. Klauck, Vorspiel, 21; Lührmann, Mk, 36. 120 Vgl. Kap. III.1.2., S. 75 f. 119
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
der Eingangswendung; was Jesus tut bzw. an sich geschehen lässt, folgt in einem grammatikalisch selbständigen Satz mit finitem Verb. Eine viel engere Beziehung besteht zwischen V. 5a.b und V. 9b.c: Hier sind klare Parallelen zu erkennen:
5
9b.c
καὶ ἐξεπορεύετο πρὸς αὐτὸν πᾶσα ἡ Ἰουδαία χώρα καὶ οἱ Ἰεροσολυμῖται πάντες
ἦλθεν Ἰησοῦς ἀπὸ Ναζαρὲτ τῆς Γαλιλαίας
καὶ ἐβαπτίζοντο ὑπ’ αὐτοῦ ἐν τῷ Ἰορδάνῃ ποταμῷ
καὶ ἐβαπτίσθη εἰς τόν Ἰορδάνην ὑπο Ἰωάννου
Unter Berücksichtigung dieses Parallelismus’ lassen sich zur „Eingangswen‑ dung“ zwei Dinge sagen: Zum einen ist festzuhalten, dass hier mit ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις die erste Zeitangabe des Evangeliums zu hören ist. Im direkten Kon‑ text wird Jesu Taufe damit in die Taufe der vielen anderen integriert – auch sie findet ‚in jenen Tagen‘ statt. Zum anderen zeigt ein Blick darüber hinaus, dass Markus an sechs der neun Stellen mit ‚jene Tage‘ oder auch ‚jener Tag‘ auf das Ende der Zeiten verweist.121 Vergleichbares ist auch in der Septuaginta in den Prophetenbüchern zu beobachten; dort wird ἡμέρα ἐκείνη und weniger oft auch ἡμέραι ἐκείναι immer wieder in eschatologischem Sinne verwendet, manchmal auch als Synonym für den ‚Tag des Herrn‘. Von den vielen möglichen Belegen dafür sei exemplarisch Joel 3,2 genannt, weil dort im Plural ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκεί‑ ναις für den ‚Tag des Herrn‘ steht und zudem die Geistausgießung ‚über alles Fleisch‘ verheißen wird – etwas, was Jesus ‚in jenen Tagen‘ als Individuum nach seiner Taufe erleben wird. Wenn Johannes wie Elia der Vorläufer für den ist, der ‚am Tag des Herrn‘ kommt, wird für geschulte Ohren die von Markus gewählte Art der Zeitangabe zu einer Zeitansage mit heilsgeschichtlicher Dimension; zu einem weiteren Mosaiksteinchen, das sich mit anderen zum Bild Jesu als des nun ‚gekommenen‘ (ἦλθεν, e) Herrn fügt. Bezeichnenderweise verwendet Markus für Jesu Kommen wie bei der Ankündigung des Stärkeren ἔρχεσθαι, für den Zulauf der Menge hingegen ein anderes Verb (ἐξεπορεύετο, evar). Der Parallelismus zwischen V. 5a.b und V. 9b.c, der in seiner Strenge mit dem in V. 8 zu vergleichen ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gegensätze: Vorhin kamen ‚wirklich alle aus Judäa und der Metropole Jerusalem‘, nun ein einzelner namentlich Genannter aus dem Provinznest Nazareth in Galiläa. Mit Galiläa ist auch der letzte der drei Spielorte des Evangeliums eingeführt; schon hier stellt es Markus in Opposition zu Jerusalem. Die Region Judäa wird nur noch dreimal erwähnt (3,7; 10,1; 13,14) und spielt keine tragende Rolle mehr. Jerusalem ist nicht nur Spielort, sondern die Metropole der ‚Herren‘, derjenigen, die die Macht und das Sagen haben. Ihnen gegenüber steht der ‚Nazarener‘; der Name des klei‑ nen Ortes kommt nur noch adjektivisch (Ναζαρηνός; 1,24; 10,47; 14,67; 16,6) 121
Vgl. 2,20; 13,17.19.24.32; 14,25.
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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vor, immer zur Bezeichnung Jesu. Ein Gegensatz tut sich nicht nur zwischen den Jerusalemern und dem Provinzler auf, sondern auch zwischen ‚Jesus Christus, dem Sohn Gottes‘ (V. 1) und ‚Herrn‘, und ‚Jesus aus Nazareth in Galiläa‘ – das sind die beiden Weisen, in denen der Erzähler Jesus dem Publikum vorstellt. Was in dogmatischer Redeweise später Zwei-Naturen-Lehre heißen wird, ist hier schon angelegt. Nicht nur seine Herkunft weist Jesus als Menschen aus, er reiht sich auch unter die Menschen ein, indem er sich wie ‚alle‘ anderen von Johannes im Jordan taufen lässt – von Jesu Taufe (V. 9c) spricht Markus in den gleichen Worten wie von der aller anderen (V. 5b). Der Name des Täufers, so sei noch bemerkt, steht ganz am Ende von V. 9 und schließt damit den ganzen Auftritt des Johannes ab; mit den folgenden Ereignis‑ sen hat er nichts mehr zu tun. Ab jetzt wird von ihm nur noch indirekt122 oder in der Retrospektive (1,14; 6,14 – 29; 11,30) die Rede sein. 10 f. Der Unterschied zwischen Jesus und den anderen Leuten zeigt sich erst an dem, was jeweils nach der Taufe über sie berichtet wird: Die Judäer bekennen ihre Sünden; davon schweigt Markus sich in Bezug auf Jesus aus. Stattdessen ist zu hören, was unmittelbar (εὐθύς) nach der Taufe geschieht; genauer gesagt, was Jesus sieht und hört. Formal liegt in V. 10 ein Chiasmus vor: καὶ εὐθὺς ἀναβαίνων ἐκ τοῦ ὕδατος εἶδεν σχιζομένους τοὺς οὐρανοὺς καὶ τὸ πνεῦμα ὡς περιστερὰν καταβαῖνον εἰς αὐτόν
Den äußeren Ring bilden das Hinauf- und Herabsteigen (ἀνα‑ / καταβαίνειν); Jesus und der Geist bewegen sich quasi aufeinander zu. Im inneren Ring wer‑ den die beiden Stichworte ‚Wasser‘ und ‚Geist‘ aus V. 8 nochmals aufeinander bezogen, die den Unterschied zwischen dem Wegbereiter und dem Kommenden aufzeigten – allerdings auf eine neue Weise: Der Wassertaufe des Johannes ist hier nicht eine Geisttaufe durch Jesus gegenübergestellt, sondern auf Jesus, der sich der Wassertaufe durch Johannes unterzogen hat, kommt anschließend der Geist herab; er ist der Empfangende. Der Geist, der vorhin durch das Adjektiv ‚heilig‘ als in irgendeiner Weise zu Gott gehörig bestimmt wurde, wird es hier durch seine Herkunft ‚vom Himmel‘. Irdisches und übernatürliches Geschehen an Jesus, so suggeriert dieser Chiasmus, sind ineinander verwoben. Im Zentrum steht der zerreißende Himmel – die Voraussetzung sowohl für das Herabkommen des Geistes als auch für die Verlautbarung der Stimme Gottes. Das Verb σχίζειν verwendet Markus nur ein einziges weiteres Mal, als bei Jesu Tod der Vorhang im Tempel zerreißt (15,38). Das ist insofern bemerkenswert, als auch dort eine 122 In 2,18 ist zwei Mal von den ‚Jüngern des Johannes‘ die Rede, aber auch sie treten nicht selber auf.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
‚Stimme‘ zu hören ist (φωνή, 15,34.37) – das Schreien des sterbenden Jesus – und jemand ‚sieht‘ (εἶδεν, 15,39) – der Hauptmann, der angesichts des Todes Jesu am Kreuz erkennt, dass ‚dieser Mensch wirklich Gottes Sohn war‘. Kommt bei der Taufe der Geist auf Jesus herab, haucht er ihn bei seinem Tod aus (ἐξέπνευ‑ σεν, 15,37). Diese beiden Pfeiler der Deklaration Jesu als ‚Gottes Sohn‘ durch Gott (V. 11) und durch einen Menschen, die umrahmt werden durch himmlische (V. 10 f.) bzw. durch irdische Ereignisse (15,34 – 39), tragen den ganzen Bogen des Markusevangeliums. Dieser liegt in der Mitte auf einer dritten Stütze, der Deklaration Jesu als Gottes Sohn auf dem Berg der Verklärung durch Gott vor den Augen und Ohren dreier Jünger (9,7). Dort zerreißt nichts, aber die Leitworte φωνή (9,7) und εἶδον (9,8) sind auch dort wieder zu hören. Auf dem Berg der Ver‑ klärung sind die himmlischen Ereignisse für Menschen wahrnehmbar. Hier am Anfang, nach der Taufe Jesu, ist es hingegen in der Darstellung des Markus123 allein Jesus, der diese übernatürlichen Dinge wahrnimmt: Er ‚sieht‘ den Himmel sich öffnen und den Geist wie eine Taube124 auf sich herabkommen; die Stimme aus dem Himmel spricht ihn direkt als ‚Du‘ an. Die Protagonisten der Erzählung – Johannes, evtl. auch andere noch anwesende Täuflinge – werden nicht einmal mehr erwähnt. Gerade noch kündigte der Täufer seinen Zuhörern den ‚Stärkeren‘ an, der nun tatsächlich gekommen ist; doch wie wollen sie in Jesus den Stärkeren erkennen, wenn ihnen dieser tiefere Einblick in die Identität Jesu verwehrt bleibt? Mit diesem Widerspruch zeigt sich schon hier ein Cha‑ rakteristikum des Markusevangeliums, das seit Wrede unter dem Schlagwort „Messiasgeheimnis“ verhandelt wird.125 Ohne dass die Taufszene126 explizit zu einem der drei Bereiche Schweigegebote, Jüngerunverständnis und Parabeltheo‑ rie gezählt werden könnte, die klassischerweise als markinische Ausdruckswei‑ sen des Messiasgeheimnisses gelten,127 beginnt hier die Gratwanderung zwischen 123
Anders Matthäus und Lukas: In Mt 3,16 f. und in Lk 3,21 f. berichtet der jeweilige Er‑ zähler, dass sich der Himmel öffnet, der Geist herabkommt und eine Stimme aus dem Himmel (Mt) bzw. aus der Wolke (Lk) spricht. Bei Mt deklariert die Stimme Jesus in der dritten Person als den geliebten Sohn; bei Lk spricht sie wie bei Mk Jesus direkt in der zweiten Person an. 124 Auf ὡς περιστεράν, das in der Kommentarliteratur viel Beachtung findet, gehe ich nicht ein, weil diese Detailfrage aus der gewählten exegetischen Perspektive kaum eine Rolle spielt, sondern einfach für die Sichtbarkeit des Geistes sorgt (ähnlich Pesch, Mk I, 91: „Innerhalb der Vision muss der Geist eine Gestalt [. . .] haben“.). 125 Wredes zentrale These lautet: „Es ergiebt sich: während seines Erdenlebens ist Jesu Mes‑ sianität überhaupt Geheimnis und soll es sein; niemand – außer den Vertrauten Jesu – soll von ihr erfahren; mit der Auferstehung aber erfolgt die Entschleierung. Dies ist in der That der entscheidende Gedanke, die Pointe der ganzen Auffassung des Markus.“ (Wrede, Messiasge‑ heimnis, 67). 126 Wrede behandelt die Taufszene, doch ist das Feld, auf dem er kämpft, hier ein anderes: Er wehrt sich gegen das zu seiner Zeit kursierende Verständnis des Schauens und Hörens Jesu als eines rein innerlichen Vorgangs und verteidigt dagegen die „supranaturale“ Objektivität, die bei Markus der Taufe Jesu eigne (a. a. O., 71 – 73). 127 Diese Bereiche nennt schon Wrede: Schweigegebote an die Dämonen (a. a. O., 22 f.), an Geheilte (a. a. O., 33 f.), an die Jünger (a. a. O., 34.66 – 69), Jüngerunverständnis (a. a. O.,
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Offenbarung und Geheimhaltung, zwischen Erkennen und Nichterkennen, wer Jesus ist, die auch schon Wrede thematisiert: Es „ist immer beides von Bedeu‑ tung: das Aussprechen der großen Wahrheit und das Verbot des Aussprechens. Jener befremdliche Widerspruch bleibt bestehen.“128 Die himmlische Offenbarung, an der Markus sein Publikum durch seinen allwissenden Erzähler teilhaben lässt, ist gleich strukturiert wie das Mischzitat in V. 2 f.: Ganz offensichtlich ist die bereits erwähnte Parallelität an den beiden Stichworten ἰδού / εἶδεν (a) und φωνή (avar). Sie repräsentieren die beiden grund‑ legenden Weisen der Wahrnehmung, an denen Markus Verstehen und Nichtver‑ stehen in allen Variationen durchspielen wird. Beim zweiten Blick fällt auf, dass sich in V. 10b.11 auch die Struktur von V. 2 f. wiederholt: Sowohl die Vision als auch die Audition sind zweigeteilt. Jesus sieht den Himmel zerreißen und den Geist herabsteigen – zwei unterschiedliche, aufeinanderfolgende Ereignisse, von denen das erste, wie vorhin erläutert, das grundlegende auch für die Audition ist. Der Geist, der sichtbar herabsteigt, passt, wie schon zu V. 9 angemerkt, ins Bild ‚jener Tage‘, in denen der ‚Herr‘ kommen wird. Die ‚Stimme‘ richtet sich in zwei kurzen Aussagen an Jesus; beide sind keine Aufforderungen, sondern Aussagen über das angesprochene Du: ‚Du bist mein geliebter Sohn.‘ und: ‚An Dir habe ich Wohlgefallen.‘ Dass Gott selbst spricht, steht außer Zweifel: Die Stimme kommt vom Himmel und zudem weiß die Höre‑ rin aus V. 1, dass Jesus der ‚Sohn Gottes‘ ist. Dennoch sind auch hier wieder Schriftbezüge herauszuhören, die verschiedene Interpretationsräume öffnen. Die Worte Gottes lassen sich sowohl als Variation zu Ps 2,7 als auch zu Jes 42,1a hören; keine der beiden Stellen ist exakt zitiert. Ps 2 handelt von der Einsetzung des Königs auf dem Zion durch Gott selbst; der Text ist zum einen als Warnung an die ‚Könige der Erde‘ formuliert (Ps 2,10), die sich ‚gegen den Herrn und seinen Gesalbten‘ (κατὰ τοῦ κυρίου καὶ κατὰ τοῦ χριστοῦ αὐτοῦ, Ps 2,2LXX) erheben, zum anderen als Zusage Gottes an den König selbst, die dieser in Ps 2,7 – 9 nach einem einleitenden ‚Der Herr sprach zu mir‘ 93 – 114), Parabeltheorie (a. a. O., 54 – 65). So bis heute z. B. bei Schnelle, Einleitung, 253 f.; Gnilka, Mk I, 167. Gnilka bietet auch eine Übersicht über die Weiterentwicklung der Wrede’schen These bis in die 1970er-Jahre (vgl. a. a. O., 167 – 170) und differenziert selbst, indem er die Parabeltheorie ausgliedert (vgl. a. a. O., 170 – 172). An neueren Kommentaren seien vier ge‑ nannt, die das heutige Spektrum erahnen lassen: In van Iersels Kommentar findet sich der Name Wrede nicht einmal in der Bibliografie, Collins führt ihn zwar an diesem Ort auf, geht aber in ihrem detaillierten, stark traditions- und religionsgeschichtlich orientierten Kapitel zur Christolo‑ gie gar nicht auf das Messiasgeheimnis ein (vgl. Collins, Mk, 44 – 84). Marcus hingegen widmet diesem einen Exkurs und legt einen eigenen Schwerpunkt auf der literarischen Funktion des Messiasgeheimnisses, mit dessen Hilfe es gelinge, Wundergeschichten und Passion, vorösterliche Erzählung und nachösterliche Perspektive zusammenzubringen (vgl. Marcus, Mk I, 525 – 527). France schließlich nimmt „secrecy“ als Spezifikum des Evangeliums wahr, hält aber für dessen Verständnis eine Geheimnistheorie für unnötig; es genüge, das „paradox of ‚God’s kingship‘ as Mark understands it“ in seinem Schon und Noch-Nicht wahrzunehmen (France, Mk, 32). 128 Wrede, Messiasgeheimnis, 128.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
kundtut: Υἱός μου εἶ σύ, ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε (Ps 2,7LXX). Ps 2,8 f. spre‑ chen von der Macht über ‚Völker‘ (ἔθνη), die der König bekommt, sobald er sie von Gott erbittet. Vergleicht man nun Ps 2,7 mit dem Spruch der Stimme aus dem Himmel im Markusevangelium, zeigt sich neben der Übereinstimmung auch die Differenz zwischen den beiden Texten: Die jeweils ersten Aussagen sind in der Wortwahl identisch; sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Wortreihenfolge. Die jeweils zweiten Aussagen – ‚An dir habe ich Wohlgefallen‘ (Mk) und ‚Ich habe dich heute gezeugt‘ (Ps 2) – haben hingegen nichts miteinander zu tun. Jes 42,1a ist der Anfang des ersten „Gottesknechtsliedes“ (Jes 42,1 – 4). In der Fassung der Septuaginta ist kaum eine Verwandtschaft zu Mk 1,11 zu erkennen, jedoch bietet der masoretische Text Anknüpfungspunkte: Hier stellt Gott ‚meinen Knecht‘ vor (עבדי, LXX ὁ παῖς μου); er spricht zu anderen, nicht zum ‚Knecht‘ selbst. Er nennt diesen ‚mein Auserwählter‘ ()בחירי, ‚an dem ich [meine Seele] Gefallen habe‘ ()רצתה נפשי – das erklingt wieder in der zweiten Aussage der Stimme aus dem Himmel in Mk 1,11. Die Fortsetzung von Jes 42,1 ließe sich als weitere Bestätigung dafür lesen, dass der Geist, der auf Jesus herabkommt (V. 10), von Gott selbst kommt: ‚Meinen Geist habe ich auf ihn gelegt‘ (נתתי רוחי עליו, LXX ἔδωκα τὸ πνεῦμά μου ἐπ’ αὐτόν). Der Gottesknecht, der hier präsentiert wird, ‚bringt das Recht zu den Völkern hinaus‘ (Jes 42,3); wie in Ps 2LXX ist hier von den ἔθνη die Rede. Das Auftreten des ‚Knechtes‘ ist jedoch ein anderes als das des ‚Königs‘; dieser hat die Macht, die Völker zu vernichten (Ps 2,9), jener hingegen wird ‚das geknickte Rohr nicht brechen und den verglimmenden Docht nicht löschen‘ (Jes 42,3). Lührmann fasst prägnant zusammen: „Die Alternative ist: Wird Jesus hier als der (davidische) Messias proklamiert – so bei Zugrundelegung von Ps 2,7, oder als Gottesknecht – so bei Zugrundelegung von Jes 42,1?“129 Auch hier ist keine Entscheidung verlangt, sondern einfach die Mehrstimmigkeit wahrzunehmen, in der dieses Gotteswort ergeht.130 Wie gerade eben die Gratwanderung zwischen Verborgenheit und Offenbarkeit der Identität Jesu ihren Anfang nahm, so ist in dieser Mehrstimmigkeit schon die Paradoxie zwischen der Vollmacht des Gottes‑ sohnes und der Ohnmacht des Leidenden und Sterbenden angelegt, die Markus im Laufe seines Evangeliums ausführlich darstellen wird. V. 10b.11 ist in zweierlei Hinsicht eine Steigerung zu den zitierten Verheißun‑ gen der Schrift in V. 2 f.: Zum Ersten wird nicht nur der Wegbereiter und damit der kommende Herr nur indirekt angekündigt, sondern Jesus als der nun gekommene Herr selbst identifiziert; zum Zweiten ist diese Offenbarung nicht durch Worte der Schrift vermittelt, sondern kommt unmittelbar aus dem geöffneten Himmel; der Geist kommt – wenn auch nur für Jesus sichtbar, aber nicht minder „real“ – auf Jesus herab und Gott selbst bestätigt die Identifikation Jesu als υἱὸς θεοῦ, die Mar‑ 129
Lührmann, Mk, 37. Auch Collins und Watts sehen eine Kombination der beiden Linien (vgl. Collins, Mk, 150; Watts, Mk, 129). 130
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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kus in der Überschrift behauptet (V. 1). Anders gesagt: Aus dem offenen Himmel kommt die sicht- und hörbare Kunde, dass das zuvor Angekündigte eingetroffen ist. Die Wegbereitung war erfolgreich; Jesus, der Herr, der kommen sollte, ist da.
III.1.5. Das Ende des Anfangs: Auftakt der Verkündigung Jesu in Galiläa (1,12 – 15) (Vgl. Abb. 2, S. 70) In V. 14 stellt sich die Frage, ob das Folgende durch die Unterbrechung des markinischen „καί-Teppichs“ hervorgehoben ist oder nicht. In B, D, in den frühen altlatei‑ nischen Zeugen a (4. Jh.) und ff2 und in wenigen bohairischen Manuskripten beginnt der Vers mit καὶ μετά, in allen anderen mit dem auffälligeren μετὰ δέ. Die Bezeugung ist mit der an der gerade besprochenen Stelle in V. 11 vergleichbar, innere Kriterien lassen sich hier kaum sinnvoll ins Feld führen. Ich halte mich an die Entscheidung der Herausgeber von NA28 und lese μετὰ δέ. Τῆς βασιλείας, das in der Mehrheit der Textzeugen nach εὐαγγέλιον steht, lässt sich als spä‑ terer Zusatz erklären, der den ungewöhnlichen Ausdruck ‚Evangelium Gottes‘ zum gängigeren ‚Evangelium vom Reich Gottes‘ macht.131 Auch die Quellenlage spricht für die kürzere Lesart.
Der untere Rahmen der Ouvertüre lässt ähnlich wie sein Gegenstück V. 1 – 4 keine formalen Wiederholungen erkennen, die diesen Abschnitt zusammenhalten wür‑ den. Übernahmen am „Anfang des Anfangs“ stattdessen klangliche Effekte und eine Stichwortkette diese Funktion, ist hier nichts dergleichen zu finden; vielmehr sind nun deutlich zwei Abschnitte zu erkennen, die praktisch unverbunden neben‑ einander stehen: Jesu Aufenthalt in der Einöde (V. 12 f.) und sein programmati‑ scher erster Auftritt als Verkündiger in Galiläa (V. 14 f.). 12 f. Der Bericht über Jesu Aufenthalt in der Einöde ist gekennzeichnet durch die Wiederaufnahme der ‚Einöde‘ (εἰς τὴν ἔρημον / ἐν τῇ ἐρήμῳ, E) und des ‚Engels‘, hier im Plural (οἱ ἄγγελοι, D), aus V. 2 – 4. Auch der kurze Abschnitt in sich ent‑ hält keine ins Auge fallenden formalen Signale; seine Struktur entsteht durch leise Töne: Am Beginn steht die Aktion des Geistes, am Ende die der Engel. Der ‚Geist‘ treibt ‚ihn‘ – von der Erzähllogik her kommen als Subjekt nur der Heilige Geist und als Objekt nur Jesus in Betracht – in die Einöde hinaus, die Engel dienen ‚ihm‘ dort. Bei den beiden mittleren Sätzen ist Jesus jeweils das Subjekt von ἦν; dieses doppelte ‚er war‘ trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, dass dem Ganzen weniger der Charakter einer Erzählung als vielmehr der einer Bildbeschreibung eignet. ‚Vierzig Tage‘ ist Jesus in der Einöde und wird vom Satan versucht; dennoch ereignet sich nichts und die Zeit scheint still zu stehen. Diese Zeitspanne erinnert in Kombination mit ἐν τῇ ἐρήμῳ an die vierzig Jahre Wüstenwanderung des Volkes Israel (z. B. Ex 16,35; Num 14,33 f.) oder auch an den vierzigtägigen Fußmarsch des Elia zum Berg Choreb (1 Kön 19,8).132 Das 131
Vgl. Metzger, Textual Commentary, 64. Da die Zahl vierzig insbesondere in Kombination mit Zeitangaben (Tage, Jahre) im Alten Testament wie in der Antike generell als runde Zahl gilt, sind natürlich unzählige weitere Assoziationen denkbar (vgl. Balz, τεσσεράκοντα, 135 f.). 132
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Imperfekt als einzige Verbform in V. 13 erlaubt kein zeitliches Nacheinander von Versuchung, Zusammensein mit den wilden Tieren und dem Dienen der Engel. Vielmehr ist alles gleichzeitig auf dem Bild zu sehen. Am Beginn von V. 12 ist ein Ortswechsel zu verzeichnen: Spielte V. 5 – 11 am Jordan, geht es nun wieder ‚in die Einöde hinaus‘. Das einleitende καὶ εὐθύς und τὸ πνεῦμα stellen Stichwortverbindungen zum vorigen Abschnitt her. Εὐθύς, hier schon zum zweiten Mal zu hören, wird vor allem die ersten Szenen der öffentli‑ chen Wirksamkeit Jesu prägen (1,16 – 2,13a); sein Ruf breitet sich in Windeseile aus. Hier verhilft es, zusammen mit ἐκβάλλει, dem ersten Präsens historicum133 des Evangeliums, zu einem raschen Szenenwechsel; nun geht es wieder in der Einöde weiter. Unklar bleiben in der ganzen Szene die Hintergründe: Warum treibt der Geist Jesus in die Einöde hinaus? Wie versucht der Satan Jesus? Im weiteren Evangelium sind es immer menschliche Gegner Jesu,134 die ihn ‚ver‑ suchen‘ (πειράζειν); sie wollen ihn durch Fangfragen bloßstellen (10,2; 12,14 f.) oder fordern ihn zur Demonstration seiner Vollmacht heraus, die er jedoch ver‑ weigert (8,11 f.). In dieser Szene erfährt die Hörerin zudem weder, wie Jesus reagiert, noch, wie es mit dem Satan weitergeht. Während Matthäus und Lukas all das ausführlich erzählen, nützt Markus die Gelegenheit nicht, dem Bild Jesu als des wahren ‚Sohnes Gottes‘ (vgl. Mt 4,3.6; Lk 4,3.9) schärfere Konturen zu ver‑ leihen. In dieser statischen Szene klingt stattdessen, unter umgekehrten Vorzei‑ chen und damit ähnlich versteckt wie bei ὀπίσω μου in V. 6, ein später zu hören‑ des Motiv an: ‚Der [heilige] Geist treibt‘ Jesus in die Einöde ‚hinaus‘ (τὸ πνεῦμα αὐτὸν ἐκβάλλει), wo er mit dem ‚Satan‘ konfrontiert wird. ‚Dämonen austreiben‘ (ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια) wird zu einer der wichtigsten Tätigkeiten Jesu in Gali‑ läa.135 Seine Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten um die Frage, wem er seine Vollmacht zur Austreibung der Dämonen verdankt, zeigt, dass Markus keinen Unterschied zwischen ‚Dämonen‘ und ‚unreinen Geistern‘ (πνεῦματα ἀκάθαρτα) macht und der Satan als der Dämon schlechthin auch in ihre Sphäre gehört (Mk 3,22 – 30). Nachdem mit dem [heiligen] Geist und Gott selbst gerade die himmlischen Verbündeten Jesu vorgestellt wurden, tritt hier nun in Gestalt des Satans die unsichtbare Gegenseite auf den Plan. Wie die nächste Aussage, Jesus sei ‚mit den wilden Tieren‘ (μετὰ τῶν θηρίων), zu verstehen ist, dazu schweigt sich der Text aus; Markus verwendet θηρίον nur hier und gibt wie schon bei der 133 Vgl. Siebenthal, § 197d: „Es hebt typischerweise Neues und Entscheidendes her‑ vor [. . .].“ Runge hingegen argumentiert aus diskurspragmatischer Perspektive; das historische Präsens habe die Funktion, die Aufmerksamkeit auf das Folgende zu lenken, und werde oft zur Markierung von Szenenwechseln eingesetzt. Am vorliegenden Beispiel ist das gut nachvollzieh‑ bar – als Hörerin bleibe ich nicht am ‚Hinauswerfen‘ hängen, sondern konzentriere mich auf die folgende Szene in der Einöde (vgl. Runge, Discourse Grammar, 133 – 137). 134 In 8,11 und 10,2 sind es die Pharisäer alleine, in 12,15 treten sie zusammen mit den Herodianern auf. 135 Vgl. 1,34.39; 3,15.22; 6,13; 7,26. Der Ausdruck kommt noch einmal in 9,38 vor, dort geht es jedoch um andere, die in Jesu Namen Dämonen austreiben.
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Versuchung durch den Satan nicht preis, wie Jesus sich zu ihnen verhält. Ob die wilden Tiere einfach zum Aufenthalt in der Einöde dazugehören,136 ob sie für Jesus gefährlich waren und sozusagen die Bedrohung durch den Satan illustrie‑ ren,137 oder ob μετά im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens gemeint ist und damit „die Wüste als Ort eschatologischen Paradiesesfriedens [sic] bezeichnet“138 wird, lässt sich kaum entscheiden. Schließlich gehören zum Gemälde „Jesus in der Einöde“ auch noch die Engel, die ihm dienen. Worin ihr Dienst besteht, ist nicht genau beschrieben; naheliegend ist, διακονεῖν in seiner Grundbedeutung ‚aufwarten bei Tisch‘139 zu verstehen, also ähnlich wie in der Szene, in der ein Engel den Elia in der Wüste mit Nahrung versorgt (1 Kön 19,5 – 8). Der Text selbst bietet kaum mehr als eine Skizze – je nach Assoziationen, die in verschiedenen Zuhörern hervorgerufen werden, entstehen vor deren inneren Augen ganz unterschiedliche Bilder. Wesentlich am Ganzen erscheint, dass nach dem Wegbereiter Johannes sich auch Jesus in der Einöde aufhält und dass mit dem Satan die gegnerische Macht vorgestellt wurde. Dessen „Umzingelung“ mit dem Geist und den Engeln deutet an, dass Jesus gegen ihn nicht allein auf verlo‑ renem Posten stehen wird. 14 f. Die letzten beiden Verse der Ouvertüre bilden zum einen das Gegenstück zur Überschrift; aus ihr werden die Worte εὐαγγέλιον (A), Ἰησοῦς (B) und, wie oben im Genitiv, τοῦ θεοῦ (C) wiederholt, das erste und das dritte sogar doppelt. Zum anderen nehmen sie aus V. 4 den Namen Ἰωάννης (J) wieder auf, dazu das Verb κηρύσσειν (c) und die ‚Umkehr‘ (μετάνοια / μετανοεῖν, d). Auch innerhalb des kleinen Abschnittes sind Strukturen hörbar: Der Bericht des Erzählers über Jesu Verkündigung (V. 14) endet mit dem Ausdruck εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ (A C). In der mündlichen Rede (V. 15) werden die beiden Nomen in umgekehrter Rei‑ henfolge wieder aufgenommen; sie beschließen jeweils die Folge von zwei Aus‑ sagen (θ1, θ2) bzw. von zwei Aufforderungen (ι1, ι2). Nun geht der Stab endgültig vom Wegbereiter an den ‚Herrn‘ über: Wie angekündigt (ἔρχεται ὀπίσω μου, V. 7), ist Jesus nach Johannes, genauer nach seiner Auslieferung, gekommen (μετὰ δὲ τὸ παραδοθῆναι τὸν Ἰωάννην ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς). Beide Namen werden bei der Stabsübergabe genannt. Schon hier ist nur noch in der Retrospektive von Johannes die Rede; seine Aufgabe ist erle‑ digt und seine Zeit vorbei, mit dem Beginn der Verkündigung Jesu ist eine neue Zeit angebrochen.140 Der Anbruch dieser neuen Zeit wird klanglich durch die Unterbrechung des „καί-Teppichs“ mit dem Satzanfang μετὰ δέ hervorgeho‑ ben. Erweist sich an diesem Punkt der Erzählung Jesus als der ‚Nachfolger‘ des Johannes, indem auch er verkündigt (κηρύσσειν, c, V. 4.14) und die ‚Umkehr‘ 136
Vgl. van Iersel, Mk, 103. Vgl. Collins, Mk, 153; France, Mk, 86. 138 Balz, τεσσεράκοντα, 138; vgl auch Pesch, Mk I, 95. 139 Vgl. Bauer s. v. διακονέω. 140 Vgl. dazu Pesch, Mk I, 86, der etwas anders nuanciert und die Zeit des Johannes zur Zeit Jesu rechnet. 137
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
(μετανοία / μετανοεῖν, d, V. 4.15) Gegenstand seiner Predigt ist, klingt in παραδο‑ θῆναι an, dass im Schicksal des Johannes die Passion Jesu ihre Schatten voraus‑ wirft: Wie der Wegbereiter ‚ausgeliefert‘ wurde, so wird auch der gekommene Herr ‚ausgeliefert werden‘. Jesus selbst kündigt das mehrmals an (9.31; 10,33; 14,21); über mehrere Stationen – von Judas (ὁ παραδιδούς) an die Hohenpriester (14,44), von den Hohenpriestern an Pilatus (15,1), von Pilatus an die Soldaten, die ihn ans Kreuz schlagen (15,15) – vollzieht sich die ‚Auslieferung‘, an deren Ende der Tod steht. Jesu Nachfolger schließlich übernehmen von ihm nicht nur die Aufgabe der Verkündigung der Umkehr (6,12), sondern auch ihnen steht, so kündigt Jesus es in seiner Endzeitrede an, ‚in jenen Tagen‘ die ‚Auslieferung‘ bevor (13,9.11.12). Mit der neuen Zeit geht auch ein neuer Ort einher: Jesus kommt nach Galiläa, in die Region, aus der er selbst stammt (V. 9). Dennoch ist diese Angabe ähnlich abstrakt wie ‚in der Einöde‘; erst ab 1,16 werden konkrete Orte wie das Seeufer (1,16; 2,13; 3,7), die Synagoge oder ein Haus in Kafarnaum (1,21; 2,1) genannt. Dann ist auch von Menschen zu hören, denen Jesus begegnet, mit denen er ins Gespräch kommt, die über seine Lehre und seine Wundertaten staunen oder versu‑ chen, ihn in Schach zu halten, weil sie in ihm eine Bedrohung sehen. Am Ende der Ouvertüre hingegen konzentriert sich alles auf die Botschaft, die Jesus verkündigt, das ‚Evangelium Gottes‘. Aufmerksamen Hörerinnen ist noch in Erinnerung, dass am Anfang vom ‚Evangelium Jesu Christi‘ (V. 1) die Rede war. Es ist kaum anzu‑ nehmen, dass Markus an zwei verschiedene Evangelien denkt. Nur in der Ouver‑ türe belegt er εὐαγγέλιον mit diesen Attributen; an allen anderen Stellen – immer in direkter Rede Jesu – verwendet er es absolut, so auch gerade anschließend in V. 15.141 Zudem war auch schon an κύριος zu sehen, dass die Identität Gottes und diejenige Jesu sich überlagern. Dementsprechend handelt die ‚gute Botschaft‘ von beiden bzw. – Ἰησοῦ Χριστοῦ und θεοῦ als subjektive Genitive verstanden – geht sie von beiden aus. Dieser Sprachgebrauch ist kein Spezifikum des Markus; das zeigt sich an den Paulusbriefen, die mit Ausnahme von 1 Petr142 die einzigen Schriften des Neuen Testamentes sind, die außer Markus die Ausdrücke ‚Evan‑ gelium Gottes‘ und ‚Evangelium [Jesu] Christi‘ kennen. Auch Paulus wechselt zwischen den beiden Attributen ab, ohne dass ein Bedeutungsunterschied erkenn‑ bar wäre,143 und verwendet εὐαγγέλιον daneben absolut.144 Dennoch ist zu beden‑ ken, dass, wenn ‚Evangelium‘ nun innerhalb der Erzählung verwendet wird, der Begriff auf der narrativen Ebene ein anderer sein muss als der des nachösterlichen 141
Darüber hinaus in 8,35; 10,29; 13,10; 14,9. Auch 1 Petr kennt ‚Evangelium [Jesu] Christi‘ nicht; 1 Petr 4,17 enthält τῷ τοῦ θεοῦ εὐαγγελίῳ. 143 Vgl. z. B. Röm 15,16 – 19. 144 Paulus legt zudem εὐαγγέλιον die Attribute μου, ἡμῶν und ἕτερον bei, mit denen ins‑ besondere das Ringen um das richtige Evangelium zur Sprache kommt, aber auch die Iden‑ tifikation seiner eigenen Verkündigung mit dem Evangelium Christi bzw. Gottes (vgl. z. B. Röm 1,1.9; 2,16; 2 Kor 4,3; 11,4.7; Gal 1,6.7.11). 142
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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Publikums des Markus, das als zentrale Eckpunkte „Tod und Auferstehung Jesu“ nennen würde.145 Darauf kann der markinische Jesus, wenn er zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit dieses Wort verwendet, so wenig zurückgreifen wie seine direkten Zuhörer. Dieses ‚Evangelium‘ besteht aus vier kurzen, prägnanten Sätzen. Auf zwei Aussagen (θ1 / 2) folgen zwei Aufforderungen (ι1 / 2), die jeweils mit καί miteinander verbunden sind. Die beiden Aussagen sind parallel gestaltet: Auf ein Verb im Perf. 3. Pers. Sing. Akt. folgt ein Subjekt; weitere Satzglieder gibt es nicht. Was im Bericht des Erzählers bereits klar wurde, lässt Markus nun Jesus selbst als ‚Evangelium‘ präsentieren und erweitert damit das Bedeutungsspektrum des Begriffs: Sein eigenes Kommen markiert den καιρός, mit dem eine neue Zeit beginnt: ‚Die Zeit ist erfüllt.‘ (πεπλήρωται ὁ καιρός). Die Formulierung im Per‑ fekt lässt keinen Zweifel daran, dass das im Hier und Jetzt der Rede Jesu real ist. Gleiches gilt auch für das ‚Nahe-gekommen-sein‘ des ‚Reiches Gottes‘ (ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ); auch hier zählt das Resultat: Das Reich Gottes, oder anders gesagt die ‚Königsherrschaft Gottes‘, ist nun da. Die parallele Struktur, die anders als diejenige in V. 8 keine Opposition markiert, liest sich wie ein synthetischer Par‑ allelismus membrorum; die gleiche Sache zeigt sich in zwei verschiedenen sprach‑ lichen Gewändern. Bασιλεία τοῦ θεοῦ ist ein weiteres theologisches Schwerge‑ wicht, das Markus seinen Zuhörern unkommentiert vorsetzt. Im Unterschied zu den anderen bisher genannten Insiderausdrücken spielt βασιλεία τοῦ θεοῦ bei Pau‑ lus keine große Rolle, doch ist es „in den synoptischen Evangelien [. . .] das zent‑ rale Thema der Predigt des irdischen Jesus.“146 Zwar ist auch dieses Schlüsselwort „notoriously open to varied interpretations“,147 doch sind deutliche Anklänge an alttestamentliche Vorstellungen vom Königtum Gottes hörbar. Schon im Alten Testament ist die Vorstellung von Gott als König ( )מלךzu finden; sie ist kein singuläres Phänomen, sondern deckt sich mit Vorstellungen aus anderen Kulturen des Alten Orients.148 Ihr Aufkommen setzt das real-historische Königtum voraus, das als „kulturelle Grundmetapher“149 zur Beschreibung auch der Herrschaft Gottes zur Verfügung steht. Zenger bringt ihre Anwendung auf יהוהzudem mit dem Tempelbau und der Zionstheologie in Verbin‑ dung.150 Erst in späteren Texten finden sich die Abstrakta ‚Königtum‘ / ‚Königsherrschaft‘ (מלכות
145
Zum Bedeutungsspektrum von ‚Evangelium‘ als Vokabel des Soziolekts der frühen Christusgläubigen vgl. Kap. III.1.2., S. 78 – 81. 146 Lindemann, Herrschaft Gottes, 200. Das im Matthäusevangelium hauptsächlich verwen‑ dete βασιλεία τῶν οὐρανῶν ist weitegehend bedeutungsgleich mit βασιλεία τοῦ θεοῦ, das sich bei allen drei Synoptikern findet (zur Diskussion um Bedeutungsnuancen vgl. Schmidt, βασι‑ λεύς, βασιλεία, 582 f.; Lindemann, Herrschaft Gottes, 209). Die weit überwiegende Anzahl der Belege findet sich in direkter Rede Jesu. 147 France, Mk, 93. 148 Vgl. Leuenberger, Königtum Gottes, Abschnitt 1; von Rad, βασιλεύς, βασιλεία, 567. 149 Leuenberger, Königtum Gottes, Abschnitt 1. Vgl. auch von Rad, βασιλεύς, βασιλεία, 567. 150 Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 178 f.; vgl. auch Leuenberger, Königtum Gottes, Ab‑ schnitt 3.1.
106
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
oder מלוכה, beides in der Septuaginta als βασιλεία),151 allerdings nicht in der neutestamentlichen Formulierung mit Genitiv (τοῦ θεοῦ), sondern in der Kennzeichnung der Herrschaft durch Pos‑ sessiva, die sich eindeutig auf Gott beziehen. Ps 145 (144LXX), der „theologische Höhepunkt und Schlussakzent des Psalters“152 vermittelt ein Bild von dieser universalen Gottesherrschaft, die zugleich durch die Anrede Gottes als ‚mein Gott und König‘ (Ps 145,1) eine Tendenz zur Individualisierung erkennen lässt: Sie besteht in Ewigkeit (Ps 145,13) und äußert sich in der unübertrefflichen Macht und Größe Gottes (Ps 145,3 – 6) und gleichzeitig in der Zuwendung Gottes zu ‚allen seinen Werken‘ (Ps 145,7 – 9), die sich im Aufrichten der Gebeugten und in der Versorgung mit Nahrung konkretisiert (Ps 145,14 – 16). ‚Der Herr ist nahe allen, die ihn anru‑ fen‘ (ἐγγὺς κύριος, Ps 145,18) – auch die Nähe Gottes ist in dieser Herrschaft schon angelegt. Insbesondere diese auch sonst im Psalter153 zu findende Konzeption der Königsherrschaft Got‑ tes ist es, die sich in der ‚Reich Gottes‘-Verkündigung und den Taten Jesu widerspiegelt154 und deren Aspekte auch alle im Markusevangelium anklingen. Eine weitere für den neutestamentli‑ chen ‚Reich Gottes‘-Begriff wesentliche traditionsgeschichtliche Linie ist das Verhältnis von weltlichem König und Gott als König. Der König verdankt seine Macht Gott und wird u. a. als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet,155 kann aber auch von den Ansprüchen her, die damit verbunden sind, bei ungenügender Amtsführung kritisiert werden.156 Erst spät, greifbar in apokalyptischen Tex‑ ten wie etwa dem Danielbuch und PsSal 17, entwickelt sich die Idee, die (eschatologische) Herrschaft Gottes würde durch eine messianische Figur wie den Menschensohn (Dan 7,14) ausgeübt.157
In der Darstellung des Markus werden die in Psalmen (145; vgl. auch 103) skiz‑ zierten Charakteristika des Königtums Gottes mit der Gegenwart Jesu auf Erden in Verbindung gebracht: Er, der gekommene Herr, der Christus und Sohn Got‑ tes, ist der, der ‚Vollmacht‘ hat, er wendet sich den Menschen zu, befreit sie durch seine Wundertaten von dem, was sie beugt, er pflegt mit ihnen die Tisch‑ gemeinschaft und gibt ihnen zu essen. Dennoch bleibt die ‚Herrschaft Gottes‘ ein ‚Mysterium‘ (4,11), über das Jesus nur in Gleichnissen redet (4,26.30.33 f.) und das nur denen ‚um ihn‘ gegeben ist (4,11). Gegen Ende seines Evangeliums beschreibt Markus die Herrschaft Gottes als etwas, was noch in der Zukunft liegt (14,25; 15,43) – damit korrespondiert, dass der, der schon gekommen ist, noch kommen wird (8,38; 12,9; 13,26; 14,62). Sowohl die Gegenwart Jesu als auch die des Gottesreiches lassen sich nicht festhalten; beides unterliegt der Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Schon und Noch-nicht, die auch schon in alttestament‑ 151
Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 176; von Rad, βασιλεύς, βασιλεία, 569. Leuenberger, Königtum Gottes, Abschnitt 3.3.3.3. 153 Die Abstrakta מלכותoder מלוכהfinden sich als Königreich / ‑herrschaft Gottes nur in Ps 22, 45, 103 und 145, doch die oben dargestellte Vorstellung von Gott als König ist im Psalter auch darüber hinaus vertreten, sei es in den Jahwe-Königspsalmen (Ps 47; 93; 96 – 99; vgl. auch Ps 24), im schöpfungstheologisch ausgerichteten Ps 29 (ähnlich, aber ohne explizite Nennung des Königstitels, Ps 8) oder auch in Psalmen, in denen mit anderem Vokabular oder in bildhafter Redeweise Gottes Herrschaft zur Darstellung kommt (z. B. Ende Ps 103; Anfang Ps 104; Ps 114). Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 178 f. 154 Vgl. Leuenberger, Königtum Gottes, Abschnitt 3.3.4. 155 Vgl. oben zu 1,1 ‚Sohn Gottes‘ Kap. III.1.2., S. 83 f. 156 Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 181 f. 157 Vgl. Lindemann, Herrschaft Gottes, 196 f. 152
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
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lichen Texten zu finden ist, die nach dem Scheitern des davidischen Königtums zu datieren sind.158 Bei Deutero-Jesaja wendet sich Gott, der universale König, seinem Volk Israel als Retter für‑ sorglich zu; das wird ‚vor den Augen aller Nationen‘ (Jes 52,10) offenbar werden. Diese Verhei‑ ßung ist zentraler Bestandteil der ‚guten Nachricht‘, die der Freudenbote überbringt (Jes 52,7).159 Die hier schon angelegten Gedankenlinien der Ausweitung von יהוהZuwendung über Israel hinaus zu allen Völkern und der Paradoxie von schon gegenwärtiger und erst für das Ende der Zeiten verheißener Herrschaft Gottes werden bis ins frühjüdische Schrifttum hinein weiter ausgezogen und bekommen eschatologischen oder sogar apokalyptischen Charakter.160
Hier, in der Verkündigung Jesu am Ende der Ouvertüre, steht das ‚Da-Sein‘ im Vordergrund; die beiden Imperative, im Plural an alle gerichtet, die das ‚Evan‑ gelium‘ jetzt hören, zeigen, dass diese Botschaft nach einer Reaktion verlangt: ‚Kehrt um und glaubt an das Evangelium!‘ Dass Jesus nun ‚da ist‘, ist offen‑ sichtlich. Dass mit seinem Kommen die Zeit erfüllt und das Königreich Gottes in seiner Person nun mitten unter den Menschen ist, ist offenbar und verborgen zugleich; es will erkannt und geglaubt werden – von den Zuhörern Jesu genauso wie vom Publikum des Markus.
III.1.6. Zusammenfassung der Exegese zu 1,1 – 15 Die Überschrift stellt klar, dass dieser Text von ‚Jesus Christus, dem Sohn Got‑ tes‘ handelt. Doch es ist Johannes der Täufer, der in allen vier Abschnitten der Ouvertüre vorkommt. Markus erwähnt Stationen seines Lebens vom ersten Auf‑ tritt in der Einöde über sein Taufen und Verkündigen am Jordan bis zu seiner Gefangennahme; die Geschichte seines Todes wird jedoch erst später nachgelie‑ fert (6,14 – 29). Die äußerst knappe Darstellung und der fehlende Schluss sorgen dafür, dass die Ouvertüre nicht zum Kurzevangelium des Johannes gerät. Von Johannes wird nur soviel erzählt, wie für seine Rolle als Wegbereiter im ‚Evan‑ gelium Jesu Christi‘ wichtig ist. Das gilt auch für seine Tauftätigkeit: Zwar wird sie in einem auffälligen Parallelismus (V. 5 || 9) beschrieben, trotzdem steht sie nicht im Zentrum der beiden Kernabschnitte, sondern es stechen wie in den Rah‑ menteilen Enthüllungen der Identität Jesu hervor. Diese vier „Ansagen“ durch Autoritäten sind formal ähnlich – immer vier Phrasen, von denen je zwei zusam‑ mengehören – und gehen inhaltlich einen Weg: 2 f.
Ankündigung des Wegbereiters und damit indirekt des ‚Herrn‘ durch die autoritative Schrift
7 f.
Ankündigung des Stärkeren, der kommt, durch den als wahren Propheten Elia porträtierten Wegbereiter Johannes
158
Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 183. Vgl. a. a. O., 182 f.; Stanton, Jesus and Gospel, 13. 160 Vgl. Zenger, Herrschaft Gottes, 185 – 188; Lindemann, Herrschaft Gottes, 196 – 198. 159
108
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
10 f.
Unmittelbare Identifizierung Jesu als Geistträger und Gottessohn durch die Offenbarung aus dem Himmel
15
Verkündigung des Evangeliums Gottes durch Jesus, den Geistträger, Gottessohn und gekommenen Herrn selbst, dass das Reich Gottes mit Jesu Kommen nun ‚da ist‘,
Markus vermittelt damit seinem Publikum ein Wissen um die Identität Jesu, das den Protagonisten der Erzählung nicht zugänglich ist. Er nimmt, das wird sich im weiteren Verlauf des Evangeliums immer wieder zeigen, den Unterschied zwischen den Perspektiven ernst: Er und seine Zuhörer wissen bereits um Tod und Auferstehung Jesu;161 ihnen fehlt dafür die unmittelbare Begegnung mit dem Menschen Jesus. Dieses Privileg ist denjenigen vorbehalten, von denen Markus erzählt: den Jüngern, dem Volk und auch den Gegnern Jesu. Sie hingegen kennen den Ausgang der Geschichte noch nicht – das haben ihnen wiederum die Zuhörer des Markus voraus. Die Frage, wer Jesus je für sie ist, und welche Kon-Sequen‑ zen – welche „Nach-Folgen“ – sie daraus ziehen, stellt sich also in doppelter Perspektivität. Der Aufruf zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium, in den die Ouvertüre mündet, gilt daher beiden: denen damals in Galiläa und denen, die, wann auch immer, das Markusevangelium hören. In dessen weiterem Ver‑ lauf wird als bekannt vorausgesetzt, was hier am Anfang über das ‚Evangelium‘ gesagt wird: Die gute Botschaft lautet, dass die Königsherrschaft Gottes in der Person Jesu ‚da ist‘. Markus setzt seinem Publikum ungeniert gewichtige Schlagwörter aus dem Jargon der frühen Christusgläubigen vor: Namen und Titel wie ‚Jesus Chris‑ tus‘, ‚Sohn Gottes‘ und ‚Herr‘, dazu Vokabeln wie ‚Evangelium‘, ‚Taufe‘, ‚Ver‑ gebung‘, ‚Sünden‘, ‚Heiliger Geist‘ und ‚Reich Gottes‘. Welche Assoziationen sie beim Publikum hervorrufen, lässt sich nur schwer festmachen – in diesem Soziolekt vermengen sich traditionsgeschichtliche Linien aus alttestamentlichfrühjüdischen Texten mit einer spezifischen Interpretation der Person Jesu und dem Sprachgebrauch des gesellschaftlich-politischen Umfelds, insbesondere der Rhetorik des Kaiserkults.162 Dennoch lässt sich aus pragmatischer Perspektive festhalten, dass ein Werk, das zu Beginn so geballt Insidervokabeln aufweist, pri‑ mär für ein Publikum gedacht ist, dem diese Sprache aus dem eigenen Gebrauch vertraut ist.163 Markus fängt schon in der Ouvertüre damit an, durch den spezifi‑ schen Einsatz dieser Schlüsselwörter seine eigene Sicht auf die Person Jesu und 161
Vgl. Pokorný, From the Gospel, 12.46 f.; Theissen, Evangelium, 78. Was Stanton an Hintergründen und Traditionslinien für die Entwicklung des spezifisch frühchristlichen Verständnisses und Gebrauchs von εὐαγγέλιον expliziert, gilt für den früh‑ christlichen Soziolekt im Allgemeinen und bei den einzelnen Vokabeln in je unterschiedlicher Gewichtung (vgl. Stanton, Jesus and Gospel, 35). 163 Als markantes Gegenbeispiel ist etwa die Areopagrede des Paulus zu nennen, wie sie Lukas in Apg 17 darstellt. Sie richtet sich ‚an die Männer von Athen‘ (Apg 17,22), also an eine Hörerschaft außerhalb der frühchristlichen Gemeinden, und bedient sich konsequenterweise so gut wie nicht deren Soziolekts. 162
III.1. Die Ouvertüre (1,1 – 15)
109
sein Verständnis der ‚guten Nachricht Gottes‘ zu entwickeln, und setzt dies im Laufe seines Werkes insbesondere auch durch motivische Wiederholungen kon‑ sequent fort. Wie dieses theologische Vokabular sind auch die polyphonen Anklänge an die Schrift offen für verschiedene Assoziationen, wenngleich sich Linien wie die Identifikation des Johannes mit dem wiedergekommenen Elia herauskristallisie‑ ren. Doch was wäre angemessener als flirrende Vielstimmigkeit für das Unaus‑ sprechliche in der Rede über Gott und über den Menschen Jesus, dessen Identität sich mit der Identität Gottes überschneidet? Zur Klangpracht der Ouvertüre tragen auch die vielen Motive bei, die ein erstes Mal erklingen.164 Die Protagonisten der sichtbaren und der unsichtba‑ ren Welt werden vor- und schon einander gegenübergestellt; Oppositionen wie [Heiliger] Geist – Satan und ‚die vielen aus Jerusalem‘ – ‚Jesus aus Nazareth in Galiläa‘ sind schon angelegt, aber ohne Kenntnis der restlichen Erzählung nicht erkennbar. Hier wird besonders deutlich, wie anders etwas wahrgenommen wer‑ den kann, wenn jemand das Evangelium zum zweiten oder dritten Mal hört. Das „irdische Personal“ des Evangeliums kommt allerdings in seiner Vielfalt nicht zur Geltung;165 erst ab 1,16 ist von einzelnen Menschen die Rede, die zu Jün‑ gern werden, von ‚den Leuten‘ (ὁ ὄχλος) im Allgemeinen, von Kranken, Beses‑ senen, von Zöllnern und Sündern, von Schriftgelehrten, Pharisäern, Herodianern und vielen weiteren, die entweder von Jesus begeistert sind oder ihn für eine Bedrohung halten. Die drei Hauptspielorte Galiläa, ‚auf dem Weg‘ und Jerusa‑ lem werden eingeführt; von den Orten, an denen die Ouvertüre selbst spielt – die Einöde und der Jordan –, kommt dem Fluss keine Bedeutung mehr zu.166 Anders steht es um ‚die Einöde‘. Das Nomen ἡ ἔρημος findet zwar im restlichen Evan‑ gelium keine Verwendung mehr, doch in ἡ ἐρημία, das ebenfalls ‚Wüste‘, ‚Ein‑ öde‘ meint, und in den ἔρημοι τόποι, die etwas unspezifischer ‚einsame Orte‘ bezeichnen, klingt es dennoch deutlich an. Die ἔρημοι τόποι dienen einerseits als Rückzugsorte (1,35.45; 6,31.32) und werden andererseits wie ἡ ἐρημία zum Schauplatz für ein Speisungswunder (6,35; 8,4). Schließlich verstecken sich in der Ouvertüre noch weitere Motive, die dann in ganz anderen Zusammenhängen für die Erzählung relevant werden: Ὀπίσω μου und ἐκβάλλειν werden zu Termini technici für Nachfolge bzw. die Austreibung von Dämonen, παραδοθῆναι steht für das Geschick Jesu. Ἐσθίειν prägt nicht nur die gerade erwähnten Speisungswunder, sondern leistet im Zusammenspiel mit ἄρτος, χορτασθήναι und dem Wortfeld ‚verstehen‘ einen wesentlichen Beitrag 164
Auch die Ouvertüren romantischer Opern präsentieren die musikalischen Motive und Themen, die für das gesamte Werk charakteristisch sind (vgl. Temperley, Overture, 825). 165 Williams vergleicht aus diesem Grund den Beginn des Markusevangeliums mit dem Beginn des Hiobbuches (vgl. Williams, Mark’s Gospel, 514), Klauck spricht vom „Vorspiel im Himmel“ (Klauck, Vorspiel). 166 Er wird nur noch zweimal erwähnt, um das Gebiet ‚jenseits des Jordans‘ zu bezeichnen (πέραν τοῦ Ἰορδάνου, 3,8; 10,1).
110
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
zum markinischen Porträt Jesu und dem seiner Nachfolgerinnen und Nachfol‑ ger. Das hier schon zweimal zu hörende εὐθύς, das insbesondere den auf die Ouvertüre folgenden Erzählbogen prägt, sorgt dafür, dass die Erzählung schon zu Beginn Fahrt aufnimmt. Die ganze Ouvertüre bereitet den ersten öffentlichen Auftritt Jesu ‚in Galiläa‘ (V. 14 f.) vor, mit dem sie endet. Analog dazu lässt sich V. 1 – 4 als „Ouvertüre in der Ouvertüre“167 verstehen: Die Schriftzitate führen auf den ersten Auftritt des Johannes in der Einöde (V. 4) hin. Beide Verkündigungsszenen bleiben merk‑ würdig abstrakt – und sie fungieren in der Tat wie „Abstracts“: Das Wesentliche des Wirkens der beiden Protagonisten wird auf den Punkt gebracht,168 bevor sich das programmatisch Angekündigte in der Geschichte mit konkreten Menschen an konkreten Orten realisiert: Johannes tauft die Leute am Jordan (V. 5 – 11), am See Genezareth beginnt Jesus, Jünger in die Nachfolge zu rufen, zu lehren und Wunder zu tun. Das Abstract in V. 14 f. dient der Hörerin zu verstehen, was dabei passiert: Das ganze Reden und Tun Jesu ist eine Einladung, sich auf das Reich Gottes einzulassen, das in ihm nahegekommen ist.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I: Am Meer von Galiläa (1,16 – 3,35) III.2.1. Die Struktur des ersten Hauptteils Gleich zu Beginn ist hier eine etwas genauere Ortsangabe als zuvor in V. 14 zu hören: Die Erzählung beginnt ‚am Meer von Galiläa‘ (ἡ θάλασσα τῆς Γαλιλαίας). Ἡ θάλασσα findet sich im ersten Hauptteil nur in drei Versen; jedes Mal leitet die Ortsangabe ‚am Meer‘ (παρὰ / πρὸς τὴν θάλασσαν, 1,16; 2,13; 3,7) eine Episode ein, in der Jünger berufen werden. Wie bereits in Kap. II.1. dargestellt, spielen in diesen Szenen auch Menschen, die nicht einzeln namentlich berufen werden, aber in Scharen zu Jesus strömen, eine immer größere Rolle. Die Berufung der Jünger „gipfelt“ in doppeltem Sinne in der Berufung und Aussendung der 12 auf einem Berg (3,13 – 19). Jede dieser drei Episoden steht zu Beginn eines Abschnittes. Für den ersten Hauptteil (Abb. 3) ergibt sich also folgende Gliederung: 1,16 – 2,13a; 2,13 – 3,6; 3,7 – 35. 167
Klauck spricht mit den Worten von Feneberg vom „Prolog im Prolog“, meint damit aber 1,1 – 3 (vgl. Klauck, Vorspiel, 33). 168 Vgl. dazu Klauck, Vorspiel 34 f.: Er vergleicht V. 14 f. mit der Propositio einer Rede, die den Regeln der antiken Rhetorik folgt. Diese ist „die thesenartige Formulierung des Haupt‑ themas“, die am Ende des Exordiums steht, bevor dieses in der Narratio entwickelt wird. Ähn‑ lich auch Boring: „As the concluding summary of the introduction, with the introduction as a whole they point forward both to the body of the Gospel and to the readers’ present, but they do this as an integral part of the introduction, which they bring to a conclusion.“ (Boring, Mark 1,1 – 15, 55).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
111
Die Entscheidung, sich an den Tripelepisoden zu orientieren und so vor 2,13 eine Zäsur zu setzen, hat zur Konsequenz, von den vielfach als Einheit betrach‑ teten „galiläischen Streitgesprächen“ Jesu mit seinen Gegnern (2,1 – 3,6)169 das erste, die Heilung eines Gelähmten in Kafarnaum (2,1 – 12), abzutrennen und zum vorigen Abschnitt zu zählen. Vielfach wird eine vormarkinische Samm‑ lung an Streitgesprächen postuliert, die der Evangelist hier verarbeitet habe.170 Nachdem die Zusammengehörigkeit von 2,1 – 3,6 aber auch von Exegetinnen vertreten wird, die primär synchron lesen und explizit davon ausgehen, dass das Markusevangelium für die Rezeption über das Ohr konzipiert wurde,171 ist es notwendig, ausführlicher die Argumente zu nennen, die für die hier präsentierte Gliederung sprechen. Schon die Vorgehensweise ist unterschiedlich: Anders als z. B. Dewey oder Van Iersel, die in 2,1 – 3,6 eine „obvious topical unity“172 erken‑ nen und erst sekundär die Frage nach der Struktur des Abschnittes und dessen Einbindung in das ganze Evangelium stellen, untersuche ich auf der Basis der Wahrnehmung der Gesamtgestalt, ob sich durch die Tripelepisoden formal und inhaltlich verständliche Einheiten ergeben – oder die vermeintlich erkannte Glie‑ derung keine sinnvolle Interpretation zulässt, und dementsprechend ein anderer Interpretationsschlüssel zu suchen ist. Bei Annahme von drei durch die Beru‑ fungsgeschichten eingeleiteten Abschnitten ergeben sich formal und inhaltlich nachvollziehbare Zusammenhänge. Auf je eine Berufungsgeschichte (X) folgt je ein Erzählbogen, der eine konzentrische Form (A – B – A) aufweist und auch the‑ matisch als Einheit erkennbar ist. 169
So bei Pesch, Mk I, 33; Collins, Mk, 181; van Iersel, Mk, 117 f. France erweitert diesen Abschnitt um die unmittelbar vorausgehenden Verse auf 1,40 – 3,6, behält aber so auch 2,1 – 3,6 zusammen (France, Mk, 114 f.). Lührmann geht zwar von einer vormarkinischen Sammlung von Streitgesprächen mit den Pharisäern aus, die nur 2,15 – 3,5 umfasst haben mag, legt sich aber nicht auf Abschnittbildungen innerhalb von 1,16 – 4,34 fest (vgl. Lührmann, Mk, 45 f.). 2,1 – 3,6 wird aber auch in vielen weiteren Kommentaren als Einheit angesehen (vgl. z. B. Schweizer Mk, 28; Gundry, Mk, 109 f.), ebenso in gängigen Lehrbüchern (vgl. z. B. Schnelle, Einleitung, 246; Ebner / Heiniger, Exegese, 113). 170 Vgl. Collins, Mk, 182; Dewey, Markan Public Debate, 41. Pesch postuliert zwar eine vormarkinische Sammlung, die erst mit 2,15 beginne, sieht aber dennoch 2,1 – 3,6 als von Mar‑ kus gestaltete Einheit (Pesch, Mk I, 149 f.). Einen kurzen Überblick über weitere Vorschläge hinsichtlich des Umfangs der Quelle bietet Lührmann, Mk, 56. 171 Am ausführlichsten beschäftigt sich Dewey in ihrer Monografie „Markan Public Debate“ mit der rhetorischen Gestalt von Mk 2,1 – 3,6. Die Mündlichkeit der Texte steht in dieser frü‑ hen Arbeit zwar noch nicht im Vordergrund, wird von ihr aber später thematisiert und mit den erkannten Strukturen in Verbindung gebracht. Explizit setzen Malbon und Bryan aurale Rezep‑ tion voraus; letzterer referiert in Bezug auf 2,1 – 3,6 Dewey (vgl. Malbon, Hearing Mark, 21; Bryan, Preface, 89 f.). Auch van Iersel mit seinem Ansatz des reader-response-criticism liest primär synchron (vgl. van Iersel, Mk, 14 – 29). 172 Dewey, Markan Public Debate, 42; Dewey selbst meint, dass ihr literarisch / rhetorischkritischer Ansatz idealerweise von der Gesamtstruktur des Evangeliums ausgehen sollte, dies aber im Rahmen einer Dissertation nicht zu leisten wäre (vgl. a. a. O., 14 f.). Vgl. auch van Iersel, Mk, 118.
112 X
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 1,16–20 Berufung I: Simon und Andreas, Jakobus und Johannes A
1,21–29a Kafarnaum I: Wirkmächtige Worte in der Synagoge Austreibung eines unreinen Geistes in Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten B
A
X
2,1–13a Kafarnaum II: Wirkmächtige Worte in einem Haus Heilung eines Gelähmten Vollmacht, Sünden zu vergeben – Vorwurf der Schriftgelehrten: Blasphemie!
2,13–14 Berufung II: Levi A
2,15–20 Auseinandersetzungen mit den Pharisäern I: Essen und Fasten 2,15–17 Was für Tischgenossen! 2,18–20 Feiern statt fasten B
A
X
1,29–45 Hinausgegangen, um zu verkündigen Heilungen, Dämonenaustreibungen, Verkündigung Jesus geht hinaus und verkündigt in ganz Galiläa
2,21–22 Alte Kleider, junger Wein
2,23–3,6 Auseinandersetzungen mit den Pharisäern II: Was ist am Sabbat erlaubt? 2,23–28 Satt werden am Sabbat 3,1–6 Am Sabbat Gutes oder Schlechtes tun?
3,7–19 Berufung III: Massen von Menschen und Zwölf, die er wollte A
3,20–21 Jesus im Haus I: Volksauflauf im Haus Die Seinen machen sich auf, ihn zu ergreifen B
A
3,22–30 Auf Gottes Seite: Disput mit den Schriftgelehrten um den rechten Geist
3,31–35 Jesus im Haus II: Draußen stehen, drinnen sitzen Die Seinen draußen – die Seinen drinnen: Wer den Willen Gottes tut
Abb. 3: Struktur des ersten Hauptteils (1,16 – 3,35)
1,16 – 2,13a wird durch die Berufung der beiden Brüderpaare Petrus / Andreas und Jakobus / Johannes eingeleitet. Die Rahmenperikopen (A, 1,21 – 29a; 2,1 – 13a) des folgenden Erzählbogens sind durch viele Textsignale miteinander verbun‑ den. Sie spielen beide explizit in Kafarnaum (1,21; 2,1). Die ‚Vollmacht‘ Jesu (ἐξουσία, 1,22.27; 2,10) offenbart sich in Wort (διδάσκειν / διδαχή, 1,21,22,27; ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον, 2,2) und heilender Wundertat, angesichts derer ‚alle‘ (ἅπαντες / πάντες, 1,27; 2,12) außer sich geraten; zudem wird der Gegensatz zwi‑ schen Jesus und den Schriftgelehrten (γραμματεῖς, 1,22; 2,6) etabliert. Diese
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
113
beiden ausführlich erzählten Geschichten markieren auch die Eckpunkte der rasanten Ausbreitung der Kunde von und über Jesus: Während nach dem ers‑ ten Exorzismus in der Synagoge die ‚Kunde über ihn ausgeht‘ (ἐξῆλθεν ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ, 1,27), kommen die Leute im und am Haus bei ihm zusammen, weil man schon von ihm ‚gehört hat‘ (ἀκούσθη, 2,1). Zwischen den beiden Szenen stehen kürzere Episoden (B, 1,29 – 45), in denen sich die Vollmacht Jesu in der Praxis erweist: Jesus ‚verkündigt‘ (1,38 f.); vor allem heilt er und treibt Dämonen aus. In diesem ersten Abschnitt geht alles Schlag auf Schlag – über ein Viertel der 42 Belege des Markusevangeliums für εὐθύς findet sich in 1,16 – 2,13a. 2,13 – 3,6 beginnt mit der Lehre Jesu ‚am Meer‘, zu der ‚alle Leute‘ kom‑ men, und der namentlichen Berufung des einen Zöllners Levi (2,13 f.). Im zwei‑ ten Erzählbogen liegt der Fokus auf der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern. Je zwei inhaltlich verwandte „Streitgespräche“ bilden die bei‑ den A‑Teile: 2,15 – 17 und 18 – 20 befassen sich mit Fragen des Essens und Fas‑ tens; 2,23 – 28 und 3,1 – 7a drehen sich um die Frage, was ‚am Sabbat erlaubt ist‘ (ἔξεστιν τοῖς σάββασιν, 2,24; 3,4). In der Mitte zwischen den beiden Episo‑ den ums Essen und denen über den Sabbat stehen die beiden Bildworte von den alten Kleidern und neuen Flicken und den alten Schläuchen und dem neuen Wein (B, 2,21 – 22). Sie fallen durch ihre strenge formale Gestaltung aber auch in Bezug auf die Wort- und Bildwahl aus dem Rahmen und scheinen über den direkten Kontext hinauszuweisen. 3,7 – 35 beginnt mit der letzten, ausführlichsten Berufungsepisode (3,7 – 19): Was in 2,13 f. in je einem Vers abgehandelt wurde – die Leute, die zu Jesus kom‑ men, und die namentliche Berufung eines Einzelnen –, nimmt nun beides erzähle‑ risch viel mehr Raum ein. Auch Anzahl und Einzugsgebiet vergrößern sich: Nun kommen ‚Massen von Menschen‘ (πλῆθος πολύ, 3,7.8) von überall her zu Jesus; anschließend werden ‚die Zwölf‘ (οἱ δώδεκα, 3,14.16) berufen. Die so schon the‑ matisierte Zweiteilung der Jesusanhänger wird anschließend – bemerkenswer‑ terweise ohne weitere Erwähnung der gerade so hervorgehobenen Jünger! – aus einem anderen Blickwinkel ein weiteres Mal betrachtet: Wer gehört zu Jesus? Die folgende A – B – A-Form ist nun eine Sandwich-Konstruktion. Bei dieser von Markus oft verwendeten Technik umschließt eine Episode wie die zwei Brothälf‑ ten eines Sandwichs eine andere. In 3,20 f. (A) wird die Szene vorbereitet: Jesus befindet sich mit Leuten in einem Haus, ‚die Seinen‘ machen sich auf den Weg zu ihm. In 3,31 – 35 (A) stehen diese ‚draußen‘ (ἔξω στήκοντες, 3,31.32) und werden mit den ‚Leuten‘ kontrastiert, die im Haus um Jesus herum sitzen (καθῆσθαι, περὶ αὐτόν, 3,32.34). Dazwischen (B, 3,22 – 30) treten nochmals Gegner – hier wieder die Schriftgelehrten – auf. Jesu Auseinandersetzung mit ihnen dreht sich um die Frage, auf welcher Seite Jesus steht: Verdankt er seine Vollmacht ‚einem unreinen Geist‘ (πνεῦμα ἀκάθαρτον, 3,30) oder gehört er zum ‚Heiligen Geist‘ (τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, 3,29)?
114
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
III.2.2. Die Kunde von der Vollmacht Jesu breitet sich aus (1,16 – 2,13a) III.2.2.1. Simon und Andreas, Jakobus und Johannes: Die ersten Jünger (1,16 – 20) 1:16
a b
kai« apara¿gwn bpara» th\n qa¿lassan thvß Galilai÷aß
c d dvar e d b f 1:17
1:18
1:19
kai« d∆Andre÷an eto\n aÓdelfo\n dSi÷mwnoß aÓmfiba¿llontaß e˙n thØv qala¿sshØ h™san ga»r aJliei√ß kai« ei•pen aujtoi√ß oJ ∆Ihsouvß deuvte ojpi÷sw mou kai« poih/sw uJma◊ß gene÷sqai aJliei√ß aÓnqrw¿pwn
g f+ h i j
kai« heujqu\ß iaÓfe÷nteß jta» di÷ktua
A B
C B’
gvar
hjkolou/qhsan aujtwˆ◊
A’
avar
kai« proba»ß ojli÷gon
A
c dvar dvar dvar e k j 1:20
cei•den dSi÷mwna
h i dvar k g
to\n dtouv Zebedai÷ou kai« d∆Iwa¿nnhn eto\n aÓdelfo\n aujtouv B kai« aujtou\ß ke˙n twˆ◊ ploi÷wˆ katarti÷zontaß jta» di÷ktua, cei•den d∆Ia¿kwbon
kai« eujqu\ß e˙ka¿lesen aujtou/ß kai« iaÓfe÷nteß to\n pate÷ra aujtw◊n dZebedai√on e˙n twˆ◊ ploi÷wˆ meta» tw◊n misqwtw◊n aÓphvlqon ojpi÷sw aujtouv
C B’ A’
Abb. 4: Mk 1,16 – 20
Bei den allermeisten Textzeugen beginnt diese Perikope mit περιπατῶν δέ; nur ℵ, B, D, L, f13 und 33 lesen stattdessen καὶ παράγων.173 Da sich ersteres als Übernahme des Wortlauts der Parallelstelle Mt 4,18 erklären lässt und der Anfang mit καί in frühen Codices verschiedener Textfamilien überliefert ist, folge ich den Herausgebern von NA28. Etliche Manuskripte spre‑ chen von ‚seinem Bruder‘ (τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ); einige davon lassen die Wiederholung des Namens ([τοῦ] Σίμωνος) weg. Für τὸν ἀδελφὸν Σίμωνος spricht nicht nur die Kürze der Lesart, sondern auch die qualitative Bezeugung (ℵ, B, L, M, 565, 700, 892).174 Viele Varianten gibt es beim ‚Auswerfen‘ (ἀμφιβάλλοντας); nur ℵ, B, L und 33 überliefern das Partizip ohne Objekt. Die verschiedenen Lesarten mit δίκτυα oder ἀμφίβληστρον zeigen, dass diese Kurzfassung für viele Ohren ergänzungsbedürftig zu sein schien. In V. 20, ganz am Schluss der Perikope, verwenden D, W, 1424 und die gesamte lateinische Tradition statt ἀπῆλθον ὀπίσω αὐτοῦ den anderen Terminus technicus für Nachfolge und lesen ἠκολούθησαν αὐτῷ. Die Bezeugung spricht hier klar für die erstgenannte Variante.
Der erste Hauptteil wird mit der Erzählung von der Berufung der Jünger Simon (Petrus), Andreas, Jakobus und Johannes eröffnet. Diese vier Erstberufenen sind außer Judas Iskarioth die einzigen aus dem Jüngerkreis Jesu, die im Laufe des
173
Nicht im Apparat NA28 erwähnt; vgl. Swanson, Manuscripts, 12. Vgl. Apparat NA28 und Swanson, Manuscripts, 12.
174
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
1:16 1:17 1:18
Und als er am Meer von Galiläa entlang zog, sah er Simon und Andreas, den Bruder Simons, wie sie im Meer . . . auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Und Jesus sagte zu ihnen: Auf! Hinter mir her! Und: Ich werde machen, dass ihr Menschenfischer werdet. Und sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.
1:19 1:20
Und als er ein wenig weiter lief, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, wie auch sie im Boot waren und Netze flickten. Und sogleich rief er sie. Und sie ließen ihren Vater Zebedäus im Boot zurück mit den Tagelöhnern und gingen weg, hinter ihm her.
115
Übersetzung zu Abb. 4
Markusevangeliums nach ihrer Berufung nochmals alleine oder als kleine Gruppe mit namentlicher Erwähnung als Personen auftreten.175 Insbesondere Simon, der hier als erster und als einziger zweimal genannt wird und der später den Namen Petrus erhält (3,16), wird immer wieder als Einzelner aus dem Jüngerkreis her‑ vortreten – am prominentesten bei seinem Christusbekenntnis (8,29) – und Jesus auf dessen Weg am längsten,nachfolgen‘ (14,54), bis auch er durch seine Ver‑ leugnung als letzter in der Nachfolge scheitert (14,72). Diese Perikope ist klar zweiteilig (V. 16 – 18 || V. 19 f.). Nacheinander werden zwei Brüderpaare berufen, wobei die zweite Szene deutlich als Wiederholung der ersten mit nur wenigen Variationen erkennbar ist. Van Iersel macht darauf auf‑ merksam, dass es im Markusevangelium zwar viele Beispiele für jeweils ähnlich strukturierte Episoden gibt,176 aber dies hier der einzige Fall ist, in dem solche 175 Neben ihnen gibt es auch namentlich nicht genannte Jünger, die als Einzelpersonen auf‑ treten, z. B. die beiden, die ausgesandt werden, um den Esel für den Einzug in Jerusalem zu besorgen (11,2), oder der eine, mit dessen Verweis auf die gewaltigen Tempelbauten (13,1) die Endzeitrede vorbereitet wird. 176 Z. B. die beiden Speisungswunder (6,30 – 45 und 8,1 – 9) oder die Heilung eines Taub‑ stummen und die eines Blinden (7,31 – 37 und 8,22 – 26).
116
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
unmittelbar aufeinander folgen.177 Jeder der beiden Abschnitte ist als Ringkom‑ position angelegt, in deren Zentrum der Ruf in die Nachfolge steht:178 A Jesus ist unterwegs (16a.19a) B er sieht X + Y bei der Arbeit (16b.19b) εἶδεν Χ καὶ Υ τὸν ἀδελφὸν . . . C er ruft sie in die Nachfolge (17.20a) B’ sie verlassen ihre Arbeit (18a.20b) καὶ ἀφέντες . . . A’ sie folgen ihm nach (18b.20c)
Dieses Formschema hat erkennbar seine Vorlage179 in der Geschichte, in der Elia den Elisa beruft (1 Kön 19,19 – 21180); auch dort sind die genannten fünf Elemente in der gleichen Reihenfolge zu finden, wenngleich darüber hinaus noch andere Einzelheiten erzählt werden. Auch die beiden von Markus verwendeten Termini technici für ‚Nachfolge‘, das Verb ἀκολουθεῖν und das Adverbiale ὀπίσω μου (bzw. σου) sind zu hören, wobei auffällt, dass sowohl im Falle des Elisa als auch in dem der markinischen Jünger nicht weiter expliziert wird, was es heißt, in die Nach‑ folge gerufen zu sein.181 In 2 Kön 2,1 – 22 wird klar, dass Elisa Elia im Propheten‑ amt nachfolgt; im Markusevangelium werden in 3,13 – 15 ‚die Zwölf‘ von Jesus in ihr Amt als ‚Apostel‘ eingesetzt. Doch zunächst ist ganz real an ‚jemandem folgen‘, ‚sich jemandem anschließen‘ (und anderes / andere verlassen) gedacht.182 In der alttestamentlichen Berufungsgeschichte183 ist Elia unterwegs (ἀπῆλθεν ἐκεῖθεν, A) und er ‚findet Elisa, einen Sohn Schafats‘, der gerade ‚mit Rindern am Pflügen ist‘ (εὐρίσκει τὸν Ελισαιε υἱὸν Σαφατ καὶ αὐτὸς ἠροτρία ἐν βουσίν, B). Das zentrale Element des Rufes (C) liegt in dieser alttestamentlichen Berufungsgeschichte nicht explizit vor, sondern besteht in einer Zeichenhandlung: Elia wirft Elisa seinen Mantel über (ἐπέρριψε τὴν μηλωτὴν αὐτοῦ ἐπ’ αὐτόν). Daraufhin verlässt Elisa die Rinder (κατέλιπεν Ελισαιε τὰς βόας, B’) und ‚läuft hinter Elia her‘ (κατέδραμεν ὀπίσω Ηλιου, A’). Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende, sondern zieht noch 177
Vgl. van Iersel, Mk, 127. Vgl. van Iersel, Mk, 128. 179 Vgl. Kl. Berger, Formen und Gattungen, 372 f.; Pesch, Mk I, 109; Collins, Mk, 157; Dschulnigg, Mk, 75; France, Mk, 96; Lührmann, Mk, 47; van Iersel, Mk, 128. 180 Alle Zitate aus 1 Kön 19,19 – 21 folgen der Fassung der Septuaginta. 181 Im Markusevangelium wird das Thema Nachfolge im Mittelteil ‚Auf dem Weg‘ ausführ‑ lich behandelt (vgl. z. B. 8,34; 10,21.28). 182 Der Befund im Neuen Testament unterstreicht die Konkretheit der Nachfolge: Als Chris‑ tusnachfolge ist sie kein theologischer Abstraktbegriff, sondern an den Menschen Jesus gebun‑ den, dem man hinterherlaufen kann. Dementsprechend ist ἀκολουθεῖν vor allem in den Evan‑ gelien zu hören (79 Mal) und nur 11 Mal in anderen Büchern (Apg, 1 Kor, Offb), darunter nur ein Beleg aus den Briefen (1 Kor 10,4), dort aber nicht im Sinne der Christusnachfolge. In den Evangelien ist mit wenigen Ausnahmen (Mt 9,19; Mk 5,24; 14,13; Lk 22,10; Joh 11,31; 20,6) Jesus Objekt der Nachfolge, wobei die Spannbreite von ‚im Moment hinter ihm her laufen‘ bis zur grundsätzlichen Christusnachfolge reicht. 183 Alle folgenden Zitate nach 2 Kön 2,1 – 22LXX. 178
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
117
eine Schleife, in der die Elemente C, A’ und B’wiederholt werden. Elisa möchte sich zuerst noch von seinem Vater verabschieden,184 bevor er Elia nachfolgt (καταφιλήσω τὸν πατέρα μου καὶ ἀκολουθήσω ὀπίσω σου). Elia gibt dieser Bitte nach, ermahnt ihn aber in Erinnerung an die Zei‑ chenhandlung daran zurückzukommen (ἀνάστρεφε ὅτι πεποίηκά σοι, C). Der Abschied von der Arbeit (B’) wird hier ausführlich, feierlich und in Betonung seiner Endgültigkeit – die Rinder werden geschlachtet – erzählt.185 Die Nachfolge wird bekräftigt (καὶ ἐπορεύθη ὀπίσω Ηλιου, A’) und Elisa, so endet diese Episode, ‚dient‘ Elia (ἐλειτούργει αὐτῷ).186
16 Nachdem in 1,14 ganz allgemein Galiläa als Ort genannt wurde, an dem Jesus seine Verkündigung beginnt, wird es nun konkreter: Die folgende Szene spielt ‚am Meer von Galiläa‘ (παρὰ τὴν θάλασσαν τῆς Γαλιλαίας, 1,16). Mit dem ‚Meer‘ wird der Ort eingeführt, der die Tripelepisoden des ersten Hauptteils verbindet. Das ‚Meer‘ wird hier, bei seiner ersten Erwähnung im Markusevangelium überhaupt, gleich bekräftigend wiederholt; Simon und Andreas fischen ‚im Meer‘ (1,16). Gemeint ist damit ein Binnengewässer, der See Genezareth. Seine Bezeichnung als ‚Meer‘ fin‑ det sich schon im Hexateuch, allerdings mit dem verortenden Zusatz ‚Kinneret‘ (Num 34,11; LXX Χεναρα) bzw. ‚Kinrot‘ (Jos 12,3; 13,27; LXX Χενερεθ). Die Septuaginta gibt das hebräi‑ sche יםmit θάλασσα wieder und übernimmt auch den Namen.
‚Von Galiläa‘ scheint nicht die übliche Bezeichnung des Sees zu sein,187 doch mit der Wiederholung des Namens der Region wird deutlich, dass die Erzählung, die nun beginnt, mit der gerade gehörten, eher abstrakten Verkündigungsszene in Verbindung steht. Galiläa als erste Wirkungsstätte Jesu wird bald noch zwei‑ mal (1,28.39) bestätigt und damit so etabliert, dass es im ersten Hauptteil nur noch einmal, und das nur in einer Aufzählung mit anderen Regionen zusammen, erwähnt wird (3,7). Jesus ‚sah‘ (εἶδεν, c) die beiden Brüder; Simon (d) wird zuerst genannt, und sein Name wiederholt, indem Andreas (dvar) als ‚Bruder des Simon‘ eingeführt wird. Die beiden werfen ein Rundnetz aus. Ἀμφιβάλλειν scheint ein abkürzen‑ der Terminus technicus für das Auswerfen des Rundnetzes (βάλλειν αμφίβλησ τρον; vgl. Mt 4,18) gewesen zu sein,188 der aber dem Textbefund nach zu urteilen zumindest späteren Schreibern kaum mehr bekannt war, die hier verschiedene Änderungen und Ergänzungen vornahmen.189 Markus fügt hinzu, was sowieso offensichtlich ist: ‚sie waren nämlich Fischer‘ (ἦσαν γὰρ ἁλιεῖς). 17 Jesu Aufforderung ist kurz und direktiv: ‚Auf! Hinter mir her!‘ Mit dem glei‑ chen ὀπίσω μου (g) wird Jesus den Petrus in 8,33 in die Nachfolge zurückrufen, 184
Dieses Element nimmt Markus nicht auf, es findet sich jedoch in Lk 9,61 f. wieder. Im Vergleich mit dem Markusevangelium fällt die Nähe dieser Szene zum Ablauf der Speisungswunder (6,41 f.; 8,6 – 8) auf (vgl. Kap. IV.3.2.4., S. 310 f.). 186 Vgl. Mk 1,31. 187 Vgl. auch France, Mk, 95; Lührmann, Mk, 47. 188 Vgl. Pesch, Mk I, 110, Anm. 9; Lührmann, Mk, 47; France, Mk, 95. LSJ s. v. ἀμφι‑ βάλλω bietet jedoch für den absoluten Gebrauch in dieser Bedeutung nur diese Markusstelle und einen Papyrus aus dem 2. Jh. (PFlor.2.119.3). 189 Vgl. Textkritik zu 1,16, S. 114. 185
118
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
als dieser nicht einsehen will, dass der Weg des Christus (8,29) – und damit auch der seiner Nachfolger (ὀπίσω μου ἀκολουθεῖν, 8,34) – durch Leiden und Tod führt. Mit dem Ruf in die Nachfolge ist eine Wandlung verbunden: Jesus greift das vorhin fast redundante ‚Fischer‘ (ἀλιεῖς, f, V. 16) wieder auf; er werde sie ‚zu Menschen‑ fischern‘ ‚machen‘ (ποιήσω [. . .] ἀλιεῖς ἀνθρώπων, f+). Was mit dieser Redeweise gemeint ist, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen;190 eventuell erinnert sich die eine oder andere Hörerin daran, dass beim Propheten Jeremia Gott diese Metapher in ähnlicher Weise in den Mund gelegt wird: ‚Siehe, ich sende viele Fischer aus, und die werden sie [i. e. sein Volk] herausfischen.‘ (Ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω τοὺς ἁλεεῖς τοὺς πολλοὺς [. . .] καὶ ἁλιεύσουσιν αὐτούς, Jer 16,16LXX). Bei Jeremia will Gott das Volk herausfischen, um es zu bestrafen, weil es ‚anderen Göttern hinterher‑ gelaufen‘ ist (ὀπίσω [!] θεῶν ἀλλοτρίων, Jer 16,11LXX). Im Markusevangelium erfährt der Hörer später, wenn Jesus in der dritten Berufungsepisode ‚die 12 macht‘ (ἐποίησεν [τοὺς] δώδεκα, 3,14.16), dass Jesus die ‚Menschenfischer‘ aussendet, um wie er zu verkündigen und Dämonen auszutreiben (ἵνα ἀποστέλλῃ αὐτοὺς κηρύσ‑ σειν καὶ ἔχειν ἐξουσίαν ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια, 3,14) – sie sollen die Menschen also nicht zum Gericht ‚fangen‘, sondern ihnen das Evangelium bringen.191 Ἀλιεῖς kommt im Markusevangelium nur hier vor; der Verdacht liegt nahe, dass diese wie‑ derholte Berufsbezeichnung vor allem dazu dient, den Wechsel von der Ausübung eines Berufes hin zur Beauftragung der Berufenen bildhaft darzustellen. 18 Der Ruf Jesu zeitigt unmittelbar Wirkung: ‚Sogleich‘ (εὐθύς, h) verlassen die beiden ihre ‚Netze‘ (τὰ δίκτυα, j), die sie als Menschenfischer nicht mehr brauchen, und folgen ihm nach. Hier wird nun nicht das ὀπίσω μου wieder‑ holt, sondern das in allen vier Evangelien viel häufiger für die Nachfolge Jesu gebrauchte ἀκολουθεῖν (gvar)192 eingeführt. 19 Wie in V. 16 ist Jesus unterwegs (προβὰς ὀλίγον, avar), eine explizite Ortsan‑ gabe fehlt nun. Dass auch die zweite Berufung am See stattfindet, ergibt sich zum einen daraus, dass Jesus nur ‚ein wenig‘ weitergeht, zum anderen dadurch, dass sich Johannes (dvar) und Jakobus (dvar) ‚im Boot‘ (ἐν τῷ πλοίῳ, k) befinden. Keiner der beiden Namen wird in dieser Episode wiederholt, dafür aber der Name ihres Vaters Zebedäus (dvar). Auch sie sind Fischer, was Markus aber hier ohne Nennung der Berufsbezeichnung deutlich macht: Aus der vorigen Episode übernimmt er als Stichwort die ‚Netze‘ (τὰ δίκτυα, j, V. 18), beschreibt aber mit anderem Vokabular einen weiteren Aspekt des Fischerberufes: Diese beiden flicken Netze. ‚Auch sie‘ (καὶ αὐτούς) stellt eine Verbindung zu den beiden Erstberufenen her; allerdings ist etwas unklar, worin Markus die Gemeinsamkeit sieht. Da Simon und Andreas bei einer anderen Tätigkeit als die Zebedaiden sind, kommt als Konkretum nur 190
Shiner macht darauf aufmerksam, dass die hier intendierte Bedeutung der ‚Menschenfi‑ scher‘ nur aus dem markinischen Kontext erhoben werden kann (vgl. Shiner, Follow me, 175). 191 Vgl. France, Mk, 96; Collins, Mk 159. Collins erwähnt zudem weitere jüdische und pagane Belege für die Metapher des Fischers / des Fischens (Collins, Mk, 159 f.). 192 In Mk achtzehn Belege für ἀκολουθεῖν.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
119
das ‚im Boot‘-Sein in Frage, auch wenn man für das Auswerfen des Rundnetzes nicht zwingend auf den See hinausfahren musste, sondern dies auch vom Ufer aus geschehen konnte.193 Für das ‚im Boot‘-Sein spricht der Vergleich mit dem Beginn der Gleichnisrede in Kap. 4. Wie hier in Bezug auf Simon und Andreas verwen‑ det Markus dort den Ausdruck ‚im Meer‘ (ἐν τῇ θαλάσσῃ, 1,16; 4,1), wobei dort aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass Jesus in einem Boot sitzt. Denkbar wäre allerdings auch, dass es Markus gar nicht um die Gemeinsamkeit hinsichtlich eines konkreten Details geht, sondern um die grundsätzliche Vergleichbarkeit der beiden Geschichten – die eine Geschichte von der Berufung wird zweimal erzählt und damit untermauert, dass am Beginn der Wirksamkeit Jesu die Berufung der ersten Jünger stand. Sie sind von Anfang an mit ihm unterwegs und Zeugen sei‑ nes Weges. Die Geschichte von Jesus Christus ist untrennbar verbunden mit der Geschichte derer, die zu ihm gehören. In der markinischen Frage ‚Wer ist dieser?‘ (4,41) klingt immer auch die Frage ‚Und wer sind die Seinen?‘ (vgl. 3,33) an. 20 Hier ist es der Ruf Jesu, der ‚sogleich‘ (εὐθύς, h) ergeht;194 er wird nicht in direkter Rede wiedergegeben, sondern nur aus der Erzählerperspektive berichtet; das hierfür verwendete Verb καλεῖν (‚rufen‘, ‚nennen‘) wird von Markus nur selten, aber auch an anderer Stelle im Sinne von be-rufen verwendet (2,17). Es ist müßig, über den genauen Wortlaut des Rufes zu spekulieren; die generell parallele Anlage der beiden Szenen legt nahe, dass auch dieser Ruf Fischer zu Menschenfischern macht. Jakobus und Johannes verlassen ihren Vater – und mit dem Boot auch ihre Arbeit. Das wiederholte ἐν τῷ πλοίῳ (k) nimmt ein Motiv voraus, das im zweiten Hauptteil dominieren wird. Mit ὀπίσω αὐτοῦ (g; vgl. V. 17) endet die Perikope, Jakobus und Johannes ‚gehen weg, hinter ihm her‘ und geben so ihre Antwort auf den Ruf, der an Simon und Andreas ergangen war. Dieser Schluss bekräftigt noch einmal, dass hier nicht die Eigenheiten der jeweiligen Berufungen im Vordergrund stehen, sondern anhand der Berufung der ersten vier Jünger in aller Einfachheit paradigmatisch dargestellt wird, wie Menschen zu Nachfolgern Jesu werden: Im Zentrum steht, das zeigt auch die Ringkomposition, der Ruf Jesu. Menschen hören ihn in ihrem Alltag, verlassen die gewohnten Bahnen und folgen ihm. Der alte Beruf macht einer neuen Berufung Platz. Die Radikalität der Nachfolge wird auch im Vergleich mit der alttestamentlichen Vorlage deutlich: Die Berufung der ersten vier Jünger wird straffer und ohne retardierendes Moment erzählt.195 Hier zeigt sich ein erstes Mal, noch bevor der Begriff der Vollmacht (ἐξουσία, erstmals in 1,22) ins Spiel kommt, die verändernde Wirkmacht des Wortes Jesu. 193
Vgl. van Iersel, Mk, 130; Lührmann, Mk, 47; Pesch, Mk I, 110, Anm. 9. France schließt daraus, dass die Bedeutung des ersten εὐθύς in V. 18 als Verstärkung der sofortigen Abwendung der Berufenen von ihrem bisherigen Leben nicht überbewertet werden sollte, sondern beide εὐθύς wie auch sonst in Markus in erster Linie dazu dienen, das Tempo der Erzählung aufrecht zu erhalten (vgl. France, Mk 97). 195 So auch Schweizer, Mk, 22; Dschulnigg, Mk, 75; Pesch, Mk I, 111. Van Iersel hinge‑ gen beurteilt die drastischen Maßnahmen, die Elisa ergreift, um von seinem bisherigen Leben Abschied zu nehmen, als der Radikalität der sofortigen Nachfolge ebenbürtig, die Markus hier beschreibt (vgl. van Iersel, Mk, 133). 194
120
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
III.2.2.2. Auftakt in Kafarnaum: Wirkmächtige Worte in der Synagoge (1,21 – 29a) 1:21
Avar B C A D a b a a c
1:22
1:23
C D
f 1:25
A
kai« eujqu\ß toi√ß sa¿bbasin ei˙selqw»n ei˙ß th\n sunagwgh\n
B
e˙di÷dasken kai« be˙xeplh/ssonto ae˙pi« thØv didachØv aujtouv h™n ga»r dida¿skwn aujtou\ß a wJß e˙xousi÷an e¶cwn aneg kai« oujc wJß oi˚ grammatei√ß
a‡nqrwpoß e˙n pneu/mati aÓkaqa¿rtwˆ kai« aÓne÷kraxen 24 le÷gwn b ti÷ hJmi√n kai« soi÷ g ∆Ihsouv Nazarhne÷ bvar h™lqeß aÓpole÷sai hJma◊ß oi•da¿ se ti÷ß ei• gvar oJ a‚gioß touv qeouv
eopp Aopp
kai« e˙peti÷mhsen aujtwˆ◊ oJ ∆Ihsouvß le÷gwn fimw¿qhti kai« e¶xelqe e˙x aujtouv
1:26
d evar Aopp
kai« spara¿xan aujto\n to\ pneuvma to\ aÓka¿qarton kai« fwnhvsan fwnhØv mega¿lhØ e˙xhvlqen e˙x aujtouv
1:27
bvar
kai« e˙qambh/qhsan a‚panteß w‚ste suzhtei√n pro\ß e˚autou\ß le÷gontaß ti÷ e˙stin touvto
fvar
1:28
Aopp C Bvar
1:29
C D Aopp
C
kai« eujqu\ß h™n e˙n thØv sunagwghØv aujtw◊n d e
1:24
kai« ei˙sporeu/ontai ei˙ß Kafarnaou/m
a c
didach\ kainh\ kat∆e˙xousi÷an
d
kai« toi√ß pneu/masin toi√ß aÓkaqa¿rtoiß e˙pita¿ssei kai« uJpakou/ousin aujtwˆ◊
D
C
D
kai« e˙xhvlqen hJ aÓkoh\ aujtouv eujqu\ß pantacouv ei˙ß o¢lhn th\n peri÷cwron thvß Galilai÷aß
A
kai« eujqu\ß e˙k thvß sunagwghvß e˙xelqo/nteß …
B
Abb. 5: Mk 1,21 – 29a Der zweite Satz in V. 21 liegt in mehreren Varianten vor. Die Stellung der Satzglieder variiert, doch wichtiger ist, was weggelassen bzw. hinzugefügt wird. Alle Manuskripte haben die Ele‑ mente καὶ εὐθύς (oder εὐθέως), τοῖς σάββασιν, εἰς τὴν συναγωγήν und ἐδίδασκεν (ἐδίδαξεν in ℵ*). Von den frühen Textzeugen beschränken sich nur ℵ und C darauf und haben darin nur wenige Nachahmer (L, [Δ], f13, 28, 69, 565, 788, 1346, einige sahidische Manuskripte und
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
1:21
Und sie kamen hinein nach Kafarnaum.
Und sogleich ging er am Sabbat in die Synagoge
1:22
und lehrte. Und sie waren außer sich wegen seiner Lehre. Er lehrte nämlich wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.
1:23 1:24
Und sogleich war in ihrer Synagoge ein Mensch mit einem unreinen Geist. Und er schrie auf und 24 sagte: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener? Bist Du gekommen, uns zu vernichten? Ich kenne dich! Wer bist Du? Der Heilige Gottes!
1:25 1:26
Und Jesus bedrohte ihn und sagte: Halt’s Maul! Und geh raus aus ihm! Und der unreine Geist riss ihn hin und her, schrie mit lautem Schrei und ging aus ihm heraus.
1:27
Und alle staunten, sodass sie untereinander sagten: Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht! Und er befiehlt den unreinen Geistern. Und sie gehorchen ihm.
1:28
Und sogleich ging die Kunde von ihm hinaus, überall hin ins ganze galiläische Umland.196
1:29
Und sogleich gingen sie aus der Synagoge hinaus . . .
121
Übersetzung zu Abb. 5 Origenes), die anderen (A, B, D, W) ergänzen wie die Mehrheit der Textzeugen das Partizip εἰσελθών. D, Θ, 700 und verschiedene Übersetzungen ergänzen die Adressaten der Belehrung (αὐτούς). Da diese textkritische Entscheidung Auswirkungen auf die hörbare Form hat, sei 196
Ich folge hier France, der den Genetiv als epexegetischen versteht (France, Mk, 106).
122
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
sie ausführlicher dargelegt:197 Fehlt das εἰσελθών, ergibt sich etwas holprig, aber für Markus nicht völlig ungewöhnlich, ἐδίδασκεν εἰς τὴν συναγωγήν.198 Die vorliegende Variantenbreite – Ergänzungen verschiedener Personalpronomina und / oder des Hineingehens, verschiedene Wortreihenfolgen – lässt sich unter der Annahme erklären, dass die Lesart des Codex Sinaiticus die früheste sei. Die anderen Varianten, insbesondere die Ergänzung von εἰσελθών, stellten dann verschiedene Versuche dar, sprachlich glatter und inhaltlich verständlicher zu formulieren.199 Der Grund, meiner Exegese dennoch die auch in NA28 eingegangene Lesart (εἰσελθὼν εἰς τὴν συναγωγήν ἐδίδασκεν) zugrunde zu legen, ist ein doppelter: Zum einen ist diese etwas besser als die anderen bezeugt; neben dem Codex Vaticanus findet sie sich auch in frühen Manuskrip‑ ten (z. B. A, D und W), die verschiedene andere Textcluster als den alexandrinischen repräsen‑ tieren. Zum anderen spielt hier wie schon beim textkritischen Problem in 1,4200 das Kriterium der Interpretierbarkeit eine Rolle: Wenn neben einer holprigen (oder sogar falschen) Lesart eine grammatikalisch elegantere und inhaltlich verständliche gut bezeugt ist, bekommt sie den Vorrang.201 Εἰσελθών plausibilisiert das εἰς τὴν συναγωγήν grammatikalisch und füllt auch die narrative Lücke zwischen der Ankunft in der Stadt und dem Beginn der Lehre in der Synagoge. Scholtisseks Einschätzung dieser Lesart als Lectio difficilior202 hingegen ist nicht nachvollzieh‑ bar – der Satz ist schwerer verständlich ohne εἰσελθών – und deshalb nicht als Argument für deren Wahl zu verwenden. Nur ganz selten bezeugt ist εὐθύς nach καί zu Beginn von V. 23. Da es aber sowohl in ℵ als auch in B zu finden ist (darüber hinaus in L, f1, 33, 579, in den koptischen Übersetzungen und bei Origenes) und die Auslassung als Angleichung an die Parallelstelle Lk 4,33 erklärt werden kann, behalte ich es bei. Auch in V. 24 sind Interferenzen mit der Lukasparallele zu vermuten. Der Ausruf ἔα, mit dem in den meisten Textzeugen auch in Markus die direkte Rede des besessenen Menschen beginnt, fehlt in wichtigen Manuskripten (ℵ*, B, D, W, Θ, 565, 2542; dazu in etlichen Überset‑ zungen), während er in Lk 4,34 fast flächendeckend überliefert ist. Ich lasse ihn deshalb weg. Statt οἶδα lesen ℵ, L Δ, 892 οἶδαμεν (Plural auch in der bohairischen Übersetzung und bei Ori‑ genes). Beides wäre im vorliegenden Kontext möglich; vom unreinen Geist wird im Singular gesprochen, aber dieser selbst spricht vorher von sich im Plural. Die Bezeugung spricht für den Singular. Am Ende von V. 25 formulieren D, W, Θ, 565mg sowie etliche lateinische Zeugen ausführ‑ licher. Statt ἐξ αὐτοῦ ist bei ihnen ἐκ [oder ἀπὸ] τοῦ ἀνθρώπου [τὸ] πνεῦμα [τὸ] ἀκάθαρτον zu lesen. Die kurze Variante ist eindeutig besser bezeugt. Von den textkritischen Problemen in V. 26 ist die Alternative zwischen φωνῆσαν und κράξαν erwähnenswert. Ersteres ist nur selten, aber dafür u. a. in den beiden ältesten Codices bezeugt (ℵ, B, L, 33, 892, 1241 und bei Origenes). Zudem ist es, anders als κράζειν, im gesamten Neuen Testament sonst nicht für das Schreien von Dämonen verwendet, kann also als härtere Lesart gelten. Die Entscheidung fällt, wie auch bei den Herausgebern von NA28, für φωνῆσαν. 197
Vgl. dazu die ausführliche Argumentation und Diskussion der Stelle bei Greeven / GüTextkritik, 78 – 79). 198 Vgl. 3,3; 13,3. Denkbar, aber nicht durch Textzeugen belegt, wäre auch eine Verwechs‑ lung von εἰς und ἐν, die in der Koine häufiger anzutreffen ist (vgl. Reiser, Sprache, 17, BDR, § 205 [räumlich]; § 206 [im übertragenen Sinne]). 199 So argumentiert zu Recht France gegen die in txt aufgenommene Variante (vgl. France, Mk, 99). 200 Vgl. Kap. III.1.2., S. 74. 201 Vgl. Kap. I.4.3.1., S. 37. 202 Scholtissek, Vollmacht Jesu, 84. ting,
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
123
Die Entscheidung zwischen συζητεῖν αὐτούς oder συζητεῖν πρὸς ἑαυτούς in V. 27 fällt schwer; das zeigt sich auch in der Geschichte der kritischen Editionen.203 Die beiden ältesten und quali‑ tativ hochwertigen Codices überliefern übereinstimmend die kürzere Version, stehen damit aber fast allein auf weiter Flur.204 Ich folge hier den Herausgebern von NA28 und übernehme die län‑ gere Lesart. Das, worüber die Leute sich wundern, ist in so großer Bandbreite überliefert, dass der Befund hier nicht dargestellt werden kann.205 Metzgers Argumentation – „Among the welter of variant readings, that preserved in ℵ B L 33 seems to account best for the rise of the others“206 – leuchtet ein; so übernehme ich wie NA28 den Wortlaut τί ἐστιν τοῦτο διδαχὴ καινὴ κατ’ ἐξουσίαν. In V. 28 sind die beiden Adverbien εὐθύς und πανταχοῦ uneinheitlich überliefert. In den meisten Textzeugen (u. a. A und D) findet sich nur εὐθύς, wenige bieten nur πανταχοῦ (u. a. W und zwei altlateinische Manuskripte aus dem 5. Jh.), etliche lassen beide weg (u. a. ℵ*, Θ, f1, 33, auch der syrische Sinaiticus (4. Jh.) und ein altlateinisches Manuskript aus dem 5. Jh.). Auch die Lesart mit εὐθύς und πανταχοῦ207 ist gut bezeugt (B, C, ℵ2, L, f13, 892, einige sahidische und bohairische Manuskripte). Gegen die Regel Lectio brevior potior ist es m. E.208 hier wahr‑ scheinlicher, dass die umständliche Langversion geglättet wurde, indem eines oder auch beide Adverbien weggelassen wurden: Πανταχοῦ vor εἰς ὅλην τὴν περίχωρον τῆς Γαλιλαίας ist rein inhaltlich betrachtet überflüssig. Εὐθύς ist gleich am Anfang von V. 29 wieder zu hören; ver‑ mutlich „verbesserten“ einige Abschreiber den Text durch die Vermeidung der Wiederholung. In V. 29 ist zu entscheiden, ob die Verben im Singular oder Plural stehen. Beides ist relativ gut bezeugt; die frühen Manuskripte, die den Singular bieten, weichen voneinander in der Wort‑ reihenfolge ab: B folgt dahingehend der Plurallesart, D und W ziehen ἐξελθών vor und streichen dafür εὐθύς. Greeven und Metzger führen einleuchtende Gründe für die Priorität des Plurals an;209 weswegen ich wie NA28 diese Variante wähle.
Mit 1,21 kommen ‚sie‘ nach Kafarnaum; die vorige Perikope lässt darauf schlie‑ ßen, dass mit dem impliziten Subjekt von εἰσπορεύονται Jesus und die vier ersten Jünger gemeint sind. Nach ‚in Galiläa‘ (1,14) und ‚am Meer von Galiläa‘ (1,16) wird die Lokalisierung (B) nun noch genauer: Kafarnaum ist eine Stadt am nord‑ westlichen Ufer des Sees Genezareth. Der Ortsname wird zwar nur zu Beginn erwähnt, doch der weitere Verlauf der Geschichte impliziert, dass Jesus die Stadt erst in 1,35 verlässt. Dennoch ist die Perikope 1,21 – 29a als in sich geschlos‑ sene Einheit erkennbar und deutlich vom Folgenden abgesetzt: Markus präzisiert den Ort nochmals um eine Stufe;210 die Szene spielt in der Synagoge (D) von Kafarnaum. Eine Inclusio (B) umgibt diese Erzählung von der Lehre Jesu und von der Austreibung eines unreinen Geistes und setzt auch den örtlichen (und zu Beginn mit dem Hinweis auf den Sabbat auch den zeitlichen) Rahmen: 203
Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 89. Laut Güting stützen auch Italazeugen die kürzere Lesart (Greeven / Güting, Textkritik, 90), im Apparat von NA27 wird noch eine späte Minuskel (2427, 14. Jh.) aufgeführt, doch der Apparat von NA28 nennt nur ℵ und B. 205 Vgl. dazu Swanson, Manuscripts, 16; Greeven / Güting, Textkritik, 90 f. 206 Metzger, Textual Commentary, 64. 207 Statt πανταχοῦ haben ℵ2 und L das gleichbedeutende πανταχῆ (anders in NA28; vgl. Swanson, Manuscripts, 17; verifiziert am Faksimile des Codex L, p. 72v. 208 Metzger und Greeven / Güting kommentieren diese Stelle nicht. 209 Vgl. Metzger, Textual Commentary, 64; Greeven / Güting, Textkritik, 96. 210 Vgl. Collins, Mk, 162. 204
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
21b
C A D
καὶ εὐθὺς [τοῖς σάββ.] 29a εἰσελθὼν εἰς τὴν συναγωγήν
C καὶ εὐθὺς D ἐκ τῆς συναγωγῆς Aopp ἐξελθόντες
Diese Inclusio wird auf beiden Seiten verstärkt (A); in V. 21a gehen Jesus und die Jünger nach Kafarnaum hinein und in V. 28 die ‚Kunde über ihn‘ (ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ) von dort nach ganz Galiläa hinaus: 21a Avar καὶ εἰσπορεύονται 28 B εἰς Καφαρναυμ
Aopp και ἐξῆλθεν ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ C εὐθύς Bvar πανταχοῦ εἰς [. . .] τῆς Γαλ.
Am Ende liegt eine Phrasenverschränkung211 vor. In V. 29 sind das Ende dieser Perikope und der Anfang der nächsten grammatikalisch so eng zusammengebun‑ den, dass sie nicht voneinander trennbar sind; die hier als Abschluss der Inclusio präsentierte Partizipialkonstruktion ist grammatikalisch nicht selbständig und auf die Koppelung an den Hauptsatz angewiesen. Der Hauptsatz wiederum muss sich vom Satzanfang eine satzverbindende Konjunktion (καὶ [εὐθύς]) leihen. Dieser nahtlose Übergang sorgt hier zusammen mit dem εὐθύς und der Kürze der nächs‑ ten Szenen für das hohe Erzähltempo, das bis 1,45 anhält. Das, was sich innerhalb der Inclusio befindet, lässt zweimal hintereinander die gleiche Abfolge erkennen: Zuerst (C) Lehre (a) in Vollmacht (c) samt Reak‑ tion des Publikums (b), dann (D) die unreinen Geister (d), die dem Befehl Jesu gehorchen. C 21c – 22
διδάσκειν / διδαχή, Reaktion der Anwesenden – ὡς ἐξουσίαν ἔχων
D
23 – 26
Dialog zwischen Jesus und τὸ πνεῦμα τὸ ἀκάθαρτον; dieser gehorcht
C
27ab
Reaktion der Anwesenden: διδαχὴ καινὴ κατ’ ἐξουσίαν
D
27c
Jesus befiehlt, τὰ πνεύματα τὰ ἀκάθαρτα gehorchen
21 f. In die bereits erwähnten Eingänge – den allgemeinen nach Kafarnaum und den für diese Perikope bestimmenden in die Synagoge – webt Markus den Hinweis auf den Sabbat ein. Jesus wird an diesem Ruhetag einen Exorzismus und eine Hei‑ lung (V. 29 – 31) vollbringen. Was später (3,1 – 6) die Pharisäer so provoziert, dass sie sich überlegen, wie sie Jesus beseitigen könnten, stört hier noch niemanden. Zuerst aber geht es um die Lehre: Gleich dreimal ist kurz hintereinander das Verb διδάσκειν bzw. das Nomen διδαχή zu hören. Diese Technik der Verdichtung durch fokale Wiederholung verwendet Markus – bevorzugt zu Beginn von Peri‑ kopen oder auch größeren Abschnitten – oft, um etwas neu Eingeführtes oder im Folgenden Wichtiges hervorzuheben. Sie ist der Hörerin in abgeschwächter Form schon in 1,16 begegnet, wo sowohl θάλασσα als auch der Name Σίμων je zweimal vorkamen. Das doppelte ‚Meer‘ etablierte den Ort der Berufungsepiso‑ 211
Vgl. dazu Kap. II., S. 60.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
125
den, die Wiederholung des Namens des für die Erzählung wichtigsten Jüngers hilft dem Publikum, sich später an den Erstberufenen zu erinnern. Aus der Fülle der weiteren möglichen Beispiele seien das dreifache θάλασσα und das dreifache διδάσκειν bzw. διδαχή in 4,1 f. zu Beginn der Gleichnisrede sowie das vierfache πλοῖον in 4,36 f. zu Beginn der ersten der drei Bootsfahrten genannt. Hier setzt Markus diese Technik ein, um Jesus als Lehrer einzuführen. Was er lehrt, wird nicht berichtet. Die Situation – Lehre am Sabbat in der Synagoge – legt nahe, dass es sich um Schriftauslegung handelt.212 Die ‚Lehre‘ erscheint hier in drei Variationen: Das Verb steht im Imperfekt ἐδίδασκεν und in periphras‑ tischer Konstruktion (ἦν διδάσκων); beides hebt das Grundsätzliche, Andau‑ ernde der Tätigkeit hervor.213 Wenn also die Leute ‚aufgrund seiner Lehre‘ (ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ) außer sich geraten, geschieht das nicht wegen einer einzelnen Aussage, sondern, so erklärt der markinische Erzähler seinem Publikum, wegen des Charakters, der dieser Lehre – oder besser diesem Lehrer – eignet: Er ist ‚wie einer, der Vollmacht hat‘ (ὡς ἐξουσίαν ἔχων). Was damit gemeint ist, wird nicht näher erläutert, sondern gewinnt Konturen, indem das ‚Wie‘ (ὡς, α) kontrastiert wird mit einem ‚und nicht wie‘ (καὶ οὐχ ὡς, αneg). Die Negativfolie, von der Jesus abgehoben wird, ist das Bild der Schriftgelehrten (γραμματεῖς), die zwar noch nicht die Bühne betreten, aber von Markus als Gruppe214 schon hier bei ihrer ersten Erwähnung in Opposition zu Jesus gestellt werden, was er auch im Verlauf der Erzählung konsequent fortführt. Sie werden hier als erste der Gegner Jesu genannt und werden am Ende unter denen sein, die ihn ans Kreuz bringen und ihn bis zu seinem Tod herausfordern (15,31). Bemerkenswert am Gegensatz διδάσκαλος – γραμματεῖς ist die Tatsache, dass zur Zeit Jesu der Titel διδάσκαλος zur Bezeichnung der jüdischen Schriftgelehrten in Gebrauch war.215 Das schlägt sich auch im Neuen Testament auf den Sprachgebrauch nieder, allerdings nur an wenigen Stellen (Lk 2,46; Joh 3,10). Markus bezeichnet ausschließlich Jesus als διδάσκαλος, die Schriftgelehrten aber als γραμματεῖς. Er zieht damit eine klare Trennlinie, die inhaltlich erst später erläutert wird: Hier der eine, der ‚das Evan‑ gelium Gottes‘ (1,14) lehrt, dort die anderen, die das Gebot Gottes verlassen haben und sich an menschliche Überlieferungen klammern (7,8).216 23 – 26 Mit der Wiederholung der Elemente C und D der Inclusio wird in V. 23 ein Neueinsatz innerhalb der Perikope markiert; nun wird der Exorzismus erzählt. Ein ‚Mensch mit einem unreinen Geist‘ (ἄνθρωπος ἐν πνεύματι ἀκαθάρτῳ, V. 23) ‚war‘ ‚sogleich‘ (εὐθύς) da. Grammatikalisch gesehen ist es der Mensch, der Jesus anschreit (V. 23), dem Inhalt der wörtliche Rede nach zu urteilen, kann es aber nur der ihn beherrschende Geist sein, der hier spricht; offensichtlich lässt 212
Vgl. Collins, Mk, 164. Vgl. Anmerkungen zur Periphrase bei France, Mk, 103; Siebenthal, § 203.a. 214 Ein einzelner Schriftgelehrter wird in 12,28 – 34 positiv dargestellt. 215 Vgl. Rengsdorf, διδάσκω, διδάσκαλος, 140.153 – 155. 216 Zur einmaligen Verwendung von διδάσκειν und διδασκαλία in Bezug auf die Schriftge‑ lehrten in 7,7 vgl. Kap. IV.3.3.2., S. 325. 213
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
sich das bei einem Besessenen nicht trennen. Verwirrend ist zudem der Wechsel in den Plural; der unreine Geist spricht zunächst als ‚wir‘ (ἡμῖν / ἡμᾶς, V. 24), dann wieder als ich (V. 24, οἶδα). In den Kommentaren überwiegt die Ansicht, der Plural bezöge sich auf die Gesamtheit der unreinen Geister.217 Dieses Schwan‑ ken zwischen Ein- und Vielzahl kehrt aber in der nächsten detailliert erzählten Dämonenaustreibung218 wieder (5,1 – 21). Da die dortige Interaktion zwischen Jesus und dem unreinen Geist (5,6 – 13) auch sonst etliche Parallelen zu 1,23 – 27 aufweist,219 ist es plausibel, auch hier von einer „multiplen Persönlichkeit“ des Dämons auszugehen, auch wenn sie nicht explizit thematisiert wird.220 Unbe‑ stritten ist jedoch, dass in dem Aufschrei des Dämons in V. 24 die grundsätzliche Opposition Jesu gegen die unreinen Geister und seine Überlegenheit ihnen gegen‑ über zutage tritt. Auf je eine rhetorische Frage (β, βvar), in der der unreine Geist sein Verhältnis zu Jesus thematisiert, folgt je eine Identifikation Jesu (γ, γvar): Mit einer in den hebräischen Schriften üblichen „Formel der Abgrenzung“221, die abgesehen von Varianten beim Numerus der Personalpronomen in der Sep‑ tuaginta in der auch hier vorliegenden Form wiedergegeben wurde,222 will sich der Dämon – obwohl er es ist, der den Dialog eröffnet! – Jesus vom Leib halten. Darauf folgt die Anrede Ἰησοῦ Ναζαρηνέ (γ), die Jesus nach seiner irdischen Herkunft bezeichnet,223 also als Mensch; so wurde er in der Ouvertüre auch bei seinem ersten Auftritt vorgestellt (1,9). Die zweite Frage224 offenbart, dass der Dämon weiß, dass er schon verloren hat: ‚Bist Du gekommen, um uns zu ver‑ nichten?‘ Die Einleitung zum folgenden Jesustitel lässt sich verstehen als ‚Ich weiß nämlich, wer du wirklich bist!‘ Im Menschen aus Nazareth begegnet ihm, dem ‚unreinen Geist‘ (τὸ πνεῦμα ἀκάθαρτον, d) der ‚Heilige Gottes‘ (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ, γvar) – derjenige, der mit dem Heiligen Geist (πνεῦμα ἅγιον, 1,8) im Bunde steht. Dieser im Markusevangelium einmalige Titel erinnert an ὁ υἱὸς θεοῦ, als der Jesus ganz zu Beginn des Evangeliums dem Hörer vorgestellt wurde (1,1); 217 Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 123; Lührmann, Mk, 51; France, Mk, 103; Gnilka, Mk I, 80; Dschulnigg, Mk, 81; Marcus, Mk I, 192. 218 Markus verwendet πνεῦμα ἀκάθαρτον und δαιμόνιον synonym. 219 Sehr ähnlich sind die Anrede Jesu durch die Dämonen mit τί ἡμῖν / ἐμοὶ καὶ σοί und Titel, ihre Furcht vor ihm, Jesu Befehl auszufahren und der Gehorsam der Dämonen. 220 So argumentiert auch Schweizer, Mk, 24. 221 Lührmann, Mk, 51. 222 Dort immer ἐμοί statt ἡμῖν; vgl. Ri 11,12; 2 Sam 16,10 und 19,23 (beide Male ὑμῖν statt σοί); 1 Kön 17,18; 2 Kön 3,13; 2 Chr 35,21. 223 Pesch vermutet ein Sprachspiel zwischen Ναζαρηνός und ναζιραῖος (θεοῦ), (‚GottGeweihter‘; Ri 13,5.7; 16.17), mit dem in der LXX das hebräische נזירwiedergegeben wird, das als „Brücke“ zwischen der menschlichen und der göttlichen Identität Jesu diene (Pesch, Mk I, 122). Es ist jedoch zu bezweifeln, dass das markinische Publkum (vgl. Kap. I.6.2., S. 56) Sprachspiele mit semitischem Hintergrund wahrnehmen konnte. 224 Ἦλθες ἀπολέσαι ἡμᾶς lässt sich auch als Aussage übersetzen („Du kamst, uns zu ver‑ nichten!“; Pesch, Mk I, 118). Ich ziehe aufgrund der Parallelität Frage (β, βvar) – Name / Titel (γ, γvar) die Frage vor, auf die ja kaum eine andere als eine positive Antwort gegeben werden kann. Inhaltlich ist hier deshalb praktisch kein Unterschied zwischen rhetorischer Frage und Aussage.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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bei seiner Taufe kommt beides zusammen: Der vorher (1,8) als heilig qualifizierte Geist kommt auf ihn herab und Gott selbst nennt ihn ‚seinen Sohn‘ (1,10 f.). Nun folgt der Befehl Jesu (V. 25), dem der unreine Geist gehorcht (V. 26). Jesus herrscht den unreinen Geist zuerst rüde an mit ‚Halt’s Maul!‘ (φιμώθητι, eopp)225 und befiehlt ihm dann auszufahren. Dieser reagiert zunächst gegenteilig mit einem lauten Schrei. Nachdem er aber ausgefahren ist, schweigt er; nun ist nichts mehr von ihm zu hören. In den Formulierungen fallen Verwandtschaften auf: Φωνῆσαν φωνῇ μεγάλῃ (evar) ist eine Variation von ἀνέκραξεν (e) in V. 24a. Zusammen mit [τὸ] πνεῦμα [τὸ] ἀκάθαρτον (d, V. 23.26) bildet das Schreien den Rahmen um die Begegnung Jesu mit dem Besessenen. ‚Laut schreien‘ ist zwar das Gegenteil von dem, was φιμώθητι (eopp) verlangt, doch nimmt φωνῆσαν φωνῇ μεγάλῃ (evar) die Klanglichkeit von φιμώθητι auf. Vielleicht liegt darin der Grund für die ungewöhnliche Wahl von φωνεῖν226 für das Schreien von Dämo‑ nen statt dem üblicheren (ανα‑)κράζειν (vgl. V. 23, 3,11; 5,5.7; 9,26)? Dass der Dämon dem Befehl auszufahren ganz Folge leistet, zeigt sich an der identischen Formulierung von Befehl und Ausführung (ἔξελθε ἐξ αὐτοῦ – ἐξῆλθεν ἐξ αὐτοῦ). 27 Dieser Exorzismus bringt ‚alle‘ (ἅπαντες) Anwesenden zum Staunen. Die Hörerin staunt darüber, wie sie dieses zum Ausdruck bringen: Sie sprechen untereinander von der ‚neuen Lehre hinsichtlich der Vollmacht‘! Immerhin, es folgt dann auch die Feststellung, dass Jesus befiehlt und die unreinen Geister (hier wieder Plural) gehorchen (V. 25 f.). In diesem Staunen wird also kurz reka‑ pituliert, was vorher erzählt wurde: Zuerst die Lehre (C, V. 21c.22), dann der Exorzismus (D, V. 23 – 26). Erklärt in V. 22 noch der Erzähler, warum die Leute außer sich geraten, erkennen sie nun selbst als Augenzeugen des Exorzismus, dass diese Lehre ‚neu hinsichtlich der Vollmacht‘ (καινὴ κατ’ἐξουσίαν) ist.227 Die ‚Vollmacht‘ der Lehre wird dadurch offenbar, dass Jesu Wort sich gegenüber dem unreinen Geist als wirkmächtig erweist. Wie sich noch des Öfteren erweisen wird, lassen sich sein Reden und Tun nicht voneinander trennen.228 225
Mit dieser nicht ganz salonfähigen Übersetzung soll der wörtlichen Bedeutung von φιμοῦν ‚das Maul zubinden‘ Rechnung getragen werden. TLG-Text-Suchen „φιμώθητι“ und „πεφίμωσο“ (Zugriff: 31.07.2017) zeigen, dass diese Imperative nur nur hier, an der Parallel‑ stelle Lk 4,35, in Mk 4,39, und in der Folge in kommentierender Literatur vorkommen, also offensichtlich in schriftlichen Texten nicht gebraucht werden, um jemanden zum Schweigen zu bringen. Die Gegenprobe – TLG-Text-Suche „σιώπα“ (Zugriff: 08.08.2017), das parallel zu πεφίμωσο in 4,39 gebraucht wird – ergab hingegen über 200 Belege, 34 davon zeitlich vor dem Markusevangelium. Vgl. auch die Anmerkungen zur stilgerechten Übersetzung bei Korsak, Glad News, 129. 226 Vgl. Textkritik zu 1,26, S. 122. 227 Vom bloßen Wortbestand her wäre es auch möglich, κατ’ ἐξουσίαν zum Folgenden zu rechnen (‚gemäß Vollmacht befiehlt er auch den unreinen Geistern‘). Die Schriftbilder in ℵ, A und B helfen bei dieser Entscheidung nicht weiter; D und W weichen in der Lesart so stark von der hier gewählten ab, dass sie nicht herangezogen werden können. Die hier gewählte Phrasie‑ rung passt besser in den Kontext, da so wie schon in V. 22 die ‚neue Lehre‘ mit ‚Vollmacht‘ in Verbindung gebracht wird (so auch Metzger, Textual Commentary, 64). 228 Vgl. dazu insbes. 2,1 – 13a; 2,23 – 3,7a.
128
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Zu erwähnen ist noch die Einleitung ‚Was ist das?‘ (τί ἐστιν τοῦτο, fvar). Die Antwort darauf geben die Leute sich selbst mit dem Wort von der ‚neuen Lehre‘. Auch der unreine Geist beantwortete seine Frage ‚Wer bist du?‘ (τίς εἶ, f) selbst: ‚Der Heilige Gottes!‘ (V. 24) Die Grundfragen des Markusevangeliums sind hier‑ mit gestellt: Wer ist Jesus? Was zeichnet ihn aus? Erste Antworten sind gegeben: Die Geister haben einen tieferen Einblick und erkennen, dass der Mensch Jesus aus Nazareth mit dem Heiligen Geist im Bunde steht und ‚Gottes‘ ist. Die Men‑ schen wissen zwar noch nicht um seine wahre Identität, erleben aber, dass bei die‑ sem Lehrer im Vergleich zu den Schriftgelehrten etwas grundsätzlich ‚neu‘229 ist. 28 Der Bogen, der in V. 21 eröffnet wurde, schließt sich nun. Wurde bis zum Anfang der Perikope der Ort des Wirkens Jesu nach Galiläa (1,14) und dem See (1,16) mit Kafarnaum (1,21a) und der Synagoge (1,21b) immer detaillierter bestimmt, nimmt nun von diesem einen Punkt aus ‚die Kunde über ihn‘ (ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ), die Kunde über seine Taten und Worte, den umgekehrten Weg in die Weite hinaus: Sie geht aus ‚überall ins ganze galiläische Umland‘. Dieser Ple‑ onasmus (πανταχοῦ, ὅλη) veranschaulicht wie schon das ‚alle‘ (ἅπαντες, V. 27) die umfassende Wirkkraft dieser Vollmacht oder zumindest die Faszination, die von ihr ausgeht. Markus spielt mit ἐξῆλθεν / ἐξελθόντες (Aopp): Zuerst geht der unreine Geist aus dem Menschen heraus (V. 26), daraufhin – noch bevor Jesus aus der Synagoge herausgeht! (V. 29) – geht die Kunde über Jesus nach ganz Galiläa hinaus (V. 28). Nachdem sich in der Berufung der ersten vier Jünger die Kraft der Verkündigung Jesu in deren selbstverständlicher Nachfolge erwies, zeigt sie sich hier im Zusam‑ menspiel von Lehre und Wundertat. Beides ist durchdrungen von einer neuen Art der Vollmacht, die die Nähe des Gottesreiches (1,15) für diejenigen erfahrbar macht, die sie in der Begegnung mit dem ‚Heiligen Gottes‘ erleben.230 ‚Alle‘ sind beeindruckt; von nun an eilt der Ruf Jesu ihm selbst voraus. Doch schon hier – das zeigen die Oppositionen ‚der Heilige Gottes‘ gegen ‚die unreinen Geister‘ und διδάσκων gegen γραμματεῖς – regt sich auch der erste Widerstand; für man‑ che wird der Vollmächtige zur Bedrohung. III.2.2.3. Hinausgegangen, um zu verkündigen (1,29 – 45) Die Textkritik zu V. 29 findet sich in Kap. III.2.2.2., S. 123. In V. 31 spezifiziert eine ganze Bandbreite an frühen Zeugen (ℵ, B, C, W) τῆς χειρός nicht weiter und findet darin etliche Nachfolger; aus dem Kontext ergibt sich eindeutig, dass es sich um die Hand der Schwiegermutter handeln muss. In der Mehrheit der Manuskripte wird diese explizit benannt, indem das Possessivum αὐτῆς ergänzt wird. D, W und ein paar altlateinische 229
Vgl. dazu 2,21 f. Ähnlich beschreibt auch Schmöcker die Funktion der markinischen Wundergeschichten als „Repräsentation“ der Lehre Jesu von der βασιλεία τοῦ θεοῦ (vgl. Schmöcker, Funktion der Wundergeschichten, 21). Pesch spricht von der „Verkündigungsfunktion“ der Wundergeschich‑ ten (Pesch, Mk I, 124). 230
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
129
Textzeugen formulieren ganz anders, sodass die Hand zur Hand Jesu wird. Die Bezeugung und die Tatsache, dass selbstverständliche Possessiva oft ergänzt wurden,231 sprechen für die Weglassung von αὐτῆς. Εὐθύς, mit dem die Mehrheit der Textzeugen die Heilung als sofortige qualifiziert, passt zwar gut zum Stil des Markus und würde dessen Frequenz noch erhöhen, aber die Lesart ohne dieses Adverb ist so gut bezeugt (ℵ, B, C, L, W, Θ und etliche qualitativ hoch‑ wertige Minuskeln), dass dieser der Vorzug zu geben ist. Im Abschnitt V. 32 – 34 sind zwei textkritische Varianten erwähnenswert, wenngleich auf‑ grund der äußeren Bezeugung die in NA28 übernommene Lesart klar zu bevorzugen ist: Die Grundschrift von ℵ bietet eine Kurzfassung – der sonst breit überlieferte Text von καὶ τοὺς δαιμονιζομένους in V. 32 bis ποικίλαις νόσοις in V. 34 fehlt. Auf die Struktur hat dies Auswir‑ kungen: In ℵ findet sich die Satzteilreihenfolge γ – δ – ε nur ein statt zwei Mal. Für die Darstel‑ lung der Person Jesu ist entscheidend, wann welche Titel genannt werden. Etliche Textzeugen, darunter auch die frühen B, W und C sagen in V. 34 nicht nur, dass die Dämonen Jesus ‚ken‑ nen‘, sondern ergänzen ἤδεισαν αὐτόν um [τὸν] Χριστὸν εἶναι. Diese frühe Erwähnung des Christustitels nimmt dem Bekenntnis des Petrus (8,29) die Spitze. Abgesehen von der ebenfalls guten Bezeugung (ℵ, A, D und die Mehrheit der Textzeugen) der Kurzform ἤδεισαν αὐτόν ist die bewusste Auslassung des Christustitels kaum vorstellbar, seine Ergänzung hingegen schon. Im Abschnitt V. 35 – 39 übernehme ich bei etlichen Verbformen stillschweigend die in allen diesen Fällen durch die Bezeugung gerechtfertigte Lesart von NA28. In V. 35 ist die Wendung ἐξῆλθεν καὶ ἀπῆλθεν in der großen Mehrheit der Textzeugen, unter anderem auch in ℵ, C und D, zu finden. Diese Lesart ist zu bevorzugen, da sich die anderen Varianten – nur ἀπῆλθεν (W und die altlateinische Übersetzung) oder nur ἐξῆλθεν (B, 28, 565, manche sahidische und bohairi‑ sche Textzeugen) – als Ausmerzung dieser formal interessanten, aber inhaltlich überflüssigen Doppelung des ‚Gehens‘ erklären lassen. Ebenfalls in erster Linie hinsichtlich der Textstruktur wichtig ist die Entscheidung in V. 39 darüber, ob hier im Ausdruck ἦλθεν κηρύσσων wieder das Verb ἔρχεσθαι zu hören ist oder stattdessen in periphrastischer Konjugation (ἦν κηρύσσων) die Dauerhaftigkeit der Verkündigung Jesu hervorgehoben wird.232 Die erstgenannte Lesart ist selten, aber gut und früh bezeugt (ℵ, B, L, Θ, 892 und alle koptischen Manuskripte). Auch hier lässt sich analog zu V. 35 die Setzung von ἦν als Tilgung der Doppelung des Verbs ἔρχεσθαι erklären, das unmittelbar zuvor in der Form ἐξῆλθον (Ende V. 38) erscheint. In der Perikope über die Reinigung des Aussätzigen sind fünf Stellen zu besprechen: In V. 40 ist aufgrund der Quellenlage kaum zu entscheiden, ob καὶ γονυπετῶν [αὐτόν] zum ursprüngli‑ chen Text dazugehört oder später hinzugefügt wurde. In B, D, W, Γ, den meisten Textzeugen der altlateinischen Übersetzung und einigen sahidischen Manuskripten fehlt das Niederknien ganz, in ℵ, L, Θ, einigen Minuskeln, einigen altlateinischen Manuskripten sowie in der Vulgata findet sich καὶ γονυπετῶν. Die Mehrheit, darunter A und C, liest καὶ γονυπετῶν αὐτόν, wie es auch in Mk 10,17 zur Beschreibung des gleichen Sachverhaltes zu finden ist. Dort gehört αὐτόν zwei‑ fellos zum Text; so ließe sich argumentieren, es sei in 1,40 in Anpassung an diese Stelle hin‑ zugefügt worden, wenngleich aufgrund der seltenen Nachweise233 kaum auf einen generellen 231
Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 98. Vgl. Siebenthal, § 203.a. 233 LSJ nennt neben den beiden Markusstellen nur noch Mt 17,14; 27,29 und zwei außer‑ neutestamentliche Belege (Plb. hist. 15.29.9; Corn. ND. 12.1.). Mt 17,14 konstruiert ebenfalls mit Akkusativobjekt. In Mt 27,29 findet sich eine Adverbiale, die ebenfalls zur Nennung des „Objekts“ des Niederfallens dient (γονυπετήσαντες ἔμπροσθεν αὐτοῦ). Vergleichbar formuliert im 2. / 3. Jh. v. Chr. Polybios (γονυπετούσας [. . .] πρὸς τὰς θεάς); ungefähr zeitgleich mit Markus verwendet Cornutus das Verb ohne Objekt, jedoch auch als Niederfallen vor einem Gott, um etwas zu erbitten. 232
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 1:29
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Abb. 6a: Mk 1,29 – 38 Sprachgebrauch rekurriert werden kann.234 Deshalb ist eine sekundäre, evtl. auch versehentliche Auslassung genauso denkbar. Abgesehen von der Entscheidung über das Objekt spricht für die Aufnahme des Niederkniens überhaupt in die Partitur ein Blick in die Parallelstellen. Dort kniet der Hilfesuchende auch nieder, wobei sowohl Matthäus als auch Lukas nicht γονυπετεῖν, son‑ dern verschiedene synonyme Ausdrücke verwenden (Mt 8,2; Lk 5,7). Läge eine Anpassung einer kürzeren Markusfassung an Mt und Lk vor, wäre es wahrscheinlicher, dass eine der beiden dort zu findenden Formulierungen in Mk eingefügt worden wäre. Umgekehrt ließe sich die Tatsache, 234
So argumentiert C. H. Turner (vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 117).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 1:29
Und sogleich gingen sie aus der Synagoge heraus und gingen hinein in das Haus von Simon und Andreas mit Jakobus und Johannes.
1:30 1:31
Simons Schwiegermutter aber lag fiebernd im Bett. Und sogleich sagten sie ihm von ihr. Und er ging zu ihr, nahm ihre Hand und richtete sie auf. Und das Fieber verließ sie. Und sie diente ihnen.
1:32
Am Abend aber, nachdem die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle, die krank waren und die von Dämonen besessen waren.
1:33 1:34
Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die krank waren, von vielerlei Krankheiten. Und viele Dämonen trieb er aus. Und er ließ die Dämonen nicht reden, denn sie kannten ihn.
1:35
Und frühmorgens, es war dunkle Nacht, stand er auf und ging hinaus.
Und er ging weg an einen einsamen Ort. Und dort betete er.
1:36 1:37
Und Simon und die mit ihm verfolgten ihn. Und sie fanden ihn. Und sie sagten zu ihm: Alle suchen dich!
1:38
Und er sagte zu ihnen: Lasst uns woanders hingehen, in die Ortschaften, die es (hier) gibt, damit ich auch dort verkündige. Dazu bin ich nämlich hinausgegangen.
131
Übersetzung zu Abb. 6a dass Mt und Lk das Gleiche hier jeweils in ein anderes sprachliches Gewand kleiden, dadurch erklären, dass Markus auch vom Niederknien spricht, die beiden anderen dann aber gängigere Formulierungen vorziehen. Deshalb wähle ich die Lesart καὶ γονυπετῶν αὐτόν. Die zweite und dritte Stelle sind miteinander verwandt; beide Male steht zur Debatte, ob ein Titel bzw. der Name Jesus in den Text gehört oder nicht. In V. 40 spricht der Aussätzige laut B, C, L, W, Θ und einigen Minuskeln Jesus mit κύριε an.235 In V. 41 nennt der Erzähler laut der Mehrheit der Textzeugen, darunter A, C und W, Jesus beim Namen. Beide Male ist neben der Quellenlage wie 235
In NA28 nicht erwähnt; vgl. Swanson, Manuscripts, 21.
132
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
1:39
$
1:40
$
kai« h™lqen khru/sswn ei˙ß ta»ß sunagwga»ß⁄ aujtw◊n ei˙ß o¢lhn th\n Galilai÷an
7
kai« ta» daimo/nia e˙kba¿llwn
kai« e¶rcetai pro\ß aujto\n lepro\ß
1:41
1:42
$
1:43
parakalw◊n aujto\n kai« gonupetw◊n aujto\n kai« le÷gwn aujtwˆ◊ o¢ti e˙a»n qe÷lhØß du/nasai÷ me kaqari÷sai
z$ h$ q i k
kai« splagcnisqei«ß e˙ktei÷naß th\n cei√ra aujtouv h¢yato kai« le÷gei aujtwˆ◊ qe÷lw kaqari÷sqhti
$
z$ h$ q )
k
1:45
$
$
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A
C
B
kai« eujqu\ß aÓphvlqen aÓpΔaujtouv hJ le÷pra, k kai« e˙kaqari÷sqh
1:44
z h q i k
X
$
kai« e˙mbrimhsa¿menoß aujtwˆ◊ eujqu\ß e˙xe÷balen aujto\n kai« le÷gei aujtwˆ◊ o¢ra mhdeni« mhde«n ei¶phØß aÓlla» u¢page seauto\n dei√xon twˆ◊ i˚erei√ kai« prose÷negke peri« touv kaqarismouv sou a± prose÷taxen Mwu¨shvß ei˙ß martu/rion aujtoi√ß
D
oJ de« e˙xelqw»n h¡rxato khru/ssein polla» kai« diafhmi÷zein to\n lo/gon w‚ste mhke÷ti aujto\n du/nasqai fanerw◊ß ei˙ß po/lin ei˙selqei√n aÓllΔe¶xw e˙pΔe˙rh/moiß to/poiß h™n
E
kai« h¡rconto pro\ß aujto\n pa¿ntoqen
F
Abb. 6b: Mk 1,39 – 45
in V. 34 für eine Weglassung ins Feld zu führen, dass sowohl der κύριος-Titel als auch der Name Jesu eher ergänzt als weggelassen wurden. In V. 41 ist aufgrund der Bezeugung σπλαγχνισθείς unstrittig, das eine ganz andere Gefühlsregung bezeichnende ὀργισθείς (nur in D und drei altlateinischen Handschriften) aber zumindest erwähnenswert.236 In V. 44 sind μηδενὶ μηδὲν εἴπῃς und μηδενὶ εἴπῃς in etwa gleich gut bezeugt. Für die auch hier gewählte Langversion spricht die Tatsache, dass sich die Auslassung des μηδὲν als Angleichung an die Parallelstellen Mt 8,4 und Lk 5,14 erklären lässt.
In schneller Folge reihen sich nun mehrere kurze Episoden aneinander, die oft schwer voneinander abzugrenzen sind. Sie gehen zum Teil ineinander über, zum Teil sind auch hier wieder Phrasenverschränkungen zu erkennen. Hier greift Deweys Bild vom orientalischen Teppich:237 Je länger ich diesen Abschnitt 236
Eine Diskussion auch inhaltlicher Aspekte bietet Metzger, Textual Commentary, 65. Vgl. Kap. II., S. 59.
237
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
1:39
Und er ging und verkündigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.
1:40 1:41 1:42 1:43 1:44
Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der ihn bat und vor ihm auf die Knie fiel und zu ihm sagte: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Und er hatte Mitleid mit ihm, streckte seine Hand aus und berührte ihn. Und er sagte zu ihm: Ich will, werde rein! Und sogleich ging der Aussatz von ihm weg. Und er wurde rein. Und er fuhr ihn an und warf ihn sogleich hinaus. Und er sagte zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem was sagst! Sondern geh hin, zeig dich dem Priester und bring für deine Reinmachung dar, was Mose angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis.
1:45
Dieser aber ging hinaus und begann viel zu verkündigen und das Wort zu verbreiten, sodass er nicht mehr öffentlich in die Stadt hineingehen konnte, sondern draußen an einsamen Orten war. Und sie kamen zu ihm von überall her.
133
Übersetzung zu Abb. 6b
betrachte bzw. wiederholt höre, desto mehr verschiedene Muster erkenne ich; sie überlagern sich und sind kunstvoll ineinander verschlungen. Es fällt schwer zu bestimmen, wo die Grundlinien verlaufen. Hier wird besonders deutlich, dass die Interpretation schon bei der Wahrnehmung der hörbaren Textgestalt beginnt.238 Eine der möglichen Interpretationen der Textsignale sei hier präsentiert und der Exegese zugrunde gelegt: Diese Episodenfolge lässt sich als zwei Bögen verstehen, die beide die sechs gleichen Elemente beinhalten: Heraus- bzw. Hineingehen in die Synagoge[n] (A), Heilung bzw. Exorzismus an bestimmten Einzelnen (B), an unbestimmten Vie‑ len (C), Schweigegebot (D), Jesu Rückzug an einsame Orte (E) und die Reaktion
238
Vgl. Kap. I.3.2., S. 22.
134
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
der Leute darauf (F). Die Reihenfolge der Elemente B und C wird beim zweiten Mal umgekehrt, abgesehen davon ist sie in beiden Bögen gleich:
Heraus aus der Synagoge
39 – 45
39a
Hinein i. d. Syn.
B 30 f. Heilung C 39b der Schwiegermutter des Simon
Austreibung von Dämonen (in ganz Galiläa) (εἰς ὅλην τὴν Γ.)
A
29
29 – 38
32 – 34a Heilungen / Exorzismen B 40 – 42 Heilung C für ‚die ganze Stadt‘ eines Aussätzigen (ὅλη ἡ πόλις) 34b D
Schweigegebot 43 f. an die Dämonen
Schweigegebot an den Geheilten
35b E
Jesus an einem 45b einsamen Ort
Jesus an einsamen Orten
36 f. ‚Alle suchen dich‘ 45c F (πάντες)
‚sie kommen zu ihm von überall her‘ (πάντοθεν)
Die beiden Bögen sind durch eine formal und inhaltlich sehr enge Verwandtschaft des Schlusses des ersten (V. 38) und des Anfangs des zweiten (V. 39a) miteinan‑ der verbunden;239 Jesu doppeltes ‚[Hinaus‑]Gehen, um zu verkündigen‘ (X) wird so im Zentrum der atemlosen Episodenfolge 1,29 – 45 hervorgehoben. Beachtet man zudem die Orts- und Zeitangaben, so fällt auf, dass V. 29 – 38 konkret situiert ist: in / vor einem bestimmten Haus in Kafarnaum am Sabbat nach dem Synagogenbesuch bis zum folgenden Morgen. Die Verkündigung Jesu ‚in ihren Synagogen in ganz Galiläa‘ in V. 39 ist hingegen weder zeitlich noch ört‑ lich genauer fassbar; Zeit- und konkrete Ortsangaben fehlen auch im Folgen‑ den. Der Gegensatz konkret – allgemein zeigt sich auch an den beiden Personen, deren Heilung erzählt wird: In V. 30 f. ist es die Schwiegermutter des Simon, in V. 40 – 42 ein Mensch, über den man außer seinem Leiden nichts erfährt. Ein weiterer Aspekt dieser Interpretation der hörbaren Textgestalt von 1,29 – 45 ist die Wahrnehmung der wiederholten Vorkommen von ἔρχεσθαι (B) als forma‑ tiv. Das Verb erklingt in einigen Variationen – verschiedene Tempora und Numeri, finite und infinite Formen sowie verschiedene Komposita (εἰσ‑, ἐξ‑, προσ‑, ἀπέρχεσθαι, B(var)) – über diesen ganzen Abschnitt hinweg. Auffällig ist zudem, dass die ganze Episodenfolge ohne die Nennung des Namens Jesu auskommt. Die Hörerin, die vom Anfang her weiß, dass hier dessen Geschichte erzählt wird, geht natürlich davon aus, dass es Jesus ist, der hier als Hauptperson agiert. Ohne diese Prämisse wäre der Text z. T. auch anders interpretierbar; es könnte z. B. genauso 239
Siehe S. 139.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
135
gut Simon selbst sein, der seine Schwiegermutter heilt – er ist die Einzelperson, die zuletzt vor den subjektlosen Prädikaten in der 3. Person Singular in V. 30b.31 genannt wird. Diese „Jesus-freie Zone“, die voraussetzt, dass ein Hörer um die Identität der Hauptperson weiß, ist die erste ihrer Art im Markusevangelium. Zwei weitere, längere werden über die beiden ersten Hauptteile hinweg noch folgen (3,8 – 5,5; 6,31 – 8,26). Dieses Phänomen findet sich auch in den anderen synoptischen Evangelien, dort jedoch in erster Linie in längeren Reden Jesu (z. B. Mt 5,1 – 7,27; Lk 11 f.). Im Markusevangelium hingegen erstreckt es sich auch über längere narrative Episodenfolgen mit wechselnden Orten und Protagonisten hinweg. Der Verdacht liegt nahe, dass Markus den Namen bewusst vermeidet; dem wird an späterer Stelle nachgegangen.240 Fürs Erste sei festgehalten, dass in 1,29 – 45 Jesus selbst den Dämonen (V. 34) und einem Geheilten (V. 44) verbietet, seine Identität bzw. seine heilende Vollmacht bekannt zu machen. (Vgl. Abb. 6a, S. 130) 29 – 38 sind umklammert durch das Hinein- und Hinaus‑ gehen aus dem Haus (ἦλθεν εἰς . . . – ἐξῆλθεν / ‑ον, B, V. 29b – V. 35.38). Dabei ist der untere Rahmen sozusagen mit einer „Füllung“ erweitert: zwischen ἐξῆλ‑ θεν (V. 35) und ἐξῆλθον (V. 38) ist die Szene eingefügt, in der Jesus an einem einsamen Ort betet und dort von seinen Jüngern aufgesucht wird. Das Hineinund Hinausgehen umrahmt zwei Heilungsgeschichten; zuerst die einer einzel‑ nen Frau, zu der Jesus kommt (προσελθών, V. 31), dann die der Kranken und Besessenen der ganzen Stadt, die zu Jesus gebracht werden (ἔφερον πρὸς αὐτὸν πάντας . . ., V. 32). 29 Die vorangehende Szene fand explizit am Sabbat (1,21) statt; von der Syn‑ agoge ‚gehen sie‘ nun direkt (ἐυθύς, a) ins Haus Simons und Andreas’. Diese Einleitung lässt darauf schließen, dass die folgende Heilung am gleichen Tag, also ebenfalls am Sabbat, stattfindet.241 Die Erwähnung aller vier Erstberufenen ist nochmals ein Hinweis darauf, dass sie auch in der Synagoge dabei waren.242 30 f. Der Bericht von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus ist erzähle‑ risch auf das Notwendigste reduziert und konzentrisch gestaltet: Die Frau liegt (α) zu Beginn fiebernd (β) darnieder, am Ende hat sie das Fieber (β) verlassen, sodass sie wieder auf den Beinen ist und ‚ihnen‘ dienen (αopp) kann. In der Mitte handeln andere: ‚sie sagen ihm‘ (D) ‚sogleich‘ (ἐυθύς, a) Bescheid, ‚er‘ kommt zu ihr und richtet sie bei der Hand nehmend auf. Beide Subjekte, das im Plural und das im Singular, muss die Hörerin selbst ergänzen. Wie schon erwähnt, ist für sie selbst‑ verständlich Jesus der Heilende. Wer hinter der dritten Person Plural steht, bleibt offen – am nächstliegenden ist es, die Leerstelle mit den vier genannten Jüngern oder anderen Hausbewohnern (dann im Sinne von ‚man sagt ihm‘) zu füllen. 240
Vgl. Kap. IV.3.5., S. 329 – 331. Pesch spricht von „ein[em] Tag vollmächtigen Wirkens Jesu in Kafarnaum (1,21 – 34)“ (Pesch, Mk I, 116), Lührmann hingegen trennt gemäß jüdischer Tageseinteilung die explizit am Abend situierten Verse 32 – 34 ab (Lührmann, Mk, 53). 242 Vgl. zu 1,21 Kap. III.2.2.2., S. 123. 241
136
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
In der Mitte der Episode steht ein Kompositum vom ἔρχεσθαι (προσελθών, Bvar). Das Faktum, dass Jesus zu ihr kommt, fällt im Vergleich mit anderen Hei‑ lungsgeschichten auf. Diese Frau ist nicht nur die einzige Person aus dem näheren Umkreis Jesu, die er heilt, sie ist auch die einzige im Evangelium, die nicht selbst zu Jesus kommt oder für die nicht stellvertretend andere auf Jesus zugehen und ihn um Hilfe bitten.243 Sie wird als eine der wenigen Kranken und Besessenen durch die Bezeichnung ‚Schwiegermutter des Petrus‘ als Individuum identifizierbar, wenngleich sie selbst nicht beim Namen genannt wird.244 Zudem ist sie die ein‑ zige Geheilte, die nach ihrer Genesung ‚dient‘ (διηκόνει αὐτοῖς). Διακονεῖν wird später (9,35; 10,43) als die den Nachfolgern Jesu angemessene Handlungsweise bestimmt, die Jesu Dienen und Hingabe zum Maßstab hat (10,45). Im Verhalten dieser Frau wird dieser Grundzug von Nachfolge schon früh im Evangelium hör‑ bar. Trotz seiner Kürze eignet diesem Bericht also einiges an Exklusivität. 32 – 35a Von Exklusivität kann nun nicht mehr die Rede sein: Es sind viele anonyme Kranke und Besessene, sie werden zu Jesus (πρὸς αὐτόν, b, V. 32) gebracht. Ob die Wunder im Haus oder davor stattfinden, erfährt man nicht. Die große Menge der Leute und die Vielzahl der Heilungen und Exorzismen wer‑ den durch die Attribute πᾶς (c), ὅλος (cvar), πολύς (cvar), ποικίλος (cvar) mehrfach hervorgehoben. So wird zum einen der Ruf Jesu illustriert, den er schon nach so kurzem öffentlichem Wirken erworben hat und zum anderen die Größe seiner Vollmacht über Krankheiten und unreine Geister. Der Kreis weitet sich – auch den vielen Namenlosen wird wie der Schwiegermutter des Petrus die Hilfe Jesu zuteil. Die Wunder an den Vielen werden in paralleler Konstruktion dargeboten:
32
33 f.
γ(var)
alle werden zu ihm (πρός) gebracht:
die ganze Stadt versammelt sich vor (πρός) der Tür
δ
die Kranken
er heilt die Kranken
ε
und die Besessenen (δαιμονιζόμενους)
und treibt die Dämonen aus (δαιμόνια)
Wie die Leute kommen (δ – ε), so werden sie behandelt (δ – ε). Die zweite einlei‑ tende Bemerkung (γ, V. 33) wäre inhaltlich nicht nötig. Sie verstärkt den Paral‑ lelismus δ – ε || δ – ε um ein weiteres Element; die ‚ganze Stadt‘ (γvar) verbildlicht dabei eindrücklich das abstraktere ‚alle‘ (γ) aus V. 32. Die Entscheidung, in V. 35a eine Phrasenverschränkung zu sehen, mutet auf den ersten Blick wohl sehr ungewohnt an; alle mir bekannten Kommentare sehen einen klaren Einschnitt zwischen V. 34 und V. 35, ebenso schon die frühen Hand‑ 243
Jesus erfährt auch durch andere ‚über sie‘, wird aber nicht explizit um Hilfe gebeten. Der einzige mit Namen genannte Hilfesuchende ist der blinde Bartimäus (10,46 – 52); an anderer Stelle bittet der Synagogenvorsteher Jaïrus um die Heilung seiner Tochter, die selbst wie hier nicht beim Namen genannt wird (5,21 – 6,1a). Alle anderen, deren Heilung im Markus evangelium berichtet wird, sind anonym. 244
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
137
schriften. Natürlich leitet V. 35a die nächste Szene ein. Doch gibt es gute Gründe, ihn zugleich als Abschluss der Heilung der Vielen zu verstehen: Erstens rahmt das Hinein- und Herausgehen (B, V. 29b; Bvar, V. 35a) die Heilung der Einen und die der Vielen. Dabei ist, anders als in V. 29a, die zu beiden gehörende Aussage grammatikalisch ein vollständiger Satz; es wäre also sogar denkbar, V. 35a kom‑ plett vom Folgenden zu trennen und danach eine eindeutige Zäsur zu setzen. Zweitens ergeben der Abend und der Morgen eine Inclusio um die Heilung der Vielen. Sie sind vor 4,35245 die einzigen Tageszeitangaben und fallen zudem durch ihre je doppelte Formulierung auf:
32
35
E F
‚Als es Abend geworden war‘ ‚als die Sonne untergegangen war‘
‚frühmorgens‘ ‚es war noch dunkle Nacht‘
Die Erwähnung der untergegangenen Sonne – herausgehoben zudem durch die Unterbrechung der strukturellen καί-Wiederholung am Satzanfang – diente im damaligen Kontext sicher dazu, die folgende Szene nach dem Ende des Sab‑ bats zu situieren; erst dann war der Transport von Kranken wieder erlaubt.246 Anders als Jesus, der schon tagsüber Menschen zugute Wunder gewirkt und damit nach seinem später explizierten Sabbatverständnis247 gehandelt hat, halten sich die Leute von Kafarnaum an die gängigen Regeln. Den Zeitangaben lässt sich aber noch etwas anderes abgewinnen; sie lassen sich auch so verstehen, dass Jesus nach Sonnenuntergang zu heilen beginnt und bis tief in die Nacht, bis in die frühen Morgenstunden damit beschäftigt ist, sich der vielen Hilfesuchenden anzunehmen. Ἀναστάς wäre dann nicht ‚aus dem Bett aufstehen‘, sondern ‚nach getaner Arbeit aufstehen‘.248 Diese Interpretation liegt jedenfalls auf der Linie dessen, was in V. 29 – 45 hörbar werden soll: Sie hebt zum einen die Vielzahl der Wunder und damit die Wirkmacht Jesu hervor – stundenlang muss er geheilt und Dämonen ausgetrieben haben –, zum anderen dient der nahtlose Übergang von der abendlich-nächtlichen Szene im oder vor dem Haus zu der nächsten an einem einsamen Ort wie schon die Phrasenverschränkung in V. 29a zur Aufrechterhal‑ tung des hohen Erzähltempos. Zwischen dem Bericht über die Wunder und dem Hinweis auf die frühen Morgenstunden ist, formal durch das Stichwort δαιμόνια mit dem Vorhergehen‑ den verbunden, das Schweigegebot Jesu an die Dämonen eingefügt (V. 34b): Er ‚lässt sie nicht reden, weil sie ihn kennen.‘ Diese Bemerkung verleiht dem ‚Halt’s 245 Im zweiten Hauptteil sind es auch nur die beiden ersten Bootsfahrten, die durch Zeitan‑ gaben als nächtliche Unternehmungen dargestellt werden (4,35; 6,47). Erst in Jerusalem, wo die Erzählung konsequent aneinandergereihten Tagen folgt, werden wieder Tageszeiten erwähnt. 246 Vgl. Collins, Mk, 175; Lührmann, Mk, 53; Pesch, Mk I, 133 f. Gnilka hingegen be‑ zweifelt, dass Markus der jüdischen Zeiteinteilung – Beginn des neuen Tages am Abend – Be‑ deutung beimisst (vgl. Gnilka, Mk I, 86). 247 Vgl. 2,27 f.; 3,4. 248 Vgl. die recht ähnliche Formulierung in 7,24 ἐκεῖθεν δὲ ἀναστὰς ἀπῆλθεν.
138
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Maul!‘ (1,25), mit dem Jesus in der Synagoge den unreinen Geist anfuhr, nach‑ träglich einen Unterton: Der Geist soll nicht einfach aus dem Besessenen aus‑ fahren, sondern auch sein exklusives Wissen darüber, wer Jesus ist (1,24), nicht preisgeben. Ob die Dämonen ihm hier Folge leisten, ist nicht zu hören. 35 – 38 Nach dieser Nacht zieht sich Jesus an einen einsamen Ort zurück, um zu beten. Doch eine echte Ruhepause sieht Markus nicht vor – Jesus wird von ‚Simon und denen mit ihm‘ ‚verfolgt‘. Diese Szene ist von der Inclusio ἐξῆλθεν (Bvar, V. 35) – ἐξῆλθον (Bvar, V. 38) umgeben; zu Beginn geht Jesus (aus dem Haus) hinaus, zu Ende der Perikope begründet er diesen Schritt: ‚Dazu näm‑ lich bin ich hinausgegangen.‘ Im unmittelbaren Kontext, verstärkt noch durch den Eindruck der Inclusio, scheint er sich zu rechtfertigen: Nicht um sich der Menge zu entziehen, wie in ‚Alle suchen dich!‘ unterschwellig als Vorwurf mit‑ klingt, sondern um seinen Einzugskreis über die Stadt hinaus in die umliegenden Ortschaften zu erweitern (V. 38), habe er das Haus verlassen. Was im näheren Kontext zunächst wie eine Ausrede wirkt, gewinnt durch die Anklänge an die programmatische Ansage Jesu in 1,14 f. (ἦλθην ὁ Ἰησοῦς εἰς Γαλιλαίαν κηρύσσων . . .) an Glaubwürdigkeit. Die Inclusio ist durch weitere Elemente verstärkt: Am Ende von V. 35 und am Anfang von V. 38 finden sich Ortsangaben (Avar), die jeweils direkt anschließend mit κἀκεῖ bzw. καὶ ἐκεῖ (Avar) wieder aufgenommen werden. Strukturell sind auch Parallelen zum Vorhergehenden zu erkennen:
29 – 34
35 – 37
B B A
ἐξελθόντες ἐξῆλθεν ἦλθον ἀπῆλθεν εἰς τὴν οἰκίαν εἰς ἔρημον τόπον
C D
Σίμωνος καὶ Ἀ. μετὰ Ἰ. καὶ Ἰ. Σίμων καὶ οἱ μετ’αὐτοῦ καὶ [. . .] λέγουσιν αὐτῷ καὶ λέγουσιν αὐτῷ
c
ἔφερον πρὸς αὐτὸν πάντας [. . .]
πάντες ζητοῦσίν σε
Die ersten fünf Elemente stammen aus der „exklusiven“ Episode V. 29 – 31, mit πάντες (c) wird ein wichtiges Stichwort der Öffnung zu den Vielen hin (V. 32 – 35a) wieder aufgenommen und dieser Gedanke in V. 38 fortgeführt: Nun erweitert sich der Wirkungskreis Jesu über die Stadt (V. 33) hinaus ‚in die umlie‑ genden Ortschaften‘. Die Aufforderung ἄγωμεν zeigt, dass die Jünger von Anfang an in die Verkündigung Jesu miteinbezogen werden. Hier ist es noch Jesus selbst, der verkündigt (κηρύσσων, d), doch bald schon wird er auch sie damit beauftra‑ gen (3,14). (Vgl. Abb. 6b, S. 132) 39 – 45 Nun folgt der zweite, hinsichtlich Zeit und Ort abs‑ traktere Bogen. Auch die beteiligten Personen sind weniger fassbar; Namen wer‑ den nicht genannt. Die Jünger spielen für die Handlung keine Rolle und werden auch nicht erwähnt. Wiederum sind ἔρχεσθαι und Komposita davon (B) struk‑ turbildend: Am Anfang steht das (Hinaus‑)Gehen und die Verkündigung Jesu
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
139
in ganz Galiläa (V. 39), am Ende das Hinausgehen und die Verkündigung des Geheilten, die bewirkt, dass Jesus noch bekannter wird und sie von überall her ‚zu ihm kommen‘ (V. 45). In diesem Rahmen steht die Heilung eines Aussätzigen, die ihrerseits unter Verwendung von ἔρχεσθαι von einer Inclusio zusammenge‑ halten wird. 39 beginnt mit einer spiegelbildlichen Wiederaufnahme von V. 38 und verbin‑ det so die beiden Bögen eng miteinander:
38 39a
ἀλλαχοῦ εἰς τὰς ἐχομένας κωμοπόλεις εἰς ὅλην τὴν Γαλιλάιαν ἐκεῖ εἰς τὰς συναγωγὰς αὐτῶν κηρύξω κηρύσσων ἐξῆλθεν ἦλθεν
Was Jesus in V. 38 ankündigt, setzt er in V. 39a in die Tat um; dabei weitet sich der Fokus ein weiteres Mal von ‚den umliegenden Ortschaften‘ hin zu ‚ganz Gali‑ läa‘. So vervollständigt sich die Bewegung vom Allgemeinen hin zum Konkreten und wieder zurück:
1,14 Galiläa 1,16 am Meer von Galiläa 1,21 Kafarnaum 1,21 Synagoge
1,39 ganz Galiläa 1,38 die umliegenden Dörfer 1,33 die ganze Stadt 1,29 Haus
Noch deutlicher als V. 38 ist V. 39a als Wiederholung der programmatischen Ansage in 1,14 f. zu erkennen:
1,14
[. . .] ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς εἰς Γαλιλάιαν κηρύσσων [. . .]
1,39
Καὶ ἦλθεν κηρύσσων [. . .] εἰς ὅλην τὴν Γαλιλαίαν
Jesus (hier ohne Namensnennung) ist nach Galiläa gekommen und verkündigt. Was er verkündigt, erfahren wir in V. 39a nicht; die Erinnerung an das ‚Evange‑ lium Gottes‘ aus V. 14 schwingt aber in der Wiederholung mit. Wie zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit (1,21 – 29a) spricht er in Synagogen. Die Aussage über die Austreibung der Dämonen in V. 39b ist dem Verkündigen grammatikalisch gleichgestellt; wie κηρύσσων (e) hängt auch τὰ δαιμόνια ἐκβάλ‑ λων (d+) von ἦλθεν. Es wird etwas holprig nachgereicht; die Ortsangaben bezie‑ hen sich nur auf das Verkünden. Vermutlich ist das formalen Gründen geschuldet, denn so sind die genannten Verbindungen von V. 39 zu V. 14 und V. 38 deutlicher zu hören. Die Verwendung des Artikels, die textkritisch unumstritten ist,249 zeigt, dass auch hier generalisiert wird: Es sind nicht bestimmte, sondern pauschal ‚die Dämonen‘, die Jesus austreibt; Ausnahmen sind nicht vorgesehen. 40 – 42 Auf die allgemeine Verkündigung und Dämonenaustreibung folgt die Heilung eines einzelnen, nicht näher beschriebenen Aussätzigen. Ein Ort ist 249
Vgl. Apparat NA28 zu 1,39.
140
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
nicht genannt.250 Ebenfalls bleibt offen, ob die Szene unter vier Augen oder vor Zuschauern spielt. Markus scheint es, anders als bei der Heilung der Schwieger‑ mutter des Petrus, nicht wichtig zu sein, diese Begebenheit in Raum und Zeit zu verankern. Die Heilung ist durch eine Inclusio umrahmt, die mit ἔρχεσθαι spielt, indem sie in ähnlicher Weise davon spricht, wie der Aussätzige zu Jesus kommt und wie der Aussatz von diesem weggeht: 40a
καὶ
ἔρχεται
πρὸς αὐτὸν
42a
καὶ [. . .] ἀπῆλθεν ἀπ’αὐτοῦ
λεπρός ἡ λέπρα
Das Heilungsgeschehen erinnert an das bei der Schwiegermutter des Petrus (V. 31); bemerkens‑ wert ist dabei der unterschiedliche Umgang mit ἔρχεσθαι: Bei der Geschichte des Aussätzigen wird durch ἀπῆλθεν die Inclusio zum Beginn der Episode hergestellt, bei derjenigen der fiebern‑ den Frau hingegen, wo im Zentrum der Perikope steht, dass Jesus zu ihr kommt (προσελθών, V. 31), wurde ἔρχεσθαι vermieden; das Fieber ‚geht‘ nicht ‚weg‘, sondern ‚verlässt‘ (ἀφῆκεν) sie.
Innerhalb der Inclusio sind Aktion und Rede des Aussätzigen und Aktion und Rede Jesu parallel zueinander formuliert: ζ(var) η(var) θ ι κ
40b
41
παρακαλῶν αὐτὸν καὶ γονυπετῶν καὶ λέγων αὐτῷ ἐὰν θέλῃς δύνασαί με καθαρίσαι
καὶ σπλαγχνισθεὶς ἐκτείνας τὴν χεῖρα αὐτοῦ ἥψατο καὶ λέγει αὐτῷ θέλω καθαρίσθητι
Bei den Elementen θ bis κ ist die Entsprechung aufgrund der gleichen Lexeme offensichtlich, die beiden ersten sind stärker variiert, aber dennoch aufeinander bezogen: Die Bitte des Kranken ruft bei Jesus Erbarmen251 hervor (ζ); auf die unterwürfige Geste des Kniefalls folgt die gleich doppelt beschriebene Geste252 der Heilung (η). In ihr kommt die Zuwendung zum Ausdruck, die sich weder 250 Die von V. 39 her naheliegende Vorstellung, der Aussätzige käme wie der Besessene in 1,23 in einer Synagoge zu Jesus, ist historisch eher unwahrscheinlich, denn Aussätzige, die nach dem levitischen Gesetz als ‚unrein‘ galten, mussten sich von anderen Menschen fernhalten und außerhalb von Siedlungen wohnen (vgl. Lev 13, insbes. 13,45 f.). Nach Pesch, der sich für seine Argumentation auf den Mischnatraktat Negaim beruft, wurde die Absonderung der Aussätzigen (auch zur Zeit Jesu) jedoch „nicht überall gleich rigoros durchgeführt“ (Pesch, Mk I, 142); er schließt deshalb nicht völlig aus, dass diese Szene in einer Synagoge spielt. Für van Iersel hin‑ gegen kommt diese Möglichkeit nicht in Frage; er situiert die Szene „somewhere in the open“ (van Iersel, Mk, 142; ähnlich France, Mk, 116). 251 Vgl. Textkritik zu V. 41, S. 132. 252 Nur hier (und par Mt 8,3; Lk 5,13) werden im NT das Ausstrecken der Hand und das Berühren miteinander verbunden; ἅπτεσθαι, bei Markus mit einer Ausnahme (die ‚Berührung‘ der Kinder in 10,13) immer im Zusammenhang mit Heilungen verwendet, steht sonst alleine; vgl. auch France, Mk, 118.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
141
durch die Angst vor Ansteckung noch durch die Vorstellung abhalten lässt, die kul‑ tische Unreinheit Aussätziger würde durch Berührung auf andere übertragen.253 In der Bitte des Kranken vereinigen sich das Vertrauen in die Heilkraft Jesu (κ) und der Zweifel, ob diese auch ihm, dem Unreinen, zugute kommen würde (ι). Im ‚Ich will‘ (ι) Jesu ist der Zweifel aufgenommen und beseitigt; das wun‑ derwirkende Wort ‚Sei rein!‘ (κ) bestätigt das Vertrauen, das in ihn gesetzt wird. Δύνασθαι meint hier bei seiner ersten Verwendung im Markusevangelium ‚die Fähigkeit zu / die Macht über etwas haben‘ und steht ἐξουσία nahe. Das Verb wird auch im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder – ganz prominent in der Perikope, in der die Schriftgelehrten Jesus vorwerfen, er stehe mit dem Beelzebul im Bund (3,22 – 30)254 – im Kontext von Macht- und Vollmachtsfragen stehen. Καθαρίζειν findet sich bei Markus sonst nur noch in 7,19 als ‚für rein erklä‑ ren‘ aller Speisen, darüberhinaus ist die Wortfamilie καθαρ- lediglich in ἀκάθαρ‑ τος zur Bezeichnung der unreinen Geister vertreten. Nach Lev 13 kann nur ein Priester einen geheilten Aussätzigen für ‚rein‘ (LXX καθαρός) erklären; zudem erstreckt sich die rituelle Reinigung über eine Woche (vgl. Lev 14). Dreimal erklingt in der kurzen Perikope von der Heilung des Aussätzigen καθαρίζειν, um dessen Gesundwerden zu benennen, dazu einmal das Substantiv καθαρισμός (V. 44); mit der Heilung ist hier, setzt man den Sprachgebrauch der Septuaginta voraus, zugleich die Wiederherstellung der kultischen Reinheit und die Wieder‑ eingliederung in die Gesellschaft verbunden.255 43 f. Noch einmal werden in V. 43 die Elemente ζ bis θ und κ aus V. 40b bzw. V. 41 wiederholt und so das Folgende an die Heilung angebunden: ζ (Appell / emotionale Reaktion darauf) η (körperliche Bewegung) θ (sagen) κ (Reinigung / Reinheit)
ἐμβριμησάμενος ἐξέβαλεν αὐτόν καὶ λέγει αὐτῷ περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου
Nur aus dem Zusammenhang – dem Befehl in der mündlichen Rede, ‚er‘ solle für ‚seine Reinigung‘ etwas opfern – wird klar, dass es Jesus ist, der hier so harsch reagiert:256 Er ‚schnaubt ihn an‘ und, ‚wirft ihn‘, wie zuvor die Dämonen, ‚hinaus‘ (ἐξέβαλεν αὐτόν, V. 39), und das ‚sogleich‘ (ἐυθύς, a). Mit France’ Wor‑ ten: „[I]t does not suggest a gentle treatment“.257 Eine einleuchtende Erklärung für dieses schroffe Verhalten Jesu kann ich nicht finden; die Kommentare bieten verschiedene Vorschläge, die alle nicht ganz befriedigen.258 Auf der klanglichen 253
Vgl. Erbele-Küster / Tönges, Reinheit, 472. Vgl. auch 2,7; 5,3; 6,5; 8,4; 9,22 f.29 f.; 15,31. 255 Vgl. Hauck, καθαρός, καθαρίζω, 417; Wetz, Reinheit, Abschn. C. 256 Vgl. van Iersel, Mk, 143. 257 France, Mk, 119. 258 Lührmann sieht diese „böse Reaktion [. . .] im Zusammenhang mit dem folgenden Schweigegebot“ (Lührmann, Mk, 54); ähnlich argumentieren auch Collins, Mk, 179, und Pesch, Mk I, 145. Van Iersel postuliert, dass Jesus unzufrieden ist, weil seine Heilkraft zwar von allen in Anspruch genommen wird, aber niemand seine Verkündigung hören und umkehren 254
142
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Ebene fällt die Alliteration mit ε‑ auf (ἐμβριμησάμενος, εὐθύς, ἐξέβαλεν), die mit der Wiederholung des Personalpronomens αὐτός in zwei unterschiedlichen Kasus kombiniert ist. Zu Beginn der mündlichen Rede unterstreicht die Doppelung μηδενὶ μηδέν die Ernsthaftigkeit des Schweigegebotes, das hier an den Geheilten (vgl. 1,25.34) gerichtet ist. Er soll niemandem etwas sagen (evar.neg), sondern stattdessen ‚sich dem Priester zeigen‘ – es liegt nahe, dass dieser, wie in Lev 13 vorgeschrieben, die Gesundung offiziell bestätigen soll. Offensichtlich liegt dem markinischen Jesus daran, dass die geltenden Gesetzesvorschriften eingehalten werden. Er weist den Geheilten auch an, das, ‚was Mose vorgeschrieben hat‘, als Opfer dar‑ zubringen.259 Doch nicht nur die Beachtung des Gesetzes steht hinter den Anwei‑ sungen; sie enden mit der Angabe des Zweckes: ‚ihnen zum Zeugnis‘. Wurde in V. 34 das Schweigegebot an die Dämonen mit deren Kenntnis der Identität Jesu begründet, ist der Fall hier komplizierter: Zum einen soll der Geheilte schweigen, zum anderen soll seine Heilung als ‚Zeugnis‘ (für die Wirkmacht Jesu) dienen – im Befehl Jesu stehen Geheimhaltung und Offenbarwerden unvermittelt neben‑ einander.260 ‚Sie‘ bleiben in dieser Geschichte ebenso namenlos wie der Heiler und der Geheilte und bekommen aus dem Kontext kaum Konturen. Naheliegend scheint es, diese Zweckangabe so zu verstehen, dass die Befolgung der rituel‑ len Reinigungsvorschriften den Menschen um den Geheilten dessen Gesundung und Reinigung bestätigt und damit seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft offiziell vollzogen wird.261 Manche Kommentatoren nehmen an, dass sich hin‑ ter ‚ihnen‘ die Jerusalemer Tempelautoritäten verbergen, denen so die Vollmacht Jesu demonstriert würde,262 doch explizite Hinweise darauf liefert der Text nicht. 45 Trotz des Schweigegebotes – ein weiteres Neben- bzw. Gegeneinander von Geheimhaltung und Offenbarung – ‚geht‘ der Geheilte ‚hinaus‘ (ἐξελθών) und verbreitet die Kunde Jesu. Da die Heilung wie erwähnt kaum innerorts stattfand und zudem ἐξέρχεσθαι wie in 1,38 mit κηρύσσειν kombiniert ist, ist dieses ‚Hinausgehen‘ primär als ‚Ausgehen, um zu Verkündigen‘ zu verstehen. Nicht einer der Jünger, sondern dieser anonyme Geheilte ist der erste, der in die Fußstapfen Jesu tritt und wie er verkündigt. Seine Eigenwilligkeit zeigt sich in dem einleiten‑ den ὁ δέ, die erste und einzige Unterbrechung des καί-Teppichs in diesem Erzähl‑ bogen. Ob er sich den Reinigungsritualen – sie nehmen ja eine ganze Woche263 will (vgl. van Iersel, Mk I, 143). France bietet keine eigene Interpretation, hält jedoch fest, dass ἐμβριμᾶσθαι in der Septuaginta klar mit Ärger konnotiert ist (France, Mk, 118). 259 Προσφέρειν steht in der Septuaginta, insbesondere in Lev, für das Darbringen von Op‑ fern (Lev 1.2.5.13 et passim). 260 Vgl. Kap. III.1.4., S. 98 f. 261 Vgl. France, Mk 120; van Iersel, Mk, 144. 262 Vgl. France, Mk, 120; Collins, Mk, 179. France begründet dies mit der generell adver‑ sativen Verwendung von εἰς μαρτύριον αὐτοῖς im Markusevangelium (6,11; 13,9) und sieht im Priester in V. 44 die später auftretenden Hohenpriester repräsentiert. 263 Vgl. Lev 14,8 – 10.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
143
in Anspruch! – tatsächlich unterzogen hat, erfahren wir nicht. Die Atemlosigkeit der ganzen Episodenfolge sieht eigentlich keinen solchen Verzug vor und ganz offensichtlich spielt es für den Fortgang der Geschichte auch keine Rolle. Wiederum spielt Markus mit ἔρχεσθαι und stellt damit neben der Parallelisie‑ rung der Verkündigung Jesu mit der des Geheilten noch weitere Bezüge her: In V. 45 selbst bilden drei verschiedene Arten des ‚Gehens‘ mit drei verschiedenen Akteuren das Gerüst: Zu Beginn geht der Geheilte hinaus (ἐξελθών), als Folge dessen kann Jesus nicht mehr öffentlich in eine Stadt hineingehen (εἰσελθεῖν) und deshalb kommen ‚sie‘ von überall her zu ihm (ἤρχοντο πρὸς αὐτόν). Letzteres schlägt einen Bogen zum Anfang der Heilungsgeschichte: Dort war es der Aussät‑ zige, der zu Jesus kam (V. 40, ἔρχεται πρὸς αὐτόν). Die Fäden, die mit ἔρχεσθαι gesponnen werden, binden die Episode auch an früher Gehörtes: Die Folge ‚Weg‑ gehen‘ des Aussatzes (V. 42) – ‚Herausgehen‘ des Geheilten zur Verkündigung erinnert an die Austreibung des unreinen Geistes in der Synagoge zu Kafarnaum: Dort ‚ging‘ zuerst der Dämon ‚heraus‘ (1,26), dann die Kunde Jesu (1,28). Die Nebeneinanderstellung von κηρύσσειν (e) und διαφημίζειν τὸν λόγον (evar) kann als Parallelismus membrorum aufgefasst werden. Im unmittelbaren Kontext lässt sich das Zweite als ‚die Sache‘, nämlich die Geschichte von sei‑ ner Heilung, ‚Verbreiten‘ verstehen. Im Bezug auf das ganze Evangelium wird – λόγος erklingt hier zum ersten Mal – der Gebrauch dieses Lexems in Kombina‑ tion mit ‚sagen‘ als Synonym für ‚lehren‘ vorbereitet; schon zwei Verse später ‚sagt‘ Jesus ‚ihnen das Wort‘ (ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον, 2,2). Sowohl dort als auch hier klingt in den Ohren des markinischen Publikums bei ὁ λόγος wohl dessen Verwendung als „urchristlicher terminus technicus für die missionarische Verkündigung“264 mit. Wie beim Terminus εὐαγγέλιον ist jedoch auch bei λόγος der Unterschied zwischen dem Begriff der frühen Christusgläubigen und dem zu beachten, was er zum aktuellen Stand der Ereignisse auf narrativer Ebene beinhalten kann.265 Wenn der Geheilte hier konkret von dem berichtet, was ihm widerfahren ist, wird es als ‚das Wort‘, das Evangelium vom Reich Gottes (vgl. 1,14 f.), verkündigt; dieses ist in Jesus nahegekommen und hinterlässt Spuren in den Menschen, denen er begegnet.266 Wie schon zu Ende des ersten Bogens (V. 29 – 38) weicht Jesus dem Zustrom der Menge aus und hält sich, hier betont durch den Zusatz ἔξω und verallgemei‑ nert durch den Plural, ‚an einsamen Orten‘ auf. Doch, auch das eine Steigerung und Verallgemeinerung, nicht nur die Jünger verfolgen ihn (V. 36), sondern ‚sie‘ kommen (Durativ ἤρχοντο) von überall her (πάντοθεν, cvar) zu ihm. Die ganze Heilungsgeschichte (V. 40 – 45), die im konkreten Detail so viele Fra‑ gen offen lässt, bekommt ihren Sinn von ihrem Ende her: Es geht nicht um eine historisch verortbare Heilung; Zeit und Ort sind nicht erwähnenswert, die betei‑ 264
Pesch, Mk I, 243. Vgl. Kap. III.1.5., S. 104 f. 266 Vgl. Kap. III.1.5., S. 107. 265
144
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
ligten Personen bleiben anonym und konturlos. Ob der Geheilte die Aufforde‑ rung Jesu befolgt, er solle zum Priester gehen, erfährt man nicht; es ist letztlich unwichtig. Wesentlich an ‚der Sache‘ ist, dass sie eine weitere, im Vergleich zur Heilung der Schwiegermutter des Petrus noch eindrucksvollere Demonstration des ‚Könnens‘, der Vollmacht Jesu, darstellt.267 Wesentlich ist auch der Beitrag des Geheilten zur Verkündigung und zur Ausbreitung des Rufes Jesu gegen des‑ sen Schweigegebot. Damit geht der Reigen kurzer Episoden zu Ende. Das hohe Erzähltempo und das dichte Netz von Wiederholungen und Variationen kreieren ein Bild von Jesus, dessen Verkündigung in Kombination mit seinen durchschlagenden Heilungser‑ folgen für die rasante Ausbreitung seines Rufes oder, anders gesagt, für Bekannt‑ machung ‚des Wortes‘ sorgt. Dieses Wort ‚kommt an‘ – Jesus geht hinaus zu verkündigen, die Leute strömen in Scharen zu ihm. In diesen Szenen konzentriert sich alles darauf; alles Negative ist ausgeblendet. So wenig sich kritische Stim‑ men von Gegnern oder gar offener Widerspruch unter die euphorischen Klänge mischen, so wenig deutet sich hier an, dass der Weg Jesu durch Leiden und Tod führen wird. Aufmerksame Ohren nehmen aber das Paradox von Verkündigung und Schweigegebot als Hinweis darauf wahr, dass mit dieser Darstellung des erfolgreichen charismatischen Predigers und Wundertäters noch nicht das ganze ‚Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes‘ (1,1) erzählt ist. III.2.2.4. Wiederum in Kafarnaum: Wirkmächtige Worte in einem Haus (2,1 – 13a) In dieser Perikope sind etliche Verbformen in Varianten überliefert. Da die diesbezüglichen Entscheidungen der Herausgeber von NA28 nachvollziehbar sind und sich an keiner der betref‑ fenden Stellen bei der Wahl anderer Lesarten Inhalt und Form nachhaltig verändern würden, übernehme ich an diesen Stellen stillschweigend die Lesart von NA28. In V. 3 liegt eine Band‑ breite an verschiedenen Wortreihenfolgen vor;268 auch hier gilt das gerade Gesagte. Über die ursprüngliche Stellung von ἐπὶ τῆς γῆς in der Aussage ἀφιέναι ἁμαρτίας ἐπὶ τῆς γῆς – vor, zwischen oder nach den beiden anderen Worten – in V. 10 ist kaum eine sichere Aussage zu treffen;269 hier folge ich mit NA28 der Lesart von B und Θ. Fünf weitere textkritische Probleme sind erwähnenswert: In V. 2 bietet die Mehrheit der Textzeugen, unter ihnen A, C, D und die altlateinische Überlieferung, nach dem einleiten‑ den καί das von Markus häufig verwendete ‚sogleich‘ (alle in der Form εὐθέως). Die gute Bezeugung – u. a. in ℵ, B, W und vermutlich auch in 𝔓88 – spricht jedoch für dessen Weglas‑ 267 Zwar konnte ‚Fieber‘ damals noch in größerem Maße als heute auch lebensbedrohlich sein, doch Markus bemüht sich anders als Lukas – dieser spricht an der Parallelstelle von einem ‚großen Fieber‘ (πυρετὸς μέγας, Lk 4,38) – nicht darum, die Szene im Haus des Petrus zu dra‑ matisieren (vgl. auch France, Mk, 107). Aussatz hingegen galt in jedem Fall als schwere, oft unheilbare Erkrankung (vgl. Lührmann, Mk, 54; France, Mk, 116). 268 Vgl. Apparat von NA28. 269 Vgl. die ausführliche Darlegung der verschiedenen Forschungsmeinungen im Laufe der Geschichte der Textkritik in Greeven / Güting, 142 – 145.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
145
sung. Die beiden Stellen in V. 4 betreffen die beiden Vorkommen von ὅπου. Da an der ersten Stelle – ὅπου ἦν – unklar ist, ob Jesus oder der Gelähmte Subjekt von ἦν ist, lässt sich das nachfolgende ὁ Ἰησοῦς, das sich in der Mehrheit der Textzeugen findet, als spätere Klärung verstehen. An der zweiten Stelle wird das holprige ὅπου vielfach durch das präzisere ἐφ’ᾧ bzw. ἐφ’οὗ ersetzt, das sich als sekundäre Verbesserung erklären lässt. In V. 8 fehlt in D und W bei τῷ πνεύματι αὐτοῦ das sonst durchgängig bezeugte αὐτοῦ.270 Schließlich ist im gleichen Vers οὕτως gut bezeugt und wird daher in den Text übernommen. Seine Auslassung in B, W, Θ, der altlateinischen Übersetzung und je einer syrischen und einer sahidischen Quelle ist insofern erwähnenswert, weil sie die Form des Textes verändert. Ohne οὕτως (h) fehlt in V. 8 eines der hier wiederholten Elemente aus V. 6 f., die den C‑Teil der Ringkomposition bilden, die so etwas geschwächt wird.
Am Ende des Erzählbogens, der auf die Berufung der ersten Jünger folgte, steht die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten. Vieles aus den vorhergehenden Episoden begegnet den Hörern hier wieder: Wie bereits in der Übersicht über den ersten Hauptteil dargestellt,271 sind in Bezug auf die Wortwahl und auf die Anlage der Geschichte starke Parallelen zur Erzählung von der Austreibung eines unreinen Geistes (1,21 – 29a), die am Anfang dieses Erzählbogens steht, zu erkennen. Einiges aus den ersten Versen – das ‚Haus‘ (οἶκος, 2,1), die vielen, die sich vor dessen Tür versammeln ([ἐπι‑] συνάγειν πρὸς τὴν θύραν, 2,2), diejenigen, die Kranke ‚zu ihm bringen‘ (φέρειν πρὸς αὐτόν, 2,3) – ist als Wiederholung von Wörtern und Formulierungen aus den Krankenheilungen in 1,29 – 34 erkennbar. Zudem wird durch die Wieder‑ aufnahme von Stichwörtern der Erzählfaden der unmittelbar vorangegangenen Heilung des Aussätzigen weitergesponnen: War es gerade eben der Geheilte, der ‚das Wort verbreitete‘ (διαφημίζειν τὸν λόγον, 1,45), so steht nun ‚das Wort sagen‘ für die Lehre Jesu (ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον, 2,2). In paradoxer Weise wird die Aussage, Jesus könne nicht mehr öffentlich ‚in eine Stadt hineingehen‘ (εἰς πόλιν εἰσελθεῖν, 1,45) zu Beginn der neuen Perikope aufgenommen, indem genau das erzählt wird: Jesus geht nach Kafarnaum hinein (εἰσελθὼν πάλιν εἰς Καφαρναούμ, 2,1). Nun kommen die Leute auch hier zu ihm (ἤρχοντο / ἔρχον ται πρὸς αὐτόν, 1,45; 2,3). Schließlich kommt ὥστε μηκέτι sowohl am Ende der vorigen (1,45) als auch am Anfang der neuen Episode (2,2) vor, sonst aber weder im restlichen Markusevangelium noch in anderen neutestamentlichen Schriften. In der vorliegenden Perikope wird das Thema Krankheit / Heilung in zweifa‑ cher Weise mit anderen Themen verknüpft: Zum einen mit der Frage nach der Vergebung der Sünden, zum anderen treten hier erstmals die Schriftgelehrten als Gegner Jesu selbst auf den Plan. Die Wahrnehmung der Struktur von 2,1 – 12 ist im Gefolge Bultmanns und Dibelius’ bei einem Großteil der Exegetinnen von der Annahme bestimmt, die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten (V. 6 – 10) 270
In NA28 nicht erwähnt; vgl. Swanson, Manuscripts, 25. Zur inhaltlichen Relevanz dieser Lesart vgl. Auslegung zu V. 8, S. 152 f. 271 Vgl. Kap. III.2.1., S. 112 f.
146
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 2:1
A B
hjkou/sqh o¢ti e˙n oi¶kwˆ e˙sti÷n kai« sunh/cqhsan polloi« w‚ste mhke÷ti cwrei√n mhde« ta» pro\ß th\n qu/ran
2:2
2:3 2:4
kai« Aei˙selqw»n pa¿lin Bei˙ß Kafarnaou\m di∆hJmerw◊n
[evar]
kai« e˙la¿lei aujtoi√ß to\n lo/gon
a b c1
kai« e¶rcontai fe÷ronteß pro\ß aujto\n paralutiko\n ai˙ro/menon uJpo\ tessa¿rwn kai« mh\ duna¿menoi prosene÷gkai aujtwˆ◊ dia» to\n o¡clon aÓpeste÷gasan th\n ste÷ghn o¢pou h™n kai« e˙xoru/xanteß calw◊si to\n kra¿batton o¢pou boJ paralutiko\ß dkate÷keito
c2 b d 2:5
[k] e b f
2:6
kai« i˙dw»n oJ ∆Ihsouvß th\n pi÷stin aujtw◊n ele÷gei btwˆ◊ paralutikwˆ◊ te÷knon aÓfi÷entai÷ sou ai˚ aJmarti÷ai g h evar
2:7
h™san de÷ tineß tw◊n grammate÷wn e˙kei√ kaqh/menoi kai« dialogizo/menoi e˙n tai√ß kardi÷aiß aujtw◊n ti÷ ou∞toß hou¢twß elalei√ blasfhmei√ i f j
2:8
h gvar e g
2:9
e b f dopp c avar
2:10
k
ivar jvar f+
2:12
h k 2:13
h£ ei˙pei√n e¶geire kai« a°ron to\n kra¿batto/n sou kai« peripa¿tei iºna de« ei˙dhvte o¢ti e˙xousi÷an e¶cei oJ ui˚o\ß touv aÓnqrw¿pou aÓfie÷nai aJmarti÷aß e˙pi« thvß ghvß
dopp c avar j
kai« eujqu\ß e˙pignou\ß oJ ∆Ihsouvß twˆ◊ pneu/mati aujtouv o¢ti hou¢twß gdialogi÷zontai e˙n e˚autoi√ß le÷gei aujtoi√ß ti÷ tauvta dialogi÷zesqe e˙n tai√ß kardi÷aiß uJmw◊n
ti÷ e˙stin eujkopw¿teron, eei˙pei√n btwˆ◊ paralutikwˆ◊ aÓfi÷entai÷ sou ai˚ aJmarti÷ai
e b e dopp c avar+
2:11
ti÷ß du/natai aÓfie÷nai aJmarti÷aß ei˙mh\ ei–ß oJ qeo/ß
l
ele÷gei btwˆ◊ paralutikwˆ◊ soi« le÷gw e¶geire a°ron to\n kra¿batto/n sou kai« u¢page ei˙ß to\n oi•ko/n sou
l
kai« hjge÷rqh kai« eujqu\ß a‡raß to\n kra¿batton ae˙xhvlqen e¶mprosqen lpa¿ntwn
w‚ste e˙xi÷stasqai pa¿ntaß kai« doxa¿zein to\n qeo\n
le÷gontaß o¢ti hou¢twß oujde÷pote kei¶domen
Aopp Bvar kai« Ae˙xhvlqen pa¿lin Bpara» th\n qa¿lassan
Abb. 7: Mk 2,1 – 13a
A
B
C
D
C
B
A
A B
C
C
B A
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 2:1
Und nach ein paar Tagen ging er wieder nach Kafarnaum hinein
2:2
und man hörte über ihn, dass er im Haus sei. Und viele versammelten sich, so dass kein Platz mehr war, nicht einmal mehr vor der Tür. Und er sagte ihnen das Wort.
2:3 2:4
Und es kamen welche, die einen Gelähmten zu ihm brachten, der von vieren getragen wurde. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Leute, deckten sie das Dach ab, wo er war. Und sie rissen es auf und ließen die Liege herunter, wo der Gelähmte lag.
2:5 2:6 2:7
Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er dem Gelähmten: Kind, deine Sünden sind dir vergeben. Es waren aber ein paar von den Schriftgelehrten, die saßen dort und dachten in ihren Herzen: Was spricht dieser so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott?
2:8 2:9
Und sogleich erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sagte zu ihnen: Was denkt ihr dieses in euren Herzen? Was ist einfacher: dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben! oder zu sagen: Steh auf und nimm deine Liege und lauf herum!?
2:10 2:11 2:12
Damit ihr seht, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden: – er sagte (das) zum Gelähmten – Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Liege und geh hin in dein Haus! Und er stand auf, nahm sogleich seine Liege und ging hinaus vor aller Augen, so dass alle außer sich gerieten und Gott lobten und sagten: Nie haben wir so gesehen!
2:13a
Und er ging wieder hinaus ans Meer.
Übersetzung zu Abb. 7
147
148
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
sei in eine ursprünglich reine Heilungserzählung eingefügt worden.272 Auch Deweys rhetorische Analyse dieser Perikope orientiert sich an diesen formkri‑ tischen Annahmen;273 bei ihr bildet die Heilungsgeschichte V. 1 – 5 und V. 11 f. den äußeren Ring, der das Zentrum, den Einschub „Streitgespräch“ umgibt.274 Wie Dewey nehme ich hier konzentrische Strukturen wahr, komme allerdings im Detail zu anderen Ergebnissen,275 da ich nicht von formkritischen Vorgaben, sondern von als Wiederholungen hörbaren Textsignalen ausgehe. Wie schon des Öfteren sind Anfang und Ende durch ‚hinein- und herausgehen‘ markiert, hier jeweils durch ‚wiederum‘ verstärkt (εἰσελθὼν πάλιν + Ortsangabe, A B, V. 1; ἐξῆλθεν πάλιν + Ortsangabe, Aopp Bvar, V. 13a); V. 13a fungiert dabei wieder als Phrasenverschränkung. Innerhalb dieser Inclusio sind drei Abschnitte zu erkennen: Eine kurze Einleitung (V. 1 f.) skizziert die Situation – Jesus ist im Haus, viele Leute kommen, er lehrt. Darauf folgen zwei ausgefeilte Ringkompo‑ sitionen (2,3 – 9; 2,10 – 12). Die erste beginnt mit der Exposition der Heilungser‑ zählung – der Gelähmte wird von anderen auf einer Liege gebracht – und endet mit einer offenen Doppelfrage; die zweite nimmt die beiden Alternativen auf, berichtet die Heilung, endet mit dem Lobpreis Gottes durch ‚alle‘ und ist von einer Inclusio (εἰδῆτε / εἴδομεν, k, V. 10.12) umgeben. 1 f. Auf die kurzen und atemlosen Passagen in 1,29 – 45 folgt nun wieder eine ausführlicher berichtete Begebenheit; die Zeitangabe ‚nach [einigen] Tagen‘ (δι’ ἡμερῶν) setzt eine Zäsur und ermöglicht ein langsameres Erzähltempo. Dennoch ist auch in dieser Episode zweimal εὐθύς zu hören; auch sie gehört noch zum Bericht der rasanten Ausbreitung der ‚Kunde Jesu‘ (1,28). Die einleitenden Verse weisen keine internen Wiederholungen und damit auch keine besondere Form auf. Sie sind vielmehr durch die vielen Bezüge zum bisherigen Text charakte‑ risiert, von denen die meisten oben erwähnt wurden. Wie die Austreibung des unreinen Geistes in einer Synagoge (1,21 – 29a) findet auch diese Heilung expli‑ zit in Kafarnaum statt; nun an der anderen der beiden bisher erwähnten Örtlich‑ keiten, ‚im Haus‘ (ἐν οἴκῳ). War in der Synagoge der ‚Ausgang seiner Kunde‘ (ἐξῆλθεν ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ, 1,28) die Folge des Wunders, ist Jesus mittlerweile so bekannt, dass es die Runde macht, als er wieder in die Stadt kommt: ‚man hört‘ (ἠκούσθη, V. 1), dass er ‚im Haus‘ sei. Ἐν οἴκῳ erlaubt mehrere Interpretationen: Es könnte sich um das einzige bisher erwähnte Haus, das des Simon und des Andreas (1,29), handeln; diese Assoziation liegt aufgrund der Ähnlichkeit der beiden Szenen nahe, die mit dem gleichen Vokabular beschrieben werden: Wie 272
Vgl. etwa Pesch und Lührmann, in deren Kommentaren diese Annahme sogar dazu führt, dass sie zuerst 2,1 – 5.11 f. kommentieren und erst anschließend 2,6 – 10 (Pesch, Mk I, 153 – 169; Lührmann, Mk, 56 – 58). 273 „[. . .] rhetorical criticism builds upon form criticism“ (Dewey, Markan Public Debate, 66). 274 Vgl. a. a. O., 73. 275 Deweys Analyse von 2,1 – 12 vgl. a. a. O., 66 – 70.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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beim ersten Aufenthalt Jesu dort ‚versammeln sich‘ die Leute in großer Zahl ‚vor der Tür‘. Grundsätzlich beinhaltet ἐν οἴκῳ auch die Bedeutung ‚zuhause‘. Bei dieser Variante muss jedoch offen bleiben, was mit einem ‚Zuhause‘ Jesu in Kafarnaum gemeint sein könnte; das Markusevangelium gibt jedenfalls keine weiteren Hinweise. Generell lässt sich feststellen, dass Markus immer wieder unspezifisch ἐν οἴκῳ / οἰκίᾳ bzw. εἰς οἶκον / οἰκίαν (z. T. auch mit Artikel) verwen‑ det, wenn Jesus sich in einem Haus befindet bzw. in eines hineingeht, auch an fernen Orten (vgl. 7,24), an denen Jesus sicher nicht ‚nach Hause‘ geht. Dane‑ ben gibt es eindeutige Situationen, in denen andere Leute ‚nach Hause‘ gehen oder dorthin geschickt werden. Dort findet sich jeweils das Possessivum (z. B. εἰς τὸν οἶκόν σου, 2,11; vgl. 5,19; 7,30; 8,3.26).276 Der Befund und auch die Anlage der Erzählung sprechen dafür, dass es letztlich keine Rolle spielt, ob ein Haus (z. B. in Kafarnaum) als ‚Zuhause‘ Jesu qualifiziert werden kann. Das gilt auch im Blick auf die hier folgenden Ereignisse – die Träger des Gelähm‑ ten müssen einen besonderen Weg finden, um ihn zu Jesus zu bringen. Dafür ist vor allem die Schilderung der konkreten Situation wichtig: Jesus ist in einem Haus, vor dessen Tür so viele Leute stehen, dass niemand mehr zu ihm kommen kann. Die Exposition endet mit der Feststellung, das Jesus den Versammelten ‚das Wort sagt‘ (ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον, V. 2). Nicht nur die Parallele zu 1,21 f., wo Jesus in der Synagoge ‚lehrt‘ (ἐδίδασκεν), sondern v. a. die Verwendung von λόγος in der Auslegung des Sämann-Gleichnisses in 4,14 – 20 und ἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον (4,33) am Ende der Gleichnisrede, die zu Beginn als διδαχή (4,2) bezeichnet wird, zeigen, dass Markus διδάσκειν und λαλεῖν τὸν λόγον synonym verwendet. Jesus lehrt ‚sie‘ ‚im Haus‘. Auf der Straße davor ist vor lauter Men‑ schen kein Durchkommen mehr – die Szene für die nun folgenden Ereignisse ist vorbereitet. 3 – 9 Die erste der beiden Ringkompositionen führt in drei Schritten auf ein Zentrum zu und von dort wieder zum Anfang zurück; die sich spiegelbildlich entsprechenden Abschnitte sind durch Wiederholung von Wörtern oder ganzen Ausdrücken leicht erkennbar: A 3 f. ‚Sie‘ kommen (a) zu ‚ihm‘, sie ‚tragen eine Liege‘ (c1 + 2), der Gelähmte liegt (d) darauf B 5
‚Jesus sagt dem Gelähmten‘ (e b): ‚Vergeben sind deine Sünden‘ (f)
C 6.7a die Schriftgelehrten ‚diskutieren in ihren Herzen‘ (g) ‚was redet dieser?‘ (evar) ‚auf diese Weise‘ (h) D 7b ‚Wer kann‘ (i) ‚Sünden vergeben‘ (f) ‚außer der eine Gott‘ (j) 276
Zur Mehrdeutigkeit von ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ in 2,15 vgl. Kap. III.2.3.2., S. 166 f.
150 C 8
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a sie ‚diskutieren in sich‘ (gvar) ‚auf diese Weise‘ (h) ‚er sagt zu ihnen‘ (e)
9a ‚dem Gelähmten sagen‘ (e b): B ‚Vergeben sind deine Sünden‘ (f) 9b ‚Steh auf‘ (dopp) A ‚trag deine Liege‘ (c) ‚geh herum‘ (avar)
3 f. Die Heilungsgeschichte beginnt damit, dass eine nicht näher benannte Gruppe von Leuten kommt und einen Gelähmten zu Jesus bringen will. Markus schildert die Szene ausführlich: Der Hilfsbedürftige wird ‚getragen von vieren‘ (αἰρόμενον ὑπὸ τεσσάρων). Weil sie ‚wegen der Leute‘ (διὰ τὸν ὄχλον) nicht durchkommen, wählen die Helfer einen Umweg: Sie ‚decken das Dach ab‘ (ἀπεστέγασαν τὴν στέγην), dann reißen sie es auf und lassen die Liege herunter.277 An beide Aktionen schließt sich je ein Nebensatz mit ὅπου an. Die Ergänzung des Dachabde‑ ckens mit ‚wo er war‘ ist doppeldeutig: Ist ‚er‘ der Gelähmte – oder ist es Jesus? Dass sie das Dach an der Stelle abdecken, zu der sie den Gelähmten gebracht haben, ist nicht erwähnenswert; dass sie es dort tun, wo sich Jesus darunter befin‑ det, unterstreicht die Zielgerichtetheit ihres Handelns.278 Der zweite Nebensatz mit ὅπου hängt von τὸν κράβαττον ab. Weithin bezeugt ist die Verbesserung des ungelenken ‚wo der Gelähmte liegt‘ (ὅπου ὁ παραρλυτικὸς κατέκειτο), indem ὅπου durch ἐφ’ᾧ oder ἐφ’οὗ ersetzt wurde.279 Sprachlich mag die hier zugrund‑ gelegte Version mit ὅπου vielleicht holprig erscheinen; sie bringt jedoch etwas zum Ausdruck, was die eleganteren Formulierungen nicht beinhalten: Durch das doppelte ὅπου kommen Jesus und der Hilfsbedürftige zusammen – ‚wo [Jesus] war‘, ist nun auch die Liege, ‚wo der Gelähmte lag‘. Erwähnenswert an diesen Versen ist noch, dass in V. 4 zum ersten Mal ὄχλος für die schon vorher präsente Menge an Menschen verwendet wird. Meistens wird in deutschen Bibelübersetzungen ὄχλος im Markusevangelium mit ‚das Volk‘, ‚die Volksmenge‘, ‚die Menschen‘ oder auch ‚die Menge‘ bzw. ‚viele‘ wiedergegeben; nur selten findet sich ‚die Leute‘.280 Dies eignet sich jedoch gut, um wiederzuge‑ ben, dass mit ὄχλος im Neuen Testament „meist [. . .] eine unorganisierte Menge 277
Genauere Beschreibungen, wie man sich bei der damaligen Bauweise der Häuser das Abdecken und Durchgraben des Daches vorzustellen hat, geben Pesch, Mk I, 155, Anm. 12, und France, Mk, 123. 278 Diese zweite, plausiblere Variante ist in etlichen Manuskripten ab dem 5. Jh. dokumen‑ tiert, die ὅπου ἦν durch den Zusatz ὁ Ἰησοῦς präzisieren. Vgl. Textkritik zu V. 4, S. 145. 279 Vgl. Textkritik zu V. 4, S. 145. 280 Luther 2017 und Elberfelder übersetzen die insgesamt 38 Vorkommen von ὄχλος im Markusevangelium nie mit ‚Leute‘; Menge, Zürcher, BiGS und Basisbibel verwenden es dafür ein- bis dreimal. Häufiger findet sich ‚Leute‘ für ὄχλος in Gute Nachricht und insbesondere in EÜ (sechs bzw. dreizehn Mal), doch in keiner der Übersetzungen ist es das hauptsächlich ver‑ wendete Lexem.
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von Leuten, die nicht durch besonderes Herkommen oder Sitte geprägt und gekenn‑ zeichnet ist“281, bezeichnet wird. Bei ‚Volk‘ schwingt eine ethnische Komponente mit, ‚Menge‘ legt den Fokus auf die Anzahl. ‚Die Leute‘ sind ab jetzt eine der wich‑ tigen Gruppen, die im Markusevangelium auftreten. Wie andere Gruppen – z. B. ‚die Schriftgelehrten‘, ‚die Pharisäer‘, in gewisser Weise auch ‚die Jünger‘ – treten sie als homogene Einheit und nicht als einzelne Individuen auf. Sie strömen zu Jesus; er lehrt sie, sie werden Zeugen seiner Wundertaten und sie erwarten weitere. 5 Markus könnte nun von den Reaktionen der Menschen im Haus auf diese ungewöhnliche Aktion berichten282 – sie erschrecken doch sicher, als die Decke zu bröckeln beginnt, ein Loch bekommt, und dann der Gelähmte in ihre Mitte schwebt. Weichen sie der Liege aus? Was sagen, was rufen sie? Das alles inter‑ essiert den Autor nicht; er fokussiert auf die Reaktion Jesu. Auch bei der Person Jesu steht nicht die äußerliche Reaktion im Vordergrund, sondern das, was er in diesem Geschehen ‚sieht‘ (ἰδών). ‚Sehen‘, das wird sich noch gegen Ende dieser Perikope und später insbesondere in den Kapiteln 4 – 8 zeigen, steht bei Mar‑ kus für das Erkennen.283 Jesus erkennt hier ‚ihren Glauben‘ (τὴν πίστιν αὐτῶν). Αὐτῶν meint sicher die Helfer des Gelähmten; dieser selbst könnte aber auch mit‑ gemeint sein. Wie hier wird πίστις im weiteren Verlauf des Evangeliums immer wieder bei Menschen festgestellt, die für sich oder andere Hilfe bei Jesus suchen und auch erlangen; immer ist es Jesus selbst, der ‚ihren Glauben‘ bemerkt und z. T. auch explizit darauf hinweist.284 Bislang war nur ein einziges Mal, beim ers‑ ten Auftreten Jesu, von ‚glauben‘ die Rede: ‚Glaubt an das Evangelium!‘ (πιστεύ‑ ετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ, 1,15). Hier wird dieser Glaube an die ‚gute Nachricht‘ in der Kreativität und dem Willen zur Überwindung der Hindernisse sichtbar, um den Hilfsbedürftigen zu Jesus zu bringen. Es ist, denkt man an die anderen, die bisher Kranke zu Jesus gebracht haben (1,32), auch der Glaube daran, dass dieser die Kraft besitzt, Krankheiten aller Art zu heilen. Jesus spricht zu dem Gelähmten; in der Anrede ‚Kind‘ (τέκνον)285 schwingt Nähe und Zuwendung mit. Statt, wie zu erwarten wäre, in irgendeiner Weise – z. B. durch eine Frage, ein wunderwirkendes Wort oder eine Berührung – auf die Behinderung des vor ihm Liegenden einzugehen, bringt Jesus einen neuen Faktor ins Spiel: die Vergebung der Sünden. Die Passivform ἀφίενται lässt offen, ob Jesus selbst die Sünden vergibt oder seinem Gegenüber Gottes Vergebung zuspricht. 281
Bietenhard, Volk / ὄχλος, 1325 f. Vgl. auch France, Mk, 123. 283 Vgl. zu den intra- und intertextuellen Bezügen der Motive Sehen und Hören Kap. III.3.1., S. 238; Kap. III.3.3., S. 254 f.; Kap. III.3.4., S. 259 – 263; Kap. IV.3.6., S. 333 f. 284 Vgl. z. B. die blutflüssige Frau, die darauf vertraut, durch eine Berührung des Gewandes Jesu gesund zu werden (5,25 – 34), und den blinden Bartimäus, der unbeirrt um Jesu Erbarmen schreit (10,46 – 52). Ihr ‚Glaube‘ ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass sie Heilung erfahren: ‚Dein Glaube hat dich gerettet.‘ (5,34; 10,52). Vgl. auch die Heilung eines besessenen Knaben in 9,14 – 29; insbes. 9,23 f. 285 Im Markusevangelium sonst nur noch in 10,24 als Anrede, dort im Plural an die Jünger gerichtet. 282
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
6.7a Nun lenkt der Erzähler, hervorgehoben durch die Unterbrechung der καί-Satzanfänge, die Aufmerksamkeit auf die Anwesenheit der Schriftgelehrten (ἦσαν δέ τινες). Die Frage nach der Heilung des Gelähmten wird damit zunächst aufgeschoben. Wurden die Schriftgelehrten in der Synagoge nur erwähnt (1,22), sind sie nun persönlich anwesend. Warum sie ‚im Haus‘ sind und dort sogar ‚sit‑ zen‘, wird nicht thematisiert. Sie kommen zwar auch in dieser Geschichte noch nicht zu Wort, aber Markus lässt seine Hörerschaft wissen, was die Schriftgelehr‑ ten ‚in ihren Herzen debattieren‘: ‚Was spricht dieser auf diese Weise?‘ (Τί οὗτος οὕτως λαλεῖ). Οὕτος und οὕτως (h) klingen gleich und fallen als unmittelbare Doppelung auf. Das so hervorgehobene Adverb trägt durch seine Wiederholung in V. 8 zur Gestalt der Ringkomposition bei und wird auch ganz am Schluss der Perikope nochmals aufgenommen (V. 12). Die Wiederverwendung von λαλεῖν (evar) für ‚sprechen‘ stellt Jesu Aussage über die Sündenvergebung in den Kon‑ text seines gesamten Lehrens (vgl. V. 2). Βλασφημεῖ kann als rhetorische Frage – ‚Lästert er etwa?‘ – verstanden werden; ich bevorzuge die direktere Wiedergabe als Aussage: ‚Er lästert!‘ Bei der ersten Konfrontation werfen die Gegner Jesu diesem Blasphemie vor, das Vergehen, das am Ende zu seiner Verurteilung zum Tod führen wird (vgl. 14,64). 7b Im Zentrum der Ringkomposition steht der Grund für diesen starken Vor‑ wurf; hier liegt eindeutig eine rhetorische Frage vor, auf die nur die Antwort ‚niemand‘ vorgesehen ist: ‚Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott?‘ Diese Frage offenbart, dass zumindest die Schriftgelehrten Jesu Zuspruch an den Gelähmten so verstanden haben, dass er für sich beansprucht, Sünden vergeben zu können. Wie schon in 1,40 steht δύνασθαι (i) auch hier für ‚die Fähigkeit zu / die Macht über etwas haben‘. In εἷς ὁ θεός (j) klingt das Bekenntnis zum Gott Israels (Dt 6,4) an, das auch für den markinischen Jesus seine Gültigkeit behält (vgl. 12,28 – 34). Der Vorwurf der Gegner Jesu lautet also: Indem Jesus ‚auf diese Weise‘ spricht, macht er sich selbst zu Gott. 8 Nun geht es vom Zentrum der Ringkomposition wieder nach außen; V. 8 nimmt Elemente von V. 6.7a wieder auf: das Debattieren der Schriftgelehrten in ihren Herzen bzw. ‚in sich‘ (g, gvar), das Sprechen Jesu (hier λέγειν, e) und οὕτως (h). Doch der Spieß wird nun umgedreht: Jesus ‚erkennt sogleich‘, dass die Schriftgelehrten ‚auf diese Weise‘ (οὕτως) denken, und stellt nun ihnen die Frage ‚Was debattiert ihr dieses in euren Herzen?‘ Die Schriftgelehrten bekommen nicht nur Konturen als Opponenten Jesu, sondern werden auch denen gegenüber‑ gestellt, deren Glauben Jesus ‚sieht‘ (V. 5). Klingt im Zusatz ‚in seinem / durch seinen Geist‘ (τῷ πνεύματι αὐτοῦ) an, dass Jesu Fähigkeit, die verschiedenen Absichten zu erkennen, auf den Geist zurückzuführen ist, der auf ihn in der Taufe herabgekommen ist (1,10)?286 Deutlicher als in der hier zugrunde gelegten Lesart 286
Diese Verbindung stellt auch Collins her (vgl. Collins, Mk, 186). Andere Kommentato‑ ren argumentieren nicht auf intra‑, sondern auf intertextueller Ebene, insbesondere unter Heran‑ ziehung alttestamentlicher Stellen: „Man wird [. . .] mit Anwendung des Theologumenons von
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wird dies in der Version, die die Codices Bezae und Washingtonianus bezeugen; dort fehlt das αὐτοῦ.287 9 In einer zweiten, ebenfalls mit τί beginnenden Doppelfrage – ‚was ist einfa‑ cher?‘ – werden die beiden letzten Schritte zurück zum Anfang der Ringkomposi‑ tion vollzogen. V. 9b nimmt zwei Ausdrücke aus V. 5 auf; Jesus präsentiert als erste Möglichkeit, dem Gelähmten genau das zu sagen (εἰπεῖν τῷ παραλυτικῷ, e b), was er ihm vorhin gesagt hat: ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι (f). Die Alternative (V. 9c), die er bietet, greift die zu Beginn (V. 2 f.) beschriebene Situation des Gelähmten auf: Der, der vor ihm liegt (κατέκειτο, d), soll aufstehen (ἔγειρε, dopp). Der, der von anderen auf einer Liege getragen wurde (c1 + 2), soll nun seine Liege selber tragen (ἆρον τὸν κράβαττόν σου, c). Statt dass andere ‚kommen‘ (ἔρχονται, a), soll er sel‑ ber ‚umhergehen‘ (περιπάτει, avar). Die Alternative zur Sündenvergebung ist also die Heilung des Gelähmten – der Grund, weswegen er zu Jesus gebracht wurde. Was ist einfacher ‚zu sagen‘? Der Unterschied zwischen dem Zuspruch der Sündenvergebung und der Heilung liegt nicht in der ‚Sagbarkeit‘, sondern darin, dass die Wirksamkeit des Sagens im ersten Fall verborgen bleibt, im zweiten offenbar wird. 10 – 12 An diese Frage der Nachweisbarkeit knüpft die zweite Ringkomposition an. Sie wird eingeleitet mit ‚damit ihr seht‘ (ἵνα δὲ εἰδῆτε, V. 10a), sie endet mit dem Bekenntnis ‚aller‘, ‚noch nie auf diese Weise gesehen zu haben‘ (οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν, V. 12c). Anders als in V. 3 – 9 steht hier kein einzelnes Element im Zentrum, sondern die drei Aufforderungen Jesu (C), die der Angesprochene ausführt (C). A
10a ‚damit ihr seht‘ (k)
10b ‚der Menschensohn‘ (jvar) B ‚hat Vollmacht, Sünden zu vergeben‘ (ivar f) C
11 ‚Steh auf, nimm deine Liege und geh‘ (dopp c avar)
C
12a ‚er stand auf, nahm seine Liege und ging‘ (dopp c a)
B A
12b ‚alle lobten Gott‘ (j)
12c ‚wir sehen‘ (k)
Gott als dem Herzenskenner [. . .] auf den Menschensohn Jesus [. . .] rechnen.“ (Pesch, Mk I, 159; sachlich vergleichbar sind Dschulnigg, Mk, 93; Marcus, Mk I, 222). 287 Vgl. Textkritik zu V. 8, S. 145. Auch das Schriftbild etlicher früher Codices zeugt davon, dass πνεῦμα mit dem ‚Heiligen Geist‘ in Verbindung gebracht wurde. Sie kürzen das Wort als Nomen sacrum ab und schreiben ΠΝΑ bzw. ΠΝ‑ mit entsprechenden Kasusendungen. ℵ, D und W kürzen allerdings alle Vorkommen ab – auch dort, wo von ‚unreinen Geistern‘ die Rede ist. A differenziert (nicht ganz konsequent) und verwendet das Nomen sacrum nur dort, wo explizit oder implizit der Geist Gottes gemeint ist (auch in Mk 2,8 findet sich die Abkürzung). B kürzt in Mk nur in der Verbindung mit ἅγιον ab (Mk 1,8; 12,36; in 13,11 ist τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον aus‑ geschrieben). Zu beachten ist natürlich, dass nur der Vorleser dieses visuelle Textsignal wahr‑ nimmt. Es liegt in seiner Verantwortung, ob und, wenn ja, wie er die damit verbundenen Asso‑ ziationen in seiner Interpretation hörbar macht.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
10 War es in V. 5 Jesus, der den Glauben derer ‚sah‘, die ihm die Heilung des Gelähmten zutrauten, sollen nun andere ‚sehen‘ (ἵνα δὲ εἰδῆτε, k). Da er im Gespräch mit den Schriftgelehrten steht, sind mit ‚ihr‘ zunächst einmal sie gemeint. Auch ‚die Leute‘ (V. 4) sind anwesend; so ist gut vorstellbar, dass Jesus schon seine Doppelfrage (V. 9 f.) an alle richtet, oder spätestens jetzt alle Zuhörer anspricht. Sie sollen das erkennen, was eigentlich nicht nachweisbar ist: ‚dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden.‘ Der Auftakt zur zweiten Ringkomposition ist in enger Anlehnung an die rhetorische Frage formu‑ liert, die im Zentrum der ersten stand: 7 10 i f j
τίς δύναται ivar ἀφιέναι ἁμαρτίας jvar εἰμὴ εἷς ὁ θεός f+
ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἀφιέναι ἁμαρτίας ἐπὶ τῆς γῆς
Hier wird offensichtlich, dass δύνασθαι und ἐξουσίαν ἔχειν synonym verwen‑ det werden. Mit der Sündenvergebung (f) steht ein Machtbereich zur Debatte, der nach der durchaus schriftkonformen288 Meinung der Schriftgelehrten explizit Gott (j) vorbehalten ist. Zum ersten Mal ist hier der Ausdruck ‚der Menschen‑ sohn‘ (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, jvar) zu hören; aus dem unmittelbaren Kontext geht unmissverständlich hervor, dass Jesus hier in der 3. Person von sich selbst spricht. Ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ist in allen Evangelien prominent als die hauptsächliche Selbstbezeichnung Jesu vertreten.289 Wie schon bei χριστός, κύριος und υἰὸς θεοῦ, so fehlt auch hier wieder eine Erklärung. Ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου unterschei‑ det sich allerdings insofern von diesen Titeln, dass es für die „Christologie“ des Paulus keine Rolle spielt; er verwendet es in seinen Schriften kein einziges Mal, sodass es schwierig zu beurteilen ist, ob diese Bezeichnung auch zum Soziolekt der frühen Christusgläubigen gehörte.290 Auch im Ringen der folgenden Jahrhun‑ derte um die Formulierung der Grundlagen des christlichen Glaubens spielt sie keine Rolle.291 Die Enzyklopädie im Kopf der Exegetin sorgt dafür, dass ihr bei der Erwähnung dieses Titels zuerst die exegetischen Diskussionen des 20. Jahr‑ hunderts um dessen Bedeutung in den Sinn kommen: Knüpft ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώ‑ που292 an Daniels Menschensohn-Vision (Dan 7,13 f.) an? Das wäre naheliegend; 288
Vgl. Vorländer, Vergebung, 1264. Nur in Joh 12,34 ist ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου nicht aus dem Munde Jesu zu hören; dort fragt das Volk Jesus, wer dieser Menschensohn sei, von dem er spreche. 290 Schweizer und A. Collins postulieren, dass der Grund für den Nicht-Gebrauch darin liegen könnte, dass dieser Semitismus für das pagane Publikum des Paulus unverständlich gewesen sei und er ihn deshalb gemieden habe (vgl. Schweizer, υἱός, 372; A. Collins, Jesus as Messiah, 104). 291 Vgl. die Formulierungen der frühchristlichen Glaubensbekenntnisse; dort finden sich Jesus Christus, Sohn Gottes (bzw. „sein einziggeborener Sohn“) und Herr, aber nicht Men‑ schensohn. 292 Mit einer Ausnahme (υἱὸς ἀνθρώπου, Joh 5,27) in den Evangelien immer mit beiden Artikeln, darüber hinaus im Neuen Testament nur noch in Apg 7,56 (mit beiden Artikeln), Hebr 2,6; Offb 1,13; 14,14 (jeweils wie in Joh 5,27). 289
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dieser Text war offensichtlich zur Zeit Jesu wohlbekannt; verschiedene jüdische Texte greifen ihn auf, entwickeln seine Linien weiter und kombinieren sie mit anderen Konzepten, insbesondere mit messianischen Vorstellungen.293 Klingt darin vielleicht die im Buch Ezechiel unzählige Male von Gott an den Propheten gerichtete Anrede υἱὲ ἀνθρώπου an, die dessen Kreatürlichkeit betont, die ihn von dem unterscheidet, dessen Wort er verkündigt (καὶ σύ, υἱὲ ἀνθρώπου, εἰπόν Τάδε λέγει κύριος, Ez 7,2LXX)?294 Oder steht dahinter eine ins Griechische übersetzte aramäische bzw. hebräische Formel für ‚irgendjemand‘ oder für ‚der Mensch im Allgemeinen‘?295 Diese Fragen nach intertextuellen Wiederholungen sind durch‑ aus relevant, doch liegt im Blick auf die Komposition des Markusevangeliums eine andere viel näher: Warum nennt der Autor, der Jesus als ‚Sohn Gottes‘ einge‑ führt hat, ihn nun auf einmal ‚Menschensohn‘?296 Er tut das ausgerechnet in einer Aussage Jesu, in der dieser, wie die Parallelität von V. 7 und V. 10 zeigt, für sich das beansprucht, was die Schriftgelehrten für Blasphemie halten: Er, ‚der Men‑ schensohn‘ (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, jvar) kann wie ‚der eine Gott‘ (εἷς ὁ θεός, j) Sünden vergeben. Um diese Nähe klanglich zu unterstreichen, wäre zweifellos die Bezeichnung ‚Sohn Gottes‘ geeigneter gewesen, statt hier einen neuen Titel einzuführen, der gleich konstruiert ist – υἱός + Genitiv –, aber nicht ‚Gott‘, son‑ dern den ‚Menschen‘ hörbar macht. Später im Evangelium etabliert auch Markus zudem den Gegensatz θεός – ἄνθρωπος (7,8; 8,33; 10,27), der an die Gegenüber‑ stellung von κύριος und ἄνθρωπος bei Ezechiel erinnert.297 Gott und Mensch scheinen unvereinbar zu sein298 – und doch bringt der Evangelist im Votum des Hauptmanns unter dem Kreuz genau das schließlich zusammen: ‚Dieser Mensch 293
Vgl. J. Collins, Messiah and Son of Man, 78.86.94.97.100. Vgl. zur Diskussion des hebräischen Pendants בן־אדםin Ezechiel (die Septuaginta über‑ setzt hier konsequent mit υἱὸς ἀνθρώπου) Zimmerli, Ez I, 70; Greenberg, Ez I, 89. Die zitierte Gegenüberstellung von υἱὲ ἀνθρώπου zum κύριος mit der Formel Τάδε λέγει κύριος (Ez 7,2), mit der Ezechiel seine Prophezeiungen einleiten soll, findet sich auch in 20,3.27; 21,14.33; 28,2.12; 30,2; 34,2; 37,9; 38,14; 39,1.17; 43,18; dazu kommen einige ähnliche Formulierungen (vgl. 11,2; 13,2; 23,36; 36,1; 37,11; 44,5), in denen der Prophet und Gott sich als angesproche‑ ner υἱὲ ἀνϑρώπου und sprechender κύριος gegenüberstehen. Auch Zimmerli betont (in Bezug auf den hebräischen Text) diese Gegenüberstellung, jedoch ohne Verweis auf diese direkte, hörbare Konfrontation von אדםmit יהוה: „Der Akzent liegt [. . .] auf אדם, zu dem unausgespro‑ chen das Gegenwort ( אלJes 313 Ez 282) mitgehört werden muss.“ (Zimmerli, Ez I, 70). 295 A. Collins bietet einen ausführlichen Überblick über die forschungsgeschichtliche Ent‑ wicklung dieser Theorie, deren Hauptproblem darin liegt, dass es weder im Griechischen noch im Aramäischen oder Hebräischen einen exakt entsprechenden Ausdruck gibt (vgl. A. Collins, Jesus as Son of Man, 149 – 174, insbes. 156 – 166). 296 Die einfachste und durchaus auch plausible Antwort der klassischen historisch-kriti‑ schen Exegese lautet, dass Markus diese Bezeichnung im Material, das er vorliegen hatte, vor‑ gegeben war (vgl. etwa Hare, Son of Man Tradition, 189). Aus einer synchronen Perspektive auf den Text stellt sich unabhängig davon, ob diese These vertreten oder verworfen wird, die Frage, welche textinternen Interpretationslinien sich für diesen Titel ergeben. 297 Vgl. Marcus, Mk I, 528. 298 Vgl. Chronis, To Reveal, 477; Boring, Markan Christology, 459. 294
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war wirklich Gottes Sohn.‘ (ἀληθῶς οὗτος ὁ ἄνθρωπος υἱὸς θεοῦ ἦν, 15,39). Dieses Paradox, das sich schon in der Ouvertüre ankündigt,299 wird auch hier bei der Einführung von ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου offenbar und ein paar Episoden später (2,28) bestätigt: Der Menschensohn ist es, der in göttlicher Vollmacht spricht und wirkt. Nach diesem zweifachen Auftakt dauert es lange, bis ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώ‑ που wieder zu hören ist; erst nach dem Petrusbekenntnis, das eine erste Stufe der Erkenntnis – die der göttlichen Identität Jesu – markiert,300 kommt es wieder ins Spiel, nun in höherer Frequenz und verbunden mit Leiden und Tod, aber auch mit der Auferstehung Jesu (8,31; 9,9.12.31; 10,33.45; 14,21.41). Drei weitere Stellen, die sich ebenfalls im Mittelteil ‚auf dem Weg‘ und in Kap. 13 f. finden (8,38; 13,26; 14,62), sprechen in Aufnahme apokalyptischer Redeweise vom erst noch kommenden Menschensohn, wobei der Wortlaut in 13,26 und 14,62 einige Anklänge an die oben genannten Verse aus der Vision Daniels aufweist. Doch auch schon bei der ersten Erwähnung von ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου lohnt sich ein Blick auf Dan 7,13 f.LXX:301 13 Ἐθεώρουν ἐν ὁράματι τῆς νυκτὸς καὶ ἰδοὺ ἐπὶ τῶν νεφελῶν τοῦ οὐρανοῦ ὡς υἱὸς ἀνθρώπου ἤρχετο, καὶ ὡς παλαιὸς ἡμερῶν παρῆν, καὶ οἱ παρεστηκότες παρῆσαν αὐτῷ. 14 Καὶ ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία, καὶ πάντα τὰ ἔθνη τῆς γῆς κατὰ γένη καὶ πᾶσα δόξα αὐτῷ λατρεύουσα· καὶ ἡ ἐξουσία αὐτοῦ ἐξουσία αἰώνιος, ἥτις οὐ μὴ ἀρθῇ, καὶ ἡ βασιλεία αὐτοῦ, ἥτις οὐ μὴ φθαρῇ.302 ‚Ich sah in einem nächtlichen Gesicht, und siehe, auf den Wolken des Himmels kam er wie ein Sohn eines Menschen, und wie ein Alter [an Tagen] war er gegenwärtig, und die, die dabei stan‑ den, waren mit ihm gegenwärtig. Und ihm wurde gegeben Vollmacht und alle Völker der Erde nach [ihren] Arten und alle Herrlichkeit dienten ihm;303 und seine Vollmacht [war] eine ewige Vollmacht, die nie aufgehoben werden wird, und sein Königreich [war eines], das nie zerstört werden wird.‘304
Wie bei Daniels Menschensohn-Vision steht auch im ersten Menschensohn-Wort des markinischen Jesus das ‚Sehen‘ prominent am Anfang (ἵνα δὲ εἰδῆτε, k). Während gegen Ende des Evangeliums das Sehen des kommenden Menschen‑ sohnes in der Zukunft liegt (τότε ὄψονται, 13,26; ὄψεσθε, 14,62) und dann seine ‚Macht und Herrlichkeit‘ (δύναμις καὶ δόξα, 13,26) offenbar sein wird, geht es hier um den sichtbaren Nachweis der ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία) dessen, der schon gekommen ist. Die eschatologische Figur, die in Daniels Vision ‚wie ein Sohn eines Menschen‘ erscheint, ist mit einer umfassenden, ‚ewigen Vollmacht‘ aus‑ 299
Vgl. Kap. III.1.4., S. 96 f. Vgl. Kap. IV.5., S. 360. 301 Vgl. Marcus, Mk I, 531. Anders hingegen A. Collins: „In the depiction of Jesus as the authoritative Son of Man in chapter 2, there is no obvious allusion to Daniel.“ (A. Collins, Jesus as Son of Man, 150). 302 Rahlfs bietet für Daniel zwei unterschiedliche Lesarten (LXX und die Übersetzung des Theodotion aus dem 2. Jh.); hier ist die LXX-Version wiedergegeben. Die Theodotion-Lesart, die dem masoretischen Text nähersteht, ist zwar in vielem anders, bietet jedoch die hier wesent‑ lichen Punkte in vergleichbarer Weise. Hervorhebungen d. Vfn. 303 Λατρεύειν meint insbesondere, Gott zu dienen (vgl. LSJ s. v. λατρεύω, 3.) 304 Hervorhebungen d. Vfn. 300
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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gestattet. Der Zusatz ἐπὶ τῆς γῆς scheint die Vollmacht Jesu ‚auf die Erde‘ einzu‑ schränken.305 Es ist jedoch – gerade auch auf dem Hintergrund von ‚allen Völ‑ kern auf der Erde‘, die dem Menschensohn in Dan 7,14 dienen – plausibler, ihn als Hinweis darauf zu verstehen, dass Jesus als der von Gott mit ‚ewiger Voll‑ macht‘ Ausgestattete die Gott vorbehaltene Sündenvergebung auf der ganzen Erde ausüben kann.306 Ohren, die den Bezug zur Danielstelle herstellen, nehmen also auch im Menschensohn Frequenzen wahr, die den Bereich des Menschlichen und des menschlich Möglichen bei Weitem übersteigen. Dennoch, das Paradox bleibt bestehen; es ist weder möglich noch nötig, zu entscheiden, welche der genannten Anspielungen die vom Autor intendierten wären. In seiner pointierten Einführung – dort, wo man υἰὸς θεοῦ erwarten würde und wo sich der marki‑ nische Jesus anmaßt, gottgleich handeln zu können – ist ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου mehrstimmig angelegt.307 Die direkte Rede Jesu bricht abrupt ab; λέγει τῷ πραραλυτικῷ (e b) kann nur aus dem Munde des Erzählers stammen – oder alternativ als Regieanweisung an den Vortragenden verstanden werden, der sich von den imaginären Schriftgelehr‑ ten nun wieder dem imaginären Gelähmten zuwenden soll. In heutigen „Partitu‑ ren“ stünde vielleicht: (an den Gelähmten gerichtet). Wurden diese Worte für das Publikum gar nicht hörbar? Aus heutiger Warte ist das kaum zu entscheiden; der Text funktioniert im lebendigen Vortrag jedenfalls ohne sie.308 11 Auch aus der Fortsetzung der direkten Rede Jesu wird deutlich, dass er sich nun an eine Einzelperson wendet. Das ‚Sagen‘ (σοὶ λέγω, e) leitet, wie schon in der Doppelfrage Jesu (εἰπεῖν, V. 9), das dort als Alternative zur Sündenvergebung gebotene Heilungswort ein. Indem Jesus das Selbstverständliche – er spricht zum Gelähmten – benennt, unterstreicht er, dass das Folgende sein ‚Gesagtes‘, sein Wort ist, das seine Wirkmächtigkeit erweisen muss. Wurden in der Doppelfrage der Zuspruch der Sündenvergebung und das Hei‑ lungswort gegeneinander gesetzt – das eine oder das andere –, werden nun die beiden Möglichkeiten des Sagens aufeinander bezogen: Damit die Sündenver‑ gebung oder vielmehr Jesu Vollmacht zu deren Vollzug ‚sichtbar‘ wird, spricht er zum Gelähmten die Worte, die ihn von seinem körperlichen Leiden befreien sollen. Genauer betrachtet ist es kein Heilungswort, sondern sind es drei Auf‑ 305 Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht; die Textüberlieferung zeigt, dass der Zusatz hin- und hergeschoben wurde; viele Textzeugen haben ihn vor ἀφιέναι ἁμαρτίας, manche zwi‑ schen diesen beiden Wörtern; W und zwei altlateinische Zeugen lassen ihn gar weg. 306 So auch insbes. France, Mk, 129. 307 Auch Hare hält für Mk 2,10 zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten für gleich‑ berechtigt; der Kontext lasse sowohl die Konnotation „eschaotological redeemer figure“ zu als auch die Einschätzung, „that it bears no conceptual connotation at all“ (Hare, Son of Man Tradition, 190). 308 Dewey misst λέγει τῷ παραρλυτικῷ eine andere und wesentlich höhere Bedeutung zu: Sie sieht die beiden Vorkommen dieser Phrase in V. 5 und in V. 10 als Textsignale, die den Rah‑ men um das in die Heilung eingefügte Streitgespräch hervorheben (vgl. Dewey, Markan Public Debate, 68 f.).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
forderungen, die, werden sie befolgt, eine Heilung bereits bestätigen: ‚Steh auf, nimm deine Liege und geh‘. Die Formulierung aus V. 9 wird fast wortwörtlich wiederholt; einzig beim dritten Imperativ wird περιπάτει durch ὕπαγε ersetzt und dieses mit einem ‚nach Hause‘ (εἰς τὸν οἶκόν σου) ergänzt. 12 Das Wunderwort wirkt: Der Geheilte folgt den drei Aufforderungen ‚sogleich‘;309 wieder werden die ersten beiden, nun im Indikativ bzw. als Par‑ tizip, wiederholt, wieder wird für das Gehen ein neues Verb mit einem neuen Zusatz verwendet. Auch an anderen Stellen findet sich die praktisch wörtliche Wiederholung von Aufforderungen Jesu bei deren Umsetzung, bisher etwa bei der Berufung der ersten Jünger (ὀπίσω μου / αὐτοῦ, 1,17.20), bei der Austreibung des unreinen Geistes (ἔξελθε ἐξ αὐτοῦ / ἐξῆλθεν ἐξ αὐτοῦ, 1,25.26) und bei der Heilung des Aussätzigen (καθαρίσθητι / ἐκαθαρίσθη, 1,41.42); Markus scheint dies als Stilmittel einzusetzen, um die Wirkkraft des Wortes Jesu darzustellen; Menschen, Geister und andere Kräfte tun genau das, was Jesus ihnen befiehlt. Hier kommen im Zentrum der Ringkomposition das vollmächtige Wort und seine unmittelbare Wirkung zu stehen. Die letzte Handlung schließt den Bogen zum Anfang der Heilungsgeschichte: Jetzt kann der, der mit der Hilfe anderer zu Jesus gekommen ist (ἔρχονται [. . .] πρὸς αὐτόν, a, V. 3), selbst ‚hinausgehen‘ (ἐξῆλθεν, avar). Der Zusatz ‚vor aller Augen‘ (ἔμπροσθεν πάντων, l) führt zum Ende der Episode: ‚Alle‘ haben die Heilung und damit die Vollmacht des ‚Menschensohnes‘ erlebt; deshalb geraten ‚alle‘ außer sich und ‚preisen Gott‘ (πάντας [. . .] δοξάζειν τὸν θεόν); Lobpreis Gottes als Reaktion auf eine Heilung begegnet im Markusevangelium nur hier – in der Geschichte, in der es um den Anspruch Jesu geht, derjenige zu sein, der ‚außer Gott‘ Sünden vergeben kann. Ganz offensichtlich erkennen die Augen‑ zeugen in Jesu wirkmächtigem Wort Gott selbst am Werk. Das, was sie über ihr ‚Sehen‘ sagen, wird als ‚Lob Gottes‘ qualifiziert. Das ‚Sehen‘ (k) schlägt den Bogen zum Anfang der Ringkomposition. In der Formulierung ‚auf diese Weise haben wir noch nie gesehen‘ (οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν, h k), die auf das ‚auf diese Weise reden‘ (h evar) aus V. 7 und 9 anspielt, klingt ein Staunen mit und auch eine Ahnung davon, etwas ganz neu, mit anderen Augen gesehen zu haben. Ob ‚alle‘ tatsächlich erkennen, ‚dass der Menschensohn die Vollmacht hat, auf Erden Sün‑ den zu vergeben‘ (V. 10), wird nicht berichtet. Offen bleibt zudem, ob auch die Schriftgelehrten in dieses Gotteslob eingestimmt haben; eigentlich skizziert Mar‑ kus sie ja in Opposition zu Jesus. Beim ersten ‚alle‘ (ἔμπροσθεν πάντων) müssen sie ja mitgemeint sein – warum nicht auch beim zweiten?310 Es ist zumindest festzuhalten, dass von ihnen keine andere Reaktion berichtet wird. 309
Nimmt man es genau, geschieht nur das Aufheben der Liege ‚sogleich‘. Die bisherigen Vorkommen von εὐθύς legen jedoch nahe, dass diese Zeitangabe oft nicht einer ganz bestimm‑ ten Handlung zuzuordnen ist, sondern dieses in 1,16 – 2,13a häufige verwendete Adverb generell die rasche Folge der Ereignisse unterstreicht. 310 So auch Dschulnigg, Mk, 95, und Klumbies, Heilung eines Gelähmten, 237.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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Die Auslegung der Perikope von der Heilung des Gelähmten auf Basis der Wahr‑ nehmung der hörbaren Textgestalt bestätigt andere Exegesen, die ebenfalls die Frage nach der Vollmacht Jesu als deren zentrales Thema ausmachen,311 und schärft dabei manche Konturen: Im Zentrum der ersten Ringkomposition steht die rhetorische Frage der Schriftgelehrten, wer außer Gott Sünden vergeben kann. Dieses ‚Können‘ nimmt Jesus in V. 10 explizit für sich in Anspruch, indem er diese Frage aufgreift und mit ‚der Menschensohn‘ beantwortet. Zum einen klin‑ gen in dieser Selbstbezeichnung Obertöne von ‚Vollmacht‘ und Bevollmächti‑ gung durch Gott mit, zum anderen fungiert sie als „paradoxical incognito“312 des Gottessohnes313 und unterstreicht die Ungeheuerlichkeit des Anspruchs, den dieser Mensch Jesus erhebt. In der Mitte der zweiten Ringkomposition steht der Erweis der Vollmacht Jesu: Er spricht – und es geschieht. Das bestätigt die Auto‑ rität, die generell hinter seinem Reden steht (V. 2; vgl. auch 1,22.27), in dieser Szene konkret hinter dem Zuspruch der Sündenvergebung (V. 5). Sündenvergebung und Heilung werden hier miteinander verbunden, wobei der Frage danach, ob und wie Krankheit und Sünde zusammenhängen, nicht weiter nachgegangen wird; Markus thematisiert sie auch nicht an anderer Stelle. Viel‑ mehr dient die ‚sichtbare‘ Heilung der Krankheit zum Erweis des Unsichtbaren: sein ‚Können‘, seine kaum in Worte zu fassende Nähe zu Gott. Mit den Schriftgelehrten treten erstmals Gegner Jesu auf, zudem hört man neu von ‚den Leuten‘ (ὁ ὄχλος), die über den größten Teil des Evangeliums auf der Seite Jesu stehen. Beide Gruppen waren vorher schon auf unterschiedliche Weise präsent: Die Schriftgelehrten wurden schon in der Synagoge erwähnt (1,22), im gleichen Vers hatten die Leute implizit – als undefiniertes Subjekt von ἐξεπλήσ‑ σοντο – ihren ersten Auftritt und waren seither unter anderen Bezeichnungen (z. B. ἅπαντες, 1,27; ὅλη ἡ πόλις, 1,33) an vielen Episoden beteiligt. Ein Akzent, der, soweit ich sehen kann, in anderen Auslegungen kaum zur Geltung kommt,314 liegt auf dem ‚Sehen‘ (vgl. zu V. 10 und 12); ein Thema, das in den Kapiteln 4 – 8 immer dringlicher wird und schließlich in der ersten Blin‑ 311
Vgl. Pesch, Mk I, 162; Lührmann, Mk, 58; Collins, Mk, 185 f.; Dewey, Markan Public Debate, 73; Scholtissek, Vollmacht Jesu, 167. 312 Chronis, To Reveal, 459. 313 Dies wird insbesondere in 8,38 deutlich, wo vom Vater des Menschensohnes die Rede ist. 314 Vermutlich spielt dabei der „formgeschichtlich geprägte Blick“ eine Rolle, der V. 7 – 10 als Einschub wahrnimmt und so verhindert, ἵνα δὲ εἰδῆτε (V. 10) und οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν (V. 12) im Zusammenhang wahrzunehmen. Lührmann und Dewey gehen auf das Sehen an bei‑ den Stellen nicht ein (Lührmann, Mk, 57 f.; Dewey, Markan Public Debate, 68 – 70); bei an‑ deren gilt ‚damit ihr seht‘ als „Demonstration“ (Pesch, Mk I, 160; Collins, Mk, 186), in V. 12 wird das Sehen unter den für Heilungen typischen „Chorschluss“ (Pesch, Mk I, 157; Collins, Mk, 189) subsummiert. In Ansätzen geht France, der das Sehen in V. 10 übergeht, auf οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν in V. 12 ein: „In terms of physical healing, of course, they have already seen similar things (1:32 – 34), but this time the declaration of the forgiveness of sins, and Jesus’ bold defence of his right to do so, has added a new dimension.“ (France, Mk, 129; Hervorhebung im Original).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
denheilung (8,22 – 26) gipfelt. Jesus selbst ist es, der durch sein wirksames Wun‑ derwort eine Facette von dem sichtbar macht, was ihn ausmacht. Die Rede vom „Messiasgeheimnis“ im Markusevangelium hat natürlich ihre Berechtigung; den‑ noch ist festzuhalten, dass auch die Offenbarung dieses Geheimnisses auf narrati‑ ver Ebene von Anfang an miterzählt wird.315 Die vorliegende Perikope zeigt in besonderer Weise, dass die Wahrnehmung der Form aus der ‚Partitur‘ auch entscheidend dafür ist, wie der Text vorgetragen wird: Lege ich meinem Vorlesen die beiden Ringkompositionen zugrunde, werde ich mir überlegen, welche Mittel – Sprechtempo, Betonungen, Pausen etc. – ich einsetzen kann, um die zentralen Aussagen in V. 7b und V. 11.12a zur Geltung zu bringen und das ‚Sehen‘ hörbar zu machen. Letzteres lässt sich z. B. realisieren, indem die Doppelfrage in V. 9 erst einmal verklingen darf, bevor nach einer Pause und vielleicht mit besonderer Betonung mit ἵνα δὲ εἰδῆτε die nächste Ringkom‑ position eingeleitet wird. III.2.2.5. Zusammenfassung der Exegese zu Mk 1,16 – 2,13a Am Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit erweist sich Jesus als einer, der ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία, 1,22.27; 2,10) hat: Gleich zu Beginn genügt sein ‚Auf! Hinter mir her!‘ (1,17), damit vier Männer Beruf und Familie verlassen, um ihm nachzufolgen. Durch sein Wort werden Dämonen in die Flucht geschlagen (1,25), Kranke geheilt (2,11), zu ihm kommen die Menschen in Scharen. Alle wesentli‑ chen Protagonisten bzw. Personengruppen haben hier ihren ersten Auftritt: Zuerst die Jünger Jesu, dann ‚die Leute‘, darunter viele Hilfsbedürftige, mit den Schrift‑ gelehrten und mit den Dämonen die sichtbaren und die unsichtbaren Gegner Jesu. Nicht weniger als elf Mal ist εὐθύς zu hören; alles geht Schlag auf Schlag und die Kunde Jesu breitet sich rasant aus. Jesus selbst geht unterschiedlich damit um: Er lehrt und heilt öffentlich, zieht sich aber immer wieder an einsame Orte zurück, er verbietet den Dämonen zu sprechen, ‚weil sie ihn kennen‘ (1,34), heilt aber den Gelähmten, damit seine Vollmacht sichtbar wird (2,10). Konkrete Situationen mit individuellen Personen wechseln sich ab mit allgemeinerer und abstrakterer Erzählweise. Jesu Zuwendung gilt dem Einzelnen – gleichzeitig ist er für ‚alle‘ von ‚überall‘ gekommen. Die wahrgenommene Form lässt sich sinnvoll interpretieren: Die Berufung der ersten Jünger (1,16 – 20) ist der Auftakt; die darauf folgende Szene in der Syna‑ goge (1,21 – 29a) bildet mit der letzten Szene im Haus (2,1 – 13a) einen Rahmen um eine rasche Folge kurzer Episoden (1,29 – 45). Die beiden Rahmenperikopen spielen in Kafarnaum und sprechen explizit von der ἐξουσία Jesu. Sie haben auch sonst viele Gemeinsamkeiten: Beide Male lehrt Jesus die Leute, als ein Hilfsbe‑ dürftiger zu ihm kommt; die Wunder finden coram publico statt. Die Vollmacht seines Redens erweist sich in der Wirksamkeit seiner Worte, die Dämon und 315 Hahn spricht vom „Ineinander von Verborgensein und Offenbarwerden“ (Hahn, Theo‑ logie I, 513).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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Krankheit vertreiben. Jesus wird nur vom unreinen Geist, der zum Schweigen gebracht wird, als ‚der Heilige Gottes‘ erkannt (1,24 f.); er selbst bezeichnet sich öffentlich mit dem ambivalenten Titel ‚der Menschensohn‘ (2,10). Die Schriftge‑ lehrten werden in Opposition zu ihm dargestellt: Ihre Lehre ist nicht vollmächtig (1,22) und sie halten den Anspruch Jesu, über Vollmacht zur Sündenvergebung zu verfügen, für Blasphemie (2,7). In der ersten Episode ist der Exorzismus der Auslöser dafür, dass sich der Ruf Jesu (ἡ ἀκοὴ αὐτοῦ, 1,28) ausbreitet, die zweite zeugt bereits davon, dass dieser von vielen gehört wurde (ἠκούσθη ὅτι ἐν οἴκῳ ἐστίν, 2,2). Im Zentrum der Episodenfolge V. 29 – 45, steht das ‚Verkündigen‘ Jesu (V. 38.39). Κηρύσσειν findet sich im Markusevangelium insgesamt zwölf Mal; nur dreimal ist dabei Jesus derjenige, der verkündet – dazu ist er ‚gekommen‘ (ἦλθεν, 1,14.39) bzw. ‚hinausgegangen‘ (ἐξῆλθον, 1,38). Vor ihm hat Johannes ‚verkündigt‘ (1,4.7), nach ihm sind es Geheilte (z. B. 1,45), Augenzeugen von Wundern (7,36) oder die Jünger (3,14; 6,12). Jesu Verkündigung des ‚Evange‑ lium Gottes‘ (1,14) hört nicht mit 1,39 auf; die Mitte des ersten Erzählbogens (1,38 f.) qualifiziert sein ganzes Auftreten, Lehren und Wunderwirken, als Ver‑ kündigung des Evangeliums Gottes. Was am Ende der Ouvertüre in 1,14 f. als ‚Evangelium Gottes‘ programmatisch-abstrakt erklang, bekommt in seiner Per‑ son im wahrsten Sinne des Wortes „Fleisch an den Knochen“ – im theologischen Fachjargon könnte man auch von „Inkarnation“ sprechen. In Jesus ist das Reich Gottes den Menschen in Galiläa ‚nahe gekommen‘ (vgl. 1,15).
III.2.3. Auseinandersetzungen mit den Pharisäern (2,13 – 3,6) III.2.3.1. Levi: Noch ein Jünger? (2,13 f.) Textkritisch ist in dieser kurzen Perikope nur der Name des Zöllners interessant. Neben dem sehr gut und breit bezeugten ‚Levi‘ gibt es einen Traditionsstrang (D, Θ, f 13, 565 und die alt‑ lateinischen Textzeugen), in dem jener ‚Jakobus‘ heißt. Das ist insofern bemerkenswert, weil bei der Aufzählung der ‚Zwölf‘ in 3,18 f. durchgehend ein ‚Jakobus, der [Sohn] des Alphäus‘ bezeugt ist, aber in keiner Handschrift ein Levi. Schon die äußeren Kriterien sprechen für den Namen Levi in V. 14; zudem ist eine Angleichung des Namens an den im Zwölferkreis genann‑ ten wahrscheinlicher – auch die anderen vier namentlich Berufenen (1,16 – 20) erscheinen auf der Liste – als eine umgekehrte Änderung.
Der zweite Erzählbogen beginnt ‚wiederum am Meer‘ (πάλιν παρὰ τὴν θάλασ‑ σαν)316 und erinnert die Hörerinnen an die erste Berufungsgeschichte. Der Zusatz τῆς Γαλιλαίας fehlt dieses Mal; auch sonst sind bis zum Ende des Erzählbogens keine geografischen Angaben zu finden. Die Szene schließt durch ἐξῆλθεν eng an das Vorige an; Jesus war gerade noch ‚in Kafarnaum‘ ‚im Haus‘ (2,1). Die Beru‑ fung eines namentlich genannten Einzelnen folgt dieses Mal nicht unmittelbar 316
Zu θάλασσα vgl. Kap. III.2.2.1., S. 117.
162
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 2:13
kai« e˙xhvlqen pa¿lin para» th\n qa¿lassan kai« pa◊ß oJ o¡cloß h¡rceto pro\ß aujto/n kai« e˙di÷dasken aujtou/ß
2:14
kai« para¿gwn
A
[a]
ei•den Leui«n to\n touv ÔAlfai÷ou kaqh/menon e˙pi« to\ telw¿nion
B
b
kai« le÷gei aujtwˆ◊ aÓkolou/qei moi
C
kai« aÓnasta»ß
B’
b
hjkolou/qhsen aujtwˆ◊
A’
Abb. 8: Mk 2,13 f.
2:15
kai« gi÷netai katakei√sqai aujto\n e˙n thØv oi˙ki÷aˆ aujtou avar+ bvar kai« apolloi« telw◊nai kai« aJmartwloi« bsunane÷keinto twˆ◊ ∆Ihsouv cJes kai« toi√ß maqhtai√ß aujtouv: avar b h™san ga»r apolloi« kai« bhjkolou/qoun aujtwˆ◊
auf die einleitende Bemerkung; V. 13b baut den Bezug zur Episode im Haus von Kafarnaum (und auch zu anderen Szenen des ersten Erzählbogens) weiter aus, 2:16wesentliche d Elemente kai« oi˚ grammatei√ n Farisai÷wn i˙werden: do/nteß indem zwei darausß tw◊wiederholt Die in 2,3 einge‑ e o¢ti e˙sqi÷ei führte Bezeichnung ὄχλος für die Leute meta» wirdtw◊wiederholt – ‚alle Leute kommen a1 n aJmartwlw◊n a2 telwnw◊n zu ihm‘ (πᾶς ὁ ὄχλος ἤρχετο πρὸς αὐτόν; vgl.kai« auch 1,45); wieder ‚lehrt er sie‘ cJes e¶legon toi√ß maqhtai√ß aujtouv 2 o¢ti meta» n telwnw◊ (ἐδίδασκεν αὐτούς; vgl. aἐλάλει αὐτοῖς τὸν λόγον, 2,2; tw◊ vgl. auchn 1,22). Erst dann a1 kai« aJmartwlw◊n folgt die Berufung dese Zöllners Levi. Sie ist noch karger als die Berufungen in e˙sqi÷ei 1,16 – 20 erzählt, folgt aber dem gleichen konzentrischen Modell: 2:17 kai« aÓkou/saß oJ ∆Ihsouvß le÷gei aujtoi√ß A
aopp
a
aopp.var
a
Jesus ist unterwegsavar (παράγων) aopp
B
o¢ti aouj crei÷an e¶cousin aoi˚ i˙scu/onteß i˙atrouv a aÓll∆ aoi˚ kakw◊ß e¶conteß a oujk h™lqon kale÷sai adikai÷ouß a aÓll∆ aaJmartwlou/ß
er sieht XY bei avarder Arbeit aopp (εἶδεν Λευὶν τὸν τοῦ Ἁλφαίου καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον)
C er ruft ihn in die Nachfolge (ἀκολούθει μοι) c f 2:18
c f
kai« h™san oi˚ maqhtai« ∆Iwa¿nnou
d kai« oi˚ Farisai√oi (ἀναστάς) B’ er verlässt seine Arbeit opp e
A’
nhsteu/onteß
αὐτῷ) er folgt ihm nach (ἠκολούθησεν kai« e¶rcontai
kai« le÷gousin aujtwˆ◊
f∆Iwa¿nnou c f es, von derdia» ti÷ coi˚ maqhtai« Etwas verwunderlich ist Berufung eines bestimmten Mannes zu hören, c d kai« coi˚ maqhtai« dtw◊n Farisai÷wn nhsteu/Häufigkeit ousin der mit Namen und – beieoppder damaligen des jüdischen Namens Levi317 wohl auch nötig – Vaternamen Alphäus aber im Verlauf des Evange‑ cJes oi˚ de« soi« benannt, maqhtai« eopp wird. In oujder nhsteu/ ousinder ‚Zwölf‘ (3,16 – 19) taucht ein liums nicht mehr erwähnt Liste Jakobus mit dem gleichen Vaternamen auf.318 Doch warum sollte Markus nicht 2:19 kai« ei•pen aujtoi√ß oJ ∆Ihsouvß auch von einem berichten, der sonst keine Rolle mehr spielt? Abgesehen von g jvar 319 gmh\ du/nantai oi˚ ui˚oi« jtouv numfw◊noß real-historischen Erklärungen kommen auch narrativ-pragmatische Gründe ie˙n wˆ— joJ numfi÷ i j h oß hmet∆auj tw◊n e˙stin opp e ein in Frage: Markus entwickelt in dennhsteu/ folgenden Kapiteln ein Bild derer, die zu 320 io¢son cro/des hmet∆aujtw◊n j h den Rahmen non e¶Zwölferkreises cousin jto\n numfi÷on hinausgeht. Jesus gehören, das weitivarüber Dazu
g
317
eopp
Vgl.2:20 France, Mk, 132, Anm. 20. k ivar hopp j Vgl. Textkritik zu V. 14. ivar eopp 319 Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 167. k 318
ouj du/nantai nhsteu/ein
e˙leu/sontai de« hJme÷rai io¢tan aÓparqhØv haÓp∆aujtw◊n joJ numfi÷oß kai« ito/te enhsteu/sousin e˙n e˙kei÷nhØ thØv hJme÷ra
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 2:13
Und er ging wieder hinaus ans Meer. Und alle Leute kamen zu ihm. Und er lehrte sie.
2:14
Und als er entlang zog, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, an der Zollstelle sitzen. Und er sagte zu ihm: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach.
163
Übersetzung zu Abb. 8
passt, dass nicht nur die „Großen“ persönlich von Jesus in die Nachfolge berufen werden, sondern auch jemand, der nicht in den engen Kreis der Zwölf gewählt wird und dessen weiteres Schicksal niemand für überlieferungswürdig hielt. Levi sitzt ‚am Zoll‘ (ἐπὶ τὸ τελώνιον); da keine weitere Ortsangabe gemacht wird, ist davon auszugehen, dass sich seine Zollstelle am ‚Meer‘ befindet.321 Wesentlich an dieser Berufsangabe ist nicht die exakte Bestimmung der Tätigkeit, sondern vielmehr das mangelnde Prestige, das mit diesem Beruf damals verbunden war; ‚Zöllner‘ trieben für die römische Herrschaft von der Bevölkerung Abgaben ein und standen dabei selbst oft unter Druck.322 In den synoptischen Evangelien wer‑ den die ‚Zöllner‘ wie in den folgenden Versen mehrfach in einem Atemzug mit den ‚Sündern‘ genannt.323 Mit Levi beruft Jesus jemanden, der seines Berufes wegen bei seinen Zeitgenossen als habgierig und betrügerisch galt und zudem die römische Herrschaft repräsentierte.324 Wie schon früher dient auch hier wieder das Mittel der Wiederholung eines Imperativs im Indikativ (mit angepasstem Personalpronomen) zur Darstellung der Wirkmacht des Wortes Jesu: Er ruft Levi in die Nachfolge (ἀκολούθει μοι, b), dieser gehorcht (ἠκολούθησεν αὐτῷ, b). Mit der Erwähnung ‚der Leute‘ im Zusammenhang mit der Berufung eines unbedeutenden Einzelnen taucht eine neue Frage am Horizont auf: Wer gehört 320
Vgl. Kap. III.2.4.5., S. 236 f.; Kap. IV.4.5.; Kap. V.1., S. 403 – 406. Was aus real-historischer Perspektive dort seine Aufgabe war, kann nicht genau eruiert werden; evtl. zog er Abgaben für Fischfang ein (vgl. Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 178). 322 Zum Abgabewesen und zur Situation der Zöllner im 1. Jh. in Judäa vgl. a. a. O., 112 – 114. 323 Vgl. außer den Parallelen zu Mk 2,15 f. (Mt 9,10 f.; Lk 5,30) auch Mt 11,19; Lk 7,34; 15,1; 18,13). Vgl. auch Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 178. Ausführ‑ liche Belegstellen aus der pagan-griechischen und der rabbinischen Literatur vgl. Collins, Mk, 193 – 195. 324 Vgl. z. B. France, Mk, 133. 321
164
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
zu Jesus? Nur die, die er persönlich beruft? Die, die er besonders auswählt? Auch die, die von sich aus – zuhauf – zu ihm strömen? Diese Frage wird in der nun folgenden Mahlszene nochmals aufgenommen, dann aber bis zum nächsten Erzählbogen (3,7 – 35) zurückgestellt; die Leute spielen in den folgenden Episo‑ den keine Rolle und treten erst wieder beim nächsten Gang Jesu ans ‚Meer‘ zu Beginn der dritten Berufungsgeschichte in Erscheinung (3,7 f. dort als πλῆθος). III.2.3.2. Was für Tischgenossen! (Mk 2,15 – 17) Die Strukturierung des Textes setzt einige textkritische Entscheidungen voraus; ich übernehme dabei an allen im Folgenden genannten Stellen die Lesarten von NA28. Die meisten Textzeugen (u. a. die frühen Codices A und C) lösen den früh und breit bezeugten, aber ungewöhnlichen Ausdruck οἱ γραμματεῖς τῶν Φαρισαίων auf, indem sie die beiden Gruppen einfach nachei‑ nander nennen (οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι). Vor ἰδόντες in V. 16 bieten einige Textzeu‑ gen, darunter auch der Codex Sinaiticus,325 ein zusätzliches καί. Dieses καί bewirkt, dass die ‚Schriftgelehrten der Pharisäer‘ als Subjekt von ἔλεγον abgetrennt und zum Subjekt von ἠκο‑ λούθουν werden. In der breit bezeugten Version ohne καί an dieser Stelle wäre diese Zuordnung zwar theoretisch möglich, und ein Satzbeginn mit ἰδόντες könnte behauptet werden; jedoch müsste dann eine Erklärung für den asyndetischen Satzanschluss gefunden werden. Näher liegt es, als Subjekt für ἠκολούθουν eine der beiden vorher genannten Gruppen anzunehmen, die ‚Zöllner und Sünder‘ oder die Jünger. Vielfach findet sich statt des Durativs ἠκολούθουν auch die Aoristform ἠκολούθησαν.326 Die Reihenfolge der ‚Zöllner und Sünder‘, in V. 15 einheitlich so überliefert, ist bei ihrem zweiten Vorkommen in V. 16 in wichtigen Zeugen327 umgekehrt und wurde deshalb auch so in NA28 übernommen; die Mehrzahl der Manuskripte bietet jedoch dreimal die gleiche Reihenfolge. Die wörtliche Rede der Schriftgelehrten wird nur in wenigen Textzeugen328 mit ὅτι eingeleitet, das offen lässt, ob es sich um eine Feststellung oder eine Frage handelt. Aufgrund der Qualität der Zeugen und der Annahme, dass eine Präzisierung des ὅτι zu einer Frage – durch τί, διατί oder auch τί ὅτι – wahrscheinlicher ist als der umgekehrte Prozess, bevorzuge ich auch hier die in NA28 übernommene Lesart. Schließlich gibt es am Ende von V. 16 oft Zusätze zu ἐσθίει – ‚euer Lehrer‘ als Subjekt, ‚trinken‘ als zweites Verb –, die sich allesamt als Ergänzungen erklären lassen.
Auf dieser Textbasis ergibt sich eine Struktur, in der in jedem der Verse auf eine Einleitung eine konzentrische (V. 15.16) bzw. parallele (V. 17) Konstruktion folgt. Eine „saubere“ Inclusio über den ganzen Abschnitt ist nicht zu erkennen; den‑ noch werden die drei Verse zusammengehalten durch die ‚Sünder‘ (ἀμαρτολοί, avar), die einmal eher zu Beginn von V. 15, dann zweimal in V. 16 und schließlich am Ende von V. 17 erwähnt werden. Der kurze Dialog über die Frage zu Jesu Tischgemeinschaft mit den ‚Zöllnern und Sündern‘ eröffnet die Folge der „Streitgespräche“ Jesu mit den Pharisäern. 325
Außer ℵ auch 𝔓88, L, Δ, 33, ein altlateinischer Zeuge (b) und einige bohairische Manu‑ skripte. 326 Nicht in NA28 ausgewiesen; vgl. Swanson, Manuscripts, 29. 327 Darunter auch 𝔓88, B und D; vgl. Apparat NA28. 328 Bezeugt in B, L 33, 1424 und einigen bohairischen Manuskripten, dazu unsicher auch in C.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
165
In der heutigen Exegese wird dieser Abschnitt, soweit ich sehe, immer zusammen mit den vorhergehenden beiden Versen betrachtet;329 auch Dewey weist mit den Mitteln der rhetorischen Analyse die Einheit der V. 13 – 17 nach.330 Ein anderer Befund zeigt sich beim Blick in die frühen „Partituren“: Am Beginn von V. 15 ist praktisch bei allen eine Markierung für einen neuen Absatz zu erkennen (meist durch ein Zeichen am Rand, das nächste folgt zu Beginn von V. 18331), bei man‑ chen, darunter auch die Codices Sinaiticus und Vaticanus, zusätzlich ein Zei‑ lenneuanfang bzw. ein deutlicher Abstand innerhalb einer Zeile. Darüber hinaus sprechen noch andere Textbeobachtungen für die Trennung der Berufungsge‑ schichte vom Mahl mit den Zöllnern und Sündern: Das Pattern der Tripelepisoden zieht sich durch das gesamte Evangelium. Der erste Hauptteil ist durch die Berufungsgeschichten, in denen ‚die Leute‘ immer mehr Raum einnehmen, strukturiert. Deshalb sollte V. 13 f. als eigenständige Ein‑ heit und nicht als Erweiterung oder Vorlauf zu V. 15 – 17 betrachtet werden, wenn‑ gleich ein solches Szenario der Textentstehung332 nicht ausgeschlossen werden kann. Inhaltlich sind zwei weitere Punkte zu nennen, die V. 15 – 17 von 13 f. abtrennen: der Ortswechsel vom See zum Haus und der Wechsel der Protagonisten von Jesus, den Leuten und dem Einzelnen hin zu Jesus und seinen Jüngern, den Zöllnern und Sündern und den Pharisäern. Das unterscheidet den vorliegenden Fall von anderen Episoden, in denen an einem Ort eine Szene vorbereitet wird, an dem dann neue Personen auftreten, mit denen die Kerngeschichte ihren Lauf nimmt – so etwa in 1,21 – 29a der Besessene und dessen unreiner Geist in V. 23 oder in 2,1 – 13a der Gelähmte mit seinen Trägern in V. 3 und später in V. 6 die Schriftgelehrten. Dort wird auch jeweils nach dem Exorzismus bzw. der Heilung die Szene zu Beginn wieder aufgenommen, indem die anwesenden Leute auf das Wunder reagieren. Hier treten die Personen des Anfangs – die Leute und Levi – nicht mehr auf. Selbstverständlich ist mit der Separierung der zwei Episoden nicht gesagt, dass sie unverbunden nebeneinander stünden; sie sind durch zwei Stichwort‑ verbindungen – die im Markusevangelium nur hier erwähnte Berufsgruppe der Zöllner bzw. deren Arbeitsort (τελῶναι / τελώνιον, a) und das Nachfolgen (ἀκο‑ λουθεῖν, b) – miteinander verknüpft und aufeinander bezogen. Zudem wird am Ende von V. 17 im ‚Rufen‘ Jesu (καλεῖν)333 klar vernehmbar nochmals an die Berufungsszene erinnert. In den hier prominent vertretenen ‚Sündern‘ (vier Mal ἁμαρτωλοί) wird darüber hinaus das Thema der Sündenvergebung von 2,1 – 12 nochmals aufgenommen. 329
Collins setzt innerhalb eines Kapitels 13 f. als „call story“ von dem „controversy dia‑ logue“ in V. 15 – 17 ab (Collins, Mk, 190 f.). 330 Dewey, Markan Public Debate, 84. 331 Eine Ausnahme bildet der Codex Sinaiticus, der schon in V. 16 vor καὶ ἰδόντες (vgl. Textkritik zu V. 16, S. 164) das nächste Zeichen setzt. 332 Vgl. Lührmann, Mk, 59; Pesch, Mk I, 162. 333 Vgl. ἐκάλεσεν αὐτούς in 1,20.
b
b
166
kai« le÷gei aujtwˆ◊ aÓkolou/qei moi
C
kai« aÓnasta»ß
B’
hjkolou/qhsen aujtwˆ◊
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 2:15
A’
kai« gi÷netai katakei√sqai aujto\n e˙n thØv oi˙ki÷aˆ aujtou avar+ bvar kai« apolloi« telw◊nai kai« aJmartwloi« bsunane÷keinto twˆ◊ ∆Ihsouv cJes kai« toi√ß maqhtai√ß aujtouv: avar b h™san ga»r apolloi« kai« bhjkolou/qoun aujtwˆ◊
2:16
2:17
2:18
d e
kai« oi˚ grammatei√ß tw◊n Farisai÷wn i˙do/nteß o¢ti e˙sqi÷ei meta» tw◊n aJmartwlw◊n 2 a kai« telwnw◊n Jes c e¶legon toi√ß maqhtai√ß aujtouv a2 o¢ti meta» tw◊n telwnw◊n a1 kai« aJmartwlw◊n e e˙sqi÷ei a1
aopp avar aopp.var avar
kai« aÓkou/saß oJ ∆Ihsouvß le÷gei aujtoi√ß a o¢ti aouj crei÷an e¶cousin aoi˚ i˙scu/onteß i˙atrouv a aopp aÓll∆ aoi˚ kakw◊ß e¶conteß a a oujk h™lqon kale÷sai adikai÷ouß a aopp aÓll∆ aaJmartwlou/ß
c f d eopp
kai« h™san coi˚ maqhtai« f∆Iwa¿nnou kai« oi˚ Farisai√oi nhsteu/onteß
Abb. 9: Mk 2,15 – 17
kai« e¶rcontai Die Pharisäer betreten in V. 15 erstmals die Bühne. Ebenso neu ist die Bezeich‑ kai« le÷gousin aujtwˆ◊ coi˚ maqhtai« f∆Iwa¿nnou c f bisher waren dia» ti÷ mit nung ‚Jünger‘ (μαθηταί); Simon und Andreas, den Zebedaiden c d kai« coi˚ maqhtai« dtw◊n Farisai÷wn und Levi nur einzelne Namen von Nachfolgern zu hören. Da ihre Namen hier opp e nhsteu/ousin nicht genannt werden, cist offen, wer alles zu ‚seinen Jüngern‘ gehört. Jes oi˚ de« soi« maqhtai« eopp
ouj nhsteu/ousin
15 Zum ersten Mal seit Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu beginnt eine Peri‑ kope ohne2:19 das Verb ἔρχεσθαι direkt am neuen kai« ei• pen aujtoi√ ß oJ ∆Ihsouv ß Ort. Wie schon 1,29 – 34 und 2,1 – 13a spielt diese Episode ‚im gHaus‘ (ἐν oi˚τῇui˚oοἰκίᾳ). Wer g jvar mh\ du/nantai i« jtouv numfw◊ noßin wessen Haus zu ie˙n wˆ— joJ numfi÷oß hmet∆aujtw◊n e˙stin i j h Tisch liegt, ist nicht eindeutig zu bestimmen; in Frage kommen Jesus und Levi. eopp nhsteu/ein Alle bisherigen Neueinsätze begannen mit einem nicht näher bestimmten (mas‑ io¢son cro/non e¶cousin jto\n numfi÷on hmet∆aujtw◊n ivar j h kulinen) Subjekt und vom Duktus der her war immer klar, dass damit g ouj du/Erzählung nantai nhsteu/ein nur Jesus gemeint seineopp kann.334 Wenngleich es hier theoretisch auch möglich ist, Levi mit ich 2:20 αὐτόν zuk identifizieren, e˙leu/shalte ontai de« hJme÷es rai im Gesamtkontext des Mar‑ io¢tan aÓparqhØv haÓp∆aujtw◊n joJ numfi÷oß ivar hopp j kusevangeliums und auch innerhalb der vorliegenden Perikope für schlüssiger, var opp i e i e kai« to/te nhsteu/sousin k e˙kei÷beziehen. nhØ thØv hJme÷ra Die Aussage, ‚die Zöllner und beide Personalpronomina auf Jesuse˙nzu Sünder‘ ‚lägen mit Jesus zu Tisch‘ (συνανέκειτο τῷ Ἰησοῦ) schließt besser an das Vorhergehende an, wenn das Subjekt im AcI κατακεῖσθαι αὐτόν nicht auf Levi, sondern auf Jesus bezogen wird. Nicht zwingend muss damit ‚sein Haus‘ (ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ) Jesu Haus sein. Es scheint mir zwar näherliegend, das gleiche Personalpronomen in einem Satz nur auf eine Person zu beziehen, doch gibt es auch sonst im Markusevangelium Stellen, an denen ohne Renominalisierung die mit einem Personalpronomen gemeinte Person wechselt.335 Es kann also genauso 334
Vgl. 1,16; 1,21; 1,29, 2,1; 2,13. Vgl. z. B. 1,41; 7,31 – 37; 8,22 – 26.
335
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 2:15
Und es geschah, dass er in seinem Haus zu Tisch lag. Und viele Zöllner und Sünder lagen mit zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Es waren nämlich viele und sie folgten ihm.
2:16
Und als die Schriftgelehrten der Pharisäer sahen, dass er mit den Sündern und Zöllnern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Er isst mit den Zöllnern und Sündern!
2:17
Und als Jesus das hörte, sagte er zu ihnen: Nicht die Starken brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder.
167
Übersetzung zu Abb. 9
gut sein, dass das Mahl in Levis Haus stattfindet;336 Lukas formuliert so, dass nur das in Betracht kommt (Lk 5,29). Für den weiteren Verlauf spielt es keine Rolle, diese Frage endgültig zu klären; festzuhalten ist, dass mit καὶ γίνεται eine Mahl‑ szene in einem Haus beginnt. Damit ist eine weitere „Gattung“337 eingeführt, die 336
So unhinterfragt Collins, Mk, 191; Pesch, Mk I, 164. Lührmann und van Iersel kom‑ men zum Schluss, dass nur das Haus Levis gemeint sein kann, da Markus nirgends von einem Haus Jesu in Kafarnaum spreche (vgl. Lührmann, Mk, 59; van Iersel, Mk, 152). Auch France argumentiert so, formuliert aber etwas vorsichtiger: „[I]t is more likely that we should under‑ stand that Jesus went to a meal in Levi’s house.“ (France, Mk, 133). Malbon hingegen geht davon aus, dass Jesus in Kafarnaum ein Haus hatte, das auch in 2,15 gemeint ist (vgl. Malbon, ΤΗ ΟΙΚΙΑ ΑΥΤΟΥ, 282 – 292, insbes. 282 f.). Vgl. zu ἐν οἰκῷ in 2,1 Kap. III.2.2.4., S. 148 f. 337 Der in der Exegese gängige Begriff der Gattung trifft den Sachverhalt hier nicht genau; zu unterschiedlich sind die Motive, die die einzelnen Mahlszenen prägen. Zudem werden die Mahlszenen üblicherweise unterschiedlichen Gattungen zugeordnet. Klaus Berger beschreibt eine Gattung „Symposion“, die fokussiert ist auf die „Darstellung von Mahl und Tischgesprä‑ chen“; er ordnet ihr aber nur das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern (14,17 – 21) zu (Kl. Berger, Formen, 314). 2,15 – 17, 2,18 – 22 und 2,23 – 28 gelten in aller Regel als Apophtegmen bzw. Chrien oder werden deren Untergattung „Streitgespräch“ zugeordnet (vgl. z. B. a. a. O., 140; Dormeyer, Neues Testament, 78.116.162 f.; Collins, Mk, 182; Pesch, Mk I, 164.171.179; Gnilka, Mk I, 105.113.120); die beiden großen Speisungen werden traditionell der Gattung Wundergeschichte bzw. einer Untergattung „Naturwunder“ (vgl. Dormeyer, Neues Testament, 176) oder „Vermehrungs-“ bzw. „Geschenkwundergeschichte“ zugeordnet (vgl. Pesch, Mk I, 348.401; Gnilka, Mk I, 257.301). Collins erkennt Aspekte beider Untergattungen (vgl. Collins, Mk, 319). Berger, der aufgrund seiner Definition der „Gattungen als Oberbegriffe mit his‑ torischer Grundlage“ (Kl. Berger, Formen, 10) die Gattung Wundergeschichte als ahistorisch ablehnt (vgl. a. a. O., 362), legt den Fokus auf die Einbeziehung der Jünger durch einen Auf‑ trag Jesu und ordnet sie daher der Gattung Mandatio zu (vgl. a. a. O., 374). Dormeyer erwähnt
168
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
im unmittelbar Folgenden aufgegriffen (2,18 – 20; 2,25 f.) und über das δεῖπνον des Herodes (6,17 – 29) und die beiden großen Speisungen (6,30 – 45; 8,1 – 9) bis zum letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern am Abend vor seinem Tod (14,17 – 26) immer wieder in verschiedenen Variationen durchgespielt wird. Im vorliegenden Fall fehlen die Motive rund ums Essen, die für die drei großen Speisungserzäh‑ lungen charakteristisch sind;338 der Fokus beim Mahl mit den Zöllnern und Sün‑ dern liegt nicht auf dem Essen als solchem. Auf diese Einleitung folgt eine Art Ringkomposition: Außen stehen jeweils ‚viele‘ (πολλοί, avar), die ‚mit Jesus zu Tisch liegen‘ (συνανέκειτο τῷ Ἰησοῦ, bvar) bzw. ‚ihm nachfolgen‘ (ἠκολούθουν αὐτῷ, b). Bei der ersten Erwähnung der Vie‑ len werden sie als ‚viele Zöllner und Sünder‘ (avar+) bezeichnet, beim zweiten Mal steht nur πολλοί (avar). Es könnten wieder die gleichen gemeint sein, aber auch die dazwischen erwähnten Jünger Jesu. Mir scheint es schlüssiger, beide Male die gleiche Gruppe in den ‚Vielen‘ zu sehen. Wie zuvor der eine Zöllner Levi Jesus nachfolgte, so folgen ihm jetzt ‚viele Zöllner und Sünder‘ nach. Ihre große Anzahl wird, wie schon anderenorts (vgl. 1,32 – 34), durch Wiederholung und hier auch durch den bei Markus seltenen Satzanschluss mit γάρ betont. Anders als in der Berufungsszene steht ἀκολουθεῖν (b) hier im Imperfekt; es handelt sich also nicht um ein Aufstehen und Hinterhergehen, was mit der gleichzeitigen Teilnahme am Mahl kaum vereinbar wäre, sondern um die generelle Aussage, dass sie Nachfolger Jesu sind. Bisher war von ‚Nachfolgen‘ nur in den beiden Berufungsszenen 1,16 – 20 und 2,13 f. die Rede. Hier ist nun von Nachfolgern die Rede, ohne dass Markus darüber informiert, ob diese von Jesus persönlich in die Nachfolge gerufen wurden. Die Frage „Wer gehört zu Jesus?“, die sich in V. 13 f. andeutet, wird hier nochmals aufgenommen. In der Mitte stehen die erstmals als μαθηταί bezeichneten Jünger Jesu. Wer alles zu ihnen gehört, ist aus dem Text nicht zu erfahren. Markus kann bei seiner Hörerschaft jedoch sicher mit einer generellen Vorstellung von μαθητής rechnen;339 auch die Rede von den ‚Jüngern Jesu‘ als denjenigen, die zu Jesus gehören, wird ihr nicht fremd gewesen sein. 16 Die Mahlszene wird von den ‚Schriftgelehrten der Pharisäer‘ beobachtet. Der Ausdruck οἱ γραμματεῖς τῶν Φαρσαίων ist im ganzen Neuen Testament ein‑ malig;340 er schafft hier den Übergang von den ‚Schriftgelehrten‘, die zu Anfang und zum Schluss des ersten Erzählbogens genannt wurden (1,22; 2,6), hin zu den 6,17 – 29 nicht, Berger (a. a. O., 391 f.) klassifiziert diese Geschichte vom Ende des Johannes als Märtyrerbericht (so auch Pesch, Mk I, 338; Gnilka, Mk I, 246) oder Hofgeschichte (so auch Collins, Mk, 304). 338 Vgl. Kap. IV.3.2.4., S. 309 – 313. 339 Mαθητής bezeichnet ganz allgemein in einem Schüler-Lehrerverhältnis den Lernenden und braucht als Gegenbegriff immer διδάσκαλος (vgl. Bauer s. v. μαθητής). Rengstorf stellt zum neutestamentlichen Sprachgebrauch von μαθητής fest, dass es eine „persönliche Bindung“ impliziere, „die das gesamte Leben des als μαθητής Bezeichneten formt“ (vgl. Rengstorf, μαθητής, 444). 340 Vgl. Textkritik zu V. 16, S. 164.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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Pharisäern, die im zweiten in allen vier „Streitgesprächen“ 2,15 – 3,6 die Gegner Jesu darstellen. Mit einem καί verbunden tauchen die beiden Gruppen v. a. in den anderen beiden synoptischen Evangelien mehrfach auf; bei Markus werden sie nur noch in 7,1.5 zusammen erwähnt, auch dort wieder im Zusammenhang einer Auseinandersetzung um Fragen rund ums Essen. Ob sie tatsächlich ‚sehen‘ (ἰδόντες), ob sie einen Blick in das Haus werfen konnten, bleibt genauso offen wie in der letzten Episode im Haus die Frage, warum die Schriftgelehrten dort saßen (vgl. 2,6). Jedenfalls haben sie davon erfahren, dass Jesus ‚mit den Sündern und Zöllnern isst‘ (ἐσθίει μετὰ τῶν ἁμαρ‑ τωλῶν καὶ τελωνῶν). Auf die Einleitung folgt eine schöne Ringkomposition. Das Essen Jesu bildet den äußeren Rahmen (e), die Sünder (a1) und Zöllner (a2) nehmen wie schon in V. 16 Jesu Jünger (cJes) in ihre Mitte. Soweit die formalen Beobachtungen an dieser Ringkomposition; es wird erzählt, dass die ‚Schrift‑ gelehrten der Pharisäer‘ die Szene beobachten und dann seine Jünger darauf ansprechen. Was sie den Jüngern sagen, lässt sich als Aussage oder als Frage übersetzen; wie bei βλασφημεῖ in 2,7 habe ich mich für die Aussage entschieden, die man beim Vortrag durch den entsprechenden Tonfall als reine Feststellung oder auch als Vorwurf interpretieren mag. Jedenfalls erregt sein Verhalten bei den Pharisäern Anstoß: Er, der gerade erst mit dem Anspruch auftrat, mit von Gott verliehener Vollmacht zu handeln (2,10), verkehrt mit ‚Sündern‘, er pflegt sogar Tischgemeinschaft mit ihnen. Gemeinsames Essen war in der Antike der Ausdruck von Zusammengehörigkeit schlechthin – und die Verweigerung der Tischgemeinschaft diente dementsprechend auch zur Grenzziehung gegenüber denen, die nicht dazugehören.341 Jesus legt hier ein ‚sichtbares‘ (vgl. ἰδόντες) und für die auf die strikte Einhaltung der Tora bedachten Pharisäer342 anstößiges Bekenntnis seiner Zuwendung zu denen ab, die als ‚Sünder‘ diesen Ansprüchen nicht genügten und von der sozialen und religiösen Gemeinschaft ausgeschlos‑ sen waren. 17 Zum ersten Mal im Evangelium ist die Stimme der Gegner Jesu auch auf narrativer Ebene zu hören.343 Die Pharisäer wenden sich an die Jünger; es ist jedoch Jesus selbst, der reagiert, als er ‚hört‘ (ἀκούσας), was sie ihm vorwerfen. Er geht nicht auf das Thema des Essens ein, wohl aber auf seine Zuwendung zu den ‚Zöllnern und Sündern‘. Formal stellt Jesu mündliche Rede einen Parallelis‑ mus dar: Einer negativen Aussage (οὐ / οὐκ, α) wird jeweils eine mit ‚sondern‘ (ἀλλ’, αopp) eingeleitete gegenübergestellt. Die „sprichwortartige Sentenz“344 341
Vgl. Klinghardt / Staubli, Essen, 120. Vgl. Strecker, Religiöse Bewegungen, 478. 343 Die Schriftgelehrten traten zwar in 2,1 – 13a auf, es ist aber der Erzähler, der ihre Ge‑ danken hörbar macht. 344 Lührmann, Mk, 62. Auf viele Parallelen in der griechischen Tradition, insbesondere auf einen sehr ähnlichen Ausspruch bei Plutarch (Apoph. Lac. 230F) verweisen außer Lührmann auch France, Mk, 135; Collins, Mk, 195, inbes. Anm. 93; van Iersel, Mk, 154; Pesch, Mk I, 166, insbes. Anm. 10. 342
170
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
über den Arzt, den nicht die Starken brauchen, sondern die Kranken, spiegelt sich in der Ich-Aussage Jesu: ‚Ich bin nicht gekommen zu rufen die Gerechten, son‑ dern die Sünder.‘ Durch die parallele Formulierung wird der Arzt zum Bild für Jesus, die ‚Starken‘ (ἰσχύοντες, aopp) zum Bild für die ‚Gerechten‘ (δίκαιοι, aopp. var ) und die ‚Kranken‘ (κακῶς ἔχοντες, avar) für die ‚Sünder‘ (ἁμαρτωλοί, avar). Wie schon in 2,1 – 13a werden auch hier Krankheit und Sünde und implizit auch Heilung und Sündenvergebung aufeinander bezogen; in Anbetracht der vielen Heilungen Jesu schwingt im Bild des ‚Arztes‘ hier auch eine reale Komponente mit. Wiederum bleibt offen, in welchem Verhältnis Krankheit und Sünde zuei nander stehen. Innerhalb der Perikope ist der Bezug zu V. 15 f. deutlich: Zum vierten Mal ist das Stichwort ‚Sünder‘ zu hören, dieses Mal nicht in der Kombination mit den ‚Zöllnern‘. Dadurch weitet sich der Kreis der von Jesus Gerufenen über die Berufsgruppe hinaus – alle, die sich als Sünder erkennen, dürfen sich von Jesu ‚Ruf‘ angesprochen fühlen. Die ‚Gerechten‘ hingegen ruft Jesus nicht – oder sollte man besser sagen: Wer sich selbst für gerecht hält, merkt nicht, dass der Ruf Jesu zu Umkehr (vgl. 1,15) und Nachfolge, zur Gemeinschaft mit ihm und denen, die zu ihm gehören, auch ihm bzw. ihr gilt? ‚Der Gerechte‘ (δίκαιος) oder auch ‚Rechtfertigung‘ und ‚rechtfertigen / gerecht sprechen‘ (δικαιοσύνη / δικαι‑ οῦν) interessieren Markus eigentlich überhaupt nicht; er verwendet, anders als Matthäus, Lukas und insbesondere Paulus, aus der Wortfamilie δικαι‑ nur noch ein weiteres Mal dieses Adjektiv, um den Täufer Johannes als ‚gerechten und heiligen Mann‘ (6,20) darzustellen. Wenngleich Jesus die Pharisäer im aktuellen Zusammenhang nicht explizit als δίκαιοι anspricht, ist es doch offensichtlich, dass er im konkreten Zusammenhang sie meint: Sie sind diejenigen, die sich für ‚Gerechte‘ halten und sich von den ‚Sündern‘ absondern – und sich damit auch in Opposition zu Jesus stellen. Mit ‚ich bin gekommen, um zu rufen‘ weitet sich der Horizont über die aktu‑ elle Situation hinaus: Im ‚Rufen‘ (καλεῖν) klingt die Berufung nach – zunächst die gerade erst erzählte des Levi. Er, der Zöllner, hat sich rufen lassen; er scheint sich seines Sünderseins bewusst gewesen zu sein. Er verlässt seinen zwielich‑ tigen Posten und ‚folgt ihm nach‘. Mit καλεῖν klingt zudem auch die Berufung der Fischer in 1,16 – 20 an, wo dieses Verb für den Ruf Jesu in die Nachfolge stand (1,20). Damit deutet sich an, dass es gar nicht so einfach ist, die Jünger – als solche treten die vier Erstberufenen im Laufe der Erzählung auf (vgl. z. B. 8,27 – 33; 14,32 f.345) – von den ‚Zöllnern und Sündern‘ zu trennen: Auch sie haben den Ruf Jesu auf sich bezogen, auch sie haben ihre Arbeit zurückgelassen, wenngleich ihr Sündersein nicht schon durch ihren Beruf offensichtlich wurde. Ebenso weckt ἦλθον bei der Hörerin Erinnerungen: Jesus ‚kam und verkün‑ dete‘ (ἦλθεν κηρύσσων, 1,14; 1,39; vgl. auch 1,38). Seine Verkündigung, das 345 Zum Verhältnis von den ‚Jüngern‘ (οἱ μαθηταί) zu den ‚Zwölfen‘ (οἱ δώδεκα) vgl. Kap. III.2.4.1., S. 210.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
171
hat sich schon im Bisherigen gezeigt, ist keine rein verbale. In seiner Person ist das ‚Reich Gottes nahegekommen‘ (vgl.1,15); das wird in der kurzen Szene der Tischgemeinschaft mit den ‚Zöllnern und Sündern‘ ganz konkret und ‚sichtbar‘. Eine Spur ist gelegt, die über Tod (vgl. 10,45) und Auferstehung Jesu hinaus weiterverfolgt wird bis zum ‚Kommen‘ des Menschensohnes am Ende der Zeiten (13,26; 14,21). Vor dem inneren Auge der Hörerin entsteht ein Bild mit der Hauptfigur Jesus und zwei Gruppen: Auf der einen Seite steht die heterogene Gruppe der ‚Zöllner und Sünder‘ samt den Jüngern346 – der akustische Pinselstrich des Markus skizziert mithilfe der Technik der Ringkomposition die mit Jesus zu Tisch Liegenden so, dass sich die Jünger mitten unter den Zöllnern und Sündern befinden (V. 15.16). Und wer dem Ruf Jesu an die Sünder folgt (V. 17), wird zum Jünger, zu dem, der mit Jesus und den anderen Jüngern in Gemeinschaft steht. Dass sich bis zum Schluss die Jünger nicht von den Sündern trennen lassen, zeigt sich insbesondere im letzten Mahl Jesu: Er isst mit seinem Verräter Judas, mit Petrus, dem Erst‑ berufenen, der ihm am längsten ‚nachfolgt‘ (14,54), ihn aber schließlich doch verleugnet, und mit all den anderen, die ihn ihm Stich lassen, als er verhaftet wird (14,50). In Opposition dazu zeichnet Markus die Pharisäer, die sich um den Lebenswandel der ‚Gerechten‘ bemühen. Sie distanzieren sich von den ‚Sündern‘ und damit von demjenigen, der mit ihnen Gemeinschaft pflegt; dabei können sie sich sowohl in ihrem Bemühen um den rechten Lebenswandel als auch in ihrer Distanzierung von den Sündern auf „die Schriften“ berufen.347 Jesus hingegen, der gerade erst in anstößiger Weise für sich die Vollmacht zur Sündenvergebung beansprucht und auch ausgeübt hat (2,10 – 12), stellt hier nun das Konzept von der Gottesnähe der Gerechten und der Gottferne der Sünder auf den Kopf.348 Damit ist der Reigen der Auseinandersetzung zwischen den Pharisäern und Jesus eröffnet. 346 Gegen Dewey, die innerhalb dieser Gruppe Grenzen zieht: Auf der einen Seite sieht sie „many tax collectors and sinners“, auf der anderen „Jesus and his disciples“. Sie fährt fort: „[. . .], there is an implied contrast between those viewed as sinful and those not.“ (Dewey, Mar‑ kan Public Debate, 82). 347 Vgl. z. B. Ps 1. Craigie kommentiert Ps 1,1: „The three parallel lines of v 1 [. . .] describe in slightly different ways the evil company which should be avoided be the righteous.“ (Craigie, Ps I, 60). 348 Wenn in Psalmen ‚Gerechte‘ und ‚Sünder‘ (in der Septuaginta δίκαιοι und ἁμαρτωλοί) in einem Atemzug genannt werden, sind es die ‚Gerechten‘, die in Gemeinschaft mit Gott ste‑ hen, die ‚Sünder‘ hingegen nicht. Deutlich wird das u. a. darin, dass, wie in Ps 1, ἁμαρτωλός synonym zu ἀσεβής (der ‚Gottlose‘) verwendet wird. In weisheitlichen Texten wird mit der Ge‑ genüberstellung von δίκαιοι und ἁμαρτωλοί vor allem das Wohlergehen der einen und das Ver‑ derben der anderen illustriert: ‚Die Arme der Sünder werden zerschlagen werden, die Gerechten aber unterstützt der Herr.‘ (Ps 36,17LXX; vgl. auch Ps 7,10; 74,11LXX; Spr 11,31; 12,13LXX; auch in PsSal 2,34 f.; 3; 4,8; 13). Insbesondere in den Sprüchen Salomos gibt es viele weitere Bei‑ spiele mit dem Gegensatzpaar δίκαιοι und ἀσεβεῖς.
a2
e
172
2:17
cJes
e¶legon toi√ß maqhtai√ß aujtouv o¢ti meta» tw◊n telwnw◊n kai« aJmartwlw◊n
a1
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kai« aÓkou/saß oJ ∆Ihsouvß le÷gei aujtoi√ß aopp a o¢ti aouj crei÷an e¶cousin aoi˚ i˙scu/onteß i˙atrouv Kapitel III: Kommentar a avar aopp aÓlzu l∆ aMk 1,1 oi˚ kakw◊– ß 4e¶,36a conteß a aopp.var a oujk h™lqon kale÷sai adikai÷ouß a var opp a a a aÓll∆ aJmartwlou/ß
III.2.3.3. Feiern statt fasten (2,18 – 20) 2:18
c f d eopp
kai« h™san coi˚ maqhtai« f∆Iwa¿nnou kai« oi˚ Farisai√oi nhsteu/onteß
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kai« e¶rcontai kai« le÷gousin aujtwˆ◊ dia» ti÷ coi˚ maqhtai« f∆Iwa¿nnou kai« coi˚ maqhtai« dtw◊n Farisai÷wn nhsteu/ousin
cJes eopp 2:19
2:20
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io¢son cro/non e¶cousin jto\n numfi÷on hmet∆aujtw◊n ouj du/nantai nhsteu/ein
k
e˙leu/sontai de« hJme÷rai io¢tan aÓparqhØv haÓp∆aujtw◊n joJ numfi÷oß kai« ito/te enhsteu/sousin e˙n e˙kei÷nhØ thØv hJme÷ra
k
ivar hopp j ivar eopp
du/nantai oi˚ ui˚oi« jtouv numfw◊noß wˆ— joJ numfi÷oß hmet∆aujtw◊n e˙stin nhsteu/ein
ie˙n
Abb. 10: Mk 2,18 – 20
Textkritisch relevant ist in diesen Versen primär die Frage, wie die Jünger Jesu benannt werden. NA28 bietet mit οἱ δὲ σοὶ μαθηταί eine sehr breit bezeugte Lesart, die sich jedoch in keiner der beiden frühesten Majuskeln findet. Statt diesem etwas holprigen, an süddeutsche und schweize‑ rische Mundart erinnernden ‚dem seine Jünger‘ liest man im Codex Vaticanus (und in 565) nur οἱ δὲ σοὶ – etwa ‚die von dir‘ oder auch ‚die mit dir sind‘ – und im Codex Sinaiticus (und in E*, 28) die elegantere Formulierung mit Genitiv οἱ δὲ μαθηταί σου – ‚deine Jünger‘. Letzteres lässt sich leicht als sprachliche Verbesserung von οἱ δὲ σοὶ μαθηταί erklären, Ersteres als Anglei‑ chung an die Parallele in Lk 5,33. Dies spricht für die Entscheidung für den Text von NA28. Da sich die ungelenke Ausdrucksweise im Deutschen wiedergeben lässt, also interpretierbar ist, lege auch ich sie meiner Exegese zugrunde. Abgesehen davon sind in V. 18 die Formulierungen ‚die Jünger des Johannes und die Pharisäer‘ (V. 18a) und ‚die Jünger des Johannes und die Jün‑ ger der Pharisäer‘ (V. 18b) erwähnenswert, die in etlichen Varianten vorliegen. In beiden Fällen spricht die Bezeugung für die in NA28 aufgenommene Lesart.
Wie die letzten beiden hier separat betrachteten Perikopen wird auch 2,18 – 22 in den Kommentaren, soweit ich sehen kann, ausnahmslos als Einheit behan‑ delt. Ausschlaggebend dafür ist sicher primär die Annahme, dass die Rede Jesu die Verse 19 – 22 umfasst. Der Text bietet alternativ die Möglichkeit, V. 21 f. als Kommentar des Erzählers zu verstehen.349 Die Konsultation antiker Textzeugen ergibt dieses Mal kein einheitliches Bild: Manche setzen die Worte über das Neue 349
Auch van Iersel erwägt beide Varianten (vgl. van Iersel, Mk, 156).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
2:18
Und bei den Jüngern des Johannes und den Pharisäern war es üblich zu fasten.
Und sie kamen und sagten zu ihm: Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, aber die Jünger von dir fasten nicht?
2:19
Und Jesus sagte zu ihnen: Können etwa die Freunde des Bräutigams fasten, während der Bräutigam mit ihnen ist?
Solange sie den Bräutigam mit sich haben, können sie nicht fasten.
2:20
Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam weggenommen wird von ihnen. Und dann werden sie fasten, an jenem Tag.
173
Übersetzung zu Abb. 10
und Alte vom Wortwechsel über das Fasten deutlich ab,350 andere nicht oder nur auf eine Weise, mit der viele kleine, fast versweise Zäsuren gekennzeichnet wer‑ den. Die Entscheidung für die Betrachtung von V. 21 f. als eigenständige Einheit basiert auf der Wahrnehmung der akustischen Textsignale, die sich mit Inhalt‑ lichem verbinden:351 V. 18 – 20 und V. 21 f. sind je in sich formal sehr stringent komponiert und weisen viele interne Wiederholungen auf. Letztere wiederholen oder variieren jedoch in keiner Weise Elemente aus den ersten Versen. Auch the‑ matisch knüpfen die Bildworte vom neuen Flicken auf dem alten Kleid und vom neuen Wein in alten Schläuchen nicht an die zuvor behandelte Frage des Fastens an. Berücksichtigt man zudem die übergeordneten Ebenen, erschließen sich die Verse 21 f. in der hier vorgelegten Interpretation der akustischen Textgestalt als Zentrum sowohl des zweiten Erzählbogens als auch des gesamten ersten Haupt‑ teils. Unabhängig davon, ob man sie Jesus oder dem Erzähler in den Mund legt, kommentieren und interpretieren sie in zwei Bildworten, was in den sie umge‑ 350
So in D durch Ausrücken der Zeile, F und G durch Zeichen am Rand. Meine Beschreibung der Form von 2,18 – 22 deckt sich zu weiten Teilen mit der Deweys (vgl. Dewey, Markan Public Debate, 88 – 94), doch zieht sie aus der Feststellung „virtually no use of repetition or other rhetorical devices is found connecting the two halves of the pericope“ (a. a. O., 89, Hervorhebung im Original) nicht die Konsequenz, die beiden Hälften je für sich als Einheit zu betrachten. 351
174
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
benden Kapiteln, insbesondere in den Auseinandersetzungen mit den Schriftge‑ lehrten und den Pharisäern, erzählt wird. Das „Streitgespräch“ über das Fasten ist streng durchkomponiert und klar zwei‑ geteilt in die Beschreibung der Ausgangslage samt Frage (V. 18) und die Ant‑ wort Jesu (V. 19 f.). Jede der beiden Hälften ist dreigeteilt; die ersten fünf Phrasen enden mit dem Verb νηστεύειν, auch in der sechsten kommt es vor. ‚Fasten‘ bzw. ‚Nichtfasten‘ strukturiert die ganze Perikope, wobei Frage und Antwort gegen‑ läufig aufgebaut sind: Frage:
fasten (18a)
– fasten (18b)
– nicht fasten (18c)
Antwort:
nicht fasten (19a)
– nicht fasten (19b) – fasten (20)
Mit der vorhergehenden Perikope bestehen Stichwortverbindungen durch Perso‑ nenbezeichnungen; die beiden in V. 15 – 17 erstmals erwähnten μαθηταί (c) und Φαρισαῖοι (d) kommen auch hier wieder vor. Zudem wird dem ‚Essen‘ (ἐσθίειν, e, V. 16) das ‚Fasten‘ (νηστεύειν, eopp) gegenübergestellt. 18 Die drei Phrasen mit Einleitung und Frage haben alle einen ähnlichen Aufbau: ‚Die Jünger des XY‘ (c f, c d, cJes) ‚fasten [nicht]‘ (e[opp]). Die Frage (V. 18b) beginnt mit einer Wiederholung der Einleitung (V. 18a); den beiden dort genannten Gruppierungen werden dann die Jünger Jesu gegenübergestellt (δέ), die nicht fasten. Nicht ganz konsequent ist die Formulierung bei den Pharisäern: In V. 18a steht οἱ Φαρισαῖοι (d), bei der Wiederaufnahme in V. 18b οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων (c d). Evtl. spiegelt sich hier die Gratwanderung zwischen prägnanter Formulierung – die Jünger des / der Einen contra die Jünger des Anderen – und korrekter Bezeichnung wieder; die übliche Sprachregelung war, wie auch V. 18a zeigt, ‚Pharisäer‘. Der Ausdruck ‚Jünger der Pharisäer‘ für diejenigen, die sich zu dieser Bewegung zählten, war offensichtlich kaum gebräuchlich.352 Die Perikope beginnt, anders als die bisherigen, nicht mit der Darstellung einer Szene, sondern mit einer Information des Erzählers für sein Publikum: ‚Und die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten.‘ In ἦσαν νηστεύοντες schwin‑ gen zwei Aspekte des Durativen mit, die nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen: Zum einen kann es meinen, dass es bei den Genannten üblich war zu fasten, zum anderen, dass sie ‚gerade am Fasten waren‘. Das Erste impliziert die Einhaltung bestimmter Fastenregeln, denen sich die Jesusanhänger nicht unter‑ warfen. Diese Regeln waren vermutlich strenger als die anderer Gruppierun‑ gen und bezeugten die religiöse Ernsthaftigkeit derer, die sie einhielten.353 Die andere Interpretation knüpft an das Mahl Jesu ‚mit den Zöllnern und Sündern‘, 352 Im NT nur noch Mt 22,16 (dort μαθηταὶ αὐτῶν mit klarem Bezug des Personalpronomens auf die Pharisäer in V. 15); darüber hinaus in der antiken griechischen Literatur, soweit ich sehe, nur noch bei Basilius von Caesarea, der auf Mt 22,16 f. Bezug nimmt (Bas. const. asc. IV.5.). 353 Für die Pharisäer sind freiwillige Fastentage belegt; historische Informationen über die Fastenpraxis der Johannesjünger gibt es hingegen nicht, nur der asketische Lebensstil ihres Meisters ist überliefert (Mk 1,6; vgl. Collins, Mk, 198; Pesch, Mk I, 172; France, Mk, 138).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
175
mit ‚seinen Jüngern‘ (2,15) an. Während die einen gerade essen, fasten die ande‑ ren.354 Auffällig ist, dass hier die Pharisäer in einem Atemzug mit den Jüngern des Johannes genannt werden, der ja als Wegbereiter Jesu (vgl. 1,2 – 8) nicht in Opposition zu diesem steht – die Einteilung in Freund und Feind wird dem Pub‑ likum nicht leicht gemacht. Die Prädikate in der Einleitung zur Frage – ‚und sie kommen und sagen zu ihm‘ – bezieht die Hörerin automatisch auf die zuvor genannten Subjekte, ‚die Jünger des Johannes und die Pharisäer‘. Etwas verwunderlich ist es jedoch, dass dann in der direkten Rede in der dritten Person über diese gesprochen wird; man würde erste Person Plural erwarten. Ich gehe davon aus, dass diese Inkonsistenz dem Willen zur formalen Gestaltung geschuldet ist; die (fast) wörtliche Wieder‑ holung der Einleitung als Anfang der Frage unterstreicht den Gegensatz, der im Anschluss zu den Jesusjüngern aufgebaut wird. Natürlich ist es grammatikalisch möglich, für ἔρχονται und λέγουσιν eine sonst ungenannte Gruppe als Subjekt anzunehmen oder auch unpersönlich mit ‚man kommt und fragt ihn‘ zu überset‑ zen.355 Diese Lösungen des Dilemmas scheinen mir sowohl die Linearität des Hörens zu vernachlässigen als auch an der Intention des Textes vorbeizugehen, das Verhalten der Jünger Jesu mit dem anderer ‚Jünger‘ zu kontrastieren – ins‑ gesamt viermal kommt die eben (2,15) eingeführte Bezeichnung in diesem Vers zum Einsatz, dabei erst beim letzten Mal wieder für die Jünger Jesu. Wurden in der vorigen Perikope die Jünger auf das Verhalten Jesu angesprochen (2,16), ist es hier nun umgekehrt; Jesus gibt, wie auch schon zuvor (2,17), die Antwort. 19 f. Die Antwort Jesu übernimmt das Dreierschema von V. 18; hier sind die in allen drei Phrasen wiederholten Elemente eine Zeitangabe (i) ‚der Bräuti‑ gam‘ (j) – ‚mit ihnen‘ / ‚von ihnen weg‘ (h / hopp) – ‚fasten‘ (eopp). Jesus nimmt das ‚Nicht-Fasten‘ auf, das am Ende der Frage steht, und antwor‑ tet in einem Bild: Solange der ‚Bräutigam‘ (ὁ νυμφίος) ‚mit ihnen‘ ist, können die ‚Söhne des Hochzeitssaales‘ (οἱ υἱοὶ τοῦ νυμφῶνος)356 nicht fasten. Aus dem Zusammenhang ist klar, dass mit ὁ νυμφίος Jesus selbst gemeint ist und οἱ υἱοὶ τοῦ νυμφῶνος für seine Jünger stehen; dieser Ausdruck bezeichnet die Hoch‑ zeitsgäste, nach Bauer genauer den „d[em] Bräutigam am nächsten stehende[n], für die Ausführung des Festzeremoniells unentbehrliche[n] Teil der Gäste“.357 354
Vgl. Pesch, Mk I, 172. So überwiegend in den Kommentaren (vgl. Pesch, Mk I, 171; France, Mk, 138; Collins, Mk, 198; Lührmann, Mk, 62 f.) und auch bei Dewey, Markan Public Debate, 88. Nicht im Kommentar, aber in der Übersetzung „and people come and said to him“ ist diese Interpretation auch bei van Iersel zu erkennen (van Iersel, Mk, 154). Oft wird damit die These verbunden, die ursprüngliche Erzählung beginne mit V. 18b und V. 18a sei redaktionell bzw. der Anfang sei überarbeitet worden (vgl. Pesch, 171; Lührmann, Mk, 62). Guelich schließt sich zwar der Redaktionsthese an, spricht dann aber von den Pharisäern als „logical subject“ (Guelich, Mk I, 109). 356 Zur Herkunft von οἱ υἱοὶ τοῦ νυμφῶνος s. Joachim Jeremias, νύμφη, νυμφίος, 1096, Anm. 40. 357 Bauer s. v. νυμφών, 1103. 355
176
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Auch hier wird zuerst zweimal fast das Gleiche gesagt, zuerst in Form einer rhe‑ torischen Frage, dann als Aussage. Diese beiden Phrasen verbindet außer den genannten Elementen zudem das ‚nicht können‘ (μὴ / οὐ δύναται, g); es ist keine Frage, ob die Jünger Jesu eine bestimmte Fastenpraxis pflegen wollen, sie können es gar nicht. Begründet wird das mit der Anwesenheit Jesu unter ihnen – solange er, der ‚Bräutigam‘ da ist, ist Hochzeit und sie sind als dessen engere Freunde unentbehrlich für das Gelingen des Festes.358 Das ‚mit ihnen‘-Sein wird von zwei Seiten, sowohl in Bezug auf die Person als auch auf die Wortreihenfolge, beleuchtet: ‚Mit ihnen ist er‘ (μετ’αὐτῶν ἐστιν, V. 19a) bzw. ‚sie haben ihn mit sich‘ (ἔχουσιν μετ’αὐτῶν, V. 19b); hier klingt die Tischgemeinschaft von vorhin (2,16) nochmals an. Die dritte Phrase (V. 20) ist wiederum mit δέ als Gegensatz zum gerade Gesag‑ ten markiert. Durch ihre andere Form und das andere Tempus hebt sie sich von den anderen fünf Aussagen zum Fasten ab: Eine Inclusio (ἡμέραι / τῇ ἡμέρᾳ, k) umgibt hier das Fasten. Nachdem bisher alles im Präsens verhandelt wurde, geht nun der Blick in die Zukunft: Die Verben stehen im Futur, insgesamt gibt es vier Zeitangaben: ‚Tage, [die kommen werden]‘ (ἡμέραι), ‚wenn‘ (ὅταν) – ‚dann‘ (τότε), zum Schluss präzise ‚an jenem Tag‘ (ἐν ἐκείνῃ ῇ ἡμέρᾳ). Der Gegensatz manifestiert sich nicht zwischen verschiedenen Gruppierungen, sondern in ver‑ schiedenen Zeiten – in der Gegenwart können die Jünger nicht fasten, in der Zukunft wird es aber eine Zeit, präziser ‚jenen Tag‘, geben, an dem sie fasten werden. Die Zeiten unterscheiden sich durch die Anwesenheit des Bräutigams; im Jetzt ist er ‚mit ihnen‘ (h), ‚dann, an jenem Tag‘ wird er ‚von ihnen fortgeris‑ sen‘ (ἀπαρθῇ ἀπ’αὐτῶν, hopp). Ein erstes Mal, noch sehr leise, klingt hier wie als Vorausimitation der Leidensankündigungen ‚auf dem Weg‘ (8,27 – 33; 9,30 – 32; 10,32 – 34) ein Hinweis auf den Tod Jesu an, den nur diejenigen vernehmen, die den weiteren Verlauf der Geschichte zumindest in groben Zügen kennen.359 Wem das vierte Gottesknechtslied (Jes 52,13 – 53,12) in der Version der Septuaginta vertraut ist,360 bemerkt die Ähnlichkeit des etwas vagen ἀπαρθῇ ἀπ’αὐτῶν des Markus zum deutlicheren αἴρεται ἀπὸ τῆς γῆς ἡ ζωὴ αὐτοῦ (Jes 53,8), dem im Nachsatz noch der Tod (ἤχθη εἰς θάνατον) folgt. Worum geht es aber beim zukünftigen Fasten der Jünger Jesu? Etliche Kom‑ mentatoren vermuten hinter diesen Worten einen Zusammenhang mit der Fasten‑ praxis der frühen Kirche, die legitimiert werden solle.361 Das steht aber zumin‑ dest nicht im Fokus der Perikope.362 Im Gegensatz zum Essen, das im zweiten 358
Vgl. Kern, Fasten oder feiern, 267 f. Vgl. van Iersel, Mk, 155. 360 Hinweis auf Jes 53,8 bei Pesch, Mk I, 175. 361 Vgl. Collins, Mk, 199, Anm. 115; Lührmann, Mk, 63; France, Mk, 140; Pesch, Mk I, 175. 362 Ähnlich argumentiert auch van Iersel, Mk, 155 f. 363 Das Adjektiv νῆστις in 8,3 meint, so geht klar aus dem Zusammenhang hervor, ‚ohne gegessen zu haben‘ / ‚hungrig‘ und hat nichts mit religiöser Fastenpraxis zu tun. 359
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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Hauptteil zu einem zentralen Thema wird, ist das hier die einzige Stelle, an der Markus sich mit dem Fasten beschäftigt.363 Vielmehr, so hat auch Matthäus die Stelle interpretiert364, ist das Fasten Ausdruck der Trauer der Jünger über den Tod Jesu. Der markinische Jesus weist selbst auf sein Ende hin, in dem die Mächtigen Jerusalems über ihn triumphieren werden – so werden schon in die Erzählung seines vollmächtigen Wirkens in Galiläa erste Züge der Ohnmacht in das Bild Jesu eingezeichnet, die auch auf seine Nachfolger Auswirkungen haben. Doch jetzt ist ‚Hoch-Zeit‘ – die Tage der Machtlosigkeit und der Trauer365 werden erst kommen. In der Perikope über das Fasten werden die Jünger Jesu zwei Gruppierungen gegenübergestellt, die sich durch ihre besondere religiöse Praxis auszeichnen. Die Jünger des Johannes, des Wegbereiters Jesu (1,2 – 8), werden dabei in einem Atemzug mit den Pharisäern genannt, die sich im weiteren Verlauf des Evange‑ liums immer deutlicher als Gegner Jesu erweisen. Von einer Auseinandersetzung ist hier noch nicht viel zu spüren, jedoch wird deutlich, dass nicht nur Jesus selbst auffällt, sondern auch seine Anhänger; auch sie sind „anders“. Die Gegenwart wird für die Jünger Jesu im Bild der Hochzeit als Freudenzeit qualifiziert, weil Jesus ‚mit ihnen‘ (μετ’αὐτῶν) ist. Es ist nicht die Zeit der religiösen Übungen und die Zeit der Askese, sondern die Zeit des Festmahls, der Tischgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern (2,16) und, blickt man zu den großen Spei‑ sungen in Kap. 6 und 8 voraus, die Zeit des Sattwerdens. Doch schon ist ein erster Hinweis auf den bevorstehenden Tod Jesu zu hören, der die Zeiten auch für die Jünger ändern wird. III.2.3.4. Alte Kleider, junger Wein (2,21 f.) Die beiden Bildworte über den neuen Flicken auf dem alten Kleid und den neuen Wein in alten Schläuchen stechen, wie oben in der Diskussion um die Abtren‑ nung dieser Verse von V. 18 – 20 schon angesprochen, aus dem Kontext hervor. Sie können entweder als Fortsetzung der Rede Jesu oder auch als Erzählerkom‑ mentar verstanden werden. Sie beginnen ohne Verbindung zum Vorhergesagten mit einem asyndetischen Satzanschluss. Ihr Wortschatz trennt sie zudem nicht nur von der Perikope über das Fasten, sondern verleiht ihnen im Markusevan‑ gelium, ja sogar im gesamten Neuen Testament Singularität. Einige Lemmata – ἐπίβλημα, ῥάκος, ἄγναφος, ἐπιράπτειν, ἀσκός – sind im Neuen Testament nur hier und an den Parallelstellen Mt 9,16 f. und Lk 5,36 f. zu finden. Zudem ver‑ wendet Markus σχίσμα, παλαιός, νέος und die Wendung εἰ δὲ μή nur hier. Von den inhaltlich wesentlichen Wörtern erscheint einzig καινός noch anderweitig im Markusevangelium, in 1,27 als ‚neue Lehre in Vollmacht‘ und im Sinne von 364
Vgl. die Parallelstelle zu Mk 2,19, in der Matthäus ‚sie können nicht fasten‘ mit ‚sie können nicht trauern‘ (πενθεῖν) ersetzt (Mt 9,15). 365 Vgl. 14,19.35.72.
178
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 2:21
a
avar aopp
b c 2:22
a b
a
aopp
g avar d aopp
g c g
d d
g avar d a
oujdei«ß e˙pi÷blhma rJa¿kouß aaÓgna¿fou e˙pira¿ptei e˙pi« i˚ma¿tion apalaio/n ei˙ de« mh/ ai¶rei to\ plh/rwma aÓp∆aujtouv ato\ kaino\n atouv palaiouv kai« cei√ron sci÷sma gi÷netai kai« oujdei«ß ba¿llei goi•non ane÷on dei˙ß aÓskou\ß apalaiou/ß ei˙ de« mh/ rJh/xei goJ oi•noß dtou\ß aÓskou\ß kai« goJ oi•noß aÓpo/llutai kai« doi˚ aÓskoi÷ aÓll∆ goi•non ane÷on dei˙ß aÓskou\ß akainou/ß
Abb. 11: Mk 2,21 f.
‚von Neuem‘ in 14,25 in der Aussage Jesu bei seinem letzten Mahl mit den Jüngern, er werde erst wieder im Reich Gottes von der Frucht des Weinstocks trinken. Auch durch ihre strenge formale Gestaltung fallen diese Verse auf. Wie in V. 18 – 20 ist ein Dreierschema zu erkennen, das zweimal durchgeführt wird: Eine Aussage, darüber, was ‚niemand‘ tut (οὐδείς, a), die direkten Folgen, falls es jemand doch tun würde, eingeleitet mit ‚falls doch‘ (εἰ δὲ μή, b), und die weite‑ ren Auswirkungen, angeschlossen mit καί (c). An V. 22 ist eine weitere Zeile mit ἀλλά angefügt, die das richtige Handeln benennt und somit eine Inclusio zum Anfang dieses Bildwortes herstellt. Die Formulierungen sind knapp, in V. 22 in den letzten zwei Zeilen zudem elliptisch: Die vorletzte Aussage über das Ver‑ derben des Weines und der Schläuche ist als ἀπὸ-κοινοῦ-Figur konstruiert; das Prädikat (Sg.) des ersten Subjekts (ὁ οἶνος) muss inhaltlich auch auf das zweite Subjekt (ἀσκοί, Pl.) angewandt werden. Dem abschließenden Satz hingegen fehlt ein Verb, sodass er, unterstützt durch seine besondere Klanglichkeit und Rhyth‑ mik, zum prägnanten Merkspruch wird. Der textkritische Befund zeigt, dass insbesondere die Ellipsen zu Ergänzungen verleiteten; praktisch alle anderen Lesarten lassen sich so auf die des Codex Vaticanus zurückführen, die hier wie in NA28 zugrundgelegt wird. Auffällig ist zudem die geringe Variantenbreite in V. 21; der Vers wird sehr einheitlich überliefert.366
Die Singularität der beiden Bildworte zeigt sich noch auf einer anderen Ebene: Soweit ich sehen kann, sind weder im Alten Testament (inkl. den späten Schrif‑ 366
Der Apparat von NA28 belegt die vorhandenen Varianten für V. 21 nicht, von denen einzig die unterschiedliche Formulierung der zweiten Zeile erwähnenswert ist. Die am besten belegte Lesart (in NA28 übernommen) spricht vom Neuen und Alten in einem Nachsatz, der elliptische Züge trägt. Auch hier wurde „verbessert“ und das Material zu einem flüssigen Satz arrangiert (vgl. Swanson, Manuscripts, 32).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 2:21
Niemand näht ein Stück ungewalkten Stoff auf ein altes Gewand, falls doch, reißt der Flicken von ihm ab, das Neue vom Alten, und der Riss wird schlimmer.
2:22
Und niemand füllt jungen Wein in alte Schläuche, falls doch, wird der Wein die Schläuche zerreißen und der Wein wird vernichtet und auch die Schläuche. Im Gegenteil: Jungen Wein in neue Schläuche!
179
Übersetzung zu Abb. 11
ten der Septuaginta)367 noch in der paganen Literatur368 Vorläufer bzw. Paralle‑ len zu finden; außer in den synoptischen Evangelien sind sie – in einem anderen Kontext, in anderer Formulierung mit Betonung anderer Aspekte und deshalb auch mit anderen Interpretationsmöglichkeiten – im Thomasevangelium zu fin‑ den (ThomEv 47). Doch darüber hinaus scheint es keine Anknüpfungspunkte zu geben; offensichtlich waren es im 1. Jahrhundert noch keine geläufigen Sprich‑ wörter, sondern wurden unter Aufnahme anschaulicher Beispiele aus dem Alltag neu gebildet.369 21 Im ersten Bild ist das Neue ein ‚ungewalktes Stück Stoff‘ (ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάφου), das niemand auf ein ‚altes Gewand‘ (ἱμάτιον παλαιόν) aufnäht. Nur aus dem Schlusssatz – ‚und der Riss wird schlimmer‘ – geht hervor, dass ein Flicken aufgenäht wird, weil das Gewand ein Loch hatte. Die mittlere Aussage beschreibt zuerst die Folgen, die ein Handeln gegen die als Allgemeinwissen dar‑ gestellte Einsicht nach sich ziehen würde: ‚wenn doch, reißt der Flicken von ihm ab‘. Dann wird sozusagen bildintern der Interpretationsschlüssel direkt nachge‑ liefert: ‚das Neue vom Alten‘ (τὸ καινὸν τοῦ παλαιοῦ). Mit einem ‚Füllstück‘ des Neuen – so wörtlicher statt ‚Flicken‘ für πλήρωμα – lässt sich der Schaden am Alten nicht beheben; im Gegenteil, der Schaden wird größer. 367 In Ansätzen vergleichbar, aber doch in einem ganz anderen Kontext stehend, wäre evtl. Hi 32,19. Hier steht der Wein in den Schläuchen für die Worte, die sich aus dem jungen Elihu herausdrängen wollen (MT) bzw. in ihm wie in einem zugebundenen Schlauch am Gären sind (LXX), nachdem er lange den Älteren zugehört hat. 368 Weder Neuer Wettstein (Mk) noch Berger / Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch, bieten Material zu Mk 2,21 f. Auch bei Collins, die in ihrem Kommentar in großem Umfang pagane Parallelen nennt, erwähnt zu 2,21 f. nichts dergleichen (vgl. Collins, Mk, 199 f.). 369 Pesch geht davon aus, dass hier „sicher ein authentisches Jesuswort“ vorliegt (Pesch, Mk I, 177), was natürlich, sobald man in Erwägung zieht, es könne sich statt mündlicher Rede Jesu um einen Erzählerkommentar handeln, in Frage gestellt wird.
180
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
22 Im zweiten Bild steht ‚junger Wein‘ (οἶνον νέον) für das Neue; insge‑ samt gibt es drei Adjektive für neu (α): ἄγναφος, νέος und das in beiden Ver‑ sen verwendete allgemeine καινός. Dieser Vielfalt des Neuen steht das eine Alte (παλαιός, αopp) gegenüber, das in der Bildsprache auch leicht hätte variiert werden können (z. B. löchrige Kleider, hart gewordene Schläuche). Anders als in V. 21, in dem in den drei Zeilen jeweils neues Vokabular verwendet wurde, werden in den vier Zeilen von V. 22 jedes Mal der Wein (ὁ οἶνος, γ) und die Schläuche (ἀσκοί, δ) erwähnt. Nur am Anfang und am Schluss sind sie als alt oder neu qualifiziert. In der Mitte ist klar, dass es sich um den zu Anfang erwähnten ‚jungen Wein‘ und die ‚alten Schläuche‘ handelt: Der Wein zerreißt die Schläuche. Hier wird betont, dass beides verdirbt – das Alte und das Neue. Benannt werden das Alte und das Neue jedoch nur in den beiden äußeren Versen, die dadurch und durch den abge‑ sehen von der Ellipse am Schluss gleichen Satzbau eine Inclusio bilden. In dieser wiederholt der programmatisch-prägnante Merkspruch am Schluss positiv das, was negativ schon zu Anfang gesagt wurde; παλαιός und καινός, hier jeweils am Ende der Rahmenzeilen, werden dabei wie in der Mitte von V. 21 wieder kontras‑ tiert – das doppelte Neue (νέος, καινός) beschließt den Spruch. An den abschließenden Worten ist zudem die formale und klanglich-rhyth‑ mische Seite erwähnenswert: Je ein Substantiv bildet mit einem Adjektiv eine Einheit; diese vier tragenden Wörter sind alle zweisilbig. Οἶνον νέον trägt bei Substantiv und Adjektiv je auf der ersten Silbe einen Akzent, ἀσκοὺς καινούς hin‑ gegen jeweils auf der zweiten. Bei beiden Gruppen enden Substantiv und Adjek‑ tiv mit einem Gleichklang (‑ον bzw. ‑ούς). Darüber hinaus gibt es nur noch zwei kleine, akzentlose Wörter, die jeweils eine der beiden Gruppen wie ein Auftakt einleiten. So entsteht ein leicht zu merkender Slogan, der es mit „Veni, vidi, vici“ hinsichtlich trefflicher Kürze und formaler und klanglich-rhythmischer Prägnanz leicht aufnehmen kann. Abgesehen von der wiederholten Dreiteiligkeit und der Etablierung von Gegen‑ sätzen gibt es kaum etwas, was die Perikope über das Fasten mit den beiden Bild‑ worten zum Neuen und Alten verbindet. Wie ein erratischer Block stehen diese in der sie umgebenden narrativen Landschaft; auch das folgende Streitgespräch über das Ährenraufen am Sabbat übernimmt kein Vokabular aus V. 21 f., sondern schließt mit der Thematisierung des Hungerns (2,25) viel eher an die beiden vor‑ angehenden Szenen über die Tischgemeinschaft und das Fasten an. Dies spricht dafür, den Gedankenanstoß über die Unverträglichkeit des Alten und Neuen und das Programm ‚Jungen Wein in neue Schläuche!‘ noch etwas gären zu lassen und ihn erst in der Rückschau auf diesen Erzählbogen in Kap. III.2.3.7. auf seine Intention zu befragen. Für den Moment ist festzuhalten, dass die Worte über den neuen Flicken auf dem alten Stoff und den neuen Wein in alten Schläuchen mit ihren eingängigen Bildern und ihrer in sich stringenten Form so komponiert sind, dass sie trotz und gerade in ihrer Singularität im Gedächtnis des Publikums haf‑ ten bleiben.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
181
III.2.3.5. Satt werden am Sabbat (2,23 – 28) Ich übernehme wieder den sehr gut bezeugten Text von NA28, dennoch sei auf andere Lesarten verwiesen: Neben Verbesserungen sprachlicher Härten – Angleichung des Präfixes an die fol‑ gende Präposition bei παραπορεύεσθαι διὰ τῶν σπορίμων (V. 23)370 und Dativ statt τοὺς ἱερεῖς (V. 26)371 – sind zwei Stellen erwähnenswert, zu denen formal und inhaltlich relevante Varian‑ ten überliefert sind: B und D sowie zwei altlateinische Textzeugen beginnen V. 26b ohne πῶς; der Vers ist in dieser Lesart keine Frage, sondern eine Aussage, die als Antwort auf die Frage in V. 25.26a – ‚Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als . . .?‘ – verstanden werden kann: ‚Er ging hinein . . .‘. In V. 27 ersetzen D und W sowie der syrische Sinaiticus (4. / 5. Jh.) und die altlateinischen Textzeugen die erneute Einleitung der direkten Rede durch Jesu λέγω δὲ ὑμῖν. W und der syrische Sinaiticus lassen zudem die zweite, negative Aussage (‚und nicht der Mensch für den Sabbat‘) weg, D und die altlateinische Überlieferung fahren gleich mit V. 28 (ohne ὥστε) fort und bieten damit eine Lesart, die als Vorlage die Auslassung von V. 27 bei Matthäus und Lukas erklären könnte. Die Aussagen über die Menschentauglichkeit des Sabbats werden in diesen Lesarten zusammengestrichen; zudem ergeben sich durch die Auslassungen andere Textgestalten.
Am Ende des zweiten Erzählbogens des ersten Hauptteils werden zwei Episo‑ den erzählt, in denen zwischen den Pharisäern und Jesus verhandelt wird, was am Sabbat erlaubt ist (ἔξεστιν τοῖς σάββασιν,372 3,2; vgl. auch 2,24.26). Mit der im Dekalog verankerten Sabbatruhe wird eines der wichtigsten jüdischen Gebote thematisiert,373 für dessen Übertretung man mit dem Tod bestraft werden konnte (vgl. Ex 31,14 f.)374. Es sind zwei selbständige Szenen, die jedoch nicht nur durch das übergeordnete Thema und einige inhaltlich relevante Stichwort‑ verbindungen, sondern auch von einer Inclusio zusammengehalten werden: Die zwei zu Beginn genannten, sich gegenüberstehenden Personengruppen – Jesus mit seinen Jüngern, die Pharisäer – erscheinen am Ende wieder in umgekehrter Reihenfolge:
370
διαπορεύεσθαι in B, C, D und den altlateinischen Zeugen. So in der großen Mehrheit der Textzeugen; den Akkusativ bieten nur ℵ, B, 892 und einige sahidische und bohairische Manuskripte. In der Sekundärliteratur ist umstritten, ob im vorliegenden Fall nicht doch [auch] der Akkusativ – als Subjekt im AcI verstanden – korrekt sei (so Greeven und Turner, das Gegenteil vertritt u. a. Lohmeyer; vgl. zu dieser Diskussion Greeven / Güting, Textkritik, 172 f.). 372 Diese Terminologie entspricht der des zeitgenössischen Judentums; mit (οὐκ) ἔξεστιν wurde in halachischen Diskussionen verhandelt, was am Sabbat erlaubt sei und was nicht (vgl. Doering, Schabbat, 450). 373 Vgl. Lohse, σάββατον, 8. 374 Lohse verortet das Aufkommen dieser scharfen Bestrafung in der nachexilischen Zeit und weist sie auch noch in der rabbinischen Literatur nach (vgl. a. a. O., 5.13). 371
182 2,23 f.
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a A B C
D οἱ Φαρσαῖοι
3,6 f.
αὐτός [. . .] διὰ τῶν σπορίμων καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ
D οἱ Φαρσαῖοι var
A C Bvar
ὁ Ἰησοῦς μετὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ πρὸς τὴν θάλασσαν
Wie schon am Ende des ersten Erzählbogens (2,13a) liegt auch hier wieder eine Phrasenverschränkung mit der folgenden Episode am See vor. Festzuhalten ist zudem, dass der Name Jesu erst hier, am Übergang, genannt wird und vorher in beiden Sabbat-Perikopen nicht zu hören ist. Aufgrund der zwei verschiedenen Ortsangaben – ‚in den Saaten‘ (B, 2,23), ‚in der Synagoge‘ (Bvar, 3,1) – und der verschiedenen Nebenfiguren – die Jün‑ ger, David und ‚die mit ihm‘ (2,23 – 28), der Mensch mit der vertrockneten Hand (3,1 – 6) – werden die beiden Szenen trotz ihrer engen Verwandtschaft im Folgen‑ den als zwei eigenständige Perikopen untersucht. Die Episode ‚in den Saaten‘ lässt sich in drei Abschnitte gliedern, die je für sich eine formale und inhaltliche Einheit bilden, aber auch aufeinander bezogen sind: 23 f.
Auftreten der o. g. oppositionellen Parteien: Ährenabreißen der Jünger und Frage der Pharisäer
25 f.
Erste Antwort Jesu: Beispiel Davids
27 f.
Zweite Antwort Jesu: Worte über den Sabbat und den Menschen / den Menschensohn
Beide Antworten nehmen Stichworte aus V. 23 f. auf; das Motiv des Sabbats ([ἐν] τοῖς σάββασιν, a, V. 23 f., τὸ σάββατον, a, V. 27 f.), das im ersten und dritten Abschnitt formgebend ist, hält die ganze Perikope formal zusammen. 23 f. Nach den situativ ungebundenen Worten über das Neue und Alte wird nun wieder eine konkrete Szene beschrieben: Jesus wandert mit den Jüngern am Sab‑ bat ‚durch die Saaten‘ (διὰ τῶν σπορίμων). Dennoch, eine geografische Veror‑ tung, wie sie im ersten Erzählbogen vielfach begegnet, fehlt auch hier. Der bishe‑ rige Erzählverlauf lässt vermuten, dass sich Jesus und seine Jünger immer noch in Seenähe, wohl in der Gegend von Kafarnaum aufhalten. In diesem Abschnitt ist eine Ringkomposition angedeutet; fast am Anfang und kurz vor dem Ende findet sich die Zeitangabe [ἐν] τοῖς σάββασιν (a), weiter in der Mitte jeweils das Verb ποιεῖν (b). 23 Nach dem ersten Auftreten Jesu in der Synagoge zu Kafarnaum (1,21 – 29a) spielt nun wieder eine Episode an einem Sabbat. Sie wird eingeleitet mit ‚Und es
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
183
geschah‘ (καὶ ἐγένετο), einer Floskel, die Markus, im Gegensatz zu Lukas, nur noch in 1,9 zur Markierung eines Erzählabschnittes verwendet. Dieser erste Satz beschreibt, was Jesus gerade tut; er wandert durch die Kornfelder. Der zweite Satz berichtet etwas umständlich und mehrdeutig vom ‚Tun‘ seiner Jünger: ‚Sie begannen, einen Weg zu machen, abreißend die Ähren‘. Das ‚Machen‘ des Weges (ὁδὸν ποιεῖν) kann zum einen ‚einen Weg zurücklegen‘ (vgl. Ri 17,8) meinen, zum anderen ‚einen Weg bereiten / bahnen‘ (vgl. Jes 43,19LXX). Mit der Auffor‑ derung, dem ‚Herrn‘ den Weg zu bahnen, begann das Evangelium; sowohl ὁδός als auch ποιεῖν waren dort schon zu hören (1,3). Vergleichbare Elemente finden sich später beim Einzug in Jerusalem: Dort (11,8) bereiten die Leute Jesus den Weg, indem sie Stroh, Blätter o. ä. (στιβάδες) auf den Weg legen, die sie ‚von den Äckern abgehauen haben‘ (κόψαντες ἐκ τῶν ἀγρῶν). Dennoch, im Kontext des folgenden Streitgespräches über den Sabbat ist die Idee der Wegbereitung nur schwer unterzubringen. Näherliegend scheint das ‚Unterwegssein‘ zu sein – Jesus wandert durch die Felder, die Jünger sind dabei. Will man darüber spekulieren, warum Markus sich so ausdrückt, böte sich an, ihm zu unterstellen, er wollte das in beiden Perikopen über den Sabbat wichtige ποιεῖν (b) hier einführen. Die Pharisäer nehmen nachher das ‚Tun‘ der Jünger (τί ποιοῦσιν, V. 24) zum Anlass für ihre Frage. Ganz stringent lässt sich auch hier nicht argumentieren; Markus sagt es zwar nicht eindeutig, doch vieles spricht dafür, dass die Pharisäer nicht das Umhergehen,375 sondern das Abreißen der Ähren stört, das in ihrer Ausle‑ gung als Erntearbeit interpretiert werden könnte (vgl. Ex 34,21).376 Matthäus und Lukas jedenfalls haben den Markustext in diesem Sinne vereinfacht; sie las‑ sen das Umhergehen weg und berichten nur vom Abreißen der Ähren (Mt 12,1; Lk 6,1).377 24 Wie schon in der Perikope über das Fasten richten sich die Pharisäer an Jesus, obwohl sie, hier nun deutlicher als in V. 18, an seinen Jüngern Kritik üben: ‚Sieh, warum tun sie am Sabbat, was man nicht darf?‘ Das Homoioteleuton (‑σ[τ]ιν) fungiert als fokale Wiederholung; es lenkt auf klanglicher Ebene die Aufmerksamkeit auf die Anklage der Pharisäer. Das Tun und der Sabbat von V. 23 werden in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgenommen; neu und durch seine Endstellung betont ist der Vorwurf ‚nicht erlaubt!‘ (οὐκ ἔξεστιν, cneg). 375 Doering argumentiert gegen die Auffassung, der Verstoß gegen das Sabbatgebot be‑ stünde im Zurücklegen einer nicht zulässigen Wegstrecke, mit dem einfachen Hinweis darauf, dass es, da Jesus mit den Jüngern unterwegs war, wenig sinnvoll wäre, wenn die Pharisäer ihn nur auf ein Vergehen seiner Jünger ansprechen würden (vgl. Doering, Schabbat, 429 f.). 376 Nach Doering war das Verbot des Entfernens eines Teiles einer eingewurzelten Pflanze am Sabbat zur Zeit Jesu nicht nur bei den Pharisäern, sondern als gemeinsame Tradition über die Grenzen der verschiedenen jüdischen Gruppierungen hinweg anerkannt (vgl. Doering, Schabbat, 245 f.249). Zu den hier relevanten Sabbatvorschriften der Tora und deren Interpreta‑ tionen zur Zeit Jesu vgl. auch Collins, Mk, 201 f., Anm. 122 u. 123; Pesch, Mk I, 181, Anm. 11. 377 Lukas fügt noch das Zerreiben der Ähren und das Essen des Korns hinzu. Anders als Doering (vgl. Anm. 376) meint Pesch, erst das disqualifiziere das Verhalten der Jünger eindeutig als am Sabbat ‚unerlaubt‘ (vgl. Pesch, Mk I, 181).
184
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 2:23 A B C
kai« e˙ge÷neto aujto\n e˙n toi√ß sa¿bbasin paraporeu/esqai dia» tw◊n spori÷mwn kai« oi˚ maqhtai« aujtouv h¡rxanto oJdo\n poiei√n ti÷llonteß tou\ß sta¿cuaß
a b
2:24 D b a 2:25
2:26
2:27
cneg
kai« oi˚ Farisai√oi e¶legon aujtwˆ◊ i¶de ti÷ poiouvsin toi√ß sa¿bbasin o§ oujk e¶xestin kai« le÷gei aujtoi√ß oujde÷pote aÓne÷gnwte b ti÷ e˙poi÷hsen Daui«d Cvar
o¢te crei÷an e¶scen kai« e˙pei÷nasen aujto\ß kai« oi˚ met∆aujtou pw◊ß ei˙shvlqen ei˙ß to\n oi•kon touv qeouv d e˙pi« ∆Abiaqa»r aÓrciere÷wß kai« tou\ß a‡rtouß thvß proqe÷sewß e e¶fagen c neg ou§ß oujk e¶xestin e fagei√n d ei˙ mh\ tou\ß i˚erei√ß Cvar kai« e¶dwken kai« toi√ß su\n aujtwˆ◊ ou™sin kai« e¶legen aujtoi√ß a to\ sa¿bbaton f dia» to\n a‡nqrwpon e˙ge÷neto f kai« oujc oJ a‡nqrwpoß a dia» to\ sa¿bbaton
2:28
w‚ste ku/rio/ß e˙stin a
f
oJ ui˚o\ß touv aÓnqrw¿pou kai« touv sabba¿tou
Abb. 12: Mk 2,23 – 28
25 f. Die erste Antwort Jesu nimmt die Frage nach dem Tun (τί ἐποίησεν, b, V. 25) und das ‚nicht erlaubt‘ (οὐκ ἔξεστιν, cneg, V. 26) auf. Zudem wird in einer Variation, die in umgekehrter Weise schon aus der Fastenperikope – Jesus ist dort ‚mit ihnen‘ (μετ’αὐτῶν, 2,19) – geläufig ist, ein Pendant zu den Jüngern beschrieben: Mit ‚die mit ihm [sind]‘ (οἱ μετ’αὐτοῦ / τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν, Cvar) werden die Gefährten Davids bezeichnet. Jesu Antwort beginnt mit einem harten Gegenvorwurf an die Pharisäer: ‚Habt ihr denn noch nie gelesen?‘ Mit seiner Rekurrenz auf das ‚Tun‘ Davids, wie es in 1 Sam 21,2 – 7 überliefert ist, beruft er sich sowohl auf die Autorität der Schriften als auch auf eine der herausragendsten Gestalten der Geschichte Israels. Die Wiedergabe der Episode aus Davids Leben ist sehr frei und nicht in allen Details der Vorlage verpflichtet,378 doch dient sie in der vorliegenden Fassung, zudem von Markus in eine elaborierte Ringkompo‑ sition gegossen, bestens zur Verteidigung der Jünger. Aus dem Zusammenhang, 378 Am auffälligsten ist die falsche Wiedergabe des Namens des Hohenpriesters; in 1 Sam 21,2 wird Abimelech genannt. Zu den anderen Ungenauigkeiten vgl. Pesch, Mk I, 181 f.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 2:23
Und es geschah, dass er am Sabbat durch die Saaten wanderte.379 Und seine Jünger begannen unterwegs die Ähren abzureißen.
2:24
Und die Pharisäer sagten zu ihm: Sieh, warum tun sie am Sabbat, was nicht man nicht darf?
2:25 2:26
Und er sagte ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er Not hatte und hungerte, er selbst und die mit ihm? Wie er hineinging in das Haus Gottes zu Abjatar, dem Hohen Priester, und die Schaubrote aß, die man nicht essen darf – außer die Priester –,380 und er auch denen, die mit ihm waren, davon gab?
2:27 2:28
Und er sagte zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Also ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.
185
Übersetzung zu Abb. 12
insbesondere durch die genannten Parallelen, wird deutlich, dass Jesus sich und seine Jünger mit David und seinen Gefährten vergleicht. In der Davidsgeschichte ist es der „Meister“, der von den Schaubroten isst und ‚die mit ihm‘ in sein unerlaubtes Handeln einbezieht, indem er auch ihnen davon gibt. In V. 23 wird zwar nur vom Handeln der Jünger Jesu berichtet, doch ist es auch hier der „Meister“, der dafür Verantwortung übernimmt, da ja er den Phari‑ säern mit dem Beispiel dieses anderen „Meisters“ antwortet. Der Grund für Davids Handeln wird doppelt benannt: Zuerst allgemein mit ‚Not haben‘ (χρείαν ἔσχεν), dann spezifischer mit ‚hungern‘ (ἐπείνασεν). Der Zusatz ‚er selbst‘ (αὐτός) ‚und die mit ihm‘ hebt die Zusammengehörigkeit von „Meister“ und Anhängerschaft hervor. Dieser Hervorhebung dient auch die Ver‑ wendung von οἱ μετ’αὐτοῦ und τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν (Cvar) als Rahmenelemente der Ringkomposition, in deren Innerem nur vom Handeln Davids gesprochen 379 380
Vgl. Bauer, Wörterbuch, Art. σπόριμος, Sp. 1524. Auch im Griechischen ist dieser Satz grammatikalisch nicht einwandfrei.
186
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
wird. Im Zentrum steht οὐκ ἔξεστιν (cneg); das, was David ‚tut‘, ist nicht erlaubt – er isst von den Broten, die ‚außer den Priestern‘ niemand essen darf. Jesus ver‑ teidigt also das Verhalten der Jünger nicht als ‚doch erlaubt‘, sondern beruft sich auf das Vorbild Davids, das in den Schriften belegt ist, zumindest in seiner etwas eigenwilligen Wiedergabe der biblischen Geschichte. Beim Vergleich zwischen dem Verhalten der Jünger mit dem Davids und sei‑ ner Gefährten stellt sich die Frage, ob über die Übertretung des Gesetzes hinaus weitere Analogien zu erkennen sind. Das Tun der Jünger ist sehr vage umschrie‑ ben und wird nicht begründet, über David und seine Gefährten erfahren wir, dass der Hunger Auslöser für ihr Handeln war. Nach den beiden vorigen „Streit‑ gesprächen“ über die Tischgemeinschaft Jesu und das Fasten ist das Publikum gut darauf vorbereitet, weitere Aspekte des Essens wahrzunehmen; auch ‚nötig haben‘ (χρείαν ἔχουσιν, 2,17) ist ihm in diesem Zusammenhang schon im Wort Jesu über den Arzt begegnet. Der Schluss, dass die Jünger wie die Gefährten Davids hungrig waren, liegt nahe. Auch in der Vorschau auf den weiteren Verlauf des Evangeliums finden sich Gründe dafür, die Nacherzählung der Episode aus 1 Sam 21,2 – 7 im Kontext der Mahlgemeinschaften Jesu zu verstehen: In der Perikope vom „Ährenraufen“ erklingt zum ersten Mal das Stichwort ‚Brot‘ (ἄρτος), das in den großen Speisun‑ gen (6,30 – 45; 8,1 – 9) und beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (14,17 – 26) wie das ebenfalls hier prominent vertretene ‚essen‘ (ἐσθίειν, e) ein Hauptmotiv sein wird.381 Wie David den Seinen, so ‚gibt‘ (ἐδίδου, 6,41; 8,6; ἔδωκεν, 14,22) auch Jesus bei allen drei Gelegenheiten seinen Jüngern das Brot. Bei den gro‑ ßen Speisungen teilen diese es dann der versammelten Menschenmenge aus, die nach einem ganzen Tag (6,35) oder gar nach drei Tagen (8,2) hungrig ist; Markus betont, dass alle ‚satt werden‘ (ἐχορτάσθησαν, 6,42; 8,8). So klingt bereits in der Perikope vom Ährenraufen trotz der Unbestimmtheit des ‚Tuns‘ der Jünger das Sattwerden der Hungrigen durch das Brot aus der Hand des „Meisters“ an. Dieser später in den Speisungserzählungen breit ausgeführten Aspekt erweitert das Bild der Tischgemeinschaft Jesu mit den Seinen, das in den ersten beiden „Streitge‑ sprächen“ gezeichnet wurde. Ein weitere wichtige Wortfamilie wurde bereits in V. 23 eingeführt: die Saat, hier in Gestalt der ‚besäten Felder‘ (σπόριμος). In den drei Saat-Gleichnissen in Kap. 4 wird dieses Thema gründlich bearbeitet – dort finden sich dann fünfzehn Belege der Wortfamilie ‚säen‘.382 27 f. Die zweite Antwort Jesu ist deutlich von der ersten abgesetzt; obwohl Jesus weiterspricht, wird die mündliche Rede durch ein erneutes καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς ein‑ geleitet. Zwei Lexeme strukturieren diesen Abschnitt, die je dreimal vorkommen; 381
Markus verwendet das Verb ἐσθίειν sechsmal in 6,30 – 45, dreimal in 8,1 – 9 und fünfmal in 14,12 – 26 (letztes Mahl Jesu inkl. Vorbereitung). 382 Hauptsächlich das Verb σπείρειν, dazu zweimal σπόρος und einmal σπέρμα.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
187
‚Sabbat‘ (a), hier im Singular, wird aus der Einleitung der Perikope übernom‑ men, neu hinzu kommt ‚der Mensch‘ (ὁ ἄνθρωπος, f). Die Antwort ist zweige‑ teilt: Zuerst ist eine allgemeine Aussage über die Bestimmung des Sabbats zu hören; aus dieser folgert Jesus den Anspruch, der ‚Menschensohn‘ sei ‚Herr auch über den Sabbat‘. Die doppelte Aussage über den Sabbat ist als einfache, klare Ringkomposition angelegt (a – f – f – a), die Schlussfolgerung beginnt mit dem neuen Element ‚deshalb ist Herr‘ (ὥστε κύριός ἐστιν) und endet formal mit einer Wiederholung der zweiten Hälfte der Ringkomposition (f – a), im Wortspiel mit ἄνθρωπος ist nun vom υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου die Rede. Κύριός ἐστιν steht im Zen‑ trum dieser Antwort, eingerahmt von Aussagen über den Sabbat und den Men‑ schen und über den Menschensohn und den Sabbat. 27 Konterte Jesus in seiner ersten Antwort auf die Anklage der Pharisäer, seine Jünger würden das Sabbatgebot nicht achten, mit einem vergleichbaren Fall aus der Schrift, formuliert er nun seinen eigenen Umgang mit dem Sabbatgebot in einem als allgemeingültig präsentierten Wort: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt. Implizit äußert er damit Kritik an einer (nicht spezifisch pharisäischen) Auslegung des Sabbatgebotes zur Zeit Jesu,383 die im Bestreben, den Sabbat zu heiligen, so detaillierte Vorschriften entwickelt, dass deren Befol‑ gung zur Anstrengung wird, die der ursprünglichen Bestimmung dieses Ruheta‑ ges „als Vorgeschmack der ewigen Herrlichkeit“384 zuwider läuft. Das Wort Jesu zum Verhältnis von Sabbat und Mensch lässt diese ursprüngliche Bestimmung zur Geltung kommen.385 28 Im zweiten Wort bestimmt Jesus das Verhältnis zwischen Sabbat und dem ‚Menschensohn‘. Zwar knüpft υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου sprachlich eng an ἄνθρω‑ πος aus V. 27 an und legt auch ὥστε nahe, dass hier im Prinzip nochmals das Gleiche in etwas anderer Formulierung gesagt wird, dennoch passt sich diese Deutung kaum in den Gesamtrahmen des Evangeliums ein. In der ambivalenten Selbstbezeichnung ‚Menschensohn‘, wie sie Markus in 2,10 einführt, interferie‑ ren hohe christologische Obertöne mit der Betonung des Menschseins Jesu.386 In der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten beanspruchte Jesus für sich als ‚Menschensohn‘ die ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία, 2,10) zur Vergebung der Sünden; hier nun gibt er sich als ‚Herr‘ (κύριος) ‚auch über den Sabbat‘ (καὶ τοῦ σαββά‑ του) zu erkennen. Bisher war das κύριος-Motiv nur in der Ouvertüre zu hören (1,3). Schon dort war sein Klang flirrend; der Gottesname der Septuaginta und 383
Lohse beschreibt anhand von Jubiläenbuch, Damaskusschrift und dann den späteren rab‑ binischen Texten ein sich von der hellenistischen Zeit bis weit nach dem 1. Jh. immer weiter ausdifferenzierendes kasuistisches Regelwerk zur Sabbatobservanz (vgl. Lohse, σάββατον, 11). 384 A. a. O., 8. 385 Auch dieses Sabbatverständnis wurde mit großer Wahrscheinlichkeit zur Zeit Jesu von vielen Juden vertreten (vgl. Collins, Mk, 203). Eine inhaltlich und formal sehr ähnliche Sen‑ tenz ist erst in späteren jüdischen Schriften zu finden: „Euch ist der Sabbat übergeben, und nicht seid ihr übergeben dem Sabbat“ (b. Yoma 85b, zitiert nach Doering, Schabbat, 417). 386 Zu ‚Menschensohn‘ vgl. Kap. III.2.2.4., S. 154 – 157.
188
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
der ‚Herr Jesus Christus‘, wie ihn die frühchristliche Gemeinde bezeugt, überla‑ gerten sich.387 Nun ertönt das κύριος-Motiv zum zweiten Mal; die Kombination mit dem ‚Menschensohn‘ setzt Assoziationen einer Gottesnähe Jesu frei, die sich rational nicht fassen lässt, und überwindet den Gegensatz, der bei Ezechiel zwi‑ schen dem υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου und dem κύριος offenbar wurde.388 Im vierten Hauptteil des Evangeliums wird Markus in der Gegenüberstellung Jesu mit den Herren Jerusalems im Jerusalemer Tempel unter Verwendung der beiden Motive ἐξουσία und κύριος dieses Thema weiter entfalten.389 Die Nacherzählung der Szene im Heiligtum zu Nob und die Worte über den Sab‑ bat scheinen auf den ersten Blick formal nicht viel miteinander zu tun zu haben; V. 27 f. knüpft mit der Wiederholung von ‚Sabbat‘ an V. 23 f. an, nimmt aber kein Element aus V. 25 f. auf. Dennoch unterstreicht die hörbare Gestalt der beiden sehr unterschiedlichen Antworten Jesu den inhaltlichen Bezug, den sie zueinander haben: Bei der ersten Ringkomposition steht das ‚nicht tun dürfen‘ (οὐκ ἔξεστιν, V. 26) im Zentrum, in den V. 27 f. das ‚Herr sein‘ (κύριός ἐστιν). Das ‚nicht tun dürfen‘ ist überwunden durch den Menschensohn, der Herr ist und ‚tun kann‘ (vgl. ἐξουσίαν ἔχει, 2,10). Nicht menschengemachte rigide Sabbatvorschriften sollen herrschen, sondern der Sabbat als Tag der Ruhe, der Freude und der Befreiung aus Not soll ebenso zu seinem Recht kommen wie der Mensch, der ‚Not hat und hun‑ gert‘. Das gilt für die, die ‚mit ihm‘ ihren ‚Weg machen‘. Der Anspruch, den ihr „Meister“ als υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου mit κύριός ἐστιν für sich behauptet, ist genauso der Blasphemie verdächtig wie der, die Vollmacht zur Sündenvergebung zu haben. Für den weiteren Verlauf des Evangeliums ist die Verbindung des Ährenrau‑ fens in den ‚Saaten‘ mit der Geschichte vom sättigenden ‚Brot‘ von Bedeutung. In nuce sind hier schon die Saatgleichnisse von Kapitel 4 und die Geschichten rund ums Brot – allen voran die beiden großen Speisungen – des zweiten Haupt‑ teils angelegt und miteinander in Verbindung gebracht. III.2.3.6. Am Sabbat Gutes oder Schlechtes tun? (3,1 – 7a) In Bezug auf den Textbefund in den Quellen sind vier Stellen erwähnenswert: Es gibt etliche Varianten bei der Beschreibung dessen, worunter der Kranke leidet; alle verwenden das gleiche Vokabular – χείρ, ἔχων, ἐξηραμμένη oder ξηρά –, reihen es aber unterschiedlich aneinander. Die in NA28 übernommene Lesart in V. 1390 ist gut und breit bezeugt; die in V. 2, wo der Befund insgesamt disparater ist, findet sich nur in einigen Majuskeln (ℵ, C*, Δ, Θ), dennoch gibt es kei‑ nen Anlass, eine andere Variante zu wählen. Die Konstatierung der Heilung wird in manchen Textzeugen durch ein ‚gesund wie die andere [Hand]‘ untermauert; dieser Zusatz ist aber erst ab dem 9. Jh. belegt.391 Erst ganz zum Schluss der vier „Streitgespräche“ Jesu mit den Pharisäern, 387
Vgl. Kap. III.1.2., S. 84 f. Vgl. Kap. III.2.2.4., S. 155. 389 Vgl. Oefele, Wer Ohren hat, 64 – 69. 390 Varianten in NA28 nicht bezeugt; vgl. dazu Swanson, Manuscripts, 35. 391 Nicht in NA28 bezeugt; vgl. a. a. O., 37. 388
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
189
in 3,6, kommt das im ersten Erzählbogen so häufige εὐθύς392 vor. In manchen Manuskripten fehlt es (W, L), in anderen steht es vor ἐξελθόντες (Θ, 565), im Codex Bezae ist es weiter zurück gerutscht, sodass nicht die Pharisäer schnell agieren, sondern die Hand ‚sogleich‘ heilt.393 Die Lesart des Textes von NA28 ist weitaus am besten bezeugt und wird übernommen. Abweichend von NA28 und den anderen Editionen des 20. Jh. lese ich wie Tischendorf394 in V. 6 mit ℵ, C, Δ, Θ, 892c und 1071395 nicht ἐδίδουν, sondern ἐποίησαν. Für ἐδίδουν spricht die in meinen Augen nicht über alle Zweifel erhabene396 Regel Lectio difficilior potior, denn nirgends sonst in antiken Texten findet sich der Ausdruck συμβούλιον διδόναι.397 Gründe, sich dennoch für ἐποίησαν zu entscheiden, gibt es mehrere: Beide Lesarten sind ungefähr gleich gut bezeugt, wobei ἐποίησαν zwei der frühen Manuskripte auf seiner Seite hat, ἐδίδουν mit B nur eines. Zudem bietet die große Mehrheit der Textzeugen andere Formen des Verbs ποιεῖν; darun‑ ter sind weitere Codices des 5. Jh. (A, D, W) aus verschiedenen Textclustern. Insgesamt ist ποι‑ εῖν also wesentlich besser bezeugt als διδόναι; ἐποίησαν ist die am besten bezeugte Form von ποιεῖν. Keines der beiden Verben wurde an den entsprechenden Stellen von Matthäus (12,14) und Lukas (6,11) übernommen; eine Angleichung an Parallelstellen liegt also bei keinem der beiden Verben vor.
Das zweite „Streitgespräch“ über das, was am Sabbat erlaubt ist, findet an einem anderen Ort statt; Jesus geht ‚wieder in die Synagoge hinein‘. Markus setzt vier inhaltlich tragende Lexeme bzw. Ausdrücke aus der vorigen Szene auch hier ein und spielt mit ihnen das Thema in einer Variation durch: τοῖς σάββασιν, ἔξεστιν, ποιεῖν, ἄνθρωπος. Die vorliegende Perikope weist eine Inclusio auf; wie viele Inclusiones im ersten Erzählbogen wird sie mit dem Verb ἔρχεσθαι (E) gebildet; zu Beginn steht das ‚Hineingehen‘ Jesu (V. 1), am Ende das ‚Herausgehen‘ der Pharisäer (V. 6). Die anschließende Phrasenverschränkung (V. 7a) schlägt mit dem ‚Zurückkehren‘ (ἀνεχώρησεν) Jesu und der Jünger ‚zum Meer‘ zum einen den Bogen zu 2,23, wo Jesus und die Jünger ‚in den Saaten‘ unterwegs waren, zum anderen zum Anfang des Erzählbogens, der mit der Lehre Jesu am See und der Berufung des Levi begann (2,13 f.). Innerhalb der Inclusio V. 1 – 6 ist der ‚Mensch‘ (ἄνθρωπος, f) mit seiner ‚Hand‘ (χείρ, g) strukturbildend. Er tritt in V. 1b, V. 3 und V. 5b in Erschei‑ nung; bei den ersten beiden Malen wird sein Leiden beschrieben, beim dritten Mal seine Heilung. In den „Fenstern“ dazwischen (V. 2; V. 4 – 5a) findet die Aus‑ einandersetzung Jesu mit den Pharisäern um den Sabbat (a) statt. 1 ‚Wieder‘ geht Jesus ‚in die Synagoge‘. Damit ist zum einen durch den Orts‑ wechsel ein deutlicher Einschnitt zum Vorhergehenden markiert; es könnte nun auch ein Themenwechsel stattfinden. Zum anderen ruft πάλιν Erinnerungen an frühere Synagogenszenen hervor, insbesondere an Jesu erstes öffentliches Wir‑ 392
In etlichen Textzeugen auch als εὐθέως. Varianten in NA28 nicht bezeugt; vgl. dazu a. a. O., 37. 394 Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 184. 395 Vgl. Apparat NA28 und Swanson, Manuscripts, 37. 396 Vgl. Kap. I.4.3.1., S. 37. 397 Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 183; auch eine TLG-Suche zu συμβούλιον διδόναι erbrachte keine weiteren Belege. 393
190
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
3:1 E Bvar
3:2
3:3 3:4
kai« Eei˙shvlqen pa¿lin Bei˙ß th\n sunagwgh/n f g
kai« h™n e˙kei√ fa‡nqrwpoß ge˙xhramme÷nhn e¶cwn th\n cei√ra.
a hpos.var
kai« pareth/roun aujto\n ei˙ atoi√ß sa¿bbasin hqerapeu/sei aujto/n iºna kathgorh/swsin aujtouv
f g
kai« le÷gei ftwˆ◊ aÓnqrw¿pwˆ gtwˆ◊ th\n xhra»n cei√ra e¶conti e¶geire ei˙ß to\ me÷son
cpos a
kai« le÷gei aujtoi√ß ce¶xestin atoi√ß sa¿bbasin haÓgaqo\n bpoihvsai hpos b neg h b h£ hbkakopoihvsai, hpos.var yuch\n sw◊sai hneg.var h£ aÓpoktei√nai oi˚ de« e˙siw¿pwn
3:5
kai« peribleya¿menoß aujtou\ß met∆ojrghvß sullupou/menoß e˙pi« thØv pwrw¿sei thvß kardi÷aß aujtw◊n
gvar f
le÷gei twˆ◊ aÓnqrw¿pw e¶kteinon gth\n cei√ra i kai« e˙xe÷teinen pos.var h g kai« haÓpekatesta¿qh ghJ cei«r aujtouv 3:6 E D
3:7a Avar C Bvar
i
b hneg.var
kai« Ee˙xelqo/nteß Doi˚ Farisai√oi eujqu\ß meta» tw◊n ÔHrwˆdianw◊n sumbou/lion e˙poi÷hsan kat∆aujtouv o¢pwß aujto\n aÓpole÷swsin kai« oJ ∆Ihsouvß Cmeta» tw◊n maqhtw◊n aujtouv aÓnecw¿rhsen Bpro\ß th\n qa¿lassan
Abb. 13: Mk 3,1 – 7a
ken in der Synagoge zu Kafarnaum (1,21 – 29a). Auch das Auftreten des Hilfsbe‑ dürftigen wird hier wie dort gleich formuliert: ἦν ἄνθρωπος (vgl. 1,23). Dennoch bleibt offen, ob man sich wieder in Kafarnaum befindet; für die Erzählung ist das unwichtig und muss nicht entschieden werden. Mit ἄνθρωπος nimmt Markus gleich zu Beginn der Perikope ein wichtiges Wort vom Ende der vorhergehenden auf; es erfüllt hier eine Doppelfunktion: Als Stichwortverbindung stellt es über den Szenenwechsel hinweg den Zusammenhang her, zudem dient es im Themen‑ komplex um den Sabbat als Motiv, das hier in der Kombination mit der ‚vertrock‑ neten Hand‘ um den Aspekt von Krankheit und Hilfsbedürftigkeit erweitert wird. 2 Das erste „Fenster“ unterbricht die Heilungsgeschichte durch eine weitere Beschreibung der Szene: Zum einen wird, zwar nur in einer Nebenbemerkung, erwähnt, dass sich der Synagogenbesuch Jesu am Sabbat abspielt; ein weiteres wichtiges Motiv der vorigen Perikope ist auch hier wieder gesetzt. Zum anderen wird noch eine Personengruppe eingeführt, aber nicht näher benannt; ‚sie beob‑ achten ihn‘ (παρετήρουν αὐτόν). Theoretisch könnten, ähnlich wie in 1,22, mit
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
3:1
Und er ging wieder in die Synagoge hinein.
Und es war dort ein Mensch, der hatte eine vertrocknete Hand.
3:2
Und sie beobachteten ihn, ob er am Sabbat heilen würde, um ihn anklagen zu können.
3:3 3:4
Und er sagte zu dem Menschen, der die vertrocknete Hand hatte: Steh auf, in die Mitte! Und er sagte zu ihnen: Darf man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun? Leben retten oder töten?
Sie aber schwiegen.
3:5
Und er blickte sie der Reihe nach an mit Zorn, traurig über die Versteinerung ihres Herzens, und sagte zu dem Menschen: Streck deine Hand aus! Und er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt.
3:6
Und die Pharisäer gingen hinaus, taten sich sogleich mit den Herodianern zusammen398 und beschlossen, ihn zu vernichten.
3:7a
Und Jesus kehrte mit seinen Jüngern an das Meer zurück.
191
Übersetzung zu Abb. 13
‚sie‘ alle an diesem Sabbat in der Synagoge Anwesenden gemeint sein; doch nachdem diese sonst in der ganzen Episode – im Gegensatz zu anderen öffent‑ lichen Heilungen (vgl. 1,27; 2,12) gibt es auch keinen Chorschluss – nicht aktiv werden, ist das wenig wahrscheinlich. Nach drei Perikopen, in denen die Pha‑ risäer neben Jesus die Hauptrolle spielten, werden die Hörer sie auch hier als Subjekt von παρετήρουν und κατηγορήσωσιν identifizieren. Zwar muss παρα‑ τηρεῖν nicht zwingend negativ konnotiert sein,399 doch der Nachsatz ‚damit sie ihn anklagten‘ zeigt deutlich, dass diese Beobachter ihm nicht wohlgesinnt sind. Sie suchen einen Grund, um ihn vor Gericht bringen zu können.400 Worauf sie 398 Diese Formulierung geht inhaltlich über den griechischen Text hinaus, ermöglicht je‑ doch wie dieser die Wiederholung des ‚Tuns‘ aus V. 4. 399 Vgl. z. B. Apg 9,24 (Tore bewachen) und Gal 5,10 (Tage und Monate beachten / einhalten). 400 Nach Pesch ist κατηγορεῖν „forensischer Terminus technicus, bezeichnet die gerichtliche Anklage.“ (Pesch, Mk I, 190; vgl. auch Dewey, Markan Public Debate, 101)
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
warten, ist nach dem Auftreten des Menschen mit der vertrockneten Hand offen‑ sichtlich: Wird Jesus ihn am Sabbat heilen (θεραπεύσει αὐτόν, hpos.var), obwohl er nicht lebensbedrohlich krank ist?401 Dass eine Heilung am Sabbat anstößig sein könnte, rückt erst jetzt, nach dem ersten Sabbatkonflikt, ins Blickfeld. In 1,21 – 34 war von vielen Heilungen – einem Exorzismus, der Heilung der Schwiegermutter des Petrus und anschließend der Kranken der ‚ganzen Stadt‘ Kafarnaum (Letztere allerdings erst am Abend) – an einem Sabbat die Rede, ohne dass dies problema‑ tisiert worden wäre. Nun aber, in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern, stellt sich die Frage, ob Jesus sich gesetzeskonform verhält. 3 Jesus wendet sich nun an den ‚Menschen mit der vertrockneten Hand‘. Für eine Heilungsgeschichte ist das ungewöhnlich;402 auch in der bisherigen Erzählung ergriffen entweder die Hilfsbedürftigen oder deren Vertreter die Initiative.403 Es passt jedoch zur Erwartung, die die Einleitung bei den Zuhörern hervorruft: Mit den Pharisäern beobachten sie, was Jesus nun tun wird. Und sie wissen, dass er bisher keinen Kranken zurückgewiesen hat, auch nicht am Sabbat. Doch die Hei‑ lung wird noch für einen Moment aufgeschoben; Jesus ruft den ‚Menschen mit der vertrockneten Hand‘ zuerst in die Mitte. ‚Steh auf in die Mitte hinein!‘ (ἔγειρε εἰς τὸ μέσον) wirkt in der schriftlichen Form zunächst etwas unbeholfen. Lukas (6,8)404 formuliert eleganter und fügt ‚und stell dich‘ (καὶ στῆθι) nach ἔγειρε ein. Doch im Vortrag als mündliche Rede behandelt, wird es, evtl. noch durch Gesten untermalt, gut als ‚Steh auf! In die Mitte!‘405 verständlich. Ob der Kranke Jesus Folge leistet, sagt Markus nicht. Doch die Geschichte ist so erzählt, dass wohl kaum ein Zuhörer denkt, ‚der Mensch‘ säße noch irgendwo am Rand oder unter der Menge. ‚Der Mensch‘, der als Individuum hier keinerlei Konturen bekommt, steht nun im Zentrum – im konkreten wie im übertragenen Sinne. 401
In der Sekundärliteratur wird zumeist auf nachneutestamentliche jüdische Quellen ver‑ wiesen, um zu belegen, dass heilendes Handeln jeglicher Art (auch Selbstmedikation) am Sab‑ bat grundsätzlich als Arbeit galt und damit, außer im Fall von Lebensgefahr verboten war (vgl. Lohse, σάββατον, 15.24; Pesch, Mk I, 190; Collins, Mk, 209). Doering arumentiert für die Existenz dieser Interpretation des Sabbatgebotes zur Zeit Jesu umgekehrt: Er weist darauf hin, „dass keine einzige nichtchristliche Quelle aus vortannaitischer Zeit sabbatliches Heilen er‑ wähnt.“ (Doering, Schabbat, 448). 402 Theißen erwähnt das nicht explizit, doch finden sich in seinem Motivrepertoire –„Motiv“ hier in gattungskritischem Sinne – nur Motive der Kontaktaufnahme durch Hilfsbedürftige bzw. deren Stellvertreter. Beim Vergleich der Heilungsgeschichten, die er als Normwunder klassi‑ fiziert, fällt jedoch auf, dass in diesen Szenen Jesus fast immer (Ausnahme Mk 2,1 – 12 parr.) ungefragt heilt (vgl. Lk 13,10 – 17; 14,1 – 6; Joh 6,1 – 41; vgl. Theissen, Urchristliche Wunder‑ geschichten, 63 – 65.319). Nach Michael Becker sprengt der Gesamtbefund der Perikope die Gattung Wundergeschichte: „Die Strukturelemente verweisen auf eine Mischgattung aus Wun‑ dergeschichte und Chrie mit pragmatischem Anliegen.“ (M. Becker, Feiertagsarbeit, 248). 403 Vgl. 1,23.30.32.40; 2,3 f. 404 Matthäus übergeht diesen Befehl Jesu; in seiner Fassung wendet sich Jesus gleich an die Pharisäer. 405 So übersetzt auch Pesch, Mk I, 188.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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4 Jesus redet weiter, spricht aber, wie die erneute Redeeinleitung klärt, nun ‚zu ihnen‘ (αὐτοῖς). Wie schon in 2,9 auf die Gedanken der Schriftgelehrten, so antwortet Jesus auf das ‚Lauern‘ der Pharisäer mit einer rhetorischen Entschei‑ dungsfrage, die formal wie inhaltlich sehr pointiert gestellt ist: Die Frage der Pharisäer in den Saaten war negativ formuliert und ging um ‚das Tun, was man am Sabbat nicht darf‘ (τί ποιοῦσιν τοῖς σάββασιν ὃ οὐκ ἔξεστιν, V. 24). Jesus in der Synagoge hingegen fragt positiv nach dem Tun am Sabbat (ἔξεστιν τοῖς σάβ‑ βασιν [̣. . .] ποιῆσαι). Er fragt also nicht, ob man denn am Sabbat heilen dürfe, sondern stellt einen fundamentalen Gegensatz auf, der weit über die Frage der Heilung einer vertrockneten Hand und weit über den Sabbat hinaus geht: Darf man ‚Gutes tun oder Schlechtes tun?‘ (ἀγαθὸν ποιῆσαι ἢ κακοποιῆσαι, hpos b, hneg b). Mit einer Variation dieses Gegensatzes doppelt Jesus nach, verschärft den ersten und bezieht ihn auf ‚den Menschen‘, der ja während Jesu Rede noch ‚in der Mitte‘ steht: Darf man ‚Leben retten oder töten?‘ (ψυχὴν σῶσαι ἢ ἀποκτεῖναι, hpos.var, hneg.var). Ψυχή erklingt hier zum ersten Mal; Markus verwendet es im Mit‑ telteil ‚auf dem Weg‘ (8,27 – 10,45) nochmals in ähnlicher Weise: Am Anfang des Weges geht es um ‚Leben retten und verlieren‘ (ψυχὴν σῶσαι / ἀπολλύναι, 8,35) der Nachfolgenden, am Ende des Weges um den Menschensohn, der ‚sein Leben gibt als Lösegeld für viele‘ (δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ, 10,45).406 Bei der Frage des Tuns geht es um nicht weniger als Leben und Tod. Betrachtet man allerdings den hier zur Debatte stehenden Fall der ‚vertrockneten Hand‘, scheint das doch übertrieben zu sein – das Leben dieses Menschen steht nicht auf dem Spiel. Jesus könnte die Sabbatruhe einhalten und ihn am nächsten Tag heilen. Die Gleichun‑ gen „Heilen am Sabbat = Gutes Tun“ und „nicht Heilen am Sabbat = Schlechtes Tun“ gehen also nicht auf. Hier wird Grundsätzlicheres verhandelt. Die Frage Jesu ist so gestellt, dass nur eine der beiden Alternativen, die, die Jesu Tun legi‑ timieren würde, als Antwort in Frage kommt. Reale Pharisäer würden vielleicht reklamieren, Jesus argumentiere auf der falschen Ebene, er solle gefälligst erklä‑ ren, warum die Heilung nicht bis morgen warten könne.407 Die stilisierten Pha‑ risäer des Markusevangeliums sind nicht so schlagfertig; ‚sie aber schweigen‘ (οἱ δὲ ἐσιώπων). Immerhin verleiht der Autor ihrem Schweigen eine besondere Note, indem er mit οἱ δέ die Reihe der Satzanschlüsse mit καί unterbricht. Es kann kaum näher bestimmt werden, ob damit deren Sturheit oder deren Kapitu‑ lation vor der Argumentation Jesu hervorgehoben werden soll. Dies bleibt Sache des Interpreten, der z. B. durch den Tonfall diesen Satz in die eine oder andere Richtung deuten kann. 5 Der Anfang des Verses gehört inhaltlich noch zur Auseinandersetzung zwi‑ schen Jesus und den Pharisäern, grammatikalisch ist er jedoch als Partizipialkon‑ struktion vom Hauptsatz abhängig, der die Heilung einleitet. Jesu Reaktion auf 406
Zwei weitere Belege für ψυχή (12,30; 14,34) finden sich in Zitaten aus der Septuaginta; dort liegt die Übersetzung mit ‚Seele‘ näher. 407 Zum historischen Kern dieser Annahme vgl. Doering, Schabbat, 445.
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das Schweigen der Pharisäer wird auf der emotionalen Ebene beschrieben; auch er sagt nichts mehr zu ihnen. Er blickt in die Runde der Pharisäer ‚mit Zorn‘ (μετ’ὀργῆς) und ‚ist traurig‘ (συλλυπούμενος). Der Zorn wird einfach erwähnt, die Trauer begründet mit der ‚Versteinerung ihrer Herzen‘ (ἐπὶ τῇ πωρώσει τῆς καρδίας αὐτῶν, gvar). Das ‚Herz‘ war schon in 2,6.8 das der Gegner Jesu, dort der Schriftgelehrten, die ihn ‚in ihrem Herzen‘ der Blasphemie beschuldigen. ‚Versteinerung‘ weist in die gleiche Richtung: Sie erkennen nicht, wer Jesus ist, sie verkennen, dass hinter seinem Anspruch, der ‚Herr über den Sabbat‘ zu sein, keine menschliche Anmaßung, sondern göttliche Bevollmächtigung steht.408 ‚Versteinerung‘ (πώρωσις) bzw. das Verb ‚versteinern‘ (πωροῦν) ist bei Markus immer auf das Herz bezogen; die beiden anderen Male steht das versteinerte Herz aber für das Unverständnis der Jünger Jesu (6,52; 8,17). Insbesondere 8,17, wo das in 4,12 erstmals zu hörende Jesaja-Zitat (Jes 6,9 f.) in Variation und unter Erwähnung des Herzens wiederholt wird, lässt vermuten, dass diese Schriftstelle schon hier im Hintergrund steht, wenngleich bei Jesaja nicht von einem verstei‑ nerten, sondern von einem ‚fetten, vollgefressenen‘ Herzen ‚dieses Volkes‘ (ἐπα‑ χύνθη γὰρ ἡ καρδία τοῦ λαοῦ τούτου) die Rede ist.409 Pikant an diesem Schriftbe‑ zug ist die Tatsache, dass dort Gott Jesaja den Auftrag gibt, die Herzen verfetten zu lassen. Markus, so wird sich im zweiten Hauptteil zeigen, weiß um diesen Stein des Anstoßes und wird seinen wohlbedachten Umgang damit finden.410 Für den Moment ist festzuhalten, dass in der ‚Versteinerung des Herzens‘ nicht nur die Verkennung der Person Jesu, sondern auch eine Abkehr von Gott mitklingt. Die Heilungsgeschichte wird weitererzählt; Jesus spricht ‚zum Menschen‘. Dieser ist nun ganz allgemein ‚der Mensch‘; er ist, obwohl seine Heilung noch bevorsteht, nicht mehr durch seine ‚vertrocknete Hand‘ gekennzeichnet.411 Wie die Worte Jesu an den Gelähmten in 2,11 ist seine Aufforderung ‚Streck deine Hand aus!‘ (ἔκτεινον τὴν χεῖρα, i g) kein eigentliches Heilungswort, erweist sich aber dennoch als wirkmächtig. Der Kranke befolgt die Aufforderung und ‚streckt aus‘ (ἐξέτεινεν, i) und die Hand, die nun erstmals ‚seine Hand‘ (ἡ χεὶρ αὐτοῦ, g) 408
Vgl. Auslegung zu 2,10 Kap. III.2.2.4., S. 159. Die ‚Verhärtung des Herzens‘ als Bild für Uneinsichtigkeit Gott gegenüber erscheint im Alten Testament auch an anderen Stellen, u. a. prominent in der Exodus-Erzählung, in der Gott das Herz des Pharaos verstockt (erstmals Ex 7,3.13.14.22). In der Septuaginta wird das Verhär‑ ten des Herzens nirgends mit dem bei Markus verwendeten πώρωσις / πωροῦν übersetzt, sondern mit verschiedenen anderen Verben, z. B. σκληρύνειν (z. B. Ex 7,3; 8,15; 9,12), βαρεῖν / βαρύ‑ νειν (z. B. Ex 7,14; 8,11), κατισχύειν (z. B. Ex 7,13; Dt 2,30; Jos 11,20) und παχύνειν (nur in Jes 6,10). Laut TLG-Lemma-Suchen „πώρωσις and καρδία within 3 words“ und „πωρόω and καρδια within 3 words“ (Zugriff: 25.04.2017) sind die Belege im Markusevangelium die frü‑ hesten; es liegt also auch kein paganer Sprachgebrauch zugrunde. 410 Vgl. Kap. IV.4.5., S. 355 – 357; Kap. V.1., S. 403 – 406. 411 Ein ebenfalls charakteristischer Gebrauch von ἄνθρωπος bei Therapierten liegt in 5,1 – 21 vor (vgl. Kap. IV.4.4.1., S. 347 f.). Anders liegt der Fall beim Gelähmten in 2,1 – 13a, der auch bei seiner dritten Erwähnung, ebenfalls in der Einleitung zu den Heilungsworten Jesu, ‚der Gelähmte‘ bleibt (2,10). 409
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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ist, wird, so legt der Aorist nahe, in diesem Moment ‚wieder hergestellt‘ (ἀπεκα‑ τεστάθη, hpos.var). 6 Die Heilung ist vorbei, damit auch das Interesse des Markus an der Per‑ son des Geheilten; die Zuhörer erfahren nicht, wie dieser auf seine Gesundung reagiert hat. Wie schon erwähnt, fehlt auch ein für Heilungsgeschichten typi‑ scher Chorschluss. Die Konzentration auf die Reaktion der Pharisäer zeigt, dass die Heilungsgeschichte der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern unter‑ geordnet ist. Der Rahmen um die Szene in der Synagoge schließt sich mit dem ‚Hinausgehen‘ (ἐξελθόντες, E) der Pharisäer, doch etwas Wesentliches kommt danach: Sie halten sogleich mit den Herodianern Rat. Das griechische συμβού‑ λιον ποιεῖν für ‚Rat halten, einen Beschluss fassen‘ nimmt nochmals das Tun (b) auf, das im Zentrum der Perikope in gut und böse unterschieden wurde. Das Ziel, das sie dabei verfolgen, offenbart, welcher Art ihr Tun ist: Sie wollen Jesus ‚ver‑ nichten‘ (ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν, hpos.var), also ‚Leben töten‘ (vgl. V. 4). Sie, die erst jetzt beim Namen genannt werden, entlarven sich damit selbst als diejenigen, die dem ursprünglichen Sinn des Sabbats nicht gerecht werden. Zum ersten Mal im Evangelium ist der Vernichtungsbeschluss der Gegner Jesu zu hören, der ab Kap. 11 immer wieder refrainartig wiederholt wird und zuletzt die Passionsgeschichte als Tripelepisode strukturiert. In diesem ersten Vernich‑ tungsbeschluss der Pharisäer mit den Herodianern klingt mit συμβούλιον ποιεῖν schon der letzte (15,1) an, mit dem die Gegner ihr Ziel erreichen und Jesus ans Kreuz bringen. Nicht nur die Inclusio 2,23 – 3,7a und die vielen motivischen Wiederholungen sprechen für eine Zusammengehörigkeit der beiden „Streitgespräche“ über den Sabbat. In der Exegese wurde deutlich, dass das, was ‚in den Saaten‘ begann, in der Synagoge nicht nur in einer Variation wiederholt, sondern auf den Punkt gebracht wird: Jesu Herr-Sein über den Sabbat wird wie schon sein Anspruch auf Vollmacht zur Sündenvergebung (2,10), durch ein Heilungswunder erwiesen. Dieser Herr stellt ‚den Menschen‘ ins Zentrum. Gutes tun heißt, dessen Leben zu retten, was sich hier im körperlichen Satt- und Heilwerden konkretisiert. Das Thema ‚Leben retten‘ und ‚Leben verlieren / geben‘ wird v. a. im Mittelteil ‚auf dem Weg‘ wieder aufgenommen und dort noch von einer anderen Seite beleuch‑ tet. Zugleich erweisen sich die Pharisäer, die für sich den Anspruch der richti‑ gen Gesetzesauslegung erheben, als diejenigen, die ‚Böses tun‘. Die vertrocknete Hand des Menschen wurde geheilt, das versteinerte Herz der Pharisäer hinge‑ gen nicht. Ihrer Frömmigkeit, die in ihrer Gesetzesobservanz den Menschen aus dem Blick verliert und die sie soweit bringt, dass sie einen Menschen, der einem anderen ‚Gutes tut‘, umbringen möchten,412 setzt Jesus hier implizit schon das 412 Auch das können sie mit der Schrift begründen; Ex 31,14 f. sieht die Todesstrafe für die Entheiligung des Sabbats vor. Doering untersucht den Umgang mit dieser Stelle in nach‑ exilischen Schriften und weist u. a. darauf hin, dass das Jubiläenbuch diese Tradition in aller Strenge aufnimmt, dass aber „schwer zu entscheiden“ sei, ob es sich dabei um „eine konkrete
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Doppelgebot der Liebe413 als das eine Gebot entgegen, in dem alle andern zusam‑ mengefasst sind.414 Wer Gott lieben will, muss den Menschen lieben und um sein Leben besorgt sein. Diese Einstellung zum Gesetz setzt sich nicht über die Tora hinweg, setzt aber andere Akzente. Jesu menschenfreundliche Interpretation des Sabbatgebotes liest sich wie eine Variation von Dtn 30,11 – 16LXX:415 11 Ὅτι ἡ ἐντολὴ αὕτη, ἥν ἐγὼ ἐντέλλομαί σοι σήμερον οὐκ ὑπέρογκός ἐστιν οὐδὲ μακρὰν ἀπὸ σοῦ 12 [. . .] οὐκ ἐν τῷ οὐρανῷ ἄνω ἐστίν [. . .] 14 ἔστιν ἐγγὺς [. . .] ἐν τῷ στόματί σου καὶ ἐν τῇ καρδίᾳ σου καὶ ἐν ταῖς χερσίν σου αὐτὸ ποιεῖν. 15 Ἰδοὺ δέδωκα πρὸ προσώπου σου σήμερον τὴν ζωὴν καὶ τὸν θάνατον, τὸ ἀγαθὸν καὶ τὸ κακόν. 16 ἐὰν εἰσακούσῃς τὰς ἐντολὰς κυρίου τοῦ θεοῦ σου, ἃς ἐγὼ ἐντέλλομαι σοι σήμερον, ἀγαπᾶν κύριον τὸν θεόν σου, πορεύεσθαι ἐν πάσαις ταῖς ὁδοῖς αὐτοῦ, φυλάσσεσθαι τὰ δικαιώματα αὐτοῦ καὶ τὰς κρίσεις αὐτοῦ, καὶ ζήσεσθε [. . .]. 11 ‚Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht unmäßig und ist nicht ferne von dir. 12 Es ist nicht im Himmel, [. . .] 14 [. . . sondern es ist] nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen und in deinen Händen, es zu tun. 15 Siehe, ich habe heute vor Dein Angesicht gelegt das Leben und den Tod, das Gute und das Böse. 16 Wenn Du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, hörst, die ich dir heute gebiete – den Herrn zu lieben, in allen seinen Wegen zu gehen, seine Rechtssatzungen und seine Urteile zu beachten – und (dann) werdet ihr leben [. . .].‘
Diese Passage mündet in Gottesliebe als Gesetzesobservanz, doch ihr Beginn „mit Herzen, Mund und Händen“416 macht deutlich, dass eine sture Papierju‑ risterei am Ziel vorbeischießt. Jesu Neugewichtung der Gebote zugunsten des Menschen knüpft am Alten an und setzt dennoch eigene, souveräne Akzente,417 die ihn als ‚Herrn‘ bestätigen. III.2.3.7. Zusammenfassung der Exegese zu 2,13 – 3,7a Im Rückblick auf die Exegese des zweiten Erzählbogens zeigen sich die in der Übersicht418 skizzierten Strukturen schärfer und detaillierter; Eigenheiten treten hervor: Nach der Rastlosigkeit des ersten Erzählbogens mäßigt sich das Tempo; das vorher so häufige εὐθύς erklingt nur ganz am Ende (3,6); außer der Angabe ‚am Sabbat‘, die in erster Linie inhaltlich relevant ist, fehlen jegliche Zeitanga‑ ben. Die Ausbreitung der Kunde Jesu wird gar nicht mehr thematisiert; dement‑ sprechend finden sich nach dem ‚Meer‘ (2,13) ganz zu Beginn auch keine geo‑ grafischen Angaben mehr, sondern nur allgemeine Ortsangaben wie ‚Haus‘, ‚in den Saaten‘ und ‚in der Synagoge‘. ‚Die Leute‘, die vorher an der Verbreitung der Kunde Jesu maßgeblich beteiligt waren, spielen nach ihrem kurzen Auftritt Norm mit praxisorientiertem Geltungsanspruch [. . .] oder eine eher ideale Forderung“ handelt (Doering, Schabbat, 69). Philon hingegen beschäftige sich nur am Rande mit Ex 31,14 f. (vgl. a. a. O., 377), Josephus erwähne die Todesstrafe für Sabbatbruch nicht einmal (vgl. a. a. O., 506). 413 Vgl. 12,29 – 31. 414 Vgl. Pesch, Mk I, 192. 415 Den Hinweis darauf verdanke ich France, Mk, 150. 416 Aus der 1. Strophe von „Nun danket alle Gott“ (Martin Rinckart, 1586 – 1649). 417 Vgl. Doering, Schabbat, 453 f. 418 Vgl. Kap. III.2.1., S. 110 f.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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als Zuhörer der Lehre Jesu (2,13) keine Rolle und werden nicht einmal mehr erwähnt. Die Verortung der Geschehnisse in Raum und Zeit wird sekundär; die Frage nach der Bevollmächtigung Jesu bleibt. Dominierten zuvor die Verkündi‑ gung, Heilungen und Exorzismen, legt Markus nun den Fokus auf das Verhalten Jesu und seiner Jünger. Neben denen, ‚die mit ihm sind‘, übernehmen die Phari‑ säer die Hauptrolle. Ihre Opposition zu Jesus tritt in diesem Erzählbogen immer deutlicher zutage. Auf die sehr knappe Variante der Tripelepisode (2,13 f.) folgen vier Szenen, in denen sich Jesus und die Pharisäer gegenüberstehen. Je zwei davon sind thema‑ tisch und auch formal eng miteinander verbunden: An die Perikope vom Gastmahl ‚mit den Zöllnern und Sündern‘ (2,15 – 17) schließt ohne rechten Neubeginn die Perikope vom Fasten (2,18 – 20) an. Letz‑ tere endet mit dem Bild der Hochzeit; jetzt ist Jesus ‚mit ihnen‘, jetzt ist die Zeit des Festmahls. Die Pharisäer benehmen sich als Gegner noch recht moderat, die Themen, die behandelt werden – Tischgemeinschaft und Fasten –, treffen noch nicht die zentralen Stücke der Tora. Die Pharisäer heben sich jedoch schon als die ‚Gerechten‘ ab. Die Jünger hingegen stehen wie Jesus in Gemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern. Von diesen lassen sich die Jünger nicht klar unterschei‑ den. Sie alle folgen ihm nach und er ist ‚mit ihnen‘; darauf kommt es an. Zum Schluss gibt Jesus einen versteckten Hinweis auf seinen Tod; er wird ‚von ihnen‘ gerissen werden. Die anderen beiden Perikopen (2,23 – 28; 3,1 – 7a) sind zwar durch einen Orts‑ wechsel voneinander getrennt, aber durch eine Inclusio, etliche auch motivisch fungierende Stichwortverbindungen und das Thema der Sabbatobservanz sehr eng miteinander verbunden. Mit der Frage nach der rechten Einhaltung des Sab‑ bats steht ein Herzstück jüdischer Identität zur Debatte;419 dementsprechend ver‑ schärft sich der Konflikt, es geht nun um Leben und Tod. Die Pharisäer üben offen Kritik an der Praxis der Jünger Jesu – ‚das darf man nicht!‘ (2,24), Jesus kontert mit dem Anspruch, ‚Herr über den Sabbat‘ zu sein, der in den Ohren sei‑ ner Gegner ähnlich blasphemisch klingt wie der zum Ende des vorigen Erzähl‑ bogens geäußerte Anspruch auf Vollmacht zur Sündenvergebung. Bei den Pha‑ risäern konstatiert er ‚Verhärtung des Herzens‘ – der Vorwurf der Gottesferne ist also gegenseitig. Die einzige Heilung, von der im Laufe der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern berichtet wird, dient in erster Linie zum Erweis, dass Jesus sich zu Recht ‚Herr‘ nennt. Wie auf der einen Seite Jesus und ‚die mit ihm‘ sind, tun sich nun auch auf Seiten der Gegner die Pharisäer ‚mit den Herodianern‘ zusammen. Der ganze Erzählbogen kumuliert im ersten Vernichtungsbeschluss, der die Richtung der Erzählung auf das Kreuz hin andeutet. In der Rückschau auf den ganzen Erzählbogen soll auch nochmals nach der Ein‑ ordnung und der Interpretation der im Zentrum stehenden Bildworte vom Alten 419
Vgl. Doering, Schabbat, 1; Lohse, σάββατον, 5.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
und vom Neuen gefragt werden, die so aus ihrem unmittelbaren Kontext herausste‑ chen, dass sie im vorliegenden Kommentar separat behandelt wurden. Die Unver‑ einbarkeit von Altem und Neuem, die beides beschädigt, und der programmatische Slogan ‚Jungen Wein in neue Schläuche!‘ ist und bleibt eine hart zu knackende Nuss; auch bei anderen Interpreten und Interpretinnen war keine ganz überzeu‑ gende Antwort zu finden.420 Was ist das Neue? Natürlich ist Jesu ‚Lehre in Voll‑ macht‘ neu (διδαχὴ καινὴ κατ’ἐξουσίαν, 1,22),421 natürlich kommt in seiner Per‑ son in ganz neuer Weise das Reich Gottes den Menschen nahe, natürlich erhebt er einen bisher noch nicht dagewesenen Anspruch, mit Gott im Bunde zu stehen und sammelt einen unkonventionellen Kreis um sich. Und natürlich werden hier Jesus und seine Jünger von Markus deutlich in Opposition zu den Pharisäern gezeich‑ net. Doch die Pharisäer lassen sich nicht so einfach mit ‚dem Alten‘ identifizieren, auch sie entwickeln neue Bräuche wie eine strengere Fastenpraxis.422 Beide Sei‑ ten behaupten, das ‚Alte‘, insbesondere die alten Schriften, richtig zu verstehen. Gegenseitig werfen sie sich vor, dem Althergebrachten nicht gerecht zu werden, und sich damit auch von Gott zu entfernen. Welche Konnotationen stecken hinter Alt und Neu?423 Ist eine zu bevorzugen? Der dem zweiten Bildwort hinzugefügte Slogan ‚Jungen Wein in neue Schläuche‘ scheint das Neue zu favorisieren. Im Wissen darum, dass Markus klar Position bezieht – er schreibt ‚die gute Nachricht von Jesus Christus‘ (1,1) –, bleibt mir nur die Vermutung,424 dass er auf die Inkompatibilität der regelfixierten Frömmigkeit der Pharisäer und der men‑ schenorientierten Gesetzesauslegung Jesu anspielt, die manche Umkehrung der Werte mit sich bringt, weil in Jesus, dem Menschensohn und ‚Herrn‘, Gott selbst den Menschen nahe gekommen ist – darin liegt das Neue, noch nie Dagewesene. Die Gegenwart Gottes wird auf neue Weise erfahrbar: In der Tischgemeinschaft ‚mit ihm‘ – nicht wie zu erwarten für die Gerechten, sondern für die Zöllner und Sünder; in Jesu Art der Gottesliebe, die nicht auf die eigene Gerechtigkeit zielt, sondern in der Zuwendung zum Menschen lebt und bereit ist, das eigene Leben für andere einzusetzen. Von den zur Debatte stehenden Alternativen, die beiden Bildworte vom Neuen und Alten als Worte Jesu oder als Erzählerkommentar zu sehen, bevorzuge ich letztere – im Bewusstsein, dass ich damit Matthäus (vgl. Mt 9,18) und Lukas 420 Leutzschs Lösung – V. 21 f. als Antwort auf V. 18 – überzeugt durch die Überwindung der Schwierigkeit, alt und neu mit eindeutigen Konnotationen zu belegen. Seine Interpretation – wie alt nur zu alt passt und neu nur zu neu, passen Fasten und Nicht-Fasten jeweils nur zur Abbzw. zur Anwesenheit des Bräutigams (V. 19 f.) – berücksichtigt jedoch nicht die Singularität und die in der Komposition zentrale Stellung von V. 21 f., die eine Deutung nahelegt, die über den unmittelbaren Kontext hinausgeht (vgl. Leutzsch, Was passt, 275 f.). 421 Diesen Bezug stellen z. B. Collins, Mk, 200, und Pesch, Mk I, 177 her. 422 Vgl. Pesch, Mk I, 172; Dschulnigg, Mk, 101. 423 Leutzsch weist darauf hin, dass alter Wein höher als neuer geschätzt wurde (vgl. Leutzsch, Was passt, 274). 424 Luz steht in der Auslegung der Parallelstelle Mt 9,16 f. vor ähnlichen Fragen und kommt zu ähnlichen Schlüssen (vgl. Luz, Mt II, 47 f.).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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(vgl. Lk 5,36) gegen mich habe. Hauptargument sind die genannten formalen Aspekte, die diese Verse von ihrer narrativen Umgebung abheben. Dazu kommt, dass mir keine andere Stelle im Markusevangelium bewusst ist, an der innerhalb einer Rede so unvermittelt das Thema gewechselt wird. Ein paar Verse weiter werden z. B. die Worte über den Sabbat von der vorhergehenden Erzählung über David und die Schaubrote durch eine erneute Redeeinleitung abgesetzt (2,27). Der Fremdheit und Singularität dieser Verse wird man wohl am besten gerecht, wenn man sie als Worte des Erzählers versteht, die das, was erzählt wird, von einem externen Standpunkt aus kommentieren und damit die Hörer zur Reflexion über das Erzählte anregen.
III.2.4. Zu wem gehört Jesus? Wer gehört zu Jesus? (3,7 – 35) III.2.4.1. Massen von Menschen und Zwölf, die er wollte (3,7 – 19) In der Bezeugung des Textes fallen in dieser Perikope bei Verben etliche Varianten in Numerus oder Tempus auf, die formal und inhaltlich nur geringe bis gar keine Relevanz besitzen. An den betreffenden Stellen übernehme ich kommentarlos den Text von NA28. Anders ist die Bandbreite der Lesarten am Ende von V. 7 zu beurteilen; das Verb ἠκολού‑ θησεν steht an verschiedenen Stellen, in etlichen Manuskripten führt es das Personalpronomen αὐτῷ mit sich, in anderen nicht. Wenige lassen das Verb ganz aus (D, die Mehrheit der altla‑ teinischen und einige bohairische Manuskripte). Die Stellung von ἠκολούθησεν verändert die Gruppe derer, die [ihm] nachfolgen – nur die aus Galiläa, auch die aus Judäa, oder (nur in W und zwei altlateinischen Quellen) gar Leute aus allen genannten Regionen. Die große Mehrheit der Handschriften bietet ἠκολούθησεν nach ἀπὸ τὴς Γαλιλαίας; nach ἀπὸ τὴς Ἰουδαίας ist es nur regional bezeugt.425 Nur in wenigen Handschriften, darunter aber die Codices Vaticanus, Sinai‑ ticus und Ephraimi Rescriptus, fehlt das Personalpronomen αὐτῷ. Für die Priorität dieser zwar früh, aber selten bezeugten Lesart spricht, dass sich die Hinzufügung von αὐτῷ damit erklären lässt, dass ἠκολούθησεν so eindeutiger die Konnotation ‚Jesus nachfolgen‘ bekommt.426 Der umgekehrte Prozess ist höchstens als versehentliche Auslassung verstehbar. Aus diesen Grün‑ den wird für V. 7 die in NA28 in Klammern gesetzte Lesart übernommen. In V. 13 – 19 muss bei drei Passagen entschieden werden, ob sie zum Text gehören oder spä‑ ter hinzugefügt worden sind. Οὓς καὶ ἀποστόλους ὠνόμασεν (V. 14) findet sich zwar in eini‑ gen, darunter auch gewichtigen Textzeugen (ℵ, B, C*, W, Δ, Θ, f13, 28, Harklensis), aber an verschiedenen Stellen im Satz. Zudem ist die Passage an der lukanischen Parallelstelle (6,13) fast einheitlich überliefert, sodass sie von dort kopiert werden konnte. Beides spricht für den sekundären Charakter der Passage und damit für die Entscheidung, sie wegzulassen.427 In V. 15 erwähnt die überwiegende Mehrheit der Manuskripte nicht nur die Vollmacht zur Austreibung der Dämonen, sondern auch diejenige zur Krankenheilung (θεραπεύειν τὰς νόσους). Die Lesart ohne diesen Zusatz ist nicht oft, aber qualitativ sehr gut bezeugt (ℵ, B, C*, L, Δ, 565).428 Zudem 425
Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 189. Ἀκολουθεῖν αὐτῷ steht als Terminus technicus für die Nachfolge Jesu (vgl. 1,18; 2,14.15; 6,1; 8,34; 10,21.28.52; 14,54; 15,41). Fehlt das Personalpronomen, lässt sich ‚nachfol‑ gen‘ leichter ohne die Konnotation ‚Jünger sein‘ verstehen. 427 Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 196. 428 In NA28 nur negativer Apparat; vgl. Swanson, Manuscripts, 42. 426
200
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 3:7
B A
kai« oJ ∆Ihsouvß meta» tw◊n maqhtw◊n aujtouv aÓnecw¿rhsen pro\ß th\n qa¿lassan a b kai« apolu\ bplhvqoß a1 aÓpo\ thvß Galilai÷aß hjkolou/qhsen a2 kai« aÓpo\ thvß ∆Ioudai÷aß a3 kai« aÓpo\ ÔIerosolu/mwn 4 a kai« aÓpo\ thvß ∆Idoumai÷aß a5 kai« pe÷ran touv ∆Iorda¿nou a6 kai« peri« Tu/ron kai« Sidw◊na b a bplhvqoß apolu\ c d aÓkou/onteß o¢sa ce˙poi÷ei dh™lqon pro\ß aujto/n
3:8
3:9
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3:11
kai« ta» pneu/mata ta» aÓka¿qarta, o¢tan aujto\n e˙qew¿roun eopp prose÷pipton aujtwˆ◊ kai« e¶krazon le÷gonteß o¢ti su\ ei• oJ ui˚o\ß touv qeouv a kai« polla» e˙peti÷ma aujtoi√ß c iºna mh\ aujto\n fanero\n poih/swsin
3:12
3:13
Avar dvar
3:14 3:15 3:16 3:17
3:18
3:19
pollou\ß ga»r e˙qera¿peusen w‚ste e˙pipi÷ptein aujtwˆ◊ iºna aujtouv a‚ywntai o¢soi ei•con ma¿stigaß
kai« aÓnabai÷nei ei˙ß to\ o¡roß kai« proskalei√tai ou§ß h¡qelen aujto/ß kai« aÓphvlqon pro\ß aujto/n
c Bvar kai« ce˙poi÷hsen Bdw¿deka iºna w°sin met∆aujtouv kai« iºna aÓposte÷llhØ aujtou\ß khru/ssein kai« e¶cein e˙xousi÷an e˙kba¿llein ta» daimo/nia c Bvar kai« ce˙poi÷hsen Btou\ß dw¿deka [b1] f kai« e˙pe÷qhken o¡noma twˆ◊ Si÷mwni Pe÷tron b2 kai« ∆Ia¿kwbon to\n touv Zebedai÷ou b3 kai« ∆Iwa¿nnhn to\n aÓdelfo\n touv ∆Iakw¿bou f kai« e˙pe÷qhken aujtoi√ß o¡noma Boanhrge÷ß, o¢ e˙stin ui˚oi« bronthvß b4 b5 b6 b7 b8 b9 b10 b11 b12
kai« kai« kai« kai« kai« kai« kai« kai« kai«
∆Andre÷an Fi÷lippon Barqolomai√on Maqqai√on Qwma◊n ∆Ia¿kwbon to\n touv ÔAlfai÷ou Qaddai√on Si÷mwna to\n Kananai√on ∆Iou/dan Iskariw¿q o§ß kai« pare÷dwken aujto/n
Abb. 14: Mk 3,7 – 19
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 3:7
Und Jesus kehrte mit seinen Jüngern an das Meer zurück.
3:8
Und Massen von Menschen aus Galiläa folgten ihm nach. Und aus Judäa und aus Jerusalem und aus Idumäa und jenseits des Jordans und um Tyrus und Sidon – Massen von Menschen – als sie hörten, was er tat, kamen sie zu ihm.
3:9
Und er sagte seinen Jüngern, dass ein Bötchen für ihn bereitstehen solle – wegen der Leute, dass sie ihn nicht bedrängten.
3:10 3:11 3:12
Massen nämlich heilte er, so dass die alle über ihn herfielen, dass sie ihn berühren konnten, die Plagen hatten. Und die unreinen Geister, wenn sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder und riefen: Du bist der Sohn Gottes! Und er schärfte ihnen massiv ein, dass sie ihn nicht offenbar machen sollten.
3:13
Und er stieg hinauf auf den Berg. Und er rief die zu sich, die er wollte. Und sie gingen weg, hin zu ihm.
3:14
Und er machte Zwölf, dass sie mit ihm seien und dass er sie sende, zu verkündigen und Vollmacht zu haben, die Dämonen auszutreiben.
3:15
Und er machte die Zwölf: Und er legte dem Simon den Namen Petrus bei, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, den Bruder des Jakobus, Und er legte ihnen den Namen Boanerges bei, das ist Donnersöhne. Und Andreas und Philippus und Bartholomäus und Thomas und Jakobus, den Sohn des Alphäus, und Thaddäus und Simon, den Kananäer, und Judas Iskarioth,
der war’s, der ihn auslieferte. Übersetzung zu Abb. 14
201
202
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass diese Passage ergänzt als weggelassen wird: Sie dehnt den Auftrag auf das ganze bisher dem Hörer bekannte „Programm Jesu“ (vgl. etwa 1,34) aus und lässt sich vom Wortlaut her auch als Übernahme aus den Parallelen in Mt 10,1 und Lk 9,1 erklären. Schließlich (V. 16) stellt sich die Frage, ob das schon in V. 15 zu hörende429 καὶ ἐποίη‑ σεν τοῦς δώδεκα tatsächlich wiederholt wird. Der Textbefund ist recht ähnlich wie bei der ersten Passage: ℵ, B, C*, Δ, 565, 579 und ein sahidisches Manuskript bieten die längere Version, anders als in V. 14 jedoch immer an der gleichen Stelle. Eine Entscheidung ist schwierig; aufgrund der Beobachtung, dass Markus Wichtiges sehr gerne wiederholt, behalte ich diese Passage im Text. Eine letzte Entscheidung muss in V. 17 zwischen ὄνομα Βοανηργές und ὀνόματα Βοανηργές gefällt werden. Greevens Argumentation für den Plural als die schwierigere, weil nicht ganz korrekte Form leuchtet ein.430 Dennoch entscheide ich mich aus Interpretationsgründen für den Singular: Der Plural kann im Deutschen nicht so wiedergegeben werden, dass er nicht einfach als grammatikalischer Stolperstein stehen bleibt – ‚er legte ihnen die Namen Boanerges bei‘ ist nicht umständlich, sondern einfach falsch.
Die dritte der Tripelepisoden des ersten Hauptteils wird, soweit ich sehen kann, von allen Kommentatoren in zwei Perikopen unterteilt. Dies hat seine Berech‑ tigung; sowohl formal als auch inhaltlich lassen sich V. 7 – 12 und V. 13 – 19 als eigenständige Einheiten beschreiben. Schon in der zweiten Berufungsgeschichte (2,13 f.) wurden vor der Berufung eines bestimmten Mannes die Leute erwähnt, die zu Jesus kommen. Beide Themen werden nun sehr viel ausführlicher und „zahlreicher“ behandelt – ‚Massen von Menschen‘ (V. 7.8) kommen zu Jesus; anschließend ‚macht er die Zwölf‘ (V. 14.16). Die beiden Episoden werden hier unter Berücksichtigung der Gesamtkomposition gemeinsam untersucht, da sie miteinander eine weitere Variation der „Berufungsgeschichten“ darstellen – eine Variation, die von der Hörerin offene Ohren verlangt, um unter vielem Neuen das Bekannte wiederzuerkennen. Wie die beiden anderen Berufungsgeschichten beginnt auch die dritte mit dem Wiedererkennungssignal ‚Meer‘ (θάλασσα, A, V. 7). Die eigentliche Berufungsbzw. Aussendungsszene spielt jedoch auf dem ‚Berg‘ (ὄρος, Avar, V. 13). Der Orts‑ wechsel markiert eine deutliche Zäsur zwischen den Volksmassen, die ‚hören, was er tut, und zu ihm kommen‘ (ἀκούοντες ὅσα ἐποίει ἦλθον πρὸς αὐτόν, V. 8), und der exklusiven Schar der Zwölf, die Jesus zu sich ruft, weil ‚er selbst sie rufen will‘ (προσκαλεῖται οὓς ἤθελεν αὐτός, V. 13). Textsignale, die beide Teile deutlich zusammenhalten würden, wie etwa eine Inclusio, sind nicht zu hören. Dennoch sind sie gemeinsam als eine Variation der „Berufungsgeschichte“ zu erkennen, weil die dafür typischen Motive – insbesondere θάλασσα, (προσ‑)καλεῖν, ἀκολου‑ θεῖν und Namen – auf beiden Szenen verteilt sind. Zudem sind zwischen ihnen Stichwortverbindungen zu beobachten: ποιεῖν und [ἀπ‑]ῆλθον πρὸς αὐτόν. 7 – 12 Die Massenszene ist in vier Abschnitte aufgeteilt, von denen je zwei zusammengehören. Die beiden Paare sind gleich aufgebaut: Im jeweils ersten Abschnitt geht es nur um Jesus und seine Jünger (B); Letztere werden beide Male 429
Dort ohne den Artikel τούς. Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 199.
430
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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explizit erwähnt. Der jeweils zweite, in dem die ‚Massen‘ (b) im Vordergrund stehen, ist durch eine Inclusio (a b – b a bzw. a – a) umrahmt und lässt zum Ende das Verb ποιεῖν (c) hören.
7a
Jesus und die Jünger kommen zum See
9 Bitte Jesu an die Jünger, ein Boot bereitzustellen, um den drängenden Leuten ausweichen zu können
μετὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ
τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ
7b.8
10 – 12
Die Leute kommen von überall her zu Jesus
Heilung vieler und Begegnung mit den unreinen Geistern
πολὺ πλῆθος – πλῆθος πολύ ἀκούοντες ὅσα ἐποίει
πολλούς – πολλά ἵνα μὴ αὐτὸν φανερὸν ποιήσωσιν
7a Jesus kehrt an den See zurück. Dieses Mal ist mit ἀναχωρεῖν ein Verb ver‑ wendet, das zum einen die ‚Rückkehr‘ an einen bereits besuchten Ort, aber auch einen ‚Rückzug‘ ein ‚Entweichen‘ aus einer unangenehmen Situation bezeichnen kann. Letzteres betont den Zusammenhang zur vorhergehenden Auseinanderset‑ zung Jesu mit den Pharisäern und verleiht dem Weg zum Meer den Charakter der Flucht vor den Gegnern, die ihn vernichten wollen (3,6). Ohne Berücksichtigung dieses negativen Untertons stellt die Rückkehr an den See den Zusammenhang zu den beiden anderen Tripelepisoden ‚am Meer‘ in den Vordergrund: In 1,16 zieht Jesus ‚am Meer entlang‘ (παράγων παρὰ τὴν θάλασσαν), in 2,13 erinnert πάλιν daran, dass er schon einmal dort war. In diesem Sinne lässt sich auch die Verwendung von ἀναχωρεῖν als zusätzlicher Hinweis auf die beiden vorhergehen‑ den Szenen am See deuten. Die gängigen deutschen Übersetzungen (und viele Kommentare) stellen den Zusammenhang mit den vorhergehenden Auseinan‑ dersetzungen in den Vordergrund.431 Da Markus ἀναχωρεῖν nur hier verwendet, ist eine klare Entscheidung nicht möglich. Es ist zu vermuten, dass das starke Übergewicht der Interpretation als Rückzug durch die matthäische Parallelstelle (12,15) und ganz allgemein den matthäischen Gebrauch von ἀναχωρεῖν432 ver‑ ursacht ist. Aufgrund der bisherigen Erzählung und auch der Gesamtkonzeption des Markusevangeliums scheint mir die ‚Rückkehr‘ an den See die plausiblere 431 ‚Entweichen‘ findet sich bei Luther 1545 (auch 2017) und in Elberfelder, ‚zurückziehen‘ in EÜ, Zürcher und BiGS. Auch Collins, Pesch und Lührmann stellen den Zusammenhang zwi‑ schen der Auseinandersetzung mit den Pharisäern und dem ‚Rückzug‘ an den See her. France hingegen hält beides für plausibel (Collins, Mk, 211; Pesch, Mk I, 199; Lührmann, Mk, 68; France, Mk, 153). 432 Insgesamt zehnmal bei Mt, zumeist – wie z. B. bei den ersten vier Vorkommen (2,12.13.14.22) im Zusammenhang mit der Flucht nach Ägypten – mit der Konnotation von Rückzug oder Flucht.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Interpretation zu sein. Jesus zeigte bisher keine Anzeichen von Angst vor seinen Gegnern, sondern wagt es, sie mit seinem Vollmachtsanspruch zu konfrontieren. ‚Auf dem Weg‘ wird er dreimal den ihm vorgezeichneten Weg ans Kreuz vorher‑ sagen (8,31; 9,31; 10,33 f.). In der Passionsgeschichte präsentiert Markus Jesus als einen, der zwar im engsten Jüngerkreis seine Angst zeigt (14,33 f.), dann aber sehenden Auges seiner Verhaftung und seinem Tod entgegengeht. Jesus zieht sich im Markusevangelium durchaus zurück – aber nicht aus gefährlichen Situationen, sondern, wie auch in der vorliegenden Perikope angedeutet (V. 9), vor der Menge, die ihn bedrängt.433 Zum ersten Mal wird erwähnt, dass Jesus in Begleitung der ‚Jünger‘ (μετὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ) ist, als er zum See kommt; wie schon bei ihren Auftritten in den Szenen des zweiten Erzählbogens (2,15.16.18.23) bleibt auch hier offen, wer zu dem so benannten Personenkreis gehört. Zum letzten Mal für lange Zeit wird das Publikum den Namen Jesus hören; die nächsten zwei Kapitel (bis 5,6) ist er „anonym“ unterwegs.434 Trotzdem bleibt er auch ungenannt identifizierbar; das Publikum kennt ihn als Hauptperson und weiß in etwa, was von ihm zu erwar‑ ten ist. So werden beispielsweise die Hörer automatisch Jesus vor Augen haben, wenn es in V. 20 heißt, ‚er‘ gehe in ein Haus. 7b.8 Dieser Abschnitt ist von einer Aufzählung geografischer Angaben (α1 – 6) geprägt, die in ihrer gedrängten Fülle und ihrem weiten Einzugsgebiet das Thema der Ausbreitung des Rufes Jesu nach den Auseinandersetzungen mit den Phari‑ säern auf eindrückliche Weise wieder aufnehmen. Zuerst wird Galiläa genannt, das Gebiet, in dem Jesus bisher unterwegs war und bekannt wurde (vgl. 1,28.39). Doch die Kunde davon, ‚was er tat‘ (ὅσα ἐποίει), wurde weit darüber hinaus ‚gehört‘ (ἀκούοντες); ein Hinweis darauf findet sich schon in 1,45 mit dem unbe‑ stimmten ‚von überall her‘ (πάντοθεν). Die Reihe der weiteren Gegenden fängt mit Judäa an, das aus dem Prolog bekannt ist, ebenso wie das nächstgenannte Jerusalem (vgl. 1,5). Geografisches und akustisches Neuland wird mit Idumäa betreten. Wie diese Region südlich von Judäa, die sonst im ganzen Neuen Testa‑ ment keine Rolle spielt, in die Liste des Markus kam, kann nur vermutet werden. Sicher spielt dabei die Absicht eine Rolle, die Ausbreitung des Rufes Jesu in alle Himmelsrichtungen – vom Kerngebiet Galiläa / Judäa aus gesehen nach Osten, Süden, Nordwesten – zu belegen.435 Doch auch als weiteres Glied der Alliteration mit Ι (ἀπὸ [τῆς] Ἰ. . ., α2 – 4) bietet sich Idumäa an. Bei ‚jenseits des Jordans‘ (πέραν τοῦ Ἰορδάνου, α5) beginnt die geografische Bezeichnung nochmals mit Ι. Ἀπό ist nun nicht mehr zu hören; die beiden letzten Glieder der Aufzeichnung begin‑ nen mit inhaltlich verschiedenem, aber klanglich nahe verwandtem πέραν bzw. περί. ‚Jenseits des Jordans‘ repräsentiert den Osten. Der Flussname allein wurde 433
Vgl. z. B. die Rückzüge in 1,35.45; ähnlich auch in 4,1 im direkten Anschluss an 3,9. In 6,30 – 32 empfiehlt Jesus den Jüngern nach ihrem kräftezehrenden Einsatz einen Rückzug, doch auch sie entkommen der Menge nicht (6,33). 434 Vgl. dazu Kap. IV.3.5., S. 329 – 331. 435 Vgl. Lührmann, Mk, 68.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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schon zusammen mit Judäa und Jerusalem erwähnt (1,5.9); die Gegend wird Jesus mit seinen Jüngern ‚auf dem Weg‘ durchqueren (10,1). Die Aufzählung schließt mit ‚um Tyrus und Sidon‘ (περὶ Τύρον καὶ Σιδῶνα, α6); auch diese Ortsnamen erklingen hier zum ersten Mal. Jesus wird dieser explizit heidnischen Gegend im Nordosten später eine Stippvisite abstatten (7,24 – 31). Von Samaria, das zwischen Galiläa und Jerusalem liegt, hört man bei Markus im Gegensatz zu allen anderen Evangelisten gar nichts. In der Dekapolis hingegen wird Jesus sich noch aufhalten (5,1.20; 7,31), aber auch sie fehlt in der Aufzählung. Die Art, wie die Liste dar‑ geboten wird, malt dem Hörer die Ausbreitung der ‚Kunde Jesu‘ klanglich impo‑ sant vor das innere Auge: Durch den stereotypen Zeilenbeginn mit καὶ ἀπό / και πέραν / περί und die metrisch gleichen Zeilenenden (- u) wird die Liste rhyth‑ misiert. Die Resonanz bei den Leuten spiegelt sich in der Rahmung der ganzen geografischen Namen durch die Inclusio πολὺ πλῆθος – πλῆθος πολύ (a b – b a). Markus verwendet normalerweise ὄχλος zur Bezeichnung der ‚Leute‘, zieht hier aber die Bezeichnung πλῆθος vor. Zum einen liegt somit die Betonung auf der großen Anzahl,436 zum anderen ergeben sich durch die Kombination mit πολύ (‚viel, groß‘) gleich zwei Stilfiguren: Der Pleonasmus ‚große Menge‘ verstärkt die Betonung der Anzahl, die Alliteration auf π unterstreicht sie auf der klanglichen Ebene. Die Übersetzung ‚Massen von Menschen‘ versucht, πολὺ πλῆθος in seiner klanglichen und bildhaften Stärke gerecht zu werden. Grammatikalisch ist der Satz nicht ganz eindeutig aufzulösen, erst recht, wenn man die Möglichkeiten der Gestaltung im Vortrag mitbedenkt. Die korrekteste Lösung wäre, nach ἠκολούθη‑ σεν einen Punkt zu setzen. So würden nur die Galiläer ‚nachfolgen‘, alle anderen aber sozusagen in Punkto Nachfolge noch eine Stufe darunter stehen und erst ein‑ mal ‚zu ihm kommen‘ (ἦλθον πρὸς αὐτόν, d). Mir scheint diese Trennung nicht so wichtig zu sein; entscheidend ist, dass es der Interpretin im Vortrag gelingt, dem Publikum ihre Fassungslosigkeit über diese unglaublichen Menschenmassen zu vermitteln. Dies könnte etwa durch ein accelerando bei der Aufzählung gesche‑ hen, das in einem breiten ‚Massen von Menschen!‘ und einer Generalpause gip‑ felt, bevor dann die Begründung für diesen Ansturm gegeben wird. Mit ποιεῖν (c) wird ein wichtiges Stichwort aus den letzten beiden Streitge‑ sprächen mit den Pharisäern wieder aufgenommen. Dass es Gutes ist, was Jesus tut (vgl. 3,4), klingt hier nach. Zu diesem Abschnitt ist noch festzuhalten, dass ἀκολουθεῖν, der Terminus technicus für Nachfolge, in dieser dritten Tripelepisode nicht für die von Jesus in die Nachfolge Gerufenen (vgl. 1,18; 2,14), sondern für die verwendet wird, die von sich aus zu ihm kommen; ein weiteres Mal nach dem Gastmahl mit den Zöll‑ nern und Sündern zeigt sich, dass sich die ‚Nachfolger‘ nicht so einfach von der großen Menge abgrenzen lassen. 9 Wieder ist von den Jüngern die Rede; ihre Nachfolge scheint mittlerweile selbstverständlich zu sein und wird nicht mehr erwähnt. Zum ersten Mal erhalten 436
Vgl. LSJ s. v. πλῆθος I.: „a great number, a throng, crowd, multitude“.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
sie einen Auftrag von Jesus: Sie sollen ‚ein Bötchen‘ (πλοιάριον) bereitstellen. Dieser kurze Abschnitt schlägt Brücken in alle Richtungen: Zuerst zum gerade Gehörten – das Bötchen soll ‚wegen der Leute‘ (διὰ τὸν ὄχλον, bvar) bereit sein, die ihn zu sehr bedrängen könnten. Sodann erinnert das ‚Bötchen‘ an die erste Berufungsszene, in der die Fischer ihr Boot zurückließen, um Jesus nachzufol‑ gen (1,20). Zugleich ist es – im Diminutiv eine leise – Vorausimitation dessen, was noch kommen wird: In 4,1 steigt Jesus tatsächlich ein, weil so viele Leute kommen und ihn hören wollen – ob es sich um eben dieses ‚Bötchen‘ handelt, ist dabei nebensächlich. Auf die Gleichnisrede, die Jesus vom Boot aus hält, folgt der zweite Hauptteil (4,35 – 8,22); dort ist das Boot der Ort, an dem die Tripelepi‑ soden spielen. Schließlich kann dieser erste Auftrag an die Jünger als unschein‑ bare Vorausnahme der großen Beauftragung gelten, die Jesus ihnen im zweiten Teil der Tripelepisode erteilen wird (3,14). 10 – 12 Dieser Abschnitt lässt eine klare Zweiteilung erkennen: In V. 10 geht es um Kranke, in V. 11 f. um die ‚unreinen Geister‘. V. 10 schließt direkt an V. 9 an und begründet, warum Jesus nach Ausweich‑ möglichkeiten vor der Bedrängnis durch die Menge sucht: Seine Heilungser‑ folge sind bekannt, deshalb ‚fallen‘ die Kranken ‚über ihn her‘ (ὥστε ἐπιπίπτειν αὐτῷ, e). Der Vers beginnt als einziger in der ganzen Tripelepisode nicht mit καί. Durch den Satzbeginn mit ‚Viele nämlich . . .‘ (πολλοὺς γάρ) wird ein weiteres Mal die große Menge betont. Nun sind es die ‚Vielen‘, die er schon geheilt hat – das sind also die ‚Taten Jesu‘, von denen die ‚Massen von Menschen‘ aus allen Himmelsrichtungen gehört hatten (V. 8). Der enorme Zulauf verdankt sich der Wirkkraft Jesu; so kommt auch wieder seine ‚Vollmacht‘ ins Spiel, die sich den Leuten in Heilungen und Exorzismen offenbart und die die Einzelnen am eigenen Leibe erfahren möchten. Neu ist hier, dass die Kranken sich Heilung erhoffen, wenn sie Jesus berühren. Von so einer Heilung erzählt Markus später ausführlich (vgl. 5,25 – 35);437 auch diese ‚blutflüssige Frau‘ wird, wie hier die Kranken, als eine beschrieben, die eine ‚Plage hatte‘ (hier εἶχον μάστιγας; vgl. 5,29.34). Bis‑ her war jedoch nur die Rede davon, dass Jesus Kranke berührte bzw. an der Hand fasste (vgl. 1,31.41). In V. 11 f. wird nun nicht, wie man vermuten könnte, in Analogie zu V. 10 von Exorzismen berichtet. Markus setzt bei dieser Begegnung Jesu mit den unreinen Geistern einen anderen Schwerpunkt: Auch sie ‚fallen‘, wenn sie Jesus sehen, – aber nicht wie die Kranken ‚über ihn her‘ (ἐπιπίπτειν αὐτῷ, e), sondern ‚vor ihm nieder‘ (προσέπιπτον αὐτῷ, eopp).438 Die Kranken und die unreinen Geister reagie‑ ren gegensätzlich auf Jesus: Die einen sehen in ihm den Wundertäter, der ihnen 437
Vgl. auch die Heilungen durch Berührung der Kleidung Jesu im Sammelbericht 6,56. Wie ἐπιπίπτειν kann auch προσπίπτειν ‚über jdn. herfallen, jdn. attackieren, überfallen‘ bezeichnen, doch sein Bedeutungsspektrum geht darüber hinaus (vgl. LSJ s. v. προσπίπτω). Dass hier ‚niederfallen vor jdm.‘ gemeint sein muss, zeigt sich an der darauffolgenden Akkla‑ mation. 438
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helfen kann. Wenn sie über ihn herfallen, zeugt das kaum von Respekt, sondern von der Hoffnung auf die eigene Gesundung. Wer sie ihnen verschafft und warum jemand überhaupt dazu in der Lage ist, interessiert sie nicht. Die anderen hinge‑ gen wissen, wer Jesus ist; dementsprechend erweisen sie ihm die Ehre. Markus zeichnet die unreinen Geister von Anfang an als solche, die erkennen, wer Jesus wirklich ist – der, von dem Gott selbst sagt, er sei ‚sein geliebter Sohn‘ (vgl. 1,11). Nannten sie ihn in der Synagoge zu Kafarnaum noch umschreibend ‚der Heilige Gottes‘ (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ, 1,24), sagen sie es jetzt unverhüllt: ‚Du bist der Sohn Gottes!‘ (σὺ εἶ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ). Wie schon zuvor (vgl. 1,25.34) befiehlt Jesus den unreinen Geistern, ihr Wissen nicht weiterzugeben. Die Formulierung in V. 12 schließt zum einen die Inclusio mit V. 10, indem er ‚massiv‘439 (πολλά) auf sie einredet, zum anderen stellt sie die strukturelle Gleichheit zu V. 7b.8 auch dadurch her, dass der konkrete Auftrag lautet, sie sollten ihn ‚nicht offenbar machen‘ (ἵνα μὴ αὐτὸν φανερὸν ποιήσωσιν) und somit auch hier, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang, wie gegen Ende von V. 8 das Verb ποιεῖν zu hören ist. In dieser Massenszene bringt Markus in wenigen Worten sein zentrales Thema zur Sprache: Die Spannung zwischen Offenbarung und Verborgenheit der Iden‑ tität Jesu.440 Sosehr das Wirken Jesu, seine ‚guten Taten‘, die Menschen in ihren Bann zieht und sie massenhaft zu ihm strömen, so wenig – das zeigen die Kran‑ ken, die respektlos über ihn herfallen – haben sie verstanden, welche Dimension sich hinter dem Vollmachtsanspruch verbirgt, den Jesus ja öffentlich stellt (vgl. 2,10; 2,28), und den sie in seinen Wundertaten auch erkennen (vgl. 1,27). Doch so selbstbezogen ihr Verhalten Jesus gegenüber auch sein mag: Etwas haben sie zumindest intuitiv verstanden: Er ist gekommen, um den Menschen zu helfen. Aus der Distanz und im Fachjargon: Der soteriologische Aspekt ist ihnen zumin‑ dest ansatzweise zugänglich, der theologisch-christologische (noch) nicht. Die öffentlichen und durch Wunder bestätigten Vollmachtsansprüche und die Schwei‑ gegebote an die Dämonen zeigen, dass der markinische Jesus selbst in dieser Spannung zwischen Offenbar- und Verborgensein steht. 13 – 19 Auch im zweiten Teil der Tripelepisode, der eigentlichen Berufungsszene, ist eine klare Gliederung zu erkennen: 13
Einleitung: Jesus steigt auf den Berg – Ausgewählte kommen zu ihm
14 f.
Er macht die Zwölf I: Inhaltliche Beschreibung
16 – 19
Er macht die Zwölf II: Liste der Namen
439 Die Übersetzung von πολλούς in V. 10 mit ‚Massen‘ und πολλά in V. 12 mit ‚massiv‘ ist der Versuch, im Deutschen zumindest auf der klanglichen Ebene die Verwandtschaft zur Inclu‑ sio πολὺ πλῆθος – πλῆθος πολύ um V. 7b.8 wiederzugeben. 440 Vgl. Kap. III.1.4., S. 98 f.
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Eine Inclusio oder ein Parallelismus über den gesamten Teil ist – abgesehen von den beiden fast gleichlautenden Anfängen des zweiten und dritten Abschnittes – nicht zu erkennen. 13 Zum ersten Mal wird in einer Tripelepisode ein zweiter Ort eingeführt: Der Berg (ὄρος, Avar), auf den ‚er‘ steigt, steht im Kontrast zum ‚Meer‘ in V. 7. In vie‑ len Kulturen des alten Orients galten Berge als heilige Stätten; sie stehen auf der Erde und ragen in den Himmel und sind deshalb dafür prädestiniert, die beiden Sphären zu verbinden.441 Das Alte Testament kennt etliche Geschichten von Got‑ tesbegegnungen auf Bergen. Zentral für das Selbstverständnis des Volkes Israel sind die Erzählungen rund um den Bundesschluss am Sinai (Ex 19 – 34), in denen Mose mehrmals auf den Berg steigt, dort in eindrücklicher Weise Gott begegnet, von ihm die Weisungen für das Volk erhält, aber auch mit ihm um Vergebung für dessen Vergehen ringt. Wie im Markusevangelium in der Szene der Berufung der Zwölf ist dort der Berg ein exklusiver Ort. Oft geht Mose alleine hinauf, nur zweimal mit Begleitern (24,9 – 11.12 – 18). Das Volk, so wird immer wieder betont, muss unten bleiben (19,12 f.21 – 24; 34,3). Auf einem ‚Berg‘ (ὄρος) spielen im Markusevangelium drei wichtige Szenen; immer sind dort Jesus und Jünger unter sich. Jedes Mal wird dort den Jüngern ein besonderer Zugang zum Göttlichen gewährt: In der aktuellen Episode der Beru‑ fung und Aussendung der ‚Zwölf‘ bekommen sie Anteil am Auftrag und der Voll‑ macht Jesu, in der Verklärungsszene (9,2 – 9) sehen Petrus und die Zebedaiden die Ahnen Mose und Elia und hören Gottes Stimme, der ihnen Jesus als ‚seinen geliebten Sohn‘ offenbart, und auf dem Ölberg (13,3 – 37) – notabene ‚gegenüber dem Tempel‘ (13,3), der auch auf einem Berg liegenden heiligen Stätte schlecht‑ hin – weiht Jesus die gleichen drei und Andreas in die kommenden Ereignisse bis hin zum ‚(Wieder‑)Kommen des Menschensohnes‘ ein. Auch alles weitere in diesem Vers hebt sich von der Massenszene ab: Vorhin ‚hörten die Leute, was er tat‘ und kommen von sich aus zu ihm, nun ‚ruft‘ er welche ‚zu sich‘ (προσκαλεῖται). Er wendet sich nicht an die ‚Massen von Men‑ schen‘, sondern an die, ‚die er will‘ (οὓς ἤθελεν αὐτός). Doch eines verbindet die Gerufenen mit den Massen: ‚Sie kommen zu ihm‘ ([ἀπ‑]ῆλθον πρὸς αὐτόν, d, dvar; hier und V. 8). Mit [προσ‑]καλεῖν ist wieder ein für die Berufungsgeschich‑ ten typisches Wort zu hören (vgl. 1,20). Die feine Nuance, das Präfix προσ‑, wirkt sich auch auf die Reaktion der Gerufenen aus: Wie die Zebedaiden ‚gehen sie weg‘ (ἀπῆλθον), aber nicht wie diese ‚hinter ihm her‘ (ὀπίσω αὐτοῦ, 1,20), son‑ dern folgerichtig ‚zu ihm hin‘ (πρὸς αὐτόν). Das unterscheidet die dritte Beru‑ fungsszene von den beiden vorhergehenden, in denen jeweils die Nachfolge am Ende der Erzählung stand. Offen bleibt, wen genau Jesus zu sich ruft: Sind es ‚seine Jünger‘, die vor‑ hin erwähnt wurden (V. 7.9)? Sind es die nachgenannten ‚Zwölf‘? Oder eine 441
Talmon: הר, 473 f.
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größere Schar, aus denen er die Zwölf dann auswählt? Der Text überlässt dies der Imagination der Hörerin. Markus sagt auch nicht, von wo die Gerufenen ‚weggehen‘; der Kontext legt nahe, dass sie den See und damit auch die Menge verlassen. 14 f. ‚Und er macht Zwölf‘ (καὶ ἐποίησεν δώδεκα, c Bvar) – ein weiteres Mal ist das Stichwort ποιεῖν (c) zu hören, das eine Verbindung zur ersten Hälfte der Tripelepisode herstellt. Markus verwendet es hier in einem Zusammenhang, der schon in der ersten Berufungsgeschichte anklang. Dort kündigte Jesus an, er werde sie ‚zu Menschenfischern machen‘ (ποιήσω ὑμᾶς γενέσθαι ἀλιεῖς ἀνθρώ‑ πων, 1,17). Das geschieht nun auf dem Berg: Jesus ‚sendet sie aus, zu verkün‑ den und Vollmacht zu haben, die Dämonen auszutreiben‘. ‚Verkünden‘ (κηρύσ‑ σειν) und ‚die Dämonen austreiben‘ (ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια) machen deutlich, dass Jesus die Zwölf in die Erfüllung seiner eigenen Aufgabe miteinbezieht (vgl. 1,39). Um sie dazu zu befähigen, verleiht er ihnen ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία). Dieses Motiv erklang bisher exklusiv in Bezug auf Jesus (1,22.27; 2,10) zur Verankerung der überwältigenden Wirkung seines Redens und Handelns in seiner besonderen Beziehung zu Gott. Auch wenn hier die Vollmacht auf das Austreiben von Dämo‑ nen beschränkt ist, ist doch unbedingt festzuhalten, dass Jesus die Ausgewählten nicht nur an seinem Auftrag, sondern auch an seiner Gottesnähe beteiligt, die ungeahnte Kräfte freisetzt. Markus sorgt in seiner ganzen Art der Darstellung der Jünger dafür, dass sie trotzdem nicht zu Halbgöttern werden. Unter anderem erzählt er auch davon, wie sie einmal trotz der ihnen verliehenen Vollmacht bei einem Exorzismus scheitern (9,18.28 f.). Die Beauftragung und Bevollmächti‑ gung zur Mitarbeit an der „Sache Jesu“ wird erst als zweiter Zweck der Auswahl der Zwölf genannt. An erster Stelle steht etwas anderes: ‚dass sie mit ihm seien‘ (ἵνα ὦσιν μετ’αὐτοῦ). Am wechselseitigen ‚er mit ihnen‘ (μετ’αὐτῶν, 2,19) – ‚sie mit ihm‘ (μετ’αὐτοῦ, 2,25)442 wurde im letzten Erzählbogen in den Streitgesprä‑ chen ums Essen und Fasten vor allem das ‚er mit ihnen‘ betont: Jesus lässt sich auf die (Mahl‑)Gemeinschaft ‚mit den Zöllnern und Sündern‘ (2,16) ein, mitten unter ihnen sitzen auch die Jünger; jetzt ist die Zeit, in denen er ‚mit ihnen‘ ist (2,19). Auch in der dritten Berufungsgeschichte wird die Gemeinschaft wechsel‑ seitig dargestellt: War am See das ‚er mit ihnen‘ (μετὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ, V. 7) zu hören, tritt nun auf dem Berg die andere Perspektive in den Vordergrund (ἵνα ὦσιν μετ’αὐτοῦ); aus Jesu Munde selbst vernehmen ‚die Zwölf‘ – und mit ihnen auch die Hörerschaft des Markus –, dass er auch ihre Gemeinschaft möchte. Die beiden Zweckangaben lassen sich nicht voneinander trennen: Wer ‚mit ihm ist‘, folgt ihm nach, tritt – ganz wörtlich, aber auch in übertragenem Sinne – in seine Fußstapfen. Wer ‚mit ihm ist‘, geht den Weg Jesu mit, ist hineingenommen in seinen Auftrag, hat Anteil an den großen Taten und Worten, aber, so wird später klar, auch am Leiden (8,34). 442 In 2,25 zur Bezeichnung der Begleiter Davids, mit denen die Jünger Jesu verglichen wurden.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Mit ‚Zwölf‘ ist eine Zahl mit Symbolkraft gewählt; sie weckt Assoziationen zu den zwölf Stammvätern und Stämmen Israels. Als Bezeichnung für den inneren Kreis um Jesus sind ‚die Zwölf‘ schon bei Paulus in 1 Kor 15,5 bezeugt. Wäh‑ rend Matthäus und Lukas den Bezug zu Israel ausarbeiten und der Zwölferkreis bei ihnen Züge eines „wahren Israel[s] der Gerechten“443 bekommt, indem Jesus diese Jünger als eschatologische Richter über die zwölf Stämme Israels einsetzt (Mt 19,28; Lk 22,28 – 30), greift Markus die Tradition auf, ohne auf die Israel‑ symbolik einzugehen, auch im weiteren Verlauf seines Evangeliums nicht. Bei ihm steht auch nicht die eschatologische Dimension, sondern die Gegenwart im Vordergrund: Hier und jetzt sollen sie ‚mit ihm‘ sein, hier und jetzt beteiligt er die Zwölf an seiner irdischen Mission.444 16 – 19 Wie die Perikope mit einer Liste, der Aufzählung der Gegenden, aus denen die Massen zu Jesus strömten, begann, so endet sie mit einer solchen, nun mit der Aufzählung der Namen der ‚Zwölf‘. Bevor die Namen der Ausgewähl‑ ten – wie in der geografischen Reihung beginnt wieder jede Zeile mit καί – auf‑ gelistet werden, wiederholt Markus zur Bekräftigung das ‚und er machte Zwölf‘, fügt aber dieses Mal vor der Zahl den Artikel ein, der darauf hinweist, dass mit ‚den Zwölfen‘ ein bestimmter Kreis gemeint ist. Von nun an treten sie als feste Größe durchs ganze Evangelium hindurch bis zum letzten Mahl Jesu auf, das er ‚mit den Zwölfen‘ (μετὰ τῶν δώδεκα, 14,17) feiert. Markus kennt keine scharfe Trennung zwischen den Bezeichnungen οἱ δώδεκα und οἱ μαθηταί; oft scheint er sie synonym zu gebrauchen, doch nicht so konsequent, dass sich ausschließen ließe, dass zu den μαθηταί auch noch andere als die hier genannten Personen gehören.445 Manchmal wechseln sich die beiden Bezeichnungen ab, ohne dass verschiedene Gruppen gemeint sein können (z. B. 9,28 – 35; 14,14.17); immer wieder sind es ‚die Jünger‘, die im kleinen Kreis unter Ausschluss der Öffentlich‑ keit mit Jesus zusammen sind (z. B. 4,34; 7,17; 9,28; 10,10). Bei der Aufzählung der Namen gerät die Grammatik etwas unter die Räder; die Verse sind eine Mischung aus Liste und Ausführungen zu einzelnen Personen. Markus beginnt damit, dass ‚er dem Simon den Namen Petrus beigelegt‘ habe, alle anderen Namen hängt er mit καί im Akkusativ (β2 – 12) an – das passt nicht nur nicht zum ersten, in sich abgeschlossenen Satz, sondern würde auch eine Ein‑ leitung in der Art von „und er berief . . .“ voraussetzen, die aber fehlt. Zwischen den Namen findet sich noch ein weiteres Mal, auch einfach mit καί eingefügt, ein vollständiger Satz, der wiederum die Beilegung eines Namens dokumentiert, die‑ 443
Lührmann, Mk, 71. Vgl. Lührmann, Mk, 71; Collins, Mk, 217. 445 Auch Malbon und France gehen davon aus, dass beide Bezeichnungen im Markusevan‑ gelium grundsätzlich die gleiche Gruppe meinen; dabei ist ‚die Jünger‘ einfach etwas flexibler als ‚die Zwölf‘ (vgl. Malbon, Company, 74, Anm. 9; France, Mk, 158). Anderer Meinung ist Hahn: „Die Begriffe ‚Jünger‘ (μαθηταί) und ‚Zwölf‘ (δώδεκα) sind bei Markus nicht miteinan‑ der identifiziert, sondern im Sinne eines größeren und offenen Kreises und eines engeren Krei‑ ses unterschieden.“ (Hahn, Theologie I, 510). 444
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
211
ses Mal ‚Boanerges‘ für die Brüder Jakobus und Johannes. So wenig diese Verse grammatikalisch überzeugen – sie geben dem Zwölferkreis wesentlich anschau‑ lichere Konturen als eine Liste, in der alle Namen korrekt im Nominativ unterei‑ nander stünden. Am Anfang stehen vier Personen, die auch sonst im Evangelium einzeln namentlich genannt werden; es sind die beiden erstberufenen Brüderpaare (vgl. 1,16 – 20). Dabei fällt auf, dass Simon zuerst genannt wird und er durch den Dativ auch grammatikalisch eine Sonderstellung einnimmt; die eigentliche Aufzählung beginnt erst danach. Auf ihn folgen die als Brüder gekennzeichneten Zebedaiden und erst nach ihnen Andreas – und das, ohne zu erwähnen, dass er der Bruder des Simon ist. Er wird auch dadurch zurückgesetzt, dass die beiden erwähnten Sätze mit der Beilegung von Namen (καί ἐπέθηκεν ὄνομα, f) eine deutliche Inclu‑ sio um die drei Erstgenannten bilden, die sie als Dreiergruppe hervorhebt. Allen dreien werden symbolträchtige Namen beigelegt; Πέτρος bedeutet Fels, Βοανηρ‑ γές, wie Markus selbst die hebräische oder aramäische Bezeichnung446 ins Grie‑ chische übersetzt, ‚Donnersöhne‘ (υἱοὶ βροντῆς). Letztere ist samt ihrer Überset‑ zung Hapax legomenon im Neuen Testament, auch im Alten Testament ist kein vergleichbarer Ausdruck zu finden. Auch Markus nennt die Brüder im Folgen‑ den weiterhin bei ihren eigenen oder beim Namen ihres Vaters. Anders ist es bei Simon; ab jetzt erscheint er immer als Petrus – mit einer Ausnahme: Jesus, der ihn nur ein einziges Mal, im Garten Getsemani, mit Namen anspricht, bleibt anders als der Erzähler explizit bei Simon (καὶ λέγει τῷ Πέτρῳ· Σίμων, καθεύδεις; 14,37). Petrus, Jakobus und Johannes nimmt Jesus immer wieder als engste Vertraute in besonderen Situationen mit. Sie dürfen ihn begleiten, als er die Tochter des Jaïrus vom Tod erweckt (5,37), sie sind die einzigen Zeugen der Verklärung Jesu (9,2), sie sollen wachen, während er im Garten Getsemani betet (14,33). Auch innerhalb der Dreiergruppe ist noch eine Hierarchisierung zu erkennen: Der an der Spitze stehende Petrus ist derjenige, der am häufigsten alleine, oft als Pro‑ totyp des Jüngers, auftritt. Dass mit dem Privileg der besonderen Nähe zu Jesus nicht automatisch ein tieferer Glaube oder gar die Überwindung menschlicher Schwächen einhergeht, wird an diesen dreien, insbesondere an Petrus,447 immer wieder deutlich. Bis zuletzt ist er voll guten Willens, ‚mit ihm‘ zu sein, und voller Überzeugung, dass ihm das auch gelingen wird (14,29). Doch wie alle anderen scheitert als Letzter auch er, als es für ihn selbst gefährlich wird: Er bleibt auch nach der Verhaftung Jesu so nahe bei ihm wie möglich, folgt ihm bis auf den Hof des Hohenpriesters (14,54). Doch als Jesus im Haus der Prozess gemacht wird und er selbst draußen auf dem Hof als einer erkannt wird, der ‚mit ihm‘ ist (καὶ σὺ μετὰ τοῦ Ναζαρηνοῦ ἦσθα τοῦ Ἰησοῦ, 14,67), behauptet er, ihn nicht einmal zu kennen (οὐκ οἶδα τὸν ἄνθρωπον τοῦτον, 14,71). 446
Vgl. Bauer s. v. Βοανηργές; dort lässt sich auch in aller Kürze ein Einblick in die Band‑ breite der Interpretationen gewinnen, die dieser Ausdruck generiert. 447 In Bezug auf die Zebedaiden vgl. 10,35 – 45.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Andreas, der immerhin mit Petrus zusammen zuerst berufen wurde, kommt später nur noch einmal vor; mit den drei Erstgenannten hört er die Endzeitrede Jesu (13,3 – 37). Er führt hier eine Aufzählung von acht Namen an, von denen die anderen sieben im Markusevangelium nur hier genannt werden; es kann nur darüber spekuliert werden, ob das Publikum des Markus mit diesen Namen etwas anfangen konnte.448 Festzuhalten ist, dass der in 2,14 berufene Zöllner Levi nicht erwähnt wird, jedoch ein Jakobus mit dem Vaternamen Alphäus, der, sollte es sich um den gleichen Alphäus handeln, dessen Bruder wäre. Die Liste beschließt als Zwölfter Judas Iskariot, der in der Passionsgeschichte eine entscheidende Rolle spielen wird. Dem Publikum muss er als ‚der Auslie‑ ferer‘ bekannt gewesen sein, anders lässt sich die Anmerkung des Erzählers ‚der war’s, der ihn auslieferte‘ (ὃς καὶ παρέδωκεν αὐτόν)449 kaum verstehen. Das Ende der Liste weist somit, wie schon andere Perikopenschlüsse (vgl. 2,20; 3,6), voraus auf das Ende des Evangeliums, auf die Passion: Wenn Markus vom Ver‑ rat erzählt – und nur dort kommt bei ihm Judas nochmals vor –, spricht er von ‚Judas, der eine / einer der Zwölf‘ (Ἰούδας, [ὁ] εἷς τῶν δώδεκα, 14,10.43). Auch er sitzt beim letzten Mahl Jesu mit am Tisch. Jesus weiß, dass ‚der Menschen‑ sohn ausgeliefert werden wird‘ (14,21) und dass es ‚einer von den Zwölfen‘ (εἷς τῶν δώδεκα, 14,20) tun wird, die ‚mit ihm‘ (dort μετ’ἐμοῦ, 14,18.20) essen. Im Moment der Auslieferung ist Judas nicht mehr ‚mit ihm‘. ‚Mit ihm‘ (μετ’αὐτοῦ, 14,43) sind nun die Gegner Jesu. Trotzdem, er bleibt ‚einer der Zwölf‘ (14,43). Mit der Nennung des Judas endet auch die ganze Perikope; Markus berichtet, anders als in den beiden ersten Tripelepisoden, nicht, wie die Berufenen reagiert haben. Erst in Kap. 6, wo 3,13 f. in einer Variation nochmals erklingen (6,7), hört man davon, wie sie ausziehen, verkündigen, Dämonen austreiben und – hier nicht erwähnt – Kranke heilen (6,12 f.).450 Die dritte Berufungsgeschichte weicht stark von den beiden anderen ab; das bei den ersten Berufungen (1,16 – 18.19 f.; 2,14) dreimal verwendete „Gattungs‑ schema“451 ist hier nicht zu erkennen. Dennoch ist die Verwandtschaft offen‑ sichtlich; das Signal ‚am Meer‘ läutet auch diese Episode ein, auch die anderen typischen Motive finden sich hier wieder, werden jedoch anders kombiniert. U. a. wird ἀκολουθεῖν, der Terminus technicus für Nachfolge, nicht für das Resultat der Berufung einzelner, namentlich Genannter verwendet, sondern ‚Massen von Menschen‘ sind es, die Jesus nachfolgen. Die Bewegung der namentlich Berufe‑ 448
Aus der hier gewählten exegetischen Perspektive sind, da die einzelnen Personen hinter diesen Namen im Text selbst gar keine weitere Rolle spielen, Nachforschungen darüber müßig. Ausführliche Informationen über die Namen und über die Divergenzen der markinischen Auf‑ zählung zu anderen neutestamentlichen Listen der ‚Zwölf‘ bietet Collins, Mk, 218 – 224. 449 Diese Übersetzung ist der Versuch, dem ὃς καί angemessen Rechnung zu tragen. Laut Bauer dient es in Verbindung mit einem Relativum dazu, „dem Relativsatz größere Selbständig‑ keit“ zu verleihen (Bauer s. v. καί II.6.). 450 Vgl. Textkritik zu V. 15, S. 199.202. 451 Vgl. Kap. III.2.2.1., S. 116; Kap. III.2.3.1., S. 162.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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nen ist eine andere: Weg von den Massen, hin zu Jesus, um ‚mit ihm‘ zu sein. Die Aussendung zur Verkündigung und Dämonenaustreibung impliziert eine Fortset‑ zung der Bewegung wieder ‚hinaus‘ zu ‚den Massen‘. Sie wird noch nicht hier vollzogen, sondern erst in Kap. 6. Die letzte Berufungsgeschichte452 stellt sich als Höhepunkt der Tripelepisoden dar: Sie ist die längste, nennt das bisher weiteste geografische Einzugsgebiet, aus dem die Massen zu Jesus strömen, sie bleibt nicht am See, sondern gipfelt auf einem Berg, wo die Einsetzung des vollständigen inneren Kreises um Jesus durch ihn selbst stattfindet. Deutlich erkennbar ist die Zweiteilung der Tripelepisode. Der exklusive Kreis der Zwölf wird durch Jesu Wahl, Beauftragung und Bevollmächtigung von den Massen abgehoben. Dennoch sind die beiden Teile über die genannten Stich‑ wortverbindungen hinaus mannigfaltig miteinander verknüpft: Die Motive der Berufungsgeschichten sind über beide Teile verstreut; schon am See ergeht an die Jünger ein kleiner Auftrag Jesu, bevor der große auf dem Berg folgt. Akus‑ tisch am auffälligsten sind dabei die beiden Listen – zu Beginn die Nennung der verschiedenen Gegenden, aus denen die Massen kommen, zum Schluss die Auf‑ zählung der Namen der Zwölf. Am Höhepunkt und Abschluss der Berufungsgeschichten klingen Themen an, die im Folgenden durchgespielt werden: Ein Bötchen wird bereitgestellt, das zunächst keine weitere Rolle spielt; in 4,1 steigt Jesus ein und hält vom dort aus seine Gleichnisrede. Mit ihm werden Jesus und die Jünger im zweiten Hauptteil in See stechen. Auch am zentralen Thema des Markusevangeliums wird wei‑ tergearbeitet: Wer ist Jesus? Die Leute stürzen sich auf den Wunderheiler, die Dämonen werfen sich vor ihm als dem Sohn Gottes nieder. Jesu vollmächtige Taten sind offenbar, gleichzeitig verbietet er den Dämonen, ihr Wissen über seine Identität hinauszuposaunen. Mit der Gegenüberstellung der Massen und der Ausgewählten drängt sich die Frage auf: Wer gehört zu Jesus? Auch diesem Thema widmet sich Markus im folgenden Erzählbogen. III.2.4.2. Volksauflauf im Haus (3,20 f.) Beim letzten Erzählbogen des ersten Hauptteiles stellt sich wieder die Frage, wie er zu gliedern sei. Ein Neueinsatz in V. 22 ist durch die Einführung der ‚Schrift‑ gelehrten, die aus Jerusalem heruntergekommen waren‘ gesetzt, ein weiterer in V. 31 durch den Auftritt der Mutter und der Brüder Jesu, mit dem ein Themen‑ wechsel einhergeht. Die einleitenden Verse, so wird sich in der Exegese zeigen, 452 Zwei weitere – eine „missglückte“, die doch nicht in die Nachfolge führt (10,17 – 22), und eine, die sich auf der Oberfläche als Heilungserzählung gibt (10,46 – 52), doch streng dem Schema der drei Berufungen in 1,16 – 18.19 f. und 2,13 folgt – werden ‚auf dem Weg‘ erzählt, auf dem Nachfolge ein wichtiges Thema ist.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
3:20
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01 01
kai« e¶rcetai ei˙ß oi•kon kai« sune÷rcetai pa¿lin o¡cloß w‚ste mh\ du/nasqai aujtou\ß mhde« a‡rton fagei√n
kai« aÓkou/santeß oi˚ parΔaujtouv e˙xhvlqon krathvsai aujto/n e¶legon ga»r o¢ti e˙xe÷sth
Abb. 15: Mk 3,20 f. 3:22
kai« oi˚ grammatei√ß oi˚ aÓpo\ ÔIerosolu/mwn kataba¿nteß
sind sowohl mit dem „Streitgespräch“ Jesu mit den Schriftgelehrten als auch e¶legon mit der Familienszene engt verknüpft. Da vieles aus V. 20 f. unverständlich oder o¢ti Beelzebou\l e¶cei o¢ti e˙nbliebe, als angefangener liegen wenn es nicht $Erzählfaden $ kai« twˆ◊ a‡rconti tw◊n daimoni÷ wn die e˙kba¿Fortsetzung llei ta» daimo/nin ia V. 31 – 35 gäbe, gebührt der Zusammengehörigkeit des Anfangs mit den letzten 3:23 mehr Gewicht, kai« proskalesa¿ enoßGrundstruktur aujtou\ß Versen sodass sich mdie des gesamten Erzählbo‑ 7 e˙n parabolai√ß e¶legen aujtoi√ß gens als Sandwichkonstruktion beschreiben lässt: V. 20 f. und V. 31 – 35 rahmen die Auseinandersetzung mitß du/ den Schriftgelehrten die Frage, mit wel‑ satana◊ß satana◊über $ $ Jesu pw◊ natai n e˙kba¿ llein chen Geistern Jesus im Bunde steht. Weil Rahmenerzählung und Zentrum hier 3:24 kai« e˙a»n basilei÷a e˙fΔe˚auth\n merisqhØv wesentlich eigenständiger sind als etwa Heilungserzählung (2,1 – 5 .10b – 13a) und ouj du/natai staqhvnai hJ basilei÷a e˙kei÷nh „Streitgespräch“ (2,6 – 1 0a) bei der Heilung des Gelähmten, werden alle drei Teile kai« e˙a»n oi˙ki÷a e˙fΔe˚auth\n merisqhØv 3:25 453 ouj dunh/setai hJ oi˙ki÷a e˙kei÷nh staqhvnai separat behandelt. 3:26müssen zwei textkritische kai« ei˙ oJ satana◊ß getroffen aÓne÷sth e˙fwerden: Δe˚auto\n kai« e˙meri÷ sqh In V. 20 Entscheidungen Steht das erste Verb im ouj du/natai sthvnai Singular oder im Plural (ἔρχεται oder ἔρχονται)? Führt ὄχλος den Artikel mit sich oder nicht? aÓlla» te÷loß e¶cei Der Singular ist früh und qualitativ besser bezeugt; zudem ist es nachvollziehbar, ihn durch den Plural ersetzen zu wollen, unmittelbar nur 3:27 7 da vorher aÓlund lΔ ouj du/natai oujnachher dei«ß ei˙ß nicht th\n oi˙k i÷anvon Jesus alleine, son‑ Jüngern (3,13 touv i˙scurouv ei˙selqw»n ‚von ihnen‘ (V. 20) gesprochen wird. – 19) bzw. allgemein dern auch von seinen skeu/h An aujtouv saiStelle lässt sich sowohl aufgrund Alles spricht also dafür, ἔρχεται zuta»lesen. derdiarpa¿ zweiten e˙a»n mh\ prw◊ to\n i˙scuro\Urteil äußerer als auch aufgrund kein $ innerer Kriterien toneindeutiges n dh/shØfällen; die Entscheidung der 28, den Artikel kai« te th\n oi˙ki÷ain n auj touvText aufzunehmen, leuchtet ein. Im Herausgeber von NA into/Klammern den diarpa¿sei Wissen um die Willkürlichkeit der Wahl lege ich meiner Interpretation die Lesart ohne Artikel zugrunde. 28 In3:28 V. 21 ist übernommene 77 die in NA aÓmh\n le÷gwLesart uJmi√n sehr gut bezeugt und daher nicht strittig. o¢ti pa¿nta aÓfeqh/setai zwei frühe Codices toi√die ß ui˚oaltlateinischen i√ß tw◊n aÓnqrw¿pwnZeugen Erwähnenswert ist aber, dass (D und W) und ta» aJmarth/mata eine ganz andere Geschichte erzählen: Nach ihnen wollen nicht ‚die Seinen‘ (οἱ παρ’αὐτοῦ) Jesus ergreifen, sondern ‚die Schriftgelehrten und kai« die ai˚ Übrigen‘ (οἱaiγραμματεῖς καὶ οἱ λοιποί). blasfhmi÷ o¢sa e˙awollen: »n Folglich wird auch anders begründet, warum sie ihn ergreifen Sie sagen nicht, dass blasfhmh/swsin Jesus3:29 verrückt sei (ἐξέστη), sondern dass er die Leute verrückt o§ß dΔa·nmache (ἐξέσταται αὐτούς, D) 454 (ἐξήρτηνται blasfhmh/ bzw. die Leute sich an ihn hängen würden αὐτοῦ, W). Sopneuv wirdmaaus sich nicht shØ ei˙ ß to\ to\ der a‚gion $
$
453
oujk e¶cei a‡fesin ei˙ß to\n ai˙w◊na aÓllΔe¶noco/ß e˙stin ai˙wni÷ou aJmarth/matoß So gliedert z. B. auch France, Mk, 164 – 180. Manche Kommentare behandeln V. 20 – 35
als eine Perikope (vgl. z. B. Collins, Mk, 226; Lührmann, Mk, 73), andere bieten zwei Teile o¢tider e¶lZusammengehörigkeit (V. 20 – 30 und von V. 20 f. und V. 31 – 35 am wenigs‑ 3:30 V. 31 – 35), was egon pneuvma aÓka¿qarton e¶cei $z. B. Pesch, Mk I, ten gerecht wird (vgl. 209 – 225; ähnlich auch van Iersel, Mk, 168 – 175; dort 3,20 – 30 und 3,31 – 4,1). 454 Vgl. Swanson, Manuscripts, 44.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 3:20
Und er kam in ein Haus. Und es kamen wieder Leute mit, sodass sie nicht einmal mehr Brot essen konnten.
3:21
Und als die Seinen es hörten, gingen sie aus, um ihn zu ergreifen. Sie sagten nämlich: Er ist verrückt!
215
Übersetzung zu Abb. 15 so recht in den Kontext fügenden Aussage über ‚die Seinen‘ eine dem Rat der Pharisäer mit den Herodianern (3,6) vergleichbare Prolepse der Passion Jesu – und damit ‚ihn ergreifen‘ (κρατῆ‑ σαι αὐτόν) wesentlich nachvollziehbarer auf die Gegner Jesu statt auf ‚die Seinen‘ gemünzt.455 Formal hat dies zur Folge, dass V. 21 f. in D und W zur Einleitung von V. 22 – 30 wird; eine Sandwichkonstruktion liegt in dieser Lesart nicht vor.
V. 20 f. lässt in sich keine besondere formale Gestaltung erkennen; auch inhalt‑ lich bleiben diese Verse für sich betrachtet reichlich unverständlich. Sie ergeben sowohl formal als auch inhaltlich erst im Zusammenhang, insbesondere durch den unteren Rahmen der Sandwichkonstruktion (V. 31 – 35), einen Sinn. Für den Moment ist festzuhalten, dass diese Verse, wie schon viele Einleitungen zuvor, durch das Verb ἔρχεσθαι (A) geprägt sind, das hier gleich in drei Variationen zu hören ist. 20 ‚Und er kommt in ein Haus‘ (Καὶ ἔρχεται εἰς οἶκον). Schon dieser Anfang lässt viel offen und verlangt vom Publikum viel Eigeninitiative zur Imagination der Szene. In Bezug auf das Subjekt ist das nicht schwer; Jesus ist die Hauptper‑ son, wenn Markus nicht explizit eine andere Figur einführt, spricht er von ihm. Hingegen gibt es wieder mehrere Möglichkeiten, εἰς οἶκον zu interpretieren. Es könnte irgendein Haus gemeint sein, eines, das schon erwähnt wurde – entweder das des Petrus oder des Levi –, auch ‚nach Hause‘ wäre als Übersetzung prinzipi‑ ell möglich.456 Wie oft bei solchen unpräzisen Angaben im Markusevangelium ist für die Erzählung eine genaue Verortung unwichtig. Wichtig ist, insbesondere für die Szene V. 31 – 35, dass man sich in einem Haus befindet. Der Singular – Jesus kommt alleine – wurde schon in der Textkritik angesprochen. Natürlich liegt es von der Logik der Erzählung her nahe, sich vorzustellen, er sei in der Beglei‑ tung der Zwölf, die er gerade erst dazu bestimmt hat, ‚mit ihm zu sein‘ (3,14). Dennoch ist erstaunlich, dass sie im gesamten Erzählbogen nicht einmal erwähnt werden. Stattdessen sind es nun ‚Leute‘ (ὄχλος, a), die ‚mit‘ ihm ins Haus ‚kom‑ men‘. Alle mir bekannten Kommentare und Übersetzungen interpretieren συνέρ‑ 455 Vgl. auch 12,12 (ἐζήτουν αὐτὸν κρατῆσαι καὶ ἐφοβήθησαν τὸν ὄχλον) und 14,1 (ἐζή‑ τουν [. . .] πῶς αὐτὸν [. . .] κρατήσαντες ἀποκτείνωσιν)! 456 Vgl. zu ἐν οἰκῷ in 2,1 f. Kap. III.2.2.4., S. 148 f., und zu ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ in 2,15 Kap. III.2.3.2., S. 166 f.
216
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
χεται (Avar) synonym zu [ἐπι‑]συνάγειν in 1,33 und 2,2 als ‚Zusammenkommen‘ von Leuten. Die Erinnerung an diese Szenen, in denen viele zusammenströmen, als Jesus in einem Haus ist, wird durch πάλιν noch unterstrichen. Ohne diesen Zusammenhang in Frage zu stellen, scheint mir durch die hier vorliegende Paral‑ lelisierung von ἔρχεται und συνέρχεται dennoch der Fokus auf dem ‚mit Jesus‘ zu liegen. Die Schlussfolgerung ‚sodass sie nicht einmal mehr Brot essen konnten‘ zeichnet wie in den beiden gerade genannten Episoden im bzw. vor dem Haus ein Bild von einer bedrängenden Menschenmasse. Trotzdem mutet einiges hier selt‑ sam an: Abgesehen davon, dass nicht klar ist, wer hier nicht zum Essen kommt – Jesus und die Zwölf? die Leute? –, ist hier anders als in 1,33 und 2,2 nicht explizit von einer großen Menschenmenge die Rede und auch nicht davon, dass sich die Leute vor der Tür versammeln würden. Vielmehr vermittelt συνέρχεται den Ein‑ druck, Leute gingen mit Jesus ins Haus hinein – so stellt sich die Situation dann in V. 32 auch dar. Warum wird die Bedrängnis durch die Leute ausgerechnet mit ‚nicht mehr Brot essen können‘ (μὴ δύνασθαι αὐτοὺς μηδὲ ἄρτον φαγεῖν) dar‑ gestellt? Im Haus, das Jesus zuletzt betreten hatte, war ja trotz der ganzen Zöll‑ ner, Sünder und Jünger offensichtlich genug Platz zum Essen (2,15 f.); auch die Worte Jesu zum Fasten (2,19 f.) stellen ja heraus, dass seine Gegenwart die Zeit der festlichen Mahlgemeinschaft ist. Spekulationen, die hier genannten ‚Leute‘ sollten als Störfaktor der Gemeinschaft Jesu mit seinen Nachfolgern dargestellt werden,457 lassen sich im Kontext der Erzählung nicht halten. In der Fortsetzung der Szene im Haus (V. 31 – 35) sind es ja gerade ‚Leute‘, die den inneren Kreis um Jesus ausmachen. Plausibler ist es, das Auge oder besser das Ohr darauf zu rich‑ ten, welche Textsignale hier ins Spiel gebracht werden: Μὴ δύνασθαι (eneg), hier nur die Unmöglichkeit des Essens bezeichnend, wird in der kommenden Perikope viermal zu hören und dort ein wesentliches Element der Rede Jesu sein. Vom ‚Brot essen‘ (ἄρτοv ἐσθίειν) war schon einmal die Rede – Jesus berief sich in einer Auseinandersetzung mit den Pharisäern auf Davids Beispiel, der aus Hun‑ ger die den Priestern vorbehaltenen Schaubrote aß (2,26). Im zweiten Hauptteil wird es zu einem der führenden Motive werden, das nicht nur in den zwei großen Speisungen (6,30 – 45; 8,1 – 9), sondern auch in anderen Zusammenhängen immer wieder erklingt.458 Schließlich – und nur noch dort wird nach dem zweiten Haupt‑ teil ‚Brot‘ und mit einer Ausnahme459 auch ‚essen‘ verwendet – begegnet es beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern.460 21 Die gerade skizzierte Szene wird nicht weiterverfolgt; stattdessen berich‑ tet Markus davon, was sie bei ‚den Seinen‘ (aopp) auslöst, als sie ‚davon hören‘ (ἀκούσαντες οἱ παρ’αὐτοῦ): Sie halten ihn für ‚verrückt‘ (ἐξέστη) und ‚gehen aus, um ihn zu ergreifen‘ (ἐξῆλθον κρατῆσαι αὐτόν). Auch hier bleibt wieder, 457
Vgl. z. B. Collins, Mk, 226; France, Mk, 165. Vgl. 6,8.52; 7,2.5.27; 8,14.16.17.19. 459 11,14. 460 Ἄρτος in 14,22; ἐσθιεῖν in 14,12.14.18.22. 458
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
217
die beiden Verse für sich genommen, vieles im Dunkeln: Wer sind ‚die Seinen‘, was genau hören sie, dass sie zum Schluss kommen, er sei verrückt? Im bisheri‑ gen Kontext wäre es das Nächstliegende, οἱ παρ’αὐτοῦ als weitere Variante zu οἰ μετ’αὐτοῦ (2,25; 3,14) und οἱ σὺν αὐτῷ (2,26) zu verstehen – als Bezeichnung der Jünger Jesu. Dass diese ihn aber für verrückt halten und sogar ‚ihn ergreifen‘ (κρατῆσαι αὐτόν) wollen – ein Ausdruck, der im Markusevangelium sonst nur für die Gefangennahme Jesu bzw. Johannes’ des Täufers steht461 –, fügt sich in kei‑ ner Weise ins bisherige Bild, das von den Jüngern gezeichnet wird. Im Moment bleibt ‚die Seinen‘ ein irritierender Ausdruck; erst in V. 30, wo sie vor dem Haus ankommen, wird sich klären, dass damit Familienmitglieder Jesu gemeint sind. Ob es für sie genügte zu hören, dass er vor lauter Leuten nicht zum Essen kam, um ihn für verrückt zu halten, ist, bemüht man sich um eine halbwegs realistische Sicht der Dinge, kaum anzunehmen. An solchen realen Details ist Markus, wie schon öfters zu sehen war, nicht interessiert. Sie haben wohl einfach erfahren, welche Massen Jesus zu mobilisieren vermag und können das nicht einordnen. Doch ein genauer Blick darauf, wie er es sagt, lohnt sich: ‚Sie sagen nämlich: Er ist verrückt.‘ (ἔλεγον γὰρ ὅτι ἐξέστη). Damit ist der diesseitige Pfeiler der Brücke gesetzt, die zur nächsten Perikope geschlagen wird. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass diese beiden Verse in all ihrer Vag‑ heit in erster Linie dazu dienen, das Publikum auf Kommendes vorzubereiten: Sie enthalten mit ἔλεγον ὅτι (B C) und μὴ δύνασθαι (eneg) wichtige Stichworte der folgenden Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten; auch οἶκος (h) wird dort gleich dreimal wieder erklingen. Das Haus, das in V. 20 betreten wird, wird zwar in V. 31 – 35 nicht nochmals erwähnt, bildet aber ganz offensichtlich den szenischen Rahmen für die Fragen nach der wahren Familie Jesu, nach ‚drinnen‘ und ‚draußen‘. In V. 21 schickt Markus ‚die Seinen‘ (aopp) auf den Weg; in V. 30 werden sie beim Haus ankommen. Mit ἄρτοv ἐσθίειν ist nach 2,26 eine erneute Vorausimitation eines Motivs zu hören, das den nächsten Hauptteil prägen wird. III.2.4.3. Auf Gottes Seite (3,22 – 30) In dieser Perikope gibt es keine Gründe, um von der in NA28 gebotenen Lesart abzuweichen; diese ist gut bezeugt. Dennoch seien ein paar Dinge zum Textbefund angemerkt: An manchen Stellen existieren Varianten in Form anderer Wortreihenfolgen, doch keine davon würde Inhalt und Form der Perikope nachhaltig verändern. Das dreimal in paralleler Formulierung verwen‑ dete Verb ἱστάναι ist bezüglich seiner Form an allen drei Stellen uneinheitlich überliefert; es überwiegen die Formen σταθῆναι und στῆναι. In V. 25 tanzt δυνήσεται als Futurform aus der Reihe des oft wiederholten Präsens δύναται (V. 23.24.26.27). Dementsprechend wurde in vielen Manuskripten das Tempus angeglichen. Die doppelte Verneinung οὐ οὐδείς in V. 27 findet sich 461
Gefangennahme des Täufers in 6,17; Gefangennahme Jesu 12,12; 14,1.44.46; im Zu‑ sammenhang mit der Gefangennahme Jesu auch für die versuchte Gefangennahme eines jungen Mannes (14,51).
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e¶legon o¢ti Beelzebou\l e¶cei $ $ kai« o¢ti e˙n twˆ◊ a‡rconti tw◊n daimoni÷wn e˙kba¿llei ta» daimo/nia kai« proskalesa¿menoß aujtou\ß e˙n parabolai√ß e¶legen aujtoi√ß
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o¢ti e¶legon pneuvma
aÓka¿qarton e¶cei
Abb. 16: Mk 3,22 – 30
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35) 3:22
Und die Schriftgelehrten, die von Jerusalem heruntergestiegen waren, sagten: Er hat den Beelzebul! und: Er treibt mit dem Obersten der Dämonen die Dämonen aus!
3:23
Und er rief sie zu sich und sagte zu ihnen in Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben?
3:24 3:25
Und wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es nicht bestehen bleiben, jenes Reich. Und wenn ein Haus in sich gespalten ist, wird jenes Haus nicht bestehen bleiben können.
3:26
Und wenn der Satan sich gegen sich erhebt und gespalten ist, kann er nicht bestehen bleiben, Ja vielmehr:462 Er hat ein Ende.
3:27
Ja vielmehr: Gar niemand kann in das Haus des Starken hineingehen, um dessen Sachen zu rauben, außer wenn er zuerst den Starken fesselt und dann sein Haus ausraubt.
3:28
Amen, ich sage euch: Alle Sünden werden den Menschenkindern vergeben, auch die Lästerungen, so viel sie auch lästern mögen.
3:29
Wer aber gegen den Heiligen Geist lästert, hat keine Vergebung in Ewigkeit. Ja vielmehr: Er ist schuldig ewiger Sünde.
3:30
Denn sie sagten: Er hat einen unreinen Geist.
219
Übersetzung zu Abb. 16
462 Das übliche ‚sondern‘ wäre in V. 26 die bessere Wiedergabe; ἀλλά am Anfang von V. 27 bringt die Übersetzerin in Schwierigkeiten, da eine Adversativpartikel hier unpassend erscheint. Die Übersetzung von ἀλλά in beiden Fällen mit ‚ja vielmehr‘ ist der Versuch, die Stichwort‑ verbindung auch im Deutschen wiederzugeben, und deutet ἀλλά in V. 27 nicht als Gegensatz, sondern als Überbietung des Vorangehenden.
220
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
nur in ℵ, B, C, Δ und 2 (12. Jh.),463 doch ist aufgrund dieser frühen und qualitativ hohen Bezeu‑ gung auch hier anzunehmen, dass die Mehrheit der Textzeugen hier glättet und an die sonst einfache Verneinung des Könnens angeglichen hat. Der inhaltlich holprige Anfang von V. 27 mit ἀλλά ist sehr gut bezeugt, doch die Mehrheit der Textzeugen lässt es weg und beginnt den Satz asyndetisch mit οὐδεὶς δύναται,464 andere ersetzen ἀλλά durch καί (C2, G) oder δέ (Θ). In V. 29 schließlich bot – anders als in V. 28, wo ἁμαρτήματα einheitlich bezeugt ist – die Formulierung ‚ewiger Sünde schuldig‘ (ἔνοχος [̣. . .] αἰωνίου ἁματήματος) offensichtlich Anlass zur Korrektur; das in den meisten Manuskripten gebotene ‚ewiger Verurteilung schuldig‘ (ἔνοχος [̣. . .] αἰωνίου κρίσεως) findet sich erstmals im Codex Alexandrinus.
Die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten ist zwar in die Szene im Haus eingebettet, doch spielt die Situierung hier überhaupt keine Rolle. Es geht um Aussagen, die einander gegenübergestellt werden, nicht um eine Begebenheit, die nach einer Verortung in Zeit und Raum verlangt. Das „Streitgespräch“ mit den Schriftgelehrten ist zudem, wie vielfach auch bei den Auseinandersetzungen in Kap. 2 zu beobachten, kein richtiger Dialog, in dem ein Wort das andere gibt, son‑ dern im Wesentlichen eine Rede Jesu, die durch eine Frage465 oder eine Anschul‑ digung466 der Gegner initiiert wird. Hier bildet die Aussage der Schriftgelehrten über Jesus eine Inclusio um dessen Reaktion. Auch diese ist vom Sagen geprägt – vom Sagen Jesu, das er dem der Schriftgelehrten entgegen setzt: Καὶ [. . .] ἔλεγεν αὐτοῖς (V. 23). Λέγειν auf Erzählerebene steht hier wie schon in V. 21 im Imper‑ fekt, vielleicht in der Absicht, den generellen Charakter der Aussagen herauszu‑ streichen. Innerhalb der direkten Rede setzt ein ‚Amen, ich sage Euch‘ (Ἀμὴν λέγω ὑμῖν, V. 28) eine Zäsur. Es trennt den ersten Teil der Rede, in der Jesus die Behauptung der Schriftgelehrten ad absurdum führt, vom zweiten, in dem er diese – zwar indirekt, aber dennoch unverkennbar – als Gotteslästerer entlarvt. 22 Καὶ οἱ γραμματεῖς [. . .] ἔλεγον ὅτι Βεελζεβοὺλ ἔχει
23 – 29 Rede Jesu 23 Καὶ [. . .] ἔλεγεν αὐτοῖς 28 Ἀμὴν λέγω ὑμῖν
30 ὅτι ἔλεγον πνεῦμα ἀκάθαρτον ἔχει
22 Im ersten Erzählbogen spielten die Schriftgelehrten die Rolle der Gegner Jesu in den beiden Rahmenperikopen (vgl. 1,22; 2,6); hier im dritten treten sie im Zen‑ trum auf. Neu ist, dass sie ‚von Jerusalem herunter kommen‘ (ἀπὸ Ἱεροσολύμων καταβάντες). Jerusalem als Herkunftsort wurde bisher zweimal erwähnt: ‚Alle Jerusalemer‘ kamen, um sich von Johannes im Jordan taufen zu lassen (1,5); in der gerade erst gehörten Berufungsgeschichte wurde die Stadt in der Liste der
463
Vgl. Swanson, Manuscripts, 45. Vgl. 2,21. 465 Vgl. 2,18.24. 466 Vgl. 2,16; ähnlich auch 3,2. 464
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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Gegenden genannt, aus denen die Massen zu Jesus strömten (3,8). Bisher klang der Name dieser Stadt in den Ohren eines Publikums, das das Markusevangelium zum ersten Mal hört, neutral.467 In der Kombination mit den Schriftgelehrten bekommt er erstmals468 einen bedrohlichen Unterton: Von dort kommen die Geg‑ ner Jesu! Dieser Unterton wird im Laufe des Evangeliums immer lauter; schon ‚auf dem Weg‘ werden die Anzeichen (10,32.33) deutlicher, dass Jerusalem nicht nur die Stadt der Gegner ist, sondern Jesus dort leiden und sterben, aber auch auferstehen wird. Wieder spricht jemand über Jesus: Die Redeeinleitung ἔλεγον ὅτι (B C) stellt die Aussage der Schriftgelehrten neben die der ‚Seinen‘ (V. 21) und stellt zu dieser eine zweifache Steigerung dar: Zum einen ist der Vorwurf, Jesus würde mit den Dämonen im Bunde stehen gravierender als der, er sei ver‑ rückt. Zum anderen wird er doppelt (ὅτι [. . .] καὶ ὅτι [. . .]) vorgetragen: ‚Er hat den Beelzebul!‘ und: ‚Er treibt mit dem obersten der Dämonen die Dämonen aus!‘ Der Name Beelzebul (Βεελζεβούλ), so zeigt der Blick in die Sekundärlite‑ ratur, lädt zu verschiedenen Spekulationen über Herkunft und Bedeutung ein,469 doch ist France zuzustimmen, wenn er sagt: „In the end we simply do not know where Mark got it from or exactly what lexical meaning, if any, he would have understood to carry.“470 Der Text selbst lässt durch die Parallelisierungen keinen Zweifel daran, dass ‚Beelzebul‘ in die Kategorie ‚unreine Geister‘ (b) gehört: Das zeigt sich an der zweiten Aussage der Schriftgelehrten über die Dämonen‑ austreibung mit dem Dämonenfürsten und es bestätigt sich im unteren Rahmen der Inclusio, wo ‚sie sagen‘, er habe einen ‚unreinen Geist‘ – diesen Ausdruck verwendet Markus, wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln zu beobachten war,471 gleichbedeutend mit ‚Dämon‘. Wenngleich diese Wesen nirgends näher beschrieben werden, repräsentieren sie doch eine dunkle, lebensfeindliche Macht; sie besetzen Menschen, Jesus befiehlt ihnen auszufahren und sie wissen um seine wahre Identität. Wenn die Schriftgelehrten sagen, er ‚habe‘ (ἔχει, c) den Beelzebul, so ist damit nicht weniger gemeint, als dass Jesus besessen sei.472 Die zweite Aussage, er treibe die Dämonen durch ihren obersten aus, zielt, ohne hier das Schlüsselwort ἐξουσία explizit zu nennen, genau darauf. Die Schriftgelehrten sprechen Jesus 467
S. 96.
Zur Gegenüberstellung von Jerusalem und Galiläa in der Ouvertüre vgl. Kap. III.1.4.,
468 Auch am Beginn der Kontroverse über Reinheitsfragen wird betont, dass die Schriftge‑ lehrten aus Jerusalem kommen (ἐλθόντες ἀπὸ Ἱεροσολύμων, 7,1). 469 Ausführlich dazu vgl. Collins, Mk, 229 – 231; vgl. auch Pesch, Mk I, 213. 470 France, Mk, 170. 471 Bisher war der Sprachgebrauch innerhalb einer Perikope überwiegend einheitlich (πνεῦμα ἀκάθαρτον in 1,23.26.27; δαιμόνιον in 1,34.39); in der dritten Tripelepisode finden sich, aufgeteilt auf die beiden Hälften, beide Bezeichnungen (πνεῦμα ἀκάθαρτον in 3,11; δαι‑ μόνιον, in 3,15). Später verwendet Markus sie unmittelbar aufeinanderfolgend als Synonyme (vgl. 6,7.13; 7,25.26). 472 Vgl. 7,25; 9,17.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
ab, dass er seine Vollmacht, wie er selbst beansprucht, von Gott bekommen hat, sondern behaupten, die bösen Mächte der Geisterwelt stünden hinter seinem Erfolg als Exorzist. Die Hörerin weiß jedoch aus dem Prolog, dass Jesus nicht aus Besessenheit heraus agiert, sondern mit dem Heiligen Geist erfüllt ist (1,10). Er steht auf der Seite Gottes, er ist sogar ‚Gottes Sohn‘ (1,11) – das wissen auch die Dämonen (1,23; 3,11). 23 – 29 Auf die Zweiteilung der Rede in eine Zurückweisung der Anklage der Schriftgelehrten (V. 23 – 27) und eine indirekte Anklage gegen sie (V. 28 f.) wurde schon hingewiesen. Im Detail zeigen sich weitere markante Strukturen: Die eigentliche Rede beginnt nach einer Redeeinleitung des Erzählers (V. 23a) mit einer Frage, in der Jesus den Vorwurf der Schriftgelehrten aufgreift (V. 23b). In drei formal sehr ähnlichen Sätzen (V. 24 – 26) gibt Jesus selbst die Antwort. V. 27 nimmt das formale Schema der drei Antworten in umgekehrter Reihenfolge auf und beleuchtet das Thema nochmals aus einer leicht anderen Perspektive. Der indirekte Vorwurf der Gotteslästerung an die Schriftgelehrten (V. 28 f.), deutlich abgesetzt und hervorgehoben durch ‚amen, ich sage euch‘, ist in eine Ringkom‑ position gekleidet. 23a Jesus ruft die Schriftgelehrten zu sich (προσκαλεσάμενος αὐτούς). Das ist insofern erstaunlich, als Markus dieses Verb kurz zuvor (3,13) im Zusammen‑ hang der Berufung der Zwölf verwendete. Auch in der nächsten Episode wird καλεῖν (dort ohne Präfix) nochmals ohne die Konnotation „Berufung“ zu hören sein (3,31). Wie schon bei den inhaltlich etwas seltsam anmutenden Stichwortver‑ bindungen in 3,20 f. nehme ich auch hier an, dass eher eine formal-akustische als eine inhaltliche Anbindung an die einleitende Tripelepisode intendiert ist. Woher Jesus weiß, was die Schriftgelehrten über ihn sagen, und ob diese tatsächlich zu ihm kamen, berichtet Markus nicht; wie eingangs erwähnt, spielen äußerliche Gegebenheiten in dieser von Rede dominierten Perikope keine Rolle. Wesent‑ lich ist jedoch, dass Jesus zu ihnen spricht (ἔλεγεν αὐτοῖς, B+) – sein Wort ist gegen ihr Wort über ihn gerichtet. Er tut das ‚in Gleichnissen‘ (ἐν παραβολαῖς). Παραβολή ist hier zum ersten Mal zu hören, wenngleich Jesus auch bisher schon manches in bildhafter Sprache gesagt hat.473 Die folgende Rede enthält kurze bei‑ spielhafte Szenen, mit denen Jesus selbst seine Eingangsfrage, ‚wie der Satan den Satan austreiben könne‘ (πῶς δύναται σατανᾶς σατανᾶν ἐκβάλλειν, V. 23b), indi‑ rekt beantwortet.474 Wie in προσκαλεσάμενος die Tripelepisode nachklingt, so 473
Vgl. 2,17.19 f.21 f. Die Kennzeichnung dieser kurzen Vergleiche als παραβολαί ist ein nur Beispiel für die weite Anwendung dieser „Gattungsbezeichnung“ innerhalb der synoptischen Evangelien (vgl. Zimmermann, Gleichnisse Jesu, 19). Anders als Zimmermann und die anderen Herausgebenden des „Kompendiums der Gleichnisse Jesu“ ziehe ich das in deutschen Bibeln als Übersetzung für παραβολή übliche „Gleichnis“ (dieser Sprachgebrauch schlägt sich ja auch im Titel des Kompendiums nieder) der Bezeichnung „Parabel“ vor, wenngleich ich die Definition der Gat 474
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stimmt die Vokabel παραβολή samt den kurzen Gleichnissen als Vorausimitation auf die bald folgende Rede mit ausführlichen Gleichniserzählungen (4,1 – 34) ein. 23b Zur Eröffnung reagiert Jesus auf den zweiten Vorwurf der Schriftgelehr‑ ten und fragt danach, wie das denn gehen solle, Dämonen mit Dämonen auszu‑ treiben. Aus der Formulierung der Gegner nimmt er nur das Verb ἐκβάλλειν (d) auf. Die Vertretung der bösen Mächte hingegen ist in einer weiteren Variation zu hören; Jesus spricht – er bleibt in der ganzen Rede dabei – vom Satan (σατανᾶς, bvar), der im Markusevangelium zwar eindeutig die „finstere Seite“ repräsen‑ tiert, doch sonst nirgends im Zusammenhang mit Besessenheit und Exorzismus erwähnt wird. Wie vieles in diesen Versen ist auch er dem Publikum aus dem Prolog bekannt; er war es, der Jesus in der Einöde auf die Probe stellte (1,13). Nun scheint seine Erwähnung dazu zu dienen, mit dem Beelzebul, den Dämonen und den unreinen Geistern (V. 30) das Böse möglichst in seiner ganzen Breite darzustellen. Das Verb δύνασθαι (e) war an anderer Stelle, im Disput um die Sün‑ denvergebung, eng mit dem Begriff der Vollmacht verbunden (2,7.10). Der vor‑ liegende Kontext und die Häufung, in der es hier auftritt, legen nahe, dass auch hier die Konnotation ‚Vollmacht‘ beabsichtigt ist; die ‚Vollmacht‘ Jesu hat sich bisher im erfolgreichen Wunderwirken erwiesen (1,21 – 29a; 2,1 – 13a), zudem war vorhin (3,15) explizit von der ‚Vollmacht, Dämonen auszutreiben‘ die Rede. 24 f. Eine direkte Antwort auf die Frage ‚Wie kann‘ (πῶς δύναται) müsste lau‑ ten: ‚So, auf diese Art und Weise, geht das.‘ Jesus hingegen antwortet indirekt mit zwei Bildworten, um die Unmöglichkeit (οὐ δύναται bzw. δυνήσεται, eneg) dessen vor Augen zu führen, was ihm die Schriftgelehrten vorwerfen: ‚Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann jenes Reich nicht bestehen bleiben.‘ In fast iden‑ tischer Formulierung (καὶ ἐὰν XY ἐφ’ ἑαυτὴν μερίσθῇ [οὐ δύναται] σταθῆναι XY ἐκείνη, f) folgt die gleiche Aussage über das ‚Haus‘ (οἶκος, h), mit dem hier nicht wie in V. 20 das Gebäude, sondern die Hausgemeinschaft bezeichnet ist. Mit ‚(König‑)Reich‘ (βασιλεία, g) und ‚Haus‘ (οἶκος) sind der größte und der kleinste Sozialverband475 und damit Herrschaftsbereich der damaligen Zeit genannt – auf jeder Ebene führt interne Gegnerschaft zur Vernichtung des Ganzen. Die Kon struktion als generell zu verstehender Eventualis (ἐάν + Konjunktiv)476 verleiht den beiden Aussagen allgemeingültigen Charakter. 26 Auf die beiden „Gleichnisse“ folgt die Anwendung auf den vorliegenden Fall: Auch der Satan kann nicht in sich gespalten sein, ohne zugrunde zu gehen. Der Satz ist hinsichtlich der Form gut als Variation (fvar) der allgemeinen Aus‑ tung über ein Bündel bestimmter Merkmale sehr einleuchtend finde (vgl. a. a. O., 23.25 – 28). Die darüber hinaus von mir verwendeten Bezeichnungen „Bild“, „Bildwort“ etc. sind in diesem Zusammenhang nicht im Sinne von Untergattungen, sondern als Variationen zu „Gleichnis“ gemeint. 475 Vgl. Pesch, Mk I, 214; Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 240; Ruf, Zoff bei Beelzebuls, 280 f. 476 Vgl. Siebenthal, § 282d; Bornemann / Risch, § 279.
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sagen erkennbar. Vieles daraus wird wiederholt, aber hier in charakteristischer Weise bearbeitet: Übernommen werden die Satzstruktur Konditionalsatz – Haupt‑ satz, im Großen und Ganzen auch die Anordnung der Satzglieder sowie einige Vokabeln (μερίζειν, ἵστημι) und Ausdrücke (ἐφ’ ἑαυτόν, οὐ δύναται). Der Kon‑ ditionalsatz ist nun anderer, nämlich indefiniter Art (εἰ + Indikativ); hier geht es nicht um eine allgemeingültige Aussage, sondern um einen konkreten Fall: Wenn die Bedingung erfüllt ist, dann tritt unweigerlich auch die genannte Folge ein.477 Die Folge ist hier kurz und knapp gesagt: ‚Er kann nicht bestehen bleiben.‘ (οὐ δύναται στῆναι). Die Formulierung des ‚Gespaltenseins‘ aus V. 24 f. wird hinge‑ gen mit ‚sich gegen sich selbst erheben‘ (ἀνέστη ἐφ’ἑαυτόν) erweitert. Das passt einerseits besser zur Personifizierung des Bösen im Satan, in dem sich anders als im ‚Reich‘ und im ‚Haus‘ keine Bewohner in verschiedene Parteien spalten können, und fokussiert andererseits auf die Frage der Macht, die im Vorwurf der Schriftgelehrten thematisiert und von Jesus zu Beginn seiner Rede aufgenommen wird: Wer kann wen überwinden bzw. hinauswerfen? Mit den beiden Textsignalen σατανᾶς (bvar) und δύναται (e) schließt sich der Bogen zur eingangs gestellten Frage (V. 23b), die hier nun definitiv beantwortet wird. Spätestens hier wird klar, dass ‚wie‘ nicht die Frage nach der Art und Weise war, in der der Satan sich selbst austreiben kann, sondern von vorneherein eine grundsätzliche Infragestellung der Behauptung der Schriftgelehrten: Wie soll das überhaupt möglich sein? An diese in sich geschlossene Form – Inclusio V. 23b – 26b, Parallelismus V. 24 – 26 – ist ein kurzer Nachsatz mit ἀλλά angehängt, der dem ‚Er kann nicht bestehen bleiben‘ Nachdruck verleiht: ‚Er (der Satan) hat ein Ende.‘ (τέλος ἔχει, c). Auch die Beweisführung Jesu ist hier zu Ende: Niemand kann im Machtbe‑ reich der Dämonen stehen und unter diesem Einfluss Dämonen austreiben. Ihnen muss eine andere Macht entgegengesetzt werden: Die göttliche ‚Vollmacht‘ Jesu. Die Dämonen wissen, dass er nicht ihrem Machtbereich entstammt und dass er ihnen überlegen ist – er kann sie ‚hinauswerfen‘. Die Wirksamkeit der Voll‑ macht Jesu bringt die gewohnten Machtstrukturen aus den Fugen und verstört die Schriftgelehrten; die ‚Leute‘ aber erfahren durch sie die heilsame und befreiende Nähe des Reiches Gottes. 27 f. Eigentlich ist alles gesagt – und doch greift Jesus noch einmal den Faden des ‚Nicht-Könnens‘ auf und verstärkt ihn mit einer doppelten Verneinung (οὐ δύναται οὐδείς, eneg+). Die Satzverbindung mit der Adversativpartikel ἀλλά leuchtet nicht ganz ein – worin soll hier der „Gegensatz zum Vorangehenden“478 bestehen? Ein weiteres Mal liegt die Vermutung nahe, dass Markus die klangliche Anbindung wichtiger war als inhaltliche Stringenz. Ἀλλά war gerade zu Ende von V. 26 im Nachsatz zu hören; die Wiederholung zu Beginn des neuen Gedan‑ 477
Vgl. Siebenthal, § 281; Bornemann / Risch, § 278. Bauer s. v. ἀλλά.
478
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kens dient als Verstärkung der Brücke, die mit dem ‚Nicht-Können‘ geschlagen ist. Auch die Form des Konditionalsatzes wird aus dem vorigen Argumentati‑ onsgang übernommen, jetzt aber umgekehrt: Zuerst steht der Hauptsatz, dann der Nebensatz, der hier als Exzeptivkonditionalsatz die Ausnahme benennt, die die sonst allgemeingültige Aussage des Hauptsatzes außer Kraft setzt.479 Die doppelte Verneinung macht diesen zur unumstößlichen Wahrheit: ‚Gar niemand kann ins Haus des Starken hineinkommen, um dessen Sachen zu rauben.‘ Die mit ἐὰν μή eingeführte Ausnahme bedient sich des gleichen Wortschatzes wie der Hauptsatz – οἶκος, ἰσχυρός, διαρπάζειν (h, i, j) – und betont die zeitliche Abfolge: ‚außer wenn er zuerst den Starken fesselt und dann sein Haus ausraubt.‘ Wurde in V. 24 – 26 der Bezug des Bildes zum diskutierten Gegenstand explizit gemacht, muss das Publikum dieses ‚Gleichnis‘ selbst entschlüsseln. Im enge‑ ren Kontext bietet sich als Ansatzpunkt die Überwindung eines ‚Starken‘, einer Macht an: Der ‚Starke‘ lässt sich mit ‚Satan‘ identifizieren, der, der ihn überwin‑ det mit Jesus. Der wurde am Anfang des Evangeliums von Johannes dem Täu‑ fer als der ‚Stärkere‘ (ἰσχυρότερος, 1,7) bezeichnet.480 Natürlich ist nicht damit zu rechnen, dass sich jemand, der das Markusevangelium zum ersten Mal hört, daran noch erinnert; Hörern, denen der Text schon gut vertraut ist, mag es viel‑ leicht bei einer weiteren Lesung auffallen. Jedenfalls sei darauf verwiesen, dass Markus dieses Adjektiv nur an diesen beiden Stellen verwendet. Zur Deutung weiterer Bildelemente – insbesondere das ‚Binden‘ (δεῖν) des Starken und das ‚(Aus‑)Rauben‘ der ‚Sachen‘ bzw. des Hauses – bietet das Markusevangeliums selbst kaum Hinweise. Die in der Sekundärliteratur diskutierten Interpretationen beziehen sich auf andere Quellen. Vielfach wird, oft auch in Rückgriff auf alt‑ testamentliche Texte, auf zeitgenössisches jüdisches Schrifttum verwiesen, das eine eschatologische Hoffnung auf eine endgültige Gefangennahme des Bösen und auf die Befreiung seiner Gefangenen dokumentiert.481 Eine Einbettung des markinischen Wortes von der Bindung des Starken und der Ausraubung seines Hauses in diese Gedankenwelt gibt einen Eindruck von den vielfältigen Assozia‑ tionen, die es bei seiner Hörerschaft wecken könnte. Da die Bezüge primär allge‑ mein-traditionsgeschichtlicher und kaum konkret-literarischer Art sind, lässt sich nur festhalten, dass Markus diese Überwindung des Bösen482 und die Befreiung 479
Vgl. Siebenthal, § 286a. Vgl. unter vielen weiteren auch Collins, Mk, 233; van Iersel, Mk, 171; Pesch, Mk I, 220; Marcus, Mk I, 283. France hingegen sieht keinen Zusammenhang zu 1,7 (vgl. France, Mk, 172 f., Anm. 45). 481 Vgl. insbes. France, Mk, 173; Collins, Mk 233 f.; Pesch, Mk I, 215 f.; Merz, Jesus lernt, 290 f. Merz verweist zudem auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Sozialbandi‑ tentums, das zwar wegen seiner Gewaltanwendung ein problematischer Vergleichsgegenstand, aber deshalb als Bild für die harte Auseinandersetzung zwischen dem Exorzisten und dem Be‑ sessenen bzw. den Dämonen, wie sie auch Markus mehrfach beschreibt, angemessen sei (vgl. a. a. O., 289 f.292 f.). 482 France betont, dass es sich nicht um irgendeinen Dämon handelt, sondern Jesus „the ἰσχυρός himself“ bindet (France, Mk, 171). 480
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
seiner Gefangenen in Jesus gekommen sieht, die sich in einzelnen Exorzismen anschaulich realisiert. Ob mit der ‚Bindung des Starken‘, die ja ‚zuerst‘ stattfin‑ den soll, ein bestimmes Ereignis – genannt werden z. B. der erfolgreiche Wider‑ stand Jesu gegen die Versuchung durch den Satan in der Einöde oder auch Kreuz und Auferstehung Jesu483 – gemeint ist, muss offen bleiben, da der Text selbst keine Hinweise darauf gibt. 28 f. ‚Amen, ich sage euch‘ (ἀμὴν λέγω ὑμῖν, B++) leitet den Teil der Rede ein, in dem Jesus – gut verpackt in einen allgemeinen Lehrsatz – den Spieß umdreht: Nachdem er bisher seinen Anspruch, in von Gott verliehener Vollmacht zu han‑ deln, gegen die Anklage der Schriftgelehrten verteidigte, bezichtigt er nun sie, nicht auf Gottes Seite zu stehen. Zum ersten Mal verwendet Markus hier die Formel ἀμὴν λέγω ὑμῖν, die im weiteren Verlauf des Evangeliums noch oft zu hören sein wird – immer aus dem Munde Jesu. Das direkt aus dem Hebräischen übernommene ἀμήν ist eine „Anerkennung eines Wortes, das ‚feststeht‘“484 und hatte – und hat bis heute im jüdischen und christlichen Gottesdienst – Antwort‑ charakter. Es bestätigt ganz verschiedene Aussagen, hinter denen die Autorität Gottes steht, bzw. Bitten, Dank und Lob, die Menschen an Gott richten.485 Durch die Frontstellung und die Kombination mit λέγω ὑμῖν verleiht es nicht nur den folgenden Worten, sondern auch ihrem Sprecher Autorität; in einer weiteren Spielart offenbart sich hier der Anspruch Jesu auf göttliche Vollmacht. Deren Wirksamkeit hat sich in Heilungen und Exorzismen mittlerweile bestätigt; einen weiteren Beweis durch eine konkrete Dämonenaustreibung hält Markus an dieser Stelle offensichtlich nicht für nötig.486 Die Worte über Vergebung und Nicht-Vergebung sind in einer kunstvollen Ringkomposition angeordnet: Außen steht jeweils die ‚Vergebung der Sünden‘ (ἀφιέναι, ἁμάρτημα, k, l), in der Mitte dominiert die dreifache ‚Lästerung‘ (βλασ φημία / βλασφημεῖν), unterbrochen durch die Relativpartikel ὅσα bzw. ὅς mit ἐάν / ἄν (m – n – m – n – m). Grammatikalisch betrachtet handelt es sich um zwei Sätze, die im Zentrum der Ringkomposition zusammenlaufen und so einander spiegeln. Inhaltlich beschreiben sie zwei absolut gegensätzliche Aspekte der glei‑ chen Sache: zuerst die ausnahmslose Vergebung aller Sünden und damit aller Läs‑ terungen (V. 28), dann die eine Ausnahme: Lästerung gegen den Heiligen Geist wird nicht vergeben und führt zu ewiger Sünde (V. 29). ‚Alle Sünden werden den Menschenkindern vergeben werden‘ (πάντα ἀφεθήσεται τοῖς υἱοῖς τῶν ἀνθρώ‑ πων τὰ ἁμαρτήματα): Betont steht πάντα am Anfang, das zugehörige ἁμαρτήματα rahmt die Aussage ein. Das Tempus des Verbs weist in die Zukunft – ob alle noch geschehenden Sünden einbezogen werden sollen oder ob die Vergebung escha‑ 483
Vgl. Foerster, σατανᾶς, 159 f. Schlier, ἀμήν, 339. 485 Vgl. die alttestamentlichen Beispiele bei Schlier (a. a. O., 339). 486 Bei Mt hingegen geht Jesu Rede die Heilung eines besonders schweren Falles, eines blinden und stummen Besessenen, voraus, hinter der die Pharisäer dämonische Mächte vermu‑ ten (vgl. Mt 12,22 – 24). 484
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tologisch gedacht ist, macht letztlich nur einen kleinen Unterschied. Das Passiv erinnert an die Zusage der Sündenvergebung an den Gelähmten (ἀφίενται, 2,5); dort ließ der Kontext keinen Zweifel daran, dass Jesus nicht nur Gottes Sünden‑ vergebung vermittelt, sondern seinem Wort selbst die Kraft der Sündenvergebung eignet. Im Verweis auf das ‚vollmächtige‘ ἀμὴν λέγω ὑμῖν ist auch hier von der Wirkkraft des Wortes Jesu und nicht von einem von ihm unabhängigen Passivum divinum auszugehen.487 An einem Ausdruck in diesem Satz bleibt die Hörerin hängen: υἱοὶ τῶν ἀνθρώπων.488 Er begegnete bisher nur im Singular und war beide Male (2,10; 2,28) eindeutig als Selbstbezeichnung Jesu zu identifizieren – notabene auch in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten um die Voll‑ macht Jesu zur Sündenvergebung. Den Plural verwendet Markus nur hier. Der Kontext lässt kaum eine andere Deutung zu, als dass hier ein im Semitischen übli‑ cher Ausdruck für ‚Menschen im Allgemeinen‘ übernommen wurde.489 Interes‑ sant ist an dieser Stelle der Blick in die matthäischen und lukanischen Parallelen (Mt 12,32; Lk 12,10), die beide die Lästerung (z. T. in anderem Wortlaut) gegen den ‚Menschensohn‘ als vergebbar unterscheiden von der Lästerung gegen den Heiligen Geist, die wie bei Markus nicht zu vergeben ist. Markus, darin ist Lühr‑ mann490 recht zu geben, kennt die Unterscheidung zwischen Jesus als ‚Menschen‑ sohn‘ und als Träger des Heiligen Geistes nicht. Wie aufgrund dieses Befundes die Textgeschichte zu beurteilen ist, ist nicht Thema dieses Kommentares. Fest‑ zuhalten ist in Bezug auf die Komposition des Markusevangeliums die Irritation, die der Plural an einer Stelle hervorruft, wo durchaus ein ‚Menschensohn‘-Wort – allerdings eines in der ‚vollmächtigen‘ Art des Markus und nicht in der gerade erwähnten Art der beiden anderen Synoptiker – zu erwarten gewesen wäre. Der Satz über die Vergebung aller Sünden hat noch ein Anhängsel: ‚auch die Lästerungen, soviel sie auch lästern mögen.‘ (καὶ αἱ βλασφημίαι ὅσα ἐὰν βλασ φημήσωσιν). Gleich doppelt ist das Lästern zu hören; ὅσα ἐὰν ist sozusagen das Pendant zu πάντα am Anfang des Verses, das die umfassende Vergebung in Bezug auf diese besondere Art der Sünde hervorhebt. ‚Lästerung‘ (βλασφημία) ist im Neuen Testament wie schon in der Septuaginta491 immer ein Reden (oder auch Handeln), das gegen Gott gerichtet ist bzw. seine „Macht und Hoheit“492 antastet. Der hier zur Debatte stehende Vorwurf der Schriftgelehrten, Jesus stehe mit dem Beelzebul im Bunde, ist in seiner Intention vergleichbar mit ihrem Vorwurf der Blasphemie im Zusammenhang mit der Sündenvergebung Jesu (2,7). Hier setzt Jesus den Hebel an – und kehrt, wie schon gesagt, den Spieß um: Die Schriftge‑ 487
Gegen Pesch, Mk I, 217. In den meisten Schriften übersetzt die Septuaginta den Plural בני אדםbzw. בני האדםmit υἱοὶ (τῶν) ἀνθρώπων. Ausnahme ist Prediger, dort findet sich in exakter Übernahme der Numera stattdessen υἱοὶ τοῦ ἀνθρώπου. 489 Vgl. France, Mk, 176; Pesch, Mk I, 217; Collins, Mk, 234. 490 Vgl. Lührmann, Mk, 76. 491 Vgl. Beyer, βλασφημέω, βλασφημία, 620; Dormeyer, Blasphemie, 520. 492 Beyer, βλασφημέω, βλασφημία, 621; vgl. auch Dormeyer, Blasphemie, 520 f. 488
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
lehrten sind es, die Gott lästern, indem sie ihm, der mit Gott im Bunde steht, die göttliche Vollmacht absprechen und behaupten, er agiere in der Kraft des Bösen. Auch formal beginnt jetzt von der Mitte der Ringkomposition aus die Gegenbe‑ wegung: ‚Wer auch immer lästert‘ (ὃς δ’ἂν βλασφημήση) vervollständigt den dichten Kern des Lästerns, der auf das Entscheidende hinausläuft: ‚gegen den Heiligen Geist‘ (εἰς τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον). Das ist die Ausnahme in der sonst so umfassenden Vergebung der Sünden; wer das tut, ‚hat keine Vergebung in Ewig‑ keit, sondern ist ewiger Sünde schuldig‘. Am Ende der Ringkomposition ange‑ langt, sind wieder die beiden Begriffe ‚vergeben‘ (hier das Nomen ἄφεσις, k) und ‚Sünde‘ (ἁμάρτημα, l), hier entsprechend der einen Ausnahme im Singular, zu hören. Die Vergebung wird verneint; in οὐκ ἔχει (cneg) erklingt ein weiteres Mal ‚er hat‘. Das vielfach gebrauchte ἔχειν als formbildend und inhaltstragend zu ver‑ stehen, bedarf der Erklärung. Steht es in der großen Inclusio (V. 22b – 30) dafür, dass die Schriftgelehrten Jesus nachsagen, er ‚habe‘ einen unreinen Geist, kon‑ tert Jesus in seiner Argumentation damit, dass der Hauptvertreter dieser Spezies, der Satan, ‚ein Ende hat‘ (V. 23), und diejenigen, die verkennen, wessen Geistes Kind Jesus ist, mit ewigen (εἰς τὸν αἰῶνα, αἰωνίου, o), ‚endlosen‘ Konsequenzen rechnen müssen (V. 29). Auch dieses Spiel mit Haben und Nichthaben wird in der Gleichnisrede seine Fortsetzung finden.493 Wie gesagt – der Vorwurf der Blasphemie ergeht nicht offen gegen die Schrift‑ gelehrten, doch die Hinweise darauf sind so deutlich, dass daran kein Zweifel sein kann: Die Worte über Vergebung und Nichtvergebung sind direkt an sie gerichtet – ‚ich sage euch‘ – und dass Jesus Träger des Heiligen Geistes ist, wis‑ sen nicht nur die Dämonen, sondern nach der eindrücklichen Taufszene im Prolog (1,9 – 11) auch das Publikum des Markus. 30 Der Bogen um die Rede Jesu schließt sich; noch einmal kommen die Schriftge‑ lehrten zu Wort. Die Überleitung (ὅτι, C) zu dem, was sie ‚sagen‘ ist sehr holprig; es fehlt ein Hauptsatz, von dem dieses ὅτι abhängig wäre.494 Formal betrachtet erinnert es zusammen mit ἔλεγον (B) an das auch inhaltlich entsprechende Ein‑ gangsvotum der Schriftgelehrten (V. 22). Folglich lässt sich dieser Schluss so inter‑ pretieren, dass damit die Uneinsichtigkeit der Schriftgelehrten dargestellt wird – sie sagen nach der Rede Jesu immer noch das Gleiche wie vorher: ‚Er hat einen unrei‑ nen Geist.‘ (πνεῦμα ἀκάθαρτον ἔχει). Der springende Punkt scheint mir jedoch die Opposition zu dem zu sein, was Jesus direkt, eingeleitet mit ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι (B++ C), zuvor sagt: Mit πνεῦμα ἀκάθαρτον wird nach Beelzebul, den Dämonen und dem Satan der Hofstaat des bösen Reiches um eine weitere Spezies bereichert – ihm steht der eine, ungeteilte Heilige Geist (τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, bopp) gegenüber. Indem Markus hier mit πνεῦμα ἀκάθαρτον (bvar) das negative Pendant zu τὸ πνεῦμα 493 Am konzentriertesten ist ἔχειν in der Gleichnisrede (4,1 – 34; neunmal) und am Ende des zweiten Hauptteils (8,1 – 22a; zehnmal) zu hören (vgl. Kap. III.3.6., S. 278 f.; Kap. IV.4.2.3., S. 341 f.). 494 Grammatikalisch korrekt wäre ἔλεγον γὰρ ὅτι (vgl. V. 21).
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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τὸ ἅγιον verwendet, sorgt er dafür, dass auch Hörer, die bisher nicht verstanden haben, dass Jesus die Schriftgelehrten anklagt, dies nicht mehr überhören können. Nach den Berichten über den enormen Zuspruch der Leute wird hier ein weiteres Mal deutlich, dass Jesus mit seinem Erfolg als Exorzist nicht nur Bewunderung erntet. Doch in dieser Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten erweist er sich als ‚der Stärkere‘: Den Vorwurf, er treibe die Dämonen mit ihrem obersten aus, entkräftet Jesus im ersten Argumentationsgang (V. 24 – 26). Die Macht, die sich gegen sich selbst richtet, ist nicht mehr mächtig; mit dem Satan kann man also nicht (οὐ δύναται) den Satan austreiben. Die Kraft des Bösen wird dennoch nicht heruntergespielt: Es ist der ‚Starke‘, den es zu überwinden gilt – das gelingt nur dem ‚Stärkeren‘ (V. 27), dem, der in der Kraft des Heiligen Geistes agiert, dem Sohn Gottes, vor dem sich die Dämonen in Ehrfurcht niederwerfen (3,11). In die‑ sem ‚Menschensohn‘ ist die allumfassende Vergebung Gottes den ‚Menschenkin‑ dern‘ nahegekommen. Wer leugnet, dass in ihm der Heilige Geist am Werk ist, hat ‚auf ewig‘ keinen Zugang zu dieser Vergebung.495 Markus nutzt also diese stili‑ sierte Konfrontation Jesu mit den Schriftgelehrten zur Profilierung der Darstellung Jesu – oder anders ausgedrückt: Markus schreibt hier an seiner Christologie weiter. III.2.4.4. Draußen stehen, drinnen sitzen (3,31 – 35) Wie schon in der Vorbereitung zu dieser Erzählung zu Beginn der Sandwichkonstruktion (V. 20 f.) wird auch zu deren eigentlichem Beginn (V. 31) das Verb ἔρχεσθαι zum Teil im Singu‑ lar ἔρχεται, überwiegend aber im Plural ἔρχονται wiedergegeben; nur ℵ und W haben an beiden Stellen Singular. Nachdem auch hier zwei Subjekte – nun die Mutter und die Brüder Jesu – genannt werden und die Fassung mit ἔρχεται gut bezeugt ist und im Deutschen wiedergegeben werden kann, ist wie in V. 20 der hier auch grammatikalisch holprige Singular zu bevorzugen. Die Reihenfolge Brüder – Mutter ist vielfach bezeugt, aber grammatikalisch konsequent immer mit ἔρχονται verbunden und wird deshalb nicht in Betracht gezogen. Wie in der vorigen Peri‑ kope ist auch in V. 31 das Verb ἵστημι in Varianten, alle als Partizip Plural, überliefert. Die Bedeutungsunterschiede sind gering; wie in NA28 fällt die Wahl auf στήκοντες, die in den frü‑ hen Codices besser bezeugte der beiden Formen. Einen gravierenderen Einfluss auf Textgestalt und ‑gehalt hat die in V. 32 verlangte textkriti‑ sche Entscheidung: Heißt es ‚deine Brüder und deine Schwestern‘ oder fehlen letztere? Beides kommt in Frage, das dokumentiert auch die Einklammerung von καὶ αἱ ἀδελφαί σου in NA28. Sowohl für die Hinzufügung – die Schwester wird in V. 35 nochmals erwähnt und soll schon hier in Erscheinung treten – als auch für die sekundäre Weglassung – Angleichung an die Paral‑ lelstellen in Mt 12,47 und Lk 8,20 – können Argumente gefunden werden. Meine Entscheidung für die kürzere Lesart gründet in erster Linie auf deren etwas früherer und breiterer Bezeugung. Metzgers historisch begründete Bedenken gegen die Anwesenheit der Schwestern Jesu496 leuch‑ ten zwar ein, doch aufgrund der sonst oft zu beobachtenden markinischen Ungenauigkeit bei der Beschreibung konkreter Situationen ist fraglich, ob damit argumentiert werden kann. 495
Vgl. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 299 f.; Dormeyer, Blasphemie, 520 f. „From a historical point of view, it is extremely unlikely that Jesus’ sisters would have joined in publicly seeking to check him in his ministry.“ (Metzger, Textual Commentary, 70). 496
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
In V. 34 zieht die Mehrzahl der Textzeugen κύκλῳ zu περιβλεψάμενος – Jesus schaut nach dieser Lesart im Kreis herum, nach der in NA28 übernommenen schaut er herum auf die Leute, die im Kreis sitzen. Letzteres ist früher und qualitativ besser bezeugt497 und damit zu bevorzugen. In V. 35 bezeugt von den griechischen Manuskripten nur B die Auslassung von γάρ,498 sodass die Entscheidung für die Lesart mit der Partikel fällt.
Die vorliegende Perikope ist durch viele Wiederholungen und Variationen gekennzeichnet, mit denen sowohl Form generiert als auch durch das Spiel mit Gegenüberstellung und Identifikation das Thema „Wer gehört zu Jesus?“499 ver‑ tieft wird. Im Zentrum steht dabei die Wendung ἡ μήτηρ [. . .] καὶ οἱ ἀδελφοί [. . .] (aopp1 aopp2), die je nach Perspektive – des Erzählers, der Leute oder Jesu – durch αὐτοῦ, σου oder μου als Mutter und Geschwister Jesu kenntlich gemacht werden. Die Episode ist in vier kurze, ähnliche Abschnitte gegliedert, in der jeweils Jesu ‚Mutter und Geschwister‘ vorkommen, im letzten in leichter Variation sogar ein zweites Mal. Je zwei Abschnitte gehören zusammen und weisen zueinander par‑ allele Strukturen auf (V. 31 || V. 32 aopp1 – aopp2 – p und V. 33 || V. 34 B – aopp1 – aopp2), wobei V. 34 so um V. 35 erweitert wird, dass eine Ringkomposition entsteht.
31
33
ἡ μήτηρ [. . .] καὶ οἱ ἀδελφοί [. . .] ἔξω στήκοντες (p)
λέγει (B) ἡ μήτηρ [. . .] καὶ οἱ ἀδελφοί [. . .]
34 f.
32 opp
ἐκάθητο περὶ αὐτόν (p ) ἰδού (q) ἡ μήτηρ [. . .] καὶ οἱ ἀδελφοί [. . .] ἔξω (p–)
περὶ αὐτὸν [. . .] καθημένους (popp) λέγει (B) ἴδε (q) ἡ μήτηρ [. . .] καὶ οἱ ἀδελφοί [. . .]
Im ersten und im zweiten Abschnitt wird die Ausgangssituation zuerst erzäh‑ lend (V. 31), dann nochmals aus Sicht der Leute (V. 32) dargestellt: Mutter und Geschwister Jesu stehen ‚draußen‘ (ἔξω, p) und suchen ihn. Im dritten und vierten (V. 33 – 35) spricht Jesus, wobei durch eine erneute Redeeinleitung (λέγει, B) V. 34 f. deutlich von V. 33 abgesetzt ist. Der zweite und der vierte Abschnitt werden in besonderer Weise miteinander verbunden, indem in der Redeeinleitung jeweils die um Jesus Sitzenden erwähnt werden (καθῆσθαι, περὶ αὐτόν, popp) und die mündliche Rede beide Male mit einem ἰδού bzw. ἴδε (q) beginnt – die beiden Abschnitte V. 31 f. und 33 – 35 lassen sich also ebenfalls als Parallelismus verstehen (V. 31 f. || V. 33 – 35). So kompliziert wie sich diese Formbeschreibung liest, so raffiniert wird diese Verschachtelung von Paralle‑ 497
Vgl. Swanson, Manuscripts, 48. W ersetzt es durch καί vor ὅς; vgl. a. a. O., 48. 499 Vgl. Kap. III.2.3.2., S. 168 f.; Kap. III.2.4.1., S. 212 f. 498
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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lismen und Oppositionen genutzt, um die „Familienverhältnisse Jesu“ darzu‑ stellen. 31 Der Faden von V. 20 f. wird wieder aufgenommen: Dort kam Jesus in ein Haus, nun kommt ‚seine Mutter, – und seine Geschwister‘. Von hier aus, insbe‑ sondere aus der Fortsetzung des Verses, wird deutlich, dass sie ‚die Seinen‘ sind (V. 21), die ausgezogen sind, ihn zu ergreifen. Vom Ergreifen ist nun nicht mehr die Rede – vielmehr ist ihre Reise vor dem Haus zu Ende: Sie, ‚seine‘ (αὐτοῦ) Verwandten, bleiben ‚draußen stehen‘ (ἔξω στήκοντες, p); in Erinnerung an das offensichtlich überfüllte Haus (V. 20) kann man sich leicht vorstellen, dass sie wegen der Menschenmenge nicht zu Jesus gelangen. Sie versuchen, ‚zu ihm‘ (πρὸς αὐτόν) Kontakt aufzunehmen; insgesamt viermal ist in diesen kurzen Zei‑ len das Personalpronomen αὐτός zu hören, das immer auf Jesus bezogen ist. Auch in dieser Perikope wird Jesus nicht namentlich erwähnt. Noch einmal nach 3,23 erklingt καλεῖν in einem Zusammenhang, der nichts mit Berufung zu tun hat, die‑ ses Mal ist zudem nicht Jesus, sondern sind andere Subjekt. Auch beim Verb ἀπο‑ στέλλειν stimmt die Zuordnung von Subjekt und Objekt nicht – zumindest, wenn man von der Berufung der Zwölf her denkt (3,13 f.), bei der Jesus Menschen ‚zu sich rief‘ (προσκαλεῖται), dass sie ‚mit ihm‘ (μετ’αὐτοῦ) seien und dass ‚er sie aussende‘ (ἀποστέλλῃ αὐτούς). Jesu Verwandtschaft lässt ‚zu ihm senden‘ und ‚ihn rufen‘. Hellhörige Ohren mag der Verdacht beschleichen, dass mit diesen ‚Seinen‘ etwas faul ist. 32 Nun wird die Szene im Haus beschrieben: ‚Leute sitzen um ihn herum‘ (ἐκάθητο περὶ αὐτὸν ὄχλος). Ohne Ausdrücke wie ‚im Haus‘ oder ‚drinnen‘ zu verwenden, wird dennoch ein Gegensatz zwischen Jesu Verwandtschaft vor dem Haus und den Leuten im Haus aufgemacht: Die einen ‚stehen draußen‘ (ἔξω στή‑ κοντες, p), die anderen ‚sitzen um ihn herum‘ (ἐκάθητο περὶ αὐτὸν, popp). Diese hier zunächst räumlich konzipierte Unterscheidung von ἔξω und περὶ αὐτόν wird in der folgenden Gleichnisrede zur Gegenüberstellung von In- und Outsidern (οἱ περὶ αὐτόν, ἐκεῖνοι οἱ ἔξω, 4,10 f.) in Bezug auf das Reich Gottes auf provo‑ kante Weise wieder aufgegriffen.500 Es lässt sich nur schwer sagen, ob ὄχλος, das sonst fast immer den Artikel mit sich führt,501 ohne diesen eine andere Bedeutung hat;502 der Kontext legt nahe, dass hier nicht die große Anzahl oder ‚die Leute‘ als Gesamtheit im Vordergrund stehen, sondern die Tatsache, dass es irgendwelche Menschen sind. Man würde eher erwarten, dass es die Jünger Jesu sind, die den inneren Kreis ‚um ihn‘ bilden. 500
Vgl. Kap. III.3.4., S. 264 f. Ohne Artikel findet sich ὄχλος in der Bedeutung von ‚Leute‘ / ‚Volk‘ im Markusevange‑ lium nur noch in der Vorbereitung dieser Szene in V. 20 und in 9,25; darüber hinaus ist ὄχλος an zwei besonderen Stellen artikellos: Zum einen an der einzigen Stelle, in der ὄχλος etwas anderes bedeutet – eine bewaffnete Schar (ὄχλος μετὰ μαχαιρῶν καὶ ξύλων, 14,43), mit der Judas beim Verrat auftaucht –, und zum anderen bei ὄχλοι in 10,1, das einzige Mal, wo Markus den Plural von ὄχλος verwendet. 502 Weder bei Bauer noch bei LSJ finden sich s. v. ὄχλος darauf Hinweise. 501
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Abb. 17: Mk 3,31 – 35
Die Leute sprechen zu Jesus (λέγουσιν αὐτῷ, B+);503 Subjekt und Objekt kön‑ nen aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Λέγειν steht nun durchgängig im Präsens; als historisches Präsens verstanden verleiht es der Szene mehr Ver‑ ankerung in der erzählten Wirklichkeit als das Imperfekt, das in V. 20 – 30 domi‑ nierte. Die mündliche Rede beginnt mit ἰδού (q), das hier zunächst einmal die Wichtigkeit des im Folgenden Gesagten unterstreicht.504 Die Leute wiederholen in einer Variation das, was schon vom Erzähler zu hören war: Die Mutter und die Geschwister Jesu sind ‚draußen‘ (ἔξω) und ‚sie suchen dich‘ (ζητοῦσίν σε). 33 Wie schon so oft ‚antwortet‘ (ἀποκριθείς) Jesus auf eine Frage, eine Behauptung oder eine Feststellung nicht direkt – hier etwa könnte er die Ver‑ wandtschaft hereinrufen lassen oder sagen, er wolle mit ihr nichts zu tun haben –, 503 France weist zudem darauf hin, dass im Markusevangelium das direkt zu ὄχλος gehö‑ rige Verb zwar immer im Singular steht, in Folgesätzen aber immer im Plural (vgl. France, Mk, 179). 504 Vgl. Siebenthal, § 252,63.
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
233
3:31
Und es kam seine Mutter – und seine Geschwister. Und sie standen draußen und sandten zu ihm, um ihn zu rufen.
3:32
Und es saßen um ihn herum Leute. Und sie sagten zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Geschwister draußen suchen dich.
3:33
Und er antwortete ihnen und sagte: Wer ist meine Mutter und meine Geschwister?
3:34
Und er blickte die um ihn herum im Kreis Sitzenden der Reihe nach an und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Geschwister!
3:35
Wer auch immer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter. Übersetzung zu Abb. 17
sondern stellt eine Frage, die er dann selbst in Tat oder Wort beantwortet:505 ‚Wer ist‘ (τίς ἐστιν) ‚meine Mutter – und meine Geschwister?‘ Wie schon ἔρχεται in V. 31 bezieht sich das Verb grammatikalisch, da im Singular, nur auf die Mutter, meint natürlich aber die Geschwister mit. Ein drittes Mal erklingt die Formel ‚Mutter und Geschwister‘. Nun fehlt aber der Hinweis darauf, dass diese ‚drau‑ ßen‘ (ἔξω) sind. Immer noch ist vorstellbar, dass Jesus seine Frage beantwortet, indem er deren Namen und Herkunft nennt (vgl. 6,3).506 Doch ohne ἔξω eröffnet sich eine andere Möglichkeit: die der Neudefinition dieser Verwandtschaftsbe‑ zeichnungen. 34 f. Eine weitere, ausführliche Redeeinleitung setzt das Kommende von der gerade gestellten Frage ab und bereitet die Antwort Jesu auf der szenischen Ebene vor: Sein Blick richtet sich auf diejenigen, die ‚um ihn herum sitzen‘. Bei der 505
Beispiele für solche Fragen Jesu sind 2,8 f.19a; 3,4.23; Jesus antwortete darauf mit Taten in 2,10 – 12 und 3,5, mit Worten in 2,19b und 3,24 – 26. 506 Anders Lührmann, Mk, 77.
234
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Wiederholung dieses schon in V. 32 zu hörenden Ausdrucks verstärkt der Zusatz ‚im Kreis‘ (κύκλῳ) das Bild eines inneren Zirkels, aus dem ‚die draußen‘ aus‑ geschlossen sind. Jesus beginnt mit der Partikel ἴδε (q), die hier nicht nur Auf‑ merksamkeit erheischt, sondern im sonst verblosen Satz zum Prädikat wird:507 ‚Das hier sind meine Mutter und meine Geschwister!‘. Im mündlichen Vortrag ist es auch im Deutschen gut möglich, beim ‚siehe‘ zu bleiben und mit einer Geste den Blick Jesu in die Runde (περιβλεψάμενος, qvar) darzustellen. Die Wiederauf‑ nahme von ἰδού (V. 32) mit dem nahverwandten ἴδε dient dazu, die Aussage der Leute über ‚deine Mutter und deine Geschwister‘ der Aussage Jesu über ‚meine Mutter und meine Geschwister‘ gegenüberzustellen. Damit könnte eigentlich die Episode enden: Auf der formalen Ebene wäre ein vollendeter Parallelismus erreicht, inhaltlich hätte der markinische Jesus neu diejenigen zu seiner Familie erklärt, die um ihn sind. An dieser Neudefinition ver‑ wundert – insbesondere kurz nach der Berufung der ausgewählten Zwölf dazu, ‚dass sie mit ihm seien‘ (3,14) –, dass irgendwelche ‚Leute‘ von Jesus in diesen Rang erhoben werden. Schon Matthäus hat dies „korrigiert“, indem er die Jünger zu Mutter und Geschwistern Jesu macht (Mt 12,49). Ähnliche Tendenzen las‑ sen sich auch in manchen Markus-Kommentaren beobachten.508 Die Definition irgendwelcher Leute, die, so ist aus 3,21 zu schließen, von sich aus zu Jesus kommen und nun ‚um ihn‘ sind, als Familie Jesu ist jedoch ernst zu nehmen. Sie ein wichtiges Element des zweiten großen Themas des Markusevangeliums: Wer gehört zu Jesus? Waren die Jünger Jesu in 2,15 – 17 mitten unter den ‚Zöllnern und Sündern‘ und von diesen nicht eindeutig zu unterscheiden und war die Beru‑ fung des exklusiven Kreises der Zwölf in der dritten Tripelepisode eingebunden in den Zustrom der Massen zu Jesus, sind es hier nun irgendwelche Leute, die den ‚inneren Kreis‘ um Jesus ausmachen. Auch von ‚den Leuten‘ lassen sich ‚die Jünger‘ nicht ohne weiteres unterscheiden. Jesu Definition ist jedoch noch nicht beendet. Markus fügt an die Parallelismen einen Anhang an, mit dem die Aussage Jesu zur Ringkomposition (aopp – aopp2 – n – aopp2.var – aopp1–) wird. Im Zentrum steht ‚wer auch immer den Willen Gottes tut‘ (ὃς γὰρ ἂν ποιήσῃ τὸ θήλημα τοῦ θεοῦ). Diese Klausel weitet zum einen durch ὁς γὰρ ἂν (n) die neue Familie Jesu weit über den engen Kreis der in dieser Szene um Jesus herum Sitzenden aus; zum anderen benennt sie mit ποι‑ εῖν τὸ θήλημα τοῦ θεοῦ auch eine Bedingung. Markus führt nirgends explizit aus, was unter dem ‚Willen Gottes‘ zu verstehen sei. Am nächsten kommt Jesu Gebet in Getsemani: ‚Nicht was ich, sondern was Du willst, geschehe!‘ (οὐ τί ἐγὼ θέλω ἀλλὰ τί σύ, 14,36). Will Gott, dass man sein eigenes Kreuz auf sich nimmt (8,34)? Wer das ganze Evangelium schon gehört hat, erinnert sich vielleicht auch 507
Vgl. Siebenthal, § 252,63. Vgl. Collins, Mk, 237; Pesch, Mk I, 225, und insbesondere Gnilka, der den „von Mar‑ kus – leider! – verwischte[n] Kontrast zwischen Jüngerschaft und Verwandtschaft“ bedauert (Gnilka, Mk I, 152). 508
III.2. Erster Hauptteil Galiläa I (1,16 – 3,35)
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an das Doppelgebot der Liebe (12,30 f.) – Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Auch die einzige Stelle, an der Gott selbst zu Menschen spricht, mag einem hier durch den Kopf gehen. Bei der Verklärung Jesu auf dem Berg spricht eine ‚Stimme aus der Wolke‘ zu Petrus und den Zebedaiden: ‚Das ist mein gelieb‑ ter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören!‘ (9,7). Doch auch schon in den ersten drei Kapiteln gab es etliche Hinweise darauf, was gemeint sein könnte: Mit ποιεῖν erklingt erneut ein Motiv, das in den Ausei‑ nandersetzungen Jesu mit den Pharisäern um die rechte Auslegung des Sabbat‑ gebotes führend war: Es geht darum, ‚Gutes zu tun‘, das zu tun, was den Men‑ schen dient und ihr Leben rettet (vgl. 3,4). Das entspricht dem zweiten Teil des Doppelgebotes. Zudem wird in der Szene selbst eine weitere Spur gelegt: Zu Jesus kommen, bei ihm, mit ihm sein – das ‚tun‘ die, die Jesus als seine Familie definiert. Auch das scheint der Wille Gottes zu sein; es liegt auf der Linie des göttlichen ‚Auf ihn sollt ihr hören!‘ vom Berg der Verklärung. Lässt sich das ‚mit Jesus Sein‘ auch als ‚Gott lieben‘, also als erster Teil des Doppelgebotes verstehen? Ohne leichtfertig den markinischen Jesus mit Gott zu identifizieren, meine ich doch, dass die unbeschreibliche Gottesnähe Jesu, die im ‚vollmäch‑ tigen Menschensohn‘, im κύριος, im Gottessohn anklingt, diese Assoziation zumindest erlaubt. Auf dieser Linie liegt auch die programmatische Ansage Jesu zu Ende des Prologs. Sie beginnt mit dem Zuspruch, dass jetzt, im Auftreten Jesu, das Reich Gottes den Menschen nahegekommen ist (1,15). Damit ist der Aufruf verbunden, umzukehren und an das Evangelium zu glauben. Da Zuspruch und Aufruf als ‚Evangelium Gottes‘ bezeichnet werden (1,14), lässt sich Letzterer als Wille Gottes verstehen: Umkehren, auf den hören, in dem das Reich Gottes nahegekommen ist, ihm nachfolgen. Durch die Öffnung des Kreises wird die Botschaft Jesu an die Leute im Haus zur Botschaft an das Publikum des Markus: Wer auch immer von euch den Wil‑ len Gottes tut, gehört zur Familie Jesu. Das ist Einladung und Auftrag zugleich. Die Perikope über die Frage nach der Familie Jesu führt mit denen, die ‚drau‑ ßen stehen‘, und denen, die ‚im Kreis um Jesus herumsitzen‘, die Zugehörig‑ keit zu Jesus bildlich vor Augen. Denen draußen spricht Jesus implizit ab, seine Familie zu sein, indem er die um ihn Sitzenden zu ‚seiner Mutter und seinen Geschwistern‘ macht. Doch der enge Kreis weitet sich – jeder, der den Willen Gottes tut, gehört dazu. Das gilt auch für die leibliche Verwandtschaft. Doch sie, man erinnere sich, hält Jesus für verrückt (3,21); damit schließt sie sich selbst aus. Die Episode endet mit dem Standbild des Kreises um Jesus; was mit denen draußen geschieht, erfährt die Hörerin nicht.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
III.2.4.5. Zusammenfassung der Exegese zu 3,7 – 35 Anders als bei den ersten beiden Erzählbögen des ersten Hauptteiles ist hier die Tripelepisode keine kurze Berufungsszene am See zum Auftakt, sondern bean‑ sprucht die Hälfte der Erzählzeit. Sie nimmt auch ganz wörtlich verstanden mehr Raum ein durch die Ausweitung der Szenerie vom See auf den Berg und durch die Aufzählung der verschiedenen Gegenden, aus denen die Leute zu Jesus strömen. Der Höhepunkt der Ausbreitung der Kunde Jesu ist erreicht; in alle Himmelsrich‑ tungen ist sie über Galiläa hinaus gedrungen. Die Berufung Einzelner, namentlich Genannter findet ihren Abschluss in der Berufung und Aussendung der Zwölf auf dem Berg. Inhaltlich ist diese Berufungsgeschichte stärker als die beiden ersten mit dem Folgenden verbunden; schon hier wird die Hörerin mit den Themen der anschließenden Sandwichkonstruktion konfrontiert: Wer ist Jesus? bzw. Auf wel‑ che Seite gehört er? und: Wer gehört zu Jesus? bzw. Wann gehört jemand zu Jesus? Die Leute nehmen Jesus als den Wundertäter wahr und fragen sich nicht, woher er die Kraft zu Heilungen und Exorzismen bezieht (3,10). Die Dämo‑ nen hingegen wissen, dass er nicht zu ihnen, sondern zur Gegenseite gehört und dass er stärker als sie ist: ‚Du bist der Sohn Gottes!‘ (3,11). Die Auseinanderset‑ zung mit den Schriftgelehrten (3,22 – 30) bekräftigt, dass Jesus seine Macht nicht einem Bund mit den unreinen Geistern verdankt, sondern aus dem Heiligen Geist heraus handelt, also auf der Seite Gottes steht. In der Tripelepisode werden zwar die von Jesus ausgewählten, bevollmächtig‑ ten und beauftragten ‚Zwölf‘ aus den ‚Massen von Menschen‘ herausgehoben, doch werden Letztere nicht disqualifiziert – auch sie folgen Jesus nach (3,7). In der Szene im Haus (3,31 – 35) wird eine weitere Variation des Themas durchge‑ spielt und der Gegensatz verschärft: Die einen ‚stehen draußen‘ und bemühen sich vergeblich um Kontakt zu Jesus, die anderen sind drinnen und ‚sitzen um ihn herum‘. Überraschenderweise bilden nicht die Jünger, sondern irgendwelche Leute den inneren Kreis um Jesus. Dieser lädt auch alle ein: Wer den Willen Got‑ tes tut, ist willkommen und gehört dazu. Damit sind aber diejenigen ausgeschlos‑ sen, die den Willen Gottes nicht tun. Auffällig ist, wie ähnlich die beiden in der Sandwichkonstruktion miteinan‑ der verschränkten Episoden – die Frage nach dem ‚Geist‘, aus dem heraus Jesus handelt, und die Frage, wer zur Familie Jesu zählt – enden: Beide Male ist eine Ringkomposition zu hören, in deren Zentrum jeweils ein verallgemeinernder Relativsatz mit ὃς ἄν steht. Die beiden genannten Verhaltensweisen und die dar‑ aus resultierenden Konsequenzen könnten unterschiedlicher nicht sein: Wer den Heiligen Geist lästert, wer nicht erkennt, dass Jesus mit Gott im Bunde steht, der ist auf ewig durch seine Sünden von Gott getrennt. Wer hingegen den Willen Got‑ tes tut, der gehört zu Jesus. Zu Gott gehören und zu Jesus gehören lässt sich nicht trennen, weil Jesus zu Gott gehört. So entlarven die beiden Episoden diejenigen als Gegner Gottes, die Jesus für verrückt halten (3,21) oder ihm sogar unterstel‑ len, mit dem ‚obersten der Dämonen‘ im Bunde zu stehen (3,22.30). Wer sich
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
237
aber zu Jesus hält, wer auf ihn hört, der gehört zu seiner Familie – oder anders gesagt: Der hat Anteil am Reich Gottes. Neben dem Hauptthema der Identität Jesu, das von der ersten Zeile des Evan‑ geliums an behandelt wird, ist nun auch das zweite große Thema eingeführt, mit dem das Publikum erst recht in die Geschichte einbezogen wird: Was heißt es, diesem Jesus nachzufolgen? Wer ist drinnen (περὶ αὐτόν), wer ist draußen (ἔξω)? Das sind die Fäden, an denen in der Gleichnisrede weitergesponnen wird.
III.3. Das erste Zwischenspiel: Die Gleichnisrede vom Boot aus zum Land hin (4,1 – 36a) III.3.1. Die Struktur der Gleichnisrede Die Gleichnisrede steht zwischen den beiden Hauptteilen, die in Galiläa spielen. Formative und motivische Wiederholungen machen sie zu einem eigenständigen Abschnitt, der, unterstützt durch Stichwortverbindungen, an das Vorhergehende anschließt und zum nächsten „Akt“ 4,35 – 8,21 überleitet. Die Einflechtung in diesen größeren Textzusammenhang werde ich in der Einzelexegese anhand der konkreten Textsignale darlegen. Hier soll zunächst die innere Struktur der Gleich‑ nisrede skizziert werden.509 V. 1 f. und V. 33 – 36a sind durch die Elemente A, B, C und D als formaler Rah‑ men für die Rede erkennbar, in dem diese zugleich wichtige inhaltliche Marker setzen: Jesus lehrt (διδάσκειν, λαλεῖν τὸν λόγον, A, Avar) die Leute, er tut dies in Gleichnissen (παραβολαί, B). Das in V. 1 gesetzte Setting mit Jesus im Boot (εἰς πλοῖον ἐμβάντα, D) und den Leuten (ὄχλος, C) am Ufer wird in V. 36a wieder aufgenommen. Wie schon an anderer Stelle510 liegt hier eine Phrasenverschrän‑ kung vor, die die Gleichnisrede nahtlos mit der Erzählung von der Stillung des Sturmes verbindet. In diesen vom Erzähler gesetzten Rahmen ist die eigentliche Rede Jesu eingebettet, in der die vier Abschnitte über das Säen (σπείρειν, c) den meisten Raum einnehmen: Die Rede beginnt mit dem Gleichnis vom Sämann (V. 3 – 9) und dessen Auslegung (V. 14 – 20). Gleichnis und Auslegung umschlie‑ ßen ein kurzes, aber inhaltlich wichtiges Intermezzo: eine Unterredung Jesu mit den Jüngern über das Verstehen des Geheimnisses des Reiches Gottes (V. 10 – 13). Die Rede endet mit den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Gleichnissen von der von selbst wachsenden Saat (V. 26 – 29) und vom Senfkorn (V. 30 – 32). Im Zentrum der Rede stehen zwei kurze Sequenzen über das Offenbare und Ver‑ 509 Die einzelnen Einheiten sind deutlich erkennbar, sodass über diese Struktur in der neutes‑ tamentlichen Exegese weitgehend Einigkeit besteht. Unterschiedlich beurteilt wird praktisch nur (Ausnahme ist van Iersel, der den gesamten Abschnitt erst mit 4,2 beginnen lässt), ob V. 13 zum Intermezzo über das Verstehen (vgl. van Iersel, Mk, 178; Lührmann, Mk, 85) oder schon zur Auslegung des Gleichnisses gehört (vgl. Pesch, Mk I, 241; Collins, Mk, 250; France, Mk, 202). 510 Vgl. 1,29a; 2,13a. Zu Phrasenverschränkung vgl. Kap. II., S. 60.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
borgene (V. 21 – 23) und über das Maß, das Haben und Nichthaben (V. 24 – 25). So ergibt sich ein konzentrischer Aufbau: A
1 f. Einleitende Bemerkungen des Erzählers
3 – 9 Sämann-Gleichnis B C 10 – 13 Über das Verstehen des Geheimnisses des Reiches Gottes 14 – 20 Auslegung des Sämann-Gleichnisses B D D B B A
21 – 23 Über das Offenbare und Verborgene 24 – 25 Über das Maß, das Haben und Nichthaben
26 – 29 Gleichnis von der selbst wachsenden Saat 30 – 32 Gleichnis vom Senfkorn
33f.[35.36a] Abschließende Bemerkungen des Erzählers
Das Stichwort παραβολή (B), das den erzählerischen Rahmen mitprägt, ist auch in der Rede selbst prominent vertreten; von den dreizehn Malen, die Markus die‑ ses Wort verwendet, finden sich acht in 4,1 – 34. Innerhalb der Rede fällt die Häu‑ fung von παραβολή (viermal) im Intermezzo V. 10 – 13 auf. Der andere formbil‑ dende Ausdruck des Rahmens, das Lehren Jesu (A), kommt so nur dort vor. Doch ὁ λόγος (vgl. λαλεῖν τὸν λόγον in V. 33.34) trägt dieses Thema in die Rede hinein, genauer gesagt in die Auslegung des ersten Gleichnisses: Nicht weniger als acht‑ mal ist in diesen sieben Versen ὁ λόγος (Avar–) zu hören. Das Hören (ἀκούειν, E) und, etwas weniger prominent, das Sehen (ὡρᾶν / βλέπειν, F) spielen eine wich‑ tige Rolle sowohl in formativer als auch in motivischer Hinsicht:511 Sie stehen mehrfach wiederholt sowohl im Zentrum des Intermezzos V. 10 – 12 als auch im Zentrum der ganzen Rede (V. 23 f.). Im Intermezzo sind diese Wahrnehmungs‑ weisen mit dem Verstehen (G, V. 12 f.) gekoppelt, das drei verschiedene Lemmata (συνιέναι, εἰδέναι, γινώσκειν) in seiner Breite repräsentieren. Ἀκούειν – in V. 3 nochmals im Verbund mit dem Sehen – prägt auch sonst weite Teile der Rede: Es bildet eine Inclusio (V. 3 – 9) um das erste Gleichnis und erklingt in dessen Auslegung viermal zusammen mit ὁ λόγος. Schließlich ist es auch in den unteren Rahmen eingewoben (V. 33). Auffällig häufig, neunmal, kommt auch ‚die Erde‘ (ἡ γῆ, b) vor: In V. 2 stehen die Zuhörer Jesu ἐπὶ τῆς γῆς, und in allen drei Gleich‑ nissen wird ‚auf die Erde‘ gesät (εἰς / ἐπὶ τὴν γῆν, V. 8.20; ἐπὶ τῆς γῆς, V. 26.31) und sie noch weitere Male erwähnt. Die ‚Erde‘ passt in den Rahmen des Wortfel‑ des ‚Ackerbau‘, das hier auch durch andere Lemmata gut vertreten ist: Die Eck‑ punkte bilden der Samen bzw. das Säen (dreizehn Mal σπείρειν / σπόρος, c; dazu κόκκος, V. 31) und die Frucht bzw. das Fruchttragen (sechs Mal καρπός / ἄκαρ‑ πος, καρποφορεῖν, g); alle Stadien dazwischen vom Aufgehen der Saat über das Wachsen von Halmen, Ähren bis hin zum ‚vollen Korn‘ (V. 28) oder über die Ausbildung von ‚Zweigen‘ bis hin zur großen Pflanze spiegeln sich in einem 511 Lührmann spricht vom „Leitmotiv“ des Hörens in der Gleichnisrede (vgl. Lührmann, Mk, 81).
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
239
variantenreichen Wortschatz wider. Nicht zuletzt sei noch das ‚Reich Gottes‘ (βασιλεία τοῦ θεοῦ, i) genannt. Es hat einen prominenten Platz im Intermezzo V. 10 – 12 und steht jeweils zu Beginn des zweiten und dritten Saat-Gleichnisses. So klar die Gestalt der Gleichnisrede zu erkennen ist, so undurchsichtig bleibt diese in Bezug auf das narrative Setting: Der Erzähler bereitet die Szene vor; er platziert Jesus in einem Boot auf dem See und die Leute, die ihm zuhören, am Ufer. Das Ende (V. 33 f.) suggeriert, dass dieses Setting für die ganze Rede gilt, was durch die Bemerkung ‚sie nahmen ihn mit, wie er im Boot war‘ (4,36) bestätigt wird. Doch in V. 10 vollzieht sich ein Szenenwechsel: ‚Als er alleine war, fragten ihn die um ihn‘. Wie und wo genau soll man sich das vorstellen? Und: Wann geht die Rede vom Boot aus weiter? Auf diese Fragen gibt der Text keine Antwort. Natürlich kann darüber spekuliert werden, wo Jesus und ein kleinerer Kreis sich κατὰ μόνας unter‑ halten haben. Die nächstliegende Variante wäre, dass einige Leute mit Jesus im Boot waren;512 doch so recht will die genannte Einleitung in V. 10 nicht dazu passen. Wie schon öfters zu sehen war,513 scheinen manche erzählerischen Details Markus ganz einfach nicht zu interessieren. Es gilt jedoch ernsthaft zu überlegen, ab wann Jesus – nach den eindeutig nur an den kleinen Kreis gerichteten V. 11 – 20 – wieder öffent‑ lich spricht. In Frage kommen dafür sinnvollerweise V. 21 oder V. 26. Auch für diese Entscheidung gibt der Text keine eindeutigen Signale, aber zumindest Hinweise. Die Abschnitte V. 21 – 23 und V. 24 f. beginnen beide mit καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς, was vermu‑ ten lässt, dass sie sich an das gleiche Publikum wie zuvor, den engen Kreis um Jesus, richten. Die beiden folgenden Gleichnisse hingegen eröffnen allgemeiner mit καὶ ἔλεγεν (V. 26.30). Das spräche für einen Neueinsatz der öffentlichen Rede mit V. 26. Ob sich das inhaltlich bestätigt, muss die Einzelexegese zeigen: Spricht das Gesagte selbst dafür, dass Jesus sich an die Jünger richtet, oder eher, dass alle gemeint sind?
III.3.2. Einleitende Bemerkungen des Erzählers (4,1 f.) (Vgl. Abb. 18a, S. 240) In V. 1 bietet die Mehrheit der Textzeugen – unter ihnen auch die frühen A, D und W – den Ausdruck ‚im Boot‘ (εἰς τὸ πλοῖον) mit dem Artikel. Der Rückbezug auf das Bötchen (3,9), das die Jünger bereitstellen sollten und das nun zum Einsatz kommt, ist dadurch stärker. Die Bezeugung spricht jedoch für die Variante ohne Artikel. Erwähnenswert, wenn auch wegen ihrer geringen Bezeugung keine Konkurrenz zur hier gewählten Lesart, ist in V. 1 zudem, dass D, W und die altlateinische Überlieferung die Szene ans Ufer verlegen.514 Sie umschiffen damit die etwas seltsam anmutende Aussage, Jesus sitze ‚im Meer‘ (ἐν τῇ θαλάσσῃ). Nach D steigt Jesus in das Boot ein (fährt offensichtlich über den See) und setzt sich ‚am gegenüberliegenden Ufer‘ (πέραν τῆς θαλάσσης); auch das Volk ist dort. Nach W und it scheint Jesus zwar im Boot zu sitzen, aber ausdrücklich nahe am Ufer (παρὰ τὸν αἰγιαλόν), an dem sich das Volk befand. Beide Manuskripte lassen bei der Beschreibung des Standpunktes des Volkes die in fast allen anderen Quellen zu findende (und für die reine Loka‑ lisierung eigentlich überflüssige) Ergänzung ‚auf dem Land‘ (ἐπὶ τῆς γῆς) weg. 512
Vgl. etwa France, Mk, 188. Vgl. z. B. zu 1,40 Kap. III.2.2.3., S. 139 f.; zu 3,1 Kap. III.2.3.6., S. 190. 514 Nicht im Apparat von NA28 erwähnt; vgl. Swanson, Manuscripts, 49. 513
240
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a 4:1
A
kai« pa¿lin h¡rxato dida¿skein a
para» th\n qa¿lassan C
kai« suna¿getai pro\ß aujto\n o¡cloß plei√stoß D a
C
w‚ste aujto\n ei˙ß ploi√on e˙mba¿nta kaqhvsqai e˙n thØv qala¿sshØ kai« pa◊ß oJ o¡cloß
a b
apro\ß
th\n qa¿lassan be˙pi« thvß ghvß h™san
4:2
A B A
kai« Ae˙di÷dasken aujtou\ß Be˙n parabolai√ß polla» kai« e¶legen aujtoi√ß e˙n thØv didachØv aujtouv
4:3
E F
aÓkou/ete i˙dou\ c c c
4:4
4:5
4:6
e˙xhvlqen coJ spei÷rwn cspei√rai kai« e˙ge÷neto e˙n twˆ◊ spei÷rein d e
do§
dvar e fneg b [l] fneg b
dkai«
fneg 4:7
dvar e gneg
4:8
4:9
me«n ee¶pesen para» th\n oJdo/n kai« h™lqen ta» peteina» kai« kate÷fagen aujto/
a‡llo ee¶pesen e˙pi« to\ petrw◊deß o¢pou foujk ei•cen bghvn pollh/n b kai« leujqu\ß be˙xane÷teilen fdia» to\ mh\ e¶cein ba¿qoß bghvß a b kai« o¢te aÓne÷teilen oJ h¢lioß g e˙kaumati÷sqh a kai« dia» to\ mh\ e¶cein rJi÷zan var g e˙xhra¿nqh a
dkai«
a‡llo ee¶pesen ei˙ß ta»ß aÓka¿nqaß kai« aÓne÷bhsan ai˚ a‡kanqai kai« sune÷pnixan aujto/ kai« karpo\n oujk e¶dwken
dvar e b dkai« a‡lla ee¶pesen bei˙ß th\n ghvn th\n kalh\n gpos kai« e˙di÷dou karpo\n d1 aÓnabai÷nonta d2 kai« aujxano/mena kai« e¶feren e1 e≠n tria¿konta e2 kai e≠n e˚xh/konta 3 e kai« e≠n e˚kato/n
E E
A
kai« e¶legen fo§ß e¶cei Ew°ta aÓkou/ein fpos aÓkoue÷tw
Abb. 18a: Mk 4,1 – 9
B
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a) 4:1 4:1
Und wieder fing er am Meer an zu lehren. Und es kamen sehr viele Leute bei ihm zusammen so dass er in ein Boot einstieg und sich im Meer setzte. Und alle Leute waren beim Meer auf dem Land.
4:2
Und er lehrte sie viel in Gleichnissen. Und er sagte zu ihnen in seiner Lehre:
4:3
Hört! Seht!515
4:4
Der Säer ging hinaus zu säen. Und es geschah beim Säen:
Das eine fiel an den Wegrand. Und die Vögel kamen. Und sie fraßen es auf.
4:5 4:6
Und anderes fiel auf steiniges Land, wo es nicht viel Erde hatte. Und sogleich ging es auf, weil es keine tiefe Erde hatte. Und als die Sonne aufging verbrannte es. Und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es.
4:7
Und anderes fiel unter die Disteln. Und die Disteln wuchsen. Und sie erstickten es. Und es brachte keine Frucht.
4:8
Und andere fielen auf das gute Land. Und sie brachten Frucht, wuchsen und wurden groß. Und sie trugen – dreißig- und sechzig- und hundertfach.
4:9
Und er sagte: Wer Ohren hat zu hören, der höre! Übersetzung zu Abb. 18a
515
Zur Übersetzung von ἰδού im Plural vgl. Kap. III.3.3., S. 250, Anm. 525.
241
242
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
4:10
B
h
kai« o¢te e˙ge÷neto kata» mo/naß hjrw¿twn aujto\n hoi˚ peri« aujto\n su\n toi√ß dw¿deka Bta»ß parabola¿ß
B
hvar i hopp j
kai« e¶legen aujtoi√ß huJmi√n to\ musth/rion de÷dotai ithvß basilei÷aß touv qeouv he˙kei÷noiß de« toi√ß e¶xw Be˙n parabolai√ß jta» pa¿nta gi÷netai
4:11
4: 12
4:13
4:14 4:15
F F Fvar.neg E E Gneg
Gvar.neg B B Gvar.pos
AvarAvarE Avar-
4:16
E Avar-
4:17 Avar4:18 4:19
Avar- E
iºna Fble÷ponteß Fble÷pwsin kai« Fmh\ i¶dwsin kai« EaÓkou/onteß EaÓkou/wsin kai« Gmh\ suniw◊sin mh/pote e˙pistre÷ywsin kai« ™aÓfeqhØv aujtoi√ß kai« le÷gei aujtoi√ß oujk oi¶date th\n parabolh\n tau/thn kai« pw◊ß jpa¿saß Bta»ß parabola»ß gnw¿sesqe
j
c c
coJ
dvar k c
dou∞toi
c
l
dvar k c l fneg l dvar k c dvar
spei÷rwn Ato\n lo/gon cspei÷rei
de÷ ei˙sin koi˚ para» th\n oJdo/n o¢pou cspei÷retai AoJ lo/goß kai« o¢tan aÓkou/swsin eujqu\ß e¶rcetai oJ satana◊ß kai« ai¶rei Ato\n lo/gon cto\n e˙sparme÷non ei˙ß aujtou/ß
dkai«
ou∞toi÷ ei˙sin oJmoi÷wß koi˚ e˙pi« ta» petrw¿dh cspeiro/menoi oi≠ o¢tan EaÓkou/swsin Ato\n lo/gon eujqu\ß meta» cara◊ß lamba¿nousin aujto/n kai« oujk e¶cousin rJi÷zan e˙n e˚autoi√ß aÓlla» pro/skairoi÷ ei˙sin ei•ta genome÷nhß qli÷yewß h£ diwgmouv dia» to\n lo/gon eujqu\ß skandali÷zontai
dkai«
gneg
a‡lloi ei˙si«n koi˚ ei˙ß ta»ß aÓka¿nqaß cspeiro/menoi ei˙sin Aoi˚ to\n lo/gon EaÓkou/santeß kai« ai˚ me÷rimnai touv ai˙w◊noß z 2 z kai« hJ aÓpa¿th touv plou/tou z3 kai« ai˚ peri« ta» loipa» e˙piqumi÷ai ei˙sporeuo/menai sumpni÷gousin to\n lo/gon kai« a‡karpoß gi÷netai
dvar k b c
dkai«
dou∞toi÷ 1
Avar4:20
C
E Avargpos
e˙kei√noi÷ ei˙sin koi˚ be˙pi« th\n ghvn th\n kalh\n cspare÷nteß oiºtineß EaÓkou/ousin Ato\n lo/gon h1 h2 kai« parade÷contai 3 h kai« karpoforouvsin e1 e≠n tria¿konta e2 kai« e≠n e˚xh/konta 3 e kai« e≠n e˚kato/n
Abb. 18b: Mk 4,10 – 20
B
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
4:10
Und als er alleine war, fragten ihn die um ihn mit den Zwölfen nach den Gleichnissen.
4:11 4:12
Und er sagte zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben. Jenen aber – denen draußen – geschieht alles in Gleichnissen, damit sie als Sehende sehen und nicht erkennen und als Hörende hören und nicht verstehen, damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde.
4:13
Und er sagte zu ihnen: Ihr kapiert dieses Gleichnis nicht? Wie wollt ihr dann die ganzen Gleichnisse begreifen?
4:14
Der Säer sät das Wort.
4:15
Diese aber sind die „am Wegrand“, wohin das Wort gesät wird: Und wenn sie hören, kommt sogleich der Satan und nimmt das in sie gesäte Wort weg.
4:16 4:17
Und genauso sind diese, bei denen „auf steiniges Land“ gesät wird, die, wenn sie das Wort hören, es sogleich mit Freuden aufnehmen. Und sie haben keine Wurzel in sich, sondern leben nur im Augenblick. Wenn dann Bedrängnis oder Verfolgung wegen des Wortes kommt, fallen sie sogleich ab.
4:18 4:19
Und andere sind die, bei denen „unter die Disteln“ gesät wird. Diese sind die, die das Wort hören, und die Sorgen der Welt und die Täuschung des Reichtums und die Begierden nach den übrigen Dingen kommen herein und ersticken das Wort. Und es bleibt ohne Frucht.
4:20
Und jene sind die, bei denen „auf das gute Land“ gesät wird, welche auch immer das Wort hören und es willkommen heißen. Und sie bringen Frucht – dreißig- und sechzig- und hundertfach. Übersetzung zu Abb. 18b
243
244
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
4:21
m
4:22
4:24
4:25
ouj ga¿r e˙stin krupto\n e˙a»n mh\ iºna fanerwqhØv ivar oujde« e˙ge÷neto aÓpo/krufon iopp.var aÓll∆iºna me¶lqhØ iei˙ß fanero/n
S1 1
D
i
iopp
m 4:23
kai« e¶legen aujtoi√ß q mh/ti me¶rcetai qoJ lu/cnoß qopp iºna uJpo\ to\n mo/dion teqhØv qopp.var h£ uJpo\ th\n kli÷nhn qvar oujc iºna e˙pi« th\n lucni÷an teqhØv
E E
Fvar E
fpos
fpos fneg fpos
ei¶ tiß fe¶cei Ew°ta aÓkou/ein aÓkoue÷tw
S1 2
H
kai« e¶legen aujtoi√ß ble÷pete ti÷ aÓkou/ete
H
kk k kvar+
e˙n wˆ— me÷trwˆ metrei√te metrhqh/setai uJmi√n kai« prosteqh/setai uJmi√n
S2 1
o§ß ga»r e¶cei doqh/setai aujtwˆ◊ kai« o§ß oujk e¶cei kai« o§ e¶cei aÓrqh/setai aÓp∆aujtouv
S2 2
l lopp
Abb. 18c: Mk 4,21 – 25
D
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
4:21 4:22
Und er sagte zu ihnen: Kommt etwa die Lampe, dass sie unter den Scheffel gestellt wird oder unter das Bett? Nicht vielmehr, dass sie auf den Lampenständer gestellt wird? Denn es ist nicht verborgen, außer, dass es offenbar werde. Und es wurde nicht verborgen, außer, dass es an die Öffentlichkeit komme.
4:23
Wenn jemand Ohren hat zu hören, der höre!
4:24
Und er sagte zu ihnen: Seht darauf, was ihr hört!
4:25
Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden. Und es wird euch noch hinzugegeben werden. Denn wer hat, dem wird gegeben werden. Und wer nicht hat, dem wird auch das, was er hat, weggenommen werden. Übersetzung zu Abb. 18c
245
246
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
4:26
kai« e¶legen ou¢twß e˙sti«n hJ basilei÷a touv qeouv
i cvar b
4:27
wJß a‡nqrwpoß ba¿lhØ cto\n spo/ron be˙pi« thvß ghvß
kai« kaqeu/dhØ kai« e˙gei÷rhtai m mopp mvar mvar.opp nu/kta kai« hJme÷ran cvar
kai« oJ spo/roß d1 blastaˆ◊ d2 kai« mhku/nhtai
Gvar
wJß oujk oi•den aujto/ß
4:28
b gpos
aujtoma¿th ghv evar1 prw◊ton co/rton 2 var e ei•ta sta¿cun evar3 ei•ta plh/rhß si√ton e˙n twˆ◊ sta¿cuiœ
4:29
gpos l
o¢tan de« paradoi√ oJ karpo/ß eujqu\ß aÓposte÷llei to\ dre÷panon o¢ti pare÷sthken oJ qerismo/ß
4:30 B
bhJ
B
gkarpoforei
kai« e¶legen pw◊ß oJmoiw¿swmen th\n basilei÷an touv qeouv h£ e˙n ti÷ni aujth\n parabolhØv qw◊men
i
4:31
wJß ko/kkwˆ sina¿pewß c+
4:32
c+
b b
n cvar
nopp d2
o§ß o¢tan sparhØv e˙pi« thvß ghvß nmikro/teron o£n pa¿ntwn ctw◊n sperma¿twn tw◊n e˙pi« thvß ghvß kai« o¢tan sparhØv B d1 aÓnabai÷nei kai« gi÷netai mei√zon pa¿ntwn tw◊n laca¿nwn kai« poiei√ kla¿douß mega¿louß w‚ste du/nasqai uJpo\ th\n skia»n aujtouv ta» peteina» touv oujranouv kataskhnouvn
4:33 4:34
B Avar E B Avar-
kai« toiau/taiß Bparabolai√ß pollai√ß Ae˙la¿lei aujtoi√ß to\n lo/gon kaqw»ß hjdu/nanto aÓkou/ein cwri«ß de« Bparabolhvß oujk Ae˙la¿lei aujtoi√ß hvar hvar hkat∆i˙di÷an de« htoi√ß i˙di÷oiß maqhtai√ß e˙pe÷luen pa¿nta A
4:35 4:36a C D
Kai« le÷gei aujtoi√ß e˙n e˙kei÷nhØ thØv hJme÷raˆ ojyi÷aß genome÷nhß die÷lqwmen ei˙ß to\ pe÷ran kai« aÓfe÷nteß to\n o¡clon paralamba¿nousin aujto\n wJß h™n e˙n twˆ◊ ploi÷wˆ
Abb. 18d: Mk 4,26 – 36a
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
4:26
Und er sagte: So ist das Reich Gottes:
4:27
Wie wenn ein Mensch den Samen auf das Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag, und der Same aufgeht und emporwächst – wie, das weiß er nicht.
4:28 4:29
Von selbst bringt das Land Frucht hervor, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Wenn aber die Frucht es zulässt, schickt er sogleich die Sichel, denn die Ernte ist nun da.
4:30
Und er sagte: Wie sollen wir das Reich Gottes vergleichen? Oder: Mit welchem Gleichnis sollen wir es darstellen?
4:31 4:32
So: Mit einem Senfkorn, das, wenn es auf das Land gesät ist, – obwohl es kleiner ist als alle Samen auf der Erde516 –, aber wenn es gesät ist, wächst es und wird größer als alles andere Gemüse. Und es macht große Zweige, so dass in seinem Schatten die Vögel des Himmels wohnen können.
4:33 4:34
Und mit vielen solchen Gleichnissen sagte er ihnen das Wort, wie sie es hören konnten. Außer in Gleichnissen sagte er aber nichts zu ihnen. Im eigenen Kreis aber erklärte er seinen eigenen Jüngern alles.
4:35
Und er sagte zu ihnen an jenem Tag, als es Abend geworden war: Lasst uns ans jenseitige Ufer hinüberfahren.
4:36a
Und sie schickten die Leute weg und nahmen ihn mit, wie er im Boot war.
247
Übersetzung zu Abb. 18d
516 Leider ist es wegen der unterschiedlichen Bedeutung von ‚Erde‘, ‚Land‘ und ‚Boden‘ im Deutschen nicht möglich, beide γῆ in 4,31 gleich (dafür käme nur ‚Erde‘ in Frage) zu überset‑ zen, wenn über das ‚Land‘ der Bezug zur Einleitung der Gleichnisrede (4,2) und den anderen Saatgleichnissen beibehalten werden soll.
248
Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
1 f. Wieder kommt Jesus ans Meer und lehrt, wieder kommen viele Leute zusam‑ men. Das Publikum des Markus ist diese Art von Geschichten mittlerweile gewöhnt: Jede der Berufungsgeschichten des ersten Hauptteils beginnt am Meer (1,16; 2,13; 3,7) und in diesen Geschichten spielten die Leute eine immer größere Rolle. Mar‑ kus unterstützt die Erinnerung an diese Szenen durch ein πάλιν gleich zu Beginn. Doch die anderen gewohnten Textsignale – die Namen der Berufenen, der Ruf Jesu in die Nachfolge und die Nachfolge der Gerufenen – bleiben aus. Nur noch von den ‚Leuten‘ (ὄχλος), ist die Rede; Jünger Jesu oder solche, die es durch seinen Ruf werden, zeichnet Markus nicht in die Szene ein. In 3,7 – 12 wurde die riesige Menge der Leute, die zu Jesus an den See kamen, den Zuhörern durch das doppelte πλῆθος πολύ (3,7.8) und die Nennung der verschiedenen Herkunftsregionen vor Augen gemalt. Jetzt kehrt Markus zu seinem üblichen Begriff ὄχλος zurück, verwendet nun aber den Superlativ von πολύς (ὄχλος πλεῖστος). Es sind so viele Leute, dass Jesus nun in das Boot (πλοῖον) steigt, um dessen Bereitstellung er beim letzten Mal gebeten hatte (3,9), um dem Drängen der Menschen ausweichen können. Damit ist der Schritt vom Seeufer, dem Ort der Berufungen, ins Boot auf dem See getan – dem Ort, an dem die Tripelepisoden des folgenden Hauptteiles (4,35 – 8,21) spielen werden: Dreimal wird Jesus mit den Jüngern im Boot auf dem See unterwegs sein. Die Anklänge an die vergangenen und an die kommenden Tripelepisoden ste‑ hen im Vordergrund, doch gibt es auch zur unmittelbar vorangehenden Perikope zwei Stichwortverbindungen: ὄχλος (3,32) und καθῆσθαι (3,32.34). Das Setting ist jedoch ein anderes: Dort ‚sitzen‘ in einem Haus ‚Leute‘ um Jesus im Kreis; es kann sich also nur um eine begrenzte Anzahl von Menschen handeln. Hier, am See, ‚sitzt‘ Jesus im Boot und ‚sehr viele Leute‘ sind (ἦσαν) am Ufer, ob sitzend oder stehend, das überlässt Markus der Phantasie seiner Hörer. Diese Einleitung des Erzählers ist in der Form einer Ringkomposition gestal‑ tet: Den äußeren Ring bildet das Lehren Jesu (A), das zu Beginn einmal (διδά‑ σκειν), am Ende gleich zweimal, als Verb (ἐδίδασκεν) und als Substantiv (ἐν τῇ διδαχῇ), zu hören ist. Im nächstinneren Ring findet sich beide Male ‚am Meer‘ (πρὸς / παρὰ τὴν θάλασσαν, a). Beim ersten Mal wird damit der Ort der Lehre Jesu definiert, beim zweiten Mal die Position der Leute: Auch sie sind ‚am Meer‘; diese Angabe wird nun ergänzt durch das eigentlich überflüssige ‚auf dem Land‘ (ἐπὶ τῆς γῆς, b). Im innersten Ring befindet sich die große Menge an Leuten (ὄχλος πλεῖστος, πᾶς ὁ ὄχλος, C). Im Zentrum steht schließlich nochmals das ‚Meer‘ (a), nun aber kombiniert mit dem ‚Boot‘ (πλοῖον, D) – hier kommen die beiden Spielorte der die Gleichnisrede umgebenden Hauptteile zusammen. Weist schon das dreimalige διδάσκειν / διδαχή, das diese Ringkomposition zusammen‑ hält, die folgende Rede als Lehre Jesu aus, weckt Markus auch vor dem inne‑ ren Auge der zeitgenössischen Hörerin das Bild eines Lehrers: Jesus setzt sich (καθῆσθαι) für seine Rede und nimmt damit die Position eines Lehrers ein.517 517 Vgl. Pesch, Mk I, 230; France, Mk, 187 f.; Lührmann, Mk, 81; Oefele, Wer Ohren hat, 54.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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Jesus ‚sitzt‘ später im Jerusalemer Tempel (καθίσας, 12,41), als er sich dort als Lehrer etabliert hat, und auch seine zweite große Rede wird er sitzend halten: Auf dem Ölberg, gegenüber vom Tempel (καθημένου αὐτοῦ, 13,3). Auch zu Beginn der Gleichnisrede ist von einem Gegenüber die Rede: Jesus sitzt ‚im Meer‘ (ἐν τῇ θαλάσσῃ), die Leute ‚sind am Meer auf der Erde‘. Der Zusatz ἐπὶ τῆς γῆς hat hier doch eine Funktion: Er stellt nicht nur Lehrer und Hörerschaft einander gegenüber, sondern bereitet zugleich den Boden für das kommende Gleichnis vor: Der Sämann wirft seinen Samen, das Wort (V. 14), auf das Land – was tut Jesus anderes, wenn er vom Boot aus die Leute ‚auf dem Land‘ lehrt? Zum Ende der Einleitung kommt noch das Stichwort παραβολή (B) ins Spiel: Jesus wird nun ‚in Gleichnissen‘ (ἐν παραβολαῖς) lehren. Die Tatsache, dass dafür die Verben im Imperfekt stehen (ἤρξατο διδάσκειν, ἐδίδασκεν, ἔλεγεν), nimmt die Rede aus dem konkreten Moment und verleiht ihr grundsätzlicheren Charakter.518
III.3.3. Gutes Land und andere Böden (4,3 – 9) (Vgl. Abb. 18a, S. 240) Für die Entscheidung nicht relevant, aber hinsichtlich der Textstruktur interessant ist eine Ergänzung in V. 4, die D, G, M und eine Korrektur in 2 überliefern:519 Den Vögeln wird dort das Attribut ‚des Himmels‘ (τοῦ οὐρανοῦ) beigelegt, was die Verbindung zwischen dem ersten (3 – 9) und letzten Gleichnis (30 – 32) verstärkt – die ‚Vögel‘ (πετεινά), bei Markus nur in diesen beiden Gleichnissen erwähnt, sind, so ist sich die ganze Überlieferung einig, in V. 32 τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ. In V. 8 hängen zwei textkritische Entscheidungen zusammen: Wenn am Anfang ‚andere‘ Samen (ἄλλα) im Plural aufs gute Land fallen, bietet die Lesart mit dreimaligem ἕν am Ende – ‚eines dreißig‑, eines sechzig‑, eines hundertfach‘ – eine schlüssige Differenzierung der ‚ande‑ ren‘. Steht am Anfang aber der Singular ἄλλο, passt dies nicht; die Vielzahl an Lesarten mit unterschiedlich akzentuierten εις und εν spiegelt das Ringen um eine verständliche Formu‑ lierung wider. Die Entscheidung, ob am Anfang ἄλλα oder ἄλλο zu stehen hat, fällt aufgrund der klar besseren Bezeugung des Plurals leicht; zudem lässt sich der Singular als sekundäre Angleichung an V. 5 und 7 erklären.520 Das textkritische Problem am Ende des Satzes lässt sich aufgrund der Uneinigkeit der frühen und qualitativ guten Zeugen nur pragmatisch lösen: Das dreifache ἕν ist die inhaltlich und formal521 überzeugendste Variante. In der Parallelstelle 518 Nur diese Verbformen alleine wären zu wenig für ein solches Postulat. France weist zu Recht darauf hin, dass καὶ ἔλεγεν [αὐτοῖς] zu häufig formelhaft gebraucht wird, um diesen As‑ pekt exegetisch auszuwerten (France, Mk, 194; vgl. Kap. III.2.4.3., S. 220). Dennoch fällt die Konsequenz auf, mit der hier nicht nur bei λέγειν, sondern bis V. 34 auch bei fast allen anderen Verben der Kommunikation (Ausnahme ist λέγει in V. 13) auf Erzählerebene das Imperfekt gebraucht wird. 519 Nicht im Apparat von NA28 erwähnt; vgl. Swanson, Manuscripts, 49. 520 France argumentiert in erster Linie mit der Satzkonstruktion; um ἀναβαίνοντα auf den Samen beziehen zu können, ist der Plural ἄλλα notwendig; so kann das Partizip als Neutrum Plural gelesen werden. Steht ἄλλο, kommt als Bezugswort für ἀναβαίνοντα (dann als m. Sg.) nur in inhaltlich wenig überzeugender Weise καρπόν in Frage (vgl. France, Mk, 181). 521 Metzger argumentiert inhaltlich für ἕν: „In favor of the latter [i. e. ἕν, Anm. d. Vfn.] is the probability that underlying the variants was the Aramaic sign of multiplication (‚‑times‘ or ‚‑fold‘), חד, which also is the numeral ‚one‘.“ (Metzger, Textual Commentary, 71). Bezüglich der
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in V. 20 wird einheitlich εν überliefert,522 sodass nur die Frage nach der Akzentuierung bleibt. Noch ein drittes textkritisches Problem ist am Rande mit diesen beiden verbunden: Neben dem in NA28 aufgenommenen Partizip αὐξανόμενα (nur in ℵ, B, 1071523 und analog in sahidischen Manuskripten) existieren die Varianten αὐξανόμενον (A, D, W, L, Δ und analog in bohairi‑ schen Manuskripten) und αὐξάνοντα (Mehrheitstext; von den frühen Codices nur C). Diese Vielfalt an Lesarten ist sehr interessant, weil jeweils andere grammatikalische Bezüge entste‑ hen: Aὐξανόμενα kann im vorliegenden Kontext nur auf ἄλλα bezogen werden, αὐξανόμενον nur auf καρπόν; αὐξάνοντα hingegen lässt wie das parallel stehende ἀναβαίνοντα beides zu.524 Die verschiedenen Lesarten haben Auswirkungen darauf, was als Subjekt im Satz in Frage kommt: Liest man αὐξανόμενα, können nur die Samen Subjekt von ἐδίδου καρπόν sein. Die beiden anderen Varianten bestimmen bzw. lassen es zu, dass es ‚das gute Land‘ ist, das ‚Frucht hervorbringt‘, und wären somit näher an dem, wie die entsprechende Stelle später ausgelegt wird (vgl. V. 20). Die Überlieferung in den beiden ältesten Textzeugen und die Tatsache, dass sich die beiden anderen Lesarten aus der ersten erklären lassen, spricht für die Übernahme von αὐξανόμενα. Αὐξανόμενον und αὐξάνοντα können als zwei Versuche verstanden werden, zum einen V. 8 mit V. 20 zu harmonisieren, zum anderen als Glättung einer harten Lesart, indem nun die Frucht größer wird und wächst statt wie bei αὐξανόμενα die Samenkörner.
Das eigentliche Gleichnis, das Jesus nun vom Boot aus den Zuhörern auf dem Land erzählt, wird von einer Inclusio gerahmt, die als direkte Aufforderung ans Publi‑ kum gerichtet ist: ‚Hört!‘ (ἀκούετε, E), sekundiert von ‚Seht!‘ (ἰδοῦ, F)525 eröffnet die Rede, ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘ (ὃς ἔχει ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω, E E) schließt sie fürs Erste – ab V. 10 sind dann Jesus und die Jünger unter sich. Auch innerhalb dieses Rahmens ist eine klare Struktur zu erkennen: Auf eine Einleitung (V. 3b.4a) folgen vier klar definierte Abschnitte, die jeweils gleich beginnen: ‚[Und] . . . fiel‘ ([καὶ] . . . ἔπεσεν, e). Anschließend wird jeweils das Schicksal des Samens beschrieben, der auf einem bestimmten Boden landet. Die ersten drei Samen (jeweils im Singular: ὃ μέν, ἄλλο, ἄλλο, d, dvar, dvar) fallen auf unterschiedliche schlechte Böden; sie gehen in verschiedenen Stadien des Wachs‑ tums ein und bringen keine Frucht hervor. Nur beim vierten Mal ist der Boden ‚gutes Land‘ (ἡ γῆ ἡ καλή, V. 8), auf dem die Pflanze bis zur Reife der Frucht gedeihen kann. Auf das ‚gute Land‘ fallen mehrere Samen (Plural ἄλλα, dvar); am Ende stehen den drei unfruchtbaren Samen drei andere entgegen, die reiche Frucht tragen: ‚einer dreißig und einer sechzig und einer hundert‘. Form schreibt Kurt Keller (private Korrespondenz vom Oktober 2015): „Stilistisch betrachtet, lässt sich problemlos eine griechische Erklärung finden: Wir haben einen Parallelismus mit 3x EN + Zahl, verstärkt durch das Asyndeton, mit einer Enumeratio – statt einfach ‚viel‘ zu sagen, werden verschiedene Zahlen aufgezählt.“ 522 Mit nur wenigen Ausnahmen – B und 1424 lassen das zweite und dritte εν weg, C* of‑ fensichtlich nur das zweite – findet sich dreimal εν wie in V. 8. 523 Vgl. Swanson, Manuscripts, 52. Aland / Aland ordnen die Minuskel 1071 der Katego‑ rie III zu (vgl. Aland / Aland, Text, 152). 524 Vgl. Metzger, Textual Commentary, 71. 525 Die Singularform ἰδού hat sich als Partikel verselbständigt; sie kann als Imperativ im Plural übersetzt werden, wenn mehrere Personen angesprochen sind (vgl. Siebenthal, § 252,63).
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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Über die Frage, ob diese Geschichte ein Gleichnis, eine Parabel, eine Allego‑ rie oder noch etwas anderes sei,526 und darüber, ob sie ursprünglich ganz anders zu verstehen war als im Kontext der synoptischen Evangelien,527 ist schon viel geschrieben worden. Ebenso wurden schon viele andere antike Texte ausgemacht, die ähnliche Bilder verwenden, und versucht, von ihnen her den Sinn des vorlie‑ genden Gleichnisses528 zu erhellen.529 Viele Ähnlichkeiten sind einfach darauf zurückzuführen, dass sich das Bild vom Säen, Eingehen oder Fruchttragen gut eignet, um ganz verschiedene Situationen von Gedeihen oder Nichtgedeihen zu illustrieren.530 Die gewählte exegetische Perspektive legt nahe, zunächst einmal innerhalb des Werkes nach einem Interpretationsschlüssel zu suchen – noch dazu in einem Fall, in dem Markus selbst eine Deutung mitliefert. 3a Die Rede des im Boot sitzenden Jesus beginnt mit zwei Imperativen, in denen ein wesentlicher Zug des Gleichnisses, der ganzen Rede und auch des gesamten nächsten Hauptteils, zusammengefasst ist: ‚Hört! Seht!‘ (ἀκούετε. ἰδού). Ohne diesen Hintergrund ist es zunächst einmal eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit auf die kommenden Worte. Es wird sich erst im Verlauf der Rede zeigen, dass Hören nicht gleich Hören ist und Sehen nicht gleich Sehen. 3b.4a Nicht weniger als drei Mal verwendet Markus in dieser kurzen Einlei‑ tung des Gleichnisses das Verb σπείρειν (c); diese für ihn typische Art der fokalen Wiederholung531 lenkt hier die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Säens (e) und leitet den Reigen der Saat-Gleichnisse ein. Auffällig ist daran, dass dieses 526
Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 229. 242. Vgl. dazu Zimmermanns Kritik an der Differenzierung verschiedener Gattungstypen innerhalb einer Obergattung „Gleichnis“ (Zimmermann, Gleich‑ nisse Jesu, 17 – 23). 527 Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 232; Lührmann, Mk, 83; Collins, Mk, 242; Schweizer, Mk, 49. 528 Zu meiner eigenen Verwendung von „Gleichnis“ als Gattungsbezeichnung vgl. Kap. III.2.4.3., S. 222 f., Anm. 474. 529 Vgl. insbes. die vielen Textbeispiele bei Collins, Mk, 243 – 246, und Pesch, Mk I, 231 – 234. 530 Ähnlich auch France: „There is no need to seek any other source for this story than his own familiarity with farming methods.“ (France, Mk, 190). Recht nahe verwandt, insbeson‑ dere bei Einbezug der Auslegung des Sämann-Gleichnisses (4,14 – 20), scheint Jes 55,10 f.LXX zu sein, doch werden bei dieser Illustration des Erfolgs des Wortes Gottes auf Erden durch den Naturprozess des Wachsens, Gedeihens und Fruchtbringens andere Bezüge hergestellt: Das Wort Gottes wird mit dem Regen verglichen, der den Wachstumsprozess ermöglicht, der Same hingegen ist neben dem Brot ein Produkt dieses Prozesses: Ὡς γὰρ ἐὰν καταβῇ ὑετὸς ἢ χιὼν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ οὐ μὴ ἀποστραφῇ, ἕως ἂν μεθύσῃ τὴν γῆν, καὶ ἐκτέκῃ καὶ ἐκβλαστήσῃ καὶ δῷ σπέρμα τῷ σπείροντι καὶ ἄρτον εἰς βρῶσιν, οὕτως ἔσται τὸ ῥῆμά μου, ὅ ἐὰν ἐξέλθῃ ἐκ τοῦ στόματός μου, οὐ μὴ ἀποστραφῇ, ἕως ἂν συντελεσθῇ ὅσα ἠθέλησα καὶ εὐοδώσω τὰς ὁδούς σου καὶ τὰ ἐντάλματά μου. Jes 55,10 f.LXX (‚Denn wie Regen oder Schnee herabkommt vom Himmel und nicht zurückkehrt, bis die Erde durchtränkt ist, und hervorbringt und sprießen lässt und Samen gibt dem Säenden und Brot zur Speise, so wird mein Wort sein, das, wenn immer es ausgehen wird aus meinem Mund, nicht zurückkehren wird, bis es vollendet haben wird, was ich wollte, und ich will deine Wege und meine Gebote gangbar machen.‘). 531 Vgl. gerade vorher das dreifache Lehren und die dreimalige Erwähnung des ‚Meeres‘ (4,1 f.). Mit der gleichen Technik arbeitet Markus an vielen anderen Stellen, um die Aufmerk-
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Stichwort im ganzen ersten Gleichnis nicht nochmals erklingt. Dass es im Fol‑ genden nicht um das Säen an sich geht, deutet sich schon in ἐγένετο an: Im Fokus steht, was dabei ‚geschieht‘: ‚Beim Säen‘ (ἐν τῷ σπείρειν) ‚fällt‘ (ἔπεσεν) der Samen auf verschiedene Böden, deren Beschaffenheit für sein weiteres Geschick entscheidend ist. Ganz zu Beginn ‚geht‘ der Säende ‚hinaus‘ (ἐξῆλθεν). Wer das Evangelium und daher die Auslegung des Gleichnisses (V. 14 – 20) schon kennt und den Erzähler Jesus selbst als Säenden identifiziert, den erinnert dieses ἐξῆλθεν daran, dass Jesus selbst von sich sagt, er sei hinausgegangen, um zu verkünden (ἵνα καὶ ἐκεῖ κηρύξω· εἰς τοῦτο γὰρ ἐξῆλθεν, 1,38).532 4b ‚Das Eine‘ (ὃ μέν) fällt ‚am Weg‘ (παρὰ τὴν ὁδόν) auf den Boden. Will man keine ungenaue Verwendung der Präposition postulieren und ‚auf den Weg‘ lesen, lässt sich diese Wendung mit ‚an den Wegrand‘ übersetzen.533 Dort ist der Boden festgetreten und dort, jenseits der Ackergrenze, wird auch der Pflug nicht hinkommen, der den Samen unter die Erde bringt534 und ihn damit vor den Vögeln schützt. Den Samen am Wegrand aber fressen die Vögel auf, bevor er kei‑ men kann. Vögel (πετεινά) kommen im Markusevangelium nur zweimal vor; hier am Anfang des ersten Saat-Gleichnisses und noch einmal am Ende des letzten (V. 32); πετεινά verstärkt also als innerer Ring (V. 4.32) die Inclusio,535 die Worte des Erzählers um die ganze Gleichnisrede bilden (V. 1 f.33 f.). Hier bei ihrer ers‑ ten Erwähnung vernichten die Vögel die Saat – in der Auslegung steht an ihrer Stelle gar der Satan (V. 15). Am Ende der Saat-Gleichnisse sind sie die Nutznie‑ ßer eines Samens, der nicht weggepickt wurde: Das Senfkorn ist aufgegangen und fast zum Baum gewachsen, in dessen Schatten sie ihren Lebensraum finden. 5 f. Das Geschick eines ‚anderen‘ (ἄλλο) wird ausführlicher erzählt. Zweimal ist hier das für die ganze Gleichnisrede wichtige Stichwort γῆ (b) zu hören, beide Male im Sinne von ‚Erde, Ackerboden‘. Die beiden Verse weisen eine kunst‑ volle Struktur auf: Leitend ist ‚nicht haben‘ (οὐκ / μὴ ἔχειν, fneg bzw. α). Zweimal wird gesagt, der Samen ‚habe nicht viel‘ bzw. ‚keine tiefe Erde‘. Das befördert zwar offensichtlich das rasche (εὐθύς) Aufgehen, doch ‚hat‘ er deshalb auch ‚keine Wurzel‘ (μὴ ἔχειν ῥίζαν). Zwischen den drei ‚Nicht-Haben‘ ist zuerst zweimal das ‚Aufgehen‘ ([ἐξ‑]ανέτειλεν, β) zu hören, dann das ‚Verbrennen‘ bzw. ‚Verdorren‘ (ἐκαυματίσθη, ἐξηράνθη, γ, γvar). Diese schöne Form bringt samkeit auf etwas Bestimmtes zu lenken: z. B. dreifaches διδάσειν / διδαχή in 1,21 f., dreifaches φωνεῖν in 10,49 oder gar vierfaches πλοῖον am Beginn der ersten Bootsfahrt (4,36 f.). 532 Auch andere sind an der ‚Verkündigung‘ beteiligt; auch bei ihnen ist κηρύσσειν mit ἐξέρχεσθαι verbunden: In 1,45 ist das der geheilte Gelähmte, in 6,12 die Zwölf, die von Jesus ausgesandt wurden (3,14; 6,7). 533 Vgl. 10,46, wo es vom blinden Bartimäus heißt: ἐκάθητο παρὰ τὴν ὁδόν. 534 Zur antiken Praxis des Einpflügens bzw. Eineggens des frisch Gesäten vgl. Hes. Op. 457 – 496, insbes. 464 – 470 (in: Neuer Wettstein [Mk], 186). Vgl. auch Pesch, Mk I, 232; France, Mk, 191. 535 Vgl. Textkritik zu V. 4, S. 249.
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es mit sich, dass eher skizzenhaft als realistisch erzählt wird:536 Der Samen geht ‚sogleich‘ auf, danach die Sonne; im realen Leben dauert es bei den meisten Pflanzensorten länger als einen Tag, bis ein Samen keimt. Doch wesentlicher als biologische Details ist das Geschick des zweiten Samens: Bekam der erste gar keine Chance zur Entfaltung, geht er immerhin auf. Auf dem steinigen Boden hat er aber kaum Erde, um Wurzeln schlagen zu können. Sobald es heiß wird, verdorrt das Pflänzchen. Die Frage nach Haben oder Nicht-Haben, das hier mit dem schlechten Boden bzw. der fehlenden Wurzel begründet wird (διὰ τὸ μὴ ἔχειν), wird im Laufe der Rede nochmals aufgenommen (V. 25). 7 Wieder ‚Anderes‘ (nochmals ἄλλο) fällt unter die Disteln; von seinem Geschick wird so knapp erzählt, dass zwar vom Wachsen der Disteln die Rede ist, aber gar nicht vom Aufgehen und Wachsen des Samens. Allenfalls könnte man bei ‚und die Disteln wuchsen‘ (καὶ ἀνέβησαν αἱ ἄκανθαι) καί als ‚auch‘ ver‑ stehen, doch der Eindruck bleibt, dass die Disteln dominieren. Sie ersticken die Pflanze, bevor sie Frucht bringen kann (καὶ καρπὸν οὐκ ἔδωκεν). Damit hat sich der dritte Samen zwar weiter als seine beiden Vorgänger entwickelt, kommt aber wie sie nicht zu seinem eigentlichen Ziel. Trotz der Klimax der verschiedenen Wachstumsstadien gilt: Für den, der sät, zählt am Ende nur der Ertrag. Nur, wo ein Samen Frucht trägt, werden Menschen satt.537 8 Von den Samen, die dieses Stadium erreichen, wird zuletzt erzählt; es sind diejenigen, die ‚auf das gute Land‘ (εἰς τὴν γῆν τὴν καλήν) fallen. Nur hier ist ausdrücklich die Rede davon, dass Samen auf ‚das Land‘ (γῆ, b) fallen. Es sind mehrere (Plural ἄλλα). Auch sprachlich werden sie direkt mit den vorher erwähn‑ ten Samen kontrastiert: Stand zum Schluss von deren Geschichte καὶ καρπὸν οὐκ ἔδωκεν (gneg), beginnt die der auf das gute Land gefallenen Samen mit καὶ ἐδίδου καρπόν (gpos); man beachte auch den Durativ. Was das heißt, wird nun, wiederum in sprachlich ausgefeilter Form, ausgemalt: Diese Samen durchlaufen die Stadien des Wachsens (ἀναβαίνοντα, αὐξανόμενα), bis sie ‚tragen‘ (ἔφερεν); wiederum stehen alle Verben im Durativ. Der Gegensatz zum Samen in V. 7 wird durch die Verwendung des Verbs ἀναβαίνειν nochmals hervorgehoben: Während dort die Disteln wuchsen, sind es nun die Pflanzen aus den Samenkörnern. Der Klimax der drei gescheiterten Samen wird diejenige des reichen Ertrages von drei anderen gegenübergestellt. Ob dreißig, sechzig oder hundert: Alle sind zum Ziel gekommen. Ob diese Zahlen aus agronomischer Sicht realistisch sind oder nicht, wird auch dieser Kommentar nicht abschließend klären können.538 Zu erwähnen 536
Vgl. France, Mk, 191. Vgl. die Verbindung von ‚Saat‘, ‚Brot‘ und ‚satt werden‘ in 2,23 – 28, Kap. III.2.3.5., S. 188. 538 Wer die Zahlen für realistisch hält, geht zumeist von der Anzahl der Körner in einer Ähre aus (vgl. z. B. Pesch, Mk I, 234; France, Mk, 192 f.), die ja aus einem einzelnen Samenkorn entsteht. Das ist der hier passende Schlüssel – der markinische Jesus unterscheidet ja gerade einzelne Samenkörner voneinander und fragt nach der ‚Frucht‘ der je einzelnen. Wer hingegen 537
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ist stattdessen die akustische Gestalt der letzten beiden Sätze. Sie lassen sowohl von ihrer Klanglichkeit als auch von ihrer Betonung her539 Homoioteleuta (‑όν; ‑οντα) erkennen, die diesem inhaltlichen Höhepunkt am Schluss auch akustischen Glanz verleihen: καὶ ἐδίδου καρπὸν a
ἀναβαίνοντα καὶ αὐξανόμενα καὶ ἔφερεν ἓν τριάκοντα καὶ ἓν ἑξήκοντα
b b’ b b
καὶ ἓν ἑκατόν a
9 Auf das Gleichnis folgt, versehen mit einer eigenen Redeeinleitung (καὶ ἔλε‑ γεν), wieder eine Aufforderung an Jesu Hörerschaft und gleichzeitig ans Publikum des Markus: ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘ Damit schließt sich der Rah‑ men, der in V. 3 geöffnet wurde. Der Imperativ hier unterscheidet sich von denen in V. 3 auf zweierlei Art: Zum einen geht es nur ums Hören (E), zum anderen ist die Formulierung weniger direkt und stellt das Selbstverständliche in Frage: ‚Wer Ohren hat zu hören‘ (ὃς ἔχει ὦτα ἀκούειν) – wozu sind Ohren sonst da? Und gibt es überhaupt (gesunde) Ohren, die nicht hören? Im Alten Testament (inkl. der Spätschriften) ist immer wieder von Ohren die Rede, die eben nicht hören, oft in einem Atemzug mit Augen, die nicht sehen, und / oder einem unverständigem ‚Herzen‘. Zumeist sind das Ohren von Menschen, die Gott nicht verstehen, sei es, weil sie sich von ihm abwenden (Jer 5,21), oder weil Gott ihnen bisher Verstehen, Sehen und Hören verweigert (Dtn 29,3), aber noch schenken wird (Bar 2,31), manchmal auch Ohren von menschengemachten Götzen und deren Herstellern (Ps 113,14.16LXX; Weish 15,15).540 Mit diesem Aufruf an die Menschen, mit ‚Ohren zu hören‘, wird das Thema des rechten, verständigen Hörens vorgegeben, dem sich die nächsten Verse unter Aufnahme von Jes 6,9 f. widmen. Zwei große Linien werden in diesem ersten Gleichnis ausgezogen: Zum einen die Linie des Samens, der nicht in allen Fällen zu seinem Ziel kommt; nur auf dem ‚guten Land‘ trägt er Frucht, dort dafür aber reichlich. Sie kann Menschen satt machen.541 Diese Linie tritt erst hier in den Vordergrund; ihren Anfang nimmt sie indessen schon früher: In 2,23 laufen die Jünger ‚durch die Saaten‘ (διὰ τῶν σπορίμων) und reißen Ähren ab, um, so wird durch die Erzählung von die Zahlen für übertrieben (und damit als Zeichen für Gottes Wunderwirken) hält, legt das Ver‑ hältnis des gesamten Saatguts zum gesamten Ertrag zugrunde (vgl. Lührmann, Mk, 84). 539 Vgl. zur Metrik Kap. I.4.2., S. 33. 540 Die menschengemachten Götzen in Ps 113,14.16LXX und Weish 15,15 haben noch et‑ liche andere Sinne und Gliedmaßen, die ihren Dienst nicht tun – das unterscheidet sie vom lebendigen Gott, von dem es z. B. heißt: „In meiner Not rufe ich zum HERRN, zu meinem Gott schreie ich. Von seinem Tempel aus hört er meine Stimme, und mein Schreien dringt an sein Ohr.“ (Ps 18,7, Wortlaut Zürcher). 541 Vgl. van Iersel, Mk, 180; Lührmann, Mk, 84.
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den Schaubroten deutlich (2,25 f.), ihren Hunger zu stillen. Das setzt als selbst‑ verständlich voraus, dass die ‚Saaten‘ Frucht tragen. Die zum Ziel gekommene Saat, die zu Brot verarbeitet Hunger stillt, wird insbesondere in der Gestalt der beiden großen Speisungen (6,30 – 45; 8,1 – 9) im zweiten Hauptteil zu einem the‑ matischen Schwerpunkt. Wie schon hier ist dieser dort eng verknüpft mit der zweiten großen Linie: Hören, Sehen und Verstehen. Auch im unmittelbar Fol‑ genden, dem ganzen Rest der Gleichnisrede, werden die beiden Fäden der Saat und des rechten Hörens, Sehens und Verstehens aufgenommen und thematisch weiter verarbeitet.
III.3.4. Intermezzo: Wer versteht das Geheimnis des Reiches Gottes? (4,10 – 13) (Vgl. Abb. 18b, S. 242) In V. 10 ist in D, W, Θ, einigen Minuskeln, lateinischen und syrischen Übersetzungen statt des umständlichen ‚die um ihn mit den Zwölfen‘ das einfachere ‚seine Jün‑ ger‘ (οἱ μαηθταὶ αὐτοῦ) zu lesen, das sich auch an den Parallelstellen Mt 13,10 (ohne αὐτοῦ) und Lk 8,9 findet. Die Bezeugung spricht klar für die umständlichere Lesart. Analog gilt das auch für die zweite Stelle in diesem Vers, an der Varianten vorliegen: Die Zeugen, die ‚seine Jünger‘ bieten, lassen diese nicht allgemein nach ‚den Gleichnissen‘ fragen, sondern nach dem gerade Gehörten (τίς ἡ πραρβολὴ αὕτη). Sehr breit, aber früh nur in A und D, ist in V. 12 nach ἀφηθῇ αὐτοῖς der Zusatz τὰ ἁμαρτή‑ ματα bezeugt. Die kürzere Lesart ist aufgrund äußerer Kriterien vorzuziehen.
Diese Verse stehen im Zentrum einer Sandwichkonstruktion. Es handelt sich um eine der zentralen Stellen des Markusevangeliums und um eine, die zumindest beim ersten Hören mehr Ratlosigkeit als Einsicht in das ‚Mysterium‘ der Per‑ son Jesu hervorruft: Wie kann Jesus, nachdem er gerade seine große Zuhörer‑ schaft zum rechten Hören des Sämann-Gleichnisses aufgerufen hat, nun im engen Kreis sagen, ‚jenen draußen geschehe alles in Gleichnissen, dass sie als Sehende sehen und als Hörende hören, damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde‘ (V. 12)? Die Zurechnung von V. 13 zu diesem Abschnitt geschieht aufgrund der erkennbaren Struktur, einer kleinen Ringkomposition in der großen (B – C – B): V. 10 f. und V. 13, in denen je zweimal παραβολή (B) zu hören ist, rahmen die an Jes 6,9 f. angelehnten Worte über das Sehen (F F) und Hören (E E) in V. 12. Diese provokative und im Kontext auch paradoxe Aussage wird also formal beson‑ ders hervorgehoben: Sie steht im Zentrum des Zentrums: In der Mitte zwischen zwei Abschnitten, in denen über Gleichnisse gesprochen wird, die wiederum von einem Gleichnis (V. 3 – 9) und dessen Auslegung (V. 14 – 20) umrahmt sind. Ver‑ stärkt wird die Sandwichkonstruktion auf Abschnittsebene dadurch, dass πάσαι bzw. πάντα (j) jeweils gegen Ende von V. 11 und 13 zu hören ist: ‚Alles geschieht in Gleichnissen‘ (ἐν παραβολαῖς τὰ πάντα γίνεται) bzw. ‚alle Gleichnisse ver‑ stehen‘ (πάσας τὰς παραβολὰς γιγνώσκειν). In V. 14 beginnt dann, ohne erneute Redeeinleitung, die Auslegung des Gleichnisses.
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10 ‚Und als er alleine war‘ (καὶ ὅτε ἐγένετο κατὰ μόνας) setzt eine Zäsur zum Vorigen; Jesus erzählte das Gleichnis vom Sämann vom Boot aus, während die Leute auf dem Land zuhörten. Wenn Markus an einer genauen Berichterstattung gelegen wäre, hätte er die aktuelle Szene präziser dargestellt, doch er lässt offen, wo genau diese stattfindet. Wichtig scheint nur, dass ‚er‘ – der Hörer befindet sich auf einer langen Strecke (3,7 – 5,6), auf der er die Hauptperson ohne ihren Namen iden‑ tifizieren muss – nun ‚alleine‘ mit ‚denen um ihn herum mit den Zwölfen‘ (οἱ περὶ αὐτὸν σὺν τοῖς δώδεκα, h) ist – eine sehr umständliche Formulierung, die von den beiden anderen Synoptikern zu οἱ μαθηταί (Mt 13,10; + αὐτοῦ Lk 8,9) korrigiert wird.542 Markus nennt hier zwei Gruppen, die in der dritten Berufungsgeschichte und am Ende des darauf folgenden Erzählbogens ihren ersten Auftritt hatten: ‚Die Zwölf‘ (οἱ δώδεκα, vgl. 3,14.16), die Jesus aus der großen Menge auswählt und sie in besonderer Weise beauftragt, und diejenigen, die im Haus um ihn herum‑ sitzen (περὶ αὐτόν, vgl. 3,32.34). Letztere sind bei Markus eben gerade nicht die Jünger Jesu, sondern irgendwelche ‚Leute‘ (ὄχλος, vgl. 3,34). Damit ist erneut die Frage auf dem Tisch, die gegen Ende des ersten Hauptteils auftaucht: Wer gehört zu Jesus? Schon dort wurde erkennbar, dass es zwar keinen exakt definierten Kreis der Auserwählten gibt, aber durchaus ein Kriterium, das über die Zugehörigkeit ent‑ scheidet: ‚Wer den Willen Gottes tut‘ (vgl. 3,35). Natürlich kann darüber diskutiert werden, ob eine so allgemeine Bezeichnung wie οἱ περὶ αὐτόν an zwei Stellen auch die gleichen Menschen meint. Dafür spricht, dass nicht nur ‚die um ihn‘, sondern auch ‚die draußen‘ (οἱ ἔξω, V. 11), die schon in 3,31 – 35 jenen gegenübergestellt wurden, auch in dieser Szene wieder als Gegenpart auftauchen. Erwähnenswert ist zudem, dass περὶ αὐτόν sonst im ganzen Evangelium nicht mehr erklingt. Es fällt auf, dass Jesus nicht nach der Bedeutung des gerade erzählten Gleich‑ nisses gefragt wird, sondern nach ‚den Gleichnissen‘ im Plural. Auch die durative Verbform ἠρώτων weist darauf hin, dass hier nicht in einem bestimmten Moment nach etwas Konkretem gefragt, sondern Grundsätzliches verhandelt wird: Wozu dienen die Gleichnisse? Warum werden sie erzählt? 11 Auf eine kurze Redeeinleitung folgt die Antwort Jesu, die die Verse 11b – 12 umfasst. Wie bereits erwähnt, gehört V. 11 formal noch zum oberen Teil des Rah‑ mens; der Satz wäre auch ohne V. 12 vollständig und könnte theoretisch als Ant‑ wort genügen. V. 12 liefert in einem Nebensatz, eingeleitet mit der Konjunktion ἵνα, eine Erläuterung zu V. 11c. Der erste Teil der Antwort (V. 11bc) besteht aus zwei selbständigen Hauptsät‑ zen, die beide in ungewöhnlicher Satzstellung, nämlich mit dem Objekt, begin‑ nen. Dadurch wird der Kontrast zwischen den Fragestellern (ὑμίν, hvar), die ‚um Jesus herum‘ sind, und ‚jenen draußen‘ (ἐκείοις τοῖς ἔξω, hopp) besonders deut‑ lich; zudem setzt Markus die zweite Aussage durch die Adversativpartikel δέ von der ersten ab. Waren οἱ ἔξω in der Perikope 3,31 – 35 diejenigen, die draußen vor der Tür standen, kann ihnen hier kein konkreter Ort zugewiesen werden. Im 542
Vgl. Textkritik zu V. 10, S. 255.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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insgesamt vagen Setting des Intermezzos V. 10 – 13 verlieren περὶ αὐτόν und ἔξω ihre real-lokale Bedeutung und werden zu abstrakten Kategorien, die zwei offen‑ sichtlich klar unterschiedene Gruppen bezeichnen – Insider und Ausgeschlos‑ sene. Schrage weist darauf hin, dass οἱ ἔξω sowohl im jüdischen als auch im griechisch-paganen Sprachgebrauch solche genannt wurden, die aus einer Innen‑ sicht heraus als jeweils nicht Zugehörige betrachtet wurden.543 Aber wer gehört hier zu welcher Gruppe? Mehr als dass zur ersten ‚die Zwölf‘, aber nicht nur sie, gerechnet werden, erfährt das Publikum des Markus an dieser Stelle nicht.544 Sicher denkt mancher noch an das Kriterium ‚wer den Willen Gottes tut‘ (3,35). Ähnlich offen bleibt im unmittelbaren Kontext auch, was es heißt, dass jeman‑ dem ‚das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist‘ (τὸ μυστήριον δέδοται τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ). Μυστήριον verwenden die Synoptiker nur in dieser Peri‑ kope. Hinweise, was mit diesem Wort gemeint sein könnte, finden sich zunächst nur außerhalb des Textes: Im zweiten Kapitel des Buches Daniel, sind mit μυστή‑ ριον bzw. μυστήρια eschatologische Ereignisse gemeint. Dort bezieht sich der Geheimnischarakter allerdings weniger auf die generelle Verborgenheit der endzeitlichen Geschehnisse, als vielmehr darauf, dass der König sich weigert, den Traum zu erzählen, den er deuten lassen will (Dan 2,7 – 9). Gott lässt Nebukadnezar im Traum wissen, ‚was am Ende der Tage geschehen muss‘ (ἃ δεῖ γενέσθαι ἐπ’ ἐσχάτων τῶν ἡμερῶν, Dan 2,28LXX). Gott allein ist es auch, der anderen ‚die Geheimnisse‘ – den Traum und seine Deutung – offen‑ baren kann (ὁ ἀποκαλύπτων μυστήρια, Dan 2,29LXX). Die Vorstellung von den μυστήρια als eschatologischen Ereignissen wurde von der frühjüdischen Apokalyptik aufgenommen und wei‑ terentwickelt. Für die neutestamentlichen Autoren wurde sie zu einer der wesentlichen theolo‑ gischen „Bezugsgrößen“545. Aus apokalyptischer Warte sind μυστήρια „die im Himmel schon real existierenden, überschaubaren letzten Geschehnisse und Zustände, die am Ende nur aus ihrer Verborgenheit heraustreten und offen zum Ereignis werden.“546 In Dan 2 deutet Daniel den Traum Nebukadnezars als Ankündigung eines ‚anderen Königreiches, das der Gott des Himmels errichten und das in Ewigkeit Bestand haben und nicht zerstört werden wird‘ (στήσει ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ βασιλείαν ἄλλην, ἥτις ἔσται εἰς τοὺς αἰῶνας καὶ οὐ φθαρήσεται, Dan 2,44LXX).547
Auf diesem Hintergrund bekommt das ‚Geheimnis‘, von dem Markus hier redet, Konturen: Sein Inhalt, die βασιλεία τοῦ θεοῦ ist das schon real existierende Reich Gottes, das nun aus seiner Verborgenheit heraustritt. Markus formuliert, es sei 543
Vgl. Schrage, 1 Kor I, 394. Pesch verweist mit der Klassifizierung als „rabbinischer Schulausdruck für Heiden oder ungläubige Juden“ (Pesch, Mk I, 239) nur auf möglichen jüdi‑ schen Sprachgebrach (ähnlich auch Guelich, Mk I, 207). 544 Auch France ist an dieser Stelle vorsichtig mit Zuordnungen (vgl. France, Mk, 198). 545 Böttrich, Apokalyptik (NT), Abschnitt 1. 546 Bornkamm, μυστήριον, 22. 547 Der Traum Nebukadnezars (samt Daniels Deutung) korrespondiert mit der Vision Da‑ niels in Dan 7 (vgl. J. Collins, Dan, 277; Witte, Schriften, 480). In Dan 7,13 f. klingt 2,44 an (vgl. J. Collins, Dan, 311); dort wird für das Ende der Zeiten einer ‚wie ein Menschen‑ sohn‘ (ὡς υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) angekündigt und dessen ‚Königreich, das nicht zerstört werden wird‘ (ἡ βασιλεία αὐτοῦ, ἥτις οὐ μὴ φθαρῇ). Auch diese Verbindung von Königreich und Men‑ schensohn ist als Hintergrund für das Markusevangelium relevant (vgl. zu ‚Menschensohn‘ in Dan 7,13 f. und in Mk 2,10, Kap. III.2.2.4., S. 154 – 157).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
‚gegeben‘ (δέδοται). Das Passiv kann in der Linie von Dan 2,28 f. als Passivum divinum548 verstanden werden. Aber was ist mit ein Geheimnis sei ‚gegeben‘ gemeint? Matthäus und Lukas ergänzen beide γνῶναι (Mt 13,11; Lk 8,10); nach ihrer Lesart ist es gegeben, die Geheimnisse549 zu verstehen. Markus’ Formulie‑ rung klingt grundsätzlicher; das Geheimnis selbst ist es, das gegeben ist, nicht dessen Verstehen. Das kann sowohl positiv gedeutet werden – das Geheimnis selbst ist mehr als nur sein Verstehen – als auch negativ: Wenn jemandem das Geheimnis ‚gegeben‘ ist, heißt das noch lange nicht, dass er bzw. sie es ver‑ steht.550 Schon im unmittelbaren Kontext (V. 13) zeigt sich, dass Letzteres in Bezug auf die Fragesteller zutrifft. Das Perfekt δέδοται zeigt an, dass das Gege‑ bene jetzt da ist;551 auf narrativer Ebene gilt das für den Moment, in dem Jesus gerade spricht, bzw. für die ganze Zeit seit seinem ersten Auftreten in Galiläa (V. 1,14 f.). An diese programmatische Verkündigung – ‚Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen ist das Reich Gottes! Kehrt um und glaubt an das Evangelium!‘ – schließt auch die vorliegende Aussage an. Zum ersten Mal ist nun wieder vom ‚Reich Gottes‘ die Rede, das nun, so wurde am Ende der Ouvertüre deutlich, in der Person Jesu ‚da ist‘ (1,15); darin liegt das ‚Geheimnis des Reiches Gottes‘. In seinen Taten und Worten ist das Reich Gottes unter den Menschen in Galiläa gegenwärtig; es kann gesehen und gehört werden – mit sehenden Augen und mit hörenden Ohren. Dennoch bleibt das Paradox von einer offenbaren Wirklichkeit und einem verborgenen Geheimnis bestehen. Die Präsenz des Reiches Gottes in der Person Jesu im Hier und Jetzt wird nirgends im Evangelium explizit formu‑ liert; sie lässt sich nur aus den erzählten Ereignissen und interpretativen Stellen wie der vorliegenden erschließen. Zudem ist damit noch längst nicht alles gesagt: Die Gegenwart des Reiches Gottes erschöpft sich nicht in Wundern und voll‑ mächtigen Reden, im „Himmelreich auf Erden“. Zum einen muss auch der Tod Jesu am Kreuz erzählt werden, der, wie auch die Reaktion des Petrus auf die erste Leidensankündigung zeigt (8,32), so gar nicht zu dieser Vorstellung passen will. Zum anderen bleibt die Rede vom Reich Gottes in der Spannung von „schon und noch nicht“; seine Vollendung steht noch aus, die Wiederkunft des Menschensoh‑ nes ist erst angekündigt (13,26; 14,62; vgl. Dan 7,13 f.552). Nur denen, die ‚um Jesus‘ sind, ist dieses Geheimnis des Reiches Gottes gege‑ ben (V. 11b), ‚jenen aber, die draußen sind, geschieht alles in Gleichnissen‘ (ἐκεί‑ νοις δὲ τοῖς ἕξω ἐν παραβολαῖς τὰ πάντα γίνεται, V. 11c). Erst hier wird deutlich, dass Jesus tatsächlich auf die gestellte Frage nach den Gleichnissen eingeht, doch 548
Vgl. Pesch, Mk I, 238. Beide setzen an dieser Stelle, eines der gewichtigeren minor agreements, auch den Plural μυστήρια. 550 Ähnlich auch Elizabeth Struthers Malbon: „The ‚mystery‘ the followers are given is in many ways not unlike the ‚parables‘ ‚those outside‘ are given – both require active interpreta‑ tion and participation.“ (Malbon, Mark’s Jesus, 140). 551 Vgl. auch die Perfekta in 1,15. 552 Vgl. S. 257, Anm. 547. 549
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auch diese zweite Aussage lässt viel Raum für Deutungen und Vermutungen. Jesus generalisiert: ‚Alles‘ (τὰ πάντα) widerfährt der zweiten Gruppe ‚in Gleich‑ nissen‘. Im Zusammenhang mit Sehen und Hören in V. 12 leuchtet France’ Erwä‑ gung ein, τὰ πάντα meine vielleicht trotz des unmittelbaren Kontextes der Rede und der Konzentration auf das Wort in der Auslegung des Sämann-Gleichnisses (V. 14 – 20) Worte und Taten Jesu.553 Diese Deutung knüpft an den Gedanken der Präsenz des Reiches Gottes in dessen Person an, der sich in V. 11b nahelegte: Alle hören die Worte Jesu und sehen seine Taten; οἱ ἕξω nehmen sie aber nicht als Gegenwart des Reiches Gottes im Hier und Jetzt wahr, sondern höchstens als ‚Gleichnisse‘, als Bilder dafür, wie es sein wird, wenn Gott sein ewiges Reich (vgl. etwa Dan 2,44) errichten wird. 12 Die mit ἵνα angehängte Erläuterung bezieht sich nur auf die zweite Aus‑ sage, dass den Außenstehenden ‚alles in Gleichnissen geschehe‘. Formal besteht V. 12 aus drei je zweigeteilten Stichen, deren beide Hälften durch καί miteinan‑ der verbunden sind. Die ersten beiden beziehen sich auf die Konjunktion ἵνα, die V. 12 mit V. 11c verbindet, und weisen einen exakt parallelen Satzbau auf. Der dritte bietet seinerseits eine weitere Erläuterung zu den ersten beiden und beginnt mit der Konjunktion μήποτε. Der Bezug zu Jes 6,9 f. ist eindeutig erkennbar, jedoch handelt es sich nicht um ein wörtliches Zitat einer der überlieferten Fassungen dieser Stelle, sondern um eine Raffung – manches wird (fast) wörtlich übernommen, vieles aus diesen bei‑ den Versen aber einfach weggelassen. Sie stammen aus der Berufungsvision des Jesaja (Jes 6), in der gleichzeitig das Gericht Gottes gegen das Volk Israel ange‑ kündigt wird, das ‚von Sünde verpestet‘554 ist. Ein Vergleich des masoretischen Textes mit dem der Septuaginta und dem der Targumim zeigt, dass Letzterer in manchem von den ersten beiden abweicht und dem Markustext am nächsten kommt: Während in Jes 6,9 nach dem hebräischen und dem griechischen Text die Worte über das Hören und Sehen als Prophezeiung in direkter Rede an das Volk gerichtet sind und die finiten Verben dementsprechend in der 2. Person Plural ste‑ hen, beschreiben sie in der aramäischen Fassung als Relativsatz dessen aktuellen Zustand; die finiten Verben stehen dabei in der 3. Person Plural: :וימאר לך ואמרת לעם הזה שמעו שמוע ואל־תבינו וראו ראו ואל־תדעו καὶ εἶπεν Πορεύθητι καὶ εἰπὸν τῷ λαῷ τούτῳ Ἀκοῇ ἀκούσετε καὶ οὐ μὴ συνῆτε καὶ βλέποντες βλέψετε καὶ οὐ μὴ ἴδητε. Und er sprach: Geh, und sprich zu diesem Volk: Hören sollt555 ihr, immerzu hören, begrei‑ fen aber sollt ihr nicht! Und sehen sollt ihr, immerzu sehen, verstehen aber sollt ihr nicht! (Jes 6,9MT, Übersetzung Zürcher) 553
Vgl. France, Mk, 198. Jes 6,5 in der Fassung der Targumim. 555 Im Hebräischen stehen bei hören und sehen Imperative, im Griechischen Futurformen. Letztere können mit „ihr sollt“, aber genauso auch mit „ihr werdet“ wiedergegeben werden. Die Bedeutungsunterschiede sind in diesem Zusammenhang gering. 554
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a :ואמר איזיל ותימר לעמא הדין דשמעין משמע ולא מסתכלין וחזן מחזא ולא ידעין
Und er sagte: Geh und sprich zu diesem Volk, das hört, immerzu hört,556 und nicht versteht, und das sieht, immerzu sieht, aber nicht erkennt. (Jes 6,9Targ)
In Jes 6,10 sprechen der masoretische Text und die Septuaginta am Ende von ‚umkehren und geheilt werden‘, in den Targumim hingegen heißt es wie bei Mar‑ kus ‚damit sie nicht [. . .] umkehren und ihnen vergeben werde‘. Im Vergleich von V. 12 mit der Vorlage bei Jesaja spielen die beiden Konjunk‑ tionen ἵνα und μήποτε eine entscheidende Rolle: Durch ἵνα bezieht Markus das geraffte Zitat auf die vorangehende Aussage; Ähnliches geschieht in der aramäi‑ schen Fassung von Jes 6,9 durch die Relativpartikel ד־, doch sind die Bezugs größen verschieden: Im Jesajabuch ist es das Volk Israel, das seinen Gott verlas‑ sen und keine Einsicht mehr hat (Jes 1,2 – 4); im Markusevangelium sind es ‚jene draußen‘, die ‚als Sehende sehen und nicht einsehen, und als Hörende hören und nicht verstehen‘. Μήποτε bezieht sich bei Markus direkt auf diese Aussage, in der Vorlage hingegen auf ein Textstück, das der Evangelist auslässt. Auch hier liegen wieder Unterschiede zwischen den Versionen vor, die zu je anderen Sachverhalten führen. Der Teilvers Jes 6,10a wurde in den Targumim praktisch wortwörtlich aus dem masoretischen Text übernommen; er ist ein Auftrag Gottes an den Propheten: השמן לב־העם הזה ואזניו הכבד ועיניו השע (Jes 6,10aMT) טפיש לביה דעמא הדין ואודנוהי יקר ועינוהי טמטם (Jes 6,10aTarg) ‚Mach das Herz dieses Volks träge, mach seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen, . . .‘ (Jes 6,10a, Übersetzung Zürcher).
Nach der Septuaginta hingegen erklärt Gott, warum das Volk hört und nicht ver‑ steht, sieht und nichts erkennt: Ἐπαχύνθη γὰρ ἡ καρδία τοῦ λαοῦ τούτου, καὶ τοῖς ὠσὶν αὐτῶν βαρέως ἤκουσαν καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτῶν ἐκάμμυσαν, . . . ‚Fett geworden ist nämlich das Herz dieses Volkes und seine Ohren hörten mit Mühe und seine Augen hat es geschlossen, . . .‘ (Jes 6,10aLXX).
Die sprachlichen Versionen des Wortes, das Markus hier in Auszügen zitiert, wei‑ sen also eine markante Bandbreite an Aussageintentionen auf. Die wesentlichen Unterschiede sind dabei weniger auf der Ebene der Wortbedeutungen zu suchen, sondern vielmehr auf der grammatikalischen: Es hängt von der Verwendung ver‑ schiedener Verbformen und auch vom Satzbau ab, ob etwas zu einer Aussage über Vergangenes, über Zukünftiges, zu einer Erläuterung oder zu einem Auftrag 556 Auch im Aramäischen findet sich an dieser Stelle eine Figura etymologica, deshalb wurde die Formulierung der Zürcher sinngemäß übertragen.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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wird, und ob die Konjunktion פןbzw. μήποτε oder דלמאfinal oder konsekutiv gedeutet werden kann. Schon die jesajanische Vorlage für V. 12 entpuppt sich also weniger als fester Boden unter den Füßen denn als wacklige Schiffsplanken, auf denen eine gute Balance gefragt ist, um zu einer angemessenen Interpretation zu kommen. Trotz aller Variationen gilt es, eine Konstante festzuhalten: Jes 6,9 f. steht im Kontext von Gerichtsworten gegen Israel, das sich von Gott entfernt hat, und beinhal‑ tet eine mehr oder weniger harsche Variante557 des im Alten Testament häufiger begegnenden Verstockungsmotivs.558 Im eigenwillig gerafften Zitat des Markus, das als Erläuterung für V. 11c eng in seinen neuen Kontext eingeflochten wird, sind es insbesondere die Konjunktionen ἵνα und μήποτε, die ein Spektrum an Interpretationen bzw. Übersetzungsmöglichkeiten bieten, sodass die gesamte Aussage Jesu über die ‚um ihn‘ und ‚jene draußen‘ recht unterschiedlich verstan‑ den werden kann.559 Die Konjunktion ἵνα hat in ihrer Grundbedeutung finalen Charakter;560 für V. 11c.12ab ergäbe sich folgende Übersetzung: ‚Jenen aber – denen draußen – geschieht alles in Gleichnissen, damit sie als Sehende sehen und nicht einsehen und als Hörende hören und nicht verstehen.‘ Wenn hinter den Gleichnissen die Absicht Jesu oder auch die Absicht Gottes stünde, dass ‚die draußen‘ zwar alles hören und sehen, aber dennoch nicht verstehen, dann wirkt es fast zynisch, dass er unmittelbar zuvor alle seine Zuhörer zum Hören und Sehen des Sämann-Gleich‑ nisses aufrief. Dieser Anstoß schwächt sich etwas ab, wenn ἵνα konsekutiv ver‑ standen und mit ‚sodass‘ übersetzt wird;561 er bleibt jedoch bestehen. Schließlich kommt noch in Frage, ἴνα hier epexegetisch,562 als Erläuterung des Vorhergehen‑ den, zu deuten: ‚das heißt: Sie sehen als Sehende und sehen nicht ein und sie hören als Hörende und verstehen nicht.‘ In dieser Lesart sind ‚die draußen‘ nicht schick‑ salshaft dazu bestimmt, nicht zu verstehen, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat, sondern Jesus benennt einfach eine Tatsache: Trotz seines Aufrufs zum (rech‑ ten) Hören und Sehen gibt es Leute – ‚jene draußen‘, wer auch immer das sein mag –, die nicht verstehen, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat. Das ist letzt‑ 557 Der masoretische Text, in dem eindeutig Gott selbst den Auftrag gibt, das Volk zu ver‑ stocken, blind und taub zu machen, wird in den griechischen und aramäischen Versionen etwas abgemildert (vgl. Evans, To See, 67 – 69.76). 558 „Verstockungsmotiv“ ist eine so geläufige Kurzform für den gemeinten Vorstellungs‑ komplex, dass ich diese Bezeichnung übernehme, obwohl ihr eine andere (traditionsgeschicht‑ liche) Definition von „Motiv“ zugrunde liegt, als ich sie in dieser Arbeit verwende. 559 Evans bietet eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen Übersetzungsvor‑ schläge, die zu bestimmten Interpretationen führen bzw. umgekehrt aufgrund einer bestimmten Interpretation gewählt wurden (a. a. O., 92 – 96). 560 Vgl. Bauer s. v. ἵνα, Abschnitt I.: „In finalem Sinn zur Bez. d. Absicht, d. Zweckes od. d. Zieles“; LSJ s. v. ἵνα, Abschnitt B, bezeichnet es als „final conjunction“. Auch BDR, § 369; 388.2.a, und Siebenthal, § 272a, geben als Hauptbedeutung die finale an. 561 Vgl. Siebenthal, § 279a; BDR, § 388.2.a). 562 Vgl. Siebenthal, § 272 f.
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lich die gleiche Aussage wie die des Gleichnisses vom Sämann, dessen Auslegung ab V. 14 folgt. Ohne damit einer eindimensionalen Interpretation das Wort reden zu wollen, die froh ist, an dieser schwierigen Stelle doch zu einem stimmigen JesusBild zu kommen, sei erwähnt, dass diese letzte Lesart auf der ursprünglichen Linie der Targumim liegt; auch dort wird einfach der Zustand des Volkes563 beschrieben. Auch μήποτε deckt, wie schon die Jesajastelle in der Septuaginta zeigt, neben der üblichen finalen Bedeutung ‚damit nicht‘ ein weiteres Spektrum ab. Schon in der o. g. Version der Septuaginta ist eher eine konsekutive als eine finale Aussa‑ geabsicht zu vermuten. Anders als das hebräische פן, dem konsequent negativer finaler Sinn eignet,564 kann beim entsprechenden aramäischen דלמא565 und beim griechischen μήποτε566 der negative Aspekt so stark abgeschwächt werden, dass diese Konjunktionen manchmal auch als ‚vielleicht‘ verwendet werden, um eine Vermutung einzuleiten. In deutschen und englischen Bibelausgaben finden sich, soweit ich sehe, in Mk 4,12 ausschließlich die Übersetzungen ‚damit nicht‘ oder das äquivalente ‚auf dass nicht‘ bzw. ‚lest‘, die allesamt das Skandalon auf die Spitze treiben: ‚damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde.‘567 Ἐπιστρέφειν ist hier sicher als Synonym zu μετανοεῖν zu lesen. Dieser Abschluss von V. 12 steht somit völlig quer zur programmatischen Verkündigung Jesu in 1,14 f.,568 in der die Ansage, dass das Reich Gottes nun da sei, mit der Aufforderung ‚umzukeh‑ ren‘ verbunden ist. Manche Exegeten umgehen diese theologische Schwierigkeit, indem sie hier von der erwähnten Abschwächung des Negativen ausgehen und V. 12c als Ver‑ mutung auslegen. Pesch und Lührmann übersetzen etwa: „vielleicht werden sie umkehren und wird ihnen vergeben“.569 So endet die Antwort Jesu mit einem Hoffnungsschimmer und wird akzeptabel, doch ignoriert diese Interpretation die Tatsache, dass das Zitat einer Gerichtsrede entstammt, und auch, dass in keiner der drei betrachteten Versionen von Jes 6,9 f. der jeweilige Textzusammenhang diese Bedeutungsvariante nahelegt, da in allen das Verstockungsmotiv erkennbar l
563
Evans’ Interpretation, es handle sich in der aramäischen Version nur um eine bestimmte Gruppe innerhalb des Volkes, hat im Text der Targumim keinen Anhaltspunkt. Die fragliche Relativpartikel bezieht sich auf „dieses Volk“ (so auch in MT und LXX), sodass das Folgende kaum nur einen Teil davon meinen kann (vgl. Evans, To See, 70.76). 564 Vgl. Gesenius s. v. פן. 565 Vgl. Levy, Wörterbuch, s. v. דלמא. 566 Vgl. Bauer s. v. μήποτε; LSJ s. v. μήποτε. 567 So z. B. der Wortlaut bei Luther 2017 und Elberfelder. Auch das griechisch-englische Lexikon zur Septuaginta schlägt in Jes 6,10 als Übersetzung explizit „(in order) that . . . not“ vor (Lust / Eynikel / Hauspie, Greek-English Lexicon, s. v. μήποτε). 568 Generell ist der Aufruf zur ‚Umkehr‘ (μετάνοια, μετανοεῖν) ein wesentlicher Bestandteil der Verkündigung (vgl. 1,4; 6,12). 569 Pesch, Mk I, 236; Lührmann, Mk, 78. Mit anderer Nuance, aber auch abschwächend Dschulnigg: „es sei denn, dass sie umkehren und ihnen vergeben werde“ (Dschulnigg, Mk, 134; vgl. auch Guelich, Mk I, 199).
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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ist. Zu Recht kommt Evans zum Schluss, dass die Übersetzung der beiden Kon‑ junktionen mit finalem Charakter am angemessensten ist. Es ist kaum davon aus‑ zugehen, dass Markus diesen Text als Vorlage wählen und ihn so pointiert kürzen würde, wenn er das Verstockungsmotiv vermeiden möchte.570 Textintern stellt sich nun die Frage, warum und mit welcher Aussageabsicht er in der vorliegenden Form im Markusevangelium seinen Platz fand: Soll er sich glatt in seine Umgebung einfügen oder ist er als „Stolperstein“ gedacht? Diese Frage wird noch einen Moment zurückgestellt und in der Rückschau auf die gesamte Perikope V. 10 – 13 wieder aufgegriffen. 13 Der Abschluss dieses gehaltvollen Intermezzos beginnt mit einer neuen Redeeinleitung. Nach der Antwort Jesu auf die grundsätzliche Frage nach den Gleichnissen spricht Jesus ‚die um ihn mit den Zwölfen‘ – καὶ λέγει αὐτοῖς legt keinen Wechsel der Hörerschaft nahe – auf ihr Verstehen des vorhin erzählten Gleichnisses an. Dabei irritiert, dass diese gerade noch als die Privilegierten gal‑ ten, denen ‚das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist‘, doch anscheinend haben sie, wie es vielmehr von ‚jenen draußen‘ zu erwarten wäre, das SämannGleichnis nicht verstanden. Außerdem erwähnt Markus nicht explizit, dass Jesus nach der Bedeutung dieses einen Gleichnisses gefragt worden wäre. Auch V. 13 fügt sich nicht gerade geschmeidig in die Erzählung ein. Nach συνιέναι (G) in V. 12 finden sich hier mit εἰδέναι (Gvar) und γινώσκειν var (G ) zwei weitere Lemmata aus dem Wortfeld ‚verstehen‘ – offensichtlich gibt es mehrere Arten des Verstehens. In der direkten Rede, die als kleiner Chiasmus gestaltet ist, bilden sie die äußeren Elemente. Im Zentrum steht παραβολή (B), das im Singular (ἡ παραβολὴ αὕτη) auf ein ganz bestimmtes, das Sämann-Gleichnis, zurückverweist und das, wie schon in V. 10 und V. 11, im Plural (πάσαι αἱ παραβο‑ λαί) ganz generell die Gleichnisse zur Sprache bringt: ‚Ihr kapiert dieses Gleichnis nicht? Wie wollt ihr dann571 die ganzen Gleichnisse begreifen?‘ Vom Verstehen des Sämann-Gleichnisses hängt also offensichtlich ab, ob jemand überhaupt Gleich‑ nisse versteht; dieses eine Gleichnis bietet den Schlüssel zu allen anderen.572 Um diesen Schlüssel zu beschreiben, ist ein Vorgriff auf die Exegese der folgende Aus‑ legung (V. 14 – 20) nötig. Deren Kernaussage enthält zwei Aspekte, die zum Ver‑ ständnis des Intermezzos beitragen: Erstens betätigt sich Jesus selbst als Sämann, der seinen Samen, das ‚Wort‘ (λόγος, Avar–) ‚auf das Land‘ wirft (vgl. V. 1 f.). Zwei‑ tens heißt rechtes ‚Hören des Wortes‘ (ἀκούειν τὸν λόγον, E Avar–), dass das Wort angenommen wird und reiche Frucht trägt (V. 20). Wer das verstanden hat, wer erkennt, dass das Wort Jesu angenommen werden will, damit es Frucht trägt und satt macht, der hat verstanden, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat. 570
Vgl. Evans, To See, 96 f. Zur Übersetzung von καί mit ‚dann‘ vgl. Siebenthal, § 252,29 a.aa.2. 572 So auch France, Mk, 204. Auch Pesch spricht vom Sämann-Gleichnis als Schlüssel, beschreibt diesen aber nicht inhaltlich: „Sie [die Doppelfrage, Anm. d. Vfn.] gibt zu verste‑ hen, daß die Gleichnisse als Allegorien aufgefaßt werden sollen“ (Pesch, Mk I, 243; vgl. auch a. a. O., 246). 571
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
In der Rückschau erweist sich die Mitte (V. 10 – 13) der großen Sandwichkon‑ struktion V. 3 – 20 auch als inhaltliches Zentrum, in dem wichtige Themen ver‑ handelt werden und der Hörerschaft ein Interpretationsschlüssel nicht nur für die Gleichnisse, sondern für das ganze Werk mitgegeben wird. Dies verbindet dieses Intermezzo mit dem Ende des Prologs, der „Programmansage“ des Evangeliums (1,14 f.), mit dem es auch inhaltlich korrespondiert – allerdings auf paradoxe Art und Weise. Beide Male ist vom Reich Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ) die Rede; in der Ouvertüre ruft Jesus dessen Nahe-Sein aus und ohne Einschränkung zur Umkehr auf (μετανοεῖτε, 1,15), in der Gleichnisrede ist das Geheimnis des Reiches Got‑ tes den einen ‚gegeben‘, den anderen hingegen bleibt nur das ‚Nicht-Umkeh‑ ren‘ (μήποτε ἐπιστρέψωσιν, V. 12). Die Frage danach, wer zu Jesus gehört, wird mit dieser Einteilung in In- und Outsider brisanter: Ist es die freie Entscheidung derer, die das Evangelium hören und Jesu Taten sehen, ob sie erkennen, dass in der Person dieses Verkündigers und Wundertäters das Reich Gottes auf Erden gegenwärtig ist? Oder, in der härteren Auslegung der Antwort Jesu auf die Frage nach den Gleichnissen, will Gott gar nicht, dass alle das erkennen, sondern sorgt dafür, dass ‚jene draußen‘ nicht umkehren? Die theologische Grundfrage nach Vorherbestimmung und /oder Freiheit des Menschen wird hier deutlich vernehm‑ bar, doch eine einfache Lösung wird nicht serviert. Das gilt jedenfalls dann, wenn man, wie ich dem Text samt seiner Rekurrenz auf das prophetische Gerichtswort gegenüber für angemessen halte, diesem Dilemma nicht durch eine Abschwä‑ chung des ‚damit sie nicht umkehren und ihnen vergeben werde‘ zu einem ‚viel‑ leicht doch‘ ausweicht. Lässt sich dem Widerspruch zwischen der Einladung an alle und der Exklusion ‚jener draußen‘ irgendein Sinn abgewinnen? Außer dem bereits erwähnten Lösungsversuch u. a. von Pesch, Lührmann, Dschulnigg und Gue‑ lich, durch Abschwächung der Aussage in V. 12 den Widerspruch zu entschärfen,573 sind recht verschiedene Interpretationsvorschläge gemacht worden: Am Ende zum gleichen Ergebnis wie die gerade genannten Exegeten kommen auch diejenigen, die zwar dem Text an sich die Schärfe nicht nehmen, ihn aber dahingehend auslegen, dass die Verstockung dennoch nicht auf göttliche Absicht zurückzuführen sei, sondern mit ‚jenen draußen‘ Jesu Gegner oder zumindest Unver‑ ständige gemeint seien, die die Botschaft Jesu nicht verstünden und daher nicht umkehrten.574 Collins erklärt das widerständige Logion mit der gegenwärtigen Lage der Gemeinde, die den Misserfolg ihrer Verkündigung auf Gottes Ratschluss zurückführe.575 Sehr eigenständig argu‑ mentiert Gundry: „In part, then, his crucifixion will stem not from failure to achieve a goal of universal discipleship but from the successful achievement of a goal to keep outsiders from conversion and forgiveness.“.576 Im Feld der narratologischen und leserorientierten Exegese begegnet häufig die Ansicht, V. 12 sei ironisch zu verstehen.577
573
Vgl. S. 262. Vgl. Gnilka, Mk I, 165; Marcus, Mk I, 306; ähnlich auch France, Mk, 201. 575 Vgl. Collins, Mk, 249. 576 Vgl. Gundry, Mk, 196. 577 Vgl. Fowler, Let the Reader, 102; Malbon, Company, 23; van Iersel, Mk, 183. 574
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Mit V. 13 setzt Markus selbst einen ersten Kontrapunkt; paradoxerweise sind es die Insider, die das Sämann-Gleichnis nicht verstanden haben. Diese Spur – die Frage „Wer gehört nun zu den Insidern, wer zu den Outsidern?“ – wird er im zweiten Hauptteil weiterverfolgen. Der Text selbst, so die hier vertretene These, bietet in den nächsten Kapiteln Interpretationsmöglichkeiten für den Widerspruch zwischen offener Einladung an alle und Exklusion mancher an. Dementsprechend wird die genannte Frage hier offengelassen und nach dem Durchgang durch 4,35 – 8,22a nochmals aufgegriffen.578
III.3.5. Die Auslegung: Die das Wort hören (4,14 – 20) (Vgl. Abb. 18b, S. 242) In V. 15 gibt es unterschiedliche Formulierungen, wo(hin) das Wort gesät wurde – ‚in ihren Herzen‘ (ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν), ‚in ihnen‘ (ἐν αὐτοῖς) oder ‚in sie hinein‘ (εἰς αὐτούς). Die Erwähnung der Herzen findet sich unter den frühen Textzeugen nur in D und lässt sich als Einfluss der Parallelstellen Mt 13,19 und Lk 8,12 erklären; die anderen beiden Lesarten sind in etwa gleich gut bezeugt. Bei der Entscheidung für εἰς αὐτούς folge ich Greeven, der ἐν αὐτοῖς in der zweiten und dritten Variante als „partiellen Matthäuseinfluss“579 interpretiert. Schwierig zu entscheiden ist, ob sich unter den ersten Worten von V. 16 ὁμοίως befindet oder nicht;580 der äußeren Bezeugung nach ist beides möglich. Mir scheint es plausibler, es als ursprünglich zu betrachten – warum sollte es eingefügt worden sein? Inhaltlich erfüllt es durchaus eine wichtige Funktion.581 Seine Tilgung ließe sich als Glättung und als Angleichung an die Par‑ allelstellen Mt 13,20 und Lk 8,13 erklären, die ohne diesen Zusatz auskommen.582 Auch klang‑ lich leistet ὁμοίως im Zusammenspiel mit οὗτοι und οἱ einen Beitrag; es verstärkt die Dominanz von o‑, u‑ und ü‑Lauten; zudem fällt der jeweils aspirierte Wortbeginn auf. Dieser akustische Effekt wiederholt sich am Beginn der Erklärung, wer ‚diese‘ seien (οἳ ὅταν). Die Annahme der Ursprünglichkeit der längeren Version ist zugegebenermaßen nicht voraussetzungslos; sie geht davon aus, dass der kompositorische Gestaltungswille eher beim Autor als bei späteren Korrekto‑ ren zu verorten ist, denen eher inhaltliche Verbesserungen oder Angleichungen an Parallelstellen zugetraut werden. Genauso schwierig wie die Entscheidung für oder gegen ὁμοίως ist diejenige über seine Stellung im Satz: Gehört es vor oder nach εἰσιν? Beide Lesarten sind praktisch gleich gut bezeugt; im Wissen um die Willkürlichkeit entscheide ich mich für die Reihenfolge, wie sie die Mehrheit der Textzeugen, darunter auch A und B, bietet: καὶ οὗτοί εἰσιν ὁμοίως οἱ. Bei den beiden letzten Bildern, die das unterschiedliche Los des Samens beschreiben, wird unterschiedlich verwiesen auf diejenigen, auf die sie gemünzt sind. Die große Mehrheit der Textzeugen spricht wie in V. 15 und 16 auch in V. 18 und V. 19 von ‚diesen‘ (οὗτοι), ganz wenige583 bieten zu εἰσιν gar kein explizites Subjekt. Qualitativ besser bezeugt (u. a. durch ℵ, B, C, [D], L, Δ)584 sind jedoch ἄλλοι in V. 18 und ἐκεῖνοι in V. 20. Auch die Tatsache, dass eine 578
Vgl. Kap. IV.4.5. Greeven / Güting, Textkritik, 237. 580 Auch Greeven und Güting sind sich nicht einig (vgl. a. a. O., 239). 581 Vgl. zu V. 16, S. 268 f. 582 Vgl. Greevens Argumentation (a. a. O., 238). 583 Konsequent sowohl in V. 18 als auch V. 20 Θ, 28, 565; weitere Zeugen für diese Lesart in V. 18 s. Apparat NA28. 584 D hat in V. 18 ἄλλοι, in V. 20 jedoch οὗτοι. Für V. 20, in dem die Variantenbildung aus dem Apparat von NA28 nicht ersichtlich ist, vgl. Swanson, Manuscripts, 56. 579
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Angleichung an V. 15 und 16 als Korrektur eher vorstellbar ist als eine Differenzierung des Vokabulars, spricht für die Übernahme von ἄλλοι und ἐκεῖνοι. Die Sorgen (μέριμναι) zu Beginn von V. 19 werden unterschiedlich genauer bestimmt: Am besten bezeugt ist das alleinstehende Genitivattribut τοῦ αἰῶνος, das die Mehrheit der Textzeu‑ gen durch τούτου präziser als ‚dieser Äon‘ definiert – ein Ausdruck, dessen sich insbesondere Paulus des Öfteren bedient.585 An der Parallelstelle bei Matthäus (13,22) ist hingegen das glei‑ che zu beobachten: Auch dort spricht die qualitative Bezeugung für τοῦ αἰῶνος alleine, doch setzt sich wie bei Markus später der Zusatz τούτου durch. An der Markusstelle bieten manche Textzeugen (D, W, Θ, 565, 700, 1424; analog in etlichen lateinischen Übersetzungen) τοῦ βίου statt τοῦ αἰῶνος; die meisten davon (D, Θ, 565, it) verallgemeinern beim parallelen Satzglied – mehrheitlich und am besten als ‚Verführung des Reichtums‘ (ἡ ἀπάτη τοῦ πλούτου) bezeugt – zu den ‚Verführungen der Welt‘ (αἱ ἀπάται τοῦ κόσμου) und lassen konsequenterweise (so auch wieder W und 700) das dritte Glied, ‚die Begierden bezüglich der übrigen Dinge‘ (αἱ περὶ τὰ λοιπὰ ἑπιθυμίαι) weg. Bei βίος könnte im vorliegenden Kontext der Akzent auf ‚Lebensun‑ terhalt‘ liegen und so die ganze Aussage in dieser Variante stärker auf existentielle Sorgen als auf Probleme ausgerichtet sein, die Reichtum mit sich bringt. Diese Lesart ist zwar inhaltlich interessant, doch fällt die Entscheidung aufgrund der Bezeugung eindeutig für die andere, auch in NA28 aufgenommene. Zu V. 20 siehe oben zur Parallelstelle V. 8.
Ohne erneute Redeeinleitung beginnt die Auslegung des Sämann-Gleichnisses. Formal und inhaltlich folgt es streng dem Aufbau des Gleichnisses mit Einleitung und vier klar definierten Abschnitten, es fehlt jedoch die rahmende Inclusio, in der Jesus zum Hören aufruft (V. 3.9). Stattdessen enthält jeder der vier Abschnitte den Ausdruck τὸν λόγον ἀκούειν; das Hören (E) ist sozusagen in den Text selbst hineingerutscht. Das ‚Wort‘ (Avar–), das hier fast inflationär Verwendung findet, wird am Ende der Gleichnisrede in der Wendung τὸν λόγον λαλεῖν (Avar) wieder‑ holt, die das notwendige Gegenstück zum Hören bildet. Wie beim Gleichnis begin‑ nen die einzelnen Abschnitte auch jeweils mit einer stereotypen Formel: ‚[Und] diese / andere / jene . . . sind diejenigen, die‘ ([καὶ] οὗτοι / ἄλλοι / ἐκεῖνοι . . . εἰσιν οἱ, dvar k). An die einleitende Zeile schließt sich in den drei ersten Abschnitten jeweils eine einfache Ringkomposition an, die immer mit einer Aussage über das Wort (Avar–) beginnt und endet. Den letzten Abschnitt prägen wie im Gleichnis Paralle‑ lismen. Im Gegensatz zum Gleichnis mit seiner Unterscheidung zwischen einzel‑ nen Samen (Sg.), die auf schlechte Böden, und mehreren Samen (Pl.), die auf gutes Land fallen, ist es hier überall ὁ λόγος (Sg.) das gehört wird; die Hörenden stehen in allen vier Fällen im Plural. Auf diese Anfänge folgt immer eine Aussage mit dem Verb σπείρειν (c), das jedoch ganz verschieden zum Einsatz kommt. Während im Gleichnis Vergangenheitsformen dominierten, stehen nun außer den Konjunktiv‑ formen alle finiten Verben im Präsens; worum es hier geht, betrifft die Gegenwart – die der ‚um ihn‘ und die all derer, die das Markusevangelium zu ihrer Zeit hören. 14 ‚Der Säer sät das Wort‘ (ὁ σπείρων τὸν λόγον σπείρει) – mit dieser kurzen Feststellung beginnt die Auslegung. Wie schon im Gleichnis (V. 3b – 4a) domi‑ niert in der Einleitung σπείρειν; nun bleibt es nicht auf den Anfang beschränkt, 585
Vgl. Röm 12,2; 1 Kor 2,6.8; 3,18; 2 Kor 4,4.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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sondern zieht sich durch die ganze Perikope hindurch und erklingt insgesamt fünf Mal. Das ist insofern bemerkenswert, weil das bildhafte ‚Säen‘ beibehalten und nicht „übersetzt“ wird. Der Same hingegen, der in der Einleitung des Gleich‑ nisses gar nicht und im ganzen Gleichnis nur implizit (ὃ μέν, ἄλλο, ἄλλο, ἄλλα) genannt wird, wird als ‚das Wort‘ identifiziert. Es wäre ja naheliegend, dem ‚das Wort hören‘, das in den vier Abschnitten behandelt wird, ein ‚das Wort sagen‘ (τὸν λόγον λαλεῖν) voranzustellen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammen‑ hang der Befund in der Septuaginta: Τὸν λόγον λαλεῖν wird zwar immer wieder für ‚das Wort Gottes sagen‘ verwendet oder Gott selbst ‚sagt das Wort‘,586 aber genauso ist es in allen möglichen anderen Sprechsituationen zu finden. Hinge‑ gen meint τὸν λόγον ἀκούειν in der Mehrzahl der Fälle ‚das Wort Gottes hören‘. Neben anderen Formulierungen taucht es vor allem in den Prophetenbüchern als standardisierte Aufforderung auf: ἀκούετε / ἄκουε [τὸν] λόγον κυρίου.587 Dies geschieht jedoch ebenso wenig wie eine Identifizierung des Subjektes – auch er bleibt ‚der Säer‘. Dennoch ist der Bezug zur Lehre Jesu bzw. Verkündi‑ gung unverkennbar: Zum einen ist dem Publikum sicher noch die umständliche Beschreibung der Szene ‚Jesus im Meer – die Leute auf dem Land‘ präsent, mit der der dreimalige Hinweis darauf verbunden war, dass Jesus nun anfängt zu leh‑ ren, und zwar in Gleichnissen (V. 1 f.). Zum anderen wird, wie erwähnt, im Mar‑ kusevangelium τὸν λόγον λαλεῖν mehrfach synonym zu διδάσκειν verwendet588 und lässt sich an den meisten seiner 23 Vorkommen ὁ λόγος auch sinnvoll mit ‚Evangelium‘ übersetzen.589 In eine ähnliche Richtung geht die Einschätzung, in ὁ λόγος klinge an den meisten Stellen im Markusevangelium dessen frühchrist‑ licher Gebrauch als Terminus technicus für Verkündigung bzw. für Evangelium mit.590 Im Anschluss an das zum Intermezzo V. 10 – 13 Gesagte und aufgrund der gerade erwähnten intratextuellen Zusammenhänge scheinen mir jedoch die Zuhö‑ renden weniger auf ihre Erfahrungen als Verkündigende591 denn als Hörende angesprochen zu werden; das wird sich auch in den folgenden Versen zeigen. 586 2 Sam 23,2; 1 Kön 2,4; 2 Kön 9,36; 15,12; 19,21; 20,19; 24,2; 1 Chr 17,23; 21,19; 2 Chr 10,9.15; Jes 37,22; 39,8; Jer 10,1; 22,1; 27,1; 41,5; 51,16; Ez 12,25; Am 3,1; Sach 7,7. An etlichen weiteren Stellen in diesem Sinne mit Plural λόγοι. 587 Jes 1,10; 28,11; 39,5; Jer 2,4.31; 7,2; 10,1; 17,20; 19,3; 21,11; 22,2.29; 35,7; 38,10; 41,4; 49,15; 51,24.26; Ez 6,3; 13,2; 16,35; 21,3; 25,3; 34,7; 36,1.4; 37,4; Hos 4,1; Am 5,1; 7,16; 8,11; Mich 6,1 (Verszählung LXX). In Jer 22,29LXX wird ‚die Erde‘ bzw. ‚das Land‘ zum Hören auf‑ gerufen: γῆ, γῆ, ἄκουε λόγον κυρίου (vgl. auch Jes 34,1 und Jer 6,19). 588 2,2; 4,33; 8,32. Sonst nur noch in 5,36; dort in anderer Konstruktion (Partizipialkon struktion) und Bedeutung. 589 Ausnahmen sind 5,36; 11,29; 14,39; an anderen Stellen klingt ‚Evangelium‘ zumindest mit (7,13.29; 12,13). Vgl. dazu Collins: „[F]or Mark, ‚the good news‘ or ‚gospel‘ and ‚the word‘ are equivalent“ (Collins, Mk, 252). 590 Vgl. Lührmann, Mk, 88; Collins, Mk, 251; Pesch, Mk I, 243; France, Mk, 122.204. 591 So versteht Pesch dieses Gleichnis (vgl. Pesch, Mk I, 245 f.). Marcus nennt als dritte mögliche Identifikation des Sämanns (nach Gott und Jesus) die markinische Gemeinde (vgl. Marcus, Mk, 311; ähnlich auch Guelich, Mk I, 224).
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
15 Die Mischung aus übernommenen und deutenden Wörtern setzt sich fort. Eine neue Art der Übertragung kommt hinzu: Zu Beginn werden nicht einfach Wörter durch andere ersetzt, sondern das Bild aus dem Gleichnis wird aufgenom‑ men und erklärt, wer ‚diese sind‘ (οὗτοι δέ εἰσιν, dvar). In diesem ersten Abschnitt besteht auch diese Erklärung aus übernommenen und übersetzten Bezeichnun‑ gen. Sie ist etwas umständlich, aber gut nachvollziehbar: Es geht um ‚die auf dem Weg, wohin das Wort gesät wird‘ (οἱ παρὰ τὴν ὁδόν ὅπου σπείρεται ὁ λόγος); wie in allen weiteren Fällen, so wird auch hier die Bezeichnung für den Boden wortwörtlich aus dem Gleichnis übernommen. Ohne Entsprechung im Gleichnis und somit neu ist mit dem ‚Hören‘ die aktive Rezeptionsseite: καὶ ὅταν ἀκού‑ σωσιν. Im Gleichnis war es der Same, der auf den Boden ‚fällt‘ (ἔπεσεν). Hier, bei denen am Wegrand, ‚kommt sogleich der Satan und nimmt das Wort weg‘ (εὐθὺς ἔρχεται ὁ σατανᾶς καὶ αἴρει τὸν λόγον). Durch die Ergänzung von τὸν ἐσπαρμένον εἰς αὐτούς wird die Inclusio, die ὁ λόγος bei allen drei unfrucht‑ baren Böden bildet, hier beim ersten Vorkommen verstärkt. Inhaltlich wird so unterstrichen, dass das Wort wirklich ‚gesät‘ wird. Andererseits fällt aber auf, dass das ‚Hören‘ hier nicht, wie in allen anderen Abschnitten, explizit das Wort zum Objekt hat – deutet sich hier schon an, dass es bei denen, für die der harte Boden des Wegrandes steht, gar kein Gehör findet? Die Vögel (Pl.) werden über‑ setzt in den einen ‚Satan‘. Ihm, dem Hauptrepräsentanten der „finsteren Seite“ der unsichtbaren Welt,592 wird zur Last gelegt, wenn Ohren gar nicht in der Lage sind, zu hören. Die Frage aus dem Intermezzo V. 10 – 13 nach der Verantwortung dafür, dass jemand die Präsenz des Reiches Gottes in der Person Jesu nicht ver‑ steht, bekommt hier nach den Optionen „Vorherbestimmung durch Gott“ und „Entscheidungsfreiheit des Menschen“ noch eine dritte mögliche Antwort. 16 f. Ab diesem Abschnitt wird die einleitende Ankündigung, wer als nächs‑ tes beschrieben wird, zu einem Hauptsatz komprimiert. Dabei wechselt das Sub‑ jekt: Es ist nicht mehr das Wort, das gesät wird, sondern σπειρόμενοι (V. 16.18) bzw. σπαρέντες (V. 20) bezieht sich nun auf die Menschen, die beschrieben wer‑ den. Hier sind es ‚die auf steinigem Land‘ (οἱ ἐπὶ τὰ πετρώδη). Viele deutsche593 und englische594 Übersetzungen geben den Text so wieder, dass nun nicht mehr das Wort, sondern die Menschen gesät werden. So ergibt sich ein ganz anderes Bild, das der expliziten Identifikation des Gesäten mit dem Wort (V. 14) entge‑ gensteht; zudem schließt es weder an V. 15 an, noch ist es im Setting der Rede – 592
Vgl. Kap. III.2.4.3., S. 220 – 222. Luther 2017, Zürcher, Elberfelder, BiGS; so auch bei Pesch, Mk I, 242; Lührmann, Mk, 78; Schweizer, Mk, 48. EÜ 1980 hingegen übersetzt in V. 16 und analog in V. 18.20: ‚Ähnlich ist es bei den Menschen, bei denen das Wort auf felsigen Boden fällt.‘ Gute Nachricht geht in die gleiche Richtung, jedoch mit einer charakteristischen Abweichung: ‚Bei anderen ist es wie bei dem Samen, der auf felsigen Grund fällt.‘ (Hervorhebung d. Vfn.). Basisbibel und die NGÜÜ ignorieren den Wechsel und übernehmen die jeweilige Formulierung aus V. 15 auch bei den anderen Abschnitten. 594 ASV, KJV, ESV, NRSV; so auch bei Collins, Mk, 250. 593
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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Jesus im Boot, der zu den Leuten auf dem Land redet – sinnvoll zu deuten.595 Wesentlich schlüssiger ist es daher, σπειρόμενοι bzw. σπαρέντες als ‚besät‘ zu verstehen.596 Dann werden die Menschen zu solchen, auf die der Same bzw. das Wort fällt. In dieser Lesart bleibt das Gesäte das Wort, die Menschen werden mit den verschiedenen Böden verglichen, auf die er fällt.597 Dafür spricht auch das ὁμοίως598 in V. 16, das darauf hinweist, dass das Verhältnis zwischen Bildwort und Deutung im zweiten bis vierten Abschnitt ‚genauso‘ wie im ersten gedacht ist. Der Fokus verlagert sich hin zu den Menschen: Wurde in V. 15 ‚das Wort gesät‘ und anschließend die Tätigkeit des Satans beschrieben, wird nun gesagt, dass ‚sie das Wort hören‘. Wenn sie das tun, ‚nehmen sie es sogleich mit Freuden an‘ (εὐθὺς μετὰ χαρᾶς λαμβάνουσιν αὐτόν). Doch das Wort ereilt das gleiche Schicksal wie den Samen, der kaum Erde hat (V. 5): In manchen Menschen kann es keine Wurzeln schlagen. Mit dem Bild der Wurzel wird das im Gleichnis für diesen Abschnitt dominante ‚Nicht-Haben‘ (οὐκ ἔχειν, fneg) einmal wiederholt. Diese Menschen ‚haben keine Wurzel in sich‘ (οὐκ ἔχουσιν ῥίζαν ἐν ἑαυτοῖς) und sind deshalb „Kind[er] des Augenblicks“599 (πρόσκαιροι), die vom Wort genauso schnell, wie sie es annehmen, wieder abfallen (εὐθὺς σκανδαλίζονται). Dieses wiederholte εὐθύς (l) verstärkt in V. 16 f. die Inclusio, die durch ὁ λόγος entsteht, und hebt so die Kurzlebigkeit des Wortes ‚auf dem steinigen Boden‘ hervor. Die weiteren bildhaften Elemente werden übertragen: Die aufgehende Sonne, die das zarte Pflänzchen gleich wieder verdorren lässt, wird zum ‚Aufkommen von Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen‘ (γενομένης θλίψεως ἢ διωγμοῦ διὰ τὸν λόγον) und damit zum Auslöser dafür, dass das Wort hier, obwohl es ‚sogleich‘ angenommen wurde, keine Wirkung entfalten kann. Mit den Wörtern θλῖψις und διωγμός geht Markus sehr sparsam um. Das erste fin‑ det nur noch in der Endzeitrede Verwendung und beschreibt dort unvorstellbare Zustände, ‚wie es sie nie seit Anfang der Schöpfung gegeben hat‘ (13,19; noch‑ mals 13,24); der Zusammenhang lässt vermuten, dass den Hörern des Markus solche Zustände nicht fremd waren.600 Das zweite, διωγμός, ist nochmals im Zuspruch Jesu an die Jünger zu hören, dass sie als seine Nachfolger in dieser Zeit ‚mitten unter Verfolgungen‘ alles hundertfach empfangen werden, was sie ‚um meinetwillen und um des Evangeliums willen verlassen haben‘ (10,29 f.). Auch hier ist der Zusammenhang zwischen der Verfolgung und des ‚um des Wortes wil‑ 595
Anders Dronsch, die von einem „narrativen Verwirrspiel“ (Dronsch, Vom Fruchtbrin‑ gen, 302) ausgeht, in dem beides – der Same als Wort und als Menschen – beabsichtigt ist. Da‑ durch mache dieses Gleichnis zugleich Aussagen über Fruchtbarkeit des Wortes und über das Wachsen der sich konstituierenden Gemeinde (vgl. a. a. O., 301 f.308). 596 Vgl. LSJ s. v. σπείρω II.: „to sow a field“; Langenscheidt s. v. σπείρω gibt neben „(aus) säen“ auch die Bedeutung „besäen“ an. 597 France kommt inhaltlich zum gleichen Schluss, wenn er die Formulierung in V. 16.18.20 als „more shorthand form“ bezeichnet (France, Mk, 204). 598 Vgl. Textkritik zu V. 16, S. 265. 599 Bauer s. v. πρόσκαιρος. 600 Vgl. etwa Pesch, Mk II, 294.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
len‘ erkennbar, allerdings mit einer anderen Nuance. Wie in Kap. 10 und Kap. 13 liegt auch hier in der Auslegung des Sämann-Gleichnisses die Vermutung nahe, dass ‚Bedrängnis und Verfolgung um des Wortes willen‘ reale Lebensumstände derer waren, für die das Markusevangelium geschrieben wurde. Zu einer solchen Realität gehört auch, dass das Wort – oder anders gesagt, das Evangelium – ein bedrohtes Pflänzchen ist, das schnell eingehen kann. 18 f. Die einleitende Formel aus V. 16 wird übernommen und οὗτοι durch ἄλλοι ersetzt. Nun wird das Schicksal der ‚anderen‘ beschrieben, für die das Bild „unter die Disteln“ steht. Auch hier beginnt die kleine Ringkomposition, wiede‑ rum leicht variiert, mit dem ‚Hören des Wortes‘. In der Mitte steht eine Aufzäh‑ lung (ζ1, ζ2, ζ3) der Dinge, die hier das Wort an seiner Entfaltung im Hörenden hindern: die ‚Sorgen der Welt‘ (αἱ μέριμναι τοῦ αἰῶνος), die ‚Täuschung des Reichtums‘ (ἡ ἀπάτη τοῦ πλούτου) und dann zusammenfassend die ‚Begierden nach den übrigen Dingen‘ (αἱ περὶ τὰ λοιπὰ ἐπιθυμίαι). Μέριμνα, ἀπάτη, ἐπιθυ‑ μία sind allesamt Hapax legomena im Markusevangelium. Im Gegensatz zu den äußeren Bedrängnissen von vorhin bezeichnen sie die Dinge, die in den Men‑ schen ‚eindringen‘ (εἰσπορευόμεναι) und das Wort wie Disteln ein aufgehendes Weizenkorn ‚ersticken‘ (συμπνίγειν, V. 7 und V. 19). Vermutlich konnte sich der eine oder die andere im Publikum des Markus auch hier wiedererkennen. An die Ringkomposition angehängt ist das Fazit, das, in leichter Variation, auch direkt aus dem Gleichnis wiederholt wird: ‚Und es bleibt ohne Frucht.‘ (καὶ ἄκαρπος γίνεται). Zeigte sich schon im Gleichnis, dass am Ende keiner der drei ersten Samen sein Ziel, Frucht zu tragen, erreicht hat, lässt sich auch dieser Nachsatz als Fazit der bisherigen Darlegungen verstehen: Das Wort kann sich in denen, die schlechten Böden gleichen, nicht entfalten und bleibt ohne Ertrag. Oder, um im Bild zu bleiben: Es trägt keine Früchte und macht darum nicht satt.601 20 Ein drittes Mal erklingt die einleitende Formel in der komprimierten Form; nun werden ‚jene‘ (ἐκεῖνοι, dvar) beschrieben. Sie bleiben im Wortlaut des Gleich‑ nisses diejenigen, bei denen ‚auf gutes Land‘ (ἐπὶ τὴν γῆν τὴν καλὴν) gesät ist. Bei ‚säen‘ fällt der Wechsel vom Präsens (V. 15.16.18) zum Aorist (V. 20) auf, bei ‚hören‘ der umgekehrte vom Aorist (V. 15.16.18) zum Präsens (V. 20). Ist bei den ersten dreien das Hören eine punktuelle Angelegenheit, wird für sie aber unablässig gesät? Und ist bei ‚jenen‘ das Wort einmal gesät, sie hören es aber unablässig? Eine solche Intention ist zumindest denkbar. Auch οἵτινες ist bemerkenswert, mit dem die Erläuterung beginnt, was die mit dem guten Land Verglichenen auszeichnet. ‚Wer auch immer‘ oder ‚jeder, der‘ ist so inklusiv, dass alle eingeladen sind, zu ‚jenen‘ zu gehören. Das Ende der Auslegung ist dem des Gleichnisses besonders eng verwandt: An der Stelle des Dreischritts ‚Frucht bringen – wachsen – groß werden‘ (V. 8) steht hier der von ‚das Wort hören – es empfangen – Frucht tragen‘ (ἀκούουσιν τὸν λόγον καὶ παραδέχονται καὶ καρποφοροῦσιν). Geriet im Gleichnis die Reihenfolge durch 601 Vgl. die Verbindung von ‚Saat‘, ‚Brot‘ und ‚satt werden‘ in 2,23 – 28, Kap. III.2.3.5., S. 188.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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die grammatikalische Konstruktion mit zwei auf ἐδίδου καρπόν folgenden Partizi‑ pien etwas durcheinander, stimmt sie in der Auslegung: das ‚Fruchttragen‘ ist das Ziel. Die Fülle des Ertrags, die die Klimax ‚dreißig- und sechzig- und hundertfach‘ eindrücklich zu Gehör bringt, wird wortwörtlich aus dem Gleichnis übernommen. In nur einem Wort wird gesagt, was vom Hören zum Ziel führt: Παραδέχονται – wer auch immer das gehörte Wort annimmt, wer es ‚willkommen heißt‘602, wird Frucht tragen. Ähnliches wurde aber schon wesentlich enthusiastischer in einem der Negativbeispiele formuliert: ‚Sie nehmen es sogleich in Freuden an‘ (V. 16). Dort steht für annehmen λαμβάνειν. Wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Lemmata für damalige Ohren geklungen haben mag, kann nur vermutet werden. Wörterbucheinträge deuten darauf hin, dass dem Lexem λαμβάνειν eine „hand‑ feste“ Grundbedeutung – „in die Hand nehmen, anfassen, ergreifen“603 – eignet und es ein insgesamt breiteres Bedeutungsspektrum aufweist, das neben der empfan‑ genden auch eine aktivere, manchmal auch aggressivere Komponente beinhaltet.604 παραδέχεσθαι hingegen beschränkt sich eher auf „als richtig annehmen, für gültig erklären, gelten lassen“605. Letzteres ist für die Auslegung von V. 20 von Interesse; das Annehmen des Wortes umfasst demnach, ihm ‚Gültigkeit‘ für das eigene Leben zuzugestehen. Vielleicht erinnert das die eine Zuhörerin an ‚wer auch immer den Willen Gottes tut‘ (3,35) oder der andere versteht, dass der Aufruf Jesu zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium, der mit der Ankündigung des Reiches Gottes verbunden ist, ihm selbst gilt (1,15)? Dennoch, ein großer Unterschied zwischen λαμβάνουσιν μετὰ χαρᾶς und παραδέχονται lässt sich kaum herausarbeiten; neu ist in V. 20 vor allem, dass das gehörte und angenommene Wort weder von äußeren Umständen noch von Dingen, die in den Menschen ‚eindringen‘ daran gehindert wird, sondern zum Ziel kommt: ‚Sie tragen reiche Frucht‘ – καρποφοροῦσιν lässt sich grammatikalisch nur auf diejenigen beziehen, die besät wurden, nicht aber auf das Wort. Im Bild ausgedrückt hieße das, dass das gute Land die Frucht hervor‑ bringt (vgl. 4,28!), nicht, wie noch im Gleichnis selbst gesagt wurde, die Samen.606 602 ‚Willkommen heißen‘ wurde als Übersetzung gewählt, um die positive Konnotation her‑ vorzuheben. 603 Bauer s. v. λαμβάνω 1.a. Bei Langenscheidt s. v. λαμβάνω ist der erste Eintrag „(an) fassen“. 604 „The word has two main senses, one (more active) take; the other (more passive) receive“ (LSJ s. v. λαμβάνω; Hervorhebungen im Original). Bauer schlägt für Mk 4,16 „die Lehre annehmen“ (Bauer s. v. λαμβάνω 1.e.β.) vor und denkt vermutlich wie beim vorhergehenden Beispiel (Joh 12,48; 17,8) daran, dass dies „sich danach richten“ beinhaltet. In dieser Lesart sind λαμβάνουσιν μετὰ χαρᾶς und παραδέχονται kaum zu differenzieren. 605 Bauer s. v. παραδέχομαι, 1. Ähnliches findet sich auch bei Langenscheidt s. v. παραδέ‑ χομαι. In LSJ s. v. παραδέχομαι ist die Bandbreite größer und beginnt mit „I. to receive from another“, differenziert u. a. als „to receive as inheritance“. Doch auch das Spektrum der beiden genannten deutschen Wörterbücher findet sich in LSJ. 606 Ἐδίδου καρπόν in V. 8 könnte zwar theoretisch ἡ γῆ ἡ καλή zum Subjekt haben, doch die Konstruktion mit den beiden Partizipien lässt nur ἄλλα als Subjekt zu. Vgl. auch Textkritik zu 4,8, Kap. III.3.3., S. 249 f.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Biologisch gesehen geht das eine nicht ohne das andere, darum muss das Gleichnis nicht gegen seine Deutung ausgespielt werden. Auch für das Wort und die Men‑ schen, an die es gerichtet ist, gilt das Gleiche: Das Wort trägt nur Frucht, wenn es Aufnahme in einem Menschen findet, der Mensch nur, wenn das Wort in seinem Herzen Wurzeln schlägt. Diese Auslegung, die Jesus denen ‚um ihn‘ präsentiert, zeigt, dass das SämannGleichnis in dreifacher Hinsicht das Paradigma aller Gleichnisse ist, das verstan‑ den werden muss, um Gleichnisse generell zu verstehen (vgl. V. 13): Zum Ersten kommen durch die Identifikation des Samens mit ‚dem Wort‘ die beiden Grundlinien des Gleichnisses607 – der Samen, der nur auf dem guten Land Frucht bringt und so sättigen kann, und das Hören – zusammen. Was hier beschrieben wird, ist die aktuelle Situation sowohl auf der narrativen als auch auf der diskursiven Ebene: Die Leute am Seeufer auf dem Land hören das Wort, das Jesus ihnen sagt, sie hören das Evangelium, das er verkündigt. Wenn sie dieses Wort für sich gelten lassen, dann werden sie ‚umkehren‘ (vgl. 1,15 und V. 12). Gleiches gilt für die Hörer des Markusevangeliums: Auch das an sie gerich‑ tete ‚Wort‘ will angenommen werden, allen äußeren Bedrohungen und inneren Ablenkungen zum Trotz. In diesem Wort ist das Reich Gottes präsent (1,15) oder anders: in diesem Wort ist das ‚Geheimnis des Reiches Gottes gegeben‘ (V. 11). Die Auslegung löst nicht auf, wer der ‚Säer‘ ist. Das Setting der Gleich‑ nisrede und weitere intratextuelle Verknüpfungen stellen Jesus selbst als Prototyp des Säenden dar,608 doch öffnet der Text, indem er hier das Bildwort beibehält, den Horizont auf alle Situationen der Verkündigung hin, sei es im Evangelium selbst609 oder auch darüber hinaus. Es ist die Einladung an alle (οἵτινες, V. 20; vgl. ὃς ἂν in 3,35), sich auf dieses Wort einzulassen, und die Verheißung, dass das, was aus ihm wächst, reichlich satt machen wird. Nur wer Ohren hat, das zu hören (vgl. V. 9), und es annimmt, kann alles andere verstehen, was über das Reich Gottes gesagt wird. Zum Zweiten stehen in der Sandwichkonstruktion V. 3 – 20 dieses eine Gleich‑ nis und seine Auslegung in Resonanz mit dem Intermezzo, in dem Jesus nach den Gleichnissen generell gefragt wird. Im Rahmen wird unterschieden zwischen Menschen, die das Wort annehmen und ‚Frucht tragen‘, und solchen, bei denen es aus verschiedenen Gründen nicht so weit kommt; das Intermezzo unterscheidet In- und Outsider, jedoch ohne exakt festzulegen, wer zu welcher Gruppe gehört. Die Spannung zwischen Prädestination durch Gott und Entscheidungsfreiheit des Menschen wird nicht aufgelöst; während durch die spezifische Art, wie Markus das prophetische Gerichtswort ins Zentrum (V. 12) seiner Komposition einwebt, eher der Gedanke der negativen Vorherbestimmung dominiert, endet der Span‑ 607
Vgl. Kap. III.3.3., S. 254 f. Ähnlich auch van Iersel, Mk, 184 f.: „[T]he image of the sower refers to whoever pro‑ claims the word but primarily to Jesus himself“. 609 Vgl. 1,7.45; 3,14; 5,20; 6,12; 7,29.36. 608
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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nungsbogen mit einer Einladung und Verheißung für jede und jeden (V. 20). Diese theologische Grundsatzfrage – Wer hat unter welchen Bedingungen Zugang zum Reich Gottes? Oder in anderen Worten: Wer hat Anteil am Heil? – wird hier explizit gestellt und mehrstimmig beantwortet. Sie klingt in den nächsten Gleich‑ nissen mit, die das Bild des Säens aufnehmen und weiterentwickeln, und durch‑ zieht die folgenden Kapitel. Zum Dritten ist diese Auslegung in ihrer Mischung aus übertragenen und nicht übertragenen Bildworten selbst ein Gleichnis für die Gleichzeitigkeit von Offen‑ barsein und Verborgenheit, die das ‚Reich Gottes‘ auszeichnet und die im Fol‑ genden (V. 21 – 23) thematisiert wird. Dabei wird deutlich, dass auch das im Bild „Verborgene“ – seien es der ‚Säer‘ oder die verschiedenen Böden – nicht zwin‑ gend schlechter zu verstehen ist als das Übersetzte, doch auf eine Art und Weise, die etwas vom Geheimnis wahrt.
III.3.6. Offenbar und verborgen, Haben und Nichthaben (4,21 – 25) (Vgl. Abb. 18c, S. 244) Ausgerechnet in den beiden ältesten Manuskripten und in ihrem Gefolge auch in Y, f 13, 33 und 1071610 soll in V. 21 das Licht nicht ‚auf‘ (ἐπί), sondern ‚unter‘ (ὑπό) dem Leuchter stehen. Da sich diese inhaltlich unsinnige Variante als unbedachte weitere Wiederholung des ὑπό, das zuvor vor ‚Korb‘ und ‚Bett‘ steht, erklären lässt, ist die Entscheidung für ἐπί klar. In V. 22 sind οὐ γάρ ἐστιν κρυπτόν und οὐ γάρ ἐστίν τι κρυπτόν sowohl qualitativ als auch quantitativ gleich gut bezeugt. Die so starke Bezeugung der ersten, zunächst härter erschei‑ nenden611 Lesart spricht dafür, dass diese nicht einfach auf eine versehentliche Auslassung zurückzuführen ist, sondern als „gültige“ Lesart angesehen wurde. Die zweite Lesart lässt sich als Verbesserung erklären: Durch die Einfügung von τι bekommt nicht nur οὐ γάρ ἐστιν ein vom Adjektiv κρυπτόν unterschiedenes Subjekt, sondern auch der parallele Satz οὐδὲ ἐγένετο ἀπόκρυφον. Auch Matthäus und Lukas formulieren geschmeidiger; beide bieten, bei ansonsten etwas unterschiedlicher Formulierung, das Relativum ὅ als Subjekt, auf das die Adjektive als Prädikat bezogen werden. Da sich aber die vermutlich frühere Lesart ohne τι auch im Deutschen wiedergeben lässt, folge ich hier den Herausgebern von NA28. In V. 24 stehen zwei Satzteile zur Debatte. In einigen Textzeugen, darunter auch die Codices D und W und die beiden frühen (5. Jh.) altlateinischen Manuskripte b und e, endet der Vers mit ‚Mit dem Maß, mit dem ihr messt, werden ihr gemessen.‘ Sehr breit und qualitativ gut bezeugt ist die Fortsetzung ‚und es wird euch dazugegeben werden‘ (καὶ προστεθήσεται ὑμῖν); das daran angehängte τοῖς ἀκούουσιν findet sich hingegen nur in einer der frühen Majuskeln (A) und ist sonst erst ab dem 7. Jh. nachzuweisen. Die Quellenlage und das Argument, dass die kürzeste Fassung sich als Angleichung an die Parallelstellen Mt 7,2 und Lk 6,38 erklären lässt, sprechen dafür, wie NA28 καὶ προστεθήσεται ὑμῖν in den Text aufzunehmen und τοῖς ἀκούουσιν weg‑ zulassen.
Im Zentrum der Gleichnisrede stehen zwei kurze, jeweils durch καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς eingeleitete Abschnitte. Auf den ersten Blick scheinen sie von verschiedenen 610
Vgl. Swanson, Manuscripts, 57. Die Auslegung wird zeigen, dass die scheinbar härtere Lesart besser in den Kontext passt als die angebliche „Verbesserung“, die dafür sorgt, dass das Wort für sich genommen verständ‑ licher wird (vgl. S. 276 f.). 611
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Dingen zu handeln: der erste vom Verborgen- und Offenbarsein, der zweite vom Messen und Zugemessen-Bekommen. Sie bestehen aus je zwei Sprüchen (S11 / 2; S21 / 2); dazu kommen am Ende (V. 23) bzw. am Anfang (V. 24b) eines Abschnitts jeweils Aufforderungen zum Hören (H). Jeder der Sprüche für sich genommen ist so allgemein, dass er als Illustration für alle möglichen Situationen dienen könnte. Erst ihre Kombination und die Einbindung in den vorliegenden Kontext verleihen ihnen einen Deutehorizont und damit einen spezifischen Fokus. Die Flexibilität der vier Sprüche zeigt sich unter anderem dadurch, dass Matthäus und Lukas sie in von Markus leicht abweichendem Wortlaut in anderen thema‑ tischen Zusammenhängen bieten. Am nächsten zu Markus ist Lk 8,16 – 18. Dort erscheinen, in gleicher Reihenfolge und an gleicher Stelle in der Erzählung, drei der vier Sprüche und zudem ein V. 24b ähnlicher Aufruf zum Hören; es fehlt der Spruch vom Messen und Gemessen-Werden. Den von der Lampe und den vom Verborgen- und Offenbarsein wiederholt Lukas in variiertem Wortlaut je einzeln in anderen Zusammenhängen (Lk 11,33; 12,2). Den vom Messen und Gemes‑ sen-Werden verwendet er nur einmal und nicht in Kombination mit einem der anderen (Lk 6,38). Matthäus baut alle vier Sprüche einzeln ein (Mt 5,15; 10,26; 7,2; 13,12)612, wobei auffällt, dass bei ihm und Lukas die Sprüche vom Verbor‑ gen- und Offenbarsein und vom Messen und Gemessen-Werden in längeren ver‑ gleichbaren Textpassagen eingebettet sind, die Markus nicht überliefert und die für gewöhnlich Q zugerechnet werden (Mt 10,26 – 33 / Lk 12,2 – 9; Mt 7,1 – 5 / Lk 6,37 f.41 f.).613 Markus komponiert die beiden Redeeinleitungen, die vier Sprüche und die beiden Aufforderungen zum Hören zu einer kurzen, strengen Form,614 die mit synthetischen und antithetischen Parallelismen sowie fokalen Wiederholungen auf engstem Raum spielt. Die beiden Redeeinleitungen markieren jeweils einen Neueinsatz; der zweite Spruch (S12 / S22) dient jeweils zur Erläuterung des ersten (S11 / S21), an den er durch γάρ angeschlossen wird. Indem die Aufforderungen zum Hören (H) den ersten Abschnitt abschließen und den zweiten eröffnen, tref‑ fen sie in der Mitte aufeinander und bilden ein Zentrum zwischen den beiden Spruchkombinationen. Nicht nur in sich sind diese Verse dicht komponiert, sie sind mit unzähligen Fäden auch fest in ihren Kontext eingewoben. Die gerade genannten Floskeln 612
Reihenfolge der Nennung entspricht der Reihenfolge der Sprüche in Mk 4,21 – 25. Vgl. Schnelle, Einleitung, 221; Luz, Mt I, 488 (Luz vermutet, dass das „Wanderlogion“ Mt 7,2b / Mk 4,24 in einen aus Q übernommenen Bestand sekundär eingefügt wurde); Luz, Mt II, 122; Bovon, Lk I, 293; Bovon, Lk II, 244. Mt 10,26 – 33 und Lk 12,2 – 9 bieten den Spruch vom Verborgen- und Offenbarsein – in fast identischem, von Mk 4,22 und Lk 8,17 verschiede‑ nem Wortlaut – im Zusammenhang einer Ermutigung, sich nicht zu fürchten und sich vor den Menschen zu Christus zu bekennen. Mit je etwas unterschiedlichem Akzent ist es die zu verkün‑ digende Botschaft, die ‚bekannt werden‘ (γνωσθήσεται) soll. Der Spruch vom Messen und Ge‑ messen-Werden unterstreicht die Warnung davor, andere zu richten (Mt 7,1 – 5 / Lk 6,37 f.41 f.). 614 Vgl. France, Mk, 208. 613
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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über das Sehen und Hören, die hier im Zentrum stehen (V. 23.24b), sind fast identisch mit denjenigen, die in umgekehrter Reihenfolge die Inclusio um das Sämann-Gleichnis bilden (V. 3 – 9). Zudem erklingen etliche weitere Wörter aus der ersten Hälfte der Gleichnisrede wieder: [οὐκ] ἔχειν (V. 5.6.9.17; fpos / neg), διδό‑ ναι (V. 8.11) und αἴρειν (V. 15). Der ‚Scheffel‘, ein Getreidemaß (μόδιος), und auch μέτρον, das u. a. auch synonym zu μόδιος verwendet wird,615 stellen inhalt‑ liche Bezüge zu allen drei Saat-Gleichnissen her, obwohl in V. 21 – 25 das Säen gar nicht thematisiert wird. 21 f. Die beiden Sprüche, die auf die Redeeinleitung folgen, sind formal durch eine Inclusio mit dem Verb ἔρχεσθαι (m) zusammengehalten. Auffällig ist zudem das regelmäßig erklingende, vierfache ἵνα, das alle Nebensätze einleitet. Jeder Spruch ist in sich durchkomponiert: Der erste ist eine Ringkomposition, bei der ‚Lampe‘ (λύχνος, θ) und ‚Lampenständer‘ (λυχνία, θvar) die beiden verdunkeln‑ den Orte ‚unter dem Scheffel‘ (ὑπὸ τὸν μόδιον, θopp) und ‚unter dem Bett‘ (ὑπὸ τὴν κλίνην, θopp.var) umrahmen. Im zweiten Spruch verbinden sich Synthese und Opposition: Der Gegensatz ‚verborgen sein‘ – ‚offenbar werden‘ (ἐστιν κρυπτόν – φανερωθῇ, ι – ιopp) wird in paralleler Satzkonstruktion in ähnlichem Wortlaut wiederholt (ἐγένετο ἀπόκρυφον – ἔλθῃ εἰς φανερόν, ιvar – ιopp.var). Der Spruch von der Lampe ist als rhetorische Frage formuliert, die nur eine Antwort zulässt. Jeder würde eine Lampe so aufstellen, dass ihr Licht zu sehen ist. Die Begründung (γάρ) dieser Aussage durch den Spruch vom Verborgen-Sein und Offenbar-Werden bringt einen neuen, den zeitlichen Aspekt ein: Wenn jetzt etwas verborgen ist, dann nur, damit es noch offenbar wird. Zwei Besonderheiten, die leicht mit einer sprachlichen Unbeholfenheit des Autors abgetan werden könnten, helfen, diese allgemeinen Sprichwörter im vorliegenden Kontext zu verstehen. Zum Ersten ist das die ungewöhnliche Formulierung ‚die Lampe kommt‘ (ἔρχεται ὁ λύχνος), die sich nur in der Fassung des Markus findet. Bei Matthäus und Lukas hingegen wird die Lampe ‚angezündet‘.616 Manche Kommentatoren halten ἔρχεται ὁ λύχνος für einen Semitismus oder Aramaismus.617 Belege für eine auf Gegenstände angewandte „semitische“ Verwendung intransitiver Bewe‑ gungsverben sind aber offensichtlich erst in nachneutestamentlich verschriftlich‑ ten Texten zu finden.618 Für „Aramaismus“ wird das Verb ‚( אתהkommen, gehen‘) bemüht, jedoch in seinem Kausativstamm, für den die Übersetzung ‚bringen‘ lau‑ tet.619 In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass, soweit ich sehen kann, die Septuaginta Hifil-Formen von בואimmer korrekt mit φέρειν, προσάγειν oder anderen Verben wiedergibt, die ‚bringen‘ bedeuten. Warum sollte Markus das 615
Bauer s. v. μέτρον: „1. als Werkzeug des Messens – a. v. Hohlmaßen“. Mt 5,14 verwendet καιοῦν, Lk 8,16 und 11,33 ἅπτειν. 617 Vgl. z. B. Pesch, Mk I, 248; Gnilka, Mk I, 179. 618 Pesch, Mk I, 248, Anm. 6, beruft sich auf Jeremias, der als Beispiel eine Stelle aus Megil‑ lat Taanit zitiert (vgl. Joachim Jeremias, Abba, 100). Zur komplexen Frage nach der Datierung dieser aramäischen „Fastenrolle“ mit hebräischen Scholien vgl. Stemberger, Einführung, 46 f. 619 Vgl. Gnilka, Mk I, 179, Anm. 4. 616
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aramäische Äquivalent mit ἔρχεσθαι übersetzen? Er verwendet das Verb ἔρχεσθαι hauptsächlich für das Kommen und Gehen von Menschen,620 dreimal steht es für das Kommen bestimmter Zeiten (2,20; 10,30; 14,41), einmal für das ‚kommende Reich unseres Vaters David‘ (11,10).621 Der markinische Gebrauch des Wortes legt also nahe, dass tatsächlich gemeint ist, dass ‚das Licht kommt‘. Auch van Iersel findet eine sprachliche Erklärung, mit der er seine Ablehnung dieser Deu‑ tung begründet, bleibt dabei aber innerhalb des Griechischen: „ἔρχομαι is used much more generally than ‚to come‘ in English, and seems to be overloaded by this specific meaning.“622 Die Verwendung von ἔρχεσθαι als Prädikat zu λύχνος entspricht jedoch offensichtlich nicht dem normalen griechischen Sprachge‑ brauch.623 Zum Zweiten ist die vermeintlich härtere Lesart von V. 22 zu nennen:624 Anders als bei Matthäus und bei Lukas625 kommen für die markinische Formulie‑ rung der Hauptsätze dieses Verses zwei Lösungen in Frage: Versteht man κρυπτόν und ἀπόκρυφον als Subjekte – ‚es gibt nichts Verborgenes [. . .] und es gibt nichts Geheimes‘ (οὐ γάρ ἐστιν κρυπτόν [. . .] οὐδὲ ἐγένετο ἀπόκρυφον) –, wird dieser Parallelismus membrorum zu einer allgemeinen Aussage.626 Doch was würde ein so generelles Votum inhaltlich im vorliegenden Kontext bedeuten? Grammati‑ kalisch schwierig ist zudem, dass, folgt man der Schreibweise von NA28,627 hier enklitisches ἐστίν und nicht das Vollverb ἔστιν vorliegt, das zu erwarten wäre, 620
An 78 von den insgesamt 85 Vorkommen von ἔρχεσθαι. An den zwei übrigen Stellen ist es in andere Ausdrücke eingebunden, die nicht mit 4,21 vergleichbar sind: In 5,26 heißt es von der blutflüssigen Frau, es ginge ihr nach den vielen Arzt‑ besuchen eher schlechter – wörtlich: ‚sie kam zum Schlimmeren‘ (εἰς τὸ χεῖρον ἐλθοῦσα). In 14,38 ruft Jesus in Getsemani die schlafenden Jünger auf, wachsam zu sein, ‚damit ihr nicht in Versuchung kommt‘ (ἵνα μὴ ἔλθητε εἰς πειρασμόν). 622 Van Iersel, Mk, 188. Sehr ähnlich argumentiert auch France, Mk, 208, Anm. 6. 623 Eine TLG-Lemma-Suche „ἔρχεσθαι and λύχνος within 3 words“ (Zugriff: 29.07.2017) erbrachte außer der Markusstelle nur ein weiteres Ergebnis; dort steht die Lampe ganz eindeu‑ tig für eine Person: Origenes spricht in seiner 21. Homilie zum Lukasevangelium vom Täufer Johannes als der Lampe, die kommt – notabene als Vorläufer zum ‚wahren Licht‘, über das ‚die Lampe spricht‘: Ἀλλ’ ἦν πρόδρομος Χριστοῦ ‹ἡ φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ›, ψυχῇ τῇ [μὴ] ἐχούσῃ πόλεμον· καὶ οὐ τότε δὲ μόνον, ἀλλὰ καὶ νῦν πρῶτος ‹ὁ λύχνος ὁ καιόμενος καὶ φαίνων› ἔρχεται ‹κηρύσσων βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν›, εἶτα μετὰ τοῦτον ἔρχεται ‹τὸ φῶς τὸ ἀληθινόν›, περὶ οὗ φησιν ὁ λύχνος· ‹ἐκεῖνον δεῖ αὐξάνειν, ἐμὲ δὲ ἐλαττοῦσθαι›. (Or. hom. Luc. 21.3; Hervorhebung d. Vfn.). 624 Vgl. Textkritik zu V. 22, S. 273. 625 Lukas formuliert in 8,17 die Finalsätze zu Relativsätzen um, die dann Subjektfunktion übernehmen; in Mt 10,26 und Lk 12,2 übernimmt οὐδέν, das οὐ ersetzt, die Funktion des Sub‑ jekts. 626 Die exakte Wiedergabe des Parallelismus membrorum im Deutschen ist schwierig. Im Griechischen werden hier zwei verschiedene Verben und zwei fast identische Adjektive verwen‑ det. Im Deutschen gibt es keine klanglich so eng verwandten Adjektive, die den Inhalt adäquat darstellen würden. So habe ich mich dafür entschieden, im Deutschen die Variation vom Verb auf das Adjektiv zu verschieben. 627 So auch die von späterer Hand hinzugefügte Akzentsetzung im Codex Vaticanus. 621
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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wenn ‚es gibt, es existiert‘ gemeint ist.628 Postuliert man hingegen ein impli‑ zites Subjekt, wird das enklitische ἐστίν regelkonform zur Kopula. So werden aus generellen Aussagen solche, die sich auf etwas Spezifisches beziehen: ‚Es ist nämlich nicht verborgen [. . .] und es ist nicht geheim‘. Nachdem V. 22 als Erklä‑ rung zu V. 21 fungiert, liegt es nahe, dass das implizite Subjekt mit der Lampe zu tun hat, wenngleich diese selbst wegen des Genus nicht dafür in Frage kommt. In diese Richtung weist auch die formale Gestaltung des Doppelspruches. Der erste und der letzte Stichos bilden eine inhaltliche Klammer, die das Wesentliche auf den Punkt bringt: ‚Die Lampe kommt‘ ([μήτι] ἔρχεται ὁ λύχνος) – ‚damit es an die Öffentlichkeit komme‘ ([ἀλλ’] ἵνα ἔλθῃ εἰς φανερόν). Ἔρχεσθαι, so unkonventionell eingesetzt und prominent hervorgehoben, ruft die Erinnerung an das Kommen Jesu wach.629 Es erklingt in diesem Sinne durch das ganze Evan‑ gelium hindurch – von der Ankündigung des Kommens des ‚Stärkeren‘ durch Johannes (1,7), Jesu ἦλθον-Aussagen (1,38; 2,17) bis hin zu seinen beiden Ankündigungen des eschatologischen Kommens des Menschensohnes (13,26; 14,62). Im Verlauf der bisherigen Erzählung stand das ‚Kommen‘ oder auch ‚Hinausgehen‘ (ἐξέρχεσθαι) Jesu als Verkündiger oder Lehrer im Vordergrund,630 wie ihn im ersten Gleichnis auch der ‚Säer, der ausging zu säen‘ repräsentiert (V. 3). Andere Aspekte des Kommens Jesu zeigten sich bisher im Ausspruch eines Dämons – ‚gekommen, um uns zu vernichten‘ (1,24) – und in seinem eigenen Statement ‚gekommen, um Sünder zu rufen, nicht Gerechte‘ (2,17). Auf diesem Hintergrund lässt sich das Bild der Lampe als eine weitere Variation des Motivs des ‚Kommens Jesu‘ hören: Dieser ist die Lampe, die kommt und hell macht. In seinem Kommen wird das, was verborgen war oder auch noch ist, offenbar: Die Annahme liegt nahe, dass es (V. 22) für das steht, was zuvor ‚das Reich Gottes‘ oder auch ‚das Geheimnis des Reiches Gottes‘ (V. 11) genannt wurde. Nach V. 13, der das Unverständnis der Jünger thematisiert, wird hier ein nächster Kontra‑ punkt zu den schwierigen Worten in V. 11 f. gesetzt:631 Wurde dort die Lehre in Gleichnissen für ‚jene draußen‘ damit begründet (auch dort ἵνα), dass diese nicht begreifen sollen, steht hier das vierfache ἵνα für das Gegenteil: Natürlich kommt, der da kommt, damit sein Licht für alle sichtbar werde und damit in seinen Wor‑ ten und Taten das nahegekommene Reich Gottes erkennbar wird. 23.24ab Zwischen den beiden Doppelsprüchen und damit in der Mitte der ganzen Gleichnisrede steht die geballte Aufforderung zu ‚hören‘ (ἀκούειν, E) bzw. zu ‚sehen‘ (βλέπειν, Fvar). Diese Verdichtung wird durch die Redeeinleitung in V. 24a möglich, die einen Neuanfang setzt, nach dem das Vorige nochmals 628
Vgl. Siebenthal, § 125.b. Diesen Hinweis verdanke ich Kurt Keller (private Korrespon‑ denz vom 03.06.17). 629 Vgl. Pesch, Mk I, 249; Schweizer, Mk, 50. So auch Gnilka trotz Klassifizierung des ἔρχεσθαι hier als Semitismus („Dabei kann Markus bei der personalen Formulierung ‚Kommt etwa die Lampe‘ durchaus an Christus gedacht haben.“ [Gnilka, Mk I, 180]). 630 1,14.38.39. 631 Ähnlich auch France, Mk, 209.
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aufgenommen werden kann. In geringfügiger Abweichung wiederholt V. 23 die Aufforderung, die in V. 9 das Sämann-Gleichnis abschließt: ‚Wenn jemand Ohren hat zu hören, der höre!‘ (εἴ τις ἔχει ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω). Wie dort schwingt auch hier die Schwierigkeit des rechten Hörens mit.632 Gleichzeitig kann dieser Imperativ auch als Einladung verstanden werden, das gerade Gesagte ‚anzuneh‑ men‘ (vgl. V. 20). V. 24b nimmt zwar das Sehen und Hören aus V. 3 wieder auf, variiert jedoch stärker. ‚Seht, was ihr hört!‘ (βλέπετε τί ἀκούετε) fordert nicht einfach zum ‚Sehen‘ auf, sondern dazu, genau hinzuhören, was im Folgenden gesagt wird. Wie in V. 23 wird auch hier deutlich, dass Verstehen nicht selbstverständlich ist. 24c.25 Der zweite Doppelspruch ist charakterisiert durch fokale Wiederholun‑ gen. Während im ersten dreimal μέτρον bzw. μετρεῖν (κ) zu hören ist, kreist der zweite um das Haben (dreifaches ἔχειν, f). Alle Nebensätze beginnen mit einem Relativum; sie stehen immer von dem Hauptsatz. Auffällig, durch das gleich‑ bleibende Suffix ‑θήσεται auch akustisch als Repetition bemerkbar, ist zudem das viermalige Passiv Futur der 3. Person Singular, das meistens als Passivum divinum633 verstanden wird und hier immer in Kombination mit einem Perso‑ nalpronomen (ὑμεῖς, αὐτός) steht, das bezeichnet, an wem gehandelt wird. War es in V. 22 das gegenwärtige Verborgensein des Reiches Gottes, das allein seine Offenbarung zum Ziel hat, ist es hier das Tempus, das die zeitliche Dimension ins Spiel bringt. Gottes zukünftiges Handeln wird angekündigt und in Relation zum gegenwärtigen Handeln bzw. Sein der Menschen gesetzt. Im Spruch vom Messen werden die Zuhörer direkt angesprochen: ‚Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.‘ (ἐν ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε μετρηθήσεται ὑμῖν). Diese Aussage kann auch in der hier vorliegenden Fassung auf alles Mögliche bezogen werden. Eine lose Verbindung zum Kontext ergibt sich durch μέτρον, das in seiner Bedeutungsvielfalt als ‚Maß‘ auch die Synony‑ mität zum Getreidemaß μόδιον umfasst, in dem sich das Thema der umgeben‑ den Gleichnisse spiegelt. Dieser Anklang wird durch ‚und euch wird noch mehr gegeben werden‘ (καὶ προστεθήσεται ὑμῖν) deutlicher. Der Satz ist, was er aus‑ sagt – eine Dreingabe, die nicht zwingend nötig wäre. Προστεθήσεται ὑμῖν dop‑ pelt μετρηθήσεται ὑμῖν formal nach und geht inhaltlich darüber hinaus. Dieses unverhoffte Mehr-als-genug war auch schon im bis zu hundertfachen Ertrag auf dem guten Boden (V. 8.20) zu beobachten. Begründet wird diese über das verdiente Maß hinausgehende Zuteilung mit V. 25 – ‚Denn wer hat, dem wird gegeben werden.‘ (ὃς γὰρ ἔχει, δοθήσεται αὐτῷ). Das würde als Erklärung schon genügen, doch auch hier wird nachgedoppelt, nun aber, indem das Gegenteil benannt wird: ‚Und wer nicht hat, dem wird auch 632
Vgl. Kap. III.3.3., S. 254. Pesch verwendet den Terminus technicus explizit (vgl. Pesch, Mk I, 252), doch auch ohne diesen Fachausdruck gilt in der Sekundärliteratur einhellig Gott als Urheber des Gebens bzw. des Wegnehmens in V. 24 f. 633
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das, was er hat, weggenommen werden.‘ (καὶ ὃς οὐκ ἔχει, καὶ ὃ ἔχει ἀρθήσεται ἀπ’αὐτοῦ). Die Verben vertiefen die Spur, die zum Sämann-Gleichnis zurückführt: Im zweiten Fall, in dem der Same zwischen die Steine fällt, ist ἔχειν gleich drei‑ mal zu hören, jedes Mal wie hier in der zweiten Aussage verneint (V. 5 f.); in der Auslegung werden damit diejenigen identifiziert, in denen das Wort keine Wurzeln schlagen konnte (V. 16 f.), sodass sie in Bedrängnis und Verfolgung gleich wieder abfallen. Positiv erklingt ἔχειν in ‚Ohren haben zu hören‘ am Ende des Gleich‑ nisses (V. 9) und auch im Abschluss des ersten Doppelspruches (V. 23).634 Mit Haben und Nicht-Haben sind die beiden anderen gegensätzlichen Verben ‚geben‘ und ‚wegnehmen‘ gekoppelt (δοθήσεται, ἀρθήσεται), die an den ersten und letz‑ ten Fall im Sämann-Gleichnis erinnern. Während denen ‚am Wegrand‘ der Satan das Wort gleich wieder wegnimmt (ἄιρει τὸν λόγον, V. 15), bringt der Same ‚auf dem guten Boden‘ Frucht (ἐδίδου καρπόν, V. 8). Und nicht zuletzt war gerade erst vom Geheimnis des Reiches Gottes die Rede, das Euch ‚gegeben ist‘ (ὑμῖν τὸ μυστήριον δέδοται, V. 11). In diesen motivischen Wiederholungen gewinnt das allgemeine Wort vom Messen und Zugemessen-Werden Konturen: Über das Maß hinaus, in dem jemand hört, über das Maß hinaus, in dem das Wort in ihm Wurzeln schlägt, wird er beschenkt werden und mehr als genug zum Leben haben.635 Der Nachsatz in V. 25 hat keine Entsprechung in V. 24, sondern hält die Erinnerung daran aufrecht, dass das Wort nicht in allen Fällen zum Ziel kommt. Es wird den‑ jenigen schnell wieder ‚weggenommen werden‘, in denen es ‚keine Wurzeln hat‘. Die vier Sprüche im Zentrum der Gleichnisrede werden im Text selbst nicht ‚Gleichnisse‘ (παραβολαί) genannt, sind aber mindestens ebenso erklärungsbe‑ dürftig. Jeder für sich genommen lässt sich auf ganz verschiedene Situationen anwenden. Erst ihre Kombination, die Einfügung der wiederholten Aufforde‑ rung zum Hören und ihre enge motivische Verknüpfung mit dem Kotext eröffnen einen bestimmten Interpretationsraum. Bei der Interpretation stellt sich erneut die Frage nach den Adressaten. Deuten schon die Redeeinleitungen darauf hin, dass Jesus diese Worte noch im kleinen Kreis äußert,636 ist es auch inhaltlich schlüssig, sie noch auf die Frage nach den Gleichnissen (V. 10) zu beziehen.637 Auf die erste grundsätzliche Antwort (V. 10 – 13), die mit der Einteilung in zwei Gruppen (‚ihr‘ – ‚jene draußen‘) einherging und die den Anschein hinterließ, die Gleichnisse könnten dazu dienen, bestimmte Menschen vom Reich Gottes aus‑ zuschließen, folgt zunächst die Erklärung des Sämann-Gleichnisses (V. 14 – 20). Schon diese machte deutlich, dass ‚das Wort‘, das in Gleichnissen vorgetragen wird, verstanden werden will. Die darauf folgende Spruchkomposition bekräf‑ 634
Auch France stellt diesen Bezug her (vgl. France, Mk, 211). Vgl. van Iersel, Mk, 189; France, Mk, 211. 636 Vgl. Kap. III.3.1., S. 239. 637 Vgl. auch Lührmann, Mk, 89; van Iersel, Mk, 188; Gnilka, Mk I, 180.182. Collins zieht in Betracht, dass auch schon ab V. 21 die Leute am Ufer wieder Adressaten sein könnten (Collins, Mk, 256). 635
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tigt in ihrer ersten Hälfte mit dem Bild der Lampe, die kommt, dass mit Jesus „Licht in die Sache kommt“; seine Gleichnisse sollen das Reich Gottes vor nie‑ mandem verbergen, sondern es offenbar machen. Die zweite Hälfte widmet sich der anderen Seite, den Empfängern: Ohne ihre Bereitschaft, das Wort zu hören und anzunehmen, geht es nicht. Wie schon das Sämann-Gleichnis und das Inter‑ mezzo (V. 10 – 13) ist auch diese Mitte der Gleichnisrede mehrstimmig kompo‑ niert: Neben dem Cantus firmus der Zusage und der Verheißung verstummt der Kontrapunkt der Warnung nicht. Der Aufruf zum rechten Hören begleitet als dritte Stimme die beiden anderen.
III.3.7. Es wächst von selbst (4,26 – 29) (Vgl. Abb. 18d, S. 246) Die Lesarten ὡς ἐὰν / ἂν ἄνθρωπος und ὡς ἄνθρωπος ὅταν in V. 26 lassen sich als Versuche der Verdeutlichung erklären. Die am besten bezeugte und hier übernommene Kurzfassung ὡς ἄνθρωπος könnte als Gleichsetzung des Menschen mit dem Reich Gottes miss‑ verstanden werden; die Zusätze ἐὰν, ἂν oder ὅταν helfen, die gesamte Erzählung als Bild für das Reich Gottes zu verstehen, und glätten auch grammatikalisch, da so die folgenden Konjunktive plausibel werden. Die Varianten zu Beginn von V. 28, die durch γάρ oder ὅτι eine Satzverbindung herstellen, lassen sich ebenfalls als „Verbesserung“ der am besten bezeugten asyndetischen Kurzfassung plausibilisieren.
Eine erneute Redeeinleitung markiert den Neubeginn der nächsten Perikope. Καὶ ἔλεγεν nennt keine Adressaten. Diese offene Formulierung war zuletzt am Ende des Sämann-Gleichnisses (V. 9) zu hören, zum Abschluss der öffentli‑ chen Szene; ein weiteres Mal folgt sie zu Beginn des dritten Saat-Gleichnisses (V. 30).638 Dieser Befund und die Tatsache, dass nun ein weiteres Saat-Gleichnis folgt, legen nahe, dass man sich als Publikum nun wieder die am Ufer versam‑ melten Leute vorzustellen hat, obwohl der Text keinen expliziten Szenenwechsel erkennen lässt. Der Beginn ‚So ist die Königsherrschaft Gottes‘ (οὕτως ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ) ist vom Rest abgesetzt; alles auf das erste ὡς Folgende lässt sich als Ausführung dieses οὕτως verstehen. Diese Ausführung ist formal nicht sehr streng durchgestaltet, gleichwohl fungieren einige bereits aus dem SämannGleichnis bekannte Stichworte strukturierend: ‚Der Samen‘ (ὁ σπόρος, cvar)639 gliedert die erste Hälfte (V. 26c.27), das ‚Fruchttragen‘ bzw. ‚die Frucht‘ (καρπο‑ φορεῖν / ὁ καρπός, gpos) die zweite (V. 28 f.). In beiden Hälften ist das erste Vor‑ kommen des Stichworts mit ‚der Erde‘ (ἡ γῆ, b) gekoppelt. 26ab Die folgende kurze Geschichte wird auch ohne die Bezeichnung παρα‑ βολή ausdrücklich als Gleichnis über das Reich Gottes deklariert – ‚es ist so [. . .] 638
Im Markusevangelium nur noch ein weiteres Mal zur Einleitung des Gebets Jesu in Getsemani (14,36); alle anderen dreizehn Vorkommen von καὶ ἔλεγεν ziehen ein Dativ-Objekt nach sich. 639 Das Nomen fand bisher keine Verwendung, dafür aber sowohl im Sämann-Gleichnis wie auch in seiner Auslegung das Verb σπείρειν.
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wie‘ (οὕτως ἐστίν [. . .] ὡς). Ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ erklang in der Gleichnisrede bisher nur im Intermezzo (V. 11); im Sämann-Gleichnis und auch in der Spruch‑ kombination war der Bezug zum Reich Gottes nur implizit gegeben. 26c.27 Inhaltlich ist die Beschreibung der Szene kaum von der im SämannGleichnis zu unterscheiden. Beide Male heißt es, dass jemand aussät. Lag die Betonung in V. 3 auf dem Vorgang des Säens und war dort der Säende mit dem Partizip als solcher benannt, steht hier ‚der Same‘ (ὁ σπόρος) im Vordergrund; es ist ‚irgendjemand‘, wörtlich ‚ein Mensch‘ (ἄνθρωπος), der den Samen ‚auf die Erde‘ (ἐπὶ τῆς γῆς) wirft. Die Satzkonstruktion – ὡς mit folgenden Verben im Konjunktiv – ist für die neutestamentliche Zeit zumindest ungewöhnlich;640 meistens wird angenommen, dass ἄν oder ἐάν ergänzt werden müssten.641 Jeden‑ falls wird durch die Folge von fünf von ὡς abhängigen Konjunktivformen deut‑ lich, dass das Reich Gottes nicht allein mit ἄνθρωπος oder dessen Säen, sondern mit der ganzen Geschichte verglichen wird. Nach der Aussaat – der Aorist βάλῃ deutet auf eine einmalige Aktion hin – scheint sich der ‚Jemand‘ nicht mehr um den Acker zu kümmern. Markus berichtet jedenfalls nicht darüber, sondern sagt nur, dass jener ‚schläft und aufsteht‘ (καθεύδῃ καὶ ἐγειρηται, μ μopp). Sowohl die Durative als auch die parallel dazu gesetzten Zeitangaben ‚nachts und tags‘ (νύκτα καὶ ἡμέρα, μvar μvar.opp) sprechen dafür, dass es sich um eine längere Peri‑ ode handelt. Danach richtet sich der Fokus auf den Samen, er ‚geht auf und wächst empor‘ (βλαστᾷ καὶ μηκύνηται, δ1 δ2). Die präsentischen Verbformen bezeichnen auch hier einen länger andauernden Vorgang, der Konjunktiv sorgt nochmals für die grammatikalische Abhängigkeit von ὡς. Mit dem Aufgehen und dem Empor‑ wachsen sind die ersten beiden Schritte zum Ziel, dem Fruchttragen, getan; anders als beim Sämann-Gleichnis ist nichts vom Scheitern in den verschiedenen Stadien zu hören. Stattdessen wird mitgeteilt, dass er – αὐτός lässt sich sinnvoll nur auf ἄνθρωπος beziehen – nicht weiß, wie dieses Wachstum geschieht (ὡς oὐκ οἶδεν αὐτός). Diese Bemerkung, von einem zweiten ὡς mit sehr begrenz‑ ter Reichweite eingeleitet, beendet die Reihe der konjunktivischen Verbformen. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende; auch das Folgende gehört noch zum Gesamtbild dazu, mit dem das Reich Gottes verglichen wird. 640 Bauer nennt sie gar „unerträglich“ (Bauer s. v. ὡς I.4.c). LSJ bringt Beispiele aus Ho‑ mers Gleichnissen für ὡς + Konjunktiv (ohne ἄν oder ἐάν; vgl. LSJ s. v. ὡς Ab.I.1.), Moule argumentiert innerhalb des Neuen Testaments, verweist auf einen ähnlichen Gebrauch des Kon‑ junktivs in Lk 11,5 f. und schlägt für dieses Phänomen die Bezeichnung „parabolic subjunc‑ tive“ vor (Moule, Idiom Book, 23; Hervorhebung im Original). Smyth Weir, Greek Grammar, § 2841, hingegen nennt (ohne Angabe bestimmter Epochen) einfaches ὡς mit Indikativ oder Konjunktiv „regularly used“ „in poetry in similes and comparisons“. 641 Vgl. France, Mk, 213, Anm. 18. Pesch hingegen beruft sich auf Moule und deklariert den Modus der Verben in V. 26c.27 als „parabolischen Konjunktiv“ (Pesch, Mk I, 256). Die Textgeschichte weist darauf hin, dass die vorliegende Lesart als ergänzungsbedürftig wahrge‑ nommen wurde (vgl. Textkritik zu V. 26). Marcus verweist auf den Sprachgebrauch in rabbini‑ schen Gleichnissen und erklärt ὡς als Semitismus (vgl. Marcus, Mk I, 322 f.).
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28 f. Die zweite Hälfte des Gleichnisses knüpft inhaltlich an das ‚Nicht-wis‑ sen-Wie‘ an, setzt aber durch einen asyndetischen Satzanschluss eine Zäsur. Zudem ist nun nicht mehr vom Samen die Rede, sondern von der Frucht (καρπο‑ φορεῖν / καρπός). Diese wird, ähnlich wie in V. 20, von der Erde hervorgebracht. Das tut sie – so die Erklärung dafür, dass der Protagonist der Geschichte nicht weiß, wie der Samen wächst – ‚von selbst‘ (αὐτομάτη). Der begonnene Reife‑ prozess (δ1 / 2) wird weiterverfolgt, indem das ‚Fruchtbringen‘ in weitere Stadien (εvar1 / 2 / 3) differenziert wird, von denen im engeren Sinne nur das Letzte als sol‑ ches gelten kann. Hervorgebracht wird ‚zuerst der Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre‘ (πρῶτον χόρτον εἶτα στάχυν εἶτα πλήρης σῖτον ἐν τῷ στάχυϊ). Auch hier ist eine Verwandtschaft zum Sämann-Gleichnis, insbeson‑ dere zu V. 8, offensichtlich; hier wie dort wird nicht nur das Wachstum und das Erreichen des Zieles konstatiert, sondern in einem Dreischritt auch die Fülle des Ertrags hervorgehoben. Diese äußert sich nun nicht in Zahlen, sondern durch das ‚volle Korn‘ und die im Vergleich zu den vorhergehenden Stadien (δ1 / 2, εvar1 / 2) ausführliche Beschreibung des tatsächlichen Fruchttragens (εvar3). Wer das Sämann-Gleichnis und seine Auslegung im Ohr hat, hört diese Geschichte wie dessen Variation, die sich auf den letzten Fall, das gute Land, konzentriert. War schon dort die weitere Arbeit des Bauern kein Thema, wird in der Variation explizit darauf hingewiesen, dass der Wachstumsprozess von alleine geschieht und der Säende nicht weiß, wie er vonstatten geht. Alles läuft auf den reichen Ertrag hinaus. Die Geschichte ist jedoch noch nicht zu Ende. ‚Wenn aber die Frucht es zulässt‘ (ὅταν δὲ παραδοῖ ὁ καρπός), wenn das Korn reif ist, macht ‚er‘ sich an die Ernte: ‚Er schickt sogleich die Sichel, denn die Ernte ist nun da.‘ (εὐθὺς ἀποστέλλει τὸ δρέπανον ὅτι παρέστηκεν ὁ θερισμός). Wie schon bei οὐκ οἶδεν (V. 27) kann das implizite Subjekt von ἀποστέλλει nur wieder ἄνθρωπος sein, der hier zwar aktiv wird, dessen Identität für die Geschichte aber keine Rolle zu spielen scheint. In der gewählten Formulierung klingen deutlich Gerichtsworte aus Joel 4,13 an, in denen die Ernte für das Richten JHWHs am ‚Tag des Herrn‘ (ἡμέρα κυρίου, Joel 4,14LXX) steht. Israel wird Frieden und überbordende Fülle verheißen, den Völkern jedoch Verderben (Joel 4,17 – 19). Wie bei jedem Zitat stellt sich die Frage, welche Konnotationen aus seinem ursprünglichen Kon‑ text mitgehört werden bzw. mitgehört werden sollen. Einem unbedarften Hörer, der das Joelbuch nicht kennt, liegt der Gerichtsgedanke vermutlich fern. Nichts in der bisherigen Geschichte weist in diese Richtung – im Gegenteil, die Ernte ist der nächste logische Schritt, um den Wert, den das ‚volle Korn‘ bietet, auch nutzen zu können. Nur wenn es geerntet wird, kann es auch satt machen. Die‑ ser Gedanke fügt sich in den Erzählverlauf des Markusevangeliums gut ein; er dient als Wegbereiter von den Saat-Gleichnissen hin zu den Geschichten rund ums ‚Brot‘ (ἄρτος). Im nächsten Hauptteil wird ἄρτος zu einem der wichtigsten Schlüsselwörter, mit denen das Thema des Wortes und des rechten Hörens und Verstehens weiterentwickelt wird.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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Doch auch eine Hörerin, die diese Worte als Zitat aus dem Joelbuch erkennt, wird nur schwerlich die negative Konnotation der Ernte und die ‚Bosheit der Völker‘ (LXX τὰ κακὰ αὐτῶν), mit der der zitierte Vers in der Vorlage endet, im markinischen Gleichnis wiederfinden.642 Auch die Ausrichtung des gesamten Markusevangeliums bietet kaum einen Anhaltspunkt zur Verortung dieser Unter‑ scheidung zwischen dem bevorzugten Volk Israel und anderen Völkern. Immer wieder sind es gerade Heiden wie die Syrophönizierin oder der Hauptmann unter dem Kreuz,643 die als Vorbilder des Glaubens dargestellt werden. Zudem ist festzuhalten, dass Markus diesen negativen Schluss des Verses gerade nicht zitiert. Zwei unterschiedlich nuancierte Interpretationen von V. 29 scheinen mir plausibel: Zum einen wäre denkbar, dass hier ganz allgemein wieder die Unter‑ scheidung zwischen solchen, die dazugehören und denen Heil verheißen ist, und anderen, die davon ausgeschlossen sind, thematisiert wird, die in allen bisherigen Teilen der Gleichnisrede zumindest latent vorhanden war. Zum anderen wäre es genauso möglich, den Gerichtsgedanken nicht wahrzunehmen und stattdessen der Aussage Gewicht beizumessen, die Ernte(zeit) ‚sei jetzt da‘ (παρέστηκεν).644 So verstanden erinnert das Ende des Gleichnisses daran, dass mit Jesu Auftreten das Reich Gottes ‚nahe herbeigekommen‘ ist (vgl. 1,14 f.) – und dass gleichzeitig in eschatologischer Perspektive seine Vollendung noch aussteht. Es werden noch ‚Nächte und Tage‘ vergehen und ‚niemand weiß‘, wann ‚der Herr kommen wird‘ (13,32.33.35). So viele Parallelen zum Sämann-Gleichnis zu erkennen sind, so deutlich wird auch, dass das Gleichnis von der von selbst Frucht bringenden Erde nicht auf die Art auszulegen ist, wie es bei jenem vorgeführt wurde. So kommt eine quasiallegorische Identifikation des Säenden mit Jesus nicht in Frage,645 doch auch eine vorschnelle Gleichsetzung des Säenden mit den Jüngern646 wird der Anlage des ganzen Gleichnisses nicht gerecht. Auch der Samen und die Erde stehen nicht eindeutig für eine bestimmte Sache oder Person. Vielmehr sagt die Geschichte als ganze etwas darüber, ‚wie‘ (ὡς) das Reich Gottes ist: Es wird wachsen und zum Ziel kommen. Wie das geht, ist nicht zu verstehen und muss auch nicht verstan‑ den werden. Es gilt, dieser Verheißung zu vertrauen, vielleicht auch, das Wachsen mit offenen Augen wahrzunehmen.647 Die Ernte, von der Markus nur hier spricht, 642
Vgl. France, Mk, 215; Gnilka, Mk I, 184. Vgl. 7,24 – 30 und 15,39. 644 Gleiche Formulierung in Joel 4,13LXX. 645 Dagegen argumentieren auch Pesch, Mk I, 256; France, Mk, 213. 646 Vgl. Collins, Mk, 254. In eine ähnliche Richtung geht Dormeyer, der das Gleichnis als Trost und Verheißung für diejenigen liest, die das Evangelium verkündigen (Dormeyer, Mut zur Selbst-Entlastung, 324). 647 Die manchmal vertretene Auslegung, hier ginge es um die „verborgene Geschichte der Gottesherrschaft“ (Pesch, Mk I, 259) oder eine „apparent inaction of the kingdom of God“ (France, Mk, 215), trifft den Punkt nicht ganz; das Wachstum wird ja genau beschrieben und ist sichtbar. Verborgen ist allein, wie das Wachstum vor sich geht. 643
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erweitert das bisherige Bild nicht nur um einen weiteren Schritt. Im markinischen Kontext ist dabei vor allem die positive Konnotation von Ernte mit „so wird das Getreide seiner Zielbestimmung zugeführt, satt zu machen“ hörbar.
III.3.8. Vom Senfkorn zur Wohnstatt (4,30 – 32) (Vgl. Abb. 18d, S. 246) In V. 30 bleibt in NA28 die Lesart τίνι ὁμοιώσωμεν unerwähnt, die A, D, Θ und die Mehrheit der Textzeugen statt des besser bezeugten πῶς ὁμοιώσωμεν bieten.648 Letzteres ist als Formulierung ungebräuchlich649 und kann somit als Lectio difficilior gelten. Die Ersetzung durch τίνι trägt nicht nur dem üblichen Sprachgebrauch Rechnung, sondern kann zugleich als Anpassung an die Parallelstelle Lk 13,18 verstanden werden. Zahlreiche Alter‑ nativen gibt es zudem zur in NA28 übernommenen Lesart der zweiten Satzhälfte, die durch ihre schwierige Satzstellung – αὐτήν steht zwischen den zusammengehörigen Wörtern τίνι und παραβολῇ – Anlass zu Änderungen gab. So ergeben sich diverse Varianten, die durch Umstel‑ lungen und Kasusangleichungen Hand an den Text anlegen, ihn zum Teil aber noch unverständ‑ licher machen. Sie sind kaum erwähnenswert, die vielfach überlieferte (u. a. in A, D, Θ), im Wortlaut völlig andere Lesart ἐν ποῖᾳ παραβολῇ παραβάλωμεν αὐτήν hingegen schon. Es lässt sich kaum entscheiden, ob diese durch Klangspielerei geprägte und an die hebräische Figura etymologica gemahnende Lesart oder jene in NA28 übernommene die „ursprüngliche“ ist; hier liegen zwei verschiedene Traditionen vor, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen. Nach‑ dem ich mich zu Beginn von V. 30 gegen die Lesart von A, D und Θ entschieden habe, tue ich dies auch hier. In V. 31 ließe sich von den beiden Lesarten ὡς κόκκῳ σινάπεως und ὡς κόκκον σινάπεως sagen, sie seien „härtere“. Beides ist elliptisch formuliert;650 sowohl der Dativ als auch der Akkusativ benötigen ein Verb, zu dem sie Objekt sind. Der Dativ, der zudem besser bezeugt ist (ℵ, B, Cvid, D, Δ, 565, 2542), wird verständlich, wenn man ihn in den Zusammenhang der unmittelbar vorangehenden Fragen stellt und eine entsprechende Antwort auf das ‚Wie‘ formu‑ liert: ‚So: Es gleicht einem Senfkorn‘ oder (im Deutschen schlecht nachvollziehbar) ‚So: Wir wollen es in ein Senfkorn [in das ‚Gleichnis‘ eines Senfkorns] setzen‘. Für den Akkusativ fän‑ den sich auch Formulierungen, doch nur außerhalb des direkten Kotextes.
Das dritte und letzte Saat-Gleichnis ähnelt im Aufbau dem zweiten: Auf der nar‑ rativen Ebene kündigt wieder die kurze Redeeinleitung καὶ ἔλεγεν den nächsten Gedankengang an und die direkte Rede beginnt wieder mit einer Deklaration des Folgenden als Gleichnis für das Reich Gottes (V. 30), dieses Mal in Form einer Frage, die mit dem Interrogativum πῶς beginnt. Die Antwort darauf wird auch hier mit einem ὡς eingeleitet und ist durch σπείρειν, ein Schlüsselwort der SaatGleichnisse, strukturiert. Durch weitere motivische Wiederholungen – βασιλεία τοῦ θεοῦ, παραβολή, ἐπὶ τῆς γῆς, ἀναβαίνειν – ist diese Perikope in die Gleichnis‑ rede eingewoben. Anders als in den anderen beiden Saat-Gleichnissen wird nun 648
Vgl. Swanson, Manuscripts, 60. Eine TLG-Lemma-Suche „πῶς and ὁμοιόω within 5 words“ (Zugriff: 29.07.2017) brachte nur Ergebnisse (allesamt später als Markus), in denen das, womit etwas verglichen wird, erwähnt wird und regulär im Dativ steht (vgl. Bauer s. v. ὁμοιόω). 650 Nur D (dort Dativ) ersetzt ὡς durch ὁμοία ἐστίν (vgl. Mt 13,31; Lk 13,18) und bietet so einen vollständigen Satz. 649
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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keine Person mehr erwähnt, die sät;651 stattdessen ist passivisch vom Samen, der gesät wird, die Rede. 30 Auf die kurze Redeeinleitung folgt in Form eines synthetischen Parallelis‑ mus membrorum eine (rhetorische) Doppelfrage, in der wie schon in V. 11 die bei‑ den Schlüsselwörter βασιλεία τοῦ θεοῦ (i) und παραβολή (Β) zusammen erklin‑ gen: ‚Wie wollen wir das Reich Gottes vergleichen? Oder: In welches Gleichnis wollen wir es setzen?‘ (πῶς ὁμοιώσωμεν τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ ἢ ἐν τίνι αὐτὴν παραβολῇ θῶμεν). Hier kommt ans Licht, was schon vom ersten Gleichnis an verborgen da war: Diese Rede Jesu ist eine erste ausführlichere Darlegung seiner programmatischen Ansage des Reiches Gottes (1,14 f.).652 Die Formulierung πῶς ὁμοιώσωμεν wirkt eher ungelenk,653 doch wird durch den Gleichklang von πῶς und ὡς der Bezug zwischen Frage und Antwort hörbar. 31.32a Auch hier ist der Satzbau nicht über alle Zweifel erhaben, doch wenn sie entsprechend vorgetragen wird, ist die vorliegende Konstruktion mit ihren Auslassungen, Doppelungen und sonstigen Inkonsequenzen auch im Deutschen problemlos für Hörer nachvollziehbar. Ὡς lässt sich grammatikalisch kaum inte‑ grieren und dient einfach als Marker dafür, dass nun das kommt, womit das Reich Gottes verglichen wird: ‚(mit) einem Senfkorn‘ (κόκκῳ σινάπεως). Der davon abhängige Relativsatz, der erklärt, was es mit dem Senfkorn auf sich hat, umfasst theoretisch den ganzen Rest der Perikope; auf das ὅς beziehen sich die drei Prä‑ dikate ἀναβαίνει, γίνεται und ποιεῖ. Doch es ist soviel eingefügt – der temporale Nebensatz, die Partizipialkonstruktion in V. 31c und die dem Satzgefüge aufge‑ pfropfte Wiederholung καὶ ὅταν σπαρῇ –, dass dieser Relativsatz kaum mehr in seinem Zusammenhang wahrnehmbar ist. Auf der klanglichen Ebene sind diese beiden Verse ein kleines Kunstwerk; durch die Art der Darstellung wird sofort klar, worum es in der Geschichte geht – um das Große, das im kleinen Senfkorn angelegt ist. Im Zentrum einer kleinen, formal perfekten Ringkomposition steht der Ausgangspunkt: Das Senfkorn ist der kleinste aller Samen (μικρότερον654 ὂν πάντων τῶν σπερμάτων, n cvar). Das Homoioteleuton auf ‑ον / ‑ων655 hebt diese Aussage hervor. Die Ringe um diese Mitte stellen sozusagen klanglich dar, was mit diesem Samen geschieht: Er wird von der Erde umgeben (ἐπὶ τῆς γῆς, b), ‚wenn er gesät wird‘ (ὅταν σπαρῇ, c+). Auf diesen besonderen Anfang folgt, wie schon in den anderen Saat-Gleichnissen, das Wachsen (ἀναβαίνειν). ‚Auf die Erde gesät sein‘ und ‚aufgehen‘, das weiß 651
Vgl. Gäbel, Mehr Hoffnung, 329. Sehr ähnlich auch Williamson: „This editorial unit represents the first explicit elabo‑ ration in Mark of the message of the Kingdom of God which Jesus announced (1:14 – 15).“ (Williamson, Mk, 87). 653 Vgl. Textkritik zu V. 30, S. 284. 654 Statt Neutrum müsste hier aufgrund des Bezuges auf ὄς eigentlich Maskulinum stehen; vermutlich ist hier an σπέρμα (n.) gedacht, da das Senfkorn ja mit den anderen Samen (σπέρ‑ ματα) verglichen wird (vgl. France, Mk, 215, Anm. 30). 655 Klanglich besteht kein Unterschied zwischen ‑ον und ‑ων (vgl. Kap. I.4.2., S. 33 f.). 652
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die Hörerin bereits, sind wichtige Charakteristika des Reiches Gottes. Sie würde nun erwarten, dass auch die Geschichte vom Senfkorn das Wachsen ausführlich beschreibt und damit endet, dass dieses Frucht trägt. Doch diese Erwartung erfüllt sich nicht; der Wachstumsprozess wird nur angedeutet (δ1 / 2) und vom Fruchttra‑ gen oder gar von der Ernte ist gar nicht die Rede. Stattdessen rückt der Gegensatz zwischen dem winzigen Samen und der riesigen Pflanze, die aus ihm entsteht, ins Blickfeld. Der ‚kleinste aller Samen‘ wird zur ‚größten aller Gemüsepflanzen‘ (μεῖζον πάντων τῶν λαχάνων, nopp).656 Sowohl die parallele Satzkonstruktion, die das Sein (ὄν) des Kleinen (μικρότερον πάντων) und das Werden (γίνεται) des Großen (μεῖζον πάντων) einander gegenüberstellt, als auch die Wiederaufnahme des gleichen Klangeffektes – Homoioteleuton auf / on / – stellt diesen Gegensatz jenseits aller Fragen nach der richtigen Grammatik auf beeindruckende Weise akustisch dar. Die Kleinheit des Senfkorns war damals sprichwörtlich.657 Es ist gesät; das Reich Gottes ist auf der Erde, ist unter den Menschen präsent. Es ist völlig unscheinbar und wird von vielen nicht wahrgenommen; dennoch ist das Große in ihm schon angelegt. Es wird groß werden, größer als alles, was aus anderen Samen – aus anderen als dem Evangelium? – hervorgeht. 32b Wie schon beim vorigen Gleichnis wird auch hier der Faden noch wei‑ tergesponnen, indem einem in sich schon aussagekräftigen Bild ein Element hinzugefügt und durch alttestamentliche Anspielungen der Interpretationsraum ausgeweitet wird. Mit der Stichwortverbindung μεῖζον – μεγάλοι schließt V. 32b an das Vorherige an und führt den Gedanken der Größe des Reiches Gottes fort: Die Pflanze ‚macht große Zweige‘ (ποιεῖ κλάδους μεγάλους) und bietet in ihrem Schatten den Vögeln Wohnung. Das Bild von den Vögeln im Baum findet sich in verschiedenen Zusammen‑ hängen im Alten Testament. In Dan 4,9 und Ez 31,6 stehen riesige Bäume für die mächtigen Reiche Nebukadnezars bzw. Ägyptens; Vögeln und Tieren die‑ nen sie als Wohnraum; Ezechiel steigt dabei aus der Bildsprache aus und spricht davon, dass im Schatten dieser Zeder ‚alle Völker‘ (πᾶν πλῆθος ἐθνῶν) woh‑ nen. In beiden Fällen ist anschließend die Rede davon, dass die Bäume gefällt werden (Dan 4,11.20; Ez 31,12). Nebukadnezar lernt dadurch, die Größe Gottes anzuerkennen, von dem er abhängig ist (Dan 4,31 – 34). Auch am Beispiel Ägyp‑ tens wird demonstriert, dass irdische Macht nicht dauerhaft und vom Wohlwol‑ len Gottes abhängig ist (Ez 31,10 f.). Aus einer etwas anderen Perspektive zeigt sich das gleiche Bild vom starken Baum in Ez 17,22 f. Dort ist es Gott selbst, der ihn pflanzt. Doch auch an seinem Beispiel erweist sich die Macht Gottes, der die einen erniedrigt und die anderen erhöht (Ez 17,24). Schließlich ist als alttestamentliche Referenz noch Ps 104 (103LXX) zu nennen. Dort kommt zwar 656 Die Senfstaude kann bis zu 1,50 m hoch wachsen (vgl. Krist, Lexikon, Senfsamenöl, 720). Ausführlich zu Senf und seiner Rolle im antiken Garten- und Ackerbau vgl. Gäbel, Mehr Hoffnung, 330 f. 657 Vgl. Hunzinger, σίναπι, 287.
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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kein Baum vor, doch im Rahmen dieses Lobes des Schöpfers, dessen Größe sich in der Natur spiegelt, findet sich in der Fassung der Septuaginta wörtlich der Schluss des markinischen Gleichnisses (τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ κατασκηνοῦν, Ps 103,12LXX). Lotet man den Markustext auf seine möglichen Untertöne hin aus, so verstär‑ ken die alttestamentlichen Anklänge die Vorstellung vom starken, weiten Reich Gottes, das allen Lebensraum bietet. Noch weniger als bei der ‚Ernte‘ in V. 29 sind die negativen Aspekte (hier die drohende Fällung der Bäume), die die alttes‑ tamentlichen Referenzen zum Teil aufweisen, im Gleichnis zu verorten. Die Tat‑ sache, dass in der Fassung des Markus die Senfstaude eine Gemüsepflanze bleibt und nicht wie bei Matthäus und Lukas zum ‚Baum‘ wird (δένδρον, Mt 13,32; Lk 13,19), nimmt diesem Bild das allzu Imperiale und passt gut dazu, dass der König dieses Reiches auf einem Esel in Jerusalem einziehen wird (11,7 – 10).658 Die Gleichnisrede selbst bietet einen wichtigen Interpretationsrahmen für diese Stelle. Markus spricht in seinem Evangelium nur zweimal von den Vögeln. Sie eröffnen den Reigen der Saat-Gleichnisse und schließen ihn (τὰ πετεινά, 4,4.32). Am Anfang des Sämann-Gleichnisses picken sie den Samen weg und stehen sie für den Satan (V. 15), der das Wort, das Evangelium vom Reich Gottes, ‚weg‑ nimmt‘, bevor es überhaupt bei Menschen ankommen kann. Und zum Schluss finden sie ihren Lebensraum in genau diesem Reich. Ist dort am Ende sogar für diejenigen Platz, die gegen die Ausbreitung der guten Nachricht kämpfen? Wenn‑ gleich das Gleichnis darauf keine explizite Antwort gibt, so ist dieses Schlussbild doch für die, die befürchten, zu ‚jenen draußen‘ (V. 11) zu gehören, wahrlich ein tröstliches Evangelium. War im Sämann-Gleichnis ‚der Säer‘ (ὁ σπείρων) am Werk und im zweiten immerhin noch ‚irgendeiner‘ (ἄνθρωπος), gerät die Person des Säenden im letz‑ ten der drei Saat-Gleichnisse ganz aus dem Blick. Es nimmt das Thema des zwei‑ ten auf – das Reich Gottes wächst und wird zum Ziel kommen. Das Senfkorn dient dabei als Bild für die gegenwärtige Unscheinbarkeit, der zum Trotz dem kleinen Samen eine große Zukunft verheißen ist. Der Sieg des Reiches Gottes wird proklamiert; niemand wird es an seiner Ausbreitung hindern können. Von kriegerischen Auseinandersetzungen und Besiegten ist aber nichts zu hören. Im Gegenteil, das Bild von der Senfstaude, in deren Schatten auch die Vögel wohnen können, zeichnet ein völlig anderes Bild von Herrschaft, das den gängigen Vor‑ stellungen von Macht und Herrschertum widerspricht.
III.3.9. Abschließende Bemerkungen des Erzählers (4,33 – 36a) (Vgl. Abb. 18d, S. 246) Mit einem Kommentar auf Erzählerebene schließt der als „Scharnier“ konzipierte Abschnitt der Gleichnisrede. In umgekehrter Reihenfolge wie am Anfang (V. 1 f.) finden sich hier zunächst Aussagen über die Lehre Jesu 658
Vgl. Collins, Mk, 256.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
in Gleichnissen (Avar B). Wie fast alle Verben auf der Erzählebene der Gleichnis‑ rede stehen auch diejenigen in V. 33 f. im Imperfekt und deuten darauf hin, dass ganz generell über die Verkündigung Jesu gesprochen wird und die konkrete his‑ torische Verortung nebensächlich ist. Mit V. 35 f. tauchen die Hörerinnen wieder in die „realen“ Geschehnisse ein. In enger Verflechtung mit der folgenden Peri‑ kope wird an das Setting von V. 1 – Jesus im Boot (D), die Leute (C) am Ufer – angeknüpft und die Geschichte kann weitergehen; ab hier dominieren wieder die Erzähltempora Aorist und historisches Präsens. 33 f. Formal betrachtet sind diese beiden Verse eine kleine Ringkomposition mit einem Anhängsel. Die Ringkomposition (V. 33.34a) mit den Schlüsselwor‑ ten παραβολαί (B) und λαλεῖν [τὸν λόγον] (Avar) wiederholt nicht einfach die Einleitung; ‚Lehren in Gleichnissen‘ war nicht nur die Art und Weise, sondern auch ein Thema der Rede. Was dabei erarbeitet wurde, klingt in diesem Schluss an: Λαλεῖν τὸν λόγον erwies sich, insbesondere durch die Auslegung des ers‑ ten Gleichnisses (V. 14 – 20), als Synonym für Jesu Verkündigung des Evangeli‑ ums vom Reich Gottes (vgl. 1,14 f.) und auch zum in V. 1 f. prominenten διδάσ κειν (A). Hier rahmt es das ‚Hören‘ (ἀκούειν, E). Reden und hören, die beiden Seiten der Verkündigung, so ist nach der Gleichnisrede klar, gehören untrennbar zusammen. Die Formulierung ‚wie sie es hören konnten‘ (καθὼς ἠδύνατο ἀκού‑ ειν) wirft nochmals die Frage nach der Verständlichkeit der Gleichnisse auf: Passt Jesus sich der Hörfähigkeit seiner Zuhörer an und redet so, ‚wie‘ (καθώς) sie ver‑ stehen können,659 oder ist diese Passage mit „soweit sie es verstehen konnten“660 zu übersetzen und steht eher für deren begrenzte Einsicht? Aus dem Kontext ist zu schließen, dass mit den Adressaten (αὐτοῖς) wieder die am Ufer versammelten Leute gemeint sind. Der angehängte Satz stellt dieser konturlosen Menge eine ganz bestimmte gegenüber (δέ) und erinnert damit an die Unterscheidung von οἱ περὶ αὐτὸν σὺν τοῖς δώδεκα und ἐκεῖνοι οἱ ἔξω im Intermezzo (V. 10 – 13). Nun wird die kleine Gruppe ‚seine eigenen Jünger‘ (οἱ ἴδιοι μαθηταί, hvar) genannt. Während Jesus zu den αὐτοῖς nur in Gleichnissen spricht (χωρὶς δὲ παραβολῆς οὐκ ἐλάλει), ‚löst er im eigenen Kreis seinen eigenen Jüngern alles auf‘ (κατ’ἰδίαν δὲ τοῖς ἰδίοις μαθη‑ ταῖς ἐπέλυεν πάντα, V. 34b). Die undefinierten αὐτοί und das betonte ‚nicht außer in Gleichnissen‘ auf der einen und das doppelte ἴδιος und ‚alles auflösen‘ auf der 659 Καθώς dient dem Vergleich, beschreibt also, wie „der Prädikatssinn der übergeordneten Konstruktion verwirklicht“ wird (Siebenthal, § 287b). Zudem erfüllt καθώς nach Siebenthal im NT auch die Funktion einer kausalen Konjunktion (vgl. a. a. O., § 277a.1.). So könnte hier sogar ‚weil sie [es auf diese Weise] hören konnten‘ übersetzt werden. Schweizer vertritt diese Interpretation und schreibt, dass „Jesus, um die Blindheit der Menschen zu durchbrechen, [. . .] sich ihrem Verständnis anpaßt“ (Schweizer, Mk, 53). 660 Bauer s. v. καθώς, 2. So auch France, Mk, 218; Pesch, Mk I, 265; Dschulnigg, Mk, 147; Marcus, Mk I, 325; Guelich, Mk I, 256 f. Eine dritte Lesart bietet Gundry, der ‚wie sie es hören konnten‘ zeitlich versteht: „[It] refers simply to their attention span or to the amount of time they could spend listening to Jesus.“ (Gundry, Mk, 234).
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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anderen Seite verstärken den Eindruck von der Privilegierung eines auserwählten Zirkels und der Benachteiligung der unbestimmten Masse, die vom Wesentlichen ausgeschlossen ist. Doch die Notwendigkeit der besonderen Belehrung der Insi‑ der (V. 13) wie auch der Verlauf der nächsten Kapitel, in dem sich zeigt, dass die Jünger immer weniger verstehen, verleiht dieser scheinbar so eindeutig zuguns‑ ten der Jünger sprechenden Stelle andere Untertöne: Vielleicht haben diese ja, anders als diejenigen, die ‚hören können‘ und die Gleichnisse verstehen, eine Sonderbelehrung ganz einfach nötig? Markus liefert keine Hinweise, wie er diese Stelle verstanden haben möchte; wie schon im Intermezzo bleibt auch hier offen, wer die gute Botschaft versteht und wer nicht. Die Darstellung der vermeintli‑ chen In- und Outsider bleibt doppelbödig und reizt das Publikum, die eigenen Zuordnungen zu hinterfragen. 35 f. Zeit- und Ortsangaben rufen nach der langen Rede in Erinnerung, dass hier eine Geschichte erzählt wird, die in Raum und Zeit spielt. In Wiederauf‑ nahme des Settings zu Beginn der Rede lassen die Jünger ‚die Leute‘ (ὁ ὄχλος, C) zurück und nehmen ‚ihn‘ mit, ‚wie er im Boot war‘ (ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ, D). Damit schließt sich auch der äußere, konkrete Rahmen um die Gleichnisrede.
III.3.10. Zusammenfassung der Exegese zu 4,1 – 36a Die Gleichnisrede bildet ein Scharnier zwischen den beiden Hauptteilen, die in Galiläa spielen. Mit V. 2 bleibt die Handlung stehen; nun ist Zeit für die Refle‑ xion dessen, was sich vorher in zum Teil atemberaubendem Tempo abgespielt hat und für die Vorbereitung des Kommenden. Wie die Arien in Bachs Weih‑ nachtsoratorium oder auch in seinen Passionen, so dient im Markusevangelium die vorliegende Rede einer ersten „Betrachtung“ und Interpretation der Gescheh‑ nisse, die der Evangelist bisher vorgetragen hat. Die Dominanz des Imperfekts auf Erzählerebene innerhalb des gesetzten narrativen Rahmens und ebenso die Vernachlässigung der konkreten Umstände beim Wechsel zwischen großem Pub‑ likum und kleinem Insiderkreis erwecken den Eindruck, dass die Rede aus Zeit und Raum der Erzählung herausfällt. Auch die Tatsache, dass Markus wie schon in 1,14 f. nur Jesus zu Wort kommen lässt und keinerlei Reaktionen der Menge oder auch der Jünger überliefert,661 trägt zu diesem allgemeinen Charakter der Rede bei. Dazu passt, dass die komplizierte Ortsbeschreibung ‚am Meer auf dem Land‘ weniger der historischen Konkretion als der Interpretation des SämannGleichnisses dient. Die Lockerung der Bindung an eine bestimmte Situation in der Vergangenheit ermöglicht eine größere Unmittelbarkeit in der Gegenwart der Hörer des Evangeliums – die Rede wird so zur direkten Anrede Jesu an das Pub‑ likum des Markus. Inhaltlich greift die Gleichnisrede vor allem auf zwei Dinge aus den vorange‑ henden Kapiteln zurück: Zum Ersten knüpft sie an die kurze programmatische 661
Darauf weist van Iersel, Mk, 191, hin.
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Kapitel III: Kommentar zu Mk 1,1 – 4,36a
Ansage des Reiches Gottes vom Ende der Ouvertüre an. Was Jesus dort in aller Kürze als ‚Evangelium Gottes‘ verkündete, wird nun ausführlicher behandelt und weitergeführt.662 In 1,14 f. stand die Gegenwart des Reiches Gottes in der Person Jesu im Fokus: ‚Erfüllt ist die Zeit und nahegekommen ist das Reich Gottes!‘ Das bestätigten die Saat-Gleichnisse durch die primäre Identifikation des Säers mit Jesus (I.)663 und durch den wiederholten Hinweis, dass gesät ist und gesät wird (I., II., III.). Diese mehrfache Zusicherung ist offensichtlich nötig, weil die gegenwärtige Situation der Zuhörer des Markus die Präsenz des Reiches Gottes wohl eher in Frage stellt als bestätigt.664 So wird im Modus der Verheißung auch die Zukunft ins Auge gefasst: Dieses Reich Gottes, so unscheinbar es im Moment noch sein mag, wird zum Ziel kommen (II., III.), allen Hindernissen zum Trotz. Was heute noch verborgen ist, wird offenbar werden (V. 21 – 23). Einst wird es für alle sichtbar sein, dann werden in ihm alle satt werden und Raum zum Leben haben (I., II., III.). Nicht nur der Indikativ, sondern auch der Imperativ – ‚Kehrt um und glaubt an das Evangelium!‘ – aus der programmatischen Verkündigung Jesu in 1,14 f. wird aufgegriffen. Er wird im vielfachen Aufruf zum rechten Hören laut, das in der Auslegung des ersten Gleichnisses als ‚das Wort anneh‑ men‘ (V. 20), es über dem eigenen Leben gelten lassen, interpretiert wird. Wer dieses paradigmatische Gleichnis versteht und diesem Aufruf folgt, dem ist reiche Frucht verheißen (I., V. 24 f.) und dem wird sich auch in den anderen Gleichnis‑ sen das Geheimnis des Reiches Gottes erschließen. Zum Zweiten wird das Thema aufgenommen, das im Laufe des ersten Haupt‑ teils immer wichtiger wird und unmittelbar vor der Gleichnisrede (3,31 – 35) explizit zur Sprache kommt: Wer gehört zu Jesus? Dies ist, so meine These, die persönliche Frage der Hörer des Markusevangeliums:665 Gehören wir dazu? Wie schon in jener Szene im Haus werden auch im Intermezzo (V. 10 – 13) und am Schluss (V. 33 f.) der Gleichnisrede die Menschen in zwei Gruppen geteilt. Scheint es auf den ersten Blick privilegierte Insider und benachteiligte Outsider zu geben, sind schon in der Gleichnisrede selbst deutliche Hinweise zu hören, dass es nicht einfach vorherbestimmt ist, wer zu welcher Gruppe gehört und wer wirklich versteht, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat. Auch auf die Frage, ob die Gleichnisse das Verstehen fördern oder hindern, werden verschiedene Ant‑ worten gegeben, ebenso auf die nach der Vorherbestimmung durch Gott und nach der Verantwortung des Menschen. Diese paradoxe Mehrstimmigkeit fordert das Publikum heraus, sich selbst zu positionieren und die eigenen Ansichten zu hin‑ terfragen. Der Beginn der Gleichnisrede mit der Lehre Jesu ‚am Meer‘ weckt nach den drei Berufungserzählungen die Erwartung, es folge nun eine vierte, doch die 662
Vgl. Kap. III.3.8., S. 285, Anm. 652. Die römischen Zahlen in Klammern bezeichnen das erste bis dritte Saat-Gleichnis. 664 Vgl. Kap. I.6.2, S. 56. 665 Vgl. dazu Kap. V.1., S. 403 – 406. 663
III.3. Das erste Zwischenspiel (4,1 – 36a)
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Geschichte nimmt eine andere Wendung. Dennoch lässt sie sich als eine andere Art von Berufungsgeschichte verstehen: Das Wort, das hier ausgesät wird, und die Aufforderung zum Hören, die hier ergeht, richten sich an diejenigen, die das Markusevangelium hören. An sie ergeht der Ruf in die Nachfolge. Jeder, der ihn hört und annimmt (V. 20), ist als Nachfolger Jesu willkommen. Die Weichen für den nächsten Hauptteil sind gestellt: Jesus sitzt bereits im Boot, in dem die nächsten Tripelepisoden spielen. Die Frage, wer zu ihm gehört bzw. wer versteht, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat, ist ver‑ nehmlich gestellt; nun kann weiter nach Antworten gesucht werden. Den Faden der Saat-Gleichnisse, die mit dem Fruchttragen und der Ernte enden, werden die Geschichten rund ums Brot weiterspinnen. In der Frage nach der Präsenz des Reiches Gottes ist die Hauptfrage des Markusevangeliums nach der Person Jesu verborgen, die gleich auf der ersten Bootsfahrt explizit gestellt werden wird: ‚Wer ist dieser?‘ (4,41).
Kapitel IV
Die Fortführung der großen Linien im zweiten Hauptteil (4,35 – 8,22a) IV.1. Einleitende Bemerkungen „Wer ist dieser?“ und „Wer gehört zu ihm?“ – das sind die beiden großen Linien, die nun durch den zweiten Hauptteil hindurch weiterverfolgt werden. Das Thema der Identität Jesu ist von den allerersten Worten des ‚Evangeliums von Jesus Christus, des Sohnes Gottes‘ (1,1), an präsent, bleibt jedoch in der Ouvertüre (1,1 – 15) auf einer abstrakten, dogmatischen Ebene. Mit dem Beginn der eigentlichen Erzählung (1,16) geht die Frage „Wer ist dieser?“ ins Leben ein – zunächst ins Leben der Protagonisten des Evangeliums, dann aber auch zunehmend ins Leben der Zuhörerinnen und Zuhörer des Markus, die mit Taten und Worten Jesu und ganz verschiedenen Antworten und Reaktionen darauf kon‑ frontiert werden. Was heißt es, dass dieser ‚Sohn Gottes‘ (1,1.10), dass dieser ‚Herr‘ (1,3) ist, dass auf diesen der ‚Heilige Geist herabgekommen‘ (1,9) ist? Und was bedeutet es, dass in seiner Person ‚das Reich Gottes nahe gekommen‘, ja gegenwärtig ist (1,15)? Die zweite Frage „Wer gehört zu ihm?“ kristallisiert sich erst im Laufe des ers‑ ten Hauptteils heraus und ist dann mit der Gleichnisrede endgültig auf dem Tisch. Mit der dreimaligen Gegenüberstellung ‚die um ihn‘ (οἱ περὶ αὐτόν 3,33.34; 4,10) – ‚die draußen‘ (οἱ ἔξω, 3,31.32; 4,11) wird einerseits eine klare Einteilung in In- und Outsider suggeriert. Andererseits zeigte sich, dass es nicht so einfach zu bestimmen ist, wer zu welcher Kategorie gehört. Die Themen „Identität Jesu“ und „Identität seiner Nachfolger“ ziehen sich als rote Fäden durchs ganze Evangelium hindurch. Im zweiten Hauptteil spinnt Mar‑ kus beide ein entscheidendes Stück weiter und erreicht ein Stadium, in dem – allerdings erst nach einer Blindenheilung – das Christusbekenntnis des Petrus möglich wird. Für dieses Kapitel habe ich eine straffere Art der Darstellung als die bishe‑ rige des Kommentars gewählt. Entlang der beiden genannten roten Fäden möchte ich zeigen, welchen Beitrag eine Exegese, die von der Klanggestalt des Textes ausgeht, für das Verständnis der beiden großen Themen des Markusevangeliums leisten kann. Basis ist nach wie vor die primär mithilfe der Repetitionsanalyse gewonnene Einsicht in die akustische Textgestalt (IV.2.). In Textform beschreibe ich sie nur im Überblick, aber wie im ersten Teil gebe ich sie detailliert durch Grafiken visuell wieder, die sich zusammen mit der Übersetzung am Ende von
294
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Kap. IV. finden (IV.6.).1 Im Folgenden lege ich dar, welche Antworten Markus durch seine Art der Komposition auf die beiden genannten Fragen „Wer ist die‑ ser?“ (IV.3.) und „Wer gehört zu ihm?“ (IV.4.) bis zum Ende des zweiten Haupt‑ teils gibt. Kap. IV.5. bietet einen kurzen Ausblick darauf, wie die beiden Themen ab 8,22 weiter entwickelt werden.
IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils Auch im zweiten Hauptteil bleibt das ‚Galiläische Meer‘ der geografische Orien‑ tierungspunkt; die Episoden spielen nun aber nicht mehr nur am galiläischen See‑ ufer. Zum einen weitet sich der Aktionsradius Jesu und seiner Jünger über Galiläa hinaus aus in entferntere, meist heidnische Gegenden; erstmals geht es εἰς τὸ πέραν, ‚ans jenseitige [Ufer]‘ (4,35).2 Zum anderen spielen die diesen Teil struk‑ turierenden Tripelepisoden (und nur sie) auf dem See in einem Boot (4,35 – 5,2a; 6,45 – 6,54a; 8,9b – 22a). Die fokale Wiederholung von ‚Boot‘ (πλοῖον) – viermal in 4,36 f.! – lenkt die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer darauf, dass etwas Neues beginnt: Jesus und die Jünger stechen nun in See. Die Bootsge‑ schichten markieren den Anfang, die Mitte und den Schluss des zweiten Haupt‑ teils; wie die Berufungserzählungen sind sie nicht nur durch das gleiche Setting, sondern auch durch formale Wiederholungen mehrerer Wörter bzw. Ausdrücke als drei Varianten einer Geschichte erkennbar.3 Hier ergeben sich zwei Erzählbö‑ gen, die quasi zwischen den „Pfosten“ der Tripelepisoden aufgehängt sind. Neben Letzteren fallen vor allem die beiden großen Speisungen (6,30 – 45; 8,1 – 9) auf, die fast identisch ablaufen, sehr ähnliches Vokabular verwenden und jeweils unmittelbar vor der nächsten Bootsfahrt erzählt werden. Mit diesen sind sie eng verknüpft. Wie sich ‚die Leute‘ (ὁ ὄχλος) in die zweite Berufungsge‑ schichte des ersten Hauptteils einschleichen und dann in der dritten genauso prä‑ sent sind wie ‚die Zwölf‘, so nimmt das ‚Brot‘ (ἄρτος) und damit die Erinnerung an die großen Speisungen im Laufe der drei Bootsfahrten immer mehr Raum ein. Die bereits in Kap. II. erwähnte gegenläufige Klimax – Abnahme der Gefahr, Zunahme des Unverständnisses der Jünger – ist damit verbunden: Auf der ersten Bootsfahrt, im lebensbedrohlichen Sturm, ist vom Brot noch nicht die Rede. Dort wird in der Frage ‚Wer ist dieser?‘ (4,41) laut, worauf sich Einsicht und Unver‑ ständnis in den nächsten Kapiteln beziehen: auf die Identität Jesu. Am Ende der zweiten Tripelepisode wird das Entsetzen der Jünger über das ‚Gespenst‘ auf dem See damit begründet, dass sie ‚aufgrund (trotz) der Brote‘ (ἐπὶ τοῖς ἄρτοις, 6,52) 1 Im Folgenden wird jeweils zu Beginn der Analyse der einzelnen Perikopen mit (vgl. Abb. X, S. Y) auf die entsprechenden Grafiken verwiesen. 2 Nur in diesem zweiten Hauptteil, in dem Boot gefahren wird, ist diese Formulierung zu finden (5,1.21; 6,45; 8,13). Πέραν kommt im Markusevangelium sonst nur noch vor, um die Gegend ‚jenseits‘ des Jordans zu bezeichnen (3,8; 10,1). 3 Vgl. Kap. II., S. 63 f.
IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils
295
noch nicht verstanden hätten. Schließlich gerät die „Gefahr“ beim letzten Mal auf dem See zur Karikatur; es ist nur ein Brot an Bord – und nicht einmal dieses eine wird von den Jüngern wahrgenommen. Sie sind so von ‚kein Brot haben‘ (ἄρτους οὐκ ἔχουσιν, 8,16) in Beschlag genommen, dass sie weder Augen noch Ohren für den ‚Sauerteig der Pharisäer und des Herodes‘ (ζύμη τῶν Φαρισαίων καὶ [. . .] Ἡρῴδου, 8,15) haben, vor dem Jesus sie warnen will. So endet diese Bootsfahrt und mit ihr der ganze zweite Hauptteil mit einer genauen Rekapitulation der Zah‑ len der beiden großen Speisungen und der etwas verzweifelt klingenden Frage Jesu ‚Versteht ihr immer noch nicht?!‘ (οὔπω συνίετε, 8,21). Beide Erzählbögen enden also mit „Broten und Booten“. Jeder für sich genom‑ men scheint, anders als die alle in irgendeiner Weise als A‑B‑A-Form beschreib‑ baren Erzählbögen des ersten Hauptteils, einfach eine lose Aneinanderreihung einzelner Perikopen zu sein. Beim ersten Hören bleibt außer den markanten Boots- und Brotgeschichten vor allem der Eindruck eines rastlosen, unkoordi‑ nierten Hin und Her. Nach mehrmaligem Hören und durch das Studium der „Par‑ titur“ wird erkennbar, dass die beiden Erzählbögen trotz unterschiedlicher Länge sehr ähnliche innere Strukturen aufweisen und in zweifacher Weise – als „lines and circles“4 – wahrgenommen werden können: Einerseits lässt sich der zweite Hauptteil als großer Parallelismus, als lineare Erzählung in zwei Anläufen beschreiben, die nötig sind, um das zuerst verfehlte Ziel Betsaida doch noch zu erreichen (Abb. 19a).5 Ähnlich wie bei einem Trug‑ schluss6 in der Musik erfüllt sich die Hörerwartung zunächst nicht. Statt am ange‑ kündigten Ort landet man an einem anderen und es muss ein weiterer (Erzähl‑) Bogen geschlagen werden, bevor man das Ziel erreicht. 4 Diesen Begriff verwendet van Iersel, um die beiden strukturellen Phänomene zu beschrei‑ ben, die sich im Markusevangelium überlagern und zusammen dessen Grundstruktur bestimmen: Lineare Erzählfäden und konzentrisch angelegte Kompositionseinheiten (van Iersel, Mk, 68 – 72). 5 Jesu Anweisung an die Jünger, mit dem Boot nach Betsaida zu fahren (6,45), Landung in Genezareth (6,53), Ankunft in Betsaida nach der dritten Bootsfahrt (8,22). Diese Lesart findet sich auch in anderen Auslegungen vorwiegend synchroner Lesart (vgl. Malbon, Company, 38 f.; ähnlich van Iersel, Mk, 279). France, Dschulnigg und Lührmann versuchen, das Problem der Landung in Genezareth naturalistisch zu lösen. France und Dschulnigg tun dies, indem sie postulieren, ein Wind habe das Boot gegen die ursprünglich angesteuerte Richtung getrieben (France, Mk, 264; Dschulnigg, Mk, 196). Lührmann hingegen geht davon aus, dass das Boot tatsächlich in Betsaida landet und Jesus und die Jünger von dort aus zu Fuß nach Genezareth gehen (Lührmann, Mk, 123). Ältere Kommentatoren wie Pesch, Schweizer und Gnilka bie‑ ten verschiedene redaktionskritische Lösungen (Pesch, Mk I, 359.417; Schweizer, Mk, 73.75; Gnilka, Mk I, 268.313). 6 „Trugschluss“ wird in der tonalen Musik die Auflösung einer Kadenz genannt, die nicht den Hörerwartungen entspricht; auch dabei wird das Ziel, das sich durch bestimmte Akkord‑ folgen vorausahnen lässt, nicht erreicht. Ziel ist im Normalfall die Tonika, also die Stufe, auf der ein Stück oder auch ein Abschnitt enden kann. Wird durch einen Trugschluss die Tonika verfehlt, geht in aller Regel das Stück weiter, bis doch noch die Grundtonart erreicht wird. Vgl. Badura-Skoda / Jones, Cadence, 780.
296
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Die meisten Episoden der ersten Texthälfte werden in der zweiten in der glei‑ chen Reihenfolge (X – A – B – C – X) in Variation wiederholt. Die mittlere Boots‑ fahrt fungiert dabei als Scharnier; mit ihr endet der erste Erzählbogen und beginnt zugleich der zweite. An je verschiedenen Orten ist in jedem der beiden ein län‑ gerer Block eingefügt, der den Parallelismus „stört“. Diese Textteile fallen auch deswegen aus dem Rahmen, weil sie, anders als alle anderen Episoden7 des zwei‑ ten Hauptteils, keine Wunder Jesu berichten.8 Stattdessen wird dort jeweils direkt oder indirekt die Identität Jesu (Y, 6,1b – 329; 7,1 – 24a) in Vergleichen mit ande‑ ren Menschen verhandelt. Nur in diesen Blöcken treten die beiden gegnerischen Parteien auf, vor denen Jesus auf der letzten Bootsfahrt warnt: Herodes (6,14 – 29) und die Pharisäer (7,1 – 24a). Aus einer anderen Perspektive entpuppt sich der zweite Hauptteil als Ring‑ komposition (Abb. 19b).10 Das ist dann der Fall, wenn die Speisungen (x) als Präludien zu den Bootsfahrten (X) wahrgenommen und somit als Verstärkung der „Pfosten“ verstanden werden. In dieser großen Ringkomposition entspre‑ chen sich nicht nur Anfang und Ende, sondern diese haben einen starken Bezug zum Zentrum, der zweiten Bootsfahrt samt zugehöriger Speisung. Das weitere Material ist chiastisch um dieses Zentrum herum angeordnet: Den innersten Ring bilden die beiden gerade erwähnten Textblöcke 6,1b – 32 und 7,1 – 24a (B), den nächstäußeren zwei Wundergeschichten, in denen ‚Töchter‘ (θυγάτηρ, θηγάτιον) geheilt werden (A2), den dritten schließlich Wundergeschichten, die in der Deka‑ polis spielen (A1).11 Für diese zweite Art der Wahrnehmung der Struktur spricht die enge Koppelung der Geschichten vom Brot mit den Bootsfahrten. Außer der bereits genannten expliziten Erwähnung der Speisungserzählungen auf der zwei‑ ten und dritten Bootsfahrt gibt es jeweils etliche weitere verbindende Textsignale. Die Einleitung (6,30 – 33) zur ersten Speisungserzählung enthält Anklänge sowohl an den Anfang (6,45 – 48) als auch an das Ende (6,54 – 56) der folgenden Bootsfahrt: Jesus schickt beide Male zu Beginn seine Jünger weg; zuerst sollen 7
Ausnahme ist hier die letzte Bootsfahrt; auf ihr geschieht kein Wunder, sondern wird nur an Wunder erinnert. 8 Eine Ausnahme hierzu bildet die sammelberichtartige Nebenbemerkung in 6,5 (,außer dass er einige Kranke heilte, indem er ihnen die Hände auflegte‘). 9 Hier liegt wieder eine Phrasenverschränkung vor (vgl. Kap. II., S. 60). 10 Diese Sicht vertritt auch van Iersel. Auch er betrachtet die Speisungs- und Bootsgeschich‑ ten als „the double backbone of this section“ (van Iersel, Mk, 120), stellt aber die Strukturen des gesamten zweiten Hauptteil nicht als eine große, sondern als drei kleine Ringkompositionen dar (vgl. grafische Darstellung in van Iersel, Mk, 125). 11 Im ganzen Evangelium ist Δεκάπολις nur an diesen beiden Stellen (5,20; 7,21) zu hören. Die Töchter fallen auf, weil sie in diesen beiden Wundergeschichten je dreimal erwähnt werden (5,23.34.35; 7,25.26.29). Sonst ist nur noch einmal, ebenfalls im zweiten Hauptteil, θυγάτηρ zu hören; es handelt sich dabei um die Tochter der Herodias (6,22). Wie Herodes als Karikatur eines Königs (vgl. Kap. IV.3.3.1., S. 322 – 324) als (negative) Gegenfolie zu Jesus und die Jo‑ hannesjünger als (positive) Gegenfolie zu den Jüngern Jesu (vgl. Kap. IV.4.3., S. 345), so dient in der Perikope 6,14 – 29 offensichtlich auch dieses Mutter-Tochter-Gespann als dritte (negative) Gegenfolie zu Jaïrus und der Syrophönizierin mit ihren Töchtern.
IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils
297
4,35–5,2a Bootsfahrt I: Furcht oder Ehrfurcht? Wer ist dieser, dass ihm Sturm und Meer gehorchen?
X
A
5,1–21 Exorzismus I: Der Besessene bei den Gräbern von Gerasa (Dekapolis) κύριος 5,21–6,1a Heilungen I: Zwei jüdische Töchter (galiläische Seeseite)
B Y C
6,1b–32 Irdische Vergleiche I: Herkunft, Mutmaßungen, ein falscher König, Vorgänger und Nachfolger (galiläische Seeseite) 6,34–45 Speisung I der 5000 (galiläische Seeseite)
6,45–56 Bootsfahrt II: Ein Gespenst auf dem Meer! Ἐγώ εἰµι, unverständig trotz der Brote Anhang (6,54b–56): alle anderen erkennen ihn
X
Y A
7,1–24a Irdische Vergleiche II: Die falschen Lehrer (galiläische Seeseite)
B
7,24–31a Exorzismus II: Die Tochter der Syrophönizierin (Tyrus) κύριος 7,31–37 Heilung II: Der Taubstumme (Dekapolis)
C
8,1–9 Speisung II der 4000 (Dekapolis-Seeseite)
8,10–22a: Bootsfahrt III: Mit (k)einem Brot im Boot Versteht ihr immer noch nicht?!
X
Abb. 19a: Struktur des zweiten Hauptteils (4,35 – 8,22a) als Parallelismus
sie für sich alleine an einen einsamen Ort gehen (6,31), dann nach Betsaida vor‑ ausfahren (6,45). Beide Male gehorchen die Jünger und brechen mit dem Boot auf (πλοῖον, 6,32.45.47). Während zuerst die Jünger nach vollbrachten Taten (6,30) an einen vermeintlich einsamen Ort ‚für sich allein weggehen‘ (ἀπῆλθον [. . .] κατ’ἰδίαν, 6,32),12 ‚geht‘ Jesus nach vollbrachtem Speisungswunder ‚weg‘ (ἀπῆλ‑ θεν, 6,46) auf einen Berg, bleibt also ‚alleine‘ (αὐτὸς μόνος, 6,47) an Land. Beide Male geht bzw. fährt jemand ‚voraus‘; in 6,33 ‚läuft‘ das Volk an Land ‚vor‑ aus‘ (προῆλθον), in 6,45 sollen die Jünger ‚vorausfahren‘ (προάγειν). Schließlich werden die Jünger an beiden Perikopenanfängen ‚gesehen‘ (εἶδον bzw. ἴδοντες αὐτούς 6,33.48), das eine Mal von den vielen Leuten, das andere Mal von Jesus. 12
Die Darstellung in 6,31 f. legt nahe, dass die Jünger ohne Jesus wegfahren. Doch in 6,34 scheint es so, dass Jesus mit im Boot sitzt, denn er ‚steigt aus‘ (ἐξελθών, dieses Verb steht auch in 5,2 und 6,54 für ‚aus dem Boot aussteigen‘).
298
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
6,30 – 33 Einleitung Speisung I: Jesus schickt die Jünger an einen einsamen Ort
6,45 – 48 Einleitung Boot II: Jesus schickt die Jünger nach Betsaida
πλοῖον ἀπῆλθον [. . .] κατ’ἰδίαν προῆλθον εἶδον αὐτούς
πλοῖον ἀπῆλθεν [. . .] αὐτὸς μόνος προάγειν ἴδοντες αὐτούς
Wie 6,30 – 33 eine Art Vorspiel zur Speisungserzählung bildet, so ist 6,54 – 56 als Nachspiel an die eigentliche zweite Bootsgeschichte angehängt. In diesen rah‑ menden Abschnitten kommen viele Menschen zu den Jüngern bzw. zu Jesus, weil sie sie bzw. ihn erkennen (ἐπέγνωσαν, 6,33; επιγνόντες, 6,54). Im Vorspiel ‚lau‑ fen sie aus allen Städten zusammen‘ (ἀπὸ πασῶν τῶν πόλεων συνέδραμον, 6,33), im Nachspiel ‚laufen sie in jener ganzen Gegend herum‘ (περιέδραμον ὅλην τὴν χώραν ἐκείνην, 6,55), um die Kranken einzusammeln und zu Jesus zu bringen.
6,30 – 33 Vorspiel
6,34 – 44 Speisung
6,45 – 53 IBoot II
6,54 – 56 Nachspiel
ἐπέγνωσαν
επιγνόντες
ἀπὸ πασῶν τῶν πόλεων συνέδραμον
περιέδραμον ὅλην τὴν χώραν ἐκείνην
Die zweite Speisungserzählung (8,1 – 9) und die dritte Bootsfahrt (8,10 – 22) sind charakterisiert durch das zehnmalige ἔχειν – in ähnlicher Dichte erklingt es nur noch in der Gleichnisrede. Hier wie dort spielt Markus mit Haben und NichtHaben;13 hier insbesondere in Kombination mit ἄρτος. Auffällig ist dabei, dass ἔχειν in der einleitenden Episode der Bootsfahrt, der Begegnung Jesu mit den Pharisäern (8,10 – 13), nicht zu hören ist. Die Speisungserzählung und die Szene, in der die Jünger mit Jesus im Boot sind, beginnen sehr ähnlich: In 8,2 macht sich Jesus Gedanken darüber, dass die vielen Leute ‚nichts zu essen haben‘ (οὐκ ἔχου‑ σιν τί φάγωσιν), in 8,14 stellt der Erzähler fest, dass sie im Boot ‚kein Brot – außer einem – haben‘ (εἰμὴ ἕνα ἄρτον οὐκ εἶχον). Auch die Perikopenenden sind mit‑ einander verwandt; im Boot werden vor Jesu Schlussbemerkung – ‚Versteht ihr immer noch nicht?‘ (8,21) – die Ergebnisse des Speisungswunders rekapituliert. So sind hier wie dort ἑπτά, τετρακισχίλιοι, αἴρειν, κλάσματα, σπυρίδα zu hören (8,8 f.20). Liegt in 6,30 – 54 eine Rahmung durch ein Vor- und Nachspiel vor, ist hier nun mit der Pharisäerszene (8,10 – 13) eine Art Zwischenspiel zu hören, das inhaltlich auf die beiden äußeren Perikopen bezogen ist: Die Pharisäer verlangen von Jesus ein ‚Zeichen vom Himmel‘ (σημεῖον ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ, 8,11), das ihnen aber nicht gewährt wird; die Jünger hingegen sind selbst in das Speisungswunder involviert, verstehen aber nicht, was sie da gesehen und gehört haben. 13
Vgl. zur motivischen Wiederholung von ἔχειν in Kap. IV.4.2.3., S. 341 f.
IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils
8, 1 – 9 Speisung II
8,10 – 13 Zwischenspiel
4x ἔχειν 3x ἄρτος
6x ἔχειν 4x ἄρτος
ἑπτά, τετρακισχίλιοι αἴρειν κλάσματα σπυρίδα
ἑπτά, τετρακισχίλιοι αἴρειν κλάσματα σπυρίδα
299
8, 14 – 21 Boot III
Aufgrund der Klarheit der Form, in der sich alle Perikopen unterbringen lassen, und der zuletzt dargelegten engen Verflechtung der Brot- und Bootsgeschichten lege ich meiner Interpretation des zweiten Hauptteils primär dessen Wahrneh‑ mung als große Ringkomposition zugrunde; die Linearität der Erzählung kommt dennoch zur Geltung, indem die Auslegung die Fortspinnung der beiden roten Fäden „Identität Jesu“ und „Wer gehört zu ihm?“ verfolgt. An den beiden Erzählbögen lassen sich ganz allgemeine Beobachtungen machen: Der erste ist – trotz spiegelbildlicher Entsprechung der Perikopen – ungefähr doppelt so lang wie der zweite und viel detailreicher und anschaulicher erzählt. Das zeigt sich beim Vergleich der jeweils korrespondierenden Perikopen. So wird den Zuhörenden in der Erzählung des besessenen Geraseners (5,1 – 21) dessen unsäglicher Zustand ausführlich beschrieben, sie werden zu Zeugen eines ausführlichen, emotionalen Dialogs zwischen Jesus und der ‚Legion‘ unrei‑ ner Geister, die dann spektakulär mit den Schweinen im See untergeht. Die Geschichte ist damit aber erst in der Hälfte angelangt; man hört noch von der Furcht der Bevölkerung, als sie den Geheilten sehen, von ihrer Bitte, Jesus möge doch aus ihrer Gegend weggehen, und vom Geheilten, den Jesus nicht mitge‑ hen lässt und der stattdessen zum Verkünder der Taten Jesu wird. In der kurzen Erzählung vom Exorzismus an der Tochter der Syrophönizierin (7,24 – 31a) hin‑ gegen sind der Dämon und die Besessene nicht einmal anwesend. Das Personal beschränkt sich auf deren Mutter und Jesus, die Handlung im Wesentlichen auf den Dialog zwischen den beiden. Ein Exorzismus im eigentlichen Sinne wird nicht erzählt; Jesus sagt der Frau lediglich zu, dass der Dämon aus ihrer Tochter ausgefahren sei, was sich bei deren Heimkehr bestätigt. Ähnliche Unterschiede sind bei den Heilungsgeschichten der beiden Erzählbö‑ gen zu erkennen: In 5,21 – 6,1a sind in einer Sandwichkonstruktion zwei „Fälle“ miteinander verbunden; beide Schicksale sind als gravierend beschrieben: Die blutflüssige Frau unterzieht sich seit zwölf Jahren vergeblich einer Behandlung nach der anderen und gibt dafür ihr ganzes Geld aus, die Tochter des Jaïrus ringt gar mit dem Tod. Die Frau und der Vater der anderen Kranken suchen auf ver‑ schiedene Weise aktiv bei Jesus Hilfe: Jaïrus bittet Jesus flehentlich zu kommen, die Frau schleicht sich in der Menge heimlich an Jesus heran, weil sie sich – zu Recht, wie der Verlauf der Geschichte zeigt – dadurch Heilung verspricht. Beide glauben, dass Jesus ‚retten‘ (σώζειν, 5,23.28.34) kann. Beide Heilungsszenen sind mit reichlich Personal ausgestattet; viele Dialoge tragen zur Lebendigkeit
300 X
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 4,35–5,2a Bootsfahrt I: Furcht oder Ehrfurcht? Wer ist dieser, dass ihm Sturm und Meer gehorchen?
A1 A2
5,1–21 Exorzismus I: Der Besessene bei den Gräbern von Gerasa (Dekapolis) κύριος 5,21–61a Heilungen I: Zwei jüdische Töchter (galiläische Seeseite)
6,1b–32 Irdische Vergleiche I: Herkunft, Mutmaßungen, ein falscher König, Vorgänger und Nachfolger (galiläische Seeseite)
x X
B
A2 A1
x X
Jesusaa
B
6,30–45 Speisung I der 5000 (galiläische Seeseite) 6,45–56 Bootsfahrt II: Ein Gespenst auf dem Meer! Ἐγώ εἰµι (Ex 3,14), unverständig trotz der Brote Anhang (6,54b–56): alle anderen erkennnen ihn
7,1–24a Irdische Vergleiche II: Die falschen Lehrer (galiläische Seeseite)
7,24–31a Exorzismus II: Die Tochter der Syrophönizierin (Tyrus) κύριος 7,31–37 Heilung II: Der Taubstumme (Dekapolis)
8,1–9 Speisung II der 4000 (Dekapolis-Seeseite) 8,10–22a: Bootsfahrt III: Mit (k)einem Brot im Boot Versteht ihr immer noch nicht?!
Abb. 19b: Struktur des zweiten Hauptteils (4,35 – 8,22a) als Ringkomposition
bei. Die Hauptfiguren werden zudem auf ganz verschiedene Weise näher vor‑ gestellt: Jesu Name ist viermal zu hören; auch der Synagogenvorsteher Jaïrus und die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes werden namentlich genannt. Die blutflüssige Frau bekommt Konturen durch ihre ausführlich dargelegte Vor‑ geschichte (5,25 f.) und durch den Einblick, den der Erzähler in ihre Gedanken und Gefühle gewährt (5,28 f.33). Die Tochter des Jaïrus schließlich fällt durch die verschiedenen Bezeichnungen auf, mit denen sie erwähnt wird (θυγάτριον, θυγάτηρ, παιδίον, ταλιθα, κοράσιον). Die eine Heilung findet in aller Öffentlich‑ keit statt, bei der anderen wird genau erzählt, wie Jesus den Kreis der Augenzeu‑ gen des Wunders einschränkt (5,37.40), bis am Bett der mittlerweile gestorbenen Tochter nur noch deren Eltern und drei Jünger stehen und die Auferweckung miterleben. Ganz anders hingegen im zweiten Erzählbogen die Erzählung von der Heilung eines Taubstummen in der Dekapolis (7,31 – 37): Die Beteiligten
IV.2. Die Struktur des zweiten Hauptteils
301
bleiben sehr vage; sämtliche handelnden Personen – auch Jesus – verstecken sich sozusagen in den Verben, explizite Subjekte werden nirgends genannt. Über den Kranken erfährt man nur das für eine Heilungsgeschichte Nötigste; er wird als ‚taub und undeutlich redend‘ (κωφόν καὶ μογιλάλον, 7,32) vorgestellt. Außer ihm und Jesus gibt es nur eine undefinierte Gruppe von Menschen (Verben im Plural, αὐτοί). Die direkte Rede beschränkt sich auf ein Heilungswort Jesu (εφφαθα, 7,34) und den abschließenden Lobpreis der Menge (7,37). Der Kranke bleibt völlig passiv; über ihn ist nur zu erfahren, dass er nach der Behandlung durch Jesus gesund ist. Der Heilungsvorgang als solcher mit Berührungen, Speichel und Heilungswort gerät jedoch trotz aller Knappheit der Episode überraschend anschaulich. Schließlich zeigen sich die Unterschiede zwischen den beiden Erzählbögen auch bei den restlichen Perikopen, die ich unter dem Stichwort „Irdische Ver‑ gleiche“ zusammenfasse. Im ersten Erzählbogen ist das ein ganzes Konglomerat verschiedener Episoden (6,1b – 32), die in der Exegese traditionellerweise einzeln behandelt werden.14 Immer wieder kommt die Identität Jesu explizit zur Sprache. So fragen sich die Nazarener bei Jesu Besuch in der ‚Heimat‘ (πατρίς, 6,1): ‚Ist dieser nicht . . .?‘ (οὐχ οὗτός ἐστιν, 6,3). Sie beschreiben ihn in menschlichen Kategorien: Zimmermann, Sohn der Maria, Bruder von Jakobus und Co. Jesus selbst vergleicht seine Situation mit der eines ‚Propheten‘ (προφήτης, 6,4). In 6,14 f. sind verschiedene falsche Zuschreibungen zu hören, die in der Bevölke‑ rung kursieren (‚man sagt‘, ἔλεγον, 6,14.15): Johannes der Täufer, Elia, einer der Propheten. König Herodes schließt sich der ersten Meinung an, worauf detail‑ reich und anschaulich das Ende Johannes des Täufers, des Vorläufers Jesu, erzählt wird. Herodes wird dabei als Karikatur eines wahren Königs dargestellt. Die Johannes-Herodes-Erzählung ist in einer Sandwichkonstruktion von der Aussen‑ dung der Zwölf (6,7 – 13) und deren Rückkehr mit Bericht ihrer Taten (6,30 – 32) eingerahmt. Sie übernehmen als Jesu Nachfolger von diesem den Stab und führen seine Aufgaben – Verkündigung, Heilungen und Exorzismen – weiter. Diesem bunten Bild steht im zweiten Erzählbogen eines gegenüber, das sich auf die Pha‑ risäer und Schriftgelehrten als Gegenfolie zu Jesus konzentriert (7,1 – 24a). Jene sind die falschen Lehrer, dieser erweist sich in der als Lehr- bzw. Streitgespräch konzipierten Perikope als der wahre Lehrer für alle: Für seine Gegner (7,6 – 13), für das Volk (7,14 f.) und insbesondere für die Jünger (7,17 – 23). 14
Die Szene in Jesu Heimatdorf (6,1 – 6a bzw. 6b) wird in allen mir bekannten Kommenta‑ ren als eigenständig, dazu oft auch als Abschluss eines längeren Abschnitts angesehen, wobei die Ansichten darüber, wo dieser beginnt, recht unterschiedlich sind: 3,7 – 6,6a (Schweizer, Mk, 214; Marcus, Mk I, 64; Broadhead, Mk, v; Stein, Mk, 35), 3,13 – 6,6[a] (Gnilka, Mk I, 32; Guelich, Mk I, xxxvii), 4,35 – 6,6a (Collins, Mk, ix), 5,1 – 6,6 (van Iersel, Mk, 125). Anders gliedern Pesch, der 3,7 – 6,29 zu einem zweiten Hauptteil und innerhalb dessen 6,1 – 29 zu einer Einheit zusammenfasst (Pesch, Mk I, 34 f.), France, der 1,14 – 8,21 nur noch auf Perikopen ebene unterteilt (France, Mk, 14), und Lührmann, dessen Grundriss dem hier vertretenen sehr nahe kommt und der 4,35 – 8,26 als zweiten größeren Abschnitt sieht (Lührmann, Mk, 93).
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
IV.3. Wer ist dieser? Die Frage nach der Identität Jesu ‚Wer ist dieser?‘ – ‚Ich bin’s!‘ – ‚Versteht ihr immer noch nicht?‘ (4,41; 6,50; 8,17.21) – mit diesen drei Zitaten aus den drei Bootsfahrten ist der Spannungs‑ bogen des zweiten Hauptteils in aller Kürze skizziert. Deutlich wird dabei auch, dass die beiden roten Fäden der Identität Jesu und der seiner Nachfolger mitei nander verschlungen sind: Zu den ‚Insidern‘ zu gehören heißt zu ‚verstehen‘, wer dieser ist. Dennoch werde ich im Folgenden die beiden Fäden zunächst einzeln verfolgen. Nach einem Resümee dessen, was in der bisherigen Erzählung über Jesu Iden‑ tität zu erfahren war, widme ich mich zuerst den Boots- und Brotgeschichten, dann den Perikopen, die mit Vergleichen zu anderen Menschen versuchen, der Identität Jesu auf die Spur zu kommen, und schließlich den Geschichten von Hei‑ lungen und Exorzismen. Ergänzt wird dieses Kapitel mit Beobachtungen hörbarer struktureller Auffälligkeiten am Text, die ebenfalls ihren Beitrag zum Bild Jesu leisten, das Markus in diesem zweiten Hauptteil zeichnet (IV.3.5.).
IV.3.1. Was bisher geschah In der Ouvertüre (1,1 – 15) wurde der Protagonist der folgenden Erzählung vor‑ gestellt: ‚Jesus Christus‘. Unter diesem Namen kennen ihn die Hörerinnen und Hörer des Markus. Der Autor bezeichnet den Menschen ‚Jesus aus Nazareth in Galiläa‘ (1,9) als ‚Sohn Gottes‘ (1,1) und bietet mit der Stimme aus dem Himmel Gott selbst als Zeugen auf, um dies zu bestätigen: ‚Du bist mein geliebter Sohn‘ (1,11). Zur Himmelsstimme gesellt sich der Heilige Geist, der auf Jesus herab‑ steigt (1,10). Der Satan kann ihm nichts anhaben, ihm dienen die Engel (1,13). Das Kommen Jesu wird als die Erfüllung der Verheißung der Schrift gedeutet, die das Kommen des ‚Herrn‘ verheißt (1,2 f.). Johannes der Täufer erweist sich als der ebenfalls angekündigte Vorläufer des Herrn. Am Ende dieses polyphonen Klanggemäldes ist zu hören, dass ‚das Reich Gottes nun da ist‘ (1,15). In der Per‑ son Jesu ist es, ja ist Gott selbst gegenwärtig. Im ersten Hauptteil breitet sich die Kunde Jesu rasant aus; er ist gekommen um zu verkündigen (1,38 f.) und um die Sünder zu rufen (2,17). Die Vollmacht seiner Lehre erweist sich in seinen wunderwirkenden Worten. Die ἐξουσία (1,22.27; 2,10), die hier zutage tritt, ist anders als die der Schriftgelehrten (1,22) von gött‑ licher Art. Der ‚Menschensohn‘, wie Jesus sich selbst bezeichnet, ‚kann‘ (δύνα‑ σθαι, 1,40.45; 2,7) nicht nur Wunder wirken, sondern wie Gott Sünden vergeben (2,7.10) und ist ‚Herr‘ (κύριος, 2,28) über den Sabbat. Es wird bestätigt, dass er aus der Kraft des Heiligen Geistes agiert (3,29). Menschen und Dämonen gehor‑ chen ihm aufs Wort: Die, die er ruft, folgen ihm nach, die unreinen Geister fahren aus. Nur Letztere wissen, dass der ‚Menschensohn‘ (υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, 2,10.28) der ‚Gottessohn‘ (υἱὸς τοῦ θεοῦ, 3,11) ist. Schließlich tritt er in der Gleichnis‑ rede als souveräner Lehrer vor einem riesigen Publikum auf (4,1 f.). Nur an zwei
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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Stellen wird das starke, machtvolle Bild Jesu durchbrochen von nur für kundige Ohren wahrnehmbaren Hinweisen auf seinen bevorstehenden gewaltsamen Tod (2,20; 3,6).
IV.3.2. Ich bin’s! Die Identität Jesu in den Geschichten von Booten und Broten IV.3.2.1. Dem Wind und Meer gehorchen (4,35 – 5,2a) (Vgl. Abb. 21, S. 362) Die Perikope der ersten Bootsfahrt ist wie alle drei Boots‑ fahrten gerahmt vom Ablegen vom einen und der Ankunft am anderen Ufer des Sees. Innerhalb dieser Inclusio sind hier zwei Ringkompositionen zu erkennen, die sich überschneiden (s. Grafik). Im Zentrum der ersten Ringkomposition (V. 37 – 39) steht das Wort der Jünger an Jesus (X, V. 38c), die ihn mit ‚Lehrer‘ (διδάσκαλε) ansprechen. Überliefert Markus bis hierher erst eine einzige direkte Rede der Jünger Jesu,15 sind ab hier immer wieder ihre Stimmen zu hören, mit Ausnahme der Verleugnung des Petrus (14,68.71) ausschließlich im Gespräch mit Jesus. Zum ersten Mal überhaupt im Markusevangelium spricht ein Mensch Jesus mit einem Titel an. Die unmittelbar vorausgehende Gleichnisrede war deutlich als ‚Lehre‘ (διδαχή, zwei Mal διδάσκειν in 4,1 f.) deklariert und auch sonst war davon zu hören, dass Jesus in der Synagoge (1,21.22.27) und am Meer (2,13) ‚lehrt‘ oder auch in einem Haus ‚das Wort sagt‘ (ἐλάλει [. . .] τὸν λόγον, 2,2). Neu ist in 4,38 also nicht, dass Jesus als ‚Lehrer‘ agiert, sondern dass er als solcher angespro‑ chen wird. Die beiden Ringe der zweiten Ringkomposition (V. 39 – 41) enthalten Jesu wirkmächtiges Wort, das Sturm (c) und Meer (f) zum Schweigen (g) bringt, sowie die Wirkung dieses Wunders auf die Jünger: Als aus dem ‚großen Sturm‘ (λαίλαψ μεγάλη ανέμου) die ‚große Stille‘ (γαλήνη μεγάλη) wird, ‚fürchten‘ sie ‚eine große Furcht‘ (ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν). Textintern kann das ‚auch‘ in der Frage der Jünger ‚Wer ist dieser, dass ihm auch der Sturm und das Meer gehor‑ chen?‘ (τίς ἄρα οὖτός ἐστιν ὅτι καὶ ὁ ἄνεμος καὶ ἡ θάλασσα ὑπακούει αὐτῷ, 4,41) als Erinnerung an frühere Wunder verstanden werden, bei denen Dämonen oder auch Krankheiten Jesus ‚gehorchten‘. Insbesondere zum ersten Exorzismus in der Synagoge zu Kafarnaum (1,21 – 29a) sind deutliche Anklänge zu hören:
1,21 – 29a
4,35 – 5,2a
2x διδάσκειν, 2x διδαχή
διδάσκαλε
ῆλθες ἀπολέσαι ἡμᾶς
οὐ μέλει σοι ὅτι ἀπολλύμετα
ἐπετίμησεν αὐτῷ φιμώθητι
ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ πεφίμωσο
15
Petrus spricht zu Jesus in 1,37. Darüber hinaus wird in 1,30 (dort könnten theoretisch auch irgendwelche anderen Leute Subjekt von λέγουσιν sein) und 4,10 (dort fragen die περὶ αὐτὸν σὺν τοῖς δώδεκα) erzählt, dass sie sich an Jesus mit Bitten oder Fragen richten.
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a πρὸς ἑαυτοὺς λέγοντας τί ἐστιν τοῦτο καὶ ὑπακούουσιν αὐτῷ
ἔλεγον πρὸς ἀλλήλους τίς [. . .] οὗτός εστιν καὶ ὑπακούει αὐτῷ
Zwei der genannten Lemmata – φιμοῦν und ὑπακούειν – kommen innerhalb des Markusevangeliums nur in diesen beiden Perikopen vor. Fragten sich zu Beginn des ersten Hauptteils die Leute in der Synagoge nach seiner Lehre (1,27), fragen sich nun zu Beginn des zweiten seine Jünger nach seiner Identität (4,41). Es stellt sich heraus, dass ihm sogar ‚Sturm und Meer gehorchen‘. In dieser Aussage klin‑ gen mehrere Stellen aus den Schriften an. In mehreren Psalmen wird Gott selbst als Herr über Sturm und Meer dargestellt; dazu gehört sowohl die Entfachung als auch die Beruhigung von Sturm und Wellen. In Ps 64LXX ist es ‚Gott, unser Retter‘ (ὁ θεὸς ὁ σωτὴρ ἡμῶν, V. 6), der ‚das Brausen der Meere aufschreckt, das Rauschen seiner Wellen‘ (ὁ συνταράσσων τὸ κύτος θαλάσσης, ἤχους κύματων αὐτῆς, V. 8).16 Ps 88,9 f.LXX spricht davon, dass der ‚Herr, Gott der Mächte‘ (κύριε ὁ θεὸς τῶν δυνάμεων) ‚über die Stärke des Meeres herrscht‘ (σὺ δεσπόζεις τοῦ κράτους τῆς θαλάσσης) und ‚das Wogen seiner Wellen besänftigt‘ (τὸν δὲ σάλον τῶν κυμάτων αὐτῆς σὺ καταπραΰνεις). In Ps 106LXX ist nicht nur von der Beruhigung eines Sturmes auf dem Meer zu hören; die in dessen V. 23 – 30 erzählte Begebenheit ähnelt im Ganzen der ersten Bootsfahrt des Markusevan‑ geliums. Wie hier ist man auch im Psalm auf dem Meer in Booten unterwegs (καταβαίνοντες εἰς τὴν θάλασσαν ἐν πλοίοις, V. 23), dort spricht der ‚Herr‘ (κύριος, V. 24) ‚und ein Sturmwind kommt auf und seine [des Meeres] Wellen werden hochgehoben‘ (καὶ ἔστη πνεῦμα καταγίδος καὶ ὑψώθη τὰ κύματα αὐτῆς, V. 25). Die Menschen im Boot ‚schreien in ihrer Bedrängnis zum Herrn‘ (ἐκέκραξαν πρὸς κύριον ἐν τῷ θλίβεσθαι αὐτούς, V. 28), worauf dieser ‚dem Sturm befiehlt‘ (ἐπέταξεν τῇ καταγίδι), der ‚zum Lüftchen wird‘ (καὶ ἔστη εἰς αὔραν). ‚Auch die Wel‑ len schweigen‘ (καὶ ἐσίγησαν τὰ κύματα αὐτῆς, V. 29).
Vor den inneren Augen der Hörerinnen, denen bei der markinischen Erzählung von der Sturmstillung diese Psalmtexte in den Sinn kommen, rückt Jesus in die Position Gottes, ohne dass Markus das explizit formuliert. Dabei bleibt offen, inwieweit die Nähe der ganzen Perikope zu Ps 106,23 – 30LXX zur Überlegung anregt, dass Jesus den Sturm nicht nur stillt, sondern ihn auch verursacht haben könnte. Eine weitere Verwandtschaft ist zu der Bootsfahrt zu erkennen, die im ersten Kapitel des Jonabuches steht. Auch hier sind einige der genannten Motive zu fin‑ den, doch ergeben sich im Ganzen andere Rollenbezüge. Auch Jona17 begibt sich auf eine Bootsfahrt (καὶ εὗρεν πλοῖον [. . .] καὶ ἐνέβη εἰς αὐτό, 1,3) und gerät in einen Sturm mit großen Wellen, denen das Boot ganz ausgeliefert ist (καὶ ἐγένετο κλύδων μέγας ἐν τῇ θαλάσσῃ καὶ τὸ πλοῖον ἐκινδύνευεν συντριβῆναι, 1,4). Wie in den Psal‑ men ist es Gott, der den Sturm entstehen lässt (καὶ κύριος ἐξήγειρεν πνεῦμα εἰς τὴν θάλασ‑ σαν, 1,4). Wie Jesus bei Markus schläft Jona während des Unwetters; er tut das im Bauch des Schiffes (Ιωνας δὲ κατέβη εἰς τὴν κοίλην τοῦ πλοίου καὶ ἐκάθευδεν, 1,5). Er gibt sich seinen 16
Abweichend dazu Ps 65,8MT, wo Gott das Brausen des Meeres nicht ‚aufschreckt‘, son‑ dern ‚stillt‘ ()משביח. 17 Alle folgenden Zitate nach Jona 1LXX.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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Mitreisenden als ‚Diener des Herrn‘ zu erkennen (δοῦλος κυρίου ἐγώ εἰμι, 1,9). Dieser ‚Herr‘ ist der Schöpfer, der ‚das Meer und das Trockene gemacht hat‘ (κύριος θεὸς τοῦ οὐρανοῦ [. . .] ὅς ἐποίησεν τὴν θάλασσαν καὶ τὴν ξηράν, 1,9). Vor diesem Gott bzw. vor dessen Auftrag ist Jona geflohen (1,2 f.) und ‚das Meer beruhigt sich‘ erst, als Jona über Bord geworfen wird (κοπάσει ἡ θάλασσα, 1,11.12; ἔστη ἡ θάλασσα ἐκ τοῦ σάλου αὐτῆς, 1,15). Aus der Tatsache, dass danach die Seeleute diesen ‚Herrn mit großer Furcht fürchten‘ (καὶ ἐφοβήθησαν οἱ ἄνδρες φόβῳ μεγάλῳ τὸν κύριον, 1,16), ist zu schließen, dass es ‚der Herr‘ war, der das Unwetter beendet hat.
Der Beginn der Jonageschichte bietet wie die Psalmen für die markinische Erzäh‑ lung von der Sturmstillung den Hintergrund, auf dem Jesus Gott gleich zu sein scheint. Gleichzeitig erklingt aber eine Art Kontrapunkt, da Parallelen auch zwi‑ schen Jona und dem markinischen Jesus zu erkennen sind. Auch hier kann nur spekuliert werden, wie weit die Assoziationen der Hörerinnen und Hörer des Markusevangeliums gehen: Sehen sie Jesus wie Jona als einen Propheten? Gehört zu diesem Prophetenbild dazu, dass dieser vor Gott zu fliehen versucht? Haben sie auch die Fortsetzung der beiden Bücher im Kopf und bringen die drei Tage Jonas im Bauch eines Walfisches mit den drei Tagen zwischen Tod und Auferste‑ hung Jesu in Verbindung? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch die motivischen Resonanzen innerhalb des Markusevangeliums in der Erzählung von der ersten Bootsfahrt das Thema der ἐξουσία Jesu wieder aufgenommen wird, ohne das Wort selbst zu gebrauchen. Obwohl die Lehre Jesu hier keine Rolle spielt, weist die Anrede διδάσκαλε darauf hin, dass Jesus mittlerweile zumindest im Jüngerkreis als Leh‑ rer etabliert ist. Auch wenn er in dieser Perikope nicht lehrt, dient doch auch hier wieder die Wirkmacht seines Wunderworts zur Bestätigung seiner von Gott verliehenen Autorität. Indem Markus auf alttestamentliche Vorstellungen zurück‑ greift, die mit Gott dem Schöpfer, dem die Naturgewalten unterstehen,18 und Gott dem Retter19 verbunden sind, und sogar ganze Geschichten wie die der See‑ leute in Ps 106,23 – 30LXX und die des Jona in seiner Komposition wiedererkenn‑ bar sind, wird nun deutlich, dass Gott selbst in Jesus auftritt und am Werk ist.20 Auch das muss nicht explizit gesagt werden, sondern wird in diesen vielfältigen Anklängen hörbar. 18
Vgl. auch France, Mk, 221. Zu Gott als Retter ließen sich natürlich unzählige Schriftbezüge nennen. Van Iersel ver‑ weist auf Psalmen, in denen die Vorstellung vom schlafenden Gott zu finden ist, der von Men‑ schen in Bedrängnis aufgeweckt wird (Ps 44,24 – 27; 59,6; vgl. van Iersel, Mk, 195). 20 Auch Pesch und Collins formulieren dies sehr deutlich: „Jesus handelt in der Macht Jahwes selbst“ (Pesch, Mk I, 269). „The narrative thus portrays Jesus behaving not like a de‑ vout human person but like God, who caused the sea to cease from its raging in the Jonah story. Thus, Jesus is portrayed not so much as a human being who has trust in God’s power to save, but as a divine being.“ (Collins, Mk, 260). Lührmann hingegen meint, dass Jesus „nicht Gott selber ist, [. . .] wohl aber der, der von Gott in seinem Handeln gerechtfertigt wird.“ (Lührmann, Mk, 97). 19
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
IV.3.2.2. Der auf dem Meer vorübergeht (6,45 – 56) (Vgl. Abb. 26, S. 384) Abgesehen von den Textsignalen, die allen Tripelepisoden des zweiten Hauptteils gemeinsam sind,21 nimmt diese zweite Bootsfahrt noch etwas anderes aus der ersten auf: Man ist abends (ὀψίας γενομένης, 4,35; 6,47) im Boot, ein Wind kommt auf, der sich am Ende wieder legt (καὶ ἐκόπασεν ὁ ἄνεμος, 4,39; 6,51). Er ist jedoch nun kein lebensbedrohlicher Sturm, sondern es heißt lediglich, dass ‚der Wind ihnen entgegen stand‘ (ἦν γὰρ ὁ ἄνεμος ἐναντίος αὐτοῖς, 6,48), sodass das Rudern zur ‚Tortur‘ wurde (βασανιζομένοι, 6,48). Auch die Stillung des Windes ist unspektakulär, ja kann als „Stillung“ überhaupt nur von Hörern interpretiert werden, die die erste Geschichte kennen. Der Wind legt sich einfach, als Jesus zu den Jüngern ins Boot steigt (6,51). Ein wunderwirken‑ des Machtwort scheint nicht mehr nötig zu sein; es ist schon selbstverständlich, dass Wind und Wellen Jesus gehorchen. Innerhalb dieses Rahmens wird eine neue Geschichte erzählt: Der Seewandel Jesu. Jesus ist dieses Mal nicht mit den Jüngern im Boot, sondern schickt sie vor‑ aus und bleibt selbst an Land. Als er sieht, wie sie gegen Ende der Nacht mit dem Wind kämpfen, kommt er zu ihnen‘ (ἔρχεται πρὸς αὐτούς, 6,48), indem er ‚auf dem Meer wandelt‘ (περιπατῶν ἐπὶ τῆς θαλάσσης, 6,48). Dann heißt es jedoch, ‚er wolle an ihnen vorübergehen‘ (ἤθελεν παρελθεῖν αὐτούς, 6,48). Die Jünger halten ihn für ein Gespenst und geraten außer sich. Jesus spricht sie an und gibt sich zu erkennen. Anschließend kommt er tatsächlich ‚zu ihnen‘ (πρὸς αὐτούς, 6,51) und steigt ins Boot. Formal ist dieser innere Kern der Wundergeschichte (6,48 – 51) als Ringkom‑ position (A – B – C – C – B – A) aufgebaut, die wiederum auf niedrigerer Ebene klei‑ nere Ringkompositionen beinhaltet. Den äußeren Ring (A) bilden der Wind und dessen Stillung, den nächstinneren (B) das ‚Kommen‘ Jesu zu den Jüngern, das zunächst durch das ‚vorübergehen Wollen‘ unterbrochen wird. Im Zentrum (C) stehen schließlich zwei etwas ausführlichere Textblöcke, die selbst jeweils wie‑ der als Ringkompositionen angelegt sind: Der erste wird durch die Inclusio des Sehens (b) der Jünger zusammengehalten, der zweite durch ihr Erschrecken (d), auf das Jesus reagiert (dopp / dvar.neg). Je im Zentrum der beiden Blöcke stehen sich die irrtümliche Meinung der Jünger, es ‚sei ein Gespenst‘ (φάντασμά ἐστιν, xopp, 6,49), und das ‚ich bin’s‘ Jesu (ἐγώ εἰμι, x, 6,50) gegenüber, mit dem er sich ihnen zu erkennen gibt. Im Kern der zweiten Bootsfahrt stehen also eine falsche Zuschreibung ‚er ist XY‘ (ἐστιν) und mit ‚ich bin’s‘ (ἐγώ εἰμι) eine Aussage Jesu, die man als Selbst offenbarung bezeichnen könnte. Dafür spricht die Verwendung von ἐγώ εἰμι im Markusevangelium. Es ist nur zwei weitere Male zu hören, auch dann jeweils aus dem Munde Jesu, ohne Prädikatsnomen und im Zusammenhang mit ἔρχεσθαι. In 14,62 antwortet Jesus auf die Frage des Hohenpriesters, ob er ‚Christus, der 21
Vgl. Kap. II., S. 64.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
307
Sohn des Hochgelobten‘ sei, mit ἐγώ εἰμι und verheißt das ‚Kommen‘ (ἐρχόμε‑ νος) des Menschensohnes. In 13,6 warnt Jesus vor denen, die in seinem Namen ‚kommen‘ (ἐλεύσονται), und mit ἐγώ εἰμι zu Unrecht seine Identität beanspru‑ chen. Jesus ist der, der gekommen ist und kommen wird. Darüber, ob ἐγώ εἰμι an Ex 3,14, Dtn 32,39 oder andere alttestamentliche Selbstoffenbarungen Gottes erinnern soll, kann gestritten werden;22 aufgrund der vielen anderen Referenzen auf Schriftworte zur Charakterisierung der Person Jesu und aufgrund des Befun‑ des in der Septuaginta liegt es zumindest im Bereich des Möglichen. In den Schriften der Septuaginta, in denen ἐγώ εἰμι auffällig gehäuft vorkommt (Lev 24 Mal; Ez 32 Mal), ist es nur aus dem Munde Gottes zu hören, fast ausschließlich in der Formel ἐγώ εἰμι κύριος (Ez) bzw. ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν (Lev). Auch in anderen Büchern (Ex, Jes, Jer) überwiegt dieser formelhafte Gebrauch. Collins ist aber recht zu geben, dass ἐγώ εἰμι auch häu‑ fig auf Menschen bezogen ist.23 Das ist v. a. in Erzählungen der Fall (insbes. Gen, Ri, 1 / 2 Sam); dort liegt aber kein formelhafter Gebrauch vor. Nur an ganz wenigen Stellen ist ἐγώ εἰμι wie in Mk 6,50 ohne Prädikat zu finden: Aus dem Munde eines Menschen ist es nur in 2 Sam 2,20 auf die Frage ‚Bist Du Asael?‘ zu hören. In direkter Gottesrede kommt absolutes ἐγώ εἰμι zumeist mit einem Alleinstellungsanspruch zusammen vor: ἴδετε ἴδετε ὅτι ἐγώ εἰμι, καὶ οὐκ ἔστιν θεὸς πλὴν ἐμοῦ (Dtn 32,39). Ἐγώ εἰμι, καὶ οὐκ ἔστιν ἔτι (Jes 45,18). In dieser Weise, doch noch mit dem auch auf der markinischen Bootsfahrt thematisierten ‚Erkennen‘24 des sich selbst Offen‑ barenden verknüpft, wird es in Jes 43,10 verwendet: [. . .] ἵνα γνῶτε καὶ πιστεύσητε καὶ συνῆτε ὅτι ἐγώ εἰμι, ἔμπροσθέν μου οὐκ ἐγένετο ἄλλος θεὸς καὶ μετ’ ἐμὲ οὐκ ἔσται. In Jes 41,4 und 46,4 ist ἐγώ εἰμι zudem mit Zeitangaben verbunden, die sich auch so übersetzen lassen, dass ἐγώ εἰμι absolut verstanden werden kann: ‚Bis zu den kommenden Zeiten / bis ins Alter gilt: Ich bin(s).‘ Zwei Stellen, an denen in direkter Rede Gott selbst Babylon Worte in den Mund legt, sind erkennbar den göttlichen Selbstoffenbarungen nachgestaltet (ἐγώ εἰμι, καὶ οὐκ ἔστιν ἑτέρα; Jes 47,8.10) und als unangemessener Anspruch auf Göttlichkeit und damit als Blasphemie zu verstehen.25
Aber auch ohne den Bezug zu diesen Stellen lässt sich ἐγώ εἰμι hier als Bestäti‑ gung der Göttlichkeit Jesu verstehen; jeder Hörerin ist klar, dass ein Mensch nicht auf dem Wasser laufen kann. Zudem will es nicht recht zusammenpassen, dass Jesus zu den Jüngern geht, dann aber an ihnen vorübergehen will. Was im narrati‑ ven Zusammenhang Schwierigkeiten bereitet, wird als Reminiszenz an Aussagen über den κύριος der Septuaginta verständlich, die in bereits gewohnter Weise in einer Art „Überblendtechnik“ zu Aussagen über den markinischen Jesus werden. 22 Malbon ist überzeugt davon, dass Markus hier auf Ex 3,14 anspielt (Malbon, Mark’s Jesus, 141); auch Pesch nennt ἐγώ εἰμι eine „Offenbarungsformel“, in der „Jahwe epiphan“ würde (Pesch, Mk I, 362; ähnlich auch Dschulnigg, Mk 194). France und Lührmann halten dies für falsch (vgl. France, Mk, 273, Anm. 71; Lührmann, Mk, 122). Auch Collins hält es zumindest für möglich, dass manche Hörerinnen, denen entsprechende Schriftstellen vertraut sind, diese Bezüge herstellen (Collins, Mk, 335). 23 Vgl. Collins, Mk, 335. 24 Nota bene in Jes 43,10 mit ‚Glauben‘ parallel gestellt; vgl. οὔπω ἔχετε πίστιν auf der ersten Bootsfahrt (4,40). 25 Vgl. Baltzer, Dtjes, 354.
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Die Kombination der Momente ‚auf dem Meer gehen‘ – ‚vorübergehen‘ – ‚nicht erkannt wer‑ den‘ findet sich mit sehr ähnlichem Vokabular bereits in einer Rede Hiobs (Hi 9), in der er über die Größe und Unfassbarkeit Gottes spricht. Dort heißt es in der Fassung der Septuaginta: ‚Der allein den Himmel ausspannt und wandelt auf dem Meer, als sei es fester Boden‘ (περιπατῶν ὡς ἐπ’ ἐδάφους ἐπὶ θαλάσσης, 9,826); und wenig später: ‚Wenn er über mich schreitet, werde ich ihn gar nicht sehen; und wenn er an mir vorübergeht, werde ich ihn trotzdem nicht erkennen.‘ (ἐὰν ὑπερβῇ με οὐ μὴ ἴδω· καὶ ἐὰν παρέλθῃ με, οὐδ’ ὧς ἔγνων, 9,11). Während es in der Sep‑ tuaginta keine weiteren Stellen gibt, in denen jemand auf dem Wasser läuft,27 werden auch die Theophanien vor Mose (Ex 33,18 – 23; 34,5 f.) und vor Elia (1 Kön 19,11) – in der Septuaginta jeweils mit dem auch bei Hiob und Markus verwendeten Verb παρέρχεσθαι – als ‚Vorübergehen Gottes‘ beschrieben.
So gibt Jesus mit ἐγώ εἰμι die Antwort auf die Frage, die sich den Jüngern schon auf der ersten Bootsfahrt und hier erneut stellt: ‚Wer ist dieser?‘ (4,41). Ihre fal‑ sche Antwort φάντασμά ἐστιν kontrastiert Markus mit der Selbstoffenbarung Jesu, die aufgrund der vielfältigen Schriftbezüge den typischen Klang einer Theo‑ phanie annimmt. Dieses ἐγώ εἰμι ist eingerahmt vom Zuspruch Jesu an die Jünger: ‚Seid getrost!‘ (θαρσεῖτε), ‚Fürchtet euch nicht!‘ (μὴ φοβεῖσθε). Schließlich steigt er zu ihnen ins Boot (B); hier wird vollendet, was zu Beginn durch die irritierenden Anklänge an alttestamentliche Theophanien unterbrochen wurde. Der, der sich hier offenbart, kommt im Menschen Jesus zu den Menschen und wendet sich ihnen zu. IV.3.2.3. Ziemlich verzweifelt (8,10 – 22a) (Vgl. Abb. 31, S. 396) In der letzten Perikope des zweiten Hauptteils, der Erzäh‑ lung von der dritten Bootsfahrt, werden wichtige Themen der letzten Kapitel gebündelt: Ein letztes Mal sitzen Jesus und die Jünger im Boot, die beiden Spei‑ sungswunder werden explizit erwähnt. Nach der Frage der Jünger und der Ant‑ wort Jesu in den ersten beiden Tripelepisoden – ‚Wer ist dieser?‘ (4,41) und ‚Ich bin’s‘ (6,50) – endet dieser Hauptteil auf der dritten Bootsfahrt mit einem Stoß‑ seufzer des Lehrers, der seine didaktischen Bemühungen gescheitert sieht: ‚Ver‑ steht ihr immer noch nicht?‘ (8,21). „Nichtverstehen“ ist das zentrale Thema der Perikope, das alles andere in den Hintergrund drängt. Neues zur Identität Jesu ist kaum zu erfahren; entsprechende alttestamentliche Anklänge sind rar. Allenfalls kann in Jesu Antwort an die Pharisäer δοθήσεται σημεῖον (8,12) als Passivum divinum28 verstanden und als Referenz an verschie‑ dene Schriftpassagen gehört werden, die davon sprechen, dass Gott ‚ein Zeichen gibt‘ (σημεῖον διδόναι). 26
Im MT heißt es, er ‚wandle auf den Höhen des Meeres‘ ()ןרורך על־במתי ים. Texte, die vom wunderhaften Durchqueren des Meeres oder eines Flusses sprechen, wie sie etwa Collins anführt, halte ich für die hier beschriebene Szene nicht für relevant (vgl. Collins, Mk, 329 f.). 28 Vgl. Pesch, Mk I, 407. 27
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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In der Septuaginta ist das Subjekt von σημεῖον διδόναι fast immer Gott (so in Gen 9,12; Dt 6,22; Ex 8,19; 2 Chr 32,34; Neh 9,10; Jes 7,14; Ez 20,12). Ein Zeichen, das dem Pharao gegeben wurde (Ex 7,9 f.), wird später als Zeichen bezeichnet, das Gott gegeben hat (Dt 6,22; Neh 9,10). In Dt 13,2 – 4 gibt ein Prophet oder ein ‚Träumer‘ Zeichen, der propagiert, anderen Göttern zu folgen. Dadurch stellt aber JHWH sein Volk auf die Probe. In Jer 31,9LXX findet sich im Rah‑ men der Sprüche gegen Moab abweichend vom masoretischen Text (dort ist von Flügeln die Rede; Jer 48,9MT) die Aufforderung δότε σημεῖα, doch wird aus dem Zusammenhang nicht klar, wer hier von Gott aufgefordert wird. In Ez 9,4 schließlich ist mit ‚Zeichen‘ ein konkretes Mal gemeint, dass auf die Stirn gezeichnet (δός τὸ σημεῖον) werden soll.
Auch die Verweigerung des Zeichens, die in 8,12 vorliegt, kann aufgrund die‑ ser Resonanzen als Akt verstanden werden, der in göttlicher Autorität ausgeübt wird. Abgesehen davon beschränkt sich das, was über Jesus gesagt wird, auf Erinne‑ rungen: Auch die Jünger bekommen kein weiteres ‚Zeichen‘, sondern Jesus reka‑ pituliert mit ihnen nur die schon geschehenen Speisungswunder. Nur schwach ist der Anklang an seine Lehrtätigkeit. Als Lehrer, der ihnen etwas zu sagen hat (8,15), scheinen ihn die Jünger nicht mehr wahrzunehmen; sie sind mit ihrem eigenen Thema ‚kein Brot haben‘ beschäftigt. Das Publikum des Markus wird auf dieser letzten Bootsfahrt, in der das Wichtigste des zweiten Hauptteils nochmals zur Sprache kommt,29 durch die sehr kurze Lehrrede Jesu an die längeren Passa‑ gen erinnert, in denen Herodes als schlechter König (6,14 – 29) und die Pharisäer als falsche Lehrer (7,1 – 24a) dargestellt wurden. Diese Bilder dienen als Negativ‑ folien, vor denen das Bild Jesu als des wahren Königs und Messias’ und als des wahren Lehrers noch schärfere Konturen bekommt. Hier warnt Jesus ‚vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes‘ (ἀπὸ τῆς ζύμης τῶν Φαρισαίων καὶ τῆς ζύμης Ἡρῴδου (8,15). Die Metapher des Sauerteigs, die im Kontext der Warnung und der Gegenbilder zu Jesus nur negativ konnotiert sein kann,30 fügt sich ins Thema „Brot“ ein. IV.3.2.4. Der das Brot bricht (6,30 – 45; 8,1 – 9) (Vgl. Abb. 25a / b, S. 380 / 382; Abb. 30, S. 394) Diese beiden Perikopen weisen so viele Ähnlichkeiten auf, dass zuerst zur Sprache kommen soll, was sie gemein‑ sam zur Darstellung der Person Jesu beitragen. Erst in einem zweiten Schritt werde ich auf ihre jeweiligen Eigenheiten eingehen. 29
So versteht auch Malbon die letzte Bootsfahrt: „It is a careful, symbolic drawing together of themes that have been developed since 4,1.“ (Malbon, Company, 37). 30 Pesch spricht ganz allgemein von „Beeinflussung und Ansteckung“ (Pesch, Mk I, 413; ähnlich auch Lührmann, Mk, 138). Collins verweist auf den metaphorischen Gebrauch von ‚durchsäuern‘ für ‚verunreinigen‘ (Collins, Mk, 386). Van Iersel führt die negative Konnota‑ tion auf Vorschriften der Tora zurück (Ex 12,15; 13,3 – 37; Dt 16,3 f.), die für die vorliegende Stelle kaum relevant sind (vgl. van Iersel, Mk, 264). Auch bei France finden sich alle genann‑ ten Bezüge, doch legt er den Schwerpunkt, wie auch hier vertreten, auf den Zusammenhang zwischen Sauerteig und Brot (France, Mk, 316).
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Wenn das Publikum des Markus die Geschichte von der ersten großen Spei‑ sung hört, kennt es schon etliche Wundergeschichten. Die Art des Wunders ist jedoch neu; von der Speisung einer großen Menschenmenge mit nur ganz weni‑ gen Broten und Fischen, überhaupt von einem Wunder, das mit Essen zu tun hat, ist zum ersten Mal zu hören. Die beiden Speisungen werden auch die einzigen Wunder dieser Art bleiben. Beide Male sind ‚viele Leute‘ (πολὺς ὄχλος) bei Jesus; aus verschiedenen Gründen hat Jesus ‚Mitleid mit ihnen‘ (ἐσπλαγχνίσθῃ ἐπ’ αὐτούς / σπλαγχνίζομαι ἐπὶ τὸν ὄχλον). Es ist ‚schon‘ (ἤδῃ) spät bzw. es sind ‚schon‘ drei Tage vergan‑ gen. Mit ‚seinen Jüngern‘ (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) spricht Jesus darüber, die Leute zu ‚entlassen‘ (ἀπολύειν), und darüber, dass sie ‚etwas zu essen‘ (τί φάγωσιν) brau‑ chen, denn man befindet sich an einem ‚einsamen Ort‘ (ἔρημος τόπος / ἐπ’ἐρη‑ μία), an dem Essen nicht einfach vorhanden ist oder schnell besorgt werden kann. Dieses Setting fällt auf; außer in der Ouvertüre, in der ἡ ἔρημος deutlich zu hören ist (1,3.4.12.13), zieht sich nur noch Jesus an ‚einsame Orte‘ zurück (ἔρημος τόπος, 1,35.45). Die Gespräche verlaufen unterschiedlich, enthalten aber jeweils die gleiche Frage: ‚Wie viele Brote habt ihr?‘ (πόσους ἄρτους ἔχετε). Anschlie‑ ßend lassen sich die Leute nieder (ἀνἔπεσαν / ἀναπεσεῖν). Jesus ‚nimmt die Brote‘ (λαβὼν τοὺς [. . .] ἄρτους), ‚segnet‘ (εὐλόγησεν)31 und ‚bricht‘ sie ([κατ‑] ἔκλα‑ σεν) und ‚gibt sie seinen Jüngern, damit sie austeilen‘ (καὶ ἐδίδου τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ ἵνα παρατιθῶσιν). Auch Fische bzw. Fischlein (ἰχθύες / ἰχθύδια) werden ausgeteilt. Die Leute ‚essen und werden satt‘ (καὶ ἔφαγον καὶ ἐχορτάσθησαν). Nach dem Essen ‚sammelt man Brocken auf‘ (καὶ ῆραν κλάσματα) und es wird festgehalten, wie viele Leute es ‚waren‘ (ἦσαν [. . .] πεντακισχίλιοι / τετρακισχί‑ λιοι). Die Erzählungen enden jeweils in Form von Phrasenverschränkungen mit dem Übergang zur folgenden Bootsgeschichte mit den Momenten der Entlassung der Leute (ἀπολύειν) und des sofortigen Einsteigens ins Boot (καὶ εὐθὺς [. . .] ἐμβαίνειν εἰς τὸ πλοῖον), in dem dann zumindest die Jünger (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) sitzen. Außerdem fallen in beiden Versionen die vielen Zahlwörter (j bzw. b) auf, die die Gegensätze zwischen dem wenigen Vorhandenen und den Vielen, die davon satt werden, herausstellen und damit die Größe des Wunders betonen. Jesus wird also in beiden Erzählungen als einer porträtiert, der ein Mahl lei‑ tet, bei dem große Menschenmengen von dem Bisschen, das seine Jünger an Brot und Fisch gerade bei sich haben, satt werden und darüberhinaus körbeweise Reste übrig bleiben. Erzählerische Details – das Gespräch darüber, wie die Anwesenden satt wer‑ den, der Auftrag an die Jünger, das Brot auszuteilen, die Reste, die übrigbleiben, und auch manche Lemmata – ἐσθίειν, ἄρτος, δίδωμι, Zahlwörter – erinnern an 2 Kön 4,42 – 44. Die Geschichte von Elisa, der mit zwanzig Gerstenbroten hun‑ dert Männer sättigt, hat vermutlich als Vorlage gedient; dort wird Elisas Die‑ 31 In der zweiten Perikope ist mit dem Brot ‚danken‘ (εὐχαριστεῖν, 8,6) verbunden, ‚segnen‘ (εὐλογεῖν, 8,7) ist jedoch kurz darauf im Zusammenhang mit den Fischen zu hören.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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ner mit der Austeilung beauftragt.32 Pesch nennt zu Recht die markinischen Speisungswundererzählungen „Überbietungswunder“33; die Zahlenverhältnisse weisen darauf hin, dass hier weit ‚mehr ist als Elisa‘.34 Die Speisungswunder im engeren Sinne (6,41 f.; 8,6 – 8) erinnern auch nochmals an die Berufung des Elisa durch Elia (1 Kön 19,19 – 21),35 die schon als Vorlage für die Berufung der Jünger (1,16 – 20; 2,13 f.) diente.36 Die gerade erwähnte Überbietung des Elisa durch Jesus macht dabei nochmals deutlich, dass das Verhältnis Johannes des Täufers – den Markus ja als den wiedergekommenen Elia porträtiert (vgl. 1,2 – 4; 9,11 – 13) – zu Jesus nicht als Meister-Jünger Beziehung zu verstehen ist, sondern Jesus der ‚Stärkere‘ (1,7) ist, der ‚Herr‘, der nach der Wiederkunft des Elia kom‑ men wird.37 Zudem lassen sich Anklänge an die Speisung des Volkes Israel in der Wüste (Ex 16) erkennen; auch dort muss eine große Gruppe, das Volk Israel, an diesem unwirtlichen Ort (ἡ ἔρημος; Ex 16,1) versorgt werden. Wer diese Untertöne in den markinischen Speisungswundern wahrnimmt, bekommt eine weitere Bestä‑ tigung, dass Jesus der in der Ouvertüre angekündigte κύριος (1,3) ist. Es ist Gott, der ihnen Manna, ‚Brote vom Himmel‘ (ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, Ex 16,4) regnen lässt; Mose erklärt dem Volk, dass ‚dieses das Brot‘ sei, ‚das der Herr euch zu essen gegeben hat‘ (οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑμῖν φαγεῖν, Ex 16,15).38 Auch dem Volk Israel wird mehr gegeben als nötig, doch bemerkenswerterweise darf dies nicht eingesammelt werden (16,19). Das Volk, das in der Wüste unterwegs ist, bekommt jeden Tag aufs Neue genug; die Frage, ob andere vom Überschuss satt werden könnten, spielt in der Exodus-Erzählung keine Rolle.
In den markinischen Speisungserzählungen wird nicht erwähnt, was mit den eingesammelten Resten passiert. Markus wird aber in einer anderen Perikope (7,24 – 31a) an diesen offenen Schluss anknüpfen. Auch innerhalb des Evangeliums sind Parallelen zu erkennen. Es gab bereits eine ebenfalls doppelt zu hörende Erzählung, in der Zahlen eine ähnlich große 32
Vgl. Collins, Mk, 320; Lührmann, Mk, 119; France, Mk, 262; van Iersel, Mk, 229; Pesch, Mk, I, 354; Schweizer, Mk, 74. 33 Pesch, Mk, I, 354. Pesch spricht explizit nur in Bezug auf 6,32 – 44 von Überbietung. Da er aber davon ausgeht, dass die zweite Speisungswundererzählung eine „Nachbildung“ (Pesch, Mk I, 404) der ersten ist, lässt sich seine Einschätzung auf beide Perikopen beziehen. 34 Vgl. Mt 12,41 f. 35 In 1 Kön 19,21 hält Elisa ein Abschiedsmahl, bevor er Elia nachfolgt. Wie in Mk 6,41 f. und 8,6 – 8 ist dieses Mahl durch die Abfolge ‚die Speise nehmen‘ (λαμβάνειν) – kultischer Vollzug (Opferung / Schlachtung in 1 Kön 19,21; Gebet / Segnung in Mk 6,41 und 8,6) –‚geben‘ (διδόναι) – ‚essen‘ (ἐσθίειν) bestimmt. Zur strittigen Frage, ob die Schlachtung in 1 Kön 19,21 rituellen oder profanen Charakter habe, vgl. die unterschiedlichen Positionen von deVries und Cogan (Cogan, 1 Kings, 455; deVries, 1 Kings, 239). 36 Vgl. Kap. III.2.2.1., S. 116 f. 37 Vgl. Kap. III.1.3., S. 92 f. 38 Daran, dass Gott ‚ihnen Brot vom Himmel gegeben hat‘, erinnern auch Neh 9,15; Ps 77,24LXX (in leicht anderer Formulierung – ἐμπιμπλάναι bzw. παρέχειν statt διδόναι – auch Ps 104,40LXX; SapSal 16,20).
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Rolle spielten und die das gleiche Schema „aus sehr wenig wird enorm viel“ erkennen ließ: Das Sämann-Gleichnis und seine Auslegung (4,3 – 9.14 – 20). Dort trugen die Samen, die auf gutes Land fielen, dreißig‑, sechzig- und hundertfach. Wenn man diesen Faden weiterspinnt, lässt sich das, was bei den Speisungen satt macht, als das ‚Wort‘ (λόγος), als das Evangelium vom Reich Gottes verstehen, von dem die Auslegung des Sämann-Gleichnisses spricht. Wo Jesus dieses Evan‑ gelium verkündet, wo er austeilt, da ist genug, ja im Übermaß zum Leben da. Noch eine andere Facette bekommt dieses Bild, wenn die dritte und letzte Szene des Markusevangeliums miteinbezogen wird, in der explizit gegessen wird39 – das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern (14,[12 – 16.]17 – 26). Das liegt deswegen nahe, weil in allen drei Erzählungen ein ähnliches Setting erkennbar ist – Jesus leitet das Mahl, seine Jünger bereiten es auf seine Anweisung hin vor – und weil sie durch die Motive ἐσθίειν und ἄρτος miteinander verbunden sind, die Markus insgesamt sparsam einsetzt.40 Zudem fallen große Ähnlichkeiten zwi‑ schen dem Beginn des Mahls bei den Speisungswundern und den sogenannten Einsetzungsworten auf:41
6,41 / 8,6 f.
14,22 – 24
λαβὼν τοὺς [. . .] ἄρτους εὐλόγησεν / εὐχαριστήσας [κατ‑]ἔκλασεν ἐδίδου τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ
λαβὼν ἄρτον εὐλογήσας ἔκλασεν ἔδωκεν αὐτοῖς
εὐλογήσας
εὐχαριστήσας
Die Verben [κατα‑]κλᾶν sowie εὐχαριστεῖν werden nur in diesen drei Perikopen verwendet; ἐυλογεῖν kommt darüber hinaus nur noch beim Einzug Jesu in Jerusa‑ lem im Jubelruf der Menge vor (11,9 f.). Wie etliche andere Motive wird ἐσθίειν im Prolog noch ohne Einbindung ins später damit entwickelte Thema vorgestellt 39
Bei zwei weiteren Mahlszenen wird das Essen selbst nicht erwähnt: Jesu Tischgemein‑ schaft mit den Zöllnern und Sündern (2,15 – 17); das δεῖπνον (6,21) des Herodes (6,16 – 29). 40 Nur beim letzten Mahl Jesu wird zudem aus dem Becher (ποτήριον) getrunken (πίνειν). Trinken erwähnt Markus äußerst selten; außer beim letzten Mahl Jesu kommt es nur noch, in übertragenem Sinne in der Frage Jesu an die Zebedaiden vor, ebenfalls als πίνειν τὸ ποτήριον: ob sie denn den Becher trinken könnten, den er trinken werde (10,38 f.). Das gleiche Bild des Bechers findet sich auch in Jesu Gebet im Garten Getsemani (παρένεγκε τὸ ποτήριον τοῦτο ἀπ’ ἐμοῦ, (14,36). ‚Trinken‘ und insbesondere auch der ‚Becher‘ stehen also oft im Zusammenhang mit der Passion Jesu. Die beiden anderen Stellen, an denen darüber hinaus ποτήριον erwähnt wird, sind 7,4 (βαπτισμοὺς ποτηρίων) im Zusammenhang mit den Reinigungsritualen der Pha‑ risäer und ein Becher Wasser (ποτήριον ὕδατος) in 9,41. 41 Oft wird darauf verwiesen, dass diese Ähnlichkeiten sich einfach der jüdischen Mahl‑ praxis verdanken, die einen ritualisierten Beginn kennt, dessen Elemente hier genannt werden, also zumindest beim ersten Speisungswunder keine eucharistischen Anklänge zu hören seien (vgl. z. B. Pesch, Mk I, 352 f.; van Iersel, Mk, 228). Die hörbaren kompositorischen Bezüge zwischen den drei Mahlzeiten ergeben sich aber unabhängig davon, wie die den Texten zugrun‑ deliegenden Traditionen eingeschätzt werden.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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(1,6). In der Mitte des ersten Hauptteils erklingen ἐσθίειν und ἄρτος in den ersten Streitgesprächen Jesu mit den Pharisäern und bereiten das Thema der Mahlzei‑ ten vor: Die Gegner monieren, Jesus esse mit den Zöllnern und Sündern (2,16); dieser beruft sich anschließend in der Frage ums Ährenraufen auf David, der die Schaubrote aß und ‚auch den Seinen davon gab‘ (ἔδωκεν καὶ τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν, 2,26) – eine Bemerkung, die als Vorausimitation auf diese Geste Jesu bei den drei Mahlszenen fungiert. Auf dieser Linie liegt auch die in ihrem Kontext etwas verloren wirkende Aufforderung Jesu nach der Auferweckung der Tochter des Jaïrus, man solle ihr ‚zu essen geben‘ (δοθῆναι αὐτῇ φαγεῖν, 5,43). Ebenfalls als Vorausimitation lässt sich der Moment im Haus interpretieren, in dem so viele Leute anwesend sind, dass sie nicht einmal ‚Brot essen‘ konnten (ἄρτον φαγεῖν, 3,20). Mit einer ähnlichen Bemerkung wird das Thema Essen im „Vorspiel“ der ersten großen Speisung wieder aufgenommen (οὐδὲ φαγεῖν εὐκαίρουν, 6,31).42 Zwischen den beiden Speisungserzählungen bleibt das Thema ‚Brot essen‘ auf der Agenda: Es dient als Einstieg in die nächste Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten (7,3 – 5) und kommt im Dialog Jesu mit der syrophönizischen Frau nochmals wortwörtlich auf den ‚Tisch‘ (7,27 f.). Nach der letzten Bootsfahrt, auf der die Speisungen rekapituliert werden, ist mit einer Ausnahme43 nur noch im letzten Mahl Jesu vom Essen und vom Brot zu hören. Die engen Verbindungen zwischen den drei Mahlszenen legen nahe, dass sie sich gegenseitig interpretieren. Es ist zudem gut vorstellbar, dass dem Publikum des Markus die Einsetzungsworte vertraut waren44 und sie also schon beim ersten Hören die Erzählungen der Speisungswunder mit dem ihnen vertrauten „Herren‑ mahl“ in Verbindung brachten, bei dem Jesus das Brot, das er seinen Jüngern gibt, ‚seinen Leib‘ (τὸ σῶμά μου, 14,22) nennt. In dieser Perspektive teilt er nicht nur ‚das Wort‘ aus, sondern ‚seinen Leib‘ – er gibt sich selbst hin. Von einer deutli‑ chen Anspielung auf die Passion Jesu zu reden wäre zu viel, aber diese Assoziation kann durchaus als leise Begleitstimme zu den dominierenden Klängen bezeichnet werden, die den vollmächtigen Wundertäter porträtieren, der alle satt macht. Die erste große Speisung (6,30 – 45) (Vgl. Abb. 25a / b, S. 380 / 382) Das besondere Profil der ersten markinischen Spei‑ sungserzählung zeigt sich nicht nur im Vergleich mit der zweiten dieses Evangeli‑ 42
Nur noch ein weiteres Mal, in 6,8, ist vor 6,30 ἄρτος zu hören (die Jünger sollen u. a. kein Brot mitnehmen, wenn sie als Apostel ausziehen). 43 In 11,14 verflucht Jesus einen Feigenbaum und sagt dabei, dass ‚nie mehr bis in Ewigkeit jemand von seiner Frucht essen solle‘. 44 So auch u. a. Pesch, Mk I, 404; France, Mk, 262; Marcus, Mk I, 420; Schweizer, Mk, 73. Collins, Lührmann und van Iersel sehen keinen besonderen Zusammenhang zu den Einset‑ zungsworten, sondern allgemeiner zu „prayers before and after meals among Jews in the late Second Temple period.“ (Collins, Mk, 379, ähnlich 325; vgl. auch Lührmann, Mk, 120; van Iersel, Mk, 228).
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
ums, sondern auch im synoptischen Vergleich; etliche der für die Darstellung Jesu relevanten Aspekte finden sich bei den anderen Synoptikern nicht.45 Wie so oft bei Markus sind auch hier Lehr- und Wundertätigkeit mit einander verbunden, doch erfährt der Hörer auch hier nicht mehr, als dass Jesus ‚anfängt, sie viel zu lehren‘ (καὶ ἤρξατο διδάσκειν αὐτοὺς πολλά, 6,34); der erwähnte Bezug zum ‚Wort‘ des Sämann-Gleichnisses kommt hier also explizit zur Gel‑ tung. Über die Parallelität zu 2 Kön 4,42 – 44 hinaus sind in dieser ersten mar‑ kinischen Version des Speisungswunders weitere alttestamentliche Anklänge zu hören: Jesus ‚hat Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hir‑ ten haben‘ (ἐσπλαγχνίσθη ἐπ’ αὐτοῦ ὅτι ἦσαν ὡς πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα, 6,34). Sehr ähnliche Aussagen tauchen mehrmals in den ‚Schriften‘ auf46 und sind immer mit ὡς[εί] als Bildworte gekennzeichnet. Die Formulierung der Septuaginta ist dabei einheitlich und leicht von der in Mk 6,3447 abwei‑ chend: ὡς[εί] πρόβατα οἷς οὐκ ἔστιν ποιμήν (Num 27,17; Jdt 11,19; 2 Chr 18,1648). In allen Fällen wird aus dem Kontext klar, dass mit den Schafen das Volk Israel gemeint ist, dem es an einer Leitungsfigur fehlt bzw. über das eine solche eingesetzt wird, damit es gerade nicht ohne Führung ist. In Ez 34,1 – 15 wird das Bild von der anderen Seite präsentiert: Ezechiel prangert im Auftrag Gottes die ‚Hirten Israels‘ (οἱ ποιμένες τοῦ Ισραηλ) an, die ihrer Aufgabe, die Schafe zu weiden, nicht nachkommen (τά πρόβατά μου οὐ βόσκετε, 34,3), sondern nur an ihr eigenes Wohl denken. Die Schafe zerstreuen sich und werden Opfer der wilden Tiere. Dagegen ver‑ kündet Ezechiel das ‚Wort des Herrn‘ (34,7), der die Schafe diesen Hirten entreißen wird: ‚Ich werde meine Schafe weiden und ich werde ihnen Ruhe verschaffen, und sie werden erkennen, dass ich der Herr bin.‘ (ἐγὼ βοσκήσω τὰ πρόβατά μου καὶ ἐγὼ ἀναπαύσω αὐτά, καὶ γνώσον ται ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος, 34,15). Wenig später wird – unter Fortsetzung der Rede Gottes von ‚meinen Schafen‘ – verheißen, Gott werde sein Hirtenamt an den ‚einen Hirten‘ (ποιμὴν εἷς, Ez 34,23 f.) David delegieren; so werden in die Hirtengestalt gleichzeitig messianische Züge eingezeichnet.49 Das Bild des Hirten für den kommenden Herrn findet sich auch am Ende des Prologs zu Deutero-Jesaja, aus dem Markus ganz zu Beginn (1,3) zitiert (Jes 40,3LXX) und so den κύριος-Titel einführt. In Jes 40,10 f.LXX heißt es: ‚Siehe, der Herr kommt mit Stärke‘ (ἰδοὺ κύριος μετὰ ἰσχύος ἔρχεται) [. . .]. ‚Wie ein Hirte wird er seine Herde weiden‘ (ὡς ποιμὴν ποι‑ μανεῖ τὸ ποίμνιον αὐτοῦ).
45 Bei Mt und Lk heilt Jesus vor der Speisung (Mt 14,14; Lk 9,11); nur bei Lk ist dabei auch von der Lehrtätigkeit Jesu zu hören. Das Wort von den Schafen ohne Hirte bindet Mt in einen anderen Kontext – die Bitte um Aussendung der Arbeiter in die Ernte – ein (Mt 9,35 – 38), Lk kennt es gar nicht. Von einer akustischen Untermalung des Wunders durch „Zauberklänge“ (6,39 f.; vgl. dazu S. 315 – 317) sehen beide ab. 46 Dieser übertragene Sprachgebrauch ist auch den meisten anderen altorientalischen Kul‑ turen nicht fremd (vgl. Joachim Jeremias, ποιμήν, 485). Für den Gebrauch im Hellenismus vgl. Lang, Hirte, Abschnitt 2.2. Exkurs; Kleinknecht, βασιλεύς, 563. 47 Die Formulierung mit ἔχειν ist wohl auch dem markinischen Gestaltungswillen zu ver‑ danken, der mit Haben und Nicht-Haben spielt (vgl. zur motivischen Wiederholung von ἔχειν in Kap. IV.4.2.3., S. 341 f.). 48 In 2 Chr 18,16 folgt direkt auf das Bildwort dessen Übertragung unter Verwendung des auch bei Markus zu findenden ‚nicht haben‘ (οὐκ ἔχουσιν ἡγούμενον). 49 Vgl. Lang, Hirte, Abschnitt 2.2. Exkurs.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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Wie bewusst Markus insbesondere die Anklänge an diese eschatologischen Ver‑ heißungen bei der Gestaltung des ersten Speisungswunders im Kopf hatte, bleibt dahingestellt. Sie lassen sich jedenfalls sowohl im Rahmen der Perikope als auch auf der Ebene der Gesamtkomposition in das Bild integrieren, das Markus von Jesus zeichnet: Hier versorgt er als Hirte die Leute zuerst mit dem ‚Wort‘ – ‚er fing an, sie viel zu lehren‘ ist die erste „Maßnahme“ Jesu! –, dann mit Nahrung. Dass daran erkannt werden soll, dass dieser Hirte ‚der Herr‘ ist, fügt sich in Kom‑ position und Intention des zweiten Hauptteils ein. Im Gesamtrahmen des Evan‑ geliums lassen sich schließlich auch die eschatologischen Momente verorten; immer wieder zeichnet Markus Jesus als denjenigen, der als der ‚Herr‘ die herr‑ schenden Herren ablösen wird50 – in Paradoxie dazu, dass es diese Herren sind, die ihn ans Kreuz bringen. Durch den Blick Jesu in den Himmel (ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανόν, 6,41) sind in dieser ersten Version der Geschichte die Bezüge zum ‚Brot vom Himmel‘ auch auf wörtlicher Ebene gegeben. Zuletzt sei noch die Gestaltung des Moments erwähnt, in dem sich das Volk auf die Aufforderung Jesu hin zum Mahl niederlässt und den Markus sehr aus‑ führlich gestaltet (6,39 f.).51 Was inhaltlich gesagt wird, ist, nimmt man die Wort‑ wahl des Markus ernst und folgt nicht den rationalisierenden Übersetzungen,52 gelinde gesagt ziemlich abstrus. Sowohl συμπόσιον als auch πρασιά und χλωρὸς χόρτος rufen zwar verschiedene Aspekte rund ums Essen in Erinnerung, doch passt eine abendliche Festveranstaltung kaum zu einem Lauchbeet und einer Viehweide. Zudem sind alle drei Vokabeln an einem Ort, der gleich dreifach als öde oder sogar wüst beschrieben wird (ἔρημος τόπος, 6,31.32.35), fehl am Platz. Σuμπόσιον steht in der griechisch-römischen Antike für eine Abendveranstaltung mit Wein und Unterhaltungsprogramm oder für den Raum, in dem eine solche stattfindet, kann aber auch das vorgängige Abendessen meinen.53 Die Anzahl der Gäste hing von der Raumgröße ab; üblich 50
Z. B. porträtiert Markus Jesus im vierten Hauptteil (11,1 – 13,3) als den Herrn und Lehrer schlechthin, der sich im Tempel etabliert, an dem Ort, an dem seine Gegner das Sagen haben (vgl. Oefele, Wer Ohren hat, 60 – 69). Im dort erzählten Weinberggleichnis werden die Wein‑ bauern, die den Sohn des Herrn umbringen, vom Herrn umgebracht, wenn ‚er kommen wird‘ (ἐλεύσεται, 12,9). 51 Mt 14,19 und Lk 9,15 nehmen nur jeweils einen Aspekt auf (Mt das Gras, Lk die Grup‑ pengröße fünfzig), auffällige Klangeffekte sind bei ihnen nicht zu erkennen. 52 Nicht erst die heute gängigen Bibelübersetzungen geben πρασιαὶ πρασιαί mit ‚in Grup‑ pen‘ wieder; z. B. steht schon in den meisten altlateinischen Manuskripten und in der Vul‑ gata an dieser Stelle ‚in partes‘. Συμπόσια συμπόσια ist in deutschen Übersetzungen meistens mit ‚tischweise‘ oder ‚in Tischgemeinschaften‘ wiedergegeben, was zumindest etwas von der Fremdheit von συμπόσιον an diesem Ort bewahrt. Doch schon in der Itala ist eine Anpassung an den Freiluftkontext zu beobachten; dort findet sich in fast allen Handschriften, von Hieronymus später übernommen, secundum / per contubernia (Zeltgenossenschaft der Soldaten im Lager), obwohl ja convivium oder das Fremdwort symposium zur Verfügung gestanden hätten (zum Befund in der Itala vgl. Jülicher, Itala, 55). 53 Hug beobachtet, dass „häufig [. . .] δεῖπνον und συμπόσιον von den Schriftstellern ver‑ tauscht“ werden (Hug, Symposion, 1267). Eigentlich bezeichnet συμπόσιον „das gemütliche Trinken in fröhlicher Gesellschaft“ (a. a. O., 1267), das nach dem eigentlichen Mahl (δεῖπνον)
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
waren wohl höchstens zwanzig Teilnehmende.54 Zwar findet die große Speisung auch am Abend statt (6,35), aber sowohl der Ort unter freiem Himmel als auch die riesige Anzahl der Gäste, die zudem nicht Geladene sondern Herbeigelaufene sind, passen nicht zu einem Sympo‑ sion. Πρασιά (von πράσον, Lauch) bezeichnet ein Lauch- oder allgemeiner ein Gemüsebeet in einem Garten,55 χόρτος eine Weide für eine Herde – sie passt zum Hirtenwort in 6,34! – aber auch, insbesondere mit χλωρός, das Gras bzw. das Grünfutter für Tiere.56 Συμπόσιον und πρα‑ σιά sind Hapax legomena im NT. Beim Eintrag πρασιά findet sich in allen mir bekannten Wör‑ terbüchern nur jeweils für diese Markusstelle die Angabe ‚Gruppe‘ / ‚groups‘, ‚Abteilung‘. Die in Mk 6,39 f. vorliegenden Doppelungen werden in Grammatiken als Ausdrucksweise der Koine oder als Semitismus dargestellt, der, wie sonst bei Zahlwörtern üblich (vgl. Mk 6,7), distributive Bedeutung habe.57 Weitere neutestamentliche Beispiele werden für dieses Phäno‑ men nicht genannt; die Beispiele aus der Septuaginta – durchgehend Stellen, an denen die Ver‑ doppelung aus dem Hebräischen übernommen wurde – sind zum Großteil Zahlen;58 am ehesten ist noch 2 Kön 17,29 vergleichbar, wo ἔθνη ἔθνη59 mit ‚Nation für Nation‘ übersetzt werden könnte. Eine TLG-Suche ergab, dass συμπόσιον und πρασιά in der antiken griechischen Litera‑ tur nicht in Doppelung verwendet werden. Auch die bei BDR § 493,2 genannten synonymen und dem klassischen Griechisch entsprechenden Formulierungen κατὰ συμπόσια und κατὰ πρα‑ σιάς sind weder im biblischen Korpus noch, mit einer Ausnahme,60 im gesamten TLG-Korpus zu finden. Dieser Befund zeigt zum einen, dass bei diesen Lemmata der distributive Gebrauch nicht üblich war, und zum anderen, dass die Übersetzung von πρασιά mit ‚Gruppe‘ / ‚groups‘, ‚Abteilung‘61 keinen Anhalt im sonstigen Sprachgebrauch findet. Χλωρὸς χόρτος62 kommt im ersten Schöpfungsbericht als Nahrung für alle Tiere vor (Gen 1,30). Auch eine Anspielung auf Ps 23,2 (MT ‚Weiden mit Gras‘ נאות דשא, LXX ‚Ort, an dem es frisch sprießt‘ τόπος χλοής) ist denkbar, insbesondere, da zu Beginn der Perikope schon der ‚Hirte‘ erwähnt wurde. Die größte Nähe scheint mir der Markustext zu Jes 15,6 aufzuweisen, wo einstmals fruchtbares Land zur Wüste wird (ἔρημον ἔσται) und kein ‚grünes Kraut‘ mehr hervorbringt. Markus beschreibt sozusagen den umgekehrten Prozess – in der Einöde, die selbst keine Nahrung bietet, werden auf wundersame Weise alle satt. Trotz der lebensfeindlichen Umgebung, in der die Perikope spielt, gibt es nun genug zu essen.
Markus lässt mit seiner wunderlichen Collage ein buntes Bild in der öden Land‑ schaft entstehen – der Hirte lädt ein auf die Viehweide, seine Schäflein ver‑ sammeln sich unter freiem Himmel in noblen Speisesälen und setzen sich auf Lauchbeeten zu Tisch. Festessen, fröhliches Zusammensein, vom Hirten versorgt werden, Gartenbeete, die Gemüse hervorbringen – diese und noch viele weitere stattfand und zu dem u. a. wie bei Herodes an Geburtstagen eingeladen wurde (vgl. 6,21). Tanz (vgl. 6,22) war dabei eine der üblichen Darbietungen (vgl. a. a. O., 1267 f.). Eine Vertauschung von δεῖπνον und συμπόσιον könnte auch in 6,21.39 vorliegen. 54 Vgl. Klinghardt / Staubli, Essen, 119. 55 Vgl. LSJ s. v. πρασιά. 56 Vgl. LSJ s. v. χόρτος. 57 Vgl. BDR, § 493.2; Siebenthal, § 145c; Conybeare / Stock, Grammar, § 85. 58 Vgl. Conybeare / Stock, Grammar, § 85.2. 59 So bei Rahlfs; im antiochenischen Text in Analogie zum Hebräischen zweimal Singular (vgl. LXX Deutsch, 4 Reg 17,29). 60 Κατὰ τὰς πρασιάς in einem medizinischen Werk von Galenus (2. Jh.) (Gal. UP. 12.6). 61 Vgl. z. B. s. v. πρασιά bei Bauer, LSJ, Langenscheidt, Gemoll. 62 Im NT nur noch Offb 8,7.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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Details rund ums Essen und Sattwerden sind zu sehen. Dieser verqueren Szene wird man nicht gerecht, wenn man sie in eine nachvollziehbare Beschreibung eines Geschehens verwandelt. Hier wollen Assoziationen geweckt und das nun folgende Wunder akustisch angekündigt werden. Letzteres realisiert sich durch die besondere klangliche Gestalt dieser vierzeiligen Sequenz, in der sich fokale Wiederholungen häufen. Sie ist geprägt durch Wortrepetitionen – συμπόσια συμπόσια (αα), πρασιαὶ πρασιαί (ββ) – und Klangspielereien – durchgehende o‑Laute in τῷ χλωρῷ χόρτῳ (γγ) und Dominanz der Konsonanten κ und τ in κατὰ ἑκατὸν καὶ κατὰ πεντήκοντα (δδ)63. Dies als Zauberspruch à la „Hokuspokus“ oder „Abrakadabra“ zu bezeichnen, könnte leicht missverstanden werden, etwa in dem Sinne, dass Markus sich hier einer Art der Formulierung bediene, die diese Stelle in die Nähe antiker Zauberpraktiken rücke;64 das ist nicht gemeint. Den‑ noch scheint mir dieser Vergleich auf akustischer Ebene angemessen; hier wird mit Klängen und auch mit Assoziationen gezaubert, die nicht auf den Intellekt, sondern auf die Sinne und Emotionen des Publikums gerichtet sind. Was hier geschieht, ist mit der Ratio nicht zu fassen. Hier ist ein Gastgeber am Werk, der ganz andere als menschliche Möglichkeiten hat. Die zweite große Speisung (8,1 – 9) (Vgl. Abb. 30, S. 394) Wie alle Perikopen des zweiten Erzählbogens ist auch das zweite Speisungswunder knapper erzählt als das erste. Die Zahlen sind zwar immer noch beeindruckend, aber weniger imposant als beim ersten Mal. Das Wunder wird auch nicht in besonderer Weise akustisch untermalt. Die Unter‑ schiede zwischen diesen beiden so ähnlichen Geschichten liegen v. a. in Auslas‑ sungen in der zweiten Fassung, die in vielem die Darstellung der Person Jesu betreffen. Alttestamentliche Anklänge gehen nicht über die allgemeinen schon erwähnten hinaus.65 Hier ist kein Hirtenthema zu hören, auch von der Lehre Jesu ist nicht explizit die Rede; Markus lässt offen, warum die Leute drei Tage bei Jesus ausharren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Markus offensichtlich nicht an einer Steigerung von der ersten zur zweiten Version des Speisungswunders gelegen ist, sondern an einer Fokussierung: Es geht ums Essen und Sattwerden. So gilt Jesu Mitleid den Leuten nun, weil sie ‚nichts zu essen haben‘ (μὴ ἐχόν των / οὐκ ἔχουσιν τί φάγωσιν, 8,1.2). Die Frage der Jünger, ‚aus welcher Quelle [wörtlich ‚von woher‘] könnte irgendjemand diese Leute hier in der Einöde satt 63 Die Einteilung in Gruppen von hundert und fünfzig Personen wird oft auf ein eschatolo‑ gisches Gottesvolk hin gedeutet, unter Berufung auf die Erwähnung von hundert und fünfzig in Zahlenreihen in Ex 18,21.25, die in diesem Sinne in verschiedenen Qumran-Schriften aufge‑ nommen werden (vgl. Collins, Mk, 324; Pesch, Mk I, 352; France, Mk, 261). 64 Nach Auskunft von Thomas Kraus sprechen weder die Art der Formulierung noch der Wortschatz für einen Bezug zu antiker Magie und Zauberpraxis (private Korrespondenz vom 14.12.2016). 65 In NA28 findet sich zu Mk 8,1 – 9 kein Verweis auf eine alttestamentliche Stelle.
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machen?‘ (πόθεν τούτους δυνήσεταί τις ὧδε χορτάσαι ἄρτον ἐπ’ ἐρημίας, 8,4) reiht sich in die Fragen nach der Identität und damit auch nach der Vollmacht (ἐξουσία / δύνασθαι) Jesu ein.66 Da ja das Publikum das erste Speisungswunder kennt, liegt die Antwort auf der Hand. Jesus blickt beim Danken nicht zum Him‑ mel, wodurch 8,6 f. näher an die Einsetzungsworte beim letzten Mahl Jesu rückt. Dies wird dadurch verstärkt, dass nun auch über einem zweiten Element – hier den Fischen, beim letzten Mahl dem Kelch – gedankt bzw. es gesegnet wird. So erklingen hier wie in 14,22 – 24 im gleichen Zusammenhang sowohl εὐχαριστεῖν als auch εὐλογεῖν, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Die Bezüge verlagern sich beim zweiten Speisungswunder also weg von der Aufnahme außertextlicher Parallelen hin zu innerevangelischen Wiederholungen, die den beschriebenen Fokus aufs Essen und Sattwerden mit der Frage nach der Identität Jesu verbinden: Dieser ist’s, der satt machen kann. Er selbst gibt sich hin, damit andere leben können.
IV.3.3. Irdische Vergleiche – Kontraste und Kontinuitäten Wie oben in Kap. IV.2. bereits skizziert, zeichnen sich die Episoden, die um das Zentrum aus erstem Speisungswunder und Seewandel Jesu gruppiert sind, dadurch aus, dass sie allesamt nicht in das Genre Wundererzählungen gehö‑ ren. Hier zeigt sich also weder Jesu ἐξουσία durch Exorzismen und Heilungen, noch schimmern in seinem Porträt durch vielerlei Anspielungen auf die Schrif‑ ten die Gesichtszüge des κύριος der Septuaginta durch. Vielmehr leisten diese beiden Textblöcke ihren Beitrag zur Darstellung der Person Jesu, indem sie auf andere Personen verweisen, die mit Jesus kontrastiert oder mit ihm in Verbindung gebracht werden. IV.3.3.1. Irdische Vergleiche I: Herkunft, Mutmaßungen, ein falscher König, Vorgänger und Nachfolger (6,1b – 32) (Vgl. Abb. 24a – d, S. 372 / 374 / 376 / 378) Wie schon aus dieser langen Über‑ schrift zu ersehen ist, fasse ich hier mehrere Perikopen zu einem Textblock zusammen. Das ist zum einen dem übergreifenden Thema der Vergleiche Jesu mit anderen Menschen geschuldet, zum anderen ist dieser Textblock auch auf struktureller Ebene als Einheit erkennbar: Im einleitenden Vers werden in einer Art Überschrift sowohl die Szene in Nazareth (6,1b – 6) als auch die folgende der Jüngeraussendung 6,7 – 13.30 – 32) angekündigt: Jesus ‚geht in seine Hei‑ mat‘ (ἔρχεται εἰς τὴν πατρίδα αὐτοῦ, A) und ‚seine Jünger folgen ihm nach‘ (ἀκολουθοῦσιν αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, B). Letztere treten in Nazareth gar nicht auf, sondern kommen erst in V. 7 als ‚die Zwölf‘ zum Zug, die von Jesus als seine Nachfolger in den Dienst der Verkündigung und Dämonenaustreibung 66
Vgl. 1,27; 2,7; 4,41; 6,2.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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eingesetzt werden. In einer Sandwichkonstruktion ist in diesen zweiten Part die Geschichte vom Tod des Täufers Johannes eingefügt. Die Struktur stellt sich also wie folgt dar: A
6,1b
ἔρχεται εἰς τὴν πατρίδα αὐτοῦ,
B ἀκολουθοῦσιν αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, A
6,2 – 6
Jesus in Nazareth
B C B
6,7 – 13 I Aussendung der Zwölf 6,14 – 29 Das Ende Johannes des Täufers 6,30 – 32 II Rückkehr der Zwölf
Ist dieser nicht? (6,1b – 6) (Vgl. Abb. 24a, S. 372) Die Geschichte in der ‚Heimat‘ (πατρίς, 6,1) beginnt sehr ähnlich wie die vom ersten Auftritt Jesu in Kafarnaum: Jesus lehrt in der Synagoge (1,21 f.; 6,2). An beiden Orten geraten die Anwesenden ‚außer sich‘ (ἐξεπλήσσοντο, 1,22; 6,2). Während die Leute in der Stadt am See sich am Anfang von Jesu öffentlicher Wirksamkeit erst nach dem vollbrachten Exorzis‑ mus nach der Vollmacht Jesu fragten (τί ἐστιν τοῦτο, 1,27), tun dies die Naza‑ rener schon aufgrund der Lehre; ihr Staunen äußert sich dreifach (α1 – 3): ‚Woher hat dieser das?‘ (πόθεν τούτῳ ταῦτα), ‚und was ist das für eine Weisheit, die diesem gegeben ist?‘ (καὶ τίς ἡ σοφία ἡ δοθεῖσα τούτῳ), ‚und solche Wunder‑ kraft wirkt durch seine Hände!‘ (καὶ αἱ δυνάμεις τοιαῦται διὰ τῶν χειρῶν αὐτοῦ γινόμεναι, 6,2). Die Frage nach der Herkunft der Vollmacht, hier im Lexem δύναμις vertreten, ist die gleiche geblieben, ebenso ist die Verknüpfung von Worten und Taten, in denen sie sich offenbart, mittlerweile hinlänglich bekannt. Der Hörer weiß um die göttliche Herkunft der Vollmacht Jesu; die Nazarener bringen nun aber die irdische Herkunft Jesu ins Spiel, die formal wieder in Reihungen (β1 – 3, γ1 – 4) präsentiert wird: ‚der Handwerker, der Sohn der Maria, der Bruder von . . .‘ (ὁ τέκτων, ὁ υἱὸς τῆς Μαρίας, ὁ ἀδελφός . . ., 6,3). Mit der Rahmung dieser Reihen durch die rhetorischen Fragen ‚Ist dieser nicht?‘ (οὐχ οὗτός ἐστιν) und ‚Sind nicht seine Schwestern . . .?‘ (οὐκ εἰσὶν αἱ ἀδελφαί . . .) ist auch die Frage nach der Identität Jesu wieder explizit gestellt (vgl. 4,41). Mit ὁ υἱὸς τῆς Μαρίας wird Jesus nun nach υἱὸς τοῦ θεοῦ (1,1; 3,11; 5,7) und υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (2,10; 2,28) auf eine dritte Weise ‚Sohn‘ genannt.67 Als Sohn der Maria ist er Mensch – als solchen, und nur als solchen kennen und erkennen ihn die Leute aus seiner Heimatstadt. Das ist nicht falsch – auch Markus nennt Jesus den ‚Nazarener‘ (1,9; 10,47; 14,67;16,6). Doch allein aus dieser Perspektive lässt sich die Herkunft seiner Vollmacht und damit die Bedeutung seiner Person nicht erfassen; das zeigt sich daran, dass sie ‚an ihm Anstoß nehmen‘ (ἐσκαν‑ δαλίζοντο ἐν αὐτῷ, 6,3). 67
Später (10,47.48; 12,37) noch υἰὸς Δαυίδ.
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Jesus selbst spricht von einem ‚Propheten‘, der dort, wo er her kommt, nichts gilt – seine Formulierung (οὐκ ἔστιν ἄτιμος εἰμή, 6,4) nimmt οὐκ ἔστιν / εἰσίν (6,3, hneg) aus den rhetorischen Fragen der Leute auf und setzt ihrem ‚Ist die‑ ser nicht?‘ ein autoritatives ‚Er ist nicht!‘ entgegen. Auch hier liegt wieder eine Reihung (δ1 – 3) vor, in der der Fokus von der Heimatstadt über die ‚Verwandt‑ schaft‘ (συγγενεῖς) bis hin zur ‚Familie / Hausgemeinschaft‘ (οἰκία) immer enger gefasst wird. Ob der markinische Jesus sich durch dieses Wort selbst als ‚Pro‑ phet‘ bezeichnet und, wenn ja, in welchem Sinne, sei dahin gestellt.68 Es ist auch denkbar, diese Aussage einfach als Analogie – wie ein Prophet zuhause nichts gilt, so auch Jesus nicht – zu verstehen.69 Wie vorher der Glaube zur Wundertat beigetragen hat (5,34) scheint hier der ‚Unglaube‘ (ἀπιστία, 6,6) der Menschen Jesu Vollmacht einzuschränken: ‚Er kann hier kein einziges Wunder tun‘ (οὐκ ἐδύνατο ἐκεῖ ποιῆσαι οὐδεμίαν δύναμιν, 6,5) – außer ein paar Kranke zu heilen. So zwiespältig das Bild, das die Nazarener vom Nazarener haben, von Markus gezeichnet wird: Ganz von deren Verstehen hängt die Wirkung von Jesu Voll‑ macht doch nicht ab. Die Nachfolger: Beauftragung und vollbrachte Taten (6,7 – 13.30 – 32) (Vgl. Abb. 24b, S. 374) Die Aussendung der Zwölf nimmt auf die dritte Beru‑ fungserzählung (3,7 – 19) Bezug: Dort wurden, unter Verwendung des gleichen Vokabulars, die zwölf Jünger von Jesus ausgewählt und auch schon mit dem Auf‑ trag zur Verkündigung und Dämonenaustreibung ausgesandt (3,13 – 15). Doch bisher war noch nichts davon zu hören, dass sie diesen Auftrag auch tatsächlich ausgeführt hätten. Auf dreifache Weise knüpft diese Perikope an die direkt vorher‑ gehende an: ‚Seine Jünger‘ (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, 6,1) werden schon zu Beginn der Nazareth-Perikope erwähnt, ohne dass sie dort irgendeine Rolle spielen. Zudem sind auf formaler Ebene erneut Reihungen prägend (ε1 – 4, ζ1 – 3, η1 – 4).70 Schließlich üben nun die Zwölf die Tätigkeiten Jesu aus, die am Ende der vorigen Perikope genannt werden: Lehren (διδάσκειν; 6,6; 6,30) und ‚Kranke heilen‘ (ἀρρώστους θεραπεύειν; 6,5; 6,13). Letzteres fällt besonders auf, weil ἀρρώστος im Markus evangelium nur hier zu hören ist. Wie ihr Meister ‚tun‘ sie etwas, vollbringen die 68 Pesch meint, hier komme Jesu Anspruch „indirekt und verhalten [. . .] zum Ausdruck“ (Pesch, Mk I, 320), ohne diesen allerdings konkreter zu benennen. Vgl. auch van Iersel, Mk, 214, Anm. 34. 69 So auch France, Mk, 244. Dafür spricht erstens, dass sehr ähnliche Sprichwörter im griechischen Kontext in Bezug auf Philosophen und im arabischen Raum für Musiker existie‑ ren und EvThom 31 das Sprichwort vom Propheten um ein analoges vom Arzt ergänzt (vgl. France, Mk, 244; Pesch, Mk I, 320). Zweitens fällt auf, dass nur wenig später (6,15) die Iden‑ tifikation Jesu als ‚Prophet wie einer der Propheten‘ in einer Reihe von im Volk kursierenden Meinungen genannt wird, die sich als falsch bzw. unzureichend erweisen. 70 Bei der ersten Reihung in 6,7 kann das erste Element auch so interpretiert werden, dass es nicht zur Reihung gehört (deswegen in Klammern geschrieben), sondern als Einleitung zur ganzen Perikope dient.
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gleichen Wundertaten (ποιεῖν, 6,5; 6,30). Auf dem Hintergrund der bisherigen Erzählung wird durch weitere Anklänge das Bild der „Nachfolger Jesu in Wort und Tat“ deutlich: Ihnen wird die ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία, 6,7)71 übertragen. Wie er ‚gehen sie hinaus und verkündigen‘ (ἐξελθόντες ἐκήρυξαν, 6,12; vgl. 1,38 f.), ‚treiben sie Dämonen aus‘ (δαιμόνια ἐξέβαλλον, 6,13; vgl. 1,34.39; 3,22; 7,26). Schließlich schickt sie Jesus nach ihrer Rückkehr ‚an einen einsamen Ort‘ (εἰς ἔρημον τόπον, 6,31.32; vgl. 1,35.45), an den auch er sich nach vollbrachten Taten immer wieder vor der Menge zurückzieht. Die ‚Umkehr‘, die sie verkündigen, weist darauf hin, dass sie auf Jesus folgen, so wie Jesus auf Johannes den Täufer gefolgt ist. Μετανοεῖν bzw. μετάνοια ist im Markusevangelium nur zusammen mit κηρύσσειν zu hören und das nur bei Johannes (1,4), Jesus (1,15) und hier nun bei den Jüngern. In der Reihe Johannes – Jesus – ‚die Zwölf‘ werden Letztere zu Prototypen der Nachfolger Jesu, die er selbst aussendet. In umgekehrter Per‑ spektive ist dies auch eine Facette des markinischen Jesus-Bildes: Sein Wirken geht über seine menschliche Lebenszeit hinaus und findet seine Fortsetzung im Wirken derer, die ihm nachfolgen. Der Vorläufer und sein Mörder – oder die Karikatur eines Königs (6,14 – 29) (Vgl. Abb. 24c / d, S. 376 / 378) Zwischen den Auszug der Zwölf und ihre Rück‑ kehr ist in Art einer Sandwichkonstruktion die einzige Geschichte des Evangeli‑ umskorpus’ (1,16 – 15,39) eingebettet, die weder von Jesus handelt noch von ihm erzählt wird. Hier nun wird das Ende der Geschichte vom ersten Glied der Kette, von Johannes dem Täufer, nachgeliefert. Das letzte, was von ihm zu erfahren war, war seine Gefangennahme (1,15).72 Formal ist auch diese Episode von Reihungen geprägt (αβ1 – 3, γγopp, δ1 – 3, ε1 – 3, ζ1 – 2, η1 – 4). Diese Episode vom Tod des Johannes wird eingeleitet von Mutmaßungen über die Identität Jesu (6,14 – 16), allerdings ohne dessen Namen zu nennen. Hier ist zu erfahren, was ‚man sagt‘ (ἔλεγον, α). Gerahmt werden diese Überlegungen von der Aussage, ‚Johannes sei auferstanden‘ (Ἰωάννης ἐγήρεται, C D, 6,14.16) – ein erster Hinweis darauf, dass Johannes mittlerweile gestorben ist. Nur aus dem Kontext ergibt sich, dass manche, unter ihnen Herodes, meinen, Jesus sei der auferstandene Johannes. Klarer formuliert sind die beiden in der Mitte stehenden Meinungen verschiedener ‚anderer‘ (ἄλλοι δὲ ἔλεγον): Die einen sagen, ‚er sei Elia‘ (Ἠλίας ἐστίν), die anderen, er sei ‚Prophet wie einer der Propheten‘ (προ‑ φήτης ὡς εἷς τῶν προφητῶν). Nirgends wird explizit gesagt, dass diese Zuschrei‑ bungen falsch oder letztere zumindest ungenügend seien. Das zeichnet sich erst später ab, als Jesus sich bei den Jüngern, bevor er sie fragt, für wen sie ihn hal‑ 71
Ἐξουσία ist im Markusevangelium meistens die Vollmacht Jesu (1,22.27; 2,10; 11,28.29.33). An drei weiteren Stellen wird sie anderen übertragen: Hier und an der Parallel‑ stelle der Berufung der Zwölf von Jesus den Jüngern (3,15; 6,7), dann (mit ähnlicher Bedeu‑ tung) in einem Gleichnis vom Hausherrn seinen Knechten (13,34). 72 In 2,18 werden, ohne weiter darauf einzugehen, ‚Jünger des Johannes‘ erwähnt.
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ten, nach den Meinungen erkundigt, die über seine Identität im Volk kursieren (8,27 – 29). Doch das markinische Publikum weiß aus der Ouvertüre, dass Jesus nicht Johannes sein kann; dort traten bei der Taufe Jesu beide zusammen auf. Dass nicht Jesus, sondern Johannes der wiedergekommene Elia ist, kündigte sich ebenfalls schon am Beginn des Evangeliums durch das Maleachi-Zitat (1,2) an und wird, wenngleich es wiederum nicht wortwörtlich gesagt wird, später durch eine Aussage Jesu bestätigt (9,11 – 13). Johannes übernimmt die Rolle des Elia als Vorbote für den Tag, da der ‚Herr‘ kommen wird (Mal 3,1.23), und wird so zum Vorläufer und Ankündiger Jesu (1,7 f.). In der vorliegenden Geschichte zeigt sich, dass Johannes Jesus auch in den gewaltsamen Tod vorangeht. Auch er wird auf Befehl eines der Herrschenden umgebracht; sowohl Pilatus als auch Herodes sind Vertreter der römischen Staatsmacht. Von Anfang an ist klar, dass Jesus ‚mehr als Johannes‘, ‚der Stärkere‘ (1,7) ist. In dieses Bild passt, dass Jesus auferstehen wird, Johannes hingegen nicht auferstanden ist, auch wenn Herodes und andere Leute das für möglich halten. Wie das Porträt der Jünger als Nachfolger Jesu, so trägt auch das des Johannes als des Vorläufers zur Darstellung der Person Jesu bei: Die Geschichte Jesu ist eingebunden in die Heilsgeschichte Gottes. Wenn sich Johannes als der wieder‑ gekommene Elia, als der Vorläufer des ‚Herrn‘ erweist, dann ist Jesus auch der kommende Herr. Die Geschichte vom Tod des Johannes ist gleichzeitig eine Geschichte über den König Herodes.73 Dieser von seiner Herkunft her jüdische Vertreter der welt‑ lichen römischen Herrschaft, so meine These, wird als König karikiert, damit das Bild des anderen ‚Königs‘, der im Reich Gottes regiert, umso strahlender erscheint. Er wird zu Beginn als ‚König Herodes‘ (ὁ βασιλεὺς Ἡρῴδης, 6,14) vorgestellt und dann zunächst bei seinem Namen genannt (6,16.17.18.20.21.22a). Ab dem Zeitpunkt, an dem seine Schwachheit offenbar wird, ist von ihm, wie um den Kontrast zwischen seiner Position und seinem Verhalten noch zu verstärken, nur noch als ὁ βασιλεύς (6,22b.25.26.27) die Rede. Herodes wird nicht als souveräner Herrscher dargestellt, sondern als einer, der von seinen eigenen Trieben und Launen regiert wird und manipulierbar ist.74 So passiert es, dass er Johannes gegen seinen eigenen Willen umbringen lässt, weil er einen Schwur nicht brechen will, den er, verstrickt in Frauengeschichten, 73 Historisch korrekt ist dieser Titel nicht; Herodes Antipas, der hier gemeint sein muss, war Tetrarch von Galiläa und Peräa (vgl. Hoehner, Herodian dynasty, 491; Incigneri, The Gospel, 183). 74 Sehr ähnlich Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu, 371, Anm. 17. 75 Parallel dazu – analog zur Parallele Johannes / Jesus – wird Pilatus, auch er ein Vertreter der römischen Herrschaft, in der Szene, in der er über Tod und Leben Jesu zu entscheiden hat, ebenfalls als schwacher Herrscher dargestellt, dessen Willen von anderen bestimmt wird: Pila‑ tus weiß zwar, dass Jesus ihm von den Hohenpriestern nur aus Neid ausgeliefert wurde (15,10), er ‚will es aber dem Volk rechtmachen‘ (βουλόμενος τῷ ὄχλῳ τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι) und veranlasst Jesu Kreuzigung (15,15).
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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leichtsinnigerweise abgelegt hat.75 Zudem ist in keiner Weise zu erkennen, dass er sich für das Wohlergehen seiner Untertanen verantwortlich weiß. Das ‚Mahl‘ (δεῖπνον, 6,21), das er anlässlich seines Geburtstages ausrichtet, steht im Kontrast zum Mahl Jesu, von dem der Evangelist unmittelbar danach berichtet: Während nachher ‚Massen von [gewöhnlichen] Leuten‘ (ὄχλος πολύς, 6,34) zu Gast sind, die von sich aus zu Jesus kommen (6,33), hat Herodes nur eine auserlesene Schar aus der Oberschicht geladen – ‚seine Großen‘ (οἱ μεγιστάνες), ‚die militärischen Befehlshaber‘ (χιλίαρχοι) und ‚die Oberen Galiläas‘ (οἱ πρῶτοι τῆς Γαλιλαίας, 6,21).76 Obwohl δεῖπνον eigentlich ein Mahl im engeren Sinne bezeichnet, ist gar nichts von Essen, Trinken oder irgendwelchen Speisen und Getränken zu hören. Stattdessen wird nur vom Tanz der Tochter der Herodias berichtet, der eher in das üblicherweise an das Mahl anschließende συμπόσιον77 passen würde. Essen und Sattwerden ist hier kein Thema, vermutlich ist das für den König und seine nob‑ len Gäste so selbstverständlich, dass es nicht erwähnt werden muss. Das Mahl des Herodes wird ad absurdum geführt, der Aspekt der Lebenserhaltung, der Verant‑ wortung für sein Volk spielt keine Rolle. Bei dieser Veranstaltung ist es nicht nur egal, ob jemand satt wird, sondern es wird sogar Leben vernichtet. Ganz anders hingegen die Mahle Jesu – Essen und Sattwerden sind bei den beiden Speisungswundern Jesu zentral (6,42; 8,8); wie ein ‚Hirte‘ (6,34) küm‑ mert sich Jesus um das Volk, gibt sich, nimmt man die Anklänge an das letzte Mahl mit seinen Jüngern wahr, selbst hin, damit andere leben können. Der Kon‑ trast, der hier zwischen einem weltlichen Herrscher und Jesus, damit auch zwi‑ schen weltlicher βασιλεία – auch Herodes verfügt über eine solche und ist bereit, sie zu verscherbeln (6,23) – und der βασιλεία τοῦ θεοῦ, deutlich wird, wird später nochmals in einem Wort aus dem Munde Jesu aufgenommen: ‚Und Jesus ruft sie zu sich und sagt zu ihnen: Ihr wisst, dass die, die über die Völker zu herr‑ schen scheinen, sie unterjochen (οἱ δοκοῦντες ἄρχειν τῶν ἐθνῶν κατακυριεύουσιν), und ihre Großen unterdrücken sie (οἱ μεγάλοι αὐτῶν κατεξουσιάζουσιν αὐτῶν). Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, soll euer Diener sein. Und wer unter euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Auch der Menschensohn ist nämlich nicht gekommen, damit er bedient werde, sondern damit er diene und sein Leben gebe (δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ) als Lösegeld zugunsten vieler.‘ (10,42 – 45).
Κύριος und ἐξουσία sind zwei zentrale Motive des Porträts Jesu. Bei den in 10,42 verwendeten Verbformen steht das Präfix κατα- für den Missbrauch von Macht.78 Im Zusammenhang mit Herodes, dem als Karikatur eines Königs keine echte Macht eignet, sind solche Wörter gar nicht erst zu hören. Markus übt also auf 76 Bei den drei genannten Gruppen handelt es sich vermutlich um die Leiter einzelner Re‑ gierungsbezirke des herodianischen Herrschaftsgebietes, um höhere Offiziere und die Aristokra‑ tie Galiläas (vgl. Pesch, Mk I, 341; Collins, Mk, 308; zu ‚den Großen des Herodes‘ vgl. auch Ebner, Evangelium, 125.). 77 Zur evtl. Vertauschung von συμπόσιον und δεῖπνον vgl. Kap. IV.3.2.4., S. 315 f., Anm. 53. 78 Vgl. Ebner, Evangelium, 125; Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu, 371.
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verschiedene Weise deutlich vernehmbar Herrscherkritik und stellt ihr mit dem Porträt Jesu das Bild des wahren Herrschers gegenüber.79 Ὁ βασιλεύς trägt auch dazu bei; es ist im Markusevangelium auf zwei Szenen beschränkt,80 in denen es geballt zu hören ist: Außer in der Geschichte vom Ende des Johannes kommt es nur noch in der Geschichte vom Ende Jesu vor; Pilatus führt die Bezeichnung ‚König der Juden‘ (ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, 15,2.9.12. 18.26), ein, die ausschließlich von Pilatus und römischen Soldaten gebraucht wird und schließlich als Grund für Jesu Verurteilung auch aufs Kreuz geschrie‑ ben wird. Die jüdischen Hohenpriester verspotten Jesus am Kreuz als ‚Messias, den König Israels‘ (ὁ χριστὸς ὁ βασιλεὺς Ἰσραήλ, 15,32). Die Bezeichnung Jesu als βασιλεύς ist also nur aus dem Munde von Menschen zu hören, die zu den Mächtigen gehören; es ist klar, dass sie die wahre Identität Jesu nicht erkennen. Jesus ist ‚mehr als ein König‘, erst recht mehr als ein ‚König der Juden‘. Doch während König Herodes umbringen lässt, wird dieser König umgebracht. Wie im Menschensohnwort in 10,45 tritt hier die Paradoxie zutage, die Jesu Art des Herrschens ausmacht und ihn von anderen Mächtigen unterscheidet: Seine Voll‑ macht äußert sich im Dienst am Anderen und ist nicht ohne die Ohnmacht des Gekreuzigten zu denken.81 IV.3.3.2. Irdische Vergleiche II: Die falschen Lehrer (7,1 – 24a) (Vgl. Abb. 27a / b, S. 386 / 388) „Belehrung über rein und unrein“82, „The issue of purity“83, „Reinheit und Unreinheit“84 – das sind gängige Titel, mit denen diese Perikope üblicherweise überschrieben wird. Die Frage, wie Jesus selbst, seine Jünger und auch die frühen Gemeinden mit Reinheit und Unreinheit umgegan‑ gen sind, ist ein wichtiges Thema, zu dessen Erforschung der vorliegende Text zweifellos einen interessanten Beitrag leistet. Doch aus der hier gewählten Per‑ spektive fallen am Text andere Aspekte auf, auf die ich mich im Folgenden kon‑ zentrieren möchte. Anders als der gerade behandelte Textblock 6,1b – 32 beschränkt sich dieser hier in Bezug auf die Darstellung der Person Jesu auf eine gegnerische Gruppe, die wie der König Herodes als Gegenentwurf dient. Hier sind es nun ‚die Pha‑ risäer und einige der Schriftgelehrten‘ (οἱ Φαρισαῖοι καί τινες τῶν γραμματέων, 7,1), die der markinische Jesus selbst als die falschen Lehrer entlarvt. Wie schon 79 Noch nicht in der Herodes-Perikope, aber dann ‚Auf dem Weg‘ ist damit auch ein gesell‑ schaftliches Gegenmodell verbunden, wie es exemplarisch in 10,43 f. zur Sprache kommt (vgl. dazu auch Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu, 371 – 375). 80 Darüber hinaus kommt es noch in 13,9 vor, dort aber im Plural, ohne bestimmte Könige zu bezeichnen. 81 Ebner bringt das Charakteristikum der Vollmacht Jesu mit dem Stichwort „Dominanzver‑ zicht“ auf den Punkt (Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu, 374). 82 Pesch, Mk I, 367. 83 France, Mk, 275. 84 Lührmann, Mk, 124.
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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bei der Königskarikatur wird auch hier Jesus selbst in der Perikope nicht mit dem zur Debatte stehenden Titel (διδάσκαλος) benannt. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern tritt er jedoch selbst als der wahre Lehrer für alle auf – für die fal‑ schen Lehrer (7,6 – 13), für das Volk (14 – 17a) und für seine Jünger (7,17 – 24a). Schon die Tatsache, dass [die Pharisäer und] die Schriftgelehrten ‚aus Jerusa‑ lem kommen‘ (ἐλθόντες ἀπὸ Ἱεροσολύμων, 7,1), stellt sie dem Nazarener Jesus gegenüber (vgl. 1,5.9; 3,22). Doch auch aus der bisherigen Erzählung sind sie der Hörerschaft als Gegner Jesu hinlänglich bekannt. Ein weiteres Mal geht es ums Essen: Auslöser für die Lehrrede Jesu ist der Vorwurf der Pharisäer und Schrift‑ gelehrten, die Jünger Jesu würden ‚mit unreinen Händen die Brote essen‘ (κοιναῖς χερσίν [. . .] ἐσθίουσιν τοὺς ἄρτους, 7,2.5). Mit ἐσθίουσιν τοὺς ἄρτους werden zentrale Textsignale aus dem gerade erst gehörten ersten Speisungswunder auf‑ genommen. Doch wie Herodes sind auch diese Gegner Jesu nicht am eigentli‑ chen Sinn des Essens, am ‚Sattwerden‘ interessiert, sodass sie ihre Anfrage von vorneherein in Kontrast zu Jesus stellt. Ihnen geht es stattdessen um die ‚Überlie‑ ferung der Ältesten‘ (ἡ παράδοσις τῶν περσβυτέρων, 7,3.5). An dieser, so bean‑ standen sie, würden die Jünger Jesu nicht festhalten (κρατεῖν, 7,3.4). Jesus kontert, indem er sich seinerseits auf „Älteste“ beruft, deren Autorität auch für seine Gegner außer Zweifel steht: Er zitiert Jesaja und Mose (Jes 29,13; Ex 20,12; 21,1785). Letztlich ist es Gott selbst, der bei beiden zu Wort kommt und die Pharisäer und Schriftgelehrten als falsche Lehrer entlarvt: ‚Sie lehren als Leh‑ ren Gebote der Menschen‘ (διδάσκοντες διδασκαλίας ἐντάλματα ἀνθρώπων, 7,7). In dieser markinischen Fassung wird in Abweichung von der Vorlage der Septu‑ aginta (διδάσκοντες ἐντάλματα ἀνθρώπων καὶ διδασκαλίας, Jes 29,13) das ‚Leh‑ ren‘ durch die Wortumstellung noch hervorgehoben. Normalerweise trennt Mar‑ kus sauber: Jesus ist der διδάσκαλος, seine Gegner sind die γραμματεῖς.86 Doch hier, wo die Gegenüberstellung des wahren Lehrers zu den falschen Lehrern beabsichtigt ist, werden für einmal Lemmata aus der Wortfamilie διδασκ‑ / διδακnicht auf die Lehre Jesu, sondern auf die seiner Gegner bezogen. Der Titel διδάσ καλος87 wird ihnen allerdings auch hier nicht zugestanden. Jesus geht in seiner Antwort an die Gegner gar nicht auf die Frage der Unrein‑ heit ein; erst gegenüber dem Volk (7,14 f.) und den Jüngern (7,17 – 23) nimmt er 85 Die Dekalogstelle findet sich im gleichen Wortlaut wie in Ex 20,12 auch in Dt 5,16, die zweite Hälfte des Mose-Zitates (Ex 21,17) – allerdings in erheblich anderer Formulierung – auch in Lev 20,9. In diesem Fall hält sich Markus eindeutig an Ex 21,17. 86 In den anderen Evangelien werden auch andere Männer als διδάσκαλος bezeichnet (vgl. Lk 2,46; 3,12; Joh 3,10) bzw. wird diese Vokabel in allgemeinen Sentenzen verwendet (vgl. Mt 10,24 f.; Lk 6,40). Die in Lk 3,12 erwähnten διδάσκαλοι sind vermutlich Schriftgelehrte, die auch als γραμματεῖς bezeichnet werden könnten (vgl. Rengstorf, διδάσκω, διδάσκαλος, 155). 87 Διδάσκαλος ist erstmals im ersten Erzählbogen des zweiten Hauptteils zu hören (4,38; 5,35); des Weiteren wird dieses Wort regelmäßig im dritten und vierten Hauptteil erklingen und schließlich ein letztes Mal als Selbstbezeichnung Jesu in der Szene der Vorbereitung des letzten Mahles (9,17.38; 10,17.20.35; 12,14.19.32; 13,1; 14,14).
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sie doch noch auf. Wie schon in früheren Auseinandersetzungen geht es ihm um ‚den Menschen‘ (vgl. 2,27 f.; 3,1.3.5) – während die Pharisäer ‚unreine Hände‘ beanstanden, positioniert sich Jesus dort zur Frage, was den ganzen Menschen unrein macht. In der direkten Konfrontation nimmt er das Stichwort der παρά‑ δοσις τῶν περσβυτέρων (f g) aus dem Vorwurf seiner Gegner in seiner Antwort auf und bringt es mit den ἐντάλματα ἀνθρώπων (fvar i) aus der jesajanischen Got‑ tesrede zusammen. Er spricht entweder von παράδοσις τῶν ἀνθρώπων (f i, 7,8) oder von παράδοσις ὑμῶν (f ivar, 7,9.13). Ihr stellt er alle drei Male ‚das Gebot [das Wort] Gottes‘ (ἡ ἐντολὴ [ὁ λόγος] τοῦ θεοῦ, fvar iopp, 7,8.9.[13]) gegen‑ über. Die Verbpaare ‚verlassen – halten‘ (ἀφέντες – κρατεῖτε, 7,8), ‚für ungül‑ tig erklären – aufstellen‘ (ἀθετεῖτε – στήσητε, 7,9) und ‚abschaffen – überlie‑ fern‘ (ἀκυροῦντες – παρεδώκατε, 7,13) veranschaulichen, wie sehr ihre Lehre menschliche Überlieferung ist, die mit dem Gebot Gottes unvereinbar ist. So wird anschaulich, was den Unterschied zwischen ihrer Lehre und der Lehre Jesu aus‑ macht, der schon zu Beginn des Evangeliums von den Leuten in der Synagoge zu Kafarnaum festgestellt wurde (1,22): Die einen lehren menschliche Überlieferun‑ gen, der andere eine ‚neue Lehre hinsichtlich der Vollmacht‘ (διδαχὴ καινὴ κατ’ ἐξουσίαν, 1,27), die für sich beansprucht, die Schriften bzw. die Gebote Gottes in rechter Weise auszulegen, und die durch Wundertaten gleichsam göttlich legiti‑ miert wird. Jesus erweist sich als der wahre Lehrer mit göttlicher Autorität – und ist so ‚mehr als ein Lehrer‘.
IV.3.4. Heiler, Exorzist und noch viel mehr (5,1 – 6,1a; 7,24 – 37) (Vgl. Abb. 22a / b, S. 364 / 366; Abb. 23a / b, S. 368 / 370; Abb. 28, S. 390; Abb. 29, S. 392) Dass Jesus heilen kann, ihm die Dämonen gehorchen und sie ihn als ‚Sohn Gottes‘ (5,7) erkennen, ist nichts Neues; das Publikum des Markus kennt bereits die Geschichte vom den Besessenen in der Synagoge zu Kafarnaum, von der fie‑ berkranken Schwiegermutter des Petrus, vom Aussätzigen und vom Gelähmten, dazu hat es wiederholt von Massenheilungen und ‑exorzismen gehört. Auch in den einschlägigen Geschichten des zweiten Hauptteils wird die Vollmacht Jesu wieder in Lemmata der Wortfamilie ‚können‘ (δύνασθαι / δύναμις, 5,3.30) hörbar. Desgleichen äußert sie sich im ebenfalls bekannten Muster „Befehl / Ankündi‑ gung – wortwörtliche Ausführung“, zum Teil mit Variationen, im Kern aller die‑ ser Geschichten (5,8.13; 5,41 f; 7,29 f.; 7,34 f.). Eine Steigerung gegenüber dem ersten Hauptteil ist in der Schwere der Fälle des ersten Erzählbogens zu erken‑ nen:88 Jesus ‚kann‘ sogar eine ganze Legion unreiner Geister austreiben (5,9) und eine Tote auferwecken (5,35). Wie der ‚König‘ Herodes (6,14 – 29), ein Vertre‑ 88 Auch Broadhead beobachtet (bei anderer Gliederung des Evangeliums) beim Vergleich mit den Wundergeschichten bis 3,7a dieses Phänomen und spricht von einem „pattern of repe‑ tition and intensification of miracle stories throughout the second act (3.7 – 6.6)“ (Broadhead, Mk, 44).
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ter der römischen Hierarchie, als Gegenfolie zum wahren und guten Herrscher Jesus dient, so kann in der Geschichte des besessenen Geraseners (5,1 – 20) die ‚Legion‘ – in Gestalt des Dämons! – als Anspielung auf die militärische Reprä‑ sentanz der römischen Macht verstanden werden, gegenüber der sich Jesus als der Mächtigere erweist.89 Akklamationen der Menge sind sozusagen umgekehrt proportional zur Größe der Wunder am Ende der beiden Episoden zu hören, die in der Dekapolis spielen. Im ersten Erzählbogen wollen die Einheimischen nach der spektakulären Versen‑ kung der Legion Dämonen mit den Schweinen im See Jesus eigentlich loswerden (5,17), am Schluss heißt es lapidar, dass ‚alle sich wunderten‘ (καὶ πάντες ἐθαύ‑ μαζον, 5,20). (Vgl. Abb. 29, S. 392) Dagegen endet die abgesehen von der ausführlichen kör‑ perlichen Behandlung unspektakuläre Heilung eines Taubstummen (7,31 – 37) in einer Art „heiligen Klangwolke“, einer mit verschiedenen akustischen Effekten ausgestatteten Kumulation von Superlativen. Je mehr Jesus ihnen verbietet, etwas weiterzusagen, ‚desto mehr verkündigten sie über alle Maßen und äußerten über‑ aus großes Erstaunen‘ (αὐτοὶ μᾶλλον περισσότερον ἐκήρυσσον καὶ ὑπερπερισσῶς ἐξεπλήσσοντο, 7,36 f.). Die Worte, mit denen sie die Wundertaten Jesu kommen‑ tieren, bewirken eine weitere Überblendung der Identität Jesu mit der des alttes‑ tamentlichen Gottes. Das Lob der Menge beginnt mit einer generellen Aussage über die Taten Jesu: ‚Gut hat er alles gemacht!‘ (καλῶς πάντα πεποίηκεν, 7,37). Ποιεῖν und καλός bestimmen in der Fassung der Septuaginta die Struktur des ers‑ ten Schöpfungsberichts – Gott ‚macht‘ etwas (Gen 1,1.7.16.21.25.26. 3x in V. 27), jeder Schöpfungsakt schließt mit dem refrainartigen ‚Und Gott sah, dass es gut war‘ (καὶ εἶδεν ὁ θεὸς ὅτι καλόν / ‑ά, Gen 1,4.8.10.12.18.21.25). Wie Gott selbst am sechsten Tag der Schöpfung auf das Vollbrachte zurückschaut, so tut es in der Dekapolis die Menge auf Jesu Taten. Der Rückblick auf die Heilungen und Exor‑ zismen in Markus ähnelt dabei Gottes Rückblick auf die Schöpfung in der Fas‑ sung der Septuaginta sehr: ‚Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, 89
Oft wird die ‚Legion‘ ohne tiefergehende politische Implikationen als anschauliches Bild für die Macht dieses Dämons gedeutet (vgl. z. B. France, Mk, 229; Pesch, Mk I, 286; van Iersel, Mk, 199 f.; Lührmann, Mk, 100). Andere Kommentatoren jedoch, insbesondere sol‑ che, die – mit guten Gründen – das Markusevangelium als „Kontrastvita“ (Ebner, Von gefähr‑ lichen Viten, 158) lesen, die die Herrschaft Jesu in provokativer Weise als Gegenkonzept zur römischen Kaiserherrschaft darstellt, loten den Interpretationsspielraum dahingehend aus, dass sich hinter der ‚Legion‘ die legio X Fretensis verbirgt, die nach dem Zeugnis des Josephus an den Eroberungen Galiläas (67 / 68 n. Chr.) und Jerusalems entscheidend beteiligt war (vgl. z. B. Klinghardt, Legionsschweine, 36; Incigneri, The Gospel, 191; so auch Collins, Mk, 269, die dennoch zum Schluss kommt, es gebe „no theme of opposition to Rome in Mark“). Die Schweineherde wird in dieser Lesart entweder mit dem Eber im Legionssymbol der X Fretensis in Verbindung gebracht (vgl. Klinghardt, Legionsschweine, 38; Incigneri, The Gospel, 191) oder mit Verweis auf die in jüdischer Sicht unreinen Tiere als weiterer – neben der Identifi‑ zierung mit dem Dämon – pejorativer Aspekt der ‚Legion‘ interpretiert (vgl. Incigneri, The Gospel, 192 f.).
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es war sehr gut.‘ (Καὶ εἶδεν ὁ θεὸς τὰ πάντα, ὅσα ἐποίησεν, καὶ ἰδοὺ καλὰ λίαν, Gen 1,31).90 Im Lob der Menge als Reaktion auf die Taten dessen, der Leben wie‑ derherstellt, der in der Sprache des Markus ‚rettet‘ (σώζειν, 3,4; 5,23.28.34; 6,56), ist zugleich die Zufriedenheit des Schöpfers über die Schöpfung zu hören. Die Assoziationen, die diese Überblendung hervorrufen kann, sind vielfältig – „Schöp‑ fung und Rettung ergänzen einander“, „Schöpfer und Retter sind ebenbürtig“, „Gott selbst deklariert Jesu Taten als gut“, „im Wirken Jesu wirkt Gott selbst“ usw. Das Tun Jesu wird im Folgenden beispielhaft mit der letzten der Heilungen konkretisiert: ‚Und er macht, dass die Tauben hören und die Sprachlosen spre‑ chen.‘ (καὶ τοὺς κωφοὺς ποιεῖ ἀκούειν καὶ ἀλάλους λαλεῖν, 7,37). Auch das ist als Anklang an die Schriften zu erkennen. In der Ankündigung der Erlösung Israels und seiner Rückkehr aus dem Exil zum Zion in Jes 35 wird verheißen: Wenn Gott kommen und ‚uns retten wird (σώσει ὑμᾶς), dann werden die Augen der Blinden geöffnet und die Ohren der Tauben werden hören (καὶ ὦτα κωφῶν ἀκούσονται). Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und klar wird sein die Zunge derer, die nicht recht sprechen können (καὶ τρανὴ ἔσται γλῶσσα μογιλάλων) [. . .].‘ (Jes 35,4 – 6LXX).
Von ‚Sprachlosen‘ (ἄλαλοι) ist zwar weder bei Jesaja noch an einer anderen alttestamentlichen Stelle die Rede, dafür aber von denen, ‚die nicht recht spre‑ chen können‘ (μογιλάλοι), wie auch Markus das weitere Leiden des Gehörlosen bezeichnet (7,31). Mογιλάλος ist sowohl in der Septuaginta als auch im Neuen Testament Hapax legomenon; zudem sind diese beiden Belege die frühesten überhaupt für dieses Wort.91 Eine Abhängigkeit des Markustextes von Jesaja 35,4 – 6 ist demnach mehr als wahrscheinlich. Zur Überblendung des Schöpfers mit dem, der Leben wiederherstellt, gesellt sich durch die Anklänge an Jesaja 3592 die Interpretation der Heilungswunder Jesu als Zeichen dafür, dass Gott, der ‚rettet‘, nun gekommen ist.93 Alttestamentliche Anspielungen sind ansonsten rar;94 einen wesentlichen Bei‑ trag zum Porträt Jesu leisten diese Wundergeschichten jedoch durch die Titel, die Jesus dort zugeschrieben werden. Markus verwendet sie insgesamt äußert spar‑ 90
Innerhalb der Septuaginta ist nur noch Koh 3,11 mit dieser Formulierung vergleichbar, wo ebenfalls in schöpfungstheologischem Kontext über Gott gesprochen wird: σὺν τὰ πάντα ἐποίησεν καλὰ ἐν καιρῷ αὐτοῦ (‚Auch hat er alles gut gemacht zu seiner Zeit‘). 91 Ergebnis der TLG-Lemma-Suche „μογλαλέω or μογιλαλία or μογιλάλος“ (Zugriff: 29.07.2017). 92 Vgl. auch Jes 29,18. 93 Auch im Verlauf des Markusevangeliums zeigt sich die Dimension umfassenden Heils, die in σώζειν in den prophetischen Verheißungen erkennbar ist (vgl. 8,35; 10,26; 13,13.20). 94 Die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jaïrus hat – wenngleich längst nicht in so vielen Details wie die Speisungswunder in der Geschichte von Elisa, der mit zwan‑ zig Gerstenbroten hundert Männer sättigt (2 Kön 4,42 – 44) – eine Vorlage in zwei Geschichten aus den Königsbüchern, in denen Elia bzw. Elisa einen Knaben auferweckt (1 Kön 17,17 – 24; 2 Kön 4,8.17 – 37). Eine Überbietung der alttestamentlichen Geschichten liegt hier insofern vor, dass Jesus selbst die Tote auferweckt, Elia und Elisa aber jeweils im Gebet Gott bitten, er möge den Knaben wieder lebendig machen.
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sam, noch seltener sind sie aus dem Mund von Menschen als Anrede zu hören. Sie sind eingebettet in größere Strukturen, in denen es um die Offenbarkeit und Verborgenheit der Person Jesu geht. Die Heilungen und Exorzismen bieten inso‑ fern ein Kontrastprogramm zu den Textblöcken mit den „irdischen Vergleichen“, als hier treffende Zuschreibungen genannt werden: Jesus ist der διδάσκαλος (5,35), der κύριος (5,19; 7,28), der υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου (5,7).
IV.3.5. Strukturelle Beobachtungen zu Name und Titeln Jesu Zum Schluss des Durchgangs durch den zweiten Hauptteil mit dem Fokus auf die Identität Jesu sei noch auf strukturelle Besonderheiten hinsichtlich der Verwen‑ dung seines Namens und der ihm beigelegten Titel hingewiesen (Abb. 20). Διδάσκαλος, das als Titel auf der ersten Bootsfahrt (4,38) eingeführt wurde, und κύριος gestalten die Struktur des zweiten Hauptteils mit. Das ambivalente υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, das im ersten Hauptteil an prominenten Stellen von Jesus selbst verwendet wurde (2,10; 2,28), ist hingegen erst wieder im Mittelteil des Evangeliums zu hören (ab 8,31). Διδάσκαλος und κύριος werden in den Tem‑ pelszenen (11,1 – 13,3a) zu wichtigen Schlüsselwörtern, mit denen Markus sein Jesus-Bild weiterentwickelt, doch bereitet er schon hier vor, was dort verstanden werden soll.95 Κύριος ist im zweiten Hauptteil nur je einmal in den beiden Exor‑ zismuserzählungen zu hören; beide Male (5,19; 7,28)96 ist es auf Jesus bezogen. Nachdem Jesus in 2,28 den Menschensohn als ‚Herrn des Sabbats‘ bezeichnet hatte, steht es nun, wie schon in 1,3 und wie in der Septuaginta als Übersetzung des Gottesnamens JHWH üblich, absolut, d. h. ohne Bezeichnung eines Herr‑ schaftsbereichs. Διδάσκαλος und das zugehörige Verb διδάσκειν – Lehre Jesu (6,2.6.34), Lehre der ausgesandten Zwölf (6,30) – erklingen nur im ersten Erzähl‑ bogen. Im Kontrast dazu kommt im zweiten Erzählbogen aus der Wortfamilie nur das bereits erwähnte διδάσκοντες διδασκαλίας in der Anklage Jesu gegen die „falschen Lehrer“ vor (7,7). Zudem fällt auf, dass der Name ‚Jesus‘ nur in den Episoden zu hören ist, die zwischen der ersten und zweiten Bootsfahrt erzählt werden; ein letztes Mal am Ende des ersten Erzählbogens, als die Zwölf zu ihm zurückkommen und ihm Bericht über ihre Taten als Apostel erstatten (6,30). Die restliche Zeit, so könnte man sagen, agiert Jesus anonym – dieses lange Verschweigen des Namens fun‑ giert als Unterbrechung einer strukturellen Wiederholung und verstärkt den Ein‑ druck, dass die Identität Jesu über weite Strecken verborgen ist.97 Eine genauere 95
Vgl. Oefele, Wer Ohren hat, 60 – 69. Vgl. Kap. IV.4.4.1., S. 348 f.; Kap. IV.4.4.3., S. 352 f. 97 Zürcher gibt das auch so wieder. Luther 2017 füllt manche Lücken („Jesus“ in 6,34; 7,27; 8,1), augenscheinlich in Orientierung am Textus receptus (dort steht an diesen Stellen der Name). In funktional-äquivalenten Übersetzungen wie Gute Nachricht ist diese Besonderheit überhaupt nicht mehr zu erkennen. Um der Eindeutigkeit willen wird der Name Jesu fast in jedem Vers erwähnt (vgl. auch NGÜ und Basisbibel; mit etwas geringerer Frequenz auch EÜ und BigS). 96
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
3,11 υἱὸς τοῦ θεοῦ (Dämonen)
Ø Jesus
Verborgenheit
3,13
4,38 διδάσκαλος (Jünger) 4,41 5,7 υἱὸς τοῦ θεοῦ (Dämonen)
6,31
Ø Jesus
falsche Zuschreibung
6,14–16 Johannes, Elia, einer der Propheten (Herodes, die Leute)
7,28 κύριος (syrophönizische Frau) 8,26
8,22–26 erste Blindenheilung
8,27f. Johannes, Elia, einer der Propheten (die Leute)
! 8,29 Christusbekenntnis des Petrus Abb. 20: Strukturelle Beobachtungen zu Name und Titeln Jesu
Untersuchung lässt zwei längere Abschnitte erkennen, die die Grundstruktur des Evangeliums überlagern: Der erste erstreckt sich von der Berufung der Zwölf bis zur ersten Bootsfahrt (3,13 – 5,2a), der zweite von der ersten großen Speisung bis zur ersten Blindenheilung (6,34 – 8,26). Das Thema der Identität Jesu klingt noch in weiteren Charakteristika dieser Abschnitte an. Jesus wird vor dem ChristusBekenntnis des Petrus (8,29) nur zweimal von Menschen mit einem Titel ange‑ sprochen – im ersten „Jesus-freien“ Abschnitt wenden sich die Jünger mit der Anrede διδάσκαλε (4,38) an ihn, im zweiten die syrophönizische Frau mit κύριε (7,28). Beide Abschnitte zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie durch weitere Titel bzw. Zuschreibungen gerahmt werden. So sprechen ihn die Dämonen kurz
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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vor und kurz nach dem ersten Abschnitt als ‚Sohn Gottes‘ (υἱὸς τοῦ θεοῦ, 3,11; 5,7) an, vor und nach dem zweiten sind die Vermutungen der Leute zu hören, wer Jesus sei – Johannes, Elia, einer der Propheten (6,14 – 16; 8,27 f.). Während ‚Sohn Gottes‘ in der Sprache des Markus den Kern der Identität Jesu trifft, Jesus als sol‑ cher bislang aber nur von den Dämonen erkannt wird, sind die Zuschreibungen der Menschen alle falsch.
IV.3.6. Zusammenfassung: Das Porträt Jesu in 4,35 – 8,22a Im Menschen Jesus ist Gott selbst gegenwärtig. So lautet die plumpe Zusam‑ menfassung der Antworten des zweiten Hauptteils auf die während der ersten Bootsfahrt von den Jüngern gestellte Frage ‚Wer ist dieser?‘ (4,41). Was in kon‑ kreten Worten nicht nur platt wirkt, sondern letztlich doch nicht erfasst werden kann, findet seinen Ausdruck in der Komposition des Markusevangeliums, in der vielfältige Mittel zum Einsatz kommen. Zwei Aspekte lassen sich dabei unter‑ scheiden und sind doch nicht voneinander zu trennen: extra- und intratextuelle Beziehungen. Zusammen ermöglichen sie, das eigentlich Unsagbare auf adäquate Weise zu sagen. Eines der Mittel sind Titel und Zuschreibungen; sie entfalten ihr semantisches Potential im Markusevangelium sowohl durch gezielten Einsatz in der Kompo‑ sition98 als auch auf der Basis ihres alttestamentlichen Hintergrunds und ihrer weiteren Verwendung insbesondere in frühjüdischen Schriften. Im Folgenden liegt der Fokus auf dem kompositorischen Aspekt, doch bleibt zu berücksich‑ tigen, dass es sich nicht um klinisch reine, für jegliche Bedeutung offene Text‑ bausteine handelt, sondern um Wörter, deren Geschichte bei ihrer Erwähnung mitklingt. Was auf der intratextuellen Ebene geschieht – die Kombination von Titeln zur Beschreibung der Bedeutung des ‚Messias‘ –, ist zuvor und zeitgleich auch in Texten des Frühjudentums und im Sprachgebrauch der sich formierenden Gemeinden der Christus-Nachfolgenden zu beobachten.99 Vom Erzähler über die Jünger, andere Einzelpersonen, die Allgemeinheit und die unreinen Geister bis hin zu Jesus selbst spannt sich der Bogen derer, von denen Titel und Zuschreibun‑ gen zu hören sind. Diese lassen sich unterteilen in solche, die durch das Evange‑ lium mehrfach erklingen und sich dadurch mit Bedeutung anreichern, und singu‑ läre. Von den im zweiten Hauptteil verwendeten gehören κύριος (1,3; 2,28; 5,19; 7,28),100 υἱὸς τοῦ θεοῦ (1,1; 1,11; 3,11; 5,7)101 und διδάσκαλος (4,38; 5,35) zur ersten Kategorie. Die ersten beiden treffen die Sache im Kern und stehen für die göttliche Seite Jesu. Διδάσκαλος kann den beiden anderen Titeln nicht das Was‑
98
Vgl. Broadhead, Jesus the Nazarene, 6. Vgl. J. Collins, King and Messiah, 100; A. Collins, Jesus as Messiah, 104. 100 Zu κύριος vgl. Kap. III.1.2., S. 84 – 86. 101 Zu υἱὸς τοῦ θεοῦ vgl. Kap. III.1.2., S. 83 f. 99
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Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
ser reichen, doch klingt seit dem ersten Auftreten Jesu als Lehrer seine ἐξουσία mit (1,22.27). So verortet auch diese Bezeichnung Jesus in Beziehung zu Gott und schafft von Anfang an einen Gegensatz zu den Schriftgelehrten, die Jesus selbst als falsche Lehrer entlarvt, die ‚fern von Gott sind‘. Das singuläre υἱὸς τῆς Μαρίας (6,3) knüpft an die bereits bekannten ‚Sohn‘-Titel υἱὸς τοῦ θεοῦ und υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου102 an und benennt die irdisch-menschliche Herkunft Jesu. Προφή‑ της, das Jesus bildhaft benützt (6,4) und das auch der Grundtenor der verschie‑ denen Zuschreibungen der Allgemeinheit (6,14 f.) ist,103 fällt insofern aus der Reihe, weil es nicht wie die zuvor genannten ausschließlich auf Jesus bezogen wird.104 Es bleibt unklar, ob es einen Aspekt der Identität Jesu bezeichnen soll; die Zuschreibung ‚ein Prophet wie einer der Propheten‘ ist jedenfalls wie ‚Johan‑ nes der Täufer‘ oder ‚Elia‘ schlichtweg falsch. Diese Zuschreibungen können als singuläre gelten, weil sie in 8,28 in der exakt gleichen Kombination in expliziter Rekapitulation von 6,14 f. erscheinen. Des Weiteren wird in der Person Jesu die Identität Gottes erkennbar, indem alt‑ testamentliche Texte, die von Gott reden, auf Jesus bezogen werden. Dabei bleibt es nicht bei vagen Anspielungen, vielmehr handelt es sich in den meisten Fällen um explizite externe Wiederholungen der Klanggestalt: Wörter, Formulierungen oder gar ganze Erzählstrukturen werden aus der Septuaginta übernommen und in die Komposition eingewoben. Der zweite Hauptteil geht dabei über den ersten hinaus, in dem sich die ἐξουσία Jesu in erster Linie in Heilungen und Exorzismen manifestiert; diese Vollmacht gibt er seinen Jüngern weiter (3,15; 6,7). In der Sturmstillung, im Seewandel, in den Speisungswundern und in den ‚rettenden‘ Taten Jesu zeigt sich nun die Größe und Souveränität des Schöpfers, dem die Naturgewalten unterstehen, des Gottes, der für sein Volk sorgt, des κύριος der Septuaginta, dessen ‚Kommen‘ sie ankündigt. Wer nicht wahrnimmt, dass sich in Jesus das Kommen des Herrn realisiert, wer nicht erkennt, dass ihm in diesem Menschen Gott selbst begegnet, hat nicht verstanden, wer dieser ist. Parallel zu dieser Bekräftigung der göttlichen Identität Jesu wird seine Überlegenheit über weltliche Herrscher im Vergleich mit Herodes (6,14 – 29) und durch den Exorzis‑ mus der ‚Legion‘ in Gerasa (5,1 – 21) hervorgehoben. Darüber hinaus ergeben sich intratextuelle Beziehungen durch werkinterne Wiederholungen aller Kategorien. In besonderer Weise ist im zweiten Hauptteil am Thema der Identität Jesu zu beobachten, wie kompositorische Strukturen, oder anders gesagt, wie die hörbare Gestalt des Textes seinen Gehalt wesent‑ lich mitbestimmt. Auffällig ist zunächst der Unterschied zwischen den beiden Erzählbögen: In der ersten, detaillierteren und lebendigeren Hälfte inklusive der zweiten Bootsfahrt wird immer wieder unter Aufnahme von εἴναι mit der Frage 102
Zu υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου vgl. Kap. III.2.2.4., S. 154 – 157. Vgl. Schreiber, Anfänge, 52. 104 In 1,2 ist die Rede vom ‚Propheten Jesaja‘, in 11,32 ist zu hören, dass Johannes der Täu‑ fer von den Leuten für einen Propheten gehalten wird. 103
IV.3. Die Frage nach der Identität Jesu
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‚Wer ist dieser?‘ gerungen.105 Zudem ist der Name Jesu oft zu hören, dazu ver‑ schiedene Titel und Zuschreibungen. All das fehlt im zweiten Erzählbogen, der auf das völlige Unverständnis der Jünger auf der letzten Bootsfahrt hinsteuert. Der Kontrast zwischen diesen beiden Erzählbögen ist kombiniert mit der kompo‑ sitorisch gezielten Verwendung von treffenden Titeln und falschen Zuschreibun‑ gen, die die Grundstruktur des Evangeliums überlappen. Der Beginn des ersten Erzählbogens ist gleichzeitig das Ende der ersten längeren Phase (3,11 – 5,2), in der der Name Jesu nicht zu hören ist. Damit korrespondiert der bereits skizzierte Spannungsbogen des zweiten Hauptteils: ‚Wer ist dieser?‘ – ‚Ich bin’s!‘ – ‚Ver‑ steht ihr immer noch nicht?‘ (4,41; 6,50; 8,17.21), an dem bereits deutlich wurde, dass sich die Frage nach der Identität Jesu und die danach, wer zu ihm gehört, nicht trennen lassen. Beides wird durch den ganzen zweiten Hauptteil hindurch verhandelt, doch mit unterschiedlicher Intensität: Zwischen der Frage der Jünger auf der ersten und der Selbstoffenbarung Jesu auf der zweiten Bootsfahrt steht die Identität Jesu im Vordergrund, danach verlagert sich das Gewicht darauf, wer sie erkennt. Das in der Mitte stehende ‚Ich bin’s!‘ Jesu ist umgeben von den Textblöcken, in denen die Identität Jesu nicht in Überblendung mit der Identität Gottes, sondern durch Vergleiche mit anderen menschlichen Akteuren themati‑ siert wird. Auch hier zeigt sich der Unterschied zwischen den beiden Erzählbö‑ gen. Während der erst in der Verhandlung vor Pilatus und bei der Kreuzigung (Kap. 15) auf Jesus angewandte Titel βασιλεύς für Herodes in 6,14 – 29 fast infla‑ tionär gebraucht wird, werden die Schriftgelehrten in 7,1 – 24a wie auch sonst im Evangelium nicht διδάσκαλοι genannt; hier wird auf indirekte Weise klar, dass es sich um die Gegenüberstellung der falschen zum richtigen Lehrer handelt. Zudem sind nur vor der zweiten Bootsfahrt die Angaben zur irdischen Herkunft Jesu, verschiedene im Volk kursierende Identifikationen und die Geschichten vom Vor‑ läufer und von den Nachfolgern zu hören, mittels derer Person und Leben Jesu in den großen Bogen der Heilsgeschichte eingebettet werden. Die Jünger treten zwar auch im zweiten dieser Textblöcke auf, doch nicht als ‚Apostel‘ (6,7.30), die ihrer Berufung als Nachfolger Jesu gerecht werden, sondern als ‚Unverständige‘ (ἀσύνετοι), als solche, die ‚nicht erkennen‘ (οὐ νοεῖτε, 7,18). Übergreifend dient das Thema des Essens, das v. a. mit den Motiven ἄρτος, ἐσθίειν und χορτασθήναι durchgespielt wird, zur Profilierung der Identität Jesu. Zum einen geschieht das durch die bereits erwähnten alttestamentlichen Anklänge, zum anderen durch werkinterne Kontraste: Während bei den Mäh‑ lern Jesu alle satt werden und darüber hinaus Unmengen an Resten übrig blei‑ ben, wird die exklusive Veranstaltung seines Gegenbildes Herodes zwar δεῖπνον genannt, aber als solches ad absurdum geführt, da es nicht zur Lebenserhaltung dient, sondern dabei sogar Leben vernichtet wird. Ähnlich liegt der Fall der Schriftgelehrten und Pharisäer; sie reden zwar vom ‚Brot essen‘, sind aber nicht 105 ‚Wer ist dieser?‘ (4,41), ‚Ist dieser nicht?‘ (6,3), ‚Er ist . . .‘ (6,15.49; etwas abgewandelt auch 6,55), ‚Ich bin’s!‘ (6,50).
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daran interessiert, ob jemand satt wird, sondern daran, dass dabei Regeln einge‑ halten werden. Mit der Unverständigkeit insbesondere der Jünger, mit falschen oder unzu‑ reichenden Zuschreibungen, mit dem Sohn-Gottes-Titel, den nur die Dämonen kennen, und mit den langen Phasen, in denen Jesus ohne Namen auftritt, wird die Frage nach Verborgenheit und Offenbarkeit der wahren Identität Jesu mit großer Eindringlichkeit gestellt und gleichzeitig auch beantwortet.106 Zweifellos liegt die wahre Identität Jesu als Christus, als Herr und Sohn Gottes in der Parado‑ xie des Ohnmächtig-Vollmächtigen, in der Tatsache, dass dieser Herrscher seine Herrschaft über den Weg der Passion, des Todes am Kreuz und der Auferstehung antritt.107 Doch im zweiten Hauptteil dominieren die vollmächtigen, ja göttlichen Züge Jesu, und nur für sehr verständige Ohren sind leise Anklänge an Leiden und Tod zu hören; etwa in den Reminiszenzen an die Jonageschichte in der Erzählung von der Stillung des Sturmes, im Schicksal des Vorläufers Johannes oder durch die Anklänge an das letzte Mahl Jesu insbesondere in der zweiten Speisungser‑ zählung. Offenbarkeit und Verborgenheit lassen sich aus zwei unterschiedlichen Per‑ spektiven betrachten: Auf der narrativen Ebene geht es im zweiten Hauptteil darum, zu erkennen, dass Jesus der Christus, der Herr, der Sohn Gottes ist. Das ist für die Protagonisten der Erzählung zum aktuellen Stand der Geschichte nicht selbstverständlich und wird sich erst durch den Verlauf der Dinge – Passion, Tod und Auferstehung – auf paradoxe Weise bestätigen. Die Darstellung des Markus ist ambivalent: Zum einen scheint die göttliche Identität Jesu in seinen Worten und Taten auf und er selbst beauftragt Menschen zur ‚Verkündigung‘ und sorgt so für die Verbreitung seines Rufes. Anderen Augenzeugen hingegen gebietet er, über das Miterlebte zu schweigen; der zentrale Sohn-Gottes-Titel ist nur in der Verborgenheit zu hören. Für die Hörerinnen und Hörer, denen die entscheidenden Informationen über Jesu Identität von Anfang an mit auf den Weg gegeben wurden und für die das Grunddatum ihres Glaubens mit Tod und Auferstehung Jesu gegeben ist, lautet die Frage hingegen, was es für sie bedeutet, dass Jesus der Christus, der Herr, der Sohn Gottes ist. Die gestalterischen Mittel, die hier beschrieben wurden, eröffnen den Hörerinnen und Hörern den Interpretationsraum für das, was erzählt wird – 106
Vgl. dazu auch III.1.4. S. 98 f. So u. a. auch Pesch, Hahn, Stuhlmacher und France. Pesch und Stuhlmacher betonen den narrativen Grundcharakter dieser Paradoxie (Pesch, Mk II, 43; Stuhlmacher, Biblische Theo‑ logie II, 136). Hahn weist ergänzend darauf hin, „dass erst mit der Parusie die messianische Herrschaft Jesu in Erscheinung treten wird.“ (Hahn, Theologie I, 501). Während Stuhlmacher und Hahn etwas einseitig von einer theologia crucis sprechen, die Markus vertrete (vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 147; Hahn, Theologie I, 508), bringt France die Paradoxie zum Ausdruck, die die Christologie des Markusevangeliums bestimmt: „There is a theologia gloriae, but it is carefully balanced by and grounded in a theologia crucis.“ (France, Synoptic Gospels, 230). 107
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dafür, die Relevanz dieser „Historie“, insbesondere die Relevanz Jesu für ihre eigene Gegenwart zu erkennen. Die Herausforderung – zu erkennen bzw. zu glauben, dass in diesem Men‑ schen Gott unter den Menschen gegenwärtig ist und bleibt und ihnen mehr als genug zum Leben bietet – ist letztlich auf beiden Ebenen die gleiche. Sie ist der Anknüpfungspunkt für den zweiten roten Faden, die Frage nach den Nachfolge‑ rinnen und Nachfolgern Jesu.
IV.4. Wer gehört zu ihm? Die Frage nach den Nachfolgern und Nachfolgerinnen Jesu „Wer gehört zu ihm?“ Auch diese Frage stellt sich nicht nur auf narrativer Ebene, sondern geht alle an, die das Markusevangelium hören. Sie lässt sich von zwei verschiedenen Seiten her stellen: „Wen bestimmt Jesus zur Gemeinschaft mit ihm?“ und: „Was muss jemand tun, um zu ihm zu gehören?“ Markus beantwor‑ tet diese Fragen nicht direkt, sondern indem er ganz verschiedene Geschichten erzählt, in denen Einzelpersonen und Gruppen Jesus begegnen und auf ihre je eigene Weise auf ihn, seine Worte und Taten reagieren, und indem er mit wieder‑ kehrenden Motiven dieses Thema immer wieder aufgreift und in verschiedenen Kontexten durchspielt. In vielen Auslegungen der Kapitel 4 – 8 des Markusevangeliums steht das Thema der Ausweitung von Jesu Wirksamkeit auch auf die Heiden im Vorder‑ grund: Die zentrale Botschaft laute, Jesus sei nicht nur für die Insider, die Juden, sondern auch für die Outsider, die Heiden, gekommen.108 Der Text gibt durch‑ aus einigen Anlass für diese Interpretation, sei es durch alttestamentliche Bezüge wie in 6,34, durch den Wechsel zwischen jüdischem und heidnischem Terrain, oder z. B. auch durch die Thematisierung der Reinheitsfrage (7,1 – 24a). Dennoch denke ich, dass sich allein darin die Frage nach dem In- und Outsider-Sein nicht erschöpft. Um dem ganzen Spektrum der Antworten Raum zu geben, frage ich nicht im Speziellen nach der Zugehörigkeit von Juden und Heiden, sondern ganz allgemein danach, wer als Nachfolgerin und Nachfolger bezeichnet werden kann. Diesen zweiten roten Faden werde ich analog zum ersten verfolgen: Ich beginne wieder mit einem Rückblick auf das bisher Geschehene und untersuche dann der Reihe nach die Boots- und Brotgeschichten, die Textblöcke mit den „irdischen Vergleichen“ und zum Schluss die Geschichten von Heilungen und Exorzismen. 108 Malbons kurzer narratologischer Durchgang durch 4,1 – 8,26 baut ganz auf „the mar‑ kan implied author’s convictions“ auf, von denen die erste lautet: „Jesus is Messiah for both Jews and Gentiles“ (Malbon, Company, 40; vgl. auch den ganzen Durchgang durch Kap. 4 – 8, 21 – 40). Pesch kommt zum gleichen Schluss (vgl. Pesch, Mk I, 400.414); er betitelt 6,30 – 8,26 mit „Jesu Zuwendung zu Juden und Heiden“ (a. a. O., 345), nimmt aber schon die Erzählung vom besessenen Gerasener als „Beginn der Heidenmission“ wahr (a. a. O., 294).
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IV.4.1. Was bisher geschah Die Ouvertüre konzentriert sich auf die Vorstellung der Hauptperson Jesu und trägt noch nichts zu diesem Thema bei. In den Tripelepisoden des ersten Hauptteils beruft Jesus Jünger, die ihm dann auch ‚nachfolgen‘ (ἀκολουθεῖν). Gleichzeitig wird in diesen Perikopen auch das Volk immer präsenter; beim dritten Mal heißt es auch von den Leuten, die aus eigenem Antrieb von überall her zu Jesus kommen, sie folgten ihm nach (3,7). Im Kontrast zu den Massen werden ‚die Zwölf‘ (οἱ δώδεκα) als Auserwählte geschildert, die Jesus aussucht (προσκαλεῖται οὗς ἤθελεν αὐτός, 3,13), ‚dass sie mit ihm seien und dass er sie aussende‘ (ἴνα ὦσιν μετ’ αὐτοῦ καὶ ἵνα ἀποστέλλῃ αὐτούς, 3,14) – sie sind ganz offensichtlich von Jesus selbst dazu bestimmt, zu ihm zu gehören. Bei den Schriftgelehrten und Pharisäern hinge‑ gen ist von Anfang an klar, dass sie Gegner Jesu sind. Die Schriftgelehrten erken‑ nen nicht, dass Jesu Vollmacht göttlichen Ursprungs ist. Sie werfen ihm Blasphe‑ mie vor (2,7) und sehen ihn mit den unreinen Geistern statt mit dem Heiligen Geist im Bunde (3,29 f.). Die Pharisäer werden als diejenigen entlarvt, die ihrem eigenen Anspruch, die Gebote Gottes richtig auszulegen, nicht genügen. Ihnen attestiert Jesus ‚Versteinerung des Herzen‘ (πώρωσις τῆς καρδίας, 3,5). Das Volk wiederum läuft in Scharen zu Jesus und erhofft sich von ihm Befreiung von Dämonen und Heilung von Krankheiten. Ob die Leute allerdings tatsächlich verstehen, wer er ist, oder ob sie nicht eher auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert sind, ist fraglich (3,10). Von einer Einteilung in zwei durch die Zugehörigkeit zu Jesus bestimmte Gruppen ist ein erstes Mal in einer Antwort an die Pharisäer zu hören; er sei, so sagt Jesus selbst, ‚nicht gekommen die Gerechten zu rufen, sondern die Sün‑ der‘ (2,17). So verwundert nicht, dass in der Tischgemeinschaft Jesu die Jünger, die Jesus berufen hat, mitten unter den ‚Zöllnern und Sündern‘ sitzen (2,15 f.). Am Ende des ersten Hauptteils ist zum ersten Mal von ‚denen draußen‘ (οἱ ἔξω, 3,31.32) und ‚denen um ihn‘ (οἱ περὶ αὐτόν, 3,32.34) zu hören. Dabei fällt jedoch auf, dass die Jünger in dieser Szene gar nicht erwähnt werden. ‚Um ihn‘ sitzen ‚Leute‘ (ὄχλος), draußen stehen die Mutter und die Geschwister Jesu. In der Wie‑ derholung dieser Einteilung in In- und Outsider (4,10 f.) sind die Gruppen nicht klar definiert; zu οἱ περὶ αὐτόν gehören auf jeden Fall auch die Zwölf (σὺν τοῖς δώδεκα); mit οἱ ἔξω, so legt zumindest der Erzählzusammenhang nahe, sind die vielen Leute gemeint, die am Ufer stehen und Jesus zuhören. Die Privilegierung der Jünger scheint sich am Ende der Gleichnisrede zu bestätigen (4,34). Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Themas im zweiten Hauptteil ist der in 4,34 erreichte Stand: Zum einen ist eine klare Unterteilung in In- und Outsider (οἱ περὶ αὐτόν – οἱ ἔξω) zu erkennen. Weniger klar ist hingegen trotz der besonderen Stellung der Jünger, wer zu welcher Gruppe gehört. Die Kriterien, die über die Zugehörigkeit zu Jesus entscheiden, sind auf zweifache Weise benannt: Zu Jesus gehört, ‚wer auch immer den Willen Gottes tut‘ (ὃς γὰρ ἂν ποιήσῃ τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ, 3,35) bzw. nach Aussagen in der Gleichnisrede (4,1 – 36a), wer ‚hört, sieht und versteht‘.
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IV.4.2. Wer ist dieser? Vom wachsenden Unverständnis der Jünger in den Geschichten von Booten und Broten IV.4.2.1. Furcht oder Ehrfurcht? (4,35 – 5,2a) (Vgl. Abb. 21, S. 362) ‚Kümmert’s dich nicht, dass wir untergehen?‘ (οὐ μέλει σοι ὅτι ἀπολλύμεθα, 4,38). Mit diesem Vorwurf ist erst zum zweiten Mal im Markus evangelium die Stimme der Jünger zu hören. Während sich – abgesehen vom Zwischenruf ‚Alle suchen dich!‘ (1,37)109 – ihr Tun bisher darauf beschränkte, Jesus nachzufolgen und als Anstoß für die Pharisäer zu fungieren (2,18.24), treten sie im zweiten Hauptteil stärker als aktiv Handelnde auf und melden sich auch des Öfteren zu Wort. Der Vorwurf an den im Boot schlafenden Jesus steht im Zentrum der ersten Ringkomposition, die vom Aufkommen des Sturmes und seiner Stillung umrahmt ist. Markus lässt offen, ob sich die Jünger von ihm Hilfe erwarten110 oder ob sie sich bei ihm beschweren, weil sie ja auf seine Initiative hin in diese Situation gerieten bzw. er nicht von sich aus etwas unternimmt.111 Ihrem Vorwurf steht der doppelte Vorwurf Jesu aus dem Zentrum der zweiten Ringkomposition entgegen: ‚Was seid ihr so feige? Habt ihr noch keinen Glauben?‘ (τί δειλοί ἐστε οὔπω ἔχετε πίστιν, 4,40). Die Ruppigkeit auf beiden Seiten fällt auf. Trotzdem, die Angst der Jünger im lebensbedrohlichen Sturm ist nachvollziehbar. Explizit erwähnt wird ihre ‚Furcht‘ aber erst als Reaktion auf die Stillung des Sturms: ‚Und sie fürchteten sich furchtbar‘ (καὶ ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν, 4,41). Anders als in der Gleichnisrede und anders auch als in den folgenden Bootsgeschichten fehlt hier das Vokabular des Sehens, Hörens und Verstehens, stattdessen ist von Furcht und Glauben die Rede. Auch in den alttestamentlichen Texten, die hinter der markinischen Sturm‑ stillung erkennbar sind,112 werden die Reaktionen der Menschen beschrieben. In Ps 106LXX werden die Leute im Boot im Sturm körperlich und emotional113 109 Auch das richtet sich an Jesus, der sich zurückgezogen hat (1,36 f.); hier liegt ein vor‑ wurfsvoller Unterton im Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten. Indirekte Rede der Jünger liegt bis zur Sturmstillung nirgends vor; an ein oder auch zwei weiteren Stellen ist aus Erzäh‑ lerperspektive davon zu hören, dass sich die Jünger an Jesus wenden. In 1,30 können die Jünger implizites Subjekt von ‚und sie sagten ihm von ihr [von der Schwiegermutter des Petrus, Anm. d. Vfn.]‘ sein, in 4,10 sind ‚die Zwölf‘ unter denen, die Jesus nach den Gleichnissen fragen. 110 Das meinen Lührmann, Mk, 97; France, Mk, 22; van Iersel, Mk, 195; Stein, Mk, 243; Gundry, Mk, 239. Gnilka und Guelich nehmen dies für die Vorlage an, hören aber in der marki‑ nischen Fassung v. a. den Vorwurf, weil sich in V. 40 ja zeige, dass die Jünger Jesus nicht vertraut hätten (Gnilka, Mk I, 195; Guelich, Mk I, 266 f.). Dschulnigg und Collins lassen offen, mit welcher Intention sich die Jünger an Jesus wenden (Dschulnigg, Mk, 150; Collins, Mk, 259). 111 In diese Richtung geht Schweizer, wenn er in diesen Worten „etwas von der Not des Be‑ ters, der an Gottes Schweigen verzweifelt“, erkennt (Schweizer, Mk, 56). 112 Vgl. Kap. IV.3.2.1., S. 304 f. 113 ταράσσειν kann im konkreten und übertragenen Sinne verstanden werden (vgl. LSJ s. v. ταράσσω; Bauer s. v. ταράσσω).
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‚durchgeschüttelt‘ (ἐταράχθησαν, Ps 106,27LXX) ‚und sie rufen zum Herrn in ihrem Bedrängtsein‘ (καὶ ἐκέκραξαν πρὸς κύριον ἐν τῷ θλίβεσθαι αὐτούς, Ps 106,28LXX) – beides ist in der markinischen Sturmstillung nicht wörtlich, aber inhaltlich wiederzufinden. Als sich der Sturm legt, reagieren sie jedoch anders als die Jünger Jesu; sie ‚freuten, dass es ruhig geworden war‘114 (εὐφράνθησαν ὅτι ἡσύχασαν; Ps 106,30LXX). Im Jona-Buch ist hingegen gleich dreifach von der Furcht der Seeleute zu hören, die sich mit Jona im Schiff befinden. Sie ‚fürchten sich‘ (ἐφοβήθησαν) wegen des Sturms, und auch sie ‚rufen ein jeder zu seinem Gott‘ (ἀνεβόων ἕκαστος πρὸς τὸν θεὸν αὐτῶν, Jona 1,5LXX). Die große Furcht (φόβος μέγας) kommt bei ihnen aber wegen Jonas Gott auf. Sie fürchten sich vor ihm, als sie erfahren, dass sie mit Jona jemanden an Bord haben, der vor seinem Gott geflohen ist (Jona 1,10LXX). Die andere Seite ihrer Gottesfurcht, ihre Ehrfurcht vor seiner Macht, zeigt sich nach der Stillung des Sturmes (Jona 1,16LXX); sie ‚opfern dem Herrn Opfer‘ (ἔθυσαν θυσίαν τῷ κυρίῷ) und ‚geloben Gelübde‘ (εὔξαντο εὐχάς). Auch ihre Furcht wird an den beiden Stellen, an denen sie Gott gilt, wie in Mk 4,41 durch eine Figura etymologica betont.
Auf diesem Hintergrund lässt sich die Furcht der Jünger als Ehrfurcht vor der Vollmacht Jesu verstehen. Doch im Fortgang des Markusevangeliums werden Furcht und Glauben in einem Jesuswort wenig später zu Gegensätzen:,Fürchte dich nicht, glaube nur.‘ (μὴ φoβοῦ μόνον πίστευε, 5,36). Bereits nach der Stillung des Sturmes ist beides zusammen zu hören, wenn auch mit umgekehrten Vorzei‑ chen (οὔπω ἔχετε πίστιν . . . ἐφοβήθησαν, 4,40 f.) – so stellt sich hier die Frage, ob sich Furcht und Glaube ausschließen. Das Verhalten der Jünger – sowohl ihr Vorwurf an Jesus als auch ihre Furcht – bietet also Raum zur Interpretation. Es sind sowohl Züge des Glaubens und Ver‑ trauens als auch des Unverständnisses zu erkennen. IV.4.2.2. Ein Gespenst auf dem Meer! (6,45 – 56) (Vgl. Abb. 26, S. 384) Auf der zweiten Bootsfahrt sind die Jünger zunächst allein auf dem nächtlichen See unterwegs. Jesus ‚sieht sie‘ vom Ufer aus (ἰδὼν αὐτούς, b, 6,48), später ‚sehen sie ihn, wie er auf dem Meer herumgeht‘ (ἰδόντες αὐτὸν ἐπὶ τῆς θαλάσσης περιπατοῦντα, b, 6,49). Markus führt nicht aus, wie man in der Nacht überhaupt etwas sehen kann, doch ist ihm auch nicht daran gelegen, dafür natürliche oder übernatürliche Erklärungen zu finden.115 Sehen ist in sei‑ nem Evangelium immer mit der Frage verbunden, ob es rechtes Sehen ist, ob 114 Wörtlich müsste es ‚dass sie ruhig geworden waren‘ heißen; dabei bleibt unklar, ob als Subjekt die in V. 29 genannten Wogen oder die Leute, die sich freuen, gemeint sind. 115 Wenn man das Sehen bei Nacht als besondere Fähigkeit Jesu („extraordinary“; Collins, Mk, 333) oder gar als Zeichen seines „göttlich-überlegene[n] Wissen[s]“ (Pesch, Mk I, 360) in‑ terpretiert, müsste man konsequenterweise auch den Jüngern Vergleichbares zuschreiben. Eine „naturalistische“ Lösung bieten etwa van Iersel und France, die vermuten, dass vielleicht der Mond geschienen habe oder die Morgendämmerung schon angebrochen sei (van Iersel, Mk, 232; France, Mk, 271).
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jemand auch versteht, was er sieht. Hier sehen die Jünger Jesus und halten ihn, der in göttlicher Manier116 über den See schreitet, für ein Gespenst. Das Sehen der Jünger bildet eine Inclusio um die Erscheinung, die sie falsch interpretieren; die kleine Szene endet damit, dass ‚alle nämlich ihn sahen‘ (πάντες γὰρ αὐτὸν εἶδον, b, 6,50). Sosehr das Sehen hier betont wird, von Erkennen kann keine Rede sein. Stattdessen dominiert wie in der ersten Bootsgeschichte das Erschrecken, das auch hier in mehreren Verben Ausdruck findet (ταράσσειν, φοβεῖν, ἐξιστά‑ ναι, d(var), 6,50 f.) und den folgenden Abschnitt bestimmt. Auch nachdem sich Jesus zu erkennen gegeben und die Jünger zu beschwichtigen versucht hat und zu ihnen ins Boot gestiegen ist, sind sie immer noch ‚außer sich‘. Dennoch sind die Jünger auch hier wieder in guter Gesellschaft: An den oben117 erwähnten alt‑ testamentlichen Stellen, an denen Gott an Menschen vorüber geht, wird er auch nicht erkannt; Hiob konstatiert das einfach (Hi 9,11), in der Begegnung mit Mose hält Gott diesem seine Hand vors Gesicht, bis er nur noch von hinten zu sehen ist (Ex 33,22 f.) und Elia bedeckt selbst sein Gesicht (1 Kön 19,13). Der Kommentar des Erzählers – ‚Sie waren nämlich nicht verständig gewor‑ den aufgrund der Brote, sondern ihr Herz war versteinert‘ (οὐ γὰρ συνῆκαν ἐπὶ τοῖς ἄρτοις ἀλλ’ ἦν αὐτῶν ἡ καρδία πεπωρωμένη, 6,52) – entpuppt sich als Ein‑ schub, der sich in der Bootsgeschichte in engerem Sinne (6,45 – 54) nirgends for‑ mal anbinden lässt. In ihm kumulieren jedoch mehrere bereits bekannte Motive, die verschiedene vorausgegangene Szenen in Erinnerung rufen, die Reaktion der Jünger auf den Seewandel Jesu mit diesen in Beziehung setzen und auf diese Weise interpretieren. Zudem wird dieser Vers im weiteren Verlauf des Evangeli‑ ums seinerseits wieder aufgenommen und der Faden fortgesponnen. Im unmittelbaren Kontext bestätigt dieser Erzählerkommentar, dass das Sehen der Jünger unverständiges Sehen ist, und bildet die Brücke zum Nachspiel an Land (6,54 – 56). Während die Jünger unverständig bleiben, Jesus also nicht erkennen, ‚erkennt man ihn sogleich‘ (εὐθὺς ἐπιγνόντες αὐτόν, 6,54), als Jesus und die Jünger aus dem Boot aussteigen. Der Gegensatz zwischen den Jüngern und den Leuten an Land klingt weiter in ‚wo sie hören, dass er sei‘ (ὅπου ἤκουον ὅτι ἐστίν, 6,55). Zum einen wird mit dem ‚Hören‘ nach dem ‚Sehen‘ die zweite Art der Wahrnehmung genannt, die Markus mit der Frage des Verstehens kop‑ pelt. Zum anderen greift ὅτι ἐστίν sowohl die falsche Interpretation der Jünger φάντασμά ἐστιν (6,49) als auch Jesu ἐγώ εἰμι (6,50) auf. Während die Jünger trotz Jesu Selbstoffenbarung in ihrem Erschrecken gefangen bleiben, zeigt die Reaktion der Leute an Land, dass ihr Hören verständiges Hören ist; sie bringen die Kranken zu Jesus, dem sie zutrauen, heilen zu können. Dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, zeigt sich am Schluss: ‚Wer auch immer ihn berührte, wurde gerettet‘ (ὅσοι ἂν ἥψαντο αὐτοῦ ἐσῴζοντο, 6,56).
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Vgl. Kap. IV.3.2.2., S. 307 f. Vgl. Kap. IV.3.2.2., S. 308.
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Ἐπὶ τοῖς ἄρτοῖς ruft die Speisung der 5000 in Erinnerung, die unmittelbar vor der Bootsfahrt stattfand. Schon dort hätten die Jünger verstehen müssen, dass die Möglichkeiten und Fähigkeiten Jesu göttlicher Natur sind. Da sie das nicht erkannten, können sie auch seinen Seewandel und die neuerliche Stillung eines Windes nicht richtig deuten, sondern erstarren vor Schreck. Starr, ‚versteinert‘ ist auch ihr Herz – diese Diagnose lässt das Ausmaß des Unverständnisses erahnen. Die ‚Versteinerung des Herzens‘ (πώρωσις τῆς καρ‑ δίας, 3,5) wurde bisher nur bei den Pharisäern konstatiert. Οὐ γὰρ συνῆκαν erin‑ nert an μὴ συνιῶσιν118 aus dem auf die Outsider gemünzten Jesaja-Zitat in 4,12. Wie auf der ersten Bootsfahrt, so klingen auch auf der zweiten alttestament‑ liche Stellen an, die das Unverständnis der Jünger als angemessene, ja einzig mögliche Reaktion auf eine Gottesbegegnung erklären. Doch überwiegen nun die negativen Töne deutlich: Der Kontrast zwischen den Jüngern Jesu und irgend‑ welchen Leuten an Land ist offensichtlich und der Erzählerkommentar stellt die engsten Vertrauten Jesu in Bezug auf ihr Verstehen mit seinen Gegnern und den Outsidern gleich. IV.4.2.3. Mit (k)einem Brot im Boot (8,10 – 22a) (Vgl. Abb. 31, S. 396) Die Pharisäer haben zu Beginn der Perikope einen eigenen Auftritt (8,10 – 13); hier ist nicht der Kontrast zum wahren Lehrer Jesus im Fokus, sondern ihre feindliche Gesinnung ihm gegenüber, ihr Unverständnis in Bezug auf seine Identität. Sie ‚versuchen‘ (πειράζειν) Jesus – das tut außer ihnen (10,2; 12,15119) nur der Satan (1,13) –, indem sie von ihm ‚ein Zeichen vom Himmel fordern‘ (ζητοῦντες παρ’ αὐτοῦ σημεῖον ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ, 8,11). Es ist aber nicht ein weiteres ‚Zeichen vom Himmel‘, das fehlt, sondern das Verständnis für die vielen bereits geschehenen Wunder. Die zweite Spezies der Unverständigen repräsentieren dann auf der eigentlichen Bootsfahrt (8,13 – 22a) wieder die Jünger. Auf der letzten Bootsfahrt ist das Miss‑ verhältnis zwischen äußerer Gefahr und Reaktion der Jünger am eklatantesten. Nach zwei großen Speisungen sitzen sie in überschaubarer Zahl im Boot, haben eine Fahrt von wenigen Kilometern vor und ein Brot bei sich. Sie sind so mit ihrer Sorge um das Brot beschäftigt, dass sie Jesu Warnung ‚vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes‘ (ἀπὸ τῆς ζύμης τῶν Φαρισαίων καὶ τῆς ζύμης Ἡρῴδου (8,15) nicht einmal hören, geschweige denn verstehen. Jeden‑ falls ist bei ihnen keinerlei Resonanz auf Jesu doppelte Auffordung zum rechten ‚Sehen‘ (ὁρᾶτε, βλέπετε, n1var, n1) zu erkennen; sie bitten ihn nicht einmal, wie an manch anderer Stelle, um eine Auslegung dieses ‚Gleichnisses‘ (vgl. 4,10; 7,17). Direkt im Anschluss daran, in Jesu Reaktion auf das Verhalten der Jünger, ist das Wortfeld Verstehen (n) prominent vertreten; außer γιγνώσκειν, νοεῖν und 118
Συνιέναι war bisher nur dort zu hören. In 12,15 sind neben den Pharisäern auch die Herodianer Subjekt von πειράζειν.
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συνιέναι (2x) gehören im Markusevangelium dazu auch Sehen und Hören (ὁρᾶν, βλέπειν, ἀκούειν), sowie die entsprechenden Organe Augen und Ohren (ὀφθαλ‑ μοί, ὤτα). Auch das ‚versteinerte Herz‘ (καρδία πεπωρωμένη) dient wie schon auf der zweiten Bootsfahrt (vgl. 6,52) dazu, das Unverständnis der Jünger bild‑ haft auszudrücken.120 Mit der Häufung von ‚Hören – Sehen – Verstehen‘ und erst recht durch die variierte Wiederholung des Jesaja-Zitates (Jes 6,9 f.) aus 4,12 in 8,18 wird der Bogen zurück zur Gleichnisrede geschlagen. Was dort das Schick‑ sal der Outsider beschrieb, ist hier nun, im Wortlaut näher an Ez 12,2 und wiede‑ rum aus dem Munde Jesu, auf die Jünger gemünzt (8,18). Auffällig ist auch das mehrfache ἔχειν (d). Wie bereits erwähnt,121 verbindet die Häufung von ἔχειν die Erzählung von der letzten Bootsfahrt mit der direkt vorangehenden des zweiten Speisungswunders. Dort wurde zu Beginn zweimal konstatiert, dass die Leute ‚nichts zu essen haben‘ (μὴ ἐχόντων / οὐκ ἔχουσιν τί φάγωσιν, 8,1.2). Jesus fragt die Jünger, ‚wie viele Brote sie haben‘ (πόσους ἔχετε ἄρτους, 8,5), schließlich wird noch erwähnt, dass ‚sie auch ein paar Fisch‑ lein hatten (εἶχον ἰχθύδια ὀλίγα, 8,7). Dem doppelten ‚nichts zu essen haben‘ wird also ‚ein bisschen was zu essen haben‘ entgegengestellt. Es stellt sich her‑ aus, dass das genügt, damit die riesige Menge ‚essen und satt werden‘ kann (καὶ ἔφαγον καὶ ἐχορτάσθησαν, 8,8). Die dritte Bootsfahrt beginnt ähnlich: Schon das ‚Brot haben‘ wird negativ formuliert: Sie ‚haben nichts außer einem Brot‘ (εἰμὴ ἕνα ἄρτον οὐκ εἶχον, 8,14). Bei der nächsten Erwähnung fällt auch noch εἰμὴ ἕνα weg – die Jünger nehmen nicht einmal dieses eine Brot wahr (ἄρτον οὐκ εἶχον, 8,16). Dieses ‚kein Brot haben‘ nimmt Jesus auf (ἄρτους οὐκ ἔχετε, 8,17) und stellt es in Form rhetorischer Fragen122 in Kontrast zu dem, was die Jünger ‚haben‘: Ein versteinertes Herz, Augen und Ohren, trotz derer sie weder sehen noch hören (πεπωρωμένην ἔχετε τὴν καρδίαν ὑμῶν ὀφθαλμοὺς ἔχοντες οὐ βλέπετε καὶ ὦτα ἔχοντες οὐκ ἀκούετε, 8,17 f.). Die Variationen in den Wie‑ derholungen von 4,12 und 6,52 – an diesen beiden Stellen ist ἔχειν nicht zu hören – tragen dazu bei, den Gegensatz von Haben und Nichthaben hörbar zu machen. Beides zusammen, Speisung und Bootsfahrt, schließt den Bogen, der mit der Gleichnisrede begann, auch hinsichtlich des Habens und Nichthabens, das dort in gleicher Intensität verhandelt wurde.123 Das Ende des zweiten Hauptteils lässt sich als weitere Auslegung des Spruchs über Haben und Nichthaben verstehen, 120
An einigen alttestamentlichen Stellen stehen Augen, Ohren und das Herz zusammen für die menschliche Fähigkeit zu erkennen (Dt 29,3, Jes 6,9 f.; Ez 40,4; 44,5; Sir 17,6). Markus lässt in 4,12 das Herz weg, bringt es auf der zweiten Bootsfahrt in 6,45 – 54 mit dem Sehen zusammen und auf der dritten schließlich werden alle drei Organe genannt, ohne allerdings auf den Wortlaut von Jes 6,9 f. zurückzugreifen. 121 Vgl. Kap. IV.2., S. 298 f. 122 Der Text, wie er in den frühesten Manuskripten ohne Satzzeichen vorliegt, würde in 8,17 f. von οὔπω νοεῖτε bis οὐκ ἀκούετε auch eine Übersetzung in Aussagesätzen erlauben. 123 Neunmal ἔχειν in 4,1 – 34, zehnmal in 8,1 – 21.
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der im Zentrum der Gleichnisrede zu hören war.124 Dort hieß es: ‚Denn wer hat, dem wird gegeben werden. Und wer nicht hat, dem wird auch das, was er hat, weggenommen werden.‘ (ὃς γὰρ ἔχει δοθήσεται αὐτῷ καὶ ὃς οὐκ ἔχει καὶ ὃ ἔχει ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ, 4,25). In der Erzählung von der großen Speisung ‚haben‘ die Jünger Brote und Fischlein; ihnen wird mehr als reichlich ‚gegeben‘ (ἐδίδου τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ, 8,6), sodass sie das Essen den Leuten austeilen können. Im Boot hingegen nehmen die Jünger nicht wahr, dass sie zumindest ‚ein Brot‘ haben. Doch indem sie das nicht als ‚haben‘ verstehen, sondern behaupten, ‚kei‑ nes zu haben‘, lassen sie sich das, was sie haben, wegnehmen. Wer das Bisschen, dass er hat, für Nichts hält, wird nicht satt. Schließlich rekapituliert Jesus mit den Jüngern anhand der Zahlen die Spei‑ sungswunder. Die Jünger kennen die Zahlen, aber ganz offensichtlich nicht ihre Bedeutung. Sie haben gesehen und gehört, was passiert ist, aber sie verstehen nicht, was diese Wunder über den aussagen, mit dem sie unterwegs sind. So endet dieser zweite Hauptteil mit der Frage Jesu: ‚Versteht ihr immer noch nicht?‘ (οὔπω συνίετε, 8,21). Ein Lektor hat hier wie so oft keine „Vortragsbe‑ zeichnung“ – als solche könnte z. B. ἐμβριμησάμενος (1,43) gelesen werden – und kann sich überlegen, ob er diesen Worten eher eine wütende, ratlose oder verzweifelte Note geben möchte. Die letzte Bootsfahrt hat kein richtiges Ende; anders als bei den beiden anderen Malen ist nichts davon zu hören, dass sie aus dem Boot aussteigen. Es heißt lediglich, dass sie ‚nach Betsaida kommen‘ (καὶ ἔρχονται εἰς Βηθσαϊδάν, 8,22). Auf der letzten Bootsfahrt verdichten sich die Geschehnisse und Motive der letz‑ ten Kapitel; das Thema des Unverständnisses erreicht seine erste Klimax. Zum einen haben mit den Pharisäern die Gegner Jesu einen kurzen Auftritt. Bei ihnen ist klar, dass sie nicht verstehen und nicht verstehen werden. Sie sind und bleiben Outsider. Zum anderen wird im Blick auf die Jünger die Einteilung in In- und Outsider nun gänzlich auf den Kopf gestellt: Die, die Jesus am nächsten sind, die er in seine Nachfolge berufen hat und die seinen Auftrag weiterführen, erweisen sich durch ihr Unverständnis definitiv als Outsider. IV.4.2.4. Und sie aßen und wurden satt (6,30 – 45; 8,1 – 9) (Vgl. Abb. 25a / b, S. 380 / 382; Abb. 30, S. 394) Der Aspekt des Habens und Nicht‑ habens in der zweiten Speisungserzählung, von dem gerade die Rede war, ist auch schon in der ersten zu hören, wird aber längst nicht so stark betont. Hier beginnt die Geschichte nicht mit ‚nichts zu essen haben‘, sondern mit ‚keinen Hirten haben‘ (μὴ ἔχοντα ποιμένα, 6,34). Der Schwerpunkt liegt hier auf dem ‚geben‘ – Jesus fordert die Jünger auf, den Leuten zu essen zu geben (δότε αὐτοῖς ὑμεῖς φαγεῖν, 6,37), die Jünger überlegen, wie sie das realisieren können (δώσομεν αὐτοῖς φαγεῖν, 6,37). Statt ihrem Plan zuzustimmen, wegzugehen und für 124
Zur Auslegung von 4,25 innerhalb der Gleichnisrede vgl. Kap. III.3.6.,S. 278 – 280.
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viel Geld Brot für alle zu kaufen, fragt Jesus sie nach dem vor Ort vorhandenen Brot. Seine Frage an die Jünger ist in beiden Speisungserzählungen die gleiche: ‚Wie viele Brote habt ihr?‘ (πόσους ἄρτους ἔχετε, 6,38; 8,5). Auch das ‚Geben‘ der Brote verläuft beide Male gleich: Jesus spricht ein Dank- bzw. Segensgebet, bricht die Brote, gibt sie den Jüngern, die sie austeilen. Die Jünger sind also aktiv ins Wunder involviert – was sie ‚haben‘, wird ihnen von Jesus ‚gegeben‘, sodass sie es weitergeben können. Die erste Speisungserzählung kann im Hin‑ blick auf die Jünger als Fortsetzung der Aussendung und des Wirkens der Zwölf als Nachfolger Jesu in Verkündigung, Dämonenaustreibung und Krankenheilung (6,7 – 13.30 – 32) verstanden werden. Von ihm beauftragt, können sie mit dem Wenigen, das sie haben, alle satt machen. Die Mitwirkung auch an diesem Wun‑ der unterstreicht ihre exklusive Stellung; sie sind von Jesus ausgewählt und zur Mitwirkung an seinem Auftrag bestimmt. Solchermaßen als Insider porträtiert, die eigentlich verstehen müssten, ‚wer dieser ist‘, disqualifiziert sie Markus schon in der folgenden Bootsgeschichte durch die Aussage, dass sie ‚nicht verstanden hätten aufgrund der Brote‘ (6,52). Dieses Unverständnis offenbart sich auch in der zweiten Speisungserzählung: Bei gleicher Ausgangslage – eine riesige Menge von Leuten, die an einem unwirtlichen Ort mit Essen versorgt werden muss – fragen sie trotz der Erfahrung des ersten Males, ‚woher denn irgendjemand diese hier in der Einöde mit Broten satt machen soll‘ (πόθεν τούτους δυνήσεταί τις ὧδε χορτάσαι ἄρτων ἐπ’ ἐρημίας, 8,4). Die Rekapitulation beider Speisungserzäh‑ lungen auf der letzten Bootsfahrt zeigt, dass auch die Mitwirkung beim zweiten Speisungswunder keinen Lerneffekt mit sich gebracht hat. In den Speisungserzählungen wird die Paradoxie des markinischen Jüngerbildes am offensichtlichsten; zum einen sind sie Jesu Mitarbeiter, die direkt ins Gesche‑ hen involviert sind, zum anderen, so zeigt insbesondere die zweite Erzählung, zeitigt dieses hautnahe Miterleben und Mitwirken bei ihnen keinerlei Erkenntnis‑ gewinn. Sie sind In- und Outsider zugleich. ‚Die Leute‘ (ὁ ὄχλος) sind in diesen Perikopen mit Ausnahme des „Vorspiels“ zur ersten Speisung (6,30 – 33), wo sie in Scharen zusammenlaufen, nicht aktiv. Sie sind Empfänger der Lehre Jesu (6,34) und in ihrer beeindruckenden Zahl von fünf- bzw. viertausend nötig für die Demonstration der Größe der Wunder.
IV.4.3. Nicht nur Jesus im Vergleich: Verschiedene In- und Outsider (6,1b – 32; 7,1 – 24a) Wie schon die für diese beiden Textblöcke gewählte Überschrift „Irdische Ver‑ gleiche“ vermuten lässt, steht hier die Frage nach der Person Jesu im Vorder‑ grund. Doch die anderen Personen, die darin auftreten, bereichern das kom‑ plexe Bild der In- und Outsider; es sind Bekannte wie die Jünger oder die Schriftgelehrten, aber auch solche wie z. B. die Nazarener, die nur hier erwähnt werden.
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Die ungläubigen Nazarener (6,1b – 6) (Vgl. Abb. 24a, S. 372) Über die Bewohner des Heimatdorfes Jesu – Markus nennt sie nicht ‚Nazarener‘, diesen Begriff und auch den Ortsnamen selbst ver‑ wendet er ausschließlich zur Bezeichnung der irdischen Herkunft Jesu (1,9.24; 10,47; 14,67; 16,6) – habe ich an anderer Stelle schon einiges gesagt;125 hier sei zusammenfassend daran erinnert, dass sie zwar die beeindruckenden Worte und Taten wahrnehmen und deshalb nach seiner Identität fragen, aber, da sie auf seine irdische Herkunft fixiert sind, nicht in der Lage sind, die wahre Herkunft seiner Vollmacht zu erkennen. Mit ihren Überlegungen ‚ist dieser nicht?‘ (οὐχ οὗτός ἐστιν, 6,3) finden sie nicht die richtige Antwort auf die Frage, ‚wer dieser ist‘ (τίς οὗτός ἐστιν, 4,41), sondern ‚nehmen Anstoß an ihm‘ (ἐσκανδαλίζοντο ἐν αὐτῷ, 6,3). War schon Jesu Reaktion auf die Furcht der Jünger im Sturm recht hart – ‚Habt ihr noch keinen Glauben?‘ (Οὔπω ἔχετε πίστιν, 4,40) –, geht Markus hier noch einen Schritt weiter und spricht vom ‚Unglauben‘ (ἀπιστία, 6,6) der Naza‑ rener. Sie, die Jesus nahe sind, weil er einer von ihnen ist, verstehen nicht, wer er wirklich ist. Darin gleichen sie ‚den Seinen‘ (οἱ παρ’ αὐτοῦ, 3,21), der Mutter und den Geschwistern Jesu (3,31), die manches über ihn gehört hatten und mein‑ ten, er sei verrückt geworden. Am Beispiel der leiblichen Familie Jesu wurde die Bezeichnung ‚die draußen‘ etabliert (3,31.32). Ihre Mitbürger werden nun auf die gleiche Weise porträtiert. Die Nachfolger: Beauftragung und vollbrachte Taten (6,7 – 13.30 – 32) (Vgl. Abb. 24b, S. 374) Auch über die Aussendung der Zwölf und ihre Rückkehr nach vollbrachten Taten wurde bereits alles gesagt.126 Es sei nochmals betont, dass sie von Jesus selbst beauftragt und ausgesandt, ja sogar mit ‚Vollmacht‘ (ἐξουσία, 6,7) zur Dämonenaustreibung ausgestattet werden. Sie treten auch tat‑ sächlich als Verkündigende und Wundertäter in Jesu Fußstapfen. Umso verwun‑ derlicher ist es, dass sie, wie es die Geschichten von Broten und Booten darstel‑ len, in der Verkündigung und in den Wundertaten Jesu dessen ἐξουσία immer weniger erkennen und nicht verstehen, ‚wer dieser ist‘. Mutmaßungen über die Identität Jesu – und die Jünger des Vorläufers (6,14 – 29) (Vgl. Abb. 24c / d, S. 376 / 378) Die verschiedenen Meinungen darüber, wer Jesus sei – Johannes der Täufer, Elia, Prophet wie einer der Propheten (6,14 f.) –, wer‑ den keinen bestimmten Personen oder Gruppen in den Mund gelegt, auch nicht ‚den Leuten‘ (ὁ ὄχλος). Es heißt einfach ‚Sie sagen / man sagt‘ (ἔλεγον, 6,14), dann zweimal ‚andere sagen aber‘ (ἄλλοι δὲ ἔλεγον, 6,15). Die Menge bleibt auch an anderen Stellen anonym (vgl. z. B. 6,33; 6,54 – 56). Diese Einleitung zur 125
Vgl. Kap. IV.3.3.1., S. 319. Vgl. Kap. IV.3.3.1., S. 320 f.
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Geschichte vom Tod des Täufers zeigt, dass nicht nur Positives über die Allge‑ meinheit zu sagen ist. Die Leute vertrauen zwar auf Jesu rettende Heilungskräfte (z. B. 6,54 – 56), können aber trotzdem keine zutreffende Antwort auf die Frage nach der Identität Jesu geben. In der Johannes-Herodes-Episode wird nicht nur der Täufer als der Vorläufer Jesu bis in den Tod skizziert, auch von den Johannes-Jüngern ist auf bemerkens‑ werte Weise die Rede, wenn auch nur in einem Satz. Als sie vom Tod des Johan‑ nes hören, ‚kommen sie, heben seinen Leichnam auf und legen ihn ins Grab‘ (ἦλθον καὶ ἦραν τὸ πτῶμα αὐτοῦ καὶ ἔθηκαν αὐτὸ ἐν μνημείῳ, 6,29). Anders die Jünger Jesu; sie verlassen ihren Meister bei dessen Gefangennahme oder kurz danach (14,50.72) und sind auch bei seiner Grablegung nicht anwesend. Ein anderer ist es, der es wagt, bei Pilatus nach der Herausgabe des Leichnams Jesu zu fragen, und der ihn ins Grab legt (15,42 – 46).127 Gegner Jesu – Gegner Gottes, die Zuhörer Jesu (7,1 – 24a) (Vgl. Abb. 27a / b, S. 386 / 388) Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die hier das Verhalten der Jünger Jesu kritisieren, werden nicht nur in Kontrast zu Jesus als die falschen Lehrer entlarvt, sondern auch als durch und durch Unverständige. Sie lehren menschliche Überlieferungen statt der Gebote Gottes und machen sich damit selbst zu Outsidern, denn sie tun nicht den Willen Gottes (vgl. 3,35). Geg‑ ner Gottes sind Gegner Jesu und umgekehrt.128 In der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten zeigt sich das einmal mehr am Motiv des ‚Herzens‘, das gerade erst als ‚versteinertes Herz‘ bei den Jüngern konstatiert wurde (6,52) und nun in der Entgegnung Jesu auf den Vorwurf seiner Gegner in einem Schriftzitat (Jes 29,13LXX) wieder zu hören ist: ‚Ihr Herz hält sich fern von mir‘ (ἡ καρδία αὐτῶν πόρρω ἀπέχει ἀπ’ ἐμοῦ, 7,6). In Jesu Auslegung seines Wortes über das, was den Menschen unrein macht, wird das Herz nochmals aufgenommen; unrein macht den Menschen, was an ‚schlechten Gedanken‘ (οἱ διαλογισμοὶ οἱ κακοί, 127 Josef von Arimatäa wird als ‚angesehener Ratsherr‘ (εὐσχήμων βουλευτής) vorgestellt. Ohne damit die historische Frage klären zu können, in welchem Rat dieser Mann Mitglied war und ob er als evtl. Mitglied des Synhedriums Jesu Tod mitverschuldet hat (vgl. dazu Pesch, Mk II, 512 f.; van Iersel, Mk, 490; Collins, Mk, 777; Lührmann, Mk, 267), liegt auf inner‑ textlicher Ebene die Analogie zu dem einen Schriftgelehrten nahe, der Jesus nach dem höchsten Gebot fragt (12,28 – 34). Dieser sticht aus der sonst geschlossen als Gegner Jesu dargestellten Gruppe der Schriftgelehrten heraus, weil Jesus und er sich gegenseitig anerkennen. Er erkennt, dass Jesus ‚gut antwortet‘ (καλῶς ἀπεκρίθη, 12,28), und umgekehrt sieht Jesus, dass er ‚verstän‑ dig antwortet‘ (νουνεχῶς ἀπεκρίθη, 12,34). Ihm bescheinigt Jesus, ‚nicht ferne vom Reich Got‑ tes zu sein‘ (οὐ μακρὰν εἶ ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ, 12,34). In Parallelität zu der Darstellung dieses Schriftgelehrten könnte auch Josef von Arimatäa als das eine Mitglied des sonst einheit‑ lich gegnerischen Synhedriums verstanden werden, das Jesus nahe stand. Anders als Matthäus und Johannes bezeichnet ihn Markus nicht als Jünger Jesu (vgl. Mt 27,57; Joh 19,38), sondern als einen ‚der auch einer war, der auf das Reich Gottes wartete‘ (ὃς καὶ αὐτὸς ἦν προσδεχόμενος τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ, 15,43). 128 Vgl. Kap. III.2.4.5.
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7,21) aus seinem Herzen herauskommt. In der langen Liste der schlechten Gedan‑ ken findet sich auch die ‚Lästerung‘ (βλασφημία, 7,22) – nicht was von außen kommt, kann den Menschen von Gott trennen, sondern wie er sich selbst zu Gott und Menschen stellt. Ohne nochmals explizit zu sagen, auf welcher Seite die Pharisäer und Schriftgelehrten stehen, wird in der Argumentation Jesu klar, dass sie die Prototypen für die Menschen sind, aus deren Herzen kommt, was sie von Gott und damit auch von ihm selbst trennt. Wie schon in anderen Streitgesprächen (2,18; 2,23 f.) nehmen Gegner Jesu Anstoß am Verhalten seiner Jünger. Diese sind nicht aktiv ins Geschehen invol‑ viert und diskutierten etwa mit, werden aber durch ihr Verhalten als solche kennt‑ lich, die zu Jesus gehören. Nach der Antwort an seine Gegner wendet sich Jesus zuerst an ‚die Leute‘ (ὁ ὄχλος). Er ruft sie alle auf, ‚ihn zu hören und zu verstehen‘ (ἀκούσατέ μου πάντες καὶ σύνετε, 7,14), und erläutert seine Position zur Frage der Unreinheit in einem Wort, das später als ‚Gleichnis‘ (παραβολή, 7,17) bezeichnet wird. Ob sie tatsächlich verstehen, ist nicht zu erfahren. Anschließend wiederholt sich, was schon in der Gleichnisrede zu hören war: Ein kleiner Kreis, hier ‚seine Jünger‘, ‚fragt ihn nach dem Gleichnis‘ (ἐπηρώτων αὐτὸν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ τὴν παραβολήν, 7,17; vgl. 4,10), Jesus erläutert ihnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausführlicher, was dem Volk nur in einem kurzen Bildwort gesagt wurde. Wie schon vor der Auslegung des Sämann-Gleich‑ nisses, so spricht Jesus auch hier zuerst ihr Unverständnis an. Lag in der Gleich‑ nisrede der Fokus auf dem grundsätzlichen Charakter des Sämann-Gleichnisses – wenn sie das nicht verstehen, ist fraglich, wie sie andere Gleichnisse verstehen wollen (4,13) –, geht es nun darum, dass die Jünger trotz ihrer engen Beziehung zu Jesus offensichtlich nicht mehr als ‚die Leute‘ verstehen. Die gewählte For‑ mulierung – ‚So seid auch ihr unverständig? Begreift ihr nicht?‘ (οὕτως καὶ ὑμεῖς ἀσύνετοί ἐστε οὐ νοεῖτε, 7,18) – nimmt nicht nur bereits Gehörtes auf, sondern bereitet auch den Schluss des zweiten Hauptteils im Boot vor, wo diese Fragen Jesu in Variation wiederholt werden, eine Inclusio um die Rekapitulation der Zah‑ len der Speisungswunder bilden und um das ‚immer noch nicht‘ verstärkt werden (οὔπω νοεῖτε οὐδὲ συνίετε, 8,17; οὔπω συνίετε, 8,21). Diese Perikope bietet in Bezug auf die Jünger eine weitere Variation der Para‑ doxie, dass sie In- und Outsider zugleich sind. Hier sind sie durch ihre Praxis als zu Jesus gehörig erkennbar, doch sie sind sich des grundlegenden Unterschieds zwischen der Position Jesu und der seiner Gegner gar nicht bewusst, die hinter ihrem Handeln steht.
IV.4.4. Geheilte, Befreite, Gläubige (5,1 – 6,1a; 7,24 – 37) Waren aus diesen Perikopen zwar zum Thema der Identität Jesu nur wenig neue Erkenntnisse zu gewinnen, so leisten sie doch entscheidende Beiträge zur Frage nach denen, die zu ihm gehören. Wichtige Protagonisten sind hier Einzelper‑
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sonen, die augenscheinlich nicht zum engen Kreis um Jesus gehören und auch jeweils nur einen Auftritt haben. Die Jünger hingegen spielen kaum eine Rolle; in drei der vier Geschichten werden sie nicht einmal erwähnt. Die Menge, sei sie ὄχλος genannt oder einfach implizites Subjekt von Verben der dritten Person Plu‑ ral, ist mit Ausnahme der Szene in der Gegend von Tyrus jedes Mal dabei. IV.4.4.1. Der verständige Gerasener – skeptische Allgemeinheit (5,1 – 21) (Vgl. Abb. 22a / b, S. 364 / 366) Die Geschichte von der Austreibung der unreinen Geister aus einem Gerasener ist die erste, in der der bisherige enge geografische Rahmen gesprengt wird. Zum ersten Mal kommt Jesus ‚jenseits des Meeres‘ (εἰς τὸ πέραν τῆς θαλάσσης, 5,1) an, am Ende wird die Dekapolis genannt (5,20). Auch die ‚Kunde Jesu‘ (1,28) ist offensichtlich noch nicht bis dorthin gedrungen; jedenfalls wurde die Dekapolis bislang nicht erwähnt, auch nicht in der Aufzäh‑ lung in 3,7 f. Dass in natura nicht alles aufgeht – von Gerasa aus müssten die Schweine etliche Kilometer bis in den See galoppieren –, ist für die Erzählung nicht entscheidend. Wichtig ist, dass sich nun der Radius weitet und über das Westufer des Sees und ganz allgemein über jüdische Kernlande hinausgeht. Diese lange Perikope ist zweigeteilt. Zuerst wird die Geschichte von der Aus‑ treibung an sich erzählt, dann die von den Reaktionen der Bewohner der Gegend und des vormals Besessenen. Den Auftakt zur ersten Hälfte bildet eine ausführli‑ che Darstellung des besessenen Geraseners, die ihn dem Publikum in drastischen Worten als Outsider schlechthin vor Augen stellt: Er wohnt nicht im Ort, sondern draußen bei den Gräbern, verhält sich, obwohl in diesem ersten Teil, in dem seine Begegnung mit Jesus und der Exorzismus erzählt werden, ‚Mensch‘ (ἄνθρωπος, b, 5,2.8) genannt,129 kaum als ein solcher (5,5), sondern ist der Macht der Dämo‑ nen unterworfen, die auch niemand anders ‚binden kann‘ (ἐδύνατο αὐτὸν δῆσαι, 5,3; οὐδεὶς ἴσχυεν αὐτὸν δαμάσαι, 5,4).130 Die Tatsache, dass die geografischen Angaben nahelegen, dass dieser Mensch heidnischer Herkunft ist, treten in dem Bild, das Markus von ihm zeichnet, in den Hintergrund; er steht schlichtweg außerhalb jeglicher menschlicher Gemeinschaft. Die beiden Teile sind durch einen Scharniervers miteinander verbunden. Die Hirten der Schweineherde, mit der die Dämonen im See untergehen, ‚fliehen und berichten in der Stadt und auf dem Land‘ (ἔφυγον καὶ ἀπήγγειλαν εἰς τὴν πόλιν καὶ εἰς τοὺς ἀγρούς, 5,14). Erst hier kommen außer dem Besessenen andere Menschen ins Spiel – und auch erst jetzt kommt er selbst als der von den Geis‑ tern befreite ‚vernünftige‘ (σωφρονῶν, 5,15) Mensch ins Spiel. Kurioserweise wird er ab hier ‚der Dämonisierte‘ (ὁ δαιμονιζόμενος / δαιμονισθείς, 5,15.16.18) genannt. Es liegt nahe, dies, narratologisch gesprochen, mit dem point of view in Verbindung zu bringen: Während der Hilfsbedürftige in der Begegnung mit 129
Auch der Besessene in der Synagoge von Kafarnaum (1,21 – 29a) und der Kranke mit der verdorrten Hand (3,1 – 7a) werden als ἄνθρωπος bezeichnet. 130 Vgl. 3,27!
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Jesus trotz seiner schrecklichen Verfassung ‚Mensch‘ ist, ‚sehen‘ (ἰδεῖν, θεωρεῖν, 5,14.15.16) die Gerasener in ihm auch nach seiner Befreiung den ‚Besessenen‘, als den sie ihn kennen.131 In diesem zweiten Teil ist ein Spiel mit ‚berichten‘ (k) ‚sehen‘ (l), ‚bitten‘ (i) und ‚bleiben / gehen‘ zu beobachten.132 Die Leute aus der Gegend ‚kommen, weil sie sehen wollen, was geschehen ist‘ (ἦλθον ἰδεῖν τί ἐστιν τό γεγονός, 5,15). Als sie den nun ‚Vernünftigen‘ ‚sehen‘ (θεωροῦσιν), ‚fürchten sie sich‘ (ἐφοβήθησαν, 5,15). Als dann die Augenzeugen (οἱ ἰδόντες) den Hergang ‚erzählen‘ (διηγή‑ σαντο, 5,16), ‚bitten sie ihn wegzugehen aus ihrer Gegend‘ (παρακαλεῖν αὐτὸν ἀπελθεῖν ἀπὸ τῶν ὁρίων αὐτῶν, 5,17). Der ‚Dämonisierte‘ hingegen ‚bittet ihn, dass er mit ihm sein könne‘ (παρεκάλει αὐτὸν [. . .] ἵνα μετ’ αὐτοῦ ᾖ, 5,18); er möchte also weggehen (aus der Dekapolis) und (wie ein Jünger133) bei Jesus blei‑ ben. Dieser aber schickt ihn ‚nach Hause, zu den Seinen‘, denen er ‚berichten soll, was der Herr ihm getan hat‘ (ἀπάγγειλον αὐτοῖς ὅσα ὁ κύριός σοι πεποίη‑ κεν [. . .], 5,19). Er gehorcht und ‚geht‘ auf eine andere Weise ‚weg‘ (ἀπῆλθεν, 5,20), nämlich weg von Jesus zu den Leuten, zu denen er geschickt wurde. Seine Deutung des Auftrags zeigt auf zweifache Weise, dass er verstanden hat, wer Jesus ist: Er ‚berichtet‘ nicht einfach irgendetwas Geschehenes, sondern er geht weg, um zu ‚verkündigen‘ (κηρύσσειν, 5,20) – das tat auch schon Jesus selbst (1,38 f.) und dazu wird er noch die Jünger aussenden (6,12). Für den befreiten Gerasener ist klar: Jesus ist der κύριος; ‚was der Herr ihm getan hat‘ meint ‚was Jesus ihm getan hat‘ (ὅσα ἐποίησεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς, 5,20). Die letzte Reaktion der Leute in der Dekapolis, von der Markus vorerst berichtet, ist ihr ‚Staunen‘ (ἐθαύ‑ μαζον, 5,20) über das, was ihnen der ehemalige Besessene verkündigt. Derweil ist Jesus, den sie aus Furcht weggeschickt hatten, aber schon aufgebrochen. Das nächste Mal, wenn er in der Dekapolis ein Wunder vollbringt, werden sie gleich anders reagieren (7,31 – 37). Die, die nur sehen, oder von denen, die gesehen haben, hören, was geschehen ist, reagieren mit Furcht oder wollen Jesus sogar wegschicken. Ihre Abwehr wandelt sich in Staunen, als sie die ‚Verkündigung‘ des ehemaligen Besessenen hören. Dieser, zuerst als Outsider schlechthin porträtiert, möchte nach seiner Befrei‑ ung zum Jünger Jesu werden. Er wird es nicht durch engen Kontakt zu Jesus, sondern indem er an seinem Ort seinen Auftrag zur Verkündigung wahrnimmt. Er deckt auf, was hinter dem Sichtbaren verborgen ist: Es ist Gott, der hier in Jesus handelt. Noch geschieht die Gleichsetzung von Jesus mit dem κύριος nicht 131
Diesen Hinweis verdanke ich Daniel Allenbach (private Korrespondenz vom 22.08.2017). Dieses Spiel beginnt schon im ersten Teil der Erzählung. Der Besessene ‚sieht‘ (ἰδών, 5,6) Jesus, der Dämon ‚bittet ihn, dass er sie nicht aus der Gegend weg schicke‘ (παρεκάλει αὐτὸν [. . .] ἵνα μὴ αὐτὰ ἀποστείλη ἔξω τῆς χώρας, 5,10; vgl. auch V. 12). Sie bleiben dann aber nicht im Besessenen, sondern ‚gehen hinaus und gehen hinein‘ (ἐξελθόντα [. . .] εἰσῆλθον, 5,13) in die Schweine, mit denen sie im See ertrinken. 133 Vgl. die Bestimmung der Zwölf ἴνα ὦσιν μετ’ αὐτοῦ (3,14). 132
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durch Menschenmund. Aber hier kündigt sich bereits an, was die Syrophönizie‑ rin, ebenfalls eine, die nicht aus jüdischen Kernlanden stammt, noch einen Schritt weiterführen wird (7,24 – 31a). IV.4.4.2. Gerettete Töchter (5,21 – 6,1a) (Vgl. Abb. 23a / b, S. 368 / 370) Die auf den Exorzismus der ‚Legion‘ folgende Heilungsgeschichte spielt ‚wieder am jenseitigen [Ufer]‘ (πάλιν εἰς τὸ πέραν, 5,21), ohne dass ein bestimmter Ort oder eine bestimmte Region genannt würde. Da Jesus von der Dekapolis her in See stach und es ein ‚Synagogenvorsteher‘ ist, der nun zu Jesus kommt, ist davon auszugehen, dass man sich wieder auf jüdi‑ schem Territorium, also auf der galiläischen Seite des Sees befindet. ‚Viele Leute‘ (ὄχλος πολύς, B a) sind von Anfang an dabei; sie bilden zunächst durch eine Inclusio den Rahmen für den Auftritt des Jaïrus. Sie ‚kommen bei ihm [i. e. Jesus] zusammen‘ (συνήχθη [. . .] ἐπ’ αὐτόν, A, 5,21). Die Präposition ἐπί – die anderen Male konstruiert Markus das Verb συνάγειν mit πρός (2,2; 4,1; 6,30; 7,1) – lässt dabei vermuten, dass die Leute auch hier schon Jesus bedrän‑ gen (vgl. 3,9 f.), wie es dann später ausdrücklich gesagt wird (συνέθλιβον αὐτόν, Avar, 5,24.31). Sie wollen nahe bei ihm sein, ‚folgen ihm nach‘ (ἠκολούθει αὐτῷ ὄχλος πολύς, 5,24); ob sie tatsächlich verstehen, wer Jesus ist, bleibt auch hier fraglich. Sie sind jedenfalls bei der Heilung der Frau wortwörtlich „hautnah“ dabei, werden dann aber von Jesus selbst sukzessive vom Geschehen der Auf‑ erweckung eines Mädchens134 ausgeschlossen; ins Haus des Jaïrus lässt er nur drei seiner Jünger mitgehen (5,37). Vor der Auferweckung wirft er schließlich ‚alle hinaus‘ (ἐκβαλὼν πάντας, 5,40) und geht nur mit den Eltern und seinen drei Jüngern in den Raum, in dem das Mädchen liegt. Dennoch sind ‚sie‘ auch im Haus mit dabei: Dort ist ‚Getümmel‘ (θόρυβος), sie ‚weinen und schreien sehr‘ (κλαίοντες καὶ ἀλαλάζοντες, 5,38). Wie schon in Gerasa reagieren ‚sie‘ auch hier zuerst ablehnend. Sie wollen Jesus zwar nicht wegschicken, aber ‚sie lachen ihn aus‘ (κατεγέλων αὐτοῦ, 5,40), als er sagt, dass das Mädchen nicht gestorben sei, sondern nur schlafe. Nach der Auferweckung geraten ‚sie‘ völlig außer sich – die dichte Ausdrucksweise mit Figura etymologica (ἐξέστησαν ἐκστάσει), εὐθύς und μέγας (5,52) lässt sich im Deutschen weder inhaltlich noch klanglich adäquat in gleicher Intensität wiedergeben. Jesus befiehlt ihnen, dass ‚niemand dies erfah‑ ren solle‘ (ἵνα μηδεὶς γνοῖ τοῦτο, 5,43). Ob sie sich daran halten oder nicht, ver‑ schweigt Markus. Wer genau mit dem jeweiligen impliziten Subjekt der dritten Person Plural in V. 40.52 gemeint ist, ist nebensächlich; wichtig ist der erneute 134 Vieles spricht für die Annahme, die Tochter sei tatsächlich gestorben, obwohl Jesus in 5,39 sagt, sie sei ‚nicht gestorben, sondern schlafe‘ (οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει): Die Todes‑ nachricht an den Vater (V. 35), die lautstarke Trauerklage (V. 38) der Menge, die Jesus wegen seines ‚sie schläft nur‘ auslacht, und nicht zuletzt die Verwendung der Verben ἐγείρεσθαι und ἀνιστάναι (V. 41 f.), die im NT vielfach für das Faktum der Auferstehung von den Toten ver‑ wendet werden.
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Wandel in der Reaktion auf Jesu Wort und Tat – hier vom Auslachen zum äußers‑ ten Erstaunen. Aus der Menge treten einzelne Personen hervor; die erste ist Jaïrus, der mit Namen und als ‚einer der Synagogenvorsteher‘ (εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων, 5,22) vorgestellt wird. Anders als die Menge, die Jesus bedrängt, fällt er vor ihm nieder (πίπτει πρὸς τοὺς πόδας αὐτοῦ, 5,22)135. Das taten vor ihm nur die unreinen Geis‑ ter (3,11; 5,6), die dabei bekannten, dass Jesus Gottes Sohn sei.136 Er ist über‑ zeugt davon, dass seine Tochter ‚gerettet werden und leben wird‘ (ἵνα σωθῇ καὶ ζήσῇ), wenn Jesus sie berührt (ἐπιθῆς τὰς χεῖρας αὐτῇ, 5,23). Jaïrus unterscheidet sich in der Darstellung des Markus nicht nur von der Menge, sondern steht auch im Kontrast zu den Jüngern, die zuletzt in der Not Jesus vorwerfen, ‚es mache ihm nichts aus, wenn sie zugrunde gingen‘ (οὐ μέλει σοι ὅτι ἀπολλύμεθα, 4,38). Jesus hilft sowohl den Jüngern als auch dem Jaïrus aus der Not. Doch während er jenen vorwirft, ‚noch keinen Glauben zu haben‘ (οὔπω ἔχετε πίστιν), und sie sich dann ‚furchtbar fürchten‘ (ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν, 4,40 f.), ermutigt er diesen mit den Worten ‚fürchte dich nicht, glaube nur [weiterhin]137!‘ (μὴ φοβοῦ μόνον πίστευε, 5,36). Sehr ähnlich wird die Frau dargestellt, deren Geschichte sich in einer Sand‑ wichkonstruktion in die von der Auferweckung der Tochter des Jaïrus einfügt. Sie bleibt zwar namenlos, doch gewinnt ihr Porträt Konturen durch eine ausführliche Darstellung der Vorgeschichte, die in einem einzigen Satz mit sieben Partizipial‑ konstruktionen (α1 – 7) zusammengefasst ist und schließlich mit dem Hauptsatz in der aktuellen Szene endet. Auch sie ist davon überzeugt, dass eine Berührung mit Jesus ‚Rettung‘ bringt (ἐὰν ἅψωμαι κἂν τῶν ἱματίων αὐτοῦ σωθήσομαι, 5,28). Doch sie tritt nicht aus der Menge heraus, sondern nähert sich Jesus in deren Schutz. Sie berührt ihn von sich aus und erlangt dadurch ebenfalls Heilung. Sie, die Jesus auch ‚Tochter‘ (θυγάτηρ, 5,34) nennt, ‚fürchtet sich‘ (φοβηθεῖσα), als Jesus versucht herauszufinden, wer ihn berührt hat. Doch sie gibt sich zu erkennen und nun fällt auch sie vor ihm nieder (προσέπεσεν αὐτῷ, 5,33). Jesus muss sie nicht mehr dazu ermuntern, an ihrem Glauben festzuhalten. Ihr Glauben ist es, so bestätigt er nun öffentlich, der sie ‚gerettet hat‘ (ἡ πίστις σου σέσωκέν σε, 5,34). Jaïrus und die langjährig leidende Frau erweisen sich als solche, die recht sehen (ἰδὼν αὐτόν, 5,22) und hören (ἀκούσασα περὶ τοῦ Ἰησοῦ, 5,27), die verste‑ 135
Vergleichbar sind die gegensätzlichen Reaktionen der Menge (ἐπιπίπτειν) und der unrei‑ nen Geister (προσπίπτειν) in 3,10 f. (Kap. III.2.4.1., S. 206 f.). 136 Markus behält diesen Gebrauch von προσκυνεῖν und (προσ‑)πίπτειν αὐτῷ / πρὸς τοῦς πόδας αὐτοῦ bei. Nur vor Jesus fallen Dämonen und Menschen nieder (auch 7,25), zuletzt im Spott (15,19). Damit verwandt ist nur Jesu eigenes ‚Niederfallen auf die Erde‘ (ἔπιπτεν ἐπὶ τῆς γῆς, 14,35) zum Gebet im Garten Getsemani. Er fällt nicht sichtbar vor Gott bzw., wie er ihn dann anspricht, vor seinem Vater nieder. Doch sein Gebet offenbart, dass er dessen Autorität in vollem Maße anerkennt – ‚nicht was ich will, sondern was du [willst]‘ (οὐ τί ἐγὼ θέλω ἀλλὰ τί συ, 14,36). 137 Der Imperativ steht im Durativ, kann also so verstanden werden, dass Jesus Jaïrus dazu ermuntert, am Vertrauen, das er ihm gegenüber ja schon gezeigt hat (5,22 f.), festzuhalten.
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hen, wer Jesus ist. Wie schon mit Herodes und den Pharisäern und Schriftgelehr‑ ten als Gegenfolien zu Jesus bietet Markus mit den beiden vorliegenden Porträts Gegenentwürfe zu den Jüngern. Jaïrus und diese Frau treten nur für diese eine Szene aus der Menge hervor; ihnen wurde keine Sonderbelehrung zuteil. Von ihrer Voraussetzung her Outsider, ist es ihr Glaube, der sie zu Insidern macht. Auch die Jünger spielen bei beiden Heilungen eine Rolle. Sie werden nicht wie sonst oft zu Anfang mit Jesus zusammen erwähnt, sondern treten mitten in der Erzählung unvermittelt auf. Ihr einziger Beitrag in der Szene, in der die blut‑ flüssige Frau Heilung findet, ist eine an Jesus gerichtete Bemerkung, die vermut‑ lich die meisten Lektoren mit einem abschätzigen Unterton vortragen: ‚Du siehst die Leute, die dich bedrängen und sagst: Wer hat mich berührt?‘ (5,31). Dass sie die Heilung an sich – sie wird nur ‚innerlich‘ von der Frau und von Jesus bemerkt (5,29 f.) – nicht mitbekommen haben, ist verständlich, aber die Tatsache, dass sie hinter Jesu Frage nicht mehr als das Offensichtliche vermuten, entlarvt sie als solche, die hören und nicht verstehen, wer dieser ist. Petrus, Jakobus und Johannes werden namentlich genannt; nur ihnen erlaubt Jesus, mit ins Haus des Jaïrus zu gehen und schließlich im ganz engen Kreis mit den Eltern des Mädchens dessen Auferweckung mitzuerleben. Mehr als ihre pri‑ vilegierte Augenzeugenschaft ist aber nicht zu erfahren. Sie handeln und reden nicht, bleiben damit für das Publikum des Markus passiv. IV.4.4.3. Die verständige Syrophönizierin (7,24 – 31a) (Vgl. Abb. 28, S. 390) In den kurzen Episoden des zweiten Erzählbogens wird mit kleinerer Besetzung gespielt; die Szene in Tyrus ist eine Begegnung unter vier Augen, ein Dialog zwischen Jesus und einer syrophönizischen Frau. Deren Tochter, an der das Wunder geschieht, kommt sogar nur ganz am Ende vor, als ihre Mutter sie, wie von Jesus zugesagt, zuhause antrifft und sie vom unreinen Geist befreit ist. Auch diese Frau wird ausführlicher vorgestellt; bei ihr geschieht das durch die dreifache Nennung ihrer Herkunft. Sie wohnt offensichtlich ‚in der Gegend von Tyrus‘ (τὰ ὅρια Τύρου, 7,24), einer Region, die aus dem sonstigen geografischen Rahmen des Evangeliums herausfällt. Jesus und die Jünger sind in Galiläa unter‑ wegs und begeben sich am Anfang und am Schluss des zweiten Hauptteils auf die andere Seite des Sees, in die Dekapolis. Die Gegend von Tyrus (und Sidon) wird nur noch einmal im Zusammenhang mit der Aufzählung der Orte erwähnt, aus denen die Leute in Massen zu Jesus strömen (3,8). So ist innerhalb der Erzäh‑ lung zwar möglich, dass sie Jesus vom Hörensagen kennt, doch kaum, dass sie ihm selbst schon zugehört hat oder Augenzeugin bei einem der Wunder war. Des Weiteren wird von ihr gesagt, sie sei ‚Griechin, Syrophönizierin der Abstammung nach‘ (Ἑλληνίς Συροφοινίκισσα τῷ γένει, 7,26). Niemand sonst wird im Marku‑ sevangelium als Griechin (oder auch als Jude) oder seiner Abstammung nach vor‑ gestellt. Diese dreifache Verortung der Frau in einem überwiegend heidnischen
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Kontext, der abseits des Geschehens des restlichen Evangeliums liegt, kennzeich‑ net sie in besonderer Weise als Außenseiterin. Doch manches verbindet die Syrophönizierin mit den beiden Protagonisten der gerade behandelten Heilungsgeschichten auf jüdischem Boden: Wie die blutflüs‑ sige Frau ‚hört sie über Jesus‘ (ἀκούσασα γυνὴ περὶ αὐτοῦ, 7,25) und wie Jaïrus kommt sie zu ihm, um Hilfe für ihre Tochter zu erbitten; ihre hat einen unreinen Geist. Auch sie fällt Jesus zu Füßen (προσέπεσεν πρὸς τοὺς πόδας αὐτοῦ, 7,25). Der zentrale Dialog zwischen Jesus und ihr (7,27 f.) weicht vom üblichen Muster dieser Wundergeschichten in zweifacher Weise ab. Zum einen ist es das erste und einzige Mal, dass Jesus einem Bittsteller oder einer Bittstellerin die Hilfe zu ver‑ weigern scheint. Und zum anderen wird – ebenfalls ein Alleinstellungsmerkmal dieses Exorzismus’ – in Bezug auf die Motivik ein anderer Faden weitergesponnen, nämlich der der Speisungsgeschichten. Jesu vermeintliche Verweigerung der Hilfe ist in ein Bildwort verpackt, das zwei zentrale Lemmata der Speisungswunder auf‑ nimmt: ‚satt werden‘ (χορτασθῆναι) und ‚das Brot‘ (ὁ ἄρτος). Mit ‚Kinder‘ (τέκνα) und ‚Hündlein‘ (κυνάρια) werden zwei Gruppen unterschieden, die in das Schema von In- und Outsidern passen. Der Unterschied zwischen Kindern und Hunden ist jedoch kleiner, als auf den ersten Blick zu vermuten. Mit der Verkleinerungsform κυνάρια wurden keine streunenden Straßenköter oder scharfe Wachhunde, sondern kleinere Hunde bezeichnet, die im Haus wohnten und dort auch mitversorgt wur‑ den.138 Die Syrophönizierin widerspricht Jesus nicht, sondern entwickelt dieses Bildwort weiter: Die Kinder können gerne zuerst (πρῶτον) satt werden; für die Hündlein genügen die Reste, die die Kinder übriglassen. Mit ‚essen‘ (ἐσθίειν) und ‚Brocken‘ (ψιχία) – ψιχίa dabei als Variation zu κλάσματα – bedient auch sie sich des Wortschatzes der Speisungswunder. So erweist sich die scheinbare Weigerung Jesu als erste Hälfte einer Nacherzählung und Deutung der großen Speisungen. Im Gegensatz zu den Jüngern, die trotz ihrer Mitwirkung an diesem Wunder ‚aufgrund der Brote noch nicht verstanden hatten‘ (6,52), hat sie, die Außen‑ seiterin, begriffen, worum es geht: Wo Jesus austeilt, werden alle satt. Dass sie damit auch weiß, wer dieser ist, zeigt sich daran, dass sie ihn mit ‚Herr‘ (κύριε) anspricht.139 Sie ist die einzige im ganzen Evangelium, der Markus erlaubt, diese Anrede zu benutzen. Κύριος verwendet dieser Evangelist im Gegensatz zu den drei anderen140 sehr sparsam und gezielt, um die Identität Jesu und die des alt‑ 138
Vgl. Michel, κύων, κυνάριον, 1103; Kienast, Geschichte der Haustiere, 132. Burkhardt bietet ein Bild einer attischen Amphore aus dem 6. Jh. v. Chr., auf der ein Gelage dargestellt ist, bei dem Hunde unter dem Tisch um Nahrung betteln bzw. an einem Knochen nagen (vgl. Burkhardt, Hund in der Antike, Abschnitt Spitzamphore des Acheloos-Malers). 139 Ähnlich versteht Pokorný hier die Anrede κύριε; er geht von einer „specific theological reinterpretation“ einer vormarkinischen Tradition durch den Autor des Markusevangeliums aus. Er sieht darin – das halte ich nicht für zwingend – die Übernahme paulinischen Gedankenguts, obwohl er zuvor (S. 9) das Bekenntnis zu Jesus Christus als κύριος ἡμῶν als vorpaulinisch einschätzt (Pokorný, From the Gospel, 121). Boring hingegen geht davon aus, dass keiner der Charaktere der Erzählung Jesus als „Lord in the Messianic sense“ wahrnimmt, sondern nur die Hörerin bzw. der Leser des Markusevangeliums (Boring, Mark 1,1 – 15, 60).
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testamentlichen Gottes zu überblenden.141 Die Antwort Jesu zeigt, dass er sie als Verstehende anerkennt, nicht nur, weil die Tochter nun doch von ihrem Dämon befreit wird. In der Formulierung ‚um dieses Wortes willen‘ (διὰ τοῦτον τὸν λόγον) klingt die Verwendung von λόγος für die Verkündigung Jesu, für ‚Evan‑ gelium‘ an, wie sie insbesondere in der Gleichnisrede (4,14 – 20.33) zutage tritt. So kennzeichnet Jesus die Antwort der Syrophönizierin als Evangelium, als gute Botschaft für die ‚Hündlein unter dem Tisch‘. Die Outsider gehören auch zum Haushalt; auch sie sollen satt werden. Im Nachhinein erschließt sich auch ein Detail vom Beginn der Geschichte: Jesus ist ‚in ein Haus gegangen‘ (εἰσελθὼν εἰς οἰκίαν, 7,24); die Frau muss, wenn sie zu ihm ‚kommt‘ (ἐλθοῦσα, 7,25), hineingehen, sie bleibt also nicht draußen stehen (vgl. ἔξω στήκοντες, 3,31.32), sondern betritt offenbar ganz selbstver‑ ständlich den Ort, an dem Jesus mit ‚denen um ihn‘ (οἱ περὶ αὐτόν, vgl. 3,32.34) oder ‚seinen Jüngern‘ (7,17) zusammenkommt – und an dem mit den Hunden auch die Outsider wohnen, die zum Haus gehören. Mit der Syrophönizierin ist die Klimax der Gegenentwürfe zu den Jüngern erreicht: Sie, die dreifach als Außenseiterin Gekennzeichnete, geht ins Haus, den Ort der Insider, erkennt Jesus als den κύριος und hat, obwohl sie höchstens vom Hörensagen davon weiß, ‚aufgrund der Brote‘ verstanden. Sie ist sogar in der Lage, das zu deuten, was in beiden Speisungserzählungen nicht gesagt wird, nämlich was mit den vielen eingesammelten Resten geschieht. So wird sie zur Evangelistin für die Outsider. In der Sekundärliteratur zu dieser Perikope herrscht ein breiter Konsens darüber, dass mit den Kindern Israel und mit den Hündlein die Heiden gemeint sind;142 Theofilos sieht zudem in der Vorordnung (πρῶτον, 7,27) eine Übernahme des paulinischen ‚für die Juden zuerst und [dann] für die Griechen‘ (Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι, Röm 1,16).143 Meines Erachtens steht dieser Gedanke in der markinischen Fassung nicht im Vordergrund; diese Interpretation verdankt sich vermutlich dem Einfluss der matthäischen Version (Mt 15,21 – 28), die in etlichen Aspekten von der hier vorliegenden abweicht144 und in die diese Gleich‑ 140
Nur 16 Vorkommen in Mk, dagegen 80 in Mt, 104 in Lk und 52 in Joh. Vgl. Oefele, Wer Ohren hat, 64 – 68. 142 Vgl. exemplarisch Michel, κύων, κυνάριον, 1104; van Iersel, Mk 250; Pesch, Mk, I, 388; Lührmann, Mk, 131; France, Mk, 298; Collins, Mk, 367; Malbon, Company, 35; Theissen, Evangelium, 81. 143 Vgl. Theofilos, Roman Connection, 55. 144 Der matthäische Jesus grenzt sich wesentlich stärker von der Bittstellerin ab als der mar‑ kinische, der sich ja sofort auf den Dialog einlässt. Bei Matthäus ignoriert Jesus zunächst die ‚kanaanäische‘ Frau einfach und reagiert erst auf die Intervention der Jünger, die wollen, dass er sie wegschickt. Die Antwort Jesu, er sei nur (!) zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt, ist an die Jünger gerichtet. Auf die Kanaanäerin geht er erst ein, als diese ihn noch‑ mals bittet. Hier fehlt jedoch der erste Satz des markinischen Dialogs, der der Syrophönizierin überhaupt erst die Weiterentwicklung des Bildwortes in Analogie zu den Speisungsgeschichten ermöglicht. 141
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setzung mit der Erwähnung des ‚Hauses Israel‘ eingetragen ist. Die Frage nach den In- und Outsidern, die Markus am Ende des ersten Hauptteils aufwirft, im Intermezzo der Gleichnisrede verschärft stellt und dann durch den ganzen zwei‑ ten Hauptteil hindurch bearbeitet, macht sich nicht an der Zugehörigkeit zum Volk Israel, sondern an der Zugehörigkeit zu Jesus fest. Darum geht es, wenn Markus gegen Ende des zweiten Hauptteils die Syrophönizierin und die Jünger auf der letzten Bootsfahrt einander wie Spiegelbilder gegenüberstellt. So halte ich es für näherliegend, in den Kindern die Jünger zu sehen, diejenigen, die er selbst auswählte, ‚mit ihm zu sein‘ (ἵνα ὦσιν μετ’ αὐτοῦ, 3,14), denen Sonderbelehrun‑ gen zugute kommen (4,34; 7,17) und die er ‚aussandte‘ (ἀποστέλλειν, 3,14; 6,7), seinen Auftrag in Wort und Tat weiterzuführen. Die ‚Hündlein unter dem Tisch‘ stehen in dieser Perspektive für alle, die nicht zu diesem engen Kreis um Jesus gehören, aber auch seine Nähe suchen. Auf der narrativen Ebene gehören zu die‑ ser Gruppe Juden und Jüdinnen wie der Synagogenvorsteher Jaïrus und die blut‑ flüssige Frau genauso wie der Gerasener und die Syrophönizierin. Auch auf der diskursiven Ebene lassen sich die Kinder mit den Jüngern identifizieren; sie sind auch für das Publikum des Markus diejenigen, die Jesus am nächsten waren. In den Hündlein unter dem Tisch können sich diejenigen wiederfinden, die als später Geborene und vermutlich auch räumlich Ferne nicht das Privileg der persönli‑ chen Begegnung mit Jesus hatten, doch als Mitglieder der christlichen Gemeinde auch zum ‚Haushalt‘ Jesu gehören. Ihnen wird zugesagt, dass das, was sie wohl nur als „die kläglichen Reste des Evangeliums“ wahrnehmen, die bis zu ihnen gedrungen sind, ausreicht und auch sie genug zum Leben haben werden – wenn sie dem Evangelium glauben, das Jesus und die Syrophönizierin hier gemeinsam verkündigen. IV.4.4.4. Der passive Taubstumme (7,31 – 37) (Vgl. Abb. 29, S. 392) Die letzte der vier Heilungs- und Exorzismuserzählungen des zweiten Hauptteils nimmt zwar manche Elemente der anderen drei auf, fällt aber dennoch aus dem Rahmen. Wie Jaïrus und die blutflüssige Frau versprechen sich auch diejenigen, die hier den Tauben zu Jesus bringen, Heilung durch Berüh‑ rung (ἵνα ἐπιθῇ αὐτῷ τὴν χεῖρα, 7,32; vgl. 5,23). Alle Beteiligten – Jesus selbst, der Taube und die ihn zu Jesus bringen – bleiben jedoch anonym und werden auch sonst durch nichts näher beschrieben; außer der Angabe, dass man sich nun wieder in der Dekapolis befindet, ist nichts zu erfahren. Der Kranke bleibt, wie auch schon die beiden Töchter des Jaïrus und der Syrophönizierin, völlig passiv. Im Vergleich zur Geschichte des Geraseners ist bei den Einwohnern der Deka‑ polis ein Lernfortschritt zu erkennen: Sie, die Jesus einst fortschicken wollten, bringen jetzt den Kranken zu ihm. War es damals der von den Dämonen befreite, der in der Dekapolis ‚verkündigte, was Jesus ihm getan hatte‘ (κηρύσσειν ἐν τῇ Δεκαπόλει ὅσα ἐποίησεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς, 5,20), sind es nun seine damaligen Zuhörer, die ‚verkündigen, dass er alles gut gemacht hat‘ (ἐκήρυσσον [. . .] λέγον
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τες καλῶς πάντα πεποίηκεν, 7,37). Anders als der Gerasener, den Jesus auffor‑ derte, von seiner Befreiung zu erzählen, handeln sie ohne Auftrag, ja sogar gegen das Schweigegebot Jesu (7,36). Der Fokus dieser Perikope liegt zum einen auf dieser ‚Verkündigung‘ und damit, wie bereits beschrieben, auf einem die Heilungs- und Exorzismuser‑ zählungen des zweiten Hauptteils zusammenfassenden Statement zur Identität Jesu.145 Zum anderen fällt die enge Verwandtschaft zur Blindenheilung in Bet‑ saida (8,22 – 27a) sowohl hinsichtlich des Ablaufs, der Anonymität aller Beteilig‑ ten und der ausführlichen Darstellung der Behandlung auf. Es liegt nahe, diese Heilungen von Ohren und Augen, in denen keine Individuen fassbar werden und die die Klimax des Jüngerunverständnisses wie eine Klammer umgeben, sym‑ bolisch zu verstehen: Die Jünger, die zwar Augen und Ohren haben, sehen und hören trotzdem nicht (8,18). Ihre Blind- und Taubheit in Bezug auf die Wahrneh‑ mung der Identität Jesu ist so umfassend, dass hier nur noch ein Wunder helfen kann.
IV.4.5. Zusammenfassung: Wer gehört nun zu Jesus? Markus arbeitet mit scharfen Kontrasten und sorgt durch die Art, wie er sie ein‑ setzt, dafür, dass vor dem inneren Auge seiner Zuhörerinnen und Zuhörer ein differenziertes Bild entsteht. Die Frage nach den In- und Outsidern, danach, wer zum Kreis derer gehört, die Jesus nachfolgen, und wer nicht, hat zwei Aspekte: Zum einen kann danach gefragt werden, wer Jesus nahe steht, wer ganz bild‑ lich gesprochen περὶ αὐτόν ist. Wenngleich Markus schon bei der Einführung die‑ ses Ausdrucks (3,32.34) und auch bei dessen Wiederholung (4,10) nicht eindeutig benennt, wer zur Gruppe der Insider gehört, lässt sich trotzdem festhalten, dass die Jünger (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, οἱ δώδεκα146) als diejenigen porträtiert werden, die Jesus am nächsten stehen: Sie wurden von ihm dazu berufen, ‚mit ihm zu sein‘, und beauftragt, sein Wirken in Wort und heilbringender Wundertat fortzu‑ führen. Dafür wurden sie sogar mit ἐξουσία ausgestattet (3,15; 6,7). Die Jünger sind die engsten Wegbegleiter Jesu; sie erleben viele Wunder als Augenzeugen mit und sind bei den großen Speisungen sogar aktiv ins Wundergeschehen invol‑ viert. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit legt Jesus ihnen Gleichnisse aus, die sie nicht verstehen (4,14 – 20; 4,34, 7,17 – 24a). Zum anderen wird von Anfang an das Insider-Sein durch eine Bedingung definiert, die unabhängig von der gerade beschriebenen Nähe zu Jesus ist: ‚Wer auch immer den Willen Gottes tut‘ (3,35), der gehört zu denen um Jesus. Schon in der Szene im Haus am Ende des ersten Hauptteils wurde deutlich, dass ‚den Willen Gottes tun‘ sich nicht davon trennen lässt, auf Jesus zu hören und an das Evangelium zu ‚glauben‘ (πιστεύειν), daran, dass in seiner Person das Reich 145 146
Vgl. Kap. IV.3.4., S. 327 f. Zum markinischen Gebrauch von δώδεκα und μαθηταί vgl. Kap. III.2.4.1., S. 210.
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Gottes, ja Gott selbst den Menschen nahegekommen ist (1,14 f.).147 Im zweiten Hauptteil wird im ersten Erzählbogen πιστεύειν / πίστις (4,40; 5,34.36, 6,6) wie‑ der aufgenommen und mit φοβεῖσθαι / φόβος kontrastiert, um diesen Aspekt des Insider-Seins weiterzuentwickeln. Glaube ist zum einen das Vertrauen darauf, dass Jesus ‚retten‘ (σώζειν, 5,23.28.34) kann, zum anderen ist mit der ἀπιστία der Nazarener deren Unvermögen gemeint, die Identität Jesu anders als über dessen Herkunft aus ihrer Stadt zu verstehen, was sie daran hindert, die wahre Kraft hinter seinen Worten und Taten wahrzunehmen. Ab der zweiten Bootsfahrt wech‑ selt Markus das Vokabular und spricht von ‚verstehen‘ (συνιέναι, νοεῖν, 6,52, 7,14.18, 8,17.21), das in der Gleichnisrede mit negativen Vorzeichen auf die Out‑ sider bezogen erstmals zu hören war (μὴ συνιῶσιν, 4,12) und dort mit Sehen und Hören gekoppelt ist. Wie in der Gleichnisrede dienen die vielfach zu hören‑ den Motive βλέπειν, ὁρᾶν und ἀκούειν auch in den darauf folgenden Kapiteln dazu, Verstehen und Nichtverstehen immer wieder zu thematisieren. Συνιέναι und νοεῖν stehen im zweiten Hauptteil mit Ausnahme eines Aufrufs an das Volk (7,14) immer verneint. Jedes Mal sind es die Jünger, die nicht verstehen bzw. deren Ver‑ stehen Jesus in Frage stellt. Über den ganzen zweiten Hauptteil hinweg wird der Unglaube bzw. das Unverständnis der Jünger immer lauter hörbar; insbesondere die Brot- und Bootsgeschichten dienen dazu, diesen negativen Zug im markini‑ schen Jüngerbild immer deutlicher zu zeichnen, bis er am Ende in völliger Para‑ doxie zu deren Nähe zu Jesus steht. Sie sind als ausgewählte engste Wegbegleiter Insider und gleichzeitig Outsider in Bezug auf ihr mangelndes Verständnis für die Identität dessen, dem sie nachfolgen. Und trotzdem sind und bleiben sie Jünger Jesu. Sie werden nicht aufgrund mangelnder Leistung durch besseres Personal ausgewechselt.148 Diesem Kontrast, der dem Jüngerbild innewohnt, ist ein anderer spiegelbild‑ lich entgegengesetzt: Menschen, die nicht zum privilegierten Kreis um Jesus gehören und in diesem Sinne Outsider sind, erweisen sich durch ihren Glauben an Jesu Kraft zu retten bzw. durch ihr Verständnis dafür, dass in Jesus Gott selbst präsent und wirksam ist, als Insider. Diese Personen – der besessene Gerasener, Jaïrus, die blutflüssige Frau und die Syrophönizierin – treten in den Heilungsund Exorzismuserzählungen auf und lassen sich von ihren Voraussetzungen her auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Sie sind an ganz unterschiedlichen Orten zuhause, zu ihnen gehören Juden und Heidinnen, Männer und Frauen. Das soziale Spektrum reicht vom angesehenen Synagogenvorsteher bis hin zum außerhalb jeglicher menschlicher Gemeinschaft zwischen den Gräbern hausen‑ den Gerasener. Durch diese bunte Schar wird anschaulich, wie umfassend das ‚wer auch immer‘ (ὃς ἄν, 3,35) in der Beschreibung der Insider (‚Wer auch immer 147
Vgl. dazu Kap. III.2.4.5., S. 236 f. Der Gedanke, Personen, die versagen, gegen andere auszuwechseln, findet sich inner‑ halb des Markusevangeliums durchaus, nämlich im Weinberggleichnis (12,1 – 12, insbes. V. 9). Die Weinbauern, die es dort trifft, stehen für die Gegner Jesu, denen er das Gleichnis erzählt. Sie tun den Willen des Weinbergbesitzers bzw. Gottes nicht und töten dessen Sohn. 148
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den Willen Gottes tut‘) gemeint ist. Während das Publikum des Markus die Jün‑ ger über das ganze Evangelium hinweg begleitet und sie von ganz verschiedenen Seiten kennenlernt, treten ihre Spiegelbilder jeweils nur in einer Szene auf. Sie bleiben Outsider in dem Sinne, dass sie auch nach dem rettenden Wunder nicht in den engen Kreis um Jesus aufgenommen werden. Dem von Dämonen befreiten Gerasener wird dies sogar auf seine Bitte hin verweigert. An ihm, der zum Evan‑ gelisten für ‚die Seinen‘ wird, stellt Markus exemplarisch dar, dass Nachfolge sich auch in Distanz zu Jesus in der eigenen Heimat realisieren kann. An Jaïrus und der blutflüssigen Frau erweist sich der Glauben an die ‚rettende‘ Kraft Jesu als tatsächlich lebensrettend; eine kurze Berührung genügt. Die Letzte im Reigen dieser „minor characters“149 des zweiten Hauptteils ist die Syrophönizierin. Sie, die am weitesten vom Geschehen weg ist, wird durch ihre Interpretation der Spei‑ sungswunder als die Insiderin schlechthin porträtiert und damit den Jüngern auf der letzten Bootsfahrt direkt gegenübergestellt, die, obgleich aktiv ins Wunderge‑ schehen involviert, nicht verstanden haben, was daran zu verstehen war. Wie der Gerasener wird sie zur Evangelistin; ihre Botschaft, die sie sozusagen im Duett mit Jesus verkündigt, entfaltet ihre Wirkung nicht auf der narrativen Ebene – es ist ein Gespräch unter vier Augen –, sondern richtet sich direkt an die Hörerschaft des Markusevangeliums. Neben den Jüngern und den gerade erwähnten Einzelpersonen sind für das Thema der Zugehörigkeit zu Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten sowie ‚die Leute‘ relevant. Die Pharisäer und Schriftgelehrten treten als geschlossene Gruppe auf; unter‑ schiedliche Einzelstimmen sind nicht zu vernehmen.150 Bei ihnen ist es eindeutig, dass sie in doppelter Hinsicht zu den Outsidern gehören. Sie stehen außerhalb des Jüngerkreises und zeigen im zweiten Hauptteil wie durchs ganze Evangelium hindurch keinerlei Anzeichen von Verständnis. Sie treten im zweiten Hauptteil nur im zweiten Erzählbogen auf. Sie propagieren und halten sich an Menschen‑ satzungen statt an Gottes Gebote (7,6.13) und sind die Prototypen der Menschen, aus deren Herzen kommt, was sie von Gott (7,6) und damit auch von Jesus trennt (7,20 – 23). Statt dass sie die vielen geschehenen Wunder verstehen, fordern sie weitere Zeichen (8,11 – 13). Narratologisch betrachtet gehören sie zur Kategorie der „negative, flat, major characters“151; sie sind zwar Hauptfiguren der Erzäh‑ lung, werden aber nur einseitig negativ und nur holzschnittartig dargestellt. Ihnen eignet kein Entwicklungspotential, sie repräsentieren sozusagen die Outsider in Reinkultur. Sie sind und bleiben Gegner Jesu. 149
So bezeichnet Malbon in narratologischer Hinsicht Personen, die in einer Erzählung nur einen kurzen Auftritt haben. Im Gegensatz zu den Hauptpersonen, den „major characters“, sehen die Zuhörer nur eine Momentaufnahme von ihnen, können aber keine Entwicklung der Person mitverfolgen (vgl. Malbon, Company, 191). 150 Die Stimme eines einzelnen Schriftgelehrten ist in 12,28 – 34 zu hören. Dieser kommt allerdings alleine zu Jesus, er tritt nicht aus einer Gruppe von Schriftgelehrten hervor. 151 Malbon, Company, 222.
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Die ‚die Leute‘ genannte Gruppe umfasst keinen festen Personenkreis und lässt sich auch nicht über klare Kriterien definieren. Andere Bezeichnungen könnten ‚das Volk‘ lauten oder auch ‚die Allgemeinheit‘. Gemeint sind damit alle Personen, die nicht als Einzelne Kontur gewinnen und weder den Jüngern noch den Gegnern Jesu zuzuordnen sind, egal, ob es sich um riesige Volksmen‑ gen wie bei den Speisungswundern handelt oder um relativ kleine Gruppen wie z. B. im Haus des Jaïrus (5,40.42 f.). Sie finden sich im Text unter dem Lemma ὄχλος oder im impliziten Subjekt von Verben der dritten Person Plural, das sich in einigen Perikopen nicht auf bestimmte Personen beziehen lässt und das sich im Deutschen in diesen Situationen auch mit ‚man‘ übersetzen lässt. Die unscharfen Konturen dieser Gruppe korrespondieren mit den nicht auf einen Nenner zu brin‑ genden Positionen, die sie durch den Text hindurch einnehmen. Im ersten Erzähl‑ bogen zeigen ‚die Leute‘ in den Exorzismus- und Heilungserzählungen jeweils einen Gesinnungswandel. Sie reagieren zunächst auf verschiedene Weise ableh‑ nend auf Jesus (5,17.40), lassen sich dann aber doch – durch Verkündigung des Befreiten (5,20) bzw. eine Totenauferweckung (5,42), durch Worte und Taten – in seinen Bann ziehen. Auch sie selbst werden in Übertretung des Schweigegebotes Jesu zu Verkündigern seiner Taten (7,36 f.) und damit zum Medium der Darstel‑ lung seiner Identität.152 Im Nachspiel zur zweiten Bootsfahrt (6,54 – 56) stellen sie zum einen das positive Gegenbild zu den unverständigen Jüngern dar. Zum anderen wird in dieser zumeist als „Sammelbericht“153 bezeichneten Szene durch ‚welche auch immer ihn berührten‘ die Reichweite der ‚Rettung‘ demonstriert (ὅσοι ἂν ἥψαντο αὐτοῦ ἐσῴζοντο, 6,56), die zuvor exemplarisch der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jaïrus zugute gekommen war. Es kursieren verschiedene Ansichten darüber, wer Jesus sei, die jedoch alle nicht zutreffen (6,14 f.). Später sind die Leute zweimal Empfänger der Lehre Jesu (6,34; 7,14 f.), wobei offen bleibt, ob sie das Gesagte verstehen. Die fünf- bzw. viertausend Leute, die bei den Speisungswundern satt werden, dienen in erster Linie als Demonstrationsobjekt. Ihre riesige Zahl veranschaulicht primär die Größe des Wunders und in zweiter Linie auch wieder den großen Zulauf zu Jesus. Zusammenfassend lässt sich fest‑ halten, dass ‚die Leute‘ in Bezug auf ihre Nähe zu Jesus alle Outsider sind, und in Bezug auf ihren Glauben oder Verstehen, wer Jesus ist, kaum eine bestimmte Aussage gemacht werden kann; zu groß ist die Bandbreite ihrer Reaktionen und Positionen. Bei ihnen ist in den meisten Fällen zu fragen, welchen konkreten Beitrag – Gegenbild, Verallgemeinerungen, Sprachrohr für falsche und richtige Aussagen zur Identität Jesu etc. – sie zum Thema der Zugehörigkeit zu Jesus in den einzelnen Perikopen leisten. 152
Vgl. Kap. IV.3.4., S. 327 f. Auch „Summarium“; in englischen Publikationen „summary“ (vgl. Lührmann, Mk, 123; Pesch, Mk I, 364; Dschulnigg, Mk, 195; Collins, Mk, 338; France, Mk, 275). Schwei‑ zer verwendet den Begriff „Summarium“ an anderer Stelle, aber nicht für 6,54 – 56 (vgl. Schweizer, Mk, 3.76). 153
IV.5. Ein Ausblick
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IV.5. Die erste Blindenheilung, das Bekenntnis des Petrus und darüber hinaus – ein Ausblick Zum Ende des zweiten Hauptteils lässt sich folgender Stand festhalten: Was schon in der Ouvertüre anklang, wurde bestätigt; Jesus ist der angekündigte κύριος (1,3), er ist der ‚Stärkere‘ (1,7), er ist der Sohn Gottes (1,1.11). Im Porträt Jesu, wie es Markus bis hierher zeichnet, dominieren die starken, vollmächtigen Aspekte; deutlich sind die Züge Gottes selbst darin zu erkennen. Zu Jesus zu gehören, heißt wahrzunehmen, heißt an das ‚Evangelium zu glauben‘ (1,15), dass in diesem Menschen Jesus Gott selbst gegenwärtig ist. Doch gerade diejenigen, die ganz real ‚um ihn‘ sind, nehmen überhaupt nichts mehr wahr, sind taub und blind für die Identität dessen, mit dem sie unterwegs sind. Auf der letzten Boots‑ fahrt ist das Verständnis der Jünger auf seinem Tiefpunkt angelangt. Abhilfe kann hier nur noch ein Wunder schaffen – nicht ein weiteres, das die Jünger miterleben und dann anders als bei den vielen bisherigen vielleicht doch zur Einsicht gelangen, sondern eines, das das Unverständnis an sich kuriert. Mit der Heilung eines Blinden (8,22 – 26), die als Scharnier vom zweiten zum dritten Hauptteil überleitet, geschieht dieses Wunder. Betsaida, der Ort, an dem dieses erst nach zwei Behandlungen gelingende Wunder stattfindet, wurde erst in einem zweiten Anlauf erreicht.154 Der Blinde ist kein Jünger, doch bleiben die Personen in dieser Erzählung dermaßen konturlos,155 dass im vorliegenden Kontext – zuvor völliges Unverständnis der Jünger, danach das Christusbekenntnis des Petrus – eine symbolische Interpretation naheliegt. Die Verbindung zum zweiten Hauptteil ist offensichtlich; die Ereignisfolge, die Anonymität der Beteiligten und zu gro‑ ßen Teilen auch der Wortlaut dieser Blindenheilung kennzeichnen sie als Varia‑ tion der zuletzt gehörten Heilung eines Taubstummen (7,31 – 37). Beide zeichnen sich durch eine große körperliche Nähe Jesu zum Heilungsbedürftigen aus, wie sie sonst im ganzen Evangelium nicht zu finden ist.156 Die Heilung von Taubund Blindheit bildet eine Sandwichkonstruktion um die Klimax des Jüngerunver‑ ständnisses bei der letzten Speisung und auf der letzten Bootsfahrt. Eine größere Klammer, die kurz vor der Mitte des zweiten Hauptteils geöffnet wurde und sich nun zu Beginn des dritten Hauptteils schließt, ergibt sich durch die verschiedenen falschen Meinungen, die hinsichtlich der Identität Jesu in der 154 Auch Malbon weist andeutungsweise auf diesen Zusammenhang hin (Malbon, Com‑ pany, 39). 155 Es gibt keine expliziten Subjekte; Subjektwechsel – zwischen dem ersten und dem zwei‑ ten ‚sie‘ (Pl.) in 8,22, zwischen Jesus und dem Blinden (beide als ‚er‘) – werden nicht angezeigt, was beim ersten Hören für Verwirrung sorgt. Zur „Anonymität“ in dieser Blindenheilung vgl. Oefele, Und ist ein Wunder, 10 f.24 et passim. 156 Nur hier wird Speichel als ein Heilungsmittel verwendet, das Jesus auf die erkrankten Körperteile aufträgt. Die Berührung beschränkt sich bei den anderen Heilungen auf das Ergrei‑ fen der Hand bzw., wenn die Initiative vom Heilungsbedürftigen ausgeht, auf die Berührung der Kleider Jesu.
360
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Öffentlichkeit kursieren (6,14 f.; 8,28). Ihnen setzt Markus als Kontrapunkt das unmittelbar folgende Christusbekenntnis (8,29) entgegen, das erkennen lässt, dass die Heilung der Ohren und Augen der Jünger, hier durch Petrus vertreten, erfolgreich war. Doch sogleich wird offenbar, dass die Heilung wie beim Blinden zunächst nur halb gelungen ist; Petrus versteht nicht, dass der Weg dieses Chris‑ tus durch Ohnmacht führen wird. Bisher wurde vom Erzähler auch alle Mühe darauf verwendet, die göttliche, machtvolle Seite Jesu verstehbar zu machen. Nun folgt die nächste Lektion: Mit der erstmaligen Erwähnung von ‚Christus‘ innerhalb der Erzählung wird zugleich das Proprium eingeführt, das diesem Titel im frühchristlichen Sprachgebrauch eignet: Dieser Messias tritt seine Herrschaft über Leiden, Tod und Auferstehung an (8,31).157 Erst jetzt, nachdem die göttli‑ che Seite der Identität Jesu geklärt ist, ist nach ihrer irritierenden Einführung in 2,10.28 erstmals wieder die ambivalente Selbstbezeichnung Jesu als ‚der Men‑ schensohn‘ zu hören; als dieser muss er leiden und sterben und wird auferstehen. Die dreifache Leidens‑, Todes- und Auferstehungsankündigung fungiert im drit‑ ten Hauptteil als Tripelepisode, die nur geringfügig variiert noch zweimal wie‑ derholt werden wird. Sie bestimmt das Thema ‚auf dem Weg‘ (ἐν τῇ ὡδῷ, als Vorausimitation schon in 8,3, dann 8,27; 9,3.34; 10,32.52), auf dem Jesus und die Jünger nach der bisher chaotischen Reiseroute nun zielstrebig von Norden her in Richtung Jerusalem unterwegs sind. Auf der Basis des im zweiten Hauptteil Erreichten gilt es nun, in das Porträt des Vollmächtigen die Züge des Ohnmächti‑ gen einzuzeichnen und zugleich seine Auferstehung zur Sprache zu bringen. Am Ende des dritten Hauptteils wird klar: Die Ohnmacht des ‚Menschensohnes‘ ist keine Machtlosigkeit, sondern bewusster Machtverzicht, Dienst und Hingabe des Lebens für andere (10,45). Parallel zu diesem Themenstrang wird auch der zweite rote Faden weiterge‑ führt. Nachdem im zweiten Hauptteil verhandelt wurde, wer zu den Nachfolgern gehört, wird nun thematisiert, was es heißt, ihm nachzufolgen. Den Auftakt dazu setzt die Antwort Jesu auf das Unverständnis des Petrus für den Weg des Chris‑ tus durch Leiden und Tod: Jesus ruft ihn mit den gleichen Worten wie damals am galiläischen Meer – ὀπίσω μου (1,17; 8,33) – erneut in die Nachfolge, als dieser andere Wege gehen will. Von dort aus wird dieser Faden weitergespon‑ nen. Diesem Christus nachzufolgen heißt, so wird ‚auf dem Weg‘ klar, seinen Weg mitzugehen: das eigene Kreuz auf sich zu nehmen, sein Leben zu verlieren (8,34 f.) und wie er bereit zu sein zu dienen (9,35; 10,43 f.). Wie bei der Para‑ doxie des Porträts Christi als des Ohnmächtig-Vollmächtigen so lässt sich auch nur als Widerspruch formulieren, was Nachfolge ausmacht: Wer sein Leben ver‑ liert, wird es gewinnen (8,35), die Letzten werden die Ersten sein (10,31). Wie schon zuvor zeitigen die hier noch intensiveren Jüngerbelehrungen nur mäßigen Erfolg. Gegen Ende des Weges wollen sich ausgerechnet Jakobus und Johan‑ nes die Ehrenplätze im Himmel reservieren (10,37). Sie waren außer Petrus die 157
Zu χριστός vgl. Kap. III.1.2., S. 81 – 83.
IV.5. Ein Ausblick
361
Einzigen, die bei der Verklärung Jesu auf dem Berg dabei waren und denen Gott selbst offenbart hat, dass Jesus sein Sohn ist und sie auf ihn hören sollen (9,7). Ihnen wird im Übergang zu den letzten beiden Hauptteilen, die in Jerusalem spie‑ len, als positives Gegenbeispiel der blinde Bettler Bartimäus (10,46 – 52) gegen‑ übergestellt. Dieser setzt alles daran, geheilt zu werden und so Jesus ‚auf dem Weg‘ nach Jerusalem, dem Ort des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu, nachfolgen zu können. Von diesen Stationen des Weges Jesu wird der Rest des Evangeliums erzählen.
362
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a Abweichungen vom Wortlaut von NA28 sind im Text der Grafiken mit * gekenn‑ zeichnet; die Erläuterungen zu diesen textkritischen Entscheidungen finden sich am Ende dieses Kapitels (S. 398 f.).
4:35
4:36
kai« le÷gei aujtoi√ß e˙n e˙kei÷nhØ thØv hJme÷raˆ ojyi÷aß genome÷nhß A Bvar
4:37
C C
die÷lqwmen ei˙ß to\ pe÷ran kai« aÓfe÷nteß to\n o¡clon paralamba¿nousin aujto\n BwJß h™n Ce˙n twˆ◊ ploi÷wˆ kai« a‡lla ploi√a h™n met∆aujtouv
a b c C C
kai« agi÷netai lai√lay bmega¿lh caÓne÷mou kai« ta» ku/mata e˙pe÷ballen ei˙ß to\ ploi√on w‚ste h¡dh gemi÷zesqai to\ ploi√on
A
kai« aujto\ß h™n e˙n thØv pru/mnhØ e˙pi« to\ proskefa¿laion kaqeu/dwn
B
kai« e˙gei÷rousin aujto\n
C
4:38 d
e
4:39
x
kai« le÷gousin aujtwˆ◊ dida¿skale ouj me÷lei soi o¢ti aÓpollu/meqa
dvar
kai« diegerqei«ß
c f g gvar
e˙peti÷mhsen twˆ◊ aÓne÷mwˆ kai« ei•pen thØv qala¿sshØ siw¿pa pefi÷mwso
d kai« e˙ko/pasen oJ a‡nemoß a gvar b kai« ae˙ge÷neto ggalh/nh bmega¿lh 4:40 xopp 4:41
b evar c f
5:1
A
f
5:2
B
C
kai« ei•pen aujtoi√ß ti÷ deiloi÷ e˙ste ou¡pw e¶cete pi÷stin kai« e˙fobh/qhsan fo/bon me÷gan kai« e¶legon pro\ß aÓllh/louß ti÷ß a‡ra ou∞to/ß e˙stin o¢ti kai« oJ a‡nemoß kai« hJ qa¿lassa uJpakou/ei aujtwˆ◊ kai« Ah™lqon ei˙ß to\ pe÷ran fthvß qala¿sshß ei˙ß th\n cw¿ran tw◊n Gerashnw◊n kai« Be˙xelqo/ntoß aujtouv Ce˙k touv ploi÷ou …
Abb. 21: Mk 4,35 – 5,2a
X
C’ A
B’
B
A’
X
B’ A’
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
4:35
Und er sagt zu ihnen an jenem Tag, als es Abend wird: Lasst uns zum jenseitigen Ufer fahren.
4:36
Und sie schickten die Leute weg und nahmen ihn mit, wie er im Boot war. Und andere Boote waren mit ihm.
4:37
Und es entstand ein großer stürmischer Wirbelwind. Und die Wellen gingen über das Boot her, sodass das Boot schon voll wurde.
4:38
Und er war im Heck auf einem Kissen am Schlafen.
Und sie weckten ihn.
Und sie sagten zu ihm: Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?!
4:39
Und er wachte auf und bedrohte den Wind. Und er sagte zum Meer: Schweig! Halt’s Maul!
Und der Wind legte sich. Und es entstand eine große Stille.
4:40
Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr feige! Habt ihr noch keinen Glauben?!
4:41
Und sie fürchteten sich fürchterlich. Und sie sagten zu einander: Wer ist denn dieser, dass ihm auch der Wind und das Meer gehorchen?
5:1 5:2
Und sie kamen zum jenseitigen Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als sie aus dem Boot ausstiegen, . . . Übersetzung zu Abb. 21
363
364
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 5:1 5:2
A B C D
5:3
[g] [g]
kai« gh™lqon Aei˙ß to\ pe÷ran Bthvß qala¿sshß ei˙ß th\n cw¿ran tw◊n Gerashnw◊n kai« ge˙xelqo/ntoß aujtouv De˙k touv ploi÷ou
a b c a
eujqu\ß uJph/nthsen aujtwˆ◊ e˙k tw◊n mnhmei÷wn ba‡nqrwpoß ce˙n pneu/mati aÓkaqa¿rtwˆ o§ß th\n katoi÷khsin ei•cen e˙n toi√ß mnh/masin
d e3neg f 5:4
kai« eoujde« daJlu/sei eoujke÷ti oujdei«ß e˙du/nato faujto\n dhvsai
(f) dvar d f
dia» to\ aujto\n polla¿kiß pe÷daiß kai« aJlu/sesin dede÷sqai
fopp d dvar opp.var f
kai« diespa¿sqai uJp∆aujtouv ta»ß aJlu/seiß kai« ta»ß pe÷daß suntetri√fqai
eneg.var fvar 5:5
1
a
5:6
2 3
[l] J
5:7
5:8
h h
5:10
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5:11
j
5:12
i j gopp
5:13
a kai« dia» panto\ß nukto\ß e˙n toi√ß mnh/masin h™n kra¿zwn
b kai« hJme÷raß kai« e˙n toi√ß o¡resin kai« katako/ptwn e˚auto\n li÷qoiß
kai« li˙dw»n Jto\n ∆Ihsouvn aÓpo\ makro/qen e¶dramen kai« proseku/nhsen aujtwˆ◊ kai« kra¿xaß fwnhØv mega¿lhØ le÷gei g ti÷ e˙moi« d kai« soi÷ J ∆Ihsouv JTitel ui˚e« touv qeouv touv uJyi÷stou d oJrki÷zw se to\n qeo/n g mh/ me basani÷shØß
kai« e˙phrw¿ta aujto/n ti÷ o¡noma¿ soi kai« le÷gei aujtwˆ◊ legiw»n o¡noma¿ moi o¢ti polloi÷ e˙smen kai« pareka¿lei aujto\n polla» e neg z iºna emh\ aujta» aÓpostei÷lhØ ze¶xw thvß cw¿raß •Hn de« e˙kei√ pro\ß twˆ◊ o¡rei aÓge÷lh coi÷rwn mega¿lh boskome÷nh kai« pareka¿lesan aujto\n le÷gonteß evar.poszvar epe÷myon hJma◊ß zei˙ß tou\ß coi÷rouß iºna ei˙ß aujtou\ß ei˙se÷lqwmen kai« e˙pe÷treyen aujtoi√ß
g c gopp j B
5:14
kai« eoujdei«ß i¶scuen faujto\n dama¿sai
e¶legen ga»r aujtwˆ◊ e¶xelqe to\ pneuvma to\ aÓka¿qarton e˙k touv aÓnqrw¿pou
g c b
5:9
[dhvsai]
kai« e˙xelqo/nta ta» pneu/mata ta» aÓka¿qarta ei˙shvlqon ei˙ß tou\ß coi÷rouß
B
kai« w‚rmhsen hJ aÓge÷lh kata» touv krhmnouv ei˙ß th\n qa¿lassan wJß disci÷lioi kai« e˙pni÷gonto e˙n thØv qala¿sshØ
Cvar
kai« oi˚ bo/skonteß aujtou\ß e¶fugon kai« aÓph/ggeilan ei˙ß th\n po/lin kai« ei˙ß tou\ß aÓgrou/
Abb. 22a: Mk 5,1 – 14
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 5:1 5:2
Und sie kamen zum jenseitigen Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als sie aus dem Boot ausstiegen,
5:3
kam ihnen sogleich von den Gräbern her ein Mensch mit einem unreinen Geist entgegen, der in den Gräbern hauste.
5:4
Und gar niemand mehr konnte ihn mit Ketten fesseln, weil er schon oft mit Fußschellen und Ketten gefesselt wurde und die Ketten von ihm zerrissen und die Fußschellen zerrieben wurden. Und niemand vermochte ihn zu bändigen.
5:5
Und die ganze Nacht und den ganzen Tag, bei den Gräbern und auf den Bergen, war er am Schreien und schlug sich selbst mit Steinen.
5:6 5:7
Und als er Jesus von weitem sah, rannte er her. Und er warf sich huldigend vor ihm nieder. Und er schrie mit lauter Stimme: Was habe ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes! Ich beschwöre dich bei Gott: Foltere mich nicht!
5:8
Er sagte nämlich zu ihm: Geh raus, du unreiner Geist, aus dem Menschen!
5:9
Und er fragte ihn: Wie heißt du?
Und er sagte zu ihm: Legion heiß ich, denn wir sind viele!
5:10 5:11 5:12 5:13
Und er bat ihn sehr, dass er sie nicht wegschicke aus der Gegend. Es war aber am Berg eine große Schweineherde am Weiden. Und sie baten ihn und sprachen: Schick uns in die Schweine, damit wir in sie reingehen! Und er erlaubte es ihnen.
Und die unreinen Geister gingen raus und gingen rein in die Schweine. Und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter ins Meer, ungefähr 2000. Und sie ertranken im Meer.
5:14
Und die, die sie weideten, flohen. Und sie berichteten es in der Stadt und auf den Feldern. Übersetzung zu Abb. 22a
365
366
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 5:14
Cvar
g l
5:15
kai« oi˚ bo/skonteß aujtou\ß e¶fugon kai« kaÓph/ggeilan Cei˙ß th\n po/lin kai« ei˙ß tou\ß aÓgrou/ß
k
c
g J lvar bc
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5:16
5:17
5:18
Cvar
kai« e˙fobh/qhsan
l
kai« dihgh/santo aujtoi√ß oi˚ i˙do/nteß pw◊ß e˙ge÷neto twˆ◊ daimonizome÷nwˆ kai« peri« tw◊n coi÷rwn
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D
gvar k JTitel
5:21
D
kai« h¡rxanto parakalei√n aujto\n gaÓpelqei√n CaÓpo\ tw◊n oJri÷wn aujtw◊n kai« e˙mbai÷nontoß aujtouv ei˙ß to\ ploi√on
5:19
Cvar
kai« ge¶rcontai Jpro\ß to\n ∆Ihsouvn kai« qewrouvsin to\n daimonizo/menon h1 kaqh/menon h2 i˚matisme÷non h3 kai« swfronouvnta, to\n e˙schko/ta to\n legiw◊na
m
i bc
5:20
kai« h™lqon i˙dei√n ti÷ e˙stin to\ gegono\ß
ipareka¿lei
aujto\n bcoJ daimonisqei«ß iºna met∆aujtouv hØ™
kai« oujk aÓfhvken aujto/n aÓlla» le÷gei aujtwˆ◊ u¢page q d qei˙ß to\n oi•ko/n dsou qvar d qpro\ß tou\ß dsou\ß kai« aÓpa¿ggeilon aujtoi√ß o¢sa oJ ku/rio/ß d i dsoi ipepoi÷hken ivar d kai« ihjle÷hse÷n dse
g kvar J i dvar
kai« aÓphvlqen kai« h¡rxato kkhru/ssein Ce˙n thØv Dekapo/lei o¢sa ie˙poi÷hsen daujtwˆ◊ JoJ ∆Ihsouvß
mvar
kai« pa¿nteß e˙qau/mazon
J
kai« diapera¿santoß Jtouv ∆Ihsouv De˙n twˆ◊ ploi÷wˆ*
A
pa¿lin ei˙ß to\ pe÷ran
B
sunh/cqh o¡cloß polu\ß e˙p∆aujto/n kai« h™n para» th\n qa¿lassan
bc: Hier kommen die beiden zuerst getrennten Textsignale a‡nqrwpoß (b) und pneuvma to\ aÓka¿qarton (c) zusammen – nota bene erst, nachdem die unreinen Geister ausgefahren sind!
Abb. 22b: Mk 5,14 – 21
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 5:14
Und die, die sie weideten, flohen. Und sie berichteten es in der Stadt und auf den Feldern. Und sie kamen, um zu sehen, was passiert war.
5:15
Und sie kamen zu Jesus. Und sie sahen den Besessenen: sitzend, bekleidet und vernünftig – der, der die Legion hatte! Und sie fürchteten sich.
5:16
Und die gesehen hatten, was dem Besessenen passiert war, erzählten das von den Schweinen.
5:17
Und sie fingen an, ihn zu bitten, dass er weggehe aus ihrer Gegend.
5:18
Und als er ins Boot einstieg, bat ihn der Besessene, dass er mit ihm sein dürfe.
5:19
Und er ließ ihn nicht, sondern sagt zu ihm: Geh hin – in dein Haus und zu den Deinen und berichte ihnen, was der Herr an dir getan hat, und dass er sich deiner erbarmt hat.
5:20
Und er ging weg. Und er begann in der Dekapolis zu verkündigen, was Jesus an ihm getan hatte. Und alle staunten.
5:21
Und nachdem Jesus wieder zum jenseitigen Ufer hinübergefahren war, versammelten sich viele Leute bei ihm. Und er war am Meer.
Übersetzung zu Abb. 22b
367
368
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 5:21
[cvar] J A B
kai« cdiapera¿santoß Jtouv ∆Ihsouv e˙n twˆ◊ ploi÷wˆ* pa¿lin ei˙ß to\ pe÷ran
a
Asunh/cqh Bo¡cloß apolu\ß Be˙p∆aujto/n
kai« h™n para» th\n qa¿lassan 5:22
C
c
d
5:23
f fvar
5:25
b
kai« i˙dw»n aujto\n pi÷ptei pro\ß tou\ß po/daß aujtouv kai« parakalei√ aujto\n apolla» le÷gwn o¢ti to\ quga¿trio/n mou e˙sca¿twß e¶cei iºna e˙lqw»n e˙piqhØvß ta»ß cei√raß aujthØv iºna swqhØv kai« zh/shØ
c
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kai« caÓphvlqen gmet∆aujtouv
B h Avar
a
kai« hhjkolou/qei aujtwˆ◊ Bo¡cloß apolu\ß kai« sune÷qlibon aujto/n
D
5:26
5:27
kai« i˙dou\* ce¶rcetai Cei–ß tw◊n aÓrcisunagw¿gwn ojno/mati ∆Ia¿iœroß
a
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5:24
b
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a a c J bvar c j
B
5:28
A
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e¶legen ga»r o¢ti e˙a»n a‚ywmai ka·n tw◊n i˚mati÷wn aujtouv swqh/somai
j
f
kai« gunh\ a1 ou™sa e˙n rJu/sei aiºmatoß dw¿deka e¶th a2 kai« polla» paqouvsa uJpo\ pollw◊n i˙atrw◊n a3 kai« dapanh/sasa ta» par∆aujthvß pa¿nta a4 kai« mhde«n wÓfelhqei√sa a5 aÓlla» ma◊llon ei˙ß to\ cei√ron e˙lqouvsa baÓkou/sasa Jperi« touv ∆Ihsouv a6 7 ce˙lqouvsa Be˙n twˆ◊ o¡clwˆ o¡pisqen a h¢yato touv i˚mati÷ou aujtouv
5:29
k kai« eujqu\ß e˙xhra¿nqh hJ phgh\ touv aiºmatoß aujthvß l kai« e¶gnw twˆ◊ sw¿mati m o¢ti i¶atai aÓpo\ thvß ma¿stigoß
D
5:30
k kai« eujqu\ß J l JoJ ∆Ihsouvß le˙pignou\ß e˙n e˚autwˆ◊ mvar th\n e˙x aujtouv du/namin e˙xelqouvsan
D
e˙pistrafei«ß e˙n twˆ◊ o¡clwˆ e¶legen ti÷ß mou h¢yato tw◊n i˚mati÷wn
C
B j 5:31
B Avar
bvar j-
5:32 5:33
kai« e¶legon aujtwˆ◊ oi˚ maqhtai« aujtouv bble÷peiß Bto\n o¡clon Asunqli÷bonta¿ se kai« le÷geiß ti÷ß mou h¢yato
B
C
bvar kai« perieble÷peto b jvar bi˙dei√n th\n jtouvto poih/sasan D
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(b) c
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hJ de« gunh\ a1 fobhqei√sa a2 kai« tre÷mousa a3 ei˙dui√a o§ ge÷gonen aujthØv 4 var a h™lqen avar5 kai« prose÷pesen aujtwˆ◊ avar6 kai« ei•pen aujtwˆ◊ pa◊san th\n aÓlh/qeian oJ de« ei•pen aujthØv quga¿thr, ohJ pi÷stiß sou fse÷swke÷n se u¢page ei˙ß ei˙rh/nhn kai« i¶sqi uJgih\ß aÓpo\ thvß ma¿stigo/ß sou
Abb. 23a: Mk 5,21 – 34
A
B
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 5:21
Und nachdem Jesus wieder zum jenseitigen Ufer hinübergefahren war, versammelten sich viele Leute bei ihm. Und er war am Meer.
5:22
Und siehe, es kam einer der Synagogenvorsteher namens Jaïrus. Und als er ihn sah, fiel er ihm zu Füßen.
5:23 5:24
Und er bat ihn sehr und sagte: Mein Töchterlein liegt in den letzten Zügen – dass du kommst und ihr die Hände auflegst, dass sie gerettet wird und lebt! Und er ging mit ihm weg. Und es folgten ihm viele Leute. Und sie drängten sich um ihn.
5:25 5:26 5:27
Und eine Frau – die an Blutfluss litt seit zwölf Jahren und die viel durchgemacht hatte bei vielen Ärzten und die alles, was sie hatte, ausgegeben hatte und der nichts geholfen hat, sondern mit der es noch viel schlimmer wurde –, als die von Jesus hörte, kam sie in der Menschenmenge von hinten und berührte sein Gewand.
5:28 5:29
Sie sagte nämlich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich gerettet. Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes. Und sie nahm an ihrem Körper wahr, dass sie von ihrer Plage geheilt war.
5:30 5:31 5:32
Und sogleich, als Jesus innerlich wahrnahm, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, drehte er sich in der Menschenmenge um und sagte: Wer hat mein Gewand berührt? Und seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst die Menge, die sich um dich drängt, und du fragst „Wer hat mich berührt“?! Und er sah sich um, um die zu sehen, die das getan hatte.
5:33
Die Frau aber – die sich fürchtete und die zitterte und die wusste, was an ihr geschehen war –, sie kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.
5:34
Und er sagte zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage. Übersetzung zu Abb. 23a
369
370
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 5:35
5:36
C
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nneg
p c pvar fopp
e¶ti aujtouv lalouvntoß ce¶rcontai CaÓpo\ touv aÓrcisunagw¿gou ple÷gonteß o¢ti ehJ quga¿thr sou faÓpe÷qanen ti÷ e¶ti sku/lleiß to\n dida¿skalon
J bvar p pvar
JoJ
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5:37
5:38
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C
de« ∆Ihsouvß bparakou/saß to\n lo/gon plalou/menon aÓrcisunagw¿gwˆ b1 mh\ fobouv b2 mo/non pi÷steue
ple÷gei Ctwˆ◊
kai« oujk ei˙mh\ g1 g2 g3 c bvar a
5:39
c
5:40
q
aÓfhvken oujde÷na gmet∆aujtouv hsunakolouqhvsai A
to\n Pe÷tron kai« ∆Ia¿kwbon kai« ∆Iwa¿nnhn to\n aÓdelfo\n ∆Iakw¿bou
B
kai« ce¶rcontai ei˙ß to\n oi•kon Ctouv aÓrcisunagw¿gou kai« qewrei√ d1 qo/rubon kai« klai÷ontaß d2 d3 kai« aÓlala¿zontaß polla¿,
C
kai« ei˙selqw»n le÷gei aujtoi√ß d1 ti÷ qorubei√sqe d2 kai« klai÷ete eto\ paidi÷on foujk aÓpe÷qanen evar fopp.neg e1 fopp.var e2 aÓlla» kaqeu/dei
evar g
aujto\ß de« e˙kbalw»n pa¿ntaß paralamba¿nei gvar1 to\n pate÷ra touv paidi÷ou gvar2 kai« th\n mhte÷ra g3 kai« tou\ß met∆aujtouv
cvar evar kai« cei˙sporeu/etai o¢pou h™n eto\ paidi÷on evar kai« krath/saß thvß ceiro\ß etouv paidi÷ou le÷gei aujthØv evar taliqa r koum o¢ e˙stin meqermhneuo/menon evar to\ kora¿sion soi« le÷gw rvar e¶geire
5:41
5:42
k rvar evar
A
B
C
kai« keujqu\ß raÓne÷sth to\ kora¿sion
cvar
kai« periepa¿tei h™n ga»r e˙tw◊n dw¿deka
qvar k
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5:43
a
kai« diestei÷lato aujtoi√ß polla» iºna mhdei«ß gnoi√ touvto kai« ei•pen doqhvnai aujthØv fagei√n
6:1
c
kai« e˙xhvlqen e˙kei√qen*
i
D
kai« katege÷lwn aujtouv
e˙xe÷sthsan keujqu\ß* qe˙ksta¿sei mega¿lh
Abb. 23b: Mk 5,35 – 6,1a
D opp
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
371
5:35
Und als er noch redete, kamen sie vom Synagogenvorsteher und sagten: Deine Tochter ist gestorben! Was behelligst du noch den Lehrer?
5:36
Jesus aber überhörte das, was gesagt wurde, und sagte zum Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht, glaube nur!
5:37
Und er ließ niemanden mit sich mitkommen außer Petrus und Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus.
5:38
Und sie kamen zum Haus des Synagogenvorstehers. Und er sah Tumult und solche, die weinten und laut klagten.
5:39
Und er ging hinein und sagte zu ihnen: Was macht ihr für einen Tumult und weint? Das Kind ist nicht gestorben, sondern schläft!
5:40
Und sie lachten ihn aus.
Er aber warf alle raus und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter und die mit ihm.
Und er ging dort hinein, wo das Kind war.
5:41
Und er fasste das Kind bei der Hand und sagte zu ihm: Talita kum – das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir: Steh auf!
5:42
Und sogleich erhob sich das Mädchen. Und es lief herum. Es war nämlich zwölf Jahre alt.
Und sie gerieten sogleich völlig aus der Fassung.
5:43
Und er befahl ihnen sehr, dass das nicht bekannt werden solle. Und er sagte, dass ihr zu essen gegeben werden solle.
6:1a
Und er ging von dort fort. Übersetzung zu Abb. 23b
372
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 6:1b
6:2
6:3
A B
kai« e¶rcetai ei˙ß th\n patri÷da aujtouv kai« aÓkolouqouvsin aujtwˆ◊ oi˚ maqhtai« aujtouv
a b
kai« genome÷nou sabba¿tou ah¡rxato bdida¿skein e˙n thØv sunagwghØv
c dv
kai« polloi« aÓkou/onteß e˙xeplh/ssonto le÷gonteß
e e e f evar g
a1 a2 a3
hneg e i
hneg i
6:4
A B
po/qen tou/twˆ tauvta kai« ti÷ß hJ sofi÷a hJ doqei√sa tou/twˆ kai« fai˚ duna¿meiß etoiauvtai gdia» tw◊n ceirw◊n aujtouv gino/menai b1 b2 b3
houjc eou∞to/ß he˙stin oJ te÷ktwn oJ ui˚o\ß thvß Mari÷aß kai« oJ* aÓdelfo\ß g1 ∆Iakw¿bou g2 kai« ∆Iwshvtoß g3 kai« ∆Iou/da g4 kai« Si÷mwnoß kai« houjk ei˙si«n iai˚ aÓdelfai« aujtouv w—de pro\ß hJma◊ß
dvar.v
kai« e˙skandali÷zonto e˙n aujtwˆ◊
hneg A
kai« e¶legen aujtoi√ß oJ ∆Ihsouvß o¢ti oujk e¶stin profh/thß a‡timoß d1 ei˙mh\ e˙n thØv patri÷di aujtouv d2 kai« e˙n toi√ß suggeneuvsin aujtouv d3 kai« e˙n thØv oi˙ki÷aˆ aujtouv
6:5
fneg j fneg kai« foujk e˙du/nato e˙kei√ jpoihvsai foujdemi÷an du/namin k g l ei˙mh\ ojli÷goiß kaÓrrw¿stoiß e˙piqei«ß gta»ß cei√raß le˙qera¿peusen
6:6
dvar.J
kai« e˙qau/mazen dia» th\n aÓpisti÷an aujtw◊n
b
kai« perihvgen ta»ß kw¿maß ku/klwˆ dida¿skwn
dv, dvar.J Reaktionen der Vielen (v) bzw. Reaktion Jesu (J)
Abb. 24a: Mk 6,1b – 6
A
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 6:1b
Und er kam in seine Heimat. Und seine Jünger folgten ihm.
6:2
Und als es Sabbat geworden war, begann er in der Synagoge zu lehren.
Und viele, die zuhörten, gerieten außer sich und sagten: Woher hat der das? Und was für eine Weisheit ist das, die dem gegeben ist, und was für Kräfte, die derart durch seine Hände wirken!
6:3
Ist der nicht der Handwerker? Der Sohn der Maria? Der Bruder des Jakobus und des Joses und des Juda und des Simon? Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns?
Und sie nahmen Anstoß an ihm.
6:4
Und Jesus sagte zu ihnen: Ein Prophet ist nicht ohne Ansehen außer in seiner Heimat und in seiner Verwandtschaft und in seiner Familie.
6:5
Und er konnte dort kein einziges Wunder tun, außer dass er einigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte.
6:6
Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Und er zog rings umher durch die Dörfer und lehrte. Übersetzung zu Abb. 24a
373
374
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
6:7
6:8
6:9
Bvar
kai« proskalei√tai tou\ß dw¿deka
a m m fvar n
e2 e3 e4
kai« ah¡rxato aujtou\ß aÓposte÷llein mdu/o mdu/o kai« e˙di÷dou aujtoi√ß fe˙xousi÷an ntw◊n pneuma¿twn tw◊n aÓkaqa¿rtwn kai« parh/ggeilen aujtoi√ß iºna mhde«n ai¶rwsin ei˙ß oJdo\n ei˙mh\ rJa¿bdon mo/non z1 mh\ a‡rton z2 mh\ ph/ran z3 mh\ ei˙ß th\n zw¿nhn calko/n aÓll∆uJpodedeme÷nouß sanda¿lia kai« mh\ e˙ndu/shsqe du/o citw◊naß
m
6:10
kai« e¶legen aujtoi√ß oo¢pou e˙a»n pei˙se÷lqhte qei˙ß oi˙ki÷an o p q qvar e˙kei√ me÷nete oeºwß a·n pe˙xe÷lqhte qe˙kei√qen ovar p qvar
6:11
ovar qvar c pvar qvar
6:12
p bvar
h1
6:13
nvar k l
h2 h3 h4
6:14-29
6:30
kai« pe˙xelqo/nteß be˙kh/ruxan iºna metanow◊sin kai« daimo/nia polla» e˙xe÷ballon, kai« h¡leifon e˙lai÷wˆ pollou\ß aÓrrw¿stouß kai« e˙qera¿peuon
r
kai« le÷gei aujtoi√ß deuvte uJmei√ß aujtoi« kat∆i˙di÷an ei˙ß e¶rhmon to/pon kai« aÓnapau/sasqe ojli÷gon h™san ga»r oi˚ e˙rco/menoi kai« oi˚ uJpa¿gonteß polloi÷ kai« oujde« fagei√n eujkai÷roun
6:32
pvar
C
kai« psuna¿gontai Boi˚ aÓpo/stoloi pro\ß to\n ∆Ihsouvn kai« aÓph/ggeilan aujtwˆ◊ pa¿nta q1 o¢sa e˙poi÷hsan q2 kai« o¢sa e˙di÷daxan
j b 6:31
kai« oo§ß a·n qto/poß mh\ de÷xhtai uJma◊ß mhde« aÓkou/swsin uJmw◊n pe˙kporeuo/menoi qe˙kei√qen e˙ktina¿xate to\n couvn to\n uJpoka¿tw tw◊n podw◊n uJmw◊n ei˙ß martu/rion aujtoi√ß
Herodes – Wer ist Jesus – Johannes der Täufer
Bvar pvar
B
r
kai« paÓphvlqon e˙n twˆ◊ ploi÷wˆ rei˙ß e¶rhmon to/pon kat∆i˙di÷an
Abb. 24b: Mk 6,7 – 13.30 – 32
B
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
6:7
Und er rief die Zwölf zusammen.
Und er begann sie auszusenden je zwei und zwei. Und er gab ihnen Vollmacht über die unreinen Geister.
6:8 6:9
Und er wies sie an, dass sie nichts auf den Weg mitnehmen sollten außer einen Stock – kein Brot, keine Tasche, kein Geld im Gürtel – aber Sandalen an den Füßen. Und zieht keine zwei Untergewänder an!
6:10 6:11
Und er sagte zu ihnen: Wo auch immer ihr in ein Haus hineingeht, bleibt dort, bis ihr wieder von dort weggeht! Und welcher Ort auch immer euch nicht aufnimmt und sie euch nicht hören, geht von dort fort und schüttelt den Staub von euren Füßen ab – ihnen zum Zeugnis!
6:12 6:13
Und sie gingen hinaus und verkündigten, dass man umkehren solle. Und sie trieben viele Dämonen aus. Und sie salbten viele Kranke mit Öl und sie heilten sie. 6,14 – 29 Herodes – Wer ist Jesus? – Johannes der Täufer
6:30 6:31 6:32
Und die Ausgesandten kamen bei Jesus zusammen. Und sie berichteten ihm alles, was sie getan hatten und was sie gelehrt hatten. Und er sagte ihnen: Auf geht’s! Ihr selbst, nur für Euch, an einen einsamen Ort! Und ruht euch ein bisschen aus! Es waren nämlich viele, die kamen und gingen. Und sie hatten nicht einmal Zeit zu essen. Und sie gingen im Boot weg an einen einsamen Ort, nur für sich. Übersetzung zu Abb. 24b
375
376
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 6:14
A B1 B2
kai« Ah¡kousen BoJ basileu\ß BÔHrwˆ¿dhß fanero\n ga»r e˙ge÷neto to\ o¡noma aujtouv
a C1 C2 D b1
kai« e¶legon o¢ti C∆Iwa¿nnhß CoJ bapti÷zwn De˙gh/gertai e˙k nekrw◊n kai« dia» touvto e˙nergouvsin ai˚ duna¿meiß e˙n aujtwˆ◊.
6:15
6:16
A B2 C1 D
a+ b2 a+ b3
a‡lloi de« e¶legon o¢ti ∆Hli÷aß e˙sti÷n a‡lloi de« e¶legon o¢ti profh/thß wJß ei–ß tw◊n profhtw◊n
a
AaÓkou/saß
de« BoJ ÔHrwˆ¿dhß αe¶legen o§n e˙gw» aÓpekefa¿lisa C∆Iwa¿nnhn, ou∞toß Dhjge÷rqh
Abb. 24c: Mk 6,14 – 16
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 6:14
Und der König Herodes hörte es – sein Name war nämlich offenbar geworden.
6:15
Und man sagte: Johannes der Täufer ist auferstanden von den Toten! Und: Deshalb wirken solche Wunderkräfte in ihm. Andere aber sagten: Er ist Elia! Andere aber sagten: Ein Prophet wie einer der Propheten!
6:16
Als Herodes das hörte, sagte er: Der, den ich enthauptet habe, Johannes, der ist auferstanden! Übersetzung zu Abb. 24c
377
378
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 6:16
5 4
6:17
54
aÓkou/saß
de« oJ ÔHrwˆ¿dhß e¶legen o§n e˙gw» aÓpekefa¿lisa ΔIwa¿nnhn, ou∞toß hjge÷rqh
aujto\ß ga»r oJ ÔHrwˆ¿dhß aÓpostei÷laß e˙kra¿thsen to\n ΔIwa¿nnhn kai« e¶dhsen aujto\n e˙n fulakhØv dia» ÔHrwˆdia¿da th\n gunai√ka Fili÷ppou touv aÓdelfouv aujtouv o¢ti aujth\n e˙ga¿mhsen
45
45
6:18
45 5
5
6:19
4
hJ de« ÔHrwˆdia»ß e˙nei√cen aujtwˆ◊ g kai« h¡qelen aujto\n aÓpoktei√nai g kai« oujk hjdu/nato
6:20
54
oJ ga»r ÔHrwˆ¿dhß e˙fobei√to to\n ΔIwa¿nnhn, ei˙dw»ß aujto\n a‡ndra di÷kaion kai« a‚gion d1 kai« suneth/rei aujto/n, d2 kai« aÓkou/saß aujtouv polla» hjpo/rei d3 kai« hJde÷wß aujtouv h¡kouen
e¶legen ga»r oJ ΔIwa¿nnhß twˆ◊ ÔHrwˆ¿dhØ o¢ti oujk e¶xesti÷n soi e¶cein th\n gunai√ka touv aÓdelfouv sou
6:21
6:22
kai« genome÷nhß hJme÷raß eujkai÷rou o¢te ÔHrwˆ¿dhß toi√ß genesi÷oiß aujtouv dei√pnon e˙poi÷hsen e1 toi√ß megista◊sin aujtouv e2 kai« toi√ß cilia¿rcoiß e3 kai« toi√ß prw¿toiß thvß Galilai÷aß
5
44
5
e1-3
45
6:23
4$ 6:24
6
$ $
45 6:25
4 45
6:26
4
6:27
4
6:28
6:29
5 56
$
z1 kai« ei˙selqou/shß thvß qugatro\ß aujthvß thvß* ÔHrwˆdia¿doß z2 kai« ojrchsame÷nhß h¡resen* twˆ◊ ÔHrwˆ¿dhØ kai« 3toi√ß sunanakeime÷noiß oJ
basileu\ß de« ei•pen* twˆ◊ korasi÷wˆ ai¶thso/n me o§ e˙a»n qe÷lhØß kai« dw¿sw soi
kai« w‡mosen aujthØv polla»* o¢ ti e˙a¿n me ai˙th/shØß dw¿sw soi eºwß hJ mi÷souß thvß basilei÷aß mou kai« e˙xelqouvsa ei•pen thØv mhtri« aujthvß ti÷ ai˙th/swmai hJ de« ei•pen th\n kefalh\n ΔIwa¿nnou touv bapti÷zontoß
kai« ei˙selqouvsa eujqu\ß meta» spoudhvß pro\ß to\n basile÷a hØjth/sato le÷gousa qe÷lw $ iºna e˙xauthvß dwˆ◊ß moi e˙pi« pi÷naki th\n kefalh\n ΔIwa¿nnou touv baptistouv
$
kai« peri÷lupoß geno/menoß oJ basileu\ß dia» tou\ß o¢rkouß kai« tou\ß aÓnakeime÷nouß oujk hjqe÷lhsen aÓqethvsai aujth/n kai« eujqu\ß aÓpostei÷laß oJ basileu\ß spekoula¿tora e˙pe÷taxen e˙ne÷gkai th\n kefalh\n aujtouv
$ $
h1 h2 h3 h4
$
kai« aÓkou/santeß oi˚ maqhtai« aujtouv q1 h™lqon q2 kai« h™ran to\ ptw◊ma aujtouv q3 kai« e¶qhkan aujto\ e˙n mnhmei÷wˆ
e1–3
kai« kai« kai« kai«
aÓpelqw»n aÓpekefa¿lisen
aujto\n e˙n thØv fulakhØv h¡negken th\n kefalh\n aujtouv e˙pi« pi÷naki e¶dwken aujth\n twˆ◊ korasi÷wˆ to\ kora¿sion e¶dwken aujth\n thØv mhtri« aujthvß
Abb. 24d: Mk 6,16 – 29
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
379
6:16 6:17 6:18 6:19 6:20
Als Herodes das hörte, sagte er: Der, den ich enthauptet habe, Johannes, der ist auferstanden! Er selbst nämlich, Herodes, sandte nach Johannes aus und ergriff ihn. Und er warf ihn ins Gefängnis wegen der Herodias, der Frau seines Bruders Philippus, denn er hatte sie geheiratet. Johannes sagte nämlich zu ihm: Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben. Herodias aber hegte einen Groll gegen ihn. Und sie wollte ihn töten. Und sie konnte es nicht. Herodes aber fürchtete Johannes, weil er wusste, dass er ein gerechter und heiliger Mann war. Und er war besorgt um ihn.158 Und wenn er ihn hörte, geriet er sehr in Verlegenheit. Und er hörte ihn sehr gern.
6:21 6:22 6:23
Und es geschah an einem Tag, der gelegen kam, als Herodes zu seinem Geburtstag ein Festmahl gab für seine Großen und die Heeresführer und die Ersten Galiläas. Und als ihre Tochter – die der Herodias – hereinkam und tanzte . . . sie gefiel dem Herodes und den Tischgenossen! Der König sagte aber zu dem Mädchen: Erbitte von mir, was auch immer du willst, und ich werde es dir geben! Und er gelobte ihr feierlich: Was auch immer du von mir erbittest, werde ich dir geben – bis zur Hälfte meines Königreiches!
6:24 6:25 6:26 6:27 6:28
Und sie ging hinaus und fragte ihre Mutter: Um was soll ich bitten? Sie aber sagte: Um den Kopf des Täufers Johannes! Und sie ging sogleich eilend hinein zum König und bat ihn und sagte: Ich will, dass du mir sofort auf einer Platte den Kopf Johannes’ des Täufers gibst! Und der König wurde traurig. Wegen des Gelöbnisses und wegen der Tischgenossen wollte er es ihr nicht verweigern. Und sogleich sandte der König nach dem Henker aus und befahl ihm, seinen Kopf zu bringen. Und er ging weg und köpfte ihn im Gefängnis. Und er brachte seinen Kopf auf einer Platte. Und er gab ihn dem Mädchen. Und das Mädchen gab ihn seiner Mutter.
6:29
Und als seine Jünger das hörten, kamen sie. Und sie nahmen seinen Leichnam. Und sie legten ihn in ein Grab. Übersetzung zu Abb. 24d
158 Συντηρεῖν ist laut Bauer mit fürsorglicher Konnotation und kann durchaus auch bewa‑ chen heißen, meint dann aber „vor Übel bewahren“ und nicht, dass, wie „in Gewahrsam halten“ (Luther 2017) und „bewachen lassen“ (Zürcher) suggerieren, der Bewachte nichts Böses anrich‑ ten kann oder davonläuft (vgl. Bauer s. v. συντηρέω).
380
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 6:30
A Bvar a b
6:31
c
X 6:32
C
6:33 Avar
kai« Asuna¿gontai Boi˚ aÓpo/stoloi pro\ß to\n ∆Ihsouvn kai« aÓph/ggeilan aujtwˆ◊ a1 pa¿nta o¢sa e˙poi÷hsan a2 kai« o¢sa e˙di÷daxan kai« le÷gei aujtoi√ß deuvte uJmei√ß aujtoi« kat∆i˙di÷an ei˙ß e¶rhmon to/pon kai« aÓnapau/sasqe ojli÷gon
d
h™san ga»r oi˚ e˙rco/menoi kai« oi˚ uJpa¿gonteß polloi÷ kai« oujde« fagei√n eujkai÷roun
e c
Kai« eaÓphvlqon Ce˙n twˆ◊ ploi÷wˆ cei˙ß e¶rhmon to/pon kat∆i˙di÷an
f d a evar
kai« ei•don aujtou\ß uJpa¿gontaß kai« e˙pe÷gnwsan polloi« kai« pezhØv aÓpo\ apasw◊n tw◊n po/lewn Asune÷dramon e˙kei√ kai« prohvlqon aujtou/ß
Abb. 25a: Mk 6,30 – 33
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 6:30 6:31 6:32
Und die Ausgesandten kamen bei Jesus zusammen. Und sie berichteten ihm alles, was sie getan hatten und was sie gelehrt hatten. Und er sagte ihnen: Auf geht’s! Ihr selbst, nur für Euch, an einen einsamen Ort! Und ruht euch ein bisschen aus! Es waren nämlich viele, die kamen und gingen. Und sie hatten nicht einmal Zeit zu essen. Und sie gingen im Boot weg an einen einsamen Ort, nur für sich.
6:33
Und sie sahen sie weggehen. Und viele erkannten sie. Und sie liefen dort zu Fuß aus allen Städten zusammen. Und sie gingen ihnen voraus. Übersetzung zu Abb. 25a
381
382
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
6:34
D
e f d b d
6:35
6:36
B
E
g d evar cg d
kai« e˙xelqw»n fei•den dpolu\n Do¡clon kai« e˙splagcni÷sqh e˙p∆ aujtou/ß, o¢ti h™san wJß pro/bata mh\ e¶conta poime÷na, kai« h¡rxato bdida¿skein aujtou\ß dpolla¿ gkai« h¡dh w‚raß dpollhvß genome÷nhß eproselqo/nteß aujtwˆ◊ Boi˚ maqhtai« aujtouv e¶legon o¢ti e¶rhmo/ß e˙stin oJ to/poß gkai« h¡dh w‚ra dpollh/ aÓpo/luson aujtou/ß
X
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oJ de« aÓpokriqei«ß ei•pen aujtoi√ß do/te aujtoi√ß uJmei√ß fagei√n
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kai« le÷gousin aujtwˆ◊ aÓpelqo/nteß aÓgora¿swmen dhnari÷wn jdiakosi÷wn ka‡rtouß kai« dw¿somen aujtoi√ß fagei√n
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oJ de« le÷gei aujtoi√ß jpo/souß ka‡rtouß e¶cete uJpa¿gete i¶dete.
j j kvar
kai« gno/nteß le÷gousin pe÷nte kai« jdu/o ki˙cqu/aß
6:37
6:38
6:39
iºna aÓpelqo/nteß ei˙ß tou\ß ku/klwˆ aÓgrou\ß kai« kw¿maß aÓgora¿swsin e˚autoi√ß ti÷ fa¿gwsin
l a
kai« e˙pe÷taxen aujtoi√ß laÓnakli√nai apa¿ntaß sumpo/sia sumpo/sia aa bb e˙pi« twˆ◊ clwrwˆ◊ co/rtwˆ
6:40
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6:43 6:44
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6:45
B C E D
kai« aÓne÷pesan prasiai« prasiai« kata» je˚kato\n kai« kata» jpenth/konta
kai« kate÷klasen tou\ß a‡rtouß kai« ie˙di÷dou Btoi√ß maqhtai√ß aujtouv* iºna paratiqw◊sin aujtoi√ß kai« tou\ß jdu/o ki˙cqu/aß e˙me÷risen apa◊sin
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kai« Xe¶fagon apa¿nteß kai« e˙corta¿sqhsan
j kvar k j
kai« h™ran kla¿smata jdw¿deka kofi÷nwn plhrw¿mata kai« aÓpo\ ktw◊n i˙cqu/wn kai« h™san Xoi˚ fago/nteß ktou\ß a‡rtouß* jpentakisci÷lioi a‡ndreß
evar
kai« eujqu\ß hjna¿gkasen tou\ß maqhta»ß aujtouv e˙mbhvnai ei˙ß to\ ploi√on kai« proa¿gein ei˙ß to\ pe÷ran pro\ß Bhqsaiœda¿n eºwß aujto\ß EaÓpolu/ei Dto\n o¡clon
Abb. 25b: Mk 6,34 – 45
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
6:34
Und als er ausstieg, sah er viele Leute. Und er hatte Mitleid mit ihnen, den sie waren wie Schafe, die keinen Hirten hatten. Und er fing an, sie viel zu lehren.
6:35
Und als es schon spät war, kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist öde und es ist schon spät.
6:36
Schick sie weg, damit sie auf die Felder und in die Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen!
6:37
Er aber antwortete und sagte: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sagten zu ihm: Sollen wir für zweihundert Denare Brot kaufen gehen und ihnen zu essen geben?
6:38
Er aber sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht hin, seht nach! Und als sie es wussten, sagten sie: Fünf. Und zwei Fische!
6:39 6:40
Und er befahl ihnen, dass sich alle niederließen, Gastmähler um Gastmähler, auf dem grünen Kraut. Und sie legten sich zu Tisch, Lauchbeete um Lauchbeete, zu hundertst und zu fünfzigst.
6:41 6:42
Und er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah zum Himmel auf und er segnete sie. Und er brach die Brote auseinander. Und er gab sie seinen Jüngern, damit sie sie austeilten. Und die zwei Fische verteilte er unter allen. Und alle aßen und wurden satt.
6:43 6:44
Und sie hoben die Brocken auf – volle zwölf Körbe! – und von den Fischen. Und es waren fünftausend Männer, die die Brote gegessen hatten.
6:45
Und sogleich drängte er seine Jünger, ins Boot einzusteigen und zum jenseitigen Ufer nach Betsaida vorauszufahren, bis er die Leute weggeschickt habe. Übersetzung zu Abb. 25b
383
384
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 6:45
6:46
6:47
6:48
kai« eujqu\ß hjna¿gkasen tou\ß maqhta»ß aujtouv e˙mbhvnai ei˙ß to\ ploi√on kai« proa¿gein Bei˙ß to\ pe÷ran Cpro\ß Bhqsaiœda¿n eºwß aujto\ß aÓpolu/ei to\n o¡clon
A B C
A- D
E
a
kai« aÓpotaxa¿menoß aujtoi√ß aÓphvlqen ei˙ß to\ o¡roß proseu/xasqai
[c]
kai« ojyi÷aß genome÷nhß h™n Ato\ ploi√on e˙n me÷swˆthvß cqala¿sshß kai« aujto\ß mo/noß e˙pi« thvß ghvß
b a+ c a+
6:49
b
oi˚ de« i˙do/nteß aujto\n e˙pi« thvß qala¿sshß peripatouvnta e¶doxan o¢ti fa¿ntasma¿ e˙stin kai« aÓne÷kraxan pa¿nteß ga»r aujto\n ei•don
c x
6:50
kai« i˙dw»n aujtou\ß basanizome÷nouß e˙n twˆ◊ e˙lau/nein h™n ga»r oJ a‡nemoß e˙nanti÷oß aujtoi√ß peri« teta¿rthn fulakh\n thvß nukto\ß e¶rcetai pro\ß aujtou\ß peripatw◊n e˙pi« thvß qala¿sshß kai« h¡qelen parelqei√n aujtou/ß
b d
A+ E
B
C
kai« e˙tara¿cqhsan oJ de« eujqu\ß e˙la¿lhsen met∆aujtw◊n kai« le÷gei aujtoi√ß dopp qarsei√te xvar e˙gw¿ ei˙mi dvar/neg mh\ fobei√sqe
6:51
A
kai« aÓne÷bh pro\ß aujtou\ß ei˙ß to\ ploi√on kai« e˙ko/pasen oJ a‡nemoß
C B A
dvar kai« li÷an* e˙n e˚autoi√ß e˙xi÷stanto 6:52
yneg
ouj ga»r sunhvkan e˙pi« toi√ß a‡rtoiß aÓll∆h™n aujtw◊n hJ kardi÷a pepwrwme÷nh
6:53
Bvar D Cvar
kai« Bdiapera¿santeß De˙pi« th\n ghvn h™lqon Cei˙ß Gennhsare«t kai« proswrmi÷sqhsan
6:54
A
kai« e˙xelqo/ntwn aujtw◊n e˙k touv ploi÷ou
6:55
6:56
yvar.pos a a
eujqu\ß e˙pigno/nteß aujto\n perie÷dramon o¢lhn th\n cw¿ran e˙kei÷nhn kai« h¡rxanto e˙pi« toi√ß kraba¿ttoiß tou\ß kakw◊ß e¶contaß perife÷rein
bvar b xvar
b
b
d d
o¢pou bh¡kouon o¢ti e˙sti÷n
kai« o¢pou a·n ei˙seporeu/eto g1 ei˙ß kw¿maß g2 h£ ei˙ß po/leiß g3 h£ ei˙ß aÓgrou/ß e˙n tai√ß aÓgorai√ß e˙ti÷qesan tou\ß aÓsqenouvntaß kai« pareka¿loun aujto\n iºna ka·n touv kraspe÷dou touv i˚mati÷ou aujtouv a‚ywntai kai« o¢soi a·n h¢yanto aujtouv e˙swˆ¿zonto
Abb. 26: Mk 6,45 – 56
B A A
B
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
385
6:45
Und sogleich drängte er seine Jünger, ins Boot einzusteigen und zum jenseitigen Ufer nach Betsaida vorauszufahren, bis er die Leute weggeschickt habe.
6:46 6:47
Und als er sich von ihnen verabschiedet hatte, ging er weg auf den Berg um zu beten. Und als es Abend geworden war, war das Boot in der Mitte des Meeres und er war alleine auf dem Land.
6:48
Und als er sie sah, wie sie sich beim Rudern plagten – der Wind stand ihnen nämlich entgegen –, kam er in der vierten Nachtwache zu ihnen und lief dabei auf dem Meer. Und er wollte an ihnen vorübergehen.
6:49
Als sie ihn aber sahen, wie er auf dem Meer lief, meinten sie, er sei ein Gespenst. Und sie schrien auf.
6:50
Alle nämlich hatten ihn gesehen. Und sie waren erschüttert.
Er aber redete sogleich mit ihnen und sagte zu ihnen: Fasst Mut! Ich bin’s! Fürchtet euch nicht!
6:51
Und er stieg zu ihnen ins Boot. Und der Wind legte sich.
6:52
Und sie gerieten innerlich völlig durcheinander. Sie hatten nämlich die Sache mit den Broten nicht verstanden, sondern ihr Herz war versteinert.
6:53
Und nachdem sie hinübergefahren waren, kamen sie an Land – nach Genezareth. Und sie legten an.
6:54 6:55
Und als sie aus dem Boot ausgestiegen waren, erkannten die dort159 ihn sofort und rannten in jener ganzen Gegend umher. Und sie fingen an, die Kranken auf Liegen herumzutragen, dorthin, wo sie hörten: Da ist er!
6:56
Und wo auch immer er hineinkam in Dörfer oder in Städte oder auf Landgüter, legten sie die Kranken auf die Plätze. Und sie baten ihn, dass sie ihn berühren durften, wenn auch nur den Saum seines Gewandes. Und welche auch immer ihn berührten, wurden gerettet. Übersetzung zu Abb. 26
159 Ausnahmsweise wird hier im Deutschen durch ‚die dort‘ ein Hinweis auf einen Subjekt‑ wechsel (von den Jüngern zu den Leuten in und um Genezareth) gegeben. Im Griechischen ist zwar kein explizites Subjekt zu finden, doch weist der Gen.abs. darauf hin, dass die, die ‚aus dem Boot steigen‘, nicht mit denen, die ‚ihn erkennen‘, identisch sind.
386
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 7:1
A
7:2
B CH
7:3
Avar
7:4
kai« suna¿gontai pro\ß aujto\n oi˚ Farisai√oi kai÷ tineß tw◊n grammate÷wn e˙lqo/nteß aÓpo\ ÔIerosolu/mwn kai« i˙do/nteß tina»ß tw◊n maqhtw◊n aujtouv o¢ti Ckoinai√ß acersi÷n, touvt∆e¶stin baÓni÷ptoiß ce˙sqi÷ousin dtou\ß a‡rtouß
a bneg c d
oi˚ ga»r Farisai√oi kai« pa¿nteß oi˚∆ Ioudai√oi b a a ae˙a»n mh\ pugmhØv bni÷ywntai ata»ß cei√raß cneg oujk e˙sqi÷ousin ekratouvnteß fth\n para¿dosin gtw◊n presbute÷rwn e f g
B
kai« aÓp∆aÓgora◊ß bvar a ae˙a»n mh\ bbapti÷swntai neg c oujk e˙sqi÷ousin fvar e kai« a‡lla polla¿ e˙stin fa± pare÷labon ekratei√n
B
bvar
7:5
A B CH
f g a c d
D
ivar
baptismou\ß bb1 pothri÷wn bb2 kai« calki÷wn
kai« xestw◊n kai« klinw◊n*
kai« e˙perwtw◊sin aujto\n oi˚ Farisai√oi kai« oi˚ grammatei√ß dia» ti÷ ouj peripatouvsin oi˚ maqhtai÷ sou fkata» th\n para¿dosin gtw◊n presbute÷rwn aÓlla» Ckoinai√ß acersi«n ce˙sqi÷ousin dto\n a‡rton
7:6
g gkalw◊ß e˙profh/teusen D∆HsaiŒaß iperi« uJmw◊n tw◊n uJpokritw◊n wJß ge÷graptai o¢ti*
j k
ou∞toß oJ lao\ß toi√ß cei÷lesi÷n me timaˆ◊ hJ de« kardi÷a aujtw◊n po/rrw aÓpe÷cei aÓp∆e˙mouv ma¿thn de« se÷bontai÷ me edida¿skonteß didaskali÷aß f e˙nta¿lmata iaÓnqrw¿pwn
evar fvar i
7:8
eopp fvar iopp e f i
7:9
eaÓfe÷nteß fth\n ekratei√te fth\n
e˙ntolh\n itouv qeouv para¿dosin itw◊n aÓnqrw¿pwn
kai« e¶legen aujtoi√ß eopp.var fvar iopp g gkalw◊ß eaÓqetei√te fth\n e˙ntolh\n itouv qeouv, f ivar evar iºna fth\n para¿dosin iuJmw◊n esth/shte D
jti÷ma lto\n
pate÷ra sou kai« lth\n mhte÷ra sou
kai÷
7:11
jopp l lvar ivar
D
joJ
kakologw◊n lpate÷ra h£ lmhte÷ra qana¿twˆ teleuta¿tw
uJmei√ß de« le÷gete
l lvar
7:12 7:13
C
Mwu¨shvß ga»r ei•pen j l lvar
A
oJ de« ei•pen aujtoi√ß
7:7
7:10
A
e˙a»n ei¶phØ a‡nqrwpoß ltwˆ◊ patri« h£ lthØv mhtri÷ korba◊n o¢ e˙stin dw◊ron o§ e˙a»n e˙x e˙mouv wÓfelhqhØvß oujke÷ti aÓfi÷ete aujto\n oujde«n poihvsai ltwˆ◊ patri« h£ lthØv mhtri÷
l lvar eopp.var fvar iopp f ivar f var
eaÓkurouvnteß fto\n fthØv
lo/gon itouv qeouv parado/sei iuJmw◊n fhØ∞ paredw¿kate
kai« paro/moia toiauvta polla» poiei√te
Abb. 27a: Mk 7,1 – 13
D
C
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
387
7:1
Und es versammeln sich die Pharisäer und ein paar von den Schriftgelehrten, die von Jerusalem kamen, bei ihm.
7:2
Und als sie ein paar von seinen Jüngern sahen, wie sie mit unreinen – das heißt mit ungewaschenen – Händen die Brote aßen . . .
7:3 7:4
– die Pharisäer nämlich und alle Juden, wenn sie sich nicht die Hände mit einer Handvoll Wasser gewaschen haben, essen nicht und klammern sich so an die „Überlieferung der Ältesten“. Und vom Markt zurück – wenn sie sich nicht gewaschen haben, essen sie nicht. Und es gibt vieles andere, das sie übernommen haben und sich daran klammern: Waschungen von Bechern und Krügen und Kesseln und Bänken.
7:5
Und es fragten ihn die Pharisäer und die Schriftgelehrten: Warum leben deine Jünger nicht nach der Überlieferung der Ältesten, sondern essen mit unreinen Händen das Brot?
7:6
Er aber sagte zu ihnen: Trefflich hat Jesaja über euch Heuchler geweissagt! Wie geschrieben steht: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz aber halten sie fern von mir!
7:7 7:8
Vergeblich dienen sie mir, indem sie Gebote der Menschen als Lehren lehren.“ Ihr habt das Gebot Gottes verlassen und klammert euch an die „Überlieferung“ der Menschen!
7:9
Und er sagte zu ihnen: Trefflich hebt ihr das Gebot Gottes auf, damit ihr eure „Überlieferung“ aufrichtet!
7:10
Mose sagte nämlich: Ehre deinen Vater und deine Mutter. Und: Wer Vater oder Mutter schlechtredet, der soll den Tod sterben.
7:11 7:12
Ihr aber sagt: Wenn ein Mensch zu Vater oder Mutter „Korban“ sagt – das heißt: „Opfergabe sei, was auch immer dir von mir zustünde“, so lasst ihr ihn gar nichts mehr für den Vater oder die Mutter tun,
7:13
so dass ihr das Wort Gottes ungültig macht durch eure „Überlieferung“, die ihr „überliefert“ habt.
Und so manche solche Sachen macht ihr! Übersetzung zu Abb. 27a
388
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 7:14
E
kai« proskalesa¿menoß pa¿lin to\n o¡clon e¶legen aujtoi√ß m mvar
7:15
CM CM
7:17
n i nopp nopp
oujde÷n e˙stin ne¶xwqen itouv aÓnqrw¿pou nei˙sporeuo/menon ei˙ß aujto\n d o§ du/natai Ckoinw◊sai aujto/n
n i n i
aÓlla» ta» ne˙k itouv aÓnqrw¿pou ene˙kporeuo/mena¿ e˙stin Cta» koinouvnta ito\n a‡nqrwpon
F E
kai« o¢te Fei˙shvlqen ei˙ß oi•kon EaÓpo\ touv o¡clou
B
e˙phrw¿twn aujto\n oi˚ maqhtai« aujtouv th\n parabolh/n
7:18
CM
nopp nopp k nopp nopp n
o¢ti opa◊n nto\ e¶xwqen nei˙sporeuo/menon nei˙ß ito\n a‡nqrwpon d ouj du/natai aujto\n Ckoinw◊sai o¢ti oujk nei˙sporeu/etai aujtouv nei˙ß kth\n kardi÷an aÓll∆nei˙ß th\n koili÷an kai« nei˙ß to\n aÓfedrw◊na ne˙kporeu/etai
e¶legen de« CM
n i n i
o¢ti to\ ne˙k itouv aÓnqrw¿pou ne˙kporeuo/menon e˙kei√no Ckoinoi√ ito\n a‡nqrwpon
nopp n k i p n
poi˚
7:24
Fvar
a pa¿nt ri÷zwn kaqa w¿mata ta» br
ga»r ne˙k kthvß kardi÷aß itw◊n aÓnqrw¿pwn dialogismoi« oi˚ kakoi« ne˙kporeu/ontai,
eee1 eee2 eee3 eee4 CM
F
ne¶swqen
7:22 7:23
F’
E
ou¢twß kai« uJmei√ß aÓsu/netoi÷ e˙ste ouj noei√te
o n nopp nopp i
7:20
7:21
F
kai« le÷gei aujtoi√ß mneg mvar.neg
7:19
E
aÓkou/sate÷ mou pa¿nteß kai« su/nete
o pvar nopp n i
pornei√ai klopai÷ fo/noi moicei√ai pleonexi÷ai ponhri÷ai do/loß aÓse÷lgeia ojfqalmo\ß ponhro/ß blasfhmi÷a uJperhfani÷a aÓfrosu/nh
opa¿nta ptauvta
ta» ponhra» ne¶swqen ne˙kporeu/etai kai« Ckoinoi√ ito\n a‡nqrwpon
e˙kei√qen de« aÓnasta»ß aÓphvlqen ei˙ß ta» o¢ria Tu/rou
CH = unreine Hände CM = was den Menschen unrein macht
Abb. 27b: Mk 7,14 – 24a
F’
389
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 7:14 7:15
Und wieder einmal rief er die Leute zusammen und sagte zu ihnen: Hört mir alle zu und versteht! Es gibt nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineingeht, das ihn verunreinigen kann, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist das, was den Menschen verunreinigt.
7:17
Und als er in ein Haus hineinging, weg von den Leuten, fragten ihn seine Jünger nach dem Gleichnis.
7:18 7:19
Und er sagte zu ihnen: So seid also auch ihr unverständig? Begreift ihr’s nicht: Alles, was von außen hineingeht in den Menschen, kann ihn nicht verunreinigen, denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht in die Latrine hinaus.
7:20 7:21 7:22 7:23
Er sagte aber: Das, was aus dem Menschen herauskommt, jenes verunreinigt den Menschen! Von innen nämlich, aus dem Herzen der Menschen, kommen die schlechten Gedanken heraus – Huren, Klauen, Töten, Ehebrechen, Gieren, Bösesein, Betrug, Exzesse, böser Blick, Lästerung, Hochmut, Torheit. Alle diese Bosheiten kommen von innen heraus und verunreinigen den Menschen.
7:24a
Er stand aber auf und ging von dort weg in die Gegend von Tyrus.
Übersetzung zu Abb. 27b
n! rt alle erklä en für rei Speis
390
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 7:24
e˙kei√qen de« aÓnasta»ß A B
AaÓphvlqen Bei˙ß
A C
kai« Aei˙selqw»n Cei˙ß oi˙ki÷an oujde÷na h¡qelen gnw◊nai kai« oujk hjdunh/qh laqei√n aÓll∆eujqu\ß aÓkou/sasa gunh\ peri« aujtouv
7:25 A
a b c
h∞ß aei•cen bto\ quga¿trion aujthvß cpneuvma aÓka¿qarton e˙lqouvsa prose÷pesen pro\ß tou\ß po/daß aujtouv
7:26
a hJ de« gunh\ h™n b1 ÔEllhni÷ß b2 Surofoini÷kissa twˆ◊ ge÷nei cvar aopp b
7:27
7:28
a hJ de« aÓpekri÷qh kai« le÷gei aujtwˆ◊ X f dvar evar bvar
7:29
7:31
kai« hjrw¿ta aujto\n iºna cto\ daimo/nion ae˙kba¿lhØ be˙k thvß qugatro\ß aujthvß kai« e¶legen aujthØv a‡feß prw◊ton dcortasqhvnai bta» te÷kna ouj ga¿r e˙stin kalo\n labei√n eto\n a‡rton btw◊n te÷knwn kai« toi√ß kunari÷oiß balei√n
d bvar e bvar f
7:30
ta» o¢ria Tu/rou
ku/rie kai« ta» kuna¿ria uJpoka¿tw thvß trape÷zhß e˙sqi÷ousin eaÓpo\ tw◊n yici÷wn btw◊n paidi÷wn kai« ei•pen aujthØv dia» touvton to\n lo/gon u¢page
aopp.var b cvar
ae˙xelh/luqen be˙k
bvar cvar aopp.var
eu∞ren bto\ paidi÷on beblhme÷non e˙pi« th\n kli÷nhn kai« cto\ daimo/nion ae˙xelhluqo/ß
A C
A B
thvß qugatro/ß sou cto\ daimo/nion
kai« AaÓpelqouvsa Cei˙ß to\n oi•kon aujthvß
kai« pa¿lin Ae˙xelqw»n Be˙k tw◊n oJri÷wn Tu/rou …
Abb. 28: Mk 7,24 – 31a
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 7:24
Er stand aber auf und ging von dort weg in die Gegend von Tyrus.
Und er ging in ein Haus und wollte nicht, dass es irgendjemand erfahre. Und es konnte nicht verborgen bleiben,
7:25 7:26
sondern sogleich hörte eine Frau von ihm, deren Töchterlein einen unreinen Geist hatte, kam und fiel vor seinen Füßen nieder. Die Frau aber war Griechin, Syrophönizierin von Geschlecht. Und sie bat ihn, dass er den Dämon aus ihrer Tochter austreibe.
7:27
Und er sagte zu ihr: Lass zuerst die Kinder satt werden! Es ist nämlich nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es vor die Hunde zu werfen.
7:28
Sie aber antwortete und sagte zu ihm: Herr, auch die Hunde unter dem Tisch essen von den Brosamen der Kinder.
7:29
Und er sagte zu ihr: Wegen dieses Wortes: Geh hin! Der Dämon ist aus deiner Tochter herausgegangen.
7:30
Und sie ging weg in ihr Haus und stellte fest: das Kind lag auf dem Bett und der Dämon war herausgegangen.
7:31a
Und er ging wieder weg aus der Gegend von Tyrus. Übersetzung zu Abb. 28
391
392
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 7:31
A Avar Avar Avar
kai« pa¿lin e˙xelqw»n e˙k tw◊n oJri÷wn Tu/rou h™lqen dia» Sidw◊noß ei˙ß th\n qa¿lassan thvß Galilai÷aß aÓna» me÷son tw◊n oJri÷wn Dekapo/lewß
7:32
aneg bneg
kai« fe÷rousin aujtwˆ◊ akwfo\n kai« bmogila¿lon kai« parakalouvsin aujto\n iºna e˙piqhØv aujtwˆ◊ th\n cei√ra kai« aÓpolabo/menoß aujto\n aÓpo\ touv o¡clou kat∆i˙di÷an
7:33 a b 7:34
7:35
e¶balen tou\ß daktu/louß aujtouv ei˙ß ta» w°ta aujtouv kai« ptu/saß h¢yato thvß glw¿sshß aujtouv kai« aÓnable÷yaß ei˙ß to\n oujrano\n e˙ste÷naxen kai« le÷gei aujtwˆ◊ effaqa a o¢ e˙stin adianoi÷cqhti
apos b bpos
a kai«* ahjnoi÷ghsan aujtouv aai˚ aÓkoai÷ kai« e˙lu/qh oJ desmo\ß thvß glw¿sshß aujtouv kai« e˙la¿lei ojrqw◊ß
7:36
c kai« diestei÷lato aujtoi√ß d iºna mhdeni« le÷gwsin c o¢son de« aujtoi√ß dieste÷lleto dopp b aujtoi« ma◊llon bperisso/teron e˙kh/russon
7:37
b kai« buJperperissw◊ß e˙xeplh/ssonto le÷gonteß g kalw◊ß pa¿nta gpepoi÷hken aneg apos bneg bpos
g kai« tou\ß akwfou\ß gpoiei√ aaÓkou/ein kai« baÓla¿louß* blalei√n
Abb. 29: Mk 7,31 – 37
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 7:31
Und er ging wieder weg aus der Gegend von Tyrus und kam via Sidon zum Galiläischen Meer, mitten hinein in die Gegend der Dekapolis.
7:32 7:33 7:34 7:35
Und sie brachten einen zu ihm, der taub war und undeutlich redete. Und sie baten ihn, dass er ihm die Hände auflege. Und er nahm ihn beiseite, weg von den Leuten, und legte, als sie alleine waren, seine Finger in seine Ohren und berührte mit Speichel seine Zunge. Und er sah zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata, das heißt: Sei aufgetan! Und sein Gehör tat sich auf und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst und er redete richtig.
7:36
Und er befahl ihnen, dass sie es niemandem sagen sollen. Aber je eindringlicher er ihnen befahl, desto mehr, ja geradezu ausufernd verkündigten sie.
7:37
Und sie waren völlig aus dem Häuschen und sagten: Gut hat er alles gemacht! Und: Er macht, dass die Tauben hören und die Sprachlosen sprechen!
Übersetzung zu Abb. 29
393
394
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 8:1
A B
8:2
8:3
a bvar c dneg e
e˙n e˙kei÷naiß tai√ß hJme÷raiß pa¿lin Abpollouv co¡clou Bo¡ntoß kai« dmh\ e˙co/ntwn ti÷ efa¿gwsin
f
proskalesa¿menoß tou\ß maqhta»ß aujtouv* le÷gei aujtoi√ß splagcni÷zomai e˙pi« to\n o¡clon o¢ti h¡dh ahJme÷rai btrei√ß prosme÷nousi÷n moi kai« doujk e¶cousin ti÷ efa¿gwsin
c a b dneg e C
kai« e˙a»n aÓpolu/sw aujtou\ß nh/steiß ei˙ß oi•kon aujtw◊n e˙kluqh/sontai e˙n thØv oJdwˆ◊ kai÷ tineß aujtw◊n aÓpo\ makro/qen h¢kasin
8:4
f
8:5
8:6
evar g
kai« aÓpekri÷qhsan aujtwˆ◊ oi˚ maqhtai« aujtouv o¢ti po/qen tou/touß dunh/setai÷ tiß w—de ecorta¿sai ga‡rtwn e˙p∆e˙rhmi÷aß
bvar d g
kai« hjrw¿ta aujtou/ß bpo/souß de¶cete ga‡rtouß
b
oi˚ de« ei•pan e˚pta¿
c
kai« paragge÷llei twˆ◊ o¡clwˆ aÓnapesei√n e˙pi« thvß ghvß b g h f i i
c 8:7
d gvar bvar.oppkai« dei•con gi˙cqu/dia bojli÷ga hvar kai« eujlogh/saß aujta» ei•pen i kai« tauvta paratiqe÷nai
8:8 8:9
kai« labw»n tou\ß be˚pta» ga‡rtouß eujcaristh/saß e¶klasen kai« e˙di÷dou toi√ß maqhtai√ß aujtouv iºna paratiqw◊sin kai« ipare÷qhkan ctwˆ◊ o¡clwˆ
B Avar C
e evar gvar b b
kai« e¶fagon kai« e˙corta¿sqhsan kai« h™ran perisseu/mata gklasma¿twn be˚pta» spuri÷daß Bh™san de« wJß Abtetrakisci÷lioi kai« aÓpe÷lusen aujtou/ß
Abb. 30: Mk 8,1 – 9
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a 8:1
Als in jenen Tagen wieder viele Leute da waren und nichts zu essen hatten,
8:2
rief er seine Jünger zusammen und sagte zu ihnen: Ich habe Mitleid mit den Leuten, denn sie sind schon seit drei Tagen bei mir und sie haben nichts zu essen.
8:3
Und wenn ich sie mit leerem Magen nach Hause schicke, werden sie auf dem Weg zusammenbrechen. Und einige von ihnen sind von weit her!
8:4
Und seine Jünger antworteten ihm: Woher könnte irgendjemand diese hier in der Einöde mit Brot satt machen?
8:5
Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr?
Sie aber sagten: Sieben.
8:6
Und er forderte die Leute auf, sich auf der Erde niederzulassen. Und er nahm die sieben Brote, sprach das Dankgebet und brach sie. Und er gab sie seinen Jüngern, damit sie sie austeilten. Und sie teilten sie unter den Leuten aus.
8:7
Und sie hatten ein paar Fischlein. Und er segnete sie und sagte, auch sie sollten verteilt werden.
8:8 8:9
Und sie aßen und wurden satt. Und sie hoben die Überreste der Brocken auf, sieben Zainen voll. Es waren aber um die Viertausend.
Und er schickte sie weg. Übersetzung zu Abb. 30
395
396
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a 8:10
D E F G
f
8:11
F
j kvar k l
8:12 m k l m l 8:13
8:14 8:15
8:16 8:17
kai« Fe˙xhvlqon joi˚ Farisai√oi kai« h¡rxanto suzhtei√n aujtwˆ◊ par∆aujtouv lshmei√on aÓpo\ touv oujranouv peira¿zonteß aujto/n kzhtouvnteß
kai« aÓnastena¿xaß twˆ◊ pneu/mati aujtouv le÷gei: ti÷ mhJ genea» au¢th kzhtei√ lshmei√on aÓmh\n le÷gw uJmi√n ei˙ doqh/setai mthØv geneaˆ◊ tau/thØ lshmei√on kai« aÓfei«ß aujtou\ß pa¿lin e˙mba»ß FaÓphvlqen Gei˙ß to\ pe÷ran
D F Gvar
E
kai« eujqu\ß De˙mba»ß Eei˙ß to\ ploi√on fmeta» tw◊n maqhtw◊n aujtouv ta» me÷rh Dalmanouqa¿
Fh™lqen Gei˙ß
e kai« e˙pela¿qonto labei√n a‡rtouß b g dneg kai« ei˙mh\ beºna ga‡rton doujk ei•con meq∆e˚autw◊n Ee˙n twˆ◊ ploi÷wˆ n1var n1 gvar j gvar jvar
kai« dieste÷lleto aujtoi√ß le÷gwn oJra◊te, ble÷pete aÓpo\ gthvß zu/mhß jtw◊n Farisai÷wn kai« gthvß zu/mhß jÔHrwˆ¿dou
o g dneg
kai« dielogi÷zonto pro\ß aÓllh/louß o¢ti ga‡rtouß doujk e¶cousin
n
kai« gnou\ß le÷gei aujtoi√ß ti÷ dialogi÷zesqe o¢ti ga‡rtouß doujk e¶cete
o g dneg nneg.var nneg.var
ou¡pw noei√te oujde« suni÷ete
d
pepwrwme÷nhn e¶cete th\n kardi÷an uJmw◊n
8:18
n1var d n1neg n2var d n2neg
nojfqalmou\ß de¶conteß ouj ble÷pete kai« nw°ta de¶conteß oujk aÓkou/ete
8:19
b g b bvar gvar
o¢te tou\ß bpe÷nte ga‡rtouß e¶klasa ei˙ß tou\ß bpentakiscili÷ouß bpo/souß kofi÷nouß gklasma¿twn plh/reiß h¡rate
kai« ouj mnhmoneu/ete
p b 8:20
b b bvar gvar
8:21
8:22
F Gvar
le÷gousin aujtwˆ◊ dw¿deka o¢te tou\ß be˚pta» ei˙ß tou\ß btetrakiscili÷ouß, bpo/swn spuri÷dwn plhrw¿mata gklasma¿twn h¡rate
p b
kai« le÷gousin aujtwˆ◊* e˚pta¿
nneg.var
kai« e¶legen aujtoi√ß ou¡pw suni÷ete kai« Fe¶rcontai Gei˙ß Bhqsaiœda¿n
Abb. 31: Mk 8,10 – 22a
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
397
8:10
Und sogleich stieg er mit seinen Jüngern ins Boot und kam in die Gegend von Dalmanuta.
8:11
Und die Pharisäer kamen heraus. Und sie begannen mit ihm zu streiten und verlangten von ihm ein Zeichen vom Himmel, um ihn zu versuchen.
8:12
Und er seufzte in seinem Geist auf und sagte: Warum verlangt dieses Geschlecht ein Zeichen? Amen, ich sage euch: Diesem Geschlecht wird kein Zeichen gegeben werden!
8:13
Und er ließ sie zurück, stieg abermals ein und fuhr weg zum jenseitigen Ufer.
8:14 8:15
Und sie hatten vergessen, Brote mitzunehmen. Und sie hatten – abgesehen von einem einzigen – kein Brot mit sich im Boot. Und er gebot ihnen: Schaut, seht euch vor vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes!
8:16
Und sie machten sich miteinander Gedanken darüber, dass sie keine Brote hatten.
8:17
Und er nahm das wahr und sagte zu ihnen: Warum macht ihr euch Gedanken darüber, dass ihr keine Brote habt?
8:18
Begreift ihr immer noch nicht und versteht nicht? Habt ihr ein versteinertes Herz? Ihr habt Augen – und seht nicht? Und ihr habt Ohren – und hört nicht?
Und erinnert ihr euch nicht?
8:19
Als ich die fünf Brote brach für die fünftausend: Wie viele Körbe voll mit Brocken habt ihr aufgehoben?
Sie sagten zu ihm: Zwölf.
8:20
Als die sieben für die viertausend: Wie viele Zainen voller Brocken habt ihr aufgehoben?
Und sie sagten zu ihm: Sieben.
8:21
Und er sagte zu ihnen: Versteht ihr immer noch nicht?
8:22a
Und sie kamen nach Betsaida. Übersetzung zu Abb. 31
398
Kapitel IV: Die Fortführung der großen Linien in 4,35 – 8,22a
Textkritik zu 4,35 – 8,22a 5,21 ἐν τῷ πλοίῳ fehlt in D, Θ, f1, 28, 565, 700, 2542, it, sys; daher in NA28 in Klammern. Es ist aber so gut und in verschiedenen Textclustern bezeugt, dass ich es aufgenommen habe. Inhalt‑ lich ist es eigentlich überflüssig; daher ist es plausibel, eine sekundäre Streichung anzunehmen. 5,22 ἰδού wurde nicht in NA28 aufgenommen. Hier sind zwei Texttraditionen zu erkennen (mit und ohne ἰδού), die beide früh und breit bezeugt sind. Für die kürzere Variante spricht eine qualitativ bessere und breitere Bezeugung (in der alexandrinischen Textfamilie und in D, dazu in frühen Übersetzungen), für die längere vor allem die älteste Bezeugung (in 𝔓45), die durch viele weitere Mischtexte (C, W, f1 / 13, 28, 565, 700, 1241, 2542) und die ägyptische Texttradition (33, 579) gestützt wird, aber durch keine alexandrinischen Textzeugen. Innere Kriterien erlau‑ ben kaum eine Entscheidung; die Regel Lectio brevior potior spricht für die kürzere Variante, genauso gut ist aber eine sekundäre Streichung des (inhaltlich überflüssigen) ἰδού denkbar. Meine Entscheidung ist v. a. durch den Umstand motiviert, dass kurz darauf ein ebenfalls inhaltlich nicht nötiges ἰδών zu hören ist, das außer in D in allen griechischen Textzeugen zu finden ist.160 5,42 ἐυθύς in NA28 in Klammern. D + Übersetzungen haben stattdessen πάντες, v. a. Mischtexte und Mehrheitstexte haben keines von beiden. εὐθύς ist (allerdings nicht in 𝔓45) am besten bezeugt. 6,1 ℵ hat den Einschnitt vor 6,1; B teilt ein wie hier: 6,1a zur Perikope Jaïrus, 6,1b zur folgen‑ den. W hat einen anderen Text (ohne ἐκεῖθεν καὶ ἔρχεται) und daher den Einschnitt vor 6,1. 6,3 NA28 liest ohne den Artikel (καὶ ἀδελφός). Beide Lesarten sind früh bezeugt (mit Artikel in ℵ, D, L, 892*, einem sahidischen und mehr als 5 bohairischen Manuskripten; ohne Artikel in B, C, Δ, 579, 1241, 1424). Da manche Minuskeln (565, 700, 892c, zudem die Vulgata und einige altlateinische Zeugen) ὁ ἀδελφός lesen, scheint es mir plausibel, καὶ ὁ ἀδελφός als Ausgangsles‑ art für die beiden kürzeren Varianten zu postulieren. Das mehrheitlich bezeugte ἀδελφὸς δέ ist unabhängig davon und vermutlich erst später (früheste Zeugen A und W) entstanden. 6,22a NA28 liest statt αὐτῆς τῆς (in A, C, K, N, Γ, Θ, f13, 28, 33, 579, 700, 892, 1241, 1424, 2542, 𝔐) das besser bezeugte αὐτοῦ. Problematisch ist daran, dass so Herodias, die als die Schwägerin des Herodes eingeführt wird, zu seiner Tochter wird. Im ganzen Plot der Geschichte ergibt das keinen Sinn. Viel besser fügt sich der Satz ein, wenn von der Tochter der Herodias die Rede ist. Die einfachste Lesart (nur τῆς) ist sehr schlecht bezeugt (f1, aur, b, c, f). Die hier gewählte ist zwar etwas umständlicher, aber in der Mündlichkeit gut verständlich: es geht um „ihre Tochter“ – und dann wird daran erinnert, dass mit „ihre“ die schon erwähnte Herodias gemeint ist („Und als ihre Tochter hereinkam – die der Herodias“). 6,22b Diese beiden textkritischen Entscheidungen hängen zusammen. Unerklärlicherweise bie‑ tet NA28 innerhalb des Verses einen Mix aus Lesarten, der zwar Lectio difficilior zu sein scheint, aber so in keinem Manuskript zu finden ist. Entweder ist in den Textzeugen [. . .] ἤρεσεν τῷ Ἡρῴδῃ καὶ τοῖς συνανακειμένοις. ὁ δὲ βασιλεὺς εἶπεν τῷ κορασίῳ· [. . .] (ℵ, B C, L, Δ, 33) zu lesen oder stattdessen [. . .] καὶ ἀρεσάσης τῷ Ἡρῴδῃ καὶ τοῖς συνανακειμένοις εἶπεν ὁ βασιλεὺς τῷ κορασίῳ· [. . .] (Mehrheitstext; u. a. 𝔓45, A, D, W). Deshalb kann die Wahl nur auf eine die‑ ser beiden Lesarten fallen. Aufgrund der qualitativen Bezeugung wähle ich die erstgenannte. 6,23 In NA28 in Klammern; die Diskussion bei Greeven / Güting161 zeigt, dass es kaum möglich ist, hier die eine oder die andere Möglichkeit begründet vorzuziehen. Im Wissen um die Will‑ kürlichkeit der Entscheidung nehme ich πολλά in den Text auf. 160
Vgl. Swanson, Manuscripts, 72. Vgl. Greeven / Güting, Textkritik, 319 f.
161
IV.6. Grafiken und Übersetzung zu Mk 4,35 – 8,22a
399
6,41 αὐτοῦ in NA28 in Klammern. Aufgrund der äußeren Bezeugung ist kaum zu entscheiden, ob αὐτοῦ in den Text gehört oder nicht. Da in dieser Perikope bei den Jüngern immer das Pos‑ sessivum steht, nehme ich es auch hier auf. 6,44 Äußere Kriterien erlauben kein Urteil darüber, ob τοὺς ἄρτους (in NA28 in Klammern) im Text stand und von manchen weggelassen wurde oder ob es später ergänzt wurde. Inhaltlich scheint eine sekundäre Auslassung plausibler als eine sekundäre Einfügung; zudem ließe sich eine Auslassung als Angleichung an die Mt- und Lk-Parallelen erklären.162 6,51 NA28 liest hier mit dem Mehrheitstext λίαν ἐκ περισσοῦ. Diese Lesart ist erstmals in A überliefert. Die früheren Textzeugen haben entweder nur λίαν (ℵ, B, L, Δ, 892 co) oder ἐκ περισσοῦ (W, 28) bzw. (ἐκ‑)περισσῶς (f1, 565, 700, 2542, b). Die Begründung der Kommis‑ sion,163 die Doppelung passe zum markinischen Stil, mag einleuchten. Der äußere Befund spricht eher dafür, dass zwei unterschiedliche kürzere Versionen kursierten, die später kombi‑ niert wurden. Von den beiden frühen ist λίαν etwas besser bezeugt; darum entscheide ich mich für diese Lesart. 7,4 καὶ κλινῶν in NA28 in Klammern; ℵ, B, L, Δ, 28*, sowie vermutlich auch 𝔓45, dazu der syrische Sinaiticus, ein sahidisches MS und die bohairischen Textzeugen lassen es aus. Hier ist einfach eine Entscheidung für eine Variante nötig, es gibt keine inhaltlichen Gründe, die eine Variante als primäre Lesart empfehlen würden. 7,6 ὅτι in NA28 in Klammern; hier in den Text genommen, da ich mich im gleichen Vers am Anfang für die Lesart ὁ δὲ εἶπεν αὐτοῖς (ohne ἀποκριθείς) entschieden habe, die von den glei‑ chen frühen Textzeugen (ℵ, B, L) belegt ist. 7,35 in NA28 in Klammern εὐθέως nach καί. Hier nicht in den Text aufgenommen aus zwei Gründen: Im sonstigen Mk-Text (nach NA28) findet sich immer die Form εὐθύς (εὐθέως nur in Varianten, die nie Aufnahme in den Text fanden). Zudem fehlt εὐθέως in allen frühen Text‑ zeugen, die beim nachfolgenden Verb die hier (und in NA28) gewählte Lesart ἠνοίγησαν bieten (ℵ, B, D, Δ, 0274; [späte] Ausnahme ist f1, das hier εὐθέως ἠνοίγησαν liest). So spricht zum einen der Stil und zum anderen die Wahl einer konsistenten Lesart für die hier getroffene Ent‑ scheidung. 7,37 in NA28 in Klammern τούς vor ἀλάλους. Es ist kaum zu entscheiden, ob der Artikel ursprünglich im Text stand oder später ergänzt wurde; für beides lassen sich Argumente finden. Ich wähle die Lesart ohne den Artikel (ℵ, B, L, Δ, 33, 892, 1241). 8,1 αὐτοῦ nicht in NA28. Von der äußeren Bezeugung her ist kaum zu entscheiden, ob es ursprünglich zum Text gehörte oder nicht (von den frühen Textzeugen bieten es ℵ und D nicht, in A, B und W ist es zu finden). In Analogie zur gleichen Frage in 6,41 entscheide ich mich auch hier für die Beibehaltung von αὐτοῦ. 8,20 αὐτῷ in NA28 in Klammern. Der Großteil der Textzeugen (u. a. 𝔓45, A, D, W) liest οἱ δὲ εἶπον. In den Manuskripten, die die Form λέγουσιν bieten (ℵ, B, C, L, Δ, 579, 892, vg), findet sich mit einer Ausnahme (ℵ) überall das Personalpronomen. Deshalb wird es hier in den Text übernommen.
162 163
Vgl. auch Metzger, Commentary, 78. Vgl. a. a. O., 78.
Kapitel V
Noch einmal Jauß: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit In einem letzten Schritt sollen die Ergebnisse der Exegese im Sinne des Jauß’schen hermeneutischen Modells daraufhin ausgewertet werden, welche Ant‑ worten das Markusevangelium bzw. dessen erste Hälfte auf die Fragen seiner ers‑ ten Rezipienten gegeben hat. Mit anderen Worten: Standen bisher, trotz etlicher Seitenblicke auf den Autor Markus und dessen Publikum, vor allem Gestalt und Gehalt des Werkes im Mittelpunkt der Untersuchungen, widmet sich dieses Kapi‑ tel der Pragmatik, der Kommunikationsabsicht des Autors und dem Verstehen der Zuhörerinnen. Jauß betont, dass die Interpretation des Textes als „Antwort“ sich nicht auf Inhaltliches beschränkt, sondern auch die Ästhetik miteinbezieht.1 Dementsprechend nehme ich zwei Aspekte des historischen Bezugsrahmens des Markusevangeliums hier nochmals auf. Zum ersten ist das die gesellschaftliche Situation,2 in die hinein der Text spricht: Welche Fragen und Probleme greift er auf? Inwiefern können die Hörerinnen und Hörer seine Antworten als Antworten auf ihre eigenen Fragen verstehen? Wer ist überhaupt angesprochen? Zum ande‑ ren sind das Fragen nach dem Text als literarischem Werk der Antike: Inwiefern entspricht die Gestalt des Markusevangeliums den Konventionen oraler Litera‑ tur? Gibt der Text selbst Hinweise darauf, wie er rezipiert werden möchte?
V.1. Pragmatik der Darstellung Jesu und der In- und Outsider in Mk 1,1 – 8,22a In der Exegese der ersten knapp acht Kapitel des Markusevangeliums haben sich zwei große Fragen herauskristallisiert: Wer ist dieser, der zu Beginn als ‚Jesus Christus, Sohn Gottes‘ (1,1) vorgestellt wird, und wer gehört zu ihm? Angesichts der markinischen Antworten3 soll nun danach gefragt werden, wie die Hörerinnen und Hörer sie verstehen sollten oder konnten, für die das Evangelium konzipiert wurde. Dabei ist es unvermeidbar, sich innerhalb eines hermeneutischen Zirkels zu bewegen: Aus dem Text heraus ergeben sich Vermutungen, unter welchen his‑ torischen Umständen er entstand und erstmals rezipiert wurde, aufgrund des sich 1
Vgl. Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 478. Vgl. Kap. I.6.2.
2
402
Kapitel V: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit
so ergebenden Bildes des markinischen Publikums wird danach gefragt, wie der Text auf ihre Situation reagiert. Dennoch ist diese gedankliche Kreisbewegung sinnvoll; lassen sich auf die pragmatische Frage sinnvolle Antworten finden, so ist das ein Hinweis darauf, dass eine bestimmte Interpretation der Intentio operis4 gerecht wird. Wie bereits im Kapitel zum historischen Kommunikationszusammenhang (I.6.2.) dargelegt, gehe ich davon aus, dass sich das Markusevangelium an ein vorwiegend heidenchristliches Publikum richtet, dessen Glauben durch schwie‑ rige äußere Umstände – vermutlich Krieg oder Verfolgung – auf die Probe gestellt wird. Ihre Not, so ist aus dem Text herauszuhören, hat auf irgendeine Weise damit zu tun, dass sie unter Autoritäten leiden, die ihre Macht so ausüben, dass das Leben der Christusgläubigen bedroht ist.5 Für sie buchstabiert Markus die beiden großen Themen nochmals durch – in der Hoffnung, so meine These, dass das, was er ihnen über Jesus Christus und die, die zu ihm gehören, sagt, bei ihnen als ‚gute Nachricht‘ ankommt, so dass sie Hoffnung schöpfen und neu auf ihren ‚Herrn‘ zu vertrauen wagen. In seiner Darstellung Jesu Christi holt Markus sein Publikum dort ab, wo es steht: Er verwendet in der Ouvertüre die Insidersprache der Christusgläubigen. Diese Worte und Floskeln sind ihnen vertraut, deren Sinn wurde ihnen aber offensicht‑ lich fraglich: Was bedeutet es denn, dass dieser Jesus ‚Christus‘, ‚Sohn Gottes‘, ‚Herr‘ ist? Zeigen nicht die eigenen Lebensumstände ganz deutlich, dass er gegen‑ über der lebensbedrohlichen Herrschaft anderer nichts ausrichten kann, um seine Nachfolger zu retten? Markus setzt bis zum Ende des zweiten Hauptteils alles daran, klar zu machen, dass dieser Jesus Christus der ‚Stärkere‘ (1,7) ist, dass seine Vollmacht göttlicher Art ist. Seine ‚rettende‘ Kraft ist kein theologisches Abstraktum, sondern, davon erzählt Markus in den vielen Wundergeschichten, wird ganz konkret im Leben derjenigen erfahrbar, die sich an ihn wenden, seien es die unverständigen Jünger im Sturm auf dem See oder alle anderen, die sich von ihm Heilung und Befreiung von Dämonen erhoffen. In Jesus ist Gott gegen‑ wärtig, dessen Herrschaft mit dem Kommen Jesu auf Erden angebrochen ist. Die, die im Römischen Reich ‚zu regieren scheinen‘ (10,42), werden am Beispiel des Herodes und auch in Gestalt der Legion in der Gerasa-Episode in ihrer eigentli‑ chen Machtlosigkeit entlarvt – die Zuhörer des Markus wissen aber, dass ihnen 3
Vgl. die Zusammenfassungen in Kap. IV.3.6. und Kap. IV.4.5. Vgl. Eco, Grenzen der Interpretation, 49 f. 5 Ich belasse es hier, wie schon in Kap. I.6.2., bei der Bestimmung der historischen Hin‑ tergründe bei einer groben Verortung des Markusevangeliums im Römischen Reich um das Jahr 70; die Hauptlinien, auf die es mir ankommt. lassen sich auf dieser Basis gut erkennen. Auf dem Gebiet der Forschung zu politischen Hintergründen des Evangeliums und Resonanzen, die sich in seinem Text darauf finden, sind von anderen Exegetinnen detaillierte Studien verfasst worden; exemplarisch und bei weitem nicht umfassend sei an dieser Stelle verwiesen auf Theissen, Lokalkolorit, 115 – 118.270 – 284; Incigneri, The Gospel; Ebner, Evangelium; Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu; Klinghardt, Legionsschweine; Gelardini, Christus Militans. 4
V.1. Pragmatik der Darstellung Jesu und der In- und Outsider
403
dennoch Menschen zum Opfer fallen. Diese Tatsache wird auch nicht beschönigt; der Möchtegern-König Herodes bringt den Täufer Johannes um, wie auch später Pilatus den Tod Jesu nicht verhindern wird. Die Saatgleichnisse bieten mit ihren Bildern einen Gegenentwurf zu einer solchen real erfahrenen lebensfeindlichen Herrschaft: Die βασιλεία τοῦ θεοῦ wird sich gewaltlos durchsetzen; in ihr werden alle genug zum Leben haben. Sie ist schon angebrochen, klein und unscheinbar, in und trotz aller anderen Herrschaft. Die Frage der Zugehörigkeit zu Jesus betrifft die Hörerinnen und Hörer des Evan‑ geliums genauso unmittelbar wie die Protagonisten der Erzählung: Gehören sie selbst zu den In- oder zu den Outsidern? Auf der Metaebene der Pragmatik lauten die Fragen: Welche Positionen bietet der Text seinen Hörerinnen und Hörern an? Macht er normative Vorgaben, Zuweisungen? Welche implizite Adressatenschaft ist im Text zu erkennen? Die Erzählung bietet für die Einschätzung der Zugehörigkeit zwei Maßstäbe. Bei der Etablierung des Gegensatzes von οἱ περὶ αὐτόν zu οἱ ἔξω wird zum einen die Bedingung für die Zugehörigkeit zu οἱ περὶ αὐτόν genannt – ‚wer auch immer den Willen Gottes tut‘ (ὃς γὰρ ἂν ποιήσῃ τό θέλημα τοῦ θεοῦ, 3,35). Draußen ist hingegen, wer nicht erkennt, dass in Jesus Gott selbst am Werk ist, ‚wer auch immer gegen den Heiligen Geist lästert‘ (ὃς ἂν βλασφήμῃ εἰς τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, 3,29).6 Zum anderen wird, nach scheinbar willkürlicher Einteilung, οἱ περὶ αὐτόν und οἱ ἔξω je eine recht gegensätzliche Bestimmung zugeschrieben – den einen ‚ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben‘ (4,11), den anderen wird ver‑ wehrt, dass ‚sie sich bekehren und ihnen vergeben werde‘ (4,12). Die Exegese von 4,10 – 13 hat gezeigt, dass sich der Widerspruch zwischen der Einladung an alle und der Exklusion ‚jener draußen‘ nicht einfach auflösen lässt. Für die Zuhörer ist zunächst die Frage naheliegend, ob sie selbst ‚den Wil‑ len Gottes tun‘, wie er sich ihnen im Markusevangelium präsentiert – verkürzt gesagt, ob sie den Aufruf zu Umkehr und Glauben an die gute Botschaft von der Nähe des Gottesreiches ernst genommen haben, oder anders formuliert, ob sie die Einladung zur Nachfolge Jesu angenommen haben. Sie können jedoch das Pferd auch von hinten aufzäumen und fragen, ob sie finden, ihnen sei das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben – was immer sie darunter verstehen mögen –, oder ob ihnen ihrer Wahrnehmung nach Glauben und Umkehr und damit auch die Vergebung der Sünden verwehrt ist. Für die Einschätzung ihrer eigenen Position bietet der zweite Hauptteil eine bunte Palette positiver und negativer Beispiele, mit denen sie sich vergleichen können. Traditionellerweise gelten die Jünger als Vorbild für die Gemeinden, in denen ein Evangelium entstand bzw. für die es geschrieben wurde.7 Auch neuere Publikationen mit narratologischem oder 6
Vgl. Kap. III.2.4.3., S. 227 f.; Kap. III.2.4.5., S. 236 f. Vgl. z. B. Schnelle, Einleitung, 245; France, Mk, 28; Dschulnigg, Mk, 36; Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 148. Schweizer formuliert mit stärkerem theologischen Impe‑ tus: „Sie [i. e. die Frauen, die am Ende zum Grab gehen, Anm. d. Vfn.], aber erst recht die 7
404
Kapitel V: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit
rezeptionsästhetischem Hintergrund fokussieren oft auf die Jünger als Identifi‑ kationsangebot für die Rezipierenden.8 Der hier vertretene Ansatz, die anderen Personen der Erzählung ebenfalls als Identifikationsangebote für die Hörer in Betracht zu ziehen, findet sich auch bei Malbon: „Yet the Gospel of Mark is not an allegory in which a group of characters in the story may be equated with a group of persons beyond the narrative. The disciples are equivalent to neither Mark’s supposed opponents nor Mark’s imagined hearers / readers. The Gospel of Mark is, how‑ ever, metaphoric and imagistic, and the disciples and the crowd – especially taken together – do evoke a composite image of the followers, the fallible followers, of Jesus.“ 9
Sie, so wird in ihrer Analyse und auch in diesem Fazit deutlich, orientiert sich am ersten der beiden Maßstäbe, an der Frage, ob jemand die Bedingungen erfüllt, die mit der Nachfolge Jesu verknüpft sind.10 Eine etwas andere Perspektive ergibt sich, wenn der zweite Maßstab angelegt wird, wenn also danach gefragt wird, ob sich jemand hinsichtlich der in 4,10 – 12 genannten Umstände als In- oder als Outsider wiedererkennt. Der Gang durch den ersten Hauptteil hat gezeigt, wie die Frage, wer alles zu Jesus gehört, erst allmählich lauter gestellt wird, bis sie in der letzten Szene – die Leute ‚um Jesus herum‘ im Haus, seine Mutter und Geschwister ‚draußen‘ vor der Tür – ganz deutlich zu hören ist. Im Verlauf des zweiten Hauptteils wird die vermeintlich klare Einteilung in verständige Insider und unverständige Outsider vollständig auf den Kopf gestellt. Vermeintliche Insider verstehen immer weni‑ ger, vermeintliche Outsider erweisen sich als solche, die umfassend sehen, hören und verstehen. Dieser Hauptteil kumuliert in der Gegenüberstellung der Syro‑ phönizierin mit den Jüngern auf der letzten Bootsfahrt. Dieser pointierte Kontrast entlarvt die so eindeutig und unfair erscheinende Einteilung in In- und Outsider in 4,11 f. als unhaltbar. Meine These ist, dass sich das Publikum des Markus als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu versteht und mit den Jüngern identifiziert, sich aber zugleich in den Outsidern wiedererkennt, denen ja Verstehen, Umkehr und Glauben einfach nicht möglich ist. Der Widerspruch zwischen Einladung an alle und Exklusion einer bestimmten Gruppe bildet ihre eigene Realität ab. Hätte Jesus, so denken sie vermutlich, sie wie die Jünger persönlich berufen, hörten sie seine Worte mit Jünger [. . .] weisen auf das Wunder der kommenden Gemeinde hin, die der Auferstandene selbst ins Leben rufen und in die Welt hinausschicken wird.“ (Schweizer, Mk, 216). Auch in seiner Exegese wird immer wieder deutlich, dass sich die Gemeinde in den Jüngern wiedererkennt (vgl. z. B. a. a. O., 47). Ähnliches ist mit etwas anderem Fokus bei Pesch zu beobachten, der die Rolle der Zwölf „als Zeugen der Tradition“ (Pesch, Mk I, 50) bezeichnet, dann aber an etlichen Orten doch den Bogen zur markinischen Gemeinde schlägt (vgl. z. B. a. a. O., 209.246 f.). 8 Vgl. z. B. Shiner, Follow me, 292; Fritzen, Von Gott verlassen, 180 f. 9 Malbon, Company, 45. An anderer Stelle wird zudem klar, dass sie auch die Einzelperso‑ nen, die aus der Menge heraustreten, zu dieser dazurechnet (vgl. z. B. a. a. O., 84). 10 Das Gleiche ist bei Shiner und Fritzen zu beobachten (vgl. Shiner, Follow me, 292; Fritzen, Von Gott verlassen, 183).
V.1. Pragmatik der Darstellung Jesu und der In- und Outsider
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eigenen Ohren und sähen seine Taten mit eigenen Augen, dann wäre es einfach zu glauben, dass in diesem Menschen das Reich Gottes auf Erden gegenwärtig ist. Doch sie leben weder zur Zeit Jesu noch dort, wo er sich aufgehalten hat.11 Ihr Glaube beruht im wahrsten Sinne des Wortes auf dem ‚Hören-Sagen‘ und wird durch die missliche Lage, in der sie sich befinden, in seinen Fundamen‑ ten erschüttert – wie soll man dem Gehörten vertrauen, es ‚willkommen heißen‘ (4,20), wenn ‚Bedrängnis oder Verfolgung wegen des Wortes‘ (4,17) das eigene Leben bedrohen, das im diametralen Gegensatz zu dem steht, was man sich unter dem Leben im Reich Gottes vorstellt?12 In einer solchen Situation liegt es nahe, sich mit ‚jenen draußen‘ zu identifizieren, denen ein Verstehen – vielleicht sogar durch Gott selbst – schlichtweg verunmöglicht wird. Die verstörende Passage 4,10 – 12 bietet dann die Möglichkeit, sich überhaupt im Evangelium wiederzu‑ finden und sich auf seine Botschaft einzulassen. Doch Markus bleibt hier nicht stehen, sondern stellt eine solche Selbstzuordnung und auch ein ideales Jünger‑ bild im Laufe der nächsten Kapitel auf den Kopf. Der Vorwurf ‚Kümmert es dich nicht, wenn wir zugrunde gehen?!‘ (4,38), der zur gerade beschriebenen Lebens‑ lage passt, ist gleich auf der ersten Bootsfahrt ausgerechnet von den engsten Ver‑ trauten Jesu zu hören. Deren Unverständnis wird in der Folge auf immer drasti‑ schere Weise erkennbar. Im Kontrast dazu wenden sich Outsider vertrauensvoll an Jesus und nehmen die Präsenz Gottes in seiner Person wahr. Gut vorbereitet hört das markinische Publikum dann die ‚gute Botschaft‘, die die Syrophönizierin den Outsidern verkündigt. Vielleicht merken sie, dass sie selbst gemeint sind, und verstehen, dass sie dazugehören und dass das wortwörtliche ‚Biss-chen‘, das vom Evangelium in ihrer abgelegenen Ecke ankommt, genügend Nahrung für ihren Glauben bietet. Mit der Auslegung des Wortes vom Haben und Nicht-Haben durch die beiden letzten Szenen des zweiten Hauptteils doppelt Markus selbst nach, nun wieder am Beispiel der Jünger. Wenn sein Publikum das Biss-chen des Evangeliums auf der „Haben-Seite“ verbucht, dann wird ihnen soviel hinzugege‑ ben werden, dass die Reste wiederum für andere reichen. 11
So zumindest nach den meisten Vorschlägen zur Verortung des Markusevangeliums (vgl. Kap. I.6.2., S. 54 f.). Vertritt man die These der Entstehung bzw. Erstrezeption in Syrien (so z. B. Marcus, Mk I, 36, und, in vorsichtiger Formulierung der genaueren Ortsangabe, Lührmann, Mk, 7), bietet die Syrophönizierin in besonderer Weise eine positive Identifikations‑ möglichkeit. 12 Ganz ähnliche Fragen legt Marcus Erstrezipierenden in den Mund; er postuliert jedoch, dass sich die, zu denen Markus spricht, als Verkündigende und nicht, wie hier vorgeschlagen, als Hörende verstehen. Dementsprechend stellen diese andere Fragen: „Why aren’t people re‑ cognizing who Jesus is? If he has brought the kingdom of God, why isn’t that kingdom being acknowledged by the world at large? Why is the world, in fact, opposing our message and persecuting us?“ (Marcus, Mark 4,10 – 12, 573). Für ihn ist jedoch klar, dass sich die marki‑ nischen Zuhörer und Zuhörerinnen mit den Jüngern identifizieren und sich trotz ihrer Fragen als Insider verstehen und deshalb 4,10 – 12 auf andere Weise interpretieren: „Those sufferings are [. . .] part of ‚the mystery of the kingdom of God‘“ (a. a. O., 573). Auch diese Rezeption ist denkbar.
406
Kapitel V: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit
Zusammenfassend lässt sich also die „Zweistimmigkeit“ der guten Botschaft für diejenigen festhalten, die nicht mehr wissen, ob sie In- oder Outsider sind: Wer auch immer diesem Jesus vertraut, gehört zu ihm, auch wenn dieser weit weg zu sein scheint. Und die zu ihm gehören, die gehören zu ihm und werden nicht ausgewechselt, wenn sie ins Zweifeln kommen. In dieser Lesart muss also der Widerspruch zwischen der Einladung an alle (ὃς ἄν, 3,35) und der anstößigen Aufteilung in Privilegierte und Ausgeschlos‑ sene nicht aufgelöst werden. Letztere ist weder als theologisches Statement des Markus im Sinne einer Art Prädestinationslehre13 zu verstehen noch sollte ihr durch Abschwächung die Schärfe genommen werden. Der Widerspruch und seine fortlaufende Interpretation durch den zweiten Ηauptteil hindurch erfüllen prag‑ matische Funktionen als Aufnahme und Durchbrechung der Selbsteinschätzung der Hörerinnen und Hörer, egal, ob sie sich zunächst mit den In- oder mit den Outsidern identifizieren.
V.2. Pragmatik der Ästhetik – Schlussfolgerungen von der Gestalt des Textes auf seine intendierte Rezeption In Bezug auf die Ästhetik gilt, was zuvor schon über Inhaltliches gesagt wurde: Es ist unvermeidlich, sich in einem hermeneutischen Zirkel zu bewegen. Wenn nun im Rückblick auf die Exegese deren Ergebnisse hinsichtlich der Pragmatik der akustischen Textgestalt in den Blick genommen werden, schließt sich der Kreis, da ja der Arbeit am Text bereits die Annahme zugrunde lag, dass es sich um ein Werk oraler Literatur handelt. Wiederum gilt es, darüber Rechenschaft abzulegen, ob sich die im Text beobachteten Phänomene auf der Basis dieser Annahme sinnvoll deuten lassen. Daher ist zunächst festzuhalten, dass sich in meiner Untersuchung des Mar‑ kusevangeliums die Studien anderer Exegeten bestätigen, die in diesem Text die Charakteristika oraler Literatur14 wiedererkannt haben: Das Markusevangelium besteht zum Großteil aus kürzeren, aufeinanderfolgenden Episoden, die Sprache ist bildlich, der Satzanschluss erfolgt meistens durch parataktisches καί, Paralle‑ lismen und Ringkompositionen finden sich auf allen Textebenen, motivische Wie‑ derholungen von Schlüsselwörtern stehen im Dienst der Entwicklung thematischer Linien und nicht zuletzt wird die Aufmerksamkeit der Hörer durch fokale Wie‑ derholungen – seien es Klangphänomene oder ein auf kleinem Raum mehrfach repetiertes Wort – immer wieder auf bestimmte Stellen gelenkt. All diese Textsig‑ nale dienen zur „Hörerinnenlenkung“ – vorausgesetzt, der Interpret trägt den Text 13 In diese Richtung geht Hahn: „[V]ielmehr wird mit dieser Aussage [i. e. 4,12; Anm. d. Vfn.] die Tatsache des Verstehens und Nichtverstehens der Botschaft Jesu auf Gottes unergründ‑ lichen Willen zurückgeführt.“ (Hahn, Theologie I, 513). 14 Vgl. Kap. I.1., S. 9.
V.2. Pragmatik der Ästhetik
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so vor, dass dieser in seiner Form und Aussageabsicht zur Geltung kommt. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt,15 ist damit nicht gemeint, dass die Hörerschaft die eingesetzten Mittel benennen oder gar die Struktur des Gehörten beschreiben kann; das ist notabene auch bei rhetorischen Stilmitteln nicht nötig, damit sie ihre Wirkung entfalten. Die auf der Repetitionsanalyse fußende Auslegung hat gezeigt, dass die akustische Gestalt des Textes im Dienst der Vermittlung seiner Aussageab‑ sicht – das sind im Wesentlichen die beiden beschriebenen großen Linien – steht. Die Ästhetik ist hier nicht l’art pour l’art, sondern hat klar pragmatische Funktion. Ein anderer Gegenstand der Diskussion wurde ebenfalls bereits in Kap. I.1. angesprochen; es ist die Aufführungspraxis. Zur Diskussion, ob das Evangelium auswendig vorgetragen oder von einem Manuskript abgelesen wurde,16 kann der hier präsentierte Zugang zum Text mittels der Repetitionsanalyse nur wenig bei‑ tragen; festzuhalten ist, dass, wie schon andere bemerkt haben,17 das Werk sich aufgrund seiner klaren Struktur gut eignet, um auswendig gelernt zu werden. Welche Praxis damals üblich war und ob es überhaupt eine einheitliche gab, lässt sich aus dieser Beobachtung jedoch nicht zwingend schließen. Ergiebiger ist die vorliegende Exegese hinsichtlich der Frage, ob das Markus evangelium am Stück vorgetragen wurde oder eher in kleineren Abschnitten.18 Auch wenn konkrete externe Hinweise auf die Lesepraktiken der frühen Gemein‑ den fehlen, halte ich das Szenario einer Gesamtaufführung für wesentlich wahr‑ scheinlicher als eine perikopenweise Zerstückelung von Anfang an. Für diese These sprechen – über die im Exkurs in Kap. I.1. erwähnten allgemeinen Beob‑ achtungen und Argumente in Bezug auf die Aufführungspraxis neutestamentli‑ cher Schriften hinaus – folgende Ergebnisse der Exegese: Die Repetitionsanalyse brachte zutage, dass dem Markusevangelium eine durchkomponierte Gesamtstruktur eignet, entlang derer Markus die beiden gro‑ ßen thematischen Linien entwickelt. Wozu sollten die vielen internen interpreta‑ tiven Bezüge, die sorgfältig entwickelten Themenlinien dienen, wenn sie nicht auch für die „Endverbraucher“, die Hörerinnen und Hörer des Markusevangeli‑ ums, wahrnehmbar waren? Auf formaler Ebene fallen zudem die vielen Phrasen‑ verschränkungen auf; dieses Evangelium besteht zwar aus vielen kleinen Episo‑ den, diese sind aber kunstvoll miteinander verbunden. Wozu sollte sich jemand die Mühe machen, die einzelnen Geschichten, von denen er viele aller Wahr‑ scheinlichkeit nach nicht selbst erfunden, sondern aus mündlicher Erzähltradition übernommen hatte, miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen, wenn er beabsichtigte, dass sein Werk nicht am Stück, sondern (wieder) als einzelne Geschichten vorzutragen sei? Für Letzteres hätte es genügt, Sammlungen mit den einzelnen Episoden anzulegen. 15
Vgl. Kap. I.2.2.2., S. 20. Vgl. Kap. I.4.3.2., S. 39. 17 Ausführlich dazu Shiner, Memory Technology. 18 Vgl. dazu den Exkurs in Kap. I.1., S. 9 f. 16
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Kapitel V: Der Text als Antwort auf Fragen seiner Zeit
In Analogie zum „impliziten Autor“ und zum „impliziten Leser“, die in einem Text zu erkennen sind, könnte man von seiner „impliziten Rezeption“ sprechen, auf die er selbst Hinweise gibt. Die genannten Indizien legen nahe, dass ursprüng‑ lich eine Rezeption am Stück, also eine Gesamtaufführung intendiert war. Die Lektionare als das Textformat, das explizit für einen Vortrag einzelner Perikopen konzipiert ist, untermauern als Gegenprobe diese These: Schon in den frühen Evangeliaren wurden die Perikopen nicht einfach eins zu eins aus den Evangelien „ausgeschnitten“, sondern so bearbeitet, dass sie sich für eine Rezep‑ tion als kurze Einzeltexte eignen.19 Diese Bearbeitung ist im Wesentlichen durch zwei Aspekte bestimmt: Hinzugefügt wird, was zum Verständnis des Einzeltextes nötig ist, weggelassen wird, was das Verständnis des Einzel‑ textes erschwert. An den Beginn wurden Eingangsfloskeln gesetzt, die die Zuhörer in Kürze über das Folgende ins Bild setzen: Erzählungen beginnen standardmäßig mit ‚Zu jener Zeit‘ (τῷ καιρῷ ἐκείνῳ), Jesusworte mit ‚Der Herr sagte‘ (εἴπεν ὁ κύριος), z. T. ergänzt mit der Nen‑ nung der jeweiligen Adressaten oder bei Gleichnissen mit dem Hinweis ‚dieses Gleichnis‘ (τὴν παραβολὴν ταύτην).20 Oft sind auch Renominalisierungen am Perikopenbeginn zu sehen, die im Fließtext nicht nötig sind, da aus dem Vorhergehenden klar ist, von welchen Personen die Rede ist. Textbestandteile, die nur im Gesamtzusammenhang verständlich sind, weil sie sich auf bereits Gesagtes oder proleptisch auf Kommendes beziehen, werden hingegen weggelassen oder so verändert, dass sie ohne ihren ursprünglichen Kontext Sinn ergeben. Am Beispiel des Perikopenanfangs von Mk 1,35 – 44 in l 845 (9. Jh.)21 sei das kurz erläutert: 1,35 lautet nach NA28 wie folgt:22 Καὶ πρωῒ ἔννυχα λίαν ἀναστὰς ἐξῆλθεν καὶ ἀπῆλθεν εἰς ἔρημον τόπον κἀκεῖ προσηύχετο. In l 845 hingegen steht: τῷ καιρῷ ἐκείνῳ ἀπῆλθεν ὁ Ἰησοῦς εἰς ἔρημον τόπον κἀκεῖ προσ ηύχετο. 1,35a fungiert im Zusammenhang des Gesamttextes als Phrasenverschränkung. Im Evange‑ liar wird die Verortung in der Zeit (früh am Morgen) und der Hinweis auf den Ort der vorherge‑ henden Szene im Haus (er stand auf und ging [von dort] weg) ersetzt durch die für Erzählstücke übliche vage Einleitungsfloskel ‚zu jener Zeit‘, die das Erzählte aus dem narrativen Zusam‑ menhang herauslöst. Ergänzt wird der Name Jesu; im ursprünglichen Text war hingegen ohne Renominalisierung klar, wer hier agiert.
Die Veränderungen, die in den Lektionaren an den Texten zu erkennen sind, deu‑ ten also darauf hin, dass all das, was die Komposition des Markusevangeliums ausmacht, eher als hinderlich für die (liturgische) Lesung einzelner Perikopen angesehen wurde. Textextern kann schließlich noch die bei Euseb überlieferte „Papias-Notiz“ ins Spiel gebracht werden, die bei der Darstellung des historischen Kommunika‑ 19
Vgl. Metzger, Greek Lectionaries, 480. Vgl. a. a. O., 482 f. 21 CSNTM Image Name GA_Lect_845_0125.JPG und GA_Lect_845_0126.JPG, http:// www.csntm.org / manuscript / View / GA_Lect_845 (Zugriff: 01.06.2018). 22 Der Versbeginn bis ἀναστάς ist einheitlich überliefert. Es gibt nur ganz wenige Textzeu‑ gen, die entweder das Hinausgehen (W, it) oder das Weggehen (B, 28*, 565, sams, bopt) strei‑ chen. Es liegt in l 845 also keine Übernahme einer bestimmten Lesart vor, die in Textzeugen mit fortlaufendem Text zu finden wäre. 20
V.2. Pragmatik der Ästhetik
409
tionszusammenhangs bereits erwähnt wurde,23 auch wenn sie nicht explizit vom Vortrag des Evangeliums handelt. Papias erklärt dort, warum Markus aufgrund der Lehrvorträge des Petrus ‚die Worte und Taten Christi akribisch, aber nicht der Reihe nach aufschrieb‘ (ἀκριβῶς ἔγραψεν, οὐ μέντοι τάξει τὰ ὑπὸ τοῦ Χριστοῦ ἢ λεχθέντα ἢ πραχθέντα, Eus. h. e. 3.39.15). Die Diskussion um die Reihenfolge kann nur entstehen, wenn das Markusevangelium am Stück zu hören war oder zumindest in langen Abschnitten vorgetragen wurde. Wie sonst sollten Abwei‑ chungen von einer gewohnten Erzählfolge – sei eine solche aus anderen literari‑ schen Evangelien24 oder als mündliche Tradition bekannt – bemerkt worden sein? Über das konkrete sozial-historische Setting einer solchen Lesung von ca. zwei Stunden Dauer – denkbar wäre auch eine Aufführung in zwei Teilen zu je einer Stunde (1,1 – 8,21; 8,22 – 16,8) – kann nur spekuliert werden. Sie würde gut in den Rahmen einer abendlichen Versammlung der Christusgläubigen in einem Privathaus nach Art des Symposions passen.25 Nach einem Essen (δεῖπνον) war der zweite Teil des Abends der Unterhaltung gewidmet, wozu auch Lesungen und Vorträge gehörten.26 Bezüglich der Pragmatik der Ästhetik des Markusevangelium lässt sich also in Kürze zusammenfassen: Die akustische Gestalt des Textes weist die für orale Literatur charakteristischen Merkmale auf, aufgrund seiner klaren Struktur kann er leicht auswendig gelernt werden, seine Gesamtkomposition spricht für einen Vortrag am Stück und schließlich existiert mit abendlichen Versammlungen der frühen Christusgläubigen ein real-historisches Setting, in dem sich eine solche Aufführung verorten lässt.
23
Vgl. Kap. I.6.2., S. 53 f. Vgl. Pesch, Mk I, 5 f. 25 Literatur zum Thema vgl. Kap. I.1., S. 10, Anm. 34. 26 Vgl. Nässelqvist, Public Reading, 69. 24
Kapitel VI
Polyphonie – ein Resümee Polyphonie – das ist Klangvielfalt oder Mehrstimmigkeit, und meint in der Musik insbesondere auch die Art von Mehrstimmigkeit, die durch mehrere sich autonom bewegende Stimmen charakterisiert ist.1 In vielerlei Hinsicht ist die vorliegende Arbeit durch Mehrstimmigkeiten bestimmt. Deshalb habe ich für das resümie‑ rende Schlusskapitel den Begriff der Polyphonie als Motiv gewählt, der – ganz im Sinne der motivischen Wiederholung – mit einer bestimmten Idee verbunden ist, „die jeweils mit der Wiederholung eines solchen ‚Motivs‘ anklingt und durch die Einbettung in immer neue Kontexte im Laufe eines Werkes auch ganz verschie‑ dene Facetten aufleuchten lässt, Veränderung und Sinnanreicherung erfährt.“2
VI.1. Verwoben sein und Mitweben – eine Stimme in der Polyphonie der Oralitätsforschung und des performance criticism Während des Theologiestudiums ist mir ein Text von James Clifford begegnet, der für mein Selbstverständnis als Text produzierende Wissenschaftlerin prä‑ gend wurde. In seinem Aufsatz „Halbe Wahrheiten“ zeigt der Anthropologe auf, dass alles Schreiben, das literarische wie das wissenschaftliche, immanent ist; es findet nicht außerhalb der Welt statt, von der es einen Aspekt beschreibt und interpretiert, sondern ist Teil von ihr. Eine Schreibende beschreibt und interpre‑ tiert also unwillkürlich auch sich selbst, wird von der von ihr beschriebenen und interpretierten Welt verändert und verändert diese zugleich durch ihre Tätigkeit. So ist auch wissenschaftliches Schreiben Fiktion, nämlich Fiktion im Sinne von „etwas Gemachtes oder Hergestelltes“ und gleichzeitig etwas durch die Auto‑ rin „Zurechtgemachtes“,3 das von ihrer Immanenz in dieser Welt, ihrer spezi‑ fischen Perspektive und ihren Anliegen geprägt ist. Hier kommt beim Anthro‑ pologen Clifford der Begriff der Polyphonie4 ins Spiel: Die Wirklichkeit eines Untersuchungsgegenstandes, in Cliffords Fall die einer Kultur, ist nicht durch 1
Der Gegensatz dazu ist die homophone Satzweise, in der sich alle Stimmen im gleichen Rhythmus bewegen und nicht die horizontale Bewegung der Einzelstimmen, sondern der vertikale Zusammenklang, also die Harmonik im Vordergrund steht (Vgl. Frobenius, Poly‑ phony, 75). 2 Kap. I.4.3.4., S. 45. 3 Clifford, Halbe Wahrheiten, 110. 4 Vgl. a. a. O., 120.
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Kapitel VI: Polyphonie – ein Resümee
einen einzelnen Text zu erfassen, sondern es bedarf der Mit-Texte verschiedener Wissenschaftler, aber auch Kulturangehöriger (Männer, Frauen und Kinder, ver‑ schiedene Berufe und Macht- oder Ohnmachtspositionen) oder anderer Personen (z. B. Missionare, Handlungsreisende etc.), die ihre Stimme ebenfalls erheben. So entsteht eine polyphone Komposition – aber auch nicht die Wirklichkeit! – einer Kultur als gemeinsames Werk. Das Modell der Polyphonie entlastet – eine Stimme muss nicht alles sagen, sondern kann sich auf ihren Beitrag zum Zusam‑ menklang mit anderen konzentrieren. Sie webt mit am größeren gemeinsamen Text und ist in ihn eingewoben. Zur Gestaltung der eigenen Stimme gehören Imi‑ tation, Aufnahme und Weiterentwicklung von Motiven und Themen der anderen Stimmen, aber auch Gegenentwürfe und neue Ideen. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende neutestamentliche Dissertation als eine Stimme in der Polyphonie der Markusauslegung, die ihren spezifischen Beitrag zum Gesamtklang leisten und als solcher gehört werden will, die aber auf die Stimmen der anderen angewiesen ist, seien es solche von Theologinnen oder Nichttheologen, von Leuten inner- und außerhalb der Kirche. Genauer betrach‑ tet, spielt sie als deutschsprachige Stimme im Stück mit, an dem seit bald vierzig Jahren vorwiegend angelsächsische Neutestamentlerinnen komponieren, die die verschiedenen Aspekte der Oralität und Performanz der biblischen Texte, insbe‑ sondere des Markusevangeliums, untersuchen (I.1.). Ihr Proprium unter diesen Stimmen ist die Konzentration auf die Interpretation des schriftlich überlieferten Endtextes als eines für die Aufführung vor Publikum bestimmten Werks. Sie ist also auch in sich polyphon: Sie ist ein Beitrag zur neutestamentlichen Hermeneu‑ tik und Methodik sowie zugleich eine Auslegung der ersten Hälfte des Markus evangeliums. Der Fokus auf den Endtext weist darauf hin, dass der Text primär synchron untersucht wird. Ein solches Vorgehen, erst recht bei Anwendung neuer Metho‑ den, steht schnell unter dem Verdacht der Ungeschichtlichkeit. Dennoch bean‑ sprucht diese Dissertation, auch einen historischen Beitrag zu leisten: Sie nimmt den Text, der schriftlich fixiert und für aurale Rezeption konzipiert ist, in seiner doppelten Medialität wahr und legt ihn als solchen aus. Damit nimmt sie ihn in seiner historischen Verfasstheit als Literatur einer residual-oralen Gesellschaft ernst. Wenngleich diese Rahmenbedingungen weithin als selbstverständlich angenommen werden, blieben sie in der konkreten exegetischen Arbeit am Text bislang oft unbeachtet. Zuerst wird nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Interpretation oraler Sprachkompositionen gefragt, die schriftlich vorliegen. Es liegt nahe, auf dem Gebiet der Musikanalyse, deren täglich Brot die Interpretation schriftlich notier‑ ter Klanggebilde ist, nach Konzepten und Methoden zu suchen. Der Vergleich zwischen Sprache und Musik, insbesondere zwischen dem Markusevangelium und Kompositionen der abendländischen Musiktradition zeigt Analogien, aber auch Unterschiede auf (I.2.). Deren Benennung ist die Grundlage für eine Adap‑
VI.1. Verwoben sein und Mitweben
413
tion von musikwissenschaftlichen Konzepten und Methoden, die Sprachtexten gerecht wird. Um die Oralität des Evangeliums in seiner schriftlichen Niederlegung zu erfas‑ sen, erweist sich das musikalische Konzept des Partiturlesens als hilfreich: Eine Partitur hält, immer in reduzierter Form, eine Klangkomposition schriftlich fest. Während das Hören eines musikalischen oder literarischen Werkes immer an den Verlauf der Zeit gebunden ist, erlaubt eine Partitur, aus dieser Gebundenheit aus‑ zusteigen. Die Lektüre einer Partitur ist kein Selbstzweck, sondern dient immer der Interpretation eines Werkes, die primär in einer Aufführung vor Publikum resultiert; sekundär kann damit aber auch eine musikwissenschaftliche Analyse gemeint sein. Deutlich wird durch dieses Konzept auch, dass das in der Lite‑ raturwissenschaft in Variationen gebräuchliche Kommunikationsmodell Autor – Text – Hörer / Leserin um die Position der Interpretin erweitert werden muss. Im Normalfall liest nur Letztere die Partitur. Hören oraler Literatur ist, wenn nicht gerade der Autor seinen Text selbst vorträgt, immer vermittelte Rezeption; gehört wird nicht das Werk „an sich“, sondern jeweils eine konkrete Interpretation, die an Raum und Zeit gebunden ist. Nicht nur der Vortrag der Interpretin, sondern auch ihr Partiturstudium, das dem Vortrag vorausgeht, erweist sich als wesentli‑ cher Aspekt der Oralität des Markusevangeliums. Das Partiturstudium ist es auch, was die Exegetin bzw. den Musikwissenschaftler mit den Vortragenden verbindet, doch bei diesen führt es nicht zu einer klanglichen Realisation der Partitur, son‑ dern zu einem Metatext, der auf seine Art seinem lesenden Publikum ein Werk zugänglich machen will. So wird das Konzept des Partiturlesens zur Brücke zwi‑ schen den Anliegen und Erkenntnissen des performance criticism bzw. der Ora‑ litätsforschung und der klassischen exegetischen Detailarbeit am schriftlichen Text. Pragmatisch betrachtet, macht das erweiterte Kommunikationsmodell der Exegetin mit der Position der Interpretin ein „Identifikationsangebot“, das ihre Rolle klärt (I.3.3.). Ein solches Selbstverständnis der Exegetin als Interpretin bringt die Auf‑ gabe mit sich, das zu interpretierende Werk in seiner Gesamtheit zu erfassen, zu beschreiben und zu verstehen, wobei Gesamtheit sowohl das Werk in seiner gesamten Länge als auch die Vielfalt seiner Charakteristika meint. Will ein Musi‑ ker ein bestimmtes Stück aufführen, kann sich sein Studium der Partitur nicht auf eine Analyse z. B. alleine des Rhythmus’ beschränken. So präzise und umfas‑ send solch eine Detailstudie auch sein mag, als Grundlage für eine Interpretation genügt sie nicht. Es ist das Zusammenspiel mit anderen Parametern – Melodik, Harmonik, Besetzung, Dynamik etc. –, das die einem bestimmten Werk eigene Klanggestalt ausmacht und das eine Interpretation zur Geltung bringen muss. Ähnliches gilt für die exegetische Arbeit am Schreibtisch: Die Klanggestalt des Markusevangeliums wird nur unzureichend erfasst, wenn man sich auf Klang‑ spiele und Metrik konzentriert. So wird das Spezifikum von Sprache, die untrenn‑ bare Verbindung von klingender Gestalt und semantischem Gehalt, ignoriert; zudem sind weitere Gestalt generierende Faktoren wie die Wiederholungen z. B.
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Kapitel VI: Polyphonie – ein Resümee
von Wörtern, Floskeln und ganzen Geschichten, von Wortformen und Satzstruk‑ turen nicht im Blick. Um dieser Bandbreite akustisch relevanter Textmerkmale gerecht zu werden, wurde mit der Repetitionsanalyse ein synthetischer Ansatz entwickelt. Er macht sich das Faktum zunutze, dass oral-literarische Werke wie musikalische Kompositionen epochen- und stilübergreifend durch Wiederholun‑ gen charakterisiert sind. Er basiert auf einer Klassifikation der Wiederholungen nach ihrer Funktion und ermöglicht neben der Beschreibung rein klanglicher Auf‑ fälligkeiten auch die methodisch kontrollierte Analyse der anderen Gestalt gene‑ rierenden Textmerkmale. Die Jauß’sche „Literarische Hermeneutik“ bietet ein hermeneutisches Modell für eine Exegese, die sich für die hörbare Gestalt des Textes interessiert, sich aber nicht mit deren Beschreibung zufrieden geben will, sondern das Verstehen des Textes zum Ziel hat (I.3.1.; I.3.2.). Es weist der Repetitionsanalyse ihren Platz im primären Akt des ästhetischen Verstehens zu und klärt zudem ihr Zusammenspiel mit den Fragen nach dem Textsinn, nach der historischen Verankerung des Textes (und auch der Interpretin) und somit auch mit anderen exegetischen Methoden. Naturgemäß bleibt das Vorhaben einer ganzheitlichen Erfassung der hörbaren Gestalt des Markusevangeliums in der Praxis immer fragmentarisch. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf intertextuelle Zitate und Anspielungen. Fraglos sind sie zum Verständnis des Markusevangeliums wichtig; dennoch bilden sie im gesetzten Rahmen nur einen Teilbereich, dem nicht die volle Aufmerksam‑ keit gewährt werden kann. Abgesehen von ein paar traditionsgeschichtlichen Tie‑ fenbohrungen, bei denen auch andere Textkorpora Berücksichtigung fanden, und manchen Hinweisen auf Bezüge zu Macht und Herrschaft im Römischen Reich habe ich mich auf ‚die Schriften‘, zumeist im Wortlaut der Septuaginta, beschränkt. Auf sie verweist Markus immer wieder auch explizit (αἱ γραφαί, 12,24; 14,49).5 Daher ist anzunehmen, dass sie den primären Bezugsrahmen bilden, in dem der Autor seinen Text verstanden wissen will. Für den Nachweis anderer Parallelen sei auf andere Stimmen in der Polyphonie der Markusexegese verwiesen.6
VI.2. Die Polyphonie des Markusevangeliums Für den Text des Markusevangeliums gilt im Prinzip das Gleiche, was schon zu Beginn des vorigen Unterkapitels über den Text dieser Dissertation gesagt wurde: Es ist eine Stimme in einer vielstimmigen Komposition und zugleich 5
In Verbform (γράφειν) auch 1,2; 7,6; 9,12 f.; 10,5; 11,17; 12,19; 14,21.27. Eine Fülle an paganen Paralleltexten bieten der Kommentar von Collins und der „Neue Wettstein“. Zum Verhältnis „Römisches Reich – Markusevangelium“ seien exemplarisch die Arbeiten von Theißen, Incigneri, Ebner, Klinghardt und Gelardini genannt. Vgl. Collins, Mk; Neuer Wettstein (Mk); Theissen, Lokalkolorit; Incigneri, The Gospel; Ebner, Evangelium; Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu; Ebner, Von gefährlichen Viten; Klinghardt, Le‑ gionsschweine; Gelardini, Christus Militans. 6
VI.2. Die Polyphonie des Markusevangeliums
415
Mehrstimmigkeit und Klangvielfalt in sich selbst. Wenngleich das Markus evangelium von vorneherein eine der vielen Stimmen der frühchristlichen Gemeinschaft(en) war, bekam es seinen Part im Quartett der kanonischen Evan‑ gelien bzw. im Gesamtarrangement des Neuen Testaments doch erst nachträg‑ lich zugewiesen. In dieser Arbeit stand das Markusevangelium als eigenständige Komposition im Fokus, auch wenn immer wieder Seitenblicke auf andere Evan‑ gelien oder auch auf Briefe geworfen wurden. So wird, wie schon in den exege‑ tischen Kapiteln, auch in diesem Rückblick die innermarkinische Polyphonie im Vordergrund stehen. Die Repetitionsanalyse ließ die kunstvolle, symmetrische Gesamtgestalt des Evangeliums erkennen.7 Fünf in etwa gleich lange erzählende Hauptteile, alle jeweils durch eine dreifach in Variation erzählte Episode gegliedert, sind durch kürzere Scharniertexte miteinander verbunden. Auch diese korrespondieren: Die Gleichnisrede zwischen den ersten beiden Hauptteilen, die in und um Galiläa herum spielen, ist vor allem durch das Hören (ἀκούειν) geprägt, die Endzeit‑ rede zwischen den beiden letzten Hauptteilen, die in Jerusalem spielen, durch das Sehen (βλέπειν). Die Handlung setzt für die Zeit der Reden aus; das gibt dem Nach- und Vorausdenken Raum. Zwei sehr gegensätzliche Blindenheilun‑ gen, die beide Symbolcharakter haben, binden den Mittelteil ‚Auf dem Weg‘ ein. Gerahmt wird dieser Korpus durch eine Ouvertüre und eine Coda, die von den Ortsbezeichnungen Einöde (ἡ ἔρημος) bzw. Grab (μνημεῖον) durchzogen sind. In der Exegese von 1,1 – 8,22a wurden zudem viele weitere formelle und motivische Linien sicht- und hörbar; wie die Grundstruktur stellen sie nicht nur Form‑, sondern auch Sinnbezüge her. Durch die verschiedenen Arten von Wiederholungen entsteht ein Netz von Bezügen, durch die sich Textbausteine gegenseitig interpretieren. Zudem ist das Markusevangelium mit Kon-Texten, insbesondere mit ‚den Schriften‘, verwoben, die mit ihren Sinnhorizonten das Gewebe mit Bedeutung anreichern, wodurch sozusagen weitere Interpretations‑ ebenen eingezogen werden, die denen zugänglich sind, die diese anderen Texte kennen. Insgesamt betrachtet, erweist sich das Markusevangelium in seiner spe‑ zifischen Gestalt als Werk mit einer eigenen, in sich selbst verstehbaren Aussage. Ohne damit die Bedeutung auch der Kon-Texte zu negieren, lässt sich – in gut reformatorischer Diktion – festhalten: Evangelium secundum Marcum sui ipsius interpres. Von hier aus wird klar, dass die schriftliche Fassung des Markusevangeliums weder, wie vor allem von der formkritischen Schule vertreten, den Charakter einer Zusammenstellung von Traditionen durch einen Sammler hat, der das Vor‑ gefundene kaum bearbeitet,8 noch dass die Aussageabsicht des Markusevangeli‑ ums nur in dessen redaktionellen Teilen – die zudem mangels vorhandener Quel‑ len nur sehr hypothetisch von den übernommenen Texten unterschieden werden 7
Vgl. Kap. II, Abb. 1, S. 62. Als später Vertreter (1976) dieser These erweist sich Pesch (Pesch, Mk I, 2 f.15).
8
416
Kapitel VI: Polyphonie – ein Resümee
können9 – zu finden ist.10 Dafür, dass die Evangelisten keine Bedenken hatten, ihre Quellen(‑texte) für ihre Belange zu bearbeiten, bieten sowohl der markini‑ sche Umgang mit den Texten ‚der Schriften‘ als auch der synoptische Vergleich genügend Anschauungsmaterial. Beide Thesen halten dennoch Wichtiges fest: Sie weisen darauf hin, dass das Markusevangelium im Erzählraum der frühen chris‑ tusgläubigen Gemeinschaft entstanden ist und deren Geschichten, Erinnerungen und Traditionen aufnimmt. Die redaktionsgeschichtliche Sicht geht zudem einen Schritt weiter, indem sie dem „Redaktor“ eine eigene Aussageabsicht zugesteht. Auch die von Botha, einem Exponenten des performance criticism, vertre‑ tene These, das schriftlich vorliegende Markusevangelium sei ein Zufallsnotat irgendeiner beliebigen Aufführung des Evangeliums,11 scheint angesichts der bis ins Detail durchkomponierten Struktur wenig plausibel. Sie macht jedoch darauf aufmerksam, dass schon die Produktion der Texte in der Antike anders vor sich ging als heutzutage und auch dabei die Mündlichkeit eine wichtige Rolle spielte. Dem Charakter des Markusevangeliums, dessen differenzierte Komposi‑ tion einen deutlichen Gestaltungs- und Aussagewillen erkennen lässt, wird man wohl am ehesten gerecht, wenn man es als Werk eines Autors oder auch meh‑ rerer Autoren einstuft und als solches behandelt.12 Zudem ist festzuhalten, dass es die Merkmale oraler Literatur aufweist. Seine durchkomponierte Gestalt mit den vielfältigen intratextuellen Bezügen stützt darüberhinaus die These, dass die‑ ser Text ursprünglich an einem Stück vorgetragen wurde oder zumindest dafür gedacht war (V.2.). Die Exegese auf der Basis der Lektüre der in der Partitur fixierten akustischen Gestalt des Markusevangeliums stellt die bisherige Markusforschung nicht auf den Kopf, eröffnet aber eine weitere Ebene des Verstehens, indem sie beschreib‑ bar macht, welche gestalterischen Mittel Markus wo und wie einsetzt, um seine Botschaft an den Mann und an die Frau zu bringen. Die Gleichzeitigkeit verschie‑ dener Arten der Wiederholung dient dazu, vielfältige textinterne und textexterne Bezüge herzustellen, Themen zu entwickeln und fortzuspinnen. So betrachtet ent‑ 9
So schon Wrede: „Wie sich Traditionelles und Eigenes [Gedankengut des Markus; Anm. d. Vfn.] im Einzelnen verteilt, wird auch eine besondere Untersuchung nicht durchweg feststel‑ len können.“ (Wrede, Messiasgeheimnis, 146). 10 So z. B. Gnilka, der dem Markus etwas mehr eigenen Aussagewillen als Pesch zugesteht und ihn als „gemäßigte[n] Redaktor“ einstuft (Gnilka, Mk I, 25). Schweizer hingegen schätzt die in theologischer Absicht gestaltende Kraft des Markus hoch ein (Schweizer, Mk, 213). 11 Vgl. Botha, Mark’s Story, 307. 12 Ähnliche Ansichten vertreten naheliegenderweise auch andere primär synchron arbei‑ tende Exegeten (vgl. exemplarisch Rhoads / Devey / Michie: Mark as a Story, xii; Bryan, Pre‑ face to Mark, 152; van Iersel, Mk, 85 f.), manche auch, obwohl sie keine „explicit structural markers“ im Text erkennen (France, Mk, 12 f.). Schon sehr früh (1901) geht Wrede, der Mar‑ kus einen „Schriftsteller“ (Wrede, Messiasgeheimnis, 129.131 et passim) nennt, in diese Rich‑ tung: „Die erste Aufgabe [der Exegese, Anm. d. Vfn.] kann stets nur sein, die Berichte aus ihrem eigene Geiste gründlich zu beleuchten, zu fragen, was der Erzähler in seiner Zeit seinen Lesern sagen wollte [. . .].“ (a. a. O., 2 f.).
VI.3. Cantus firmus und Kontrapunkt
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puppt sich die zeitlich linear verlaufende Erzählung als polyphone Komposition, deren Ästhetik die dargebotenen Aussagen entscheidend prägt und ihr Verstehen leitet. In der hier präsentierten Gliederung des Evangeliums – auch sie ist immer schon Interpretation der Textsignale – sind an manchen Stellen Zäsuren gesetzt, die bislang etablierte Gliederungseinheiten durchschneiden. Markantestes Bei‑ spiel ist die durch die Tripelstruktur des ersten Hauptteils entstehende Zäsur vor 2,13, die die unter Neutestamentlern sonst praktisch unangefochtene Einheit der sogenannten „Galiläischen Streitgespräche“ (2,1 – 3,6) aufbricht, die meist auf‑ grund formgeschichtlicher und / oder, immer mit Verweis auf Deweys Studie aus dem Jahr 1980,13 rhetorisch-kritischer Argumente postuliert wird. Die hier vertretene Gliederung, die die Tripelepisoden als ein wesentliches Gestaltungselement wahrnimmt, erweist sich insofern als angemessen, als sie sich sinnvoll auslegen lässt. Die Ergebnisse der Exegese wurden immer wieder zusammengefasst und können in den einschlägigen Kapiteln nachgelesen wer‑ den.14 Im folgenden Unterkapitel sollen sie nur noch einmal in Hinsicht auf ihren Ertrag für Christologie und Theologie befragt werden.
VI.3. Cantus firmus und Kontrapunkt – die Paradoxien der Christologie und Theologie Wo der cantus firmus klar und deutlich ist, kann sich der Kontrapunkt so gewaltig entfalten wie nur möglich. Beide sind „ungetrennt und doch geschieden“, um mit dem Chalcedonense zu reden, wie in Christus seine göttliche und seine menschliche Natur. Ist nicht vielleicht die Polyphonie in der Musik uns darum so nah und wichtig, weil sie das musikalische Abbild dieser christologischen Tatsache und daher auch unsrer vita christiana ist?15
Wenngleich es vom Markusevangelium zum Chalcedonense ein weiter Weg ist, so ist in ihm doch schon in nuce angelegt, was fast vier Jahrhunderte später zur dogmatischen Formel wurde. Hier wie dort wird versucht, ein Paradox in Worte zu fassen. Während im Dogma eine Sache auf den Punkt gebracht wird, kann der Evangelist Linien ausziehen und in der Polyphonie seiner Komposition Wider‑ 13
Dewey, Markan Debate. Kap. III.1.2.6.; Kap. III.2.2.5.; Kap. III.2.3.7.; Kap. III.2.4.5.; Kap. III.3.10.; Kap. IV.3.6.; Kap. IV.4.5. 15 Bonhoeffer, Brief an Eberhard Bethge vom 20. Mai 1944 (Widerstand und Ergebung, 441). 14
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Kapitel VI: Polyphonie – ein Resümee
sprüchliches gleichzeitig erklingen lassen, Unsagbares ungesagt lassen und trotz‑ dem davon sprechen. Bonhoeffer lässt in Bezug auf die Christologie offen, was cantus firmus und was Kontrapunkt ist, und auch Markus bietet keinerlei Anhalts‑ punkte dafür, darüber eine Entscheidung zu treffen. Wesentlich ist der Zusammen‑ klang der beiden nach menschlichem Ermessen unvereinbaren Identitäten. Seinen Hörerinnen zugänglich und verstehbar zu machen, dass in diesem Menschen Jesus Gott selbst präsent ist und handelt, das ist eines der beiden Ziele, die Markus bis 8,22a verfolgt. Erst wenn diese Stufe der Erkenntnis – markiert durch das Petrusbe‑ kenntnis (8,29), eindrucksvoll hervorgehoben durch die unmittelbar vorausgehende Klimax des Jüngerunverständnisses (8,14 – 21) und kontrastiert durch die Ansich‑ ten anderer Leute (8,28) – erreicht ist, wird explizit thematisiert, wodurch dieser Christus die Erwartungen an eine solche Herrscher- und Retterfigur durchbricht: Der Weg des Vollmächtigen führt über Ohnmacht am Kreuz, Tod und Auferstehung zur Herrschaft – ein weiteres christologisches Paradox wird damit benannt. Die Grundstruktur des Evangeliums korrespondiert mit der kontinuierlichen, schrittweisen Entwicklung seiner thematischen Linien und präsentiert – bei ent‑ sprechender Interpretation durch den Vortragenden – die Botschaft in verdauli‑ chen Portionen, so dass die Zuhörer trotz mannigfaltiger weiterer Bezüge den Überblick nicht verlieren und der allmählichen, stufenweisen Entwicklung der beiden Hauptthemen folgen können. Markus, so könnte man sagen, knüpft am Beginn des Evangeliums an die „Dogmatik“ seines Publikums an, zumindest an deren dogmatische Sprache, wie auch immer sie für die Einzelnen gefüllt sein mag. In der Ouvertüre, die mit dem Insidervokabular der frühen Christusgläu‑ bigen gespickt ist, macht er seinem Publikum klar, von wem er erzählen wird: von Jesus von Nazareth aus Galiläa (1,8), dem Sohn Gottes (1,1.11) und dem κύριος (1,3). Schon an diesem Anfang wird deutlich, dass sich die Geschichte Jesu nicht von der Geschichte Gottes trennen lässt, damit auch Christologie nicht von Theologie in engerem Sinne. Markus macht durch seine Berufung auf ‚wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja‘ (1,2) klar, dass der κύριος, der nun kommt (1,7.9.14), untrennbar mit dem κύριος ‚der Schriften‘ verbunden ist. Wenn er kommt, ist das Reich Gottes im Hier und Jetzt gegenwärtig (1,15). Ab 1,16 führt Markus erzählerisch aus, was es mit diesen abstrakten Aussagen auf sich hat: Dass Gott im Hier und Jetzt regiert (und nicht weltliche Herrscher und Dämonen), konkretisiert sich in der Präsenz des Menschen Jesus unter den Menschen. In seinen vollmächtigen Worten und Taten wird Gottes Reden und Handeln hör- und sichtbar, ereignet sich wahrnehmbar ‚Reich Gottes‘.16 In den beiden ersten Hauptteilen, deren geografisches Zentrum das ‚Galiläische Meer‘ ist, werden fast17 alle Wundertaten des Evangeliums erzählt, durch die Jesus ‚Leben rettet‘ (3,4). Trotz mancher Anspielungen auf den bevorstehenden Tod Jesu (2,20; 3,6.19) dominiert in den ersten beiden Hauptteilen die göttliche, machtvolle Seite 16 17
Zur Reich-Gottes-Vorstellung vgl. Kap. III.1.5., S. 105 – 107. Einzig der Exorzismus an einem Knaben folgt erst etwas später (9,14 – 29).
VI.3. Cantus firmus und Kontrapunkt
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Jesu.18 Dennoch bestimmen weitere Paradoxien diese Kapitel, die durch den Einsatz vieler gestalterischer Mittel und die Bandbreite an Reaktionen, die Jesu Wirken hervorruft, in ihrer Widersprüchlichkeit anschaulich werden: Wer Jesus ist, ist zugleich offenbar und verborgen, das Reich Gottes, so deutlich sich seine Gegenwart in Jesu Wirken zeigt, ist ein ‚Geheimnis‘ (4,11); es ist zwar schon nahe gekommen (1,15), wird sich aber erst noch durchsetzen (4,26 – 32). Erst nachdem Tod und Auferstehung ‚auf dem Weg‘ explizit thematisiert werden, wird die Ent‑ hüllung der wahren Identität Jesu terminiert. Häufig gilt in der Markusforschung die zeitliche Beschränkung des Schweigegebotes an die Jünger bis zum Zeitpunkt der Auferstehung als zentraler Bestandteil des markinischen „Messiasgeheimnis‑ ses“; erst nach Tod und Auferstehung Jesu kann erkannt werden, wer Jesus wirk‑ lich ist.19 Dass ‚Jesus Christus‘ nicht ohne Leiden, Tod und Auferstehung gedacht werden kann, soll nicht bestritten werden. Doch die hier durchgeführte Exegese brachte zutage, dass Markus die ganze erste Hälfte seines Evangeliums darauf verwendet, zuerst – dogmatisch gesprochen – das Paradox „wahrer Gott und wah‑ rer Mensch“ einsichtig zu machen. Er etabliert also zuerst eine „hohe Christolo‑ gie“, bevor er die Zumutung der Passion thematisiert, die auch für Jesu Nachfol‑ ger tiefgreifende Konsequenzen hat. Analog dazu liegt bei der Eschatologie zuerst der Fokus auf dem Präsentischen. Der futurische Aspekt – vorbereitet durch zwei Saat-Gleichnisse (4,26 – 32) – nimmt erst nach dem Petrusbekenntnis mehr Raum ein. Bis dorthin ist nur von Jesus als dem κύριος die Rede, der gekommen ist; in ihm ist das Reich Gottes schon da. Dass der ‚Menschensohn‘ am Ende der Zeiten ‚(wieder‑)kommen wird‘, wird erst im Zusammenhang mit dem Leiden Jesu und seiner Nachfolgerinnen angesprochen (8,38; 13,26; 14,62). In Anbetracht der Tatsache, dass trotz des Osterereignisses auch die Hörer des Markusevangeliums – die ersten genauso wie alle späteren – im realen Leben mit der Gleichzeitigkeit von Schon und Noch-nicht des Reiches Gottes, von Offenbarsein und Verborgenheit Jesu konfrontiert sind, ist die Vorgehensweise des Markus nachvollziehbar: Zuerst muss das Vertrauen der Hörerinnen gewon‑ nen werden, dass in Jesus Christus tatsächlich Gott am Werk ist, dass das Reich Gottes tatsächlich schon angebrochen ist. Indem er ‚den Anfang des Evange‑ liums‘ (1,1) erzählt und damit den etwas abstrakten Begriff von Evangelium, wie er etwa bei Paulus greifbar wird (vgl. z. B. 1 Kor 15,3b – 5), auf das Leben und Wirken Jesu auf Erden ausweitet, verleiht er ihm zugleich Anschaulichkeit 18
Vgl. dazu insbes. Kap. IV.3.6. Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis, 67; Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 147; Schnelle, Einleitung, 254. Hahn macht zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Terminierung der Enthüllung der Identität Jesu auf die Auferstehung in beide Richtungen nicht streng einge‑ halten wird. Zum einen sind insbesondere in der Passionsgeschichte schon vor der Auferstehung einige Offenbarungsmomente zu hören (z. B. 14,61 f.; 15,2.39), zum anderen ist auch nach der Auferstehung nicht einfach offenbar, wer Jesus ist. Dies bleibt bis zu seiner Wiederkunft Ge‑ genstand des Glaubens (vgl. Hahn, Theologie I, 512). 19
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und Konkretion. So wird die gute Botschaft, wie Markus selbst sagen würde, sicht‑, hör- und verstehbar. In dogmatischer Wortwahl könnte man auch sagen, dass sich dadurch Inkarnation ereignet. Mit „Inkarnation“ meine ich allerdings kein Gedankenkonstrukt, bei dem man z. B. klären müsste, ob es die Präexis‑ tenz Christi voraussetzt, wie sich menschliche und göttliche „Natur“ zueinander verhalten oder ob Markus nicht vielleicht eher an Adoption gedacht hat. All das steht nicht im Fokus und ist für den Autor offensichtlich nicht von Belang. Viel‑ mehr wird durch die Erzählung der ersten beiden Hauptteile vor Augen geführt, dass das Leben und Wirken Jesu konkrete Auswirkungen auf das Leben konkre‑ ter Menschen hat: Geheilt werden, Rettung aus Seenot erfahren, essen und satt werden, sehen, hören und verstehen, wahrnehmen mit Augen, Ohren und dem Herzen, mehr als genug zum Leben haben – so ereignet sich Inkarnation und gibt einen Vorgeschmack darauf, wie es sein wird, wenn sich das Reich Gottes end‑ gültig durchgesetzt hat.20 Das Thema der Zugehörigkeit zu Jesus lässt Markus im Laufe des ersten Haupt‑ teils zuerst beiläufig, dann allmählich deutlicher erklingen;21 anschließend etab‑ liert er die Einteilung in In- und Outsider, stellt aber selbstverständliche Zuord‑ nungen in Frage und schließlich ganz auf den Kopf. Dadurch gelingt es ihm zu vermitteln, dass die Zugehörigkeit zu Jesus nicht nur denen vorbehalten ist, die während seines Lebens ‚mit ihm‘ (3,14) waren.22 Allen – ‚wer auch immer‘ (3,35; 4,20) –, auch den Späten und Fernen, unter welchen Umständen sie auch leben und leiden (4,17), ist zugesagt, dass im Vertrauen auf Jesus Christus auch in ihrem Leben Gottes Reden und Handeln konkret erfahrbar ist. Parallel zur stu‑ fenweisen Entwicklung der Christologie wird auch beim Thema Nachfolge der Aspekt des Leidens und Sterbens explizit erst nach dem Petrusbekenntnis einge‑ führt. Ebenfalls erst auf dem Weg werden ethische Fragen nach der Lebensweise der Nachfolgerinnen behandelt. Vorher muss verstanden sein, was die Syrophö‑ nizierin allen Späten und Fernen verkündigt: Auch sie gehören zu den Nachfol‑ gern Jesu. Das wortwörtliche Biss-chen, das vom Evangelium bei ihnen noch ankommt, genügt zum Glauben und Leben. Offenbar und verborgen, schon und noch nicht – diese Paradoxien sind und bleiben nach Markus, in Bonhoefferscher Wortwahl, die conditio vitae christianae, bis man ‚den Menschensohn in Wolken mit großer Macht und Herrlichkeit kommen sehen wird‘ (13,26). Was wäre einem mehrfach paradoxen „Gegenstand“, den es mit Worten zu fas‑ sen gilt, angemessener, als, wie Markus es tut, ein polyphones Werk zu kompo‑ nieren? Luz bescheinigt den Evangelien „narrative[.] Offenheit“, in der sie sich „nicht kerygmatisch ‚auf den Begriff bringen‘“ lassen.23 Aufgrund meiner Exe‑ 20
Vgl. auch Mk 10,29 – 31. Vgl. dazu Kap. IV.4.1. 22 Vgl. dazu Kap. V.1., S. 403 – 406. 23 Luz, Theologische Hermeneutik, 440. 21
VI.4. Weiterweben – ein offener Schluss
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gese möchte ich ergänzen, dass die Offenheit zumindest des Markusevangeliums nicht nur narrativer, sondern auch ästhetischer Art ist. Seine akustische Gestalt trägt in besonderer Weise dazu bei, dass Verstehen, wie Markus es selbst mit sehen und hören beschreibt, kein rein intellektuelles, sondern auch sinnliches und emotionales Geschehen ist. Es kann sich im Interpretationsraum entfalten, den das Markusevangelium als Werk im Zusammenspiel von Gestalt und Gehalt aus‑ spannt. Dabei zeigt sich schon im Aufbau des Markusevangeliums selbst, dass Leben, sei es das von ihm erzählte oder das reale seiner Hörer, auch der Reflexion bedarf; die beiden großen Reden unterbrechen die Narration für eine Deutung der Geschehnisse und einen eschatologischen Ausblick. So verhalten sich auch die Weite des poetisch-erzählerischen Interpretationsraums und dogmatische Ver‑ dichtung wie cantus firmus und Kontrapunkt zueinander. Wie bei der Christologie kann und muss auch hier die Zuordnung zu den Stimmen offen bleiben.
VI.4. Weiterweben – ein offener Schluss Viele Fäden könnten aufgenommen, weitergesponnen und in die Polyphonie der neutestamentlichen Exegese eingewoben werden. An zweien kann direkt wei‑ tergearbeitet werden: Zum ersten liegt es auf der Hand, dass die Exegese der zweiten Hälfte des Markusevangeliums in der hier praktizierten Weise eine not‑ wendige Ergänzung wäre, um einen Gesamteindruck der hörbaren Gestalt zu bekommen und damit auch nach der Aussage des ganzen Evangeliums fragen zu können. Sicher ergäben sich dadurch auch neue Einsichten in Bezug auf die schon bearbeiteten Textabschnitte. Zum zweiten könnte der am Markusevangelium erprobte Zugang – eine Exe‑ gese auf der Basis der mittels Repetitionsanalyse gewonnenen akustischen Text‑ gestalt im Rahmen des Jauß’schen hermeneutischen Modells – an den anderen neutestamentlichen Schriften auf seine allgemeine Tauglichkeit hin getestet wer‑ den. Sie alle sind dem Markusevangelium darin vergleichbar, Texte einer resi‑ dual-oralen Gesellschaft zu sein. Auf der Basis der Arbeit am Markusevange‑ lium bietet sich der Vergleich mit dem Johannesevangelium an. Beide sind eher kurz, sprechen eine einfache Sprache und sind auffällig von Wiederholungen geprägt. Dennoch fallen bei einer ersten Gesamtlektüre des Johannesevangeli‑ ums unter Beachtung der hörbaren Gestalt fundamentale Unterschiede auf, die sich am ehesten mit einem musikalischen Vergleich beschreiben lassen: Während das Markusevangelium mit seiner formal durchkomponierten, symmetrischen Gesamtgestalt barocker Klangarchitektur nahe steht, erinnert der meditativ-krei‑ sende Stil des Johannes an Minimal Music. Bei Matthäus und Lukas lässt sich feststellen, dass sie zwar den Markustext im Großen und Ganzen rezipieren, aber seine hörbare Gestalt zerstören. Sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas wäre es interessant zu untersuchen, welche akustischen Strukturen sie stattdessen etablie‑ ren, wie diese den Inhalt gestalten – und auch danach zu fragen, ob die erkenn‑
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baren Gesamtgestalten Hinweise auf die intendierte Rezeption dieser doch um einiges längeren Werke geben. Am Schluss dieses Buches steht ein Anfang – es sind die ersten tastenden Schritte vom Schreibtisch der Exegetin zum Lesepult der Vortragenden, von denen ich hier noch berichten möchte.24 Im Januar 2018, nach Abschluss der Dissertation, hatte ich die Gelegenheit, das ganze Markusevangelium in der eigenen Überset‑ zung vor einem dreißigköpfigen Publikum in einem evangelischen Gästehaus25 – vorzutragen. Die doch recht herbe deutsche Fassung hat ihren Praxistest als mündlicher Text bestanden, aus Sicht sowohl der Vortragenden als auch der Hörerschaft, ebenso die visuelle Darstellung der Partitur, die mit ihren kurzen Zeilen und viele Absätzen einen recht freien Vortrag und damit Kontakt zum Publikum ermög‑ lichte. Konnte ein trainierter Lector damals tatsächlich das Evangelium lebendig vortragen, wenn er den Text in Scriptio continua, also praktisch ohne visuelle Lesehilfen, vor sich hatte? War es nicht einfacher, den Text auswendig zu lernen? Das Einstudieren des Textes samt den konkreten interpretatorischen Entschei‑ dungen sowie die körperlich-stimmliche Umsetzung und die Kommunikation mit dem Publikum während eines abendfüllenden Vortrags (mit einer viertelstündigen Pause nach Mk 8,21) haben mir selbst diese ‚gute Nachricht‘ nochmals auf eine andere Weise nahegebracht als die stille exegetische Arbeit, während der mir der Text sehr lieb geworden ist. ‚Halt’s Maul!‘ quasi stellvertretend für den marki‑ nischen Jesus zu schreien, hinterlässt andere Spuren als die Überlegung, ob sich dieser Ausdruck als Übersetzung für φιμώθητι eignet. Beide Zugänge möchte ich nicht missen; sie ergänzen einander. Am eindrücklichsten war für mich, dass ein heutiges Publikum – zwar zum Großteil kirchlich sozialisiert, aber ohne spezielle Vorkenntnisse zum Markus evangelium und zu dessen historischer Umwelt – aufmerksam und gebannt bis zum Schluss zuhörte. Wenn die Kraft der Sprache und der Bilder und auch der große Spannungsbogen des Markusevangeliums heute noch zu fesseln vermögen, wie müssen sie auf ein Publikum gewirkt haben, das es gewohnt war, Literatur über die Ohren aufzunehmen, und das in der Zeit und den Umständen lebte, die der Text voraussetzt und auf die er reagiert? Und hätten nicht auch Aufführun‑ gen der Evangelien jenseits von perikopenweisen Lesungen im zurückhaltenden Pastoralton das Potential, heutigen Zeitgenossen über die „ästhetische Brücke“26 einen ganzen neuen Zugang zu diesen Grunderzählungen des christlichen Glau‑ bens zu eröffnen? Der erste Versuch spricht dafür, hier weiterzuweben. 24 Rhoads beschreibt ausführlich seine Praxis, das Markusevangelium und auch andere neu‑ testamentliche Texte vor ganz verschiedenen Hörerschaften auswendig vorzutragen, und legt Rechenschaft ab über die Auswirkungen seiner Rezitationen auf seine exegetische Arbeit (vgl. Rhoads, Reading Mark, 176 – 201). 25 Kloster Triefenstein am Main, Sitz und Gästehaus der Christusträger-Bruderschaft. 26 Vgl. Jauss, Abgrenzung und Bestimmung, 478.
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Stellenregister Abschnitte und Verse des Markusevangeliums, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, werden in diesem Register nur dort aufgeführt, wo sie ausserhalb dieses Kapitels erwähnt werden. Da pri‑ mär aus der Septuaginta zitiert und auf deren Wortlaut verwiesen wird, stehen die Bücher in deren Reihenfolge aufgelistet und es wird, wenn nicht anders vermerkt, deren Verszählung verwendet. Kursiv gedruckte Seitenzahlen verweisen auf Belege, die in den Anmerkungen zu finden sind.
Altes Testament Genesis 1,1 – 2,3 1,1 1,30 9,12
237 f. 77 316 309
Exodus 3,14 7 7,3 7,9 f. 7,13 7,14 8,11 8,15 8,19 9,12 12,15 13,3 – 37 16,1 16,4 16,15 16,19 16,35 18,21 18,25 19,12 f. 19,21 – 24 20,12 21,17 23,20
307 194 194 309 194 194 194 194 309 194 309 309 311 311 311 311 101 317 317 208 208 325 325 86 f., 89
24,9 – 18 31,14 f. 33,18 – 23 33,22 f. 34,3 34,5 f. 34,21
208 181 308 339 208 308 183
Leviticus 11,22 13 13,45 f. 14 14,8 – 10 20,9
91 141 f. 140 141 142 325
Numeri 14,33 f. 27,17 34,11
101 314 117
Deuteronomium 2,30 5,16 6,4 6,22 13,2 – 4 16,3 f. 29,3 30,11 – 16 32,13 32,39
194 325 152 309 309 309 254, 341 196 91 307
440
Stellenregister
Josua 11,20 12,3 13,27
194 117 117
Richter 11,12 13,5 13,7 16,17 17,8
126 126 126 126 183
1 Königtümer / 1 Samuel 184, 186 21,2 – 7 184 21,2 2 Königtümer / 2 Samuel 307 2,20 4,10 79 126 16,10 18,20 79 79 18,22 18,25 79 79 18,27 19,23 126 267 23,2 3 Königtümer / 1 Könige 2,4 267 238 17,17 – 24 17,18 126 93 18,42 19,5 – 8 103 19,8 101 19,11 308 19,19 – 21 116, 311 19,21 311 4 Königtümer / 2 Könige 1,8 92 2,1 – 22 116 2,6 – 15a 92 2,15 93 3,13 126 4,17 – 37 238 4,42 – 44 310, 314, 238 7,9 79 9,36 267 15,12 267
17,29 19,13 19,21 20,19 24,2
316 339 267 267 267
1 Chronik 17,23 21,19
267 267
2 Chronik 10,9 10,15 18,16 32,34 35,21
267 267 314 309 126
2 Esdras / Esra / Nehemia 19,10 / Neh 9,10 309 19,15 / Neh 9,15 311 Judith 11,19
314
Psalmen 1,1 2 2,2 2,6 2,7 – 9 2,7 2,8 f. 2,9 2,10 7,10 8 9,31 18,7MT 22MT 23MT 24MT 36,17 44,24 – 27MT 45MT 47MT 59,6MT 64,6 – 8 65,8MT 74,11
171 82 99 83 99 99 f. 100 100 99 171 106 93 254 106 316 106 171 305 106 106 305 304 304 171
441
Stellenregister 77,24 81,17MT 88,9 f.MT 89,27 f.MT 93MT 95,2 96 – 99MT 103MT 103 104MT 104,40 106,23 – 30 106,27 f. 106,30 110,3MT 113,14 113,16 114MT 145MT 145,1MT 145,3 – 6MT 145,7 – 9MT 145,14 – 16MT 145,18MT
311 91 304 83 106 79 106 106 286 f. 106 311 304 f. 338 338 83 254 254 106 106 106 106 106 106 106
Psalmen Salomos 2,34 f. 3 4,8 13 17
171 171 171 171 106
Sprüche Salomos 1,1 – 4 76 11,31 171 12,13 171 Prediger Salomo 3,11 238 Hiob 9,8 9,11 32,19
308 308, 339 179
Weisheit Salomos 15,15 254 16,20 311
Jesus Sirach 17,6
341
Hosea 1,1 1,2a 4,1
77 77 267
Amos 3,1 5,1 7,16 8,11
267 267 267 267
Micha 5,1 – 5 6,1
81 267
Joel 3,2 3,5 4,13 f. 4,17 – 19
95 79 282 f. 282
Jona 1
304 f., 338
Nahum 2,1
79
Sacharja 4,14 7,7 9,9 f. 13,4
82 267 81 92
Maleachi 3,1 3,2 f.5 3,23
86 f., 89, 322 86 86, 92, 322
Jesaja 1,2 – 4 1,10 2,9 6,5 6,9 f. 6,10 7,14
260 267 93 259 194, 254, 259 – 263, 341 194 309
442
Stellenregister
9,1 – 6 11,1 – 11 15,6 28,11 29,13 29,18 34,1 35,4 – 6 37,22 39,5 39,8 40 – 55 40 40,2 40,3 40,9 40,10 f. 40,10 41,4 42,1 – 4 42,1 42,3 43,10 43,19 45,18 46,4 47,8 – 10 51,23 52,7 52,10 52,13 – 53,12 53,8 55,10 f. 60,6 61,1 65,17 – 25
81 81 316 267 345 238 267 238 267 267 267 85 85 85 f. 84, 88, 89, 314 79 314 79, 86, 88, 93 307 100 99 f. 100 307 183 307 307 307 93 79, 107 107 176 176 251 79 79, 81 85
Jeremia 2,4 2,31 5,21 6,19 7,2 10,1 16,11 16,16 17,20 19,3 21,11
267 267 254 267 267 267 118 118 267 267 267
22,1 22,2 22,29 27,1 31,9 35,9 38,10 41,4 41,5 49,15 51,16 51,24 51,26
267 267 267 267 309 267 267 267 267 267 267 267 267
Baruch 2,31
254
Ezechiel 6,3 7,2 9,4 12,2 12,25 13,2 16,35 17,22 – 24 20,3 20,12 20,27 21,3 21,14 21,33 25,3 28,2 28,2 31,6 31,10 f. 31,12 34,1 – 15 34,7 34,23 f. 36,1 36,4 37,4 40,4 44,5
267 155 309 341 267 267 267 286 155 309 155 267 155 155 267 155 155 286 286 286 314 267 314 267 267 267 341 341
Daniel 2,7 – 9
257
443
Stellenregister 2,28 f. 2,44 4,9MT 4,11MT 4,20MT 4,31 – 34MT 7 7,13 f. 7,14
257 f. 257, 259 286 286 286 286 82 154, 156, 257, 258 106, 157
Weitere frühjüdische Schriften
12,32 12,49 13,10 13,11 13,12 13,32 14,14 14,19 15,21 – 28 19,28 22,16 27,57
4 Esra 7,28
Markus 1,1
82
Neues Testament Matthäus 1,1 1,18 2,12 – 14 2,22 3,1 – 3 3,11 f. 3,16 f. 4,3 4,6 4,18 5,1 – 7,27 5,14 5,15 7,1 – 5 7,2 8,3 9,10 f. 9,15 9,16 f. 9,18 9,19 9,35 – 38 10,24 f. 10,26 – 33 10,26 11,19 12,1 12,15 12,22 – 24
82 82 203 203 76 94 98 102 102 117 135 275 274 274 274 140 163 177 177, 198 198 116 314 325 274 274, 276 163 183 203 226
1,2 – 8 1,2 – 4 1,2 f. 1,2 1,3 1,4 1,5 – 11 1,5 1,6 1,7 f. 1,7 1,8 1,9 – 11 1,9 1,10 1,11 1,12 1,13 1,14 f. 1,14 1,15 1,16 – 2,13a 1,16 – 20 1,16 1,17 1,18 1,20
227 234 256 258 274 287 314 315 353 210 174 345 97, 100, 104, 144, 198, 319, 331, 418 f. 175, 177 101, 311 95, 100 46, 322, 332, 414, 418 183, 187, 310 f., 314, 329, 331, 359, 418 95, 310, 321 102 86, 96 f., 204, 205, 220 102, 313 322 86, 225, 272, 277, 359, 402, 418 97, 418 228 92, 104, 182, 205, 319, 418 93, 152 83, 207, 331, 359, 418 90, 310 223, 310, 340 77, 88 f., 143, 235, 262, 264, 283, 285, 356 81, 92 f., 97, 125, 128, 139, 171, 418 89, 128, 151, 170, 258, 271 f., 321, 359, 418 f. 102 162, 211, 311 104, 109, 128, 166, 203, 418 92, 158, 209, 360 205 92, 158, 206
444 1,21 – 34 1,21 – 29a 1,21 f. 1,21 1,22 1,23 1,24 1,25 f. 1,25 1,27 1,28 1,29 1,30 1,31 1,32 1,33 1,34 1,35 1,37 1,38 f. 1,38 1,39 1,40 1,41 f. 1,41 1,43 1,45 2,1 – 3,6 2,1 – 13a 2,1 2,2 2,3 f. 2,3 2,5 2,6 2,7 2,8 f. 2,8 2,10 – 12 2,10 2,11 2,12 2,13 f. 2,13 2,14
Stellenregister 192 165, 182, 303 f., 347 149, 319 166 119, 152, 168, 198, 209, 319, 326, 332 190, 192 95, 138, 207, 277 158 138, 207 159, 177, 191, 207, 209, 318, 319, 326, 332 148, 204, 347 166 192 117, 206 91, 151, 192 159 102, 207, 321 88, 109, 204, 310, 321, 408 303, 337 321, 348 170, 277 102, 170, 204, 209, 321 91, 192 158 166, 206 341 88, 91, 109, 204, 252, 272, 310, 321 111, 417 88, 127, 165, 170, 194 166 143, 349 192 91 227 168, 194 141, 169, 227, 318 233 194 171, 233 169, 188, 207, 209, 319, 329, 360 149, 194 191 189, 311 91, 104, 166, 203 205, 212
2,15 – 3,6 2,15 – 17 2,15 f. 2,15 2,16 2,17 2,18 – 22 2,18 – 20 2,18 2,19 – 22 2,19 f. 2,19 2,20 2,23 – 3,7a 2,23 – 28 2,23 f. 2,23 2,24 2,25 f. 2,25 2,26 2,27 f. 2,28 3,1 – 6 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 3,7 f. 3,7 3,7 – 19 3,8 – 5,5 3,8 3,9 f. 3,10 f. 3,9 3,11 3,13 – 15 3,13 3,14 3,15 3,16 – 19 3,16 3,19
168 88, 174, 312 216 204 91, 174, 204, 209, 220, 313 119, 186, 277 167 168 97, 220, 321, 337, 346 172 216 209, 233 96, 212, 276, 418 127, 195 167, 253, 270 346 189, 254 192, 220, 337 168 180, 209 91, 313 326 156, 207, 319, 329, 331, 360 124, 347 326 220 326 205, 233, 235, 237, 418 233, 326, 340 212, 418 164, 248, 347 96, 104, 117 320 135, 256, 333 91, 109, 294, 351 349 350 248 83, 127, 229, 319, 330 f. 116, 330 f. 91, 222 118, 215, 256, 272, 348, 354, 420 102, 321, 332, 355 162 115, 118, 256 418
Stellenregister 3,20 3,21 3,22 – 30 3,22 3,23 3,24 – 26 3,27 3,28 f. 3,29 3,31 – 35 3,31 3,32 3,33 3,34 3,35 4 4,1 – 34 4,1 f. 4,1 4,2 4,3 – 20 4,3 – 9 4,3 4,5 f. 4,8 4,9 4,10 – 13 4,10 f. 4,10 4,11 f. 4,11 4,12 4,13 4,14 – 20 4,15 4,16 f. 4,17 4,20 4,26 – 32 4,26 4,28 4,30 4,33 f. 4,33 4,34 4,35 – 8,22a 4,35
313 234, 344 102, 141 91, 102, 321 233 233 347 89, 93 403 215, 256, 290 90, 91, 222, 344 248, 256, 344, 353, 355 90, 119 248, 256, 353, 355 256 f., 271 f., 345, 355 f., 403, 406, 420 87 223, 341 263, 267 91, 119, 204, 206, 349 149 264, 272 312 266 279 278 f. 266, 279 268, 288, 403 – 405 231 340, 346 277 106, 272, 279, 419 87, 89, 194, 272, 340 f., 356 346 149, 288, 312, 353, 355 279 279 405, 420 278, 405, 420 419 106 271 106 106 149, 353 210, 354 f. 91 137, 306
4,38 4,39 4,40 f. 4,40 4,41 5,1 – 21 5,1 5,3 5,5 5,6 – 13 5,7 5,17 5,19 5,20 5,21 – 6,1a 5,23 5,24 5,26 5,28 5,29 5,34 5,35 5,36 5,37 5,40 5,42 f. 5,43 6,2 6,3 6,4 6,5 6,6 6,7 6,8 6,11 6,12 f. 6,12 6,13 6,14 – 29 6,14 – 16 6,14 f. 6,15 6,17 – 29 6,17 6,20 6,21 6,30 – 45
445 325, 329 – 331, 350, 405 306 350 344, 356 85, 119, 302, 318, 319, 331, 333, 344 194, 332 205 141 127 126 83, 127, 319, 329 – 331 358 149, 329, 331 205, 272, 354, 358 136 237, 354, 356 116 276 237, 356 206 206, 320, 237, 356 325, 329 – 331 267, 338, 356 211 358 358 313 318, 329 233, 332, 333 332 141 329, 356 212, 332 f., 354 f. 313 142 212 89, 104, 252, 272, 348 102 88, 97, 107, 309, 326, 332 f. 330 f. 332, 358, 360 333 168 217 170 312 115, 168, 177, 186, 255
446 6,30 – 32 6,30 6,31 – 8,26 6,31 6,32 6,33 f. 6,33 6,34 6,35 6,41 f. 6,41 6,42 6,47 6,49 6,50 6,52 6,54 – 56 6,55 6,56 7,1 – 24a 7,1 7,3 – 5 7,4 7,5 7,6 7,7 7,8 7,13 7,14 f. 7,14 7,17 – 24a 7,17 7,18 7,19 7,20 – 23 7,24 – 31 7,24 7,25 7,26 7,27 f. 7,28 7,29 7,30 7,31 – 37 7,31 7,36 f. 7,36 8,1 – 9 8,2
Stellenregister 204 329, 333, 349 135, 330 f. 88, 109 109 88, 323 344 329, 358 109, 186 117 186 186, 323 137 333 302, 333 194, 341, 345, 352, 356 344 f., 358 333 206, 237 309, 333, 335 91, 168, 221, 349 313 312 168 46, 357, 414 329 125, 155 357 358 356 355 210, 340, 353 f. 333, 356 141 357 205, 311, 349 137, 149 221, 350 102, 321 313 85, 329 – 331 272 149 115, 166, 348, 359 205 358 272 115, 168, 177, 186, 255 186
8,3 8,4 8,6 – 8 8,6 8,8 8,11 – 13 8,11 f. 8,14 – 21 8,17 8,18 8,21 8,22 – 26 8,22 8,26 8,27 – 10,52 8,27 – 32 8,27 – 29 8,27 f. 8,27 8,28 8,29 8,30 8,31 8,32 8,33 f. 8,33 8,34 8,35 8,38 9,2 – 9 9,2 9,3 9,7 9,8 9,9 9,11 – 13 9,12 f. 9,12 9,14 – 29 9,17 9,18 9,20 9,22 f. 9,25 9,26 9,28 – 35 9,28 f. 9,28
87, 149, 176, 360 109, 141 117 186 186, 323 357 102 418 87, 194, 302, 333, 346, 356 355 302, 333, 346, 356 115, 159 f., 166, 355 359 149 85 170, 176 322 330 f. 87 332, 418 83, 115, 118, 330 f., 418 88 83, 156 258 92 117, 155 118, 209, 234 104, 193, 238 106, 156, 159, 419 208 211 360 83, 98, 235, 360 98 156 311, 322 46, 414 156 151, 418 221, 325 209 91 141 231 127 210 209 210
Stellenregister 9,29 f. 9,30 – 32 9,31 9,33 f. 9,34 9,35 9,38 9,41 10,1 10,2 10,5 10,10 10,13 10,17 – 22 10,17 10,20 10,24 10,26 10,27 10,29 f. 10,29 10,30 10,31 10,32 – 34 10,32 f. 10,32 10,33 10,35 – 45 10,35 10,37 10,38 f. 10,42 – 45 10,42 10,43 f. 10,43 10,45 10,46 – 52 10,46 10,47 10,48 10,52 11,1 – 13,3 11,2 11,7 – 10 11,8 11,9 f. 11,10 11,14
141 176 104, 156 87 360 136, 360 102, 325 83, 312 91, 96, 109, 205, 231, 294 102, 340 414 210 140 213 325 325 151 238 155 267 104 276 360 176 91, 221 87, 360 104, 156 211 325 360 88, 312 323 f. 402 360 136 135, 156, 171, 193, 324, 360 136, 151, 213, 360 90, 252 96, 319 319 87, 360 315, 329 115 287 183 312 276 216, 313
11,17 11,27 11,28 11,29 11,30 11,32 11,33 12,1 – 12 12,6 12,9 12,12 12,13 12,14 f. 12,14 12,15 12,18 12,19 12,24 12,28 – 34 12,29 f. 12,30 f. 12,30 12,32 12,37 12,41 13 13,1 13,3 – 37 13,3 13,6 13,9 13,10 13,11 13.12 13,13 13,14 13,17 13,19 13,20 13,22 13,24 13,26 13,32 13,33 13,34 13,35 14,1 – 16,8 14,1
447 46, 414 91 321 267, 321 88, 97 88, 332 321 356 83 85, 106, 315 217 91 102 325 340 91 325, 414 414 125, 152, 345, 357 85 235 193 325 319 249 87 115, 325 208, 212 249 307 104, 142, 324 104 104 104 238 96 96 96, 269 238 83 96, 269 106, 156, 171, 258, 277, 419 f. 96, 283 283 321 85, 283 85 217
448 14,9 14,10 14,12 – 26 14,12 14,13 14,14 14,17 – 26 14,17 – 21 14,17 14,18 14,20 14,21 14,22 – 24 14,22 14,25 14,27 14,29 14,32 f. 14,33 f. 14,33 14,34 14,35 14,36 14,37 14,38 14,39 14,41 14,43 14,44 14,46 14,49 14,50 14,51 14,54 14,61 f. 14,62 14,64 14,67 14,68 14,71 14,72 15 15,1 15,2 15,9 15,10 15,12 15,15
Stellenregister 104 212 312 216 116 210, 216, 325 91, 168, 186 167 210 212, 216 212 46, 104, 156, 171, 212, 414 312, 318 186, 216, 313 96, 106 46, 414 211 170 204 211 193 350 234, 280, 312, 350 211 276 267 156, 276 212, 231 217 217 414 170, 345 217 115, 170, 211 419 106, 156, 258, 277, 306, 419 152 96, 211, 319 303 211, 303 115, 345 333 104, 195 324, 419 324 322 324 104, 322
15,18 15,19 15,26 15,31 15,32 15,34 – 39 15,34 15,37 15,38 15,39 15,42 – 46 15,43 16,6
324 350 324 125, 141 324 98 98 98 97 84, 98, 156, 419 345 106, 345 96, 319
Lukas 1,5 1,16 1,32 1,68 2,46 3,3 f. 3,12 3,15 – 17 3,21 f. 4,3 4,9 4,16 – 27 4,38 5,13 5,29 5,30 5,36 f. 5,36 6,1 6,7 6,8 6,37 f. 6,38 6,40 6,41 f. 7,34 8,9 8,10 8,16 – 18 8,16 8,17 9,11 9,15 11 f.
75 85 85 85 125, 325 76 325 94 98 102 102 10 144 140 167 163 177 199 183 316 192 274 274 325 274 163 256 258 274 275 276 314 315 135
449
Stellenregister 11,5 f. 11,33 12,2 – 9 12,2 12,10 13,10 – 17 13,19 14,1 – 6 15,1 18,13 22,10 22,28 – 30
281 274, 275 274 274, 276 227 192 287 192 163 163 116 210
15,1.3b – 5 15,5 – 7 15,5
80, 419 80 210
Johannes 1,6 1,17 3,10 5,27 6,1 – 41 8,6 11,31 12,34 17,3 19,38 20,6
2 Korinther 1,3 2,12 4,3 9,13 10,14 11,4 11,7 13,13
85 81 104 81 81 104 104 85
75 82 125, 325 154 192 93 116 154 82 345 116
Galater 1,3 1,6 1,7 1,11 5,10 6,23
85 104 81, 104 104 191 85
Philipper 1,2 1,27
85 81
Kolosser 4,13
9
1 Thessalonicher 1,1 3,2 5,23 5,27
85 81 85 9
Apostelgeschichte 85 2,39 7,56 154 191 9,24 13,14 – 41 10 9 15,31 17 108 17,22 108 Römer 1,1 1,9 1,16 2,16 10,9 – 14 15,16 – 19 15,19 16,20
104 104 353 104 85 104 81 85
1 Korinther 1,2 f. 9,12 10,4
85 81 116
2 Thessalonicher 81 1,8 Hebräer 2,6
154
1 Petrus 4,17 5,13
104 53
Offenbarung 1,3 1,13 8,7
9 154 316
450 14,14 22,7 – 9 22,18 f.
Stellenregister 154 9 9
Neutestamentliche Apokryphen Thomasevangelium 320 31 47 179
Pagane antike Literatur Lucius Annaeus Cornutus De natura deorum 12.1 129 Lukian von Samosata Herodotus 5 93
Frühchristliche Literatur
Hesiod Opera et dies 457 – 496
252
Basilius von Caesarea Constitutiones asceticae IV.5 174
Galenus De usu partium 12.6
316
Epiphanius Panarion haeresium 51.6.4. 73
Plutarch Agesliaos 33.5.2 80 Demetrios 17.6.7 80 De gloria Atheniensium 347.D.9 80 347.D.12 80 Quaestiones Convivales 7.711c 39
Eusebius von Caesarea Historia ecclesiastica 3.39.15 53 f., 409 Flavius Josephus De bello iudaico 2.420.2 80 Irenaeus von Lyon Adversus haereses 3.11.8 73 Justin Apologiae I.67.3
9
Origenes Homilia in Lucam 21.3 276
Polybius Historiae 15.29.9
129
Quintilian Institutio Oratoria I.8.1 29 I.4 – 6 13 I.10.17 1
Sachregister Kursiv gedruckte Seitenzahlen verweisen auf Belege, die in den Anmerkungen zu finden sind.
A. Formen – Phänomene der Textgestalt oraler Literatur Fettdruck weist auf die Erläuterung der jeweils genannten der fünf Kategorien der Wiederho‑ lungen hin. Anspielungen an alttestamentliche Texte, siehe intertextuelles Zitat Aufzählung, siehe Parallelismus / Reihung Fokale Wiederholung 43 f., 47 – Klangliche und rhythmische Effekte 42 – 44, 47, 75 f., 86, 142, 180, 183, 204 f., 254, 265, 278, 285 f., 317, 327, 406 f. – Stichwortverbindung 44, 47, 75 f., 91, 95, 102, 118, 137, 145, 165, 181 f., 190, 197, 202, 209, 213, 217, 237, 248, 286 – Wortwiederholung auf engem Raum 44, 47, 124 f., 248, 251 f., 275, 277 – 279, 294, 315 f., 406 f. – Wortwiederholung auf engem Raum als Figura etymologica 260, 284, 338, 349 Formative Wiederholung 43, 47, siehe auch Parallelismus; Ringkomposition; Tripel episoden Intertextuelles Zitat 46 f., 77, 84 – 87, 89, 91 – 93, 99 f., 106, 116 f., 152, 154 – 156, 176, 184 – 186, 194, 208, 254, 259 – 263, 282, 286 f., 304 – 309, 314, 316, 325, 327 f., 337 – 339, 341 καί-Teppich, siehe strukturelle Wiederho‑ lung / καί-Teppich Konzentrische Form, siehe Ringkomposition Motivische Wiederholung 45, 47 – siehe auch Register B – Vorausimitation 176, 206, 217, 223, 313, 360 Parallelismus 9, 43, 47, 72, 84, 90 f., 96, 105, 115, 119, 126, 134, 138, 140, 143,
164, 169 f., 174 f., 178, 221 – 224, 230 f., 234, 249, 259, 266, 274 – 276, 281, 285 f., 295 – 297, 406 – Reihung 204 f., 210 – 213, 270, 319 – 321, 350 Phrasenverschränkung 29, 60, 124, 132, 136 f., 148, 182, 189, 237, 296, 310, 407 f. Reihung, siehe Parallelismus / Reihung Ringkomposition 9, 43, 47, 72, 78, 111, 116, 148 – 150, 153, 160, 162, 164, 168 f., 171, 182, 185 – 187, 226, 230, 234, 237, 248, 255, 266, 270, 275, 288, 296, 299 f., 303, 306, 337, 407 – Chiasmus 43, 90 f., 95, 97, 263, 296 – Inclusio 9, 43, 72, 90, 123 f., 137 – 140, 148, 176, 180 f., 189, 195, 197, 203, 205, 207, 211, 220, 224, 238, 250, 252, 268 f., 275, 303, 306, 339, 346, 349 – Sandwichkonstruktion 113, 214 f., 236, 255, 264, 272, 299, 301, 319, 321, 359 Scharnier 52, 60, 63 – 65, 287, 289, 296, 359, 415 Stichwortverbindung, siehe fokale Wieder‑ holungen / Stichwortverbindung Strukturelle Wiederholung 44, 47 – καί-Teppich, Unterbrechung durch Asyn‑ deton 74 f., 282 – καί-Teppich, Unterbrechung durch andere Konjunktionen 103, 137, 142, 152, 168, 193, 206, 288
452
Sachregister
Tripelepisoden 10, 43, 47, 61, 67, 111, 117, 165, 195, 197, 202 f., 205 – 209, 212 f., 222, 234, 236, 248, 291, 294, 306, 308, 336, 360, 417 Tripelstruktur, siehe Tripelepisoden
Vorausimitation, siehe motivische Wiederho‑ lung / Vorausimitation Zitate aus alttestamentlichen Texten, siehe intertextuelles Zitat
B. Inhalte – Themenfelder und motivische Wiederholungen (Schlüsselworte) Bei griechischen Einträgen weisen Klammern darauf hin, dass sich an diesen Belegstellen nicht das griechische Wort findet, sondern nur eine entsprechende deutsche Übersetzung. 1. Themenfelder Glauben, siehe Verstehen Jünger – ἀκολουθεῖν / οπίσω μου [αὐτοῦ] 61, 92 f., 109, 114 – 119, 163, 165 f., 168, (171), 199, 202, 205, 212, 319, 349, 360 – [οἱ] δώδεκα 113, 118, (161 – 163), 208 – 212, (215), (234), 256, (263), (320 f.), 355 – [οἱ] μαθηταί 166, 168, (169 f.),174 f., (177), (184), 204, (205 f.), (208), 209 f., (234), 256, 288, 310, 318, 320, (325), 342, 346, (351), 355 – μετ’ αὐτῶν / μετ’ αὐτοῦ / περὶ αὐτόν / σὺν αὐτοῦ 113, 176 f., 184, (197 f.), 209, 212, (215 f.), 217, 230 – 235, 237, (255), 256 f., 348, 354 f. – Jüngernamen 114 – 119, 135 f., 138, 162 f., 208 – 213, 300, 330, 351, 359 f. Mahl / Essen 164 – 177, 181 – 188, 309 – 318, 322 – 326, 340 – 343, 351 – 354 – ἄρτος 186, 216 f., 282, 294 f., 298 f., 309 – 313, 318, 325, 333, 339 – 343, 352 – δεῖπνον 315, 323, 333 – ἐσθίειν 91, 109, 169, 186, 216, 310 – 313, 317, 325, 333, 341 f., 352 – κλάσματα 298 f., 310, 352 – συμπόσιον 315 – 317, 323 – χορτάζειν 310, 317 f., 333, 341 Messiasgeheimnis 98 f., 135, 142, 144, 160, 207, 276 f., 333, 355, 419 f. Nachfolge Jesu, siehe Jünger Titel, die Jesus beigelegt werden – διδάσκαλος (διδάσκειν / διδαχή) 124 f., 127 f., 149, 162, 198, 237, 248 f., 267, 288, 303, 305, 314 f., (319), 320, 325 f., 329 – 331, 333
– κύριος 65 f., 77 – 79, 84 – 86, 89, (108), 155, 187 f., 267, 304 f., 307, 311, 314, 323 f., 329 – 332, 338, 348, 352 f., 359 – υιὸς τοῦ ἀνθρώπου 65, 82, (106), 154 – 157, 187 f., 227, (258), 319, 329, 332, (360) – υιὸς θεοῦ 73 f., 78, 81 – 84, (97 – 101), (108), 126, 155 – 157, 207, (213), 319, 329 – 332 – υιὸς τῆς Μαρίας 319 – Χριστός 78, 81 – 83, (108), 324, (360) Verstehen – ἀκούειν / βλέπειν / ἰδού / ὁρᾶν 87, 99, 151, 153 f., 156 – 160, 169, 202, 204, 238, 250 f., 254 f., 259 – 261, 263, 266 – 273, 277 f., 288 – 291, 328, 338 – 341, 346, 348, 350 – 352, 356 – γινώσκειν / εἰδέναι / νοεῖν / συνιέναι 238, 259 f., 263, 295, 298, (308), 333, 339 – 342, 346, 356 – καρδία 79, (152), 194 – 196, (253), 259 f., 339 – 341, 345 f. – οὖς / ὀφθαλμός 250, 254, 260, 278 f., 328, 341, (355) – πίστις / πιστεύειν (107), 151, 320, 337 f., 344, 350 f., 355 f. 2. Schlüsselwörter ἀκολουθεῖν, siehe Jünger ἀκούειν, siehe Verstehen ἁμάρτημα / ἁμαρτία / ἁμαρτωλός 78, 88, 91, (108), (151 f.), 153 f., (159), 164 f., 169 – 171, 226 ἄρτος, siehe Mahl / Essen ἀφιέναι / ἄφεσις 78 f., 86, 88, 144, 151, 153 f., 226 – 229 βασιλεία / βασιλεύς / βασιλεύειν 79, (83), 156, 223, 322 – 324, 333
Sachregister – τοῦ θεοῦ 78, (86), 105 – 107, (108 – 110), 239, 257 – 259, 263 f., 280 f., (283), 284 f., (289 – 291), 322 f. Βεελζεβούλ, siehe πνεῦμα ἀκάθαρτον βλέπειν, siehe Verstehen γινώσκειν, siehe Verstehen δαιμόνιον, siehe πνεῦμα ἀκάθαρτον δεῖπνον, siehe Mahl / Essen διδάσκαλος (διδάσκειν / διδαχή), siehe Titel, die Jesus beigelegt werden δύνασθαι / δύναμις, siehe ἐξουσία / δύνασθαι / δύναμις [οἱ] δώδεκα, siehe Jünger εἰδέναι, siehe Verstehen (ἐξ‑)ἔρχεσθαι 86, 92 f., 96, 138 f., 161, 170 f., 252, 275 – 277, 306 f., 321 ἐξουσία / δύνασθαι / δύναμις 118 f., 125, 127, 141, 152, 154, 156 f., (159), 160, 187 f., 198, 209, 222 – 225, 229, 305, 318 – 321, 323 f., 326, 332, 343 f., 347, 355 ἐσθίειν, siehe Mahl / Essen εὐαγγέλιον 78 – 81, 103 – 105, (107 f.), 143 ἰδού, siehe Verstehen καρδία, siehe Verstehen κλάσματα, siehe Mahl / Essen κύριος, siehe Titel, die Jesus beigelegt wer‑ den λόγος 77, 112, 143, 145, 149, 237 f., 263, 266 – 273, 288, 312, 326, 353 f.
453
[οἱ] μαθηταί, siehe Jünger μετ’ αὐτῶν / μετ’ αὐτοῦ, siehe Jünger μετάνοια / μετανοεῖν 78, 88 f., 103 f., (107), 262, 264, 321 νοεῖν, siehe Verstehen οπίσω μου [αὐτοῦ], siehe Jünger ὁρᾶν, siehe Verstehen οὖς, siehe Verstehen ὀφθαλμός, siehe Verstehen παραβολή 222 f., 237 f., 249, 255, 258 f., 263, 279, 284 f., 288, 346 περὶ αὐτόν, siehe Jünger πίστις / πιστεύειν, siehe Verstehen πνεῦμα 97 f., 100, 102, (109), 152, 153 – ἅγιον 78, 93, (108 f.), 113, 126, 228 f. – ἀκάθαρτον (σατανᾶς, δαιμόνιον, Βεελ‑ ζεβούλ) 102, (109), 113, 124 – 127, 136, 139, 209, 220 – 229, 268, 321, (327), 347 f. σατανᾶς, siehe πνεῦμα ἀκάθαρτον συμπόσιον, siehe Mahl / Essen σὺν αὐτοῦ, siehe Jünger συνιέναι, siehe Verstehen σώζειν / σωτήρ 79 f., 193, (195), 299, 304 f., 328, 339, 350, 356, 358, 402 υιός, siehe Titel, die Jesus beigelegt werden χορτάζειν, siehe Mahl / Essen Χριστός, siehe Titel, die Jesus beigelegt werden